Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins - Zentral

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Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins - Zentral
A 1015 F
MITTEILUNGEN
DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS
GEGRÜNDET 1865
88. Jahrgang
Heft 1
Januar 1992
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Der „Bogenschütze" im Schloßpark von Sanssouci,
Parterre der Neuen Orangerie,
Aufnahme November 1990 (Foto: Schmidt)
Plastiken in Berlin:
Der „Bogenschütze" von Ernst Moritz Geyger
Ein Berliner Bildhauer und sein populärstes Werk
Von Martin H. Schmidt
Nur schwer läßt sich die gigantisch erscheinende Skulptur des „Bogenschützen" von Ernst
Moritz Geyger im Schloßpark von Sanssouci übersehen. Seit 1961 steht der — von dem Potsdamer „Blechner" Gustav Lind1 in Kupfer getriebene — nackte Jüngling im Parterre der Neuen
Orangerie; er hatte ursprünglich (seit 1902) im Sizilianischen Garten und zwischenzeitlich
(1927—1960) in der Nähe des Hippodroms Aufstellung gefunden.
Folgende Bemerkungen seien zunächst dem Schöpfer des „Bogenschützen" gewidmet:
Der Künstler Ernst Moritz Geyger — Sohn eines Schuldirektors2 — wurden am 9. November
1861 in Rixdorf (heute Berlin-Neukölln) geboren. Mit sechzehn Jahren begann er seine künstlerische Ausbildung in der Malklasse der Kunstschule in Berlin und setzte sie von 1878 bis 1883
an der akademischen Hochschule fort. Wie auf viele junge Künstler übte sein Lehrer, der Tiermaler Paul Meyerheim, auf die früh entstandenen Gemälde und Graphiken des Eleven einen
unübersehbaren Einfluß aus.3 Trotz positiver Erwähnungen aus den Reihen zeitgenössischer
Kritiker scheiterte Geygers Versuch, im Atelier des staatstragenden Künstlers der Wilhelminischen Ära, Anton von Werner, unterzukommen. Als Geygers Hauptwerk in der Gattung der
Malerei gilt das große Ölgemälde „Viehfütterung" von 1885. Ein breites Publikum erreichte
der Künstler mit satirischen Tiergraphiken; die Radierungen, Kranich als „Prediger in der
Wüste", „Elephant bei der Toilette" oder „Affen in einem Disput über den von ihrer Sippe entarteten Menschen", riefen bei jeder öffentlichen Präsentation „das Entzücken der Laien wie
der Kenner in gleichem Maße hervor.. .".4 Geygers technische Reife und trefflich erarbeitete
malerische Wirkung, die eine scharfe Naturbeobachtung voraussetzte, wurden bevorzugt in
Rezensionen hervorgehoben.
Im Auftrag seines Pariser Verlegers entstanden — in engster Ablehnung an Werke des englischen Tiermalers Sir Edwin H. Landseer — Radierungen, wie „Hirsch in der Brunstzeit"
(1887), wobei Geyger Landseer in technischer Präzision und naturalistischer Wiedergabe
übertraf. Im selben Auftrag entstand eine graphische Wiederholung von Sandro Botticellis
„Primavera". Mehr als vier Jahre intensiver Arbeit kostete Geyger diese Aufgabe, deren
Ergebnis eine Spitzenleistung der Radiertechnik des 19. Jahrhunderts bildet.5
Die zweidimensionalen Ausdrucksmöglichkeiten stellten den Künstler jedoch nicht zufrieden;
in autodidaktischer Annäherung entstanden in den späten 80er Jahren erste bildhauerische
Arbeiten. Im Dreikaiserjahr 1888 hielt sich Geyger in Florenz auf; hier modellierte er die
manieristisch anmutende Tierkampfgruppe „Nilpferd und Löwe"; noch im nämlichen Jahr
erfolgte der Guß in Bronze. Für sein Bestreben, auch in der feinsten Schattierung die täuschend
echte Nachahmung von Feuchtigkeit in der Umsetzung in das Material Bronze zu erwirken,
benötigte Geyger eine Arbeitszeit von vier Jahren, die weitgehend der Ziselierung gewidmet
war. Nachdem die Gruppe auf mehreren Ausstellungen vertreten war, ging sie in den Besitz der
Nationalgalerie in Berlin über. Heute verstaubt dieses Faszinosum bildhauerischer Technik
unverständlicherweise in den Kellergewölben des Museumsdepots.
Der Ruf einer Professur holte Geyger 1893 nach Dresden; er übernahm dort die Leitung des
Kupferstich-Meisterkabinetts.6 Doch bereits fünf Monate später kehrte der Künstler nach
2
Abb.l:
Ernst Moritz Geyger
in seinem Atelier
(in: Beitragsband
Ethos und Pathos —
Die Berliner Bildhauerschule
1768-1914,
Berlin 1990, S. 459)
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Berlin zurück; er hatte den akademischen Zwang, dem er sich ausgesetzt fühlte, nicht akzeptieren wollen.
1894 erwarb Geyger die Mediceer Villa Marignolle bei Florenz, führte dort ein Schüleratelier,
behielt aber sein Atelier in Berlin bei.
Innerhalb weniger Wochen modellierte Geyger in seinem räumlich beengten Berliner Atelier
sein wohl bekanntestes Werk, die annähernd vier Meter hohe Plastik „Bogenschütze". Erst
fünf Jahre später jedoch präsentierte er das Originalgipsmodell auf der Großen Berliner Kunstausstellung des Jahres 1900 am Lehrter Bahnhof. Von den zeitgenössischen Kritikern wurde
der „Bogenschütze", angesichts scheinbar belangloser Skulpturen anderer Künstler, wohlwollend aufgenommen.7 Kein Geringerer als Kaiser Wilhelm IL, der den Künstler bereits zuvor
in seinem Atelier besucht hatte, erwarb den „Bogenschützen". Eine Reihe privater Aufträge
folgten dieser Ehrung Geygers durch das kaiserliche Haus; so boten die Firmen Gladenbeck
und WMF den „Bogenschützen" in insgesamt sechs unterschiedlichen Größen zum Verkauf
an.8
Die Vielseitigkeit von Geygers Arbeiten, darunter Bildnisbüsten, wie die seiner Mutter Ida
(1904), Bauplastiken, z. B. für das Palais Guthmann (1907-1909), und Kunstgewerbliches,
wie Bestecke, Standspiegel, Kerzenleuchter, sowie lebensgroße Statuen „Heros" oder „Stier"
(1904), soll hier nur angedeutet werden. Doch bereits 1910 konstatierten Kritiker, daß Geyger
seinen künstlerischen Zenit überschritten habe.9 Der enge Kontakt zum Kaiserhaus und zu
den Berliner Museen über Wilhelm von Bode blieb Geyger dennoch erhalten.10 1912 wurde in
Neukölln eine Straße — schon zu Lebzeiten (!) — nach ihm benannt.
3
Zu Beginn des Ersten Weltkrieges mußte Geyger sein Landgut bei Florenz aufgrund der politischen Spannungen zwischen Italien und Deutschland verlassen.
1915 erging ein Auftrag zur Gestaltung eines Brunnen von der Stadt Neukölln an Geyger; 1919
war die Brunnenanlage mit dem Titel „Deutscher Wald" vollendet, konnte aber erst 1935 aufgestellt werden.
Am 29. November übernahm Geyger — der zu dieser Zeit in der Öffentlichkeit weit mehr
durch seine plastischen denn seine graphischen Arbeiten bekannt war — das Meisteratelier für
Graphik an der Akademie der Künste in Berlin. Der Vertrag war auf zehn Jahre befristet und
sah darüber hinaus keine Pensionsansprüche vor. 1928 — Käthe Kollwitz hatte sein Lehramt
übernommen — verließ Geyger endgültig Berlin. Zuvor hatte er sein Florentiner Landgut
zurückerwerben können. Das Ausbleiben von öffentlichen Aufträgen zwang ihn, seinen
Lebensunterhalt auch durch den Anbau von Getreide, Öl und Wein zu verdienen.11
In Deutschland besetzten die Nationalsozialisten Geygers Arbeiten mit eigenen ideologischen
Werten und stellten die Skulpturen des mittlerweile 70jährigen auf eine Stufe mit Skulpturen
eines Arno Breker und anderer die nationalsozialistische Staatsidee unterstützender Künstler.
Im Juli 1936 erhielt Geyger den „Ehrensold des Nationalsozialistischen Deutschlands" auf
Lebenszeit zugesprochen.
Am 11. Dezember 1941 starb Ernst Moritz Geyger in Florenz. Nach testamentarischer Bestimmung wurde seine Asche nach dem Zweiten Weltkrieg auf dem Ulmer Hauptfriedhof beigesetzt. Den einfachen Grabstein ziert die Lilie von Florenz.12
Mit seinem CEuvre weist sich Geyger als ein Meister in verschiedenen künstlerischen Gattungen aus: Malerei, Graphik und Plastik. Gerade in der Beherrschung unterschiedlicher Techniken zeichnet sich Geygers Können ab. Betrachtet man die langen Zeiträume, die der Künstler
zur Vollendung seiner Arbeiten benötigte („Nilpferd und Löwe", „Stier", „Primavera" jeweils
vier Jahre), so erstaunt Geygers Gewissenhaftigkeit gegenüber der gestellten künstlerischen
Aufgabe. Rücksichtslos gegen sich selbst verschwendete er seine Arbeitskraft geradezu an die
kleinteilige Durchbildung der äußeren Form. Das Bild der von Ovid beschriebenen und am
Pergamon-Altar in Marmor umgesetzten „Gigantomachie", der aussichtslose Kampf der
Giganten gegen die Götter des Olymp, drängt sich als Vergleich auf.
War es 1893 die Beschneidung der künstlerischen Phantasie, die Geyger die Lehrtätigkeit in
Dresden niederlegen ließ, so muß man bei der Übersicht seiner Arbeiten feststellen, daß gerade
das Fehlen dieser Phantasie eine durchgehende Größe in Geygers Schaffen darstellt. Das Gros
seiner Werke ist in direkter Anlehnung an Arbeiten anderer Künstler entstanden.
In der Auseinandersetzung mit Geyger fällt auf, daß die Literaturlage zu seinem Leben und
CEuvre sehr spärlich ausfällt.13 Selbst zu Lebzeiten galt Geyger als „vergessener" bzw. „in Vergessenheit geratener" Künstler" M, seine Emigration aus künstlerischer Intention nach Florenz
mag diesen besonderen Umstand mit bewirkt haben.
Der „Bogenschütze"
Die Entstehung des „Bogenschützen" wurde von Geygers Zeitgenossen als Geniestreich gefeiert ; Geyger habe ohne ein Zwischenmodell in der Originalgröße modelliert, direkt nach der
Natur, dabei habe er nach freiem Augenmaß gearbeitet, ohne Zirkel oder Zollstock zu benutzen. Erfahrungen im Gipsmodellieren und im Umgang mit überlebensgroßen Skulpturen fehlten Geyger zu jener Zeit ebenfalls.
4
Abb. 2:
Galvanobronzereplik des
„Bogenschützen"
der Firma WMF-Geislingen,
Atelieraufnahme
von 19. Dezember 1928,
Höhe: 200 cm
(Archiv der WMF;
Wirtschaftsarchiv
Baden-Württemberg)
Galt diese Vorgehensweise in der Wilhelminischen Ära als Garant für Qualität, so stand man
ihr vor dieser Zeit und steht ihr auch heute eher skeptisch gegenüber. Zu erkennen sind bei
allem Streben nach idealisierender Wiedergabe der Anatomie Fehler bzw. Ungereimtheiten
der Formulierung.
Dargestellt ist ein nackter junger Mann, der seinen zielgerichteten Lauf unterbricht, den Oberkörper zurückdreht und mit dem gespannten Bogen den eingelegten Pfeil auf ein von ihm
bestimmtes Ziel lenkt. Die klassische Nacktheit wurde vom Künstler gewählt, der Kopf mit
einem „römischen Helm" bedeckt. Unterfangen wird die Skulptur von einer naturassoziierenden, rechteckigen Plinthe, deren eine Ecke sich zu einem leichten Hügel erhebt, auf dem der
rechte Fuß des Jünglings ruht. Der Körperbau des Epheben weist, bei aller Jugend, stark durchgebildete Muskulatur auf, die in der Anspannung des bevorstehenden Schusses am ganzen
Körper deutlich hervortretend modelliert ist. Doch weist die großangelegte Gebärde zum
einen weit über das eigentliche Motiv des Bogenschießens hinaus, zum anderen erstaunt die
tänzelnde Haltung, d. h. die Leichtigkeit der Drehung in der Hüfte angesichts der kraftfordernden Tätigkeit.
5
Trotz der monumentalen Größe von annähernd vier Metern ist jedes Detail genauestens herausgearbeitet. Überflüssiges, das in neubarocker Manier das Genrehafte des Motives hätte
unterstützen können, wurde von Geyger bewußt vermieden; eine Ausnahme bildet die Kopfbedeckung. Dagegen sind Elemente ablesbar, besonders in der weichen, fast floralen Linienführung, die man schon dem Formenrepertoire des Jugendstils zuordnen könnte.
Ernst Moritz Geyger war nicht der erste Künstler, der sich im 19. Jahrhundert mit dem aus der
Antike entlehnten, allgemeingehaltenen Thema „Bogenschütze" auseinandersetzte. Jahre
zuvor (1884) hatte Joseph Uphues einen kleinformatigen „Bogenschützen" in Bronze gießen
lassen.15 Geyger folgte der künstlerischen Strömung nach Reduktion von Form und Inhalt,
überspannte und beendete aber gleichzeitig für sich selbst die Umsetzung des Themas, indem
er die Ausführung der Skulptur ins Überlebensgroße steigerte, möglicherweise in direkter
Anlehnung an den „Herkules Farnese" der Kasseler Wilhelmshöhe. Zeitlich später entstandene Bogenschützen anderer Künstler, wie zum Beispiel von Emile Bourdelle (1909) und
Hugo Lederer (1929), sind in der Umsetzung des Motives weit überzeugender.
Geyger kannte die Vorliebe des Kaisers für monumentale Bauaufgaben, er kannte dessen
Wunsch nach repräsentativen Lösungen, aber auch des Kaisers Vorliebe für Tanzdarstellungen
und Abbildung von antikisch-klassischer Jünglingsnacktheit. Auch wußte Geyger um die
generelle Überbewertung der Monumentalplastik, die meist identisch war mit der sogenannten
„offiziellen Kunst" durch Bildhauer von Staatsaufträgen. Nur mit einer monumentalen Skulptur konnte sich Geyger aus dem Meer der namenlosen Bildhauer herausheben.
Vorbilder für den „Bogenschützen" lassen sich leicht aufzeigen. Am nächstliegenden sind
antike Darstellungen des bogenschießenden Apollon oder des Herkules, wie sie auf Vasen
oder in Reliefs zu finden sind. Auch die Graphiken des Antonio del Pollajiuolo und Albrecht
Dürers müssen in diesem Zusammenhang erwähnt werden. Im dreidimensionalen Bereich fällt
besonders Peter Flötners „Apollonbrunnen" (1532) für Nürnberg auf; aber auch der Herkuleszyklus des Brandenburger Tores (nach 1791), das in seiner Planungsphase noch als „Porta
Fridericiana" verstanden werden wollte, muß hier angeführt werden.16
Von der Vorbildfunktion des „Apollon von Belvedere" oder gar des „Idolino" muß abgesehen
werden. Das direkte Vorbild, das bisher noch nicht in die Diskussion um den Geygerschen
„Bogenschützen" eingebracht wurde, steht mit Friedrich II. in engster Verbindung. Es handelt
sich um „einen unrichtig zum Bogenschützen ergänzten Torso eines Faustkämpfers".17 Der
Torso wurde nach einer phrygischen Münze ergänzt und weist den für Geygers „Bogenschützen" typischen „interessante(n), etwas raffinierte(n) Gegensatz in der Richtung des Beckens
und der Schulter" auf.18
Im Auftrag Friedrichs II. war unter anderen der sächsische Arzt Bianconi in Italien zum
Zwecke von Antikenankäufen tätig. Bianconi erwarb vor 1770 die Natalische Sammlung in
Rom, in der sich auch der o. g. Torso befand. Friedrich II. ließ das Schloß und den Schloßpark
von Sanssouci mit diesen Skulpturen ausschmücken; der ergänzte Marmortorso befand sich
damals vor dem Neuen Palais, gelangte später in das Alte Museum in Berlin.
Auch mit der Wahl des Materials schlug Geyger eine Verbindung zu Friedrich II.; dieser hatte
1780 in Potsdam eine Werkstatt für Kupfertreibarbeiten gegründet.19
Als Kaiser Wilhelm II. den „Bogenschützen" von Geyger auf der Großen Kunstausstellung am
Lehrter Bahnhof für 10 000 Mark erwarb, bemerkte er möglicherweise in der Skulptur nicht
allein den äußerlichen Reiz. Er könnte auch an den „Bogenschützen" seines von ihm besonders
verehrten Vorfahren gedacht haben.
Eigentlich hatte die Städtische Kunstkommission den „Bogenschützen" zur Ausschmückung
des Weddinger Humboldthains erworben, doch auf Wunsch des Kaisers mußte die Kommis6
Abb. 4:
„Fälschlich zu einem
Bogenschützen ergänzter Torso
eines kräftigen Jünglings".
Vermutlich direktes Vorbild
für Geygers „Bogenschützen",
(in: Katalog der Königlichen
Museen zu Berlin, Berlin 1891,
S.183, Kat.-Nr.469)
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sion von dem Kauf zurücktreten. Als Ersatz für den Humboldthain versprach Geyger einen
lebensgroßen Stier in Marmor.
Geyger ließ sich verständlicherweise den kaiserlichen Auftrag nicht entgehen, schließlich
bedeutete dies eine besondere Auszeichnung und steigerte die künstlerische Nachfrage besonders aus den Reihen des Bürgertums, das sich in Fragen der Kunst am Hof orientierte.
Die bereits erwähnten Firmen Gladenbeck und WMF sorgten mit ihren Vervielfältigungstechniken für die Möglichkeit eines wohlfeilen Erwerbs des „Bogenschützen" nicht nur in Form
von Ladenbronzen. Dabei nahm Geyger die Gefahr in Kauf, daß die ursprünglich monumentale Bildidee seiner Skulptur durch die Verkleinerung in Vorgarten und Kommodengröße zu
Nippes und Kitsch verkam. Die Vorurteilslosigkeit bei dieser lukrativen Vermarktung von
Skulpturen wurde zur gleichen Zeit von anderen Künstlern geteilt. Die Minderbewertung der
7
Kleinplastik spielte für den einmal bekannt gewordenen Künstler keine Rolle mehr, hier ging es
um rein finanzielle Interessen.
Von den großplastischen Wiederholungen des „Bogenschützen" haben sich folgende fünf
Exemplare erhalten:
Das „Original" steht seit 1902 im Schloßpark von Sanssouci. Eine Galvanobronzereplik wurde
1913 von dem dänischen Brauereibesitzer und Kunstmäzen Carl Jacobsen angekauft und im
Eingangsbereich des Isdraetsparken in Kopenhagen aufgestellt. Um 1920 gelangte eine Galvanoreplik der WMF, 200 cm hoch, über die Richtersche Stiftung als Elternspende in den Besitz
der Arndt-Oberschule in Berlin-Dahlem; vorübergehend fand sie in der Altensteinstraße, auf
dem Gelände des damaligen Kunsthistorischen Institutes der Freien Universität Berlin, Aufstellung. 1926 übergab die WMF eine 200-cm-Replik der Stadt Ludwigshafen/Rhein als Werbegeschenk anläßlich der Süddeutschen Gartenbauausstellung (SÜGA) auf dem Gelände des
heutigen Ebert-Parks. 1939 erwarb die Stadt Hannover eine 200 cm hohe Galvanoplastik des
„Bogenschützen" aus Privatbesitz; sie steht seit 1967 vor dem Rathaus der Stadt.
Auf der Großen Kunstausstellung in Dresden im Jahre 1934 wurde das Originalgipsmodell des
„Bogenschützen" ausgestellt. Geyger schenkte der Stadt Dresden das Modell; ein Bronzeguß
wurde hergestellt, seit 1936 ziert die Figur die Freitreppe des damals neugestalteten Königsufers vor der Augustusbrücke.
Im Vergleich der Standorte der Figuren fällt auf, daß nur — gemessen an der jeweiligen Größe
— die Dresdner Aufstellung der Plastik den für sie notwendigen Freiraum beläßt. Im Parterre
der Neuen Orangerie in Potsdam erscheint der Jüngling geradezu gefangen; in Kopenhagen,
Berlin, Hannover und Ludwigshafen erhält die Figur zusätzlich die Funktion eines Wegweisers, denn die Spitze des Pfeiles ist ausgerichtet z. B. auf den Eingang des Rathauses, des
Stadions oder der Mehrzweckhalle. Am Königsufer dagegen bietet sich dem „Bogenschützen"
ein weiter Raum, an dem er seine eigene Monumentalität am Korrektiv der Elbe abschätzen
und ermessen mag.
Anmerkungen
1 Gustav Lind (Wien 1856 - Berlin 1903).
2 Geygers Vorfahren siedelten um 1824 von Neufchatel nach Berlin über. Sein Vater Gustav Ernst
Geyger heiratete 1858 Albertina Lisetta Ida Brückner. Geyger hatte zwei Geschwister. Vgl.
Bruno Goldbeck, in: Mitteilungsblatt des Neuköllner Heimatvereins e.V., Nr. 10 August 1957.
3 Kunst für Alle, Jg. 2, 1887/88, S. 370.
4 dito, Jg. 7, 1891/92, S. 331 f.
5 Die Auflage wurde auf 50 Exemplare begrenzt, die großen europäischen Kupferstichkabinette
erhielten je einen Abzug; freundliche Mitteilung der Tochter des Künstlers.
6 vgl. Anm. 2; der ebenfalls für die Professur vorgeschlagene Max Klinger sagte ab, da er die akademische Enge für seine künstlerische Entwicklung hinderlich glaubte.
7 Kunstchronik N.F., Jg. 9, 1899/1900, Nr. 33, S. 519; Kunst für Alle, Jg. 16, 1900, S. 284.
8 Die von Gladenbeck angebotenen Größen: 30,47,82 cm. Die Größen der WMF-Repliken: 100,
200, 344 cm.
9 Kunst für Alle, Jg. 36, 1910.
10 Das Archiv der alten Nationalgalerie verwahrt 113 Briefe Geygers an Bode.
11 Vgl. Brief Adrian Lucas Müller an den Oberbürgermeister von Dresden Ernst Zoerner vom
7. Oktober 1936; Stadtarchiv Dresden.
12 Bruno Goldbeck, in: Mitteilungsblatt des Neuköllner Heimatverein e.V., Nr. 32. 1967, S. 697 f.
8
13 Maximilian Rapsilber, Ernst Moritz Geyger, Berlin 1904; Johannes Guthmann, in: Münchener
Jahrbuch der bildenden Kunst, Bd. 4, München 1909, S. 177 ff.; Adrian Lucas Müller, in: Westermanns Monatshefte, Bd. 150, Nr.898, München 1930, S. 360 ff.; vgl. Anm. 2 und 12, zuletzt
Sibylle Einholz, in: Ausstellungskat. Ethos und Pathos, Hrsg. Bloch/Einholz/v. Simson, Berlin
1990, S. 109 f.; Geyger-Archiv des Heimatmuseums Neukölln.
14 besonders Müller, 1930, S. 363.
15 Höhe: 57,8 cm; vgl. Ausstellungskatalog Rheinland Westfalen und die Berliner Bildhauerschule
des 19. Jahrhunderts, Hrsg. Bloch/Hüfter, Berlin 1984, S. 207.
16 Vgl. Gert-Dieter Ulferts, in: Das Brandenburger Tor, Hrsg. Arenhövel/Bothe, Berlin 1991,
S. 117 ff.
17 Katalog der Königlichen Museen zu Berlin. Beschreibung der Antiken Skulpturen mit Anschluß
der pergamenischen Fundstücke. Hrsg. Generalverwaltung, Berlin 1891, S. 183 mit Abb.; der
Marmortorso wird als Kopie einer Bronzeplastik des Glaukias erwähnt.
18 Johannes Overbeck, Griechische Kunstmythologie, Besonderer Theil, 3. Band, 5. Buch, Leipzig
1889, S. 218 ff. mit Abb.
19 u. a. wurde hier J. G. Schadows Quadriga gearbeitet, fertiggestellt 1793, Scheitelhöhe: 415 cm.
Bekanntester Mitarbeiter Emanuel Jury.
Anschrift des Verfassers:
Martin H. Schmidt, Schwingstraße 5—7, 6800 Mannheim 24
Buchbesprechungen
Herbert Sonnenfeld. Ein jüdischer Fotograf in Berlin 1933—1938. Ausstellungskatalog des BerlinMuseums vom August bis Oktober 1990. Texte von Maren Krüger, 146 Seiten, zahlreiche Abbildungen, Anmerkungen und Literaturverzeichnis, Nicolai Verlag, Berlin 1990
Das Berlin-Museum hat Fotos aus dem reichen Nachlaß von Herbert Sonnenfeld präsentiert und in
vorliegendem Katalog interpretiert. Das Ansprechende daran ist großenteils aus der ungewöhnlichen
Biographie Sonnenfelds zu erklären. Als ein seit 1933 Verfolgter, aus seinem Beruf gedrängt, und
nachdem er für sich selbst die Unmöglichkeit erkannt hatte, in Palästina zu leben, beschränkte er sich
darauf, ausschließlich für jüdische Zeitschriften jüdisch geistiges und soziales Leben in der Periode
seines Zusammengedrängtseins zu dokumentieren. Seine Leidenschaft, dies widerzuspiegeln, fällt in
die erste Phase der Unterdrückung und Verfolgung bis 1938, als der Gedanke des Holocausts noch
kaum denkbar erschien. So wird hier, wie das Vorwort betont, eine „Scheinwelt an der Grenzlinie des
gerade noch und des noch nicht sichtbar". Die Berliner Judenschaft war auf die Wiederausbildung
ihrer bisher schon verwischten Judenheit geworfen und suchte sich eine Zukunft in der Auswanderung nach Palästina. Dieser Vorzustand hat ein höchst gesteigertes Leben hervorgebracht. — Der
Betrachter ist nicht nur beeindruckt von der Unmittelbarkeit der lebendigen Alltagsbilder, die ein
hohes fotografisches Können zeigen, sondern auch von der bezeigten tapferen Lebensfreude trotz der
Bedrohung. Er betrachtete sie aber auch von zeitlich rückwärts her und sieht die damals junge Generation sich in unerhörtem Pioniergeist vorbereiten, außer Landes zu gehen. Er findet hier die Keimzelle derjenigen sozialen und wirtschaftlichen Gebilde, die der Israel-Reisende noch vor 15 bis 20 Jahren sehr lebendig vorfand und die nun heute auch schon von „modernerem" Leben überwachsen sind.
Die Bilder müssen mit den erklärenden und ergänzenden Texten der Maren Krüger zusammen gelesen werden. Die Herausbildung so explizit jüdischen Lebens ist nur möglich gewesen, weil die Berliner
jüdische Bevölkerung aus ihrer längst vollzogenen Anpassung herausgerissen und zur Anerkenntnis
ihrer jüdischen Identität gezwungen wurde.
„Die jüdischen Institutionen vermochten nicht nur die Auswirkungen der zunehmenden Verarmung
und sozialen Isolation zu mildern. Nicht zuletzt versuchten sie, Antwort zu geben auf die Fragen nach
den Standorten der Juden im nationalsozialistischen Deutschland, nach Inhalt und Form jüdischer
Gemeinschaft, nach einer sich unter dem äußeren Druck wandelnden deutsch-jüdischen Identität."
9
Die krisenhafte jüdische Einengung zwang die Judenschaft zur Vervollkommung bestehender sozialer und wirtschaftlicher und schulischer Einrichtungen, Altersheime und fürsorgerischen Anstalten,
Säuglingsheimen und Wohlfahrtseinrichtungen wie der Winterhilfe, Krippen und Ambulatorien,
Fortbildungsanstalten, Schulen und Landschulen, Nähstuben und Kurse für Kochen und Hebräisch.
Jugendbünde und Sportvereine übten das Leben in Wohngemeinschaften. Die Erwachsenenbildung
wurde ausgebaut, und entlassene jüdische Lehrer wurden umgeschult, jüdisches Theater wurde
gepflegt, Ausstellungen jüdischer Maler organisiert. — Von alledem berichten die Bilder und Texte.
Herbert Sonnenfeld lichtete die Tagungen der zionistischen Vereinigung ab, die die Auswanderung
vorbereitete. Im Mittelpunkt ihrer Tätigkeiten stand die Berufsumschichtung der aus intellektuellen
und kaufmännischen Berufen Verdrängten in handwerkliche Tätigkeiten. Da Auswanderung die
Zukunft der Jugend schien, entfalteten sich in Jugendbünden Ideale vom einfachen Leben in der
Gemeinschaft, in der Großstädter aufs Landleben eingestimmt und an primitive Wohn- und Lebensverhältnisse gewöhnt wurden. Diese zionistischen Bünde bildeten die Keimzellen der späteren Kibbuzim. — Wir sehen Bilder aus Landwirtschaftsschulen und Lehrküchen und handwerklichen Ausbildungsstätten. Wir werden aber auch tief berührt vom trügerischen Optimismus bei der Abfahrt eines
Zuges nach Marseille, von wo ein Schiff die jungen Menschen nach Haifa bringen sollte. Sehr
schmerzlich berührt dabei die tapfere Frische, ein bisher fremdes Schicksal in Palästina anzunehmen;
noch tragischer erscheint die Reflexion, daß Inhalte und Ausdrucksformen auch hier gelebten jugendlich-bündischen Lebens denen der nichtjüdischen Jugend in Deutschland so ähnlich waren, hätte es
die schreckliche ideologische Perversion nicht gegeben. So fragt sich der Betrachter, sollte es der älteren Generation hüben und drüben nicht möglich sein, von diesen gemeinsamen Anfängen her über
Gräben zueinander zu finden, sofern das unter den Überlebenden nicht schon geschehen ist?
Christiane Knop
Axel Reibe: Unterwegs in Reinickendorf. Geschichte und Geschichten im Vorübergehen. Wilhelm
Möller KG. Berlin 28. Broschiert 87 Seiten. 7,80 DM
Auf acht Spaziergängen durch Reinickendorf selbst und durch die Ortsteile des Bezirks werden Historisches und Kurioses beschrieben und Unbekanntes wie Merkwürdiges entdeckt. Die einzelnen Spazierweg-Routen sind auf Karten eingezeichnet. Die Wappen des Bezirks und von sechs früher selbständigen Gemeinden werden in Farbe wiedergegeben.
Der Verfasser oder „Wanderführer" nimmt den Leser quasi an die Hand — „wir gehen . . . ", „Sie
sehen . . . —" und beantwortet viele Fragen, die ihm ein Begleiter stellen würde. Eine von ihm aufgeworfene Frage, warum die Reinickendorfer Bezirkspolitiker den früheren Interessentenweg in
Lengeder Straße umtauften, sei hier geklärt: es war nicht „Ironie oder unfreiwilliger Humor", sondern
das Gedenken an das „Wunder von Lengede", als nach einem Bergwerksunglück in einem Schacht
dieses bei Peine gelegenen Ortes nach zehn Tagen noch lebende Kumpel entdeckt wurden.
Die Spazierwege umfassen fast das ganze Gebiet Reinickendorfs, vielleicht wurden Heiligensee,
Tegelort und Konradshöhe deswegen ausgelassen, weil hier der Spaziergang wohl schon in eine Wanderung umgeschlagen wäre. So werden übrigens alle diese Kapitel überschrieben. Das Büchlein ist ein
verläßlicher Führer und handlich-freundlich obendrein. Der aufmerksame Leser wird sich kaum an
kleinen Unrichtigkeiten stoßen. So wurden die Gebeine Michael Glinkas (gestorben 1857) sicher in
der Nähe St. Petersburgs und nicht Leningrads beigesetzt (S. 68). Die Brüder Humboldt würden sich
dagegen verwahrt haben, als Gebrüder bezeichnet zu werden, weil sie keine Firma waren. Und wenn
der Rundweg auf S. 24 der Entdeckung Frohnaus, „dem Dahlem des Nordens", gewidmet ist, so hätte
Kurt Pumplun, dem diese Bezeichnung zu verdanken ist, hier bestimmt ein „des" geschrieben.
Hans G. Schultze-Berndt
„Insel Potsdam. Ein kulturhistorischer Begleiter durch die Potsdamer Landschaft4' von Michael
Seiler und Jörg Wacker, Vorwort von Goerd Peschken, Fotografien von Hermann Kissling, 159 Seiten, viele Abbildungen, Literaturangaben, „Plan der Insel Potsdam " von 1867 und Luftbildkarte „Die
Potsdamer Parklandschaft auf dem Weltraum". Museumspädagogischer Dienst im Verlag Dirk
Nishen, Berlin 1990
10
Der Bild- und Textband läßt die Potsdamer Parks als ein Gesamtkunstwerk erstehen und ist ein höchst
informativer Begleiter für 48 Spaziergänge zwischen Werder und der Pfaueninsel. Er entspricht der
Ankündigung im Titel also in vollem Maße und verlockt zu eigener Erkundung im Potsdamer
Umland. — Beide Autoren lassen den Betrachter die historische Bodengestalt gleichsam mit Röntgenaugen durchdringen und legen die ursprünglichen architektonischen Grundlinien ihrer Bepflanzung und Bebauung bloß, die vielfach überwuchert oder verfälscht waren. Das Grundkonzept ist der
1835 erstellte Lennesche „Verschönerungsplan der Umgebung von Potsdam", der Italien in die Mark
zu versetzen strebte. Dies geschah nicht in einem Zuge, sondern wir hören im Vorwort, daß die ersten
Anstöße schon auf des Großen Kurfürsten holländisch beeinflußtes Landschaftskonzept zurückgehen; sein Vermessungsingenieur Moritz von Nassau legte die ersten Blickverbindungen zwischen
dem Ortschaften, Gütern und Schlössern des Kurfürsten. Stand für Friedrich Wilhelm wegen des
Warenverkehrs die Schiffbarkeit der Havel im Vordergrund seines Interresses, so vervollkommnete
sich die Landschaftsgestaltung in romantischer Zeit im Sinne der empfindsamen Kunstlandschaft.
Wir lesen, wie die hohenzollerischen Auftraggeber, die Könige Friedrich IL, Friedrich Wilhelm II.
und III. und IV, die Prinzen Carl und Wilhelm Stück für Stück eine Zutat nach der anderen dem
Ganzen hinzufügten, jeder auf seine Art.
Die Autoren suchen Orte allgemeiner Bekanntheit auf wie den Brauhausberg und den Pfingstberg,
den Neuen Garten, aber auch Abseitigeres wie Bornim und Nattwerder, Golm und Eiche, Geltow
und Petzow, Templin und Caputh, den Nedlitzer Kirchberg. Die Baumallee beim Kuhforter Damm
und der Wildpark werden ebenso im ursprünglichen Zustand erlebt wie der Höhenweg zwischen
Glienicke und Nikolskoe. Verff. haben auch alte italienische Villen am Jungfernsee und an der Glienicker Brücke — teilweise noch vor ihrem Abriß — aufgesucht und abgebildet. — Oft werden für dasselbe Motiv alte Stiche oder Aquarelle den Aufnahmen aus neuer Zeit gegenübergestellt.
Der Leser wird mit einer Fülle von Informationen beschenkt, die seine Entdeckerlust wecken.
Christiane Knop
Berlinische Lebensbilder. Theologen. Sammelband von Aufsätzen einer Reihe von 21 Autoren,
hersg. von Gerd Heinrich, 389 Seiten, zahlreiche Abbildungen, Namensregister, Anmerkungen mit
Literaturangaben, Colloquium Verlag, Berlin 1990
Das Buch bringt eine Auswahl — zumeist protestantischer — Theologen, die den Wandel der lutherischen Lehre und des evangelischen Selbstverständnisses im brandenburgisch-preußischen Staat im
Lauf von fünf Jahrhunderten markieren. Das Schwergewicht ihres Wirkens ist auf Berlin konzentriert.
Ihre Reihe reicht vom ersten noch vorreformatorischen „Hofprediger" an der Schloßkapelle des Kurfürsten Friedrich I., Stefan Bodecker, bis zu Dietrich Bonhoeffer. Mit seinem Namen ist eine Perspektive gegeben, die der Verantwortlichkeit des Christen für Staat und Gesellschaft seiner Zeit. Voraussetzung dafür ist der demokratische Staat, was auch seine zeitgenössischen katholischen Kollegen zu
ihrem Widerstand gegen den unchristlichen Unrechtstaat bestimmt hat. — Die enge Verbundenheit
der Berliner Geistlichen mit den brandenburgischen Kurfürsten, Königen und Kaisern als den obrigkeitsstaatlichen Kirchenherren hat seit der Reformation ihre Besonderheit ausgemacht, sei es, daß sie
als kurfürstliche Räte im diplomatischen Dienst tätig waren, sei es die Aufgabe der Harmonisierung
beider evangelischer Glaubensrichtungen der Lutheraner und Reformierten (durch Bergius und
Jablonski), sei es das Ausbilden der religiösen Grundlage der für die altpreußische Kirche charakteristischen Verbindung von Thron und Altar durch Bergius und Hengstenberg, sei es das Einstehen für
demokratische Freiheit und Menschlichkeit bei Bonhoeffer und den Katholiken Preysing und Lichtenberg.
Jedes Lebensbild ist in sich stoffreich und gedanklich vielfältig gezeichnet. Jeder der Pastoren, Professoren, Domprediger und Bischöfe trägt eine neue Farbe in das Bild evangelischen Christentums.
Einige Namen wie Hengstenberg, Kottwitz und Jablonski sind relativ unbekannt, andere wie Propst
Lichtenberg, Leo Baeck, Dietrich Bonhoeffer, Otto DibeUus sind deutlicher im Bewußtsein. — Geht
man von der Maxime Leo Baecks aus, daß religiöse Bildung Gewissenserweckung sei, ist es zutiefst
berechtigt, auch diesen jüdischen Religionsphilosophen und staatsmännisch denkenden Juden wie
die Katholiken Bernhard Lichtenberg, Carl Sonnenschein und Konrad Graf von Preysing in den thematischen Kreis hineinzunehmen. Ihre Studienzeit fiel in die bildungsoffenen und kulturell reichen
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ersten beiden Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts. Diese innere Fundierung machte sie wach und verantwortungsbewußt, vor nationalistischen und diktatorischen Gefahren zu warnen und gegen krasses
Unrecht zu protestieren. Dies gab ihnen auch die Autorität, nach dem Ende des Dritten Reiches den
geistigen Wiederaufbau und die Neugründung der Gemeinden im Westteil der Stadt zu leiten.
Die Vielzahl christlicher und jüdischer Persönlichkeiten läßt sich bündeln nach landsmännischer Herkunft. Da sind neben den gebürtigen Berlinern wie Klepper die Schlesier Jablonski, Lichtenberg und
Baeck, der Uckermärker Büchsel, die Sachsen Süßmilch, Sack, Stoecker und Dryander, der Westfale
Sonnenschein. Es läßt sich ferner die Geprägtheit durch die vorwiegend protestantischen Universitäten Wittenberg, Frankfurt an der Oder, Halle, vor allem aber Berlin beobachten.
Durch ihre Reihe zieht sich das geistesgeschichtliche Band von lutherisch-orthodoxem Christentum,
Kalvinismus, Pietismus, die Aufklärer wie Sack und Spalding und die „Stillen im Lande" zur Zeit
Friedrich Wilhelms IV., dann die von sozialer Verantwortung geprägten Volkstheologen des ausgehenden 19. Jahrhunderts, schließlich die „Bekenner" von Barmen.
Eine schwierig zu beschreibende Sonderstellung nimmt Adolf Stoecker ein, dessen volksmissionarisch guter Wille aufs tiefste pervertiert wurde von seinem Antisemitusmus und seiner antiliberalen
Haltung. Beides ist von den Nationalsozialisten ins Extreme verkehrt worden. Er ist also nicht ohne
das Gespenst des Holocausts zu betrachten. Verf. Pollmann bemüht sich dennoch um ein angemessenes Verständnis. Es ist ihm wohl zuzustimmen, wenn er trotz aller Bedenklichkeiten das Verdienst
hervorhebt, die soziale Frage innerhalb der Massen- und Industriegesellschaft aufgegriffen und das
kirchliche Anliegen streitbar vertreten zu haben, so sprunghaft, inkonsequent und naiv sein politisches Vorgehen, eine christliche Arbeiterpartei gründen zu wollen, auch war. Er hat die gründerzeitliche Generation von Großstadtpfarrern in ihrem Kampf gegen die Entkirchlichung im ausgehenden
19. Jahrhundert ermutigt. Ohne ihn ist auch ein Bonhoeffer oder Sonnenschein schwer denkbar. Sein
Werk und seine Methode der Stadtmission hatten Bestand. — In seinem Fahrwasser ist auch Büchseis
Wirksamkeit an der Matthäuskirche zu nennen. Auf sein Betreiben wie auf das Stoeckers wurden die
großen Parochien der einstigen vorstädtischen Gemeinden geteilt und für die Seelsorge an Arbeitern
effektiver gemacht.
Die Berliner Theologen werden geschildert als Oberhof- und Domprediger — wie Bergius. Hengstenberg und Stoecker —, als Vertraute und Berater der Hohenzollern wie Sack und Jablonski; andere traten hervor als Verfasser pädagogischer Schriften, Hausbücher, Bibelübersetzungen und -ausgaben
und Zeitschriften, wieder andere als Gründer von Waisenhäusern und Schulen. Dieser Tätigkeit früherer Zeiten entspricht im 20. Jahrhundert das Wirken der Stadtmission, die Wirksamkeit von Lichtenberg und Sonnenschein bei den Arbeitern und Akademikern, die er über die sozialen Schranken
hinweg zusammenführen wollte. Schließlich sind Hilfswerke für verfolgte Juden zu nennen und aktive
Teilnahme am Widerstand, gestützt auf ihre Verbindungen zur Ökumene. Ein Kapitel ist dem Kirchenhistoriker Hafftiz gewidmet.
Die Aufmerksamkeit wird ferner gelenkt auf die Kirchenlieddichter Paul Gerhardt und Jochen Klepper und ihre unzerstörbare Glaubenskraft, die sich dem Grauen und Zweifel entgegensetzte. — Historiker der Hohenzollernfamilie finden eine schlichte Würdigung des Oberhof- und Dompredigers
Dryander und seiner Hingabe an die letzten Hohenzollern.
Christiane Knop
Drei Wegweiser von Wolfgang Gottschalk: Südwestfriedhof Stahnsdorf; Garnison- und Invalidenfriedhof; Friedhöfe der St.-Hedwigs-Gemeinde Dirk Nishen Verlag 1990 und 1991 je 9,80 DM
In der Vorbemerkung seines „Büchleins" zu den Friedhöfen der St.-Hedwigs-Gemeinde schreibt der
Autor: „Da Fehler und Lücken dabei nicht auszuschließen sind, bin ich für korrigierende und ergänzende Hinweise dankbar."
Also nutzen wir die noblen Seiten der Vereins-Mitteilungen oder verschwenden wir sie (?) für eine
Rezension, die die Fehler und Lücken nicht korrigieren kann, denn das hieße, neue Manuskripte zu
verfassen. Artikulieren wir die vielen Fragen, die diese „Büchlein" aufwerfen, und versuchen wir,
Antworten als ergänzende Hinweise einzubringen.
Frage eins: Warum konnten diese journalistischen Hefte nicht vor der Wende erscheinen? Nur mit der
Grenze DDR hätten sie eine gewisse Akzeptanz erreichen können. Heute ist man allerdings über ihre
Veröffentlichung verwundert.
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Frage zwei: Mit welcher Berechtigung kamen sie noch 1990 und 1991 in dieser Konzeption auf den
Markt? Sie bieten nicht einmal dem anspruchslosen Friedhofsspaziergänger Informatives zu den
Gräbern, den Bestatteten, den Künstlern, denn eine reine Aufzählung von Namen ergibt noch keinen
„brauchbaren" Führer, und das Abbildungsmaterial, oft Orientierungshilfe zur Auffindung von Gräbern, ist unvermittelt — ohne direkten Bezug zu seinem Text — eingestreut. Der einzig rechtfertigende
Aspekt für diese textdurchgängigen Friedhofsführer war nur im Hinblick auf die existierende DDR
gegeben — nur in dieser politischen Konstellation hätte man wohlwollend über Mängel hinweggesehen, weil man zufrieden gewesen wäre, überhaupt etwas zu DDR-Friedhöfen zu haben.
Frage drei: Warum übernahm der Verlag das Erscheinungsbild der „Berliner Forum"-Hefte? Legte
er diese zugrunde, um auf der Beliebtheitswelle mitzuschwimmen? Glaubte er, damit die Qualität
gesichert zu haben? Nun, dann muß man ihn und die Hefte — nota bene — auch am „Berliner Forum"
messen.
Im Gegensatz zu Herrn Gottschalk, der sich als gestandener Journalist versteht, sind die Hefte des
„Berliner Forums" von Studenten der Freien Universität Berlin im Rahmen von Seminaren erarbeitet
worden. Und selbst heute noch, 15 Jahre nach Erscheinen des ersten „Berliner Forums" (9/76),
imponiert die solide kunsthistorische Arbeit, obwohl Studenten noch keine Autoren sind. Wichtig ist
eben auch eine fundierte Redaktion! Den guten Autor und die Redaktion lassen die Gottschalk-Hefte
vermissen.
Im Vergleich zu Herrn Gottschalk verstanden es die Studenten schon 1976, ein systematisch geordnetes Heft herauszubringen, das einleitend die Historie des Kirchhofes erzählte und dann einen Katalog
der Gräber anschloß, der jeden Grabstein ikonographisch beschrieb, in einem Foto abbildete und, wie
es wissenschaftlich üblich ist, eine Literatur — wenn möglich — zum Grab, zum Toten oder zum Künstler zitierte. Und es wäre, so denke ich, auch noch 1990/1991 unabdingbar gewesen, dem Benutzer
einen solchen systematisch geordneten und damit „brauchbaren" Führer an die Hand zu geben. In
den Studenten-Heften läßt sich über das Register nicht nur der Verstorbene (9/76; 2/78; 7/80)
finden, sondern in den Nachfolgeheften (7/80; 9/85) auch der Bildhauer.
Apropos Zurechtfinden! Das gelang mir bei Herrn Gottschalk nicht—die Sucharbeit strapazierte und
verärgerte immens! Das einzig Brauchbare an diesen Bändchen sind die Historie und der Plan der
Friedhöfe. Warum übernahm Gottschalk nicht auch die Konzeption des Katalogteiles? Warum verfaßte er eine Aufzählung bedeutender Namen und schwieg zur Grabplastik und dem Bildhauer?
Gerade in diesem kulturhistorischen Thema kann die kunstgeschichtliche Darstellung nicht ausgeklammert sein. Die Kapitel mit den Zwischentiteln „Die Grabmalskunst des Südwestfriedhofs"
(Stahnsdorf, S. 45—59), „Bemerkenswerte Grabstätten und Denkmalskunst" (Garnisonfriedhof,
S. 24—29) und „Zur Grabmalskunst des Invalidenfriedhofes" (S. 45—52) haben bei Gottschalk eine
reine Alibifunktion, denn kunsthistorisch sagen sie nichts aus. Nur zum Verstorbenen formulierte
Gottschalk übergewichtig.
Ergo: Ein System ist nicht erkennbar, schon gar nicht in den willkürlich eingestreuten Abbildungen.
Und warum nicht jedes Grab, was wichtig gewesen wäre, abgebildet wurde, ist unergründlich.
Es wäre nicht so gravierend, hätte Herr Gottschalk das allein für sich zu tragen. Aber dem ist nicht so.
Hier wurde eine große und gute Chance vertan. Bedauerlich für alle insofern, daß durch diese drei verschenkten journalistischen Friedhofsbändchen, die nicht einmal populär-wissenschaftlichen Ansprüchen genügen, eine wissenschaftliche Erarbeitung damit für viele Jahre verhindert worden ist. Auf
diese Desiderate wird nicht nur die Kunstgeschichte, sondern auch die Stadthistorie noch lange warten müssen!
Und wenn man im Geleitwort von Dr. Volker Hassemer zum Garnison- und Invalidenfriedhof liest,
daß er hofft, „daß für beide bald eine denkmal- und gartenpflegerische Betreuung möglich wird, um
dieses kulturelle Erbe unserer Stadt vor weiterem Verfall und vor Vernichtung zu schützen", dann
wird dem Leser klar, daß bei der Zuordnung der „Historischen Friedhöfe" zur Senatsverwaltung für
Stadtentwicklung und Umweltschutz, Abteilung Bau- und Gartendenkmalpflege, die kunsthistorische Betrachtung (Gutachten) in Zukunft außer acht bleibt.
Nicht nur die ungenutzte Chance des Herrn Gottschalk ist eine Crux, sondern auch die Anbindung
der „Historischen Friedhöfe" an dieses Ressort für Stadtentwicklung und Umweltschutz beim Senat
von Berlin.
Brigitte Hüfler
a
Antike Welt auf der Berliner Museumsinsel: Pergamon- und Bodemuseum (= Antike Welt. Zeitschrift für Archäologie und Kulturgeschichte. 21. Jg. 1990. Sonderheft). Mainz: Verlag Philipp von
Zabern, 1990, 140 Seiten, gebunden 39,80 DM, broschiert (im Museum) 22 DM.
Anhand „ausgewählter Zimelien" (in neuen Aufnahmen des Photographen Jürgen Liepe) soll „erstmalig ein repräsentativer Überblick über Vielfalt und Weite, künstlerische Qualität und Dichte" der
weltberühmten archäologischen Sammlungen auf der Berliner Museuminsel gegeben werden
(Geleitwort von Günter Schade, S. 7). Die einzelnen Sammlungen werden von Mitarbeitern der
Staatlichen Museen vorgestellt: Ägyptisches Museum und Papyrussammlung (im Bodemuseum) von
Karl-Heinz Priese (S. 8—37), Vorderasiatisches Museum (im Pergamonmuseum) von Liane JakobRost, Evelyn Klengel-Brandt, Joachim Marzahn und Ralf-B. Wartke (S. 38—69), Antikensammlung
(im Pergamonmuseum) von Max Kunze (S. 70—105) und Frühchristlich-Byzantinische Sammlung
(im Bodemuseum) von Arne Effenberger (S. 106—137).
Alle Objekte sind farbig abgebildet und ausführlich kommentiert. Sie illustrieren die Überblicksdarstellungen, die über Entstehung und Profil der Sammlungen sowie über die kunstgeschichtliche Entwicklung des jeweiligen Bereichs informieren. Die ältesten Funde, die vorgestellt werden, sind Tonstatuetten und eine bemalte Schale aus Mesopotamien aus dem 6./5. Jahrtausend v. Chr. (S. 41—43).
Am anderen Ende der Zeitskala steht eine Mosaik-Ikone des ausgehenden 13. Jahrhunderts aus Konstantinopel, erworben 1904 aus Sizilien (Abb. S. 107, Beschreibung S. 108) für die FrühchristlichByzantinische Sammlung, übrigens „die einzige ihrer Art in Deutschland"; sie umfaßt Kunstwerke
des 3. bis 19. (!) Jahrhunderts und macht „die Mittlerrolle der byzantinischen Kunst zwischen Antike
und Abendland" sichtbar (ebd.).
Erklärtes Ziel ist die Zusammenführung der Sammlungsteile auf der Museumsinsel mit denen, die
sich (noch) in den Museen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz in Dahlem und Charlottenburg
befinden. Bis dahin bietet das „Antike Welt"-Sonderheft eine nützliche Einführung für die zahlreichen altertumsinteressierten Besucher der beiden Ostberliner Museen. Der Mainzer Verlag Philipp
von Zabern — spezialisiert auf Archäologie und Kunstgeschichte — kündigt zu allen vier Sammlungen
ausführliche Bildkataloge („Katalog-Handbücher") an.
Christiane Schuchard
Irina Liebmann: „Berliner Mietshaus." Erstausgabe 1982 im Mitteldeutschen Verlag Halle, 1990
Ausgabe der Frankfurter Verlagsanstalt. 196 Seiten.
Der Verlag hat nicht erklärt, warum er eine Veröffentlichung aus der alten DDR von 1982 nach der
Wende erneut publiziert hat, aber auf den zweiten Blick wird ersichtlich, daß in dieser Augenblicksaufnahme ein historisches Bild in der Phase seiner Entstehung vorliegt. Vfn. unternimmt im Auftrag
des Fernsehens eine quasi protokollarische Aufnahme der Lebensgeschichten der Bewohnerschaft in
einer Mietskaserne am Prenzlauer Berg. Getreu der Maxime, die Geschichte eines Hauses sei die
Geschichte seiner Bewohner, entfaltet sie die Vielgestaltigkeit der Schicksale, hält sich aber mit persönlicher Wertung und Stellungnahme völlig zurück, was doppelbödig wirkt, vor allem nach der
Wende. Denn sie beabsichtigt vermutlich, durch Schweigen dem Erzählerischen Freiraum zu verschaffen. In die Selbstdarstellung der Befragten bricht der Stolz auf die Bewältigung vieler Krisen
nach dem Nichts von 1945, auch Stolz auf die erreichte gewisse Vorurteilslosigkeit und das Leben
nach eignen Kategorien, wie es sich die zweite Generation der DDR geschaffen hat. Das gesellschaftliche Bild der Mieterschaft, Arbeiterschaft und Kleinbürgertum zugehörig, steht im Gegensatz zur einstigen Hobrechtschen Absicht der sozialen Durchmischung. Es sind hier die eigentlichen Bevorrechteten in der sozialistischen Gesellschaft, aber die klassentypische Erscheinung des Arbeiters bietet
sich nicht dar. Ihr Dasein wird als Nutznießertum entlarvt; man hat sich eingerichtet und lebt ohne
Risiko und ohne nach dem Ganzen zu fragen. — Die ältere, die vorsozialistische Generation hat das
Fazit ihrer Lebenserfahrungen in Binsenweisheiten gefaßt und gibt sich damit zufrieden. Vf. kennzeichnet die Essenz ihrer Protokolle als „Darstellung des eignen Spielraums und dessen gelegentliche
Berührung mit der Weltgeschichte, beides im Bratkartoffelgeruch des Alltags". — Diese so bequem
eingerichtete Welt lebt vom Beharren. Wird sie fragwürdig, stellt sich Verdrängungswiderstand ein.
Diese Einsicht hat den Verlag vielleicht zu einer Neuausgabe motiviert.
Christiane Knop
14
Dagmar Jank: „Vollendet, was wir begonnen!" — Anmerkungen zu Leben und Werk der Frauenrechtlerin Minna Cauer (1841 bis 1922) (= Ausstellungsführer der Universitätsbibliothek der
Freien Universität Berlin 23). Berlin: Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin 1991,
27 S., geheftet, 2,00 DM.
Die Verfasserin würdigt in einem Essay (S. 7—17) die Persönhchkeit einer führenden Vertreterin des
radikalen Flügels der bürgerlichen Frauenbewegung im deutschen Kaiserreich. Minna Cauer, „Vereinspolitikerin wider Willen" (S. 7), dank innerer Unabhängigkeit streitbar, unangepaßt und für viele
unbequem, engagierte sich u. a. im Vorstand des Vereins „Frauenwohl", als Gründerin und Herausgeberin der Zeitschrift „Die Frauenbewegung" (1895 bis 1919), als Vorsitzende des „Verbands Fortschrittlicher Frauen vereine", als Rednerin und Autorin: gegen die herrschende Doppelmoral, gegen
sexuelle Belästigung von Frauen, gegen den § 218; für das Frauenwahlrecht, aber auch für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Textilarbeiterinnen und Verkäuferinnen. 1918 begrüßte sie die
Gründung der Republik; Partei- und Parlamentsarbeit waren jedoch nicht ihre Sache. Minna Cauer,
die seit 1888 in Berlin lebte, starb dort am 3. August 1922; ihr Grab befindet sich auf dem St.-Matthäus-Friedhof in Schöneberg. — Das Begleitheft zu der anläßlich ihres 150. Geburtstags (am
1. November) veranstalteten Ausstellung enthält auch eine Sammlung von zeitgenössischen Äußerungen, Nachrufen und Erinnerungsberichten über Minna Cauer (S. 19—22), eine Zeittafel ihres
Lebens (S. 23—26), eine (Auswahl-)Bibliographie (S. 27) sowie vier Fotos. Im Vorwort (S. 5) weist
die Verfasserin darauf hin, daß „das gültige wissenschaftliche Werk" über Minna Cauer noch zu
schreiben sein wird.
Christiane Schuchard
Im IV. Quartal 1991 haben sich folgende Damen und Herren zur
Aufnahme gemeldet
Adam, Ingrid, Pensionärin
Witzlebenstraße 3, 1000 Berlin 19
Tel. 3221733
Beerbohm, Ingrid,
Busseallee 43, 1000 Berlin 37
Tel. 8 02 87 55
Komoß, Regine, Studentin,
Stresemannstraße 62, 1000 Berlin 62
Tel. 2650046
Mildt, Michael, Rechtsanwalt
Fellbacher Straße 10, 1000 Berlin 28
Tel. 4046239
Reichelt, Dr. Dr. Dieter,
Lektor u. Buchwissenschaftler,
Traberweg 8, O-11567 Berlin
Tel. 5 08 37 35
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Veranstaltungen im I. Quartal 1992
1. Sonnabend, 8. Februar 1992, 17.00 Uhr im Xantener Eck, 1000 Berlin 15, Xantener
Straße 1: Geselliges „Eisbeinessen", wahlweise Schnitzel, Anmeldungen telefonisch unter
8545816 ab 19.00 Uhr bis zum 1. Februar 1992.
2. Freitag, 13. März 1992, 19.30 Uhr im Rathaus Charlottenburg, Pommernsaal: Lichtbildervortrag von Frau Dr. Maria Kapp „Ein Spaziergang über die Pfaueninsel um 1840".
3. Sonnabend, 21. März 1992, 10.00 Uhr: „Spaziergang durch die alte Friedrichstadt zwischen Friedrich- und Chausseestraße" unter Leitung von Herrn Hans-Werner Klünner.
Treffpunkt U-Bahnhof Französische Straße, Nordausgang.
4. Montag, 30. März 1992,19.30 Uhr im Rathaus Charlottenburg, Bürgersaal: Lichtbildervortrag von Frau Dr. Sibylle Einholz „Dem Mimen flicht die Nachwelt keine Kränze. —
Grabstätten bedeutender Berliner Künstler des 19. Jahrhunderts."
Bibliothek: Berliner Straße 40, 1000 Berlin 31, Telefon 87 2612. Geöffnet: mittwochs 16.00 bis
19.30 Uhr.
Vorsitzender: Hermann Oxfort, Breite Straße 21, 1000 Berlin 20, Telefon 3 33 24 08.
Geschäftsstelle: Frau Ingeborg Schröter, Brauerstraße 31, 1000 Berlin 45, Telefon 77234 35.
Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Berndt, Seestraße 13, 1000 Berlin 65, Telefon 45 09-264.
Schatzmeisterin: Frau Ruth Koepke, Temmeweg 38, 1000 Berlin 22, Telefon 3 65 76 05.
Konten des Vereins: Postgiroamt Berlin (BLZ 10010010), Kto.-Nr. 433 80-102, 1000 Berlin 21;
Berliner Bank AG (BLZ 100 20000), Kto.-Nr. 03 81801200.
Die Mitteilungen erscheinen vierteljährlich. Herausgeber: Verein für die Geschichte Berlins, gegr.
1865, Schriftleitung: Günter WoUschlaeger, Kufsteiner Straße 2, 1000 Berlin 62; Dr. Christiane
Knop, Rüdesheimer Straße 14, 1000 Berlin 28; Beiträge sind an die Schriftleiter zu senden.
Abonnementspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag gedeckt. Bezugspreis für Nichtmitglieder: 16 DM
jährlich.
Herstellung: Westkreuz-Druckerei Berlin/Bonn, 1000 Berlin 49.
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Schriftleitung.
16
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*- MITTEILUNGEN
DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS
GEGRÜNDET 1865
88. Jahrgang
Heft 2
April 1992
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Haus Dr. Emil Herz in der Villenkolonie Grunewald, Straßenseite.
Max Landsberg
Von Myra Warhaftig
Er starb vor zweiundsechzig Jahren. Obwohl er der Zeit nach nicht vom Berufsverbot und der
Verfolgung betroffen war, blieb sein Name doch bis heute aus der publizierten Baugeschichte
Berlins ausgeschlossen. Es sind die zahlreichen Veröffentlichungen1 und seine — meist noch
vorhandenen — Villenbauten in der „Villenkolonie Grunewald", die die Bedeutung des Messel-Schülers Max Landsberg erkennen lassen.
Er wurde 1878 in einer alteingesessenen Berliner jüdischen Familie in Berlin geboren. Schon
bald verließ diese Berlin, nachdem der Vater, der Geheime Baurat Theodor Landsberg, zum
Professor für Baukonstruktion und Brückenbau an der Technischen Hochschule in Darmstadt
ernannt worden war.
1903 schloß Max Landsberg mit Auszeichnung das Architekturstudium an der damaligen
Großherzoglichen Technischen Hochschule zu Darmstadt ab. Unmittelbar danach kehrte er
nach Berlin zurück, um im Atelier des aus Darmstadt stammenden Architekten und Familienfreundes Alfred Messel zu arbeiten.
Während dieser knapp dreijährigen Berufspraxis war er für die folgenden Projekte verantwortlich:
Das Teehaus der Villa Springer in Wannsee,
die Villa Rosenberg in Grunewald,
die glasüberdachten Höfe am Erweiterungsbau des Warenhauses Arthur Wertheim
in der Voßstraße,
den Erweiterungsbau der Berliner-Handels-Gesellschaft Behrenstraße
und das Grabmal Simon.
Noch bevor sich Max Landsberg von Alfred Messel trennte, entwickelte er eigene Gedanken
zur Architektur. So wurde bereits 1906 sein Vorschlag zur Umgestaltung des Leipziger und
Potsdamer Platzes publik — heute wieder aktuell. Er setzte sich dafür mit dem öffentlichen Verkehr auseinander und schlug vor, die Führung der elektrischen Bahnen zugunsten der Fußgänger und der Platzgestaltung zu vereinfachen. Die hinzukommenden Bepflanzungsflächen sollten den Häusern um den Platz herum eine „gesteigerte Höhenwirkung" geben. Eines dieser
Häuser war das erweiterte Warenhaus Wertheim, 1904—1906 von Alfred Messel erbaut.
1906 verließ Max Landsberg das Büro Messel und bereitete sich auf seine erste und größte Aufgabe vor: das Wilhelm Wertheimsche Landhaus in Dahlem bei Berlin. Auf einer etwa 7,5 ha
großen Fläche mit Kiefernwald wurde das Haus in der nach dem Architekten benannten Messelstraße 1910 fertiggestellt. Zum Wohnkomplex des Kunstsammlers Wilhelm Wertheim
gehörten das 48 m lange Wohngebäude, die Orangerie, die Gewächshäuser, das Gärtnerarbeitshaus, eine Garage, ein Hühnerstall und Schuppen. Der Wald wurde zu einem Park gestaltet und mit Säulen, Figuren, Brunnenbecken und Bänken ausgestattet.
Max Landsberg schrieb dazu2:
„Der Einfluß der englischen Vorbilder zeigt sich in der innigen Zusammenordnung von Haus
und Garten, in der Lage der Wohnräume zu den Himmelsrichtungen und in den reichlich
bemessenen Wirtschaftsräumen, welche an die Wohnung angegliedert sind und doch eine
Anlage für sich bilden."
Die zahlreichen Wohnzimmer „sind ruhig ernst gestimmte Räume, deren Formensprache den
zahlreichen Kunstwerken der italienischen Renaissance angepaßt ist, die sich im Besitze des
Bauherrn befinden. Auf wohltuende Abmessungen, auf ein gutes Zusammenwirken der ein18
t-
Abb. 1: Blick von der Zufahrt auf die Nordwestfront des Hauses Wilhelm Wertheim, Dahlem 1910.
zelnen Räume miteinander, auf wechselvolle Durchblicke wurde Wert gelegt. Es wurde versucht, jedem Raum ein eigenartiges Gepräge, nicht allein durch die Flächenbehandlung zu
geben, sondern dasselbe noch durch ein eindrucksvolles Werk der Plastik, einen Kamin, ein
hervorragendes Möbel oder dergleichen, zu verstärken." Die Inneneinrichtungen wurden
ebenfalls von Max Landsberg entworfen.
Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 wurde dem Wertheimschen Familienleben wie auch der Existenz aller jüdischen Einwohner in Deutschland ein Ende bereitet. 1934
verkaufte die Witwe Martha Wertheim aus finanzieller Not einen Teil des Grundstücks, und
bald darauf war das Haus ganz und gar verlassen. 1940 wurde die Straße umbenannt, und in
dem instand gesetzten Haus ließ sich Dr. Josef Goebbels mit seiner Stiftung für Bühnenschaffende nieder. Das Haus wurde 1957 in desolatem Zustand mit sämtlichen Dependancen
gesprengt, ohne Spuren zu hinterlassen.
1913 hatte Max Landsberg im Wettbewerb für den Neubau des Rathauses in Potsdam unter 151
eingereichten Arbeiten den ersten Preis gewonnen. Das alte Rathaus war 1754 von J. Boumann, der dem Architekten Knobelsdorff nahestand, errichtet worden. Die Preisrichter, unter
denen auch Peter Behrens war, hatten ihre Entscheidung begründet:
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„Der Verfasser hat sein Projekt auf dem Grundsatz aufgebaut, den Charakter und die Silhouette des alten Baues zu erhalten und den Umbau in selbständiger und der ganzen Umgebung
und Architektur angemessener Form auszubilden. Dabei kommt er zu einem Vorschlag, der,
wenn er auch nicht Gegenstand des Wettbewerbs ist, doch als guter Hinweis auf die Zukunft zu
erachten ist, nämlich eine spätere Erweiterung des Rathauses durch Überbrückung der Scharrenstraße. Dieser Gedanke würde städtebaulich wie künstlerisch sicher zu begrüßen sein.
Selbst wenn seiner Verwirklichung Hindernisse im Weg stehen sollten, ist das vorliegende Projekt mit soviel Geschmack und Takt entworfen worden, daß es unter allen Projekten an erster
Stelle steht. Dies gilt auch bezüglich der Fassadenanordnung nach der Scharren- und Brauerstraße und im besonderen nach dem Blücherplatz."
Von den fünf Einfamilien-Wohnhäusern, die Max Landsberg zwischen 1910 und 1914 errichtete, sind drei in der „Villenkolonie Grunewald" heute wieder von neuem zu entdecken. Als
erstes das Haus des Mediziners Dr. Alfred Blaschko (1858—1922), auf dessen Initiative als
Dermatologe und Sozialhygieniker die Reformen im Prostituiertenwesen in Preußen zurückgehen und der zusammen mit Albert Neisser Gründer der Gesellschaft zur Bekämpfung von
Geschlechtskrankheiten war. Das zweite Haus gehörte Dr. Ludwig Fulda, dem 1862 in Frankfurt am Main geborenen Dichter, der 1939 in Berlin Selbstmord beging. Ludwig Fulda schrieb
zahlreiche Theaterstücke, insbesondere Lustspiele, und er war auch für seine Übersetzungen
der Stücke Molieres, Rostands und Beaumarchais' bekannt.
Das dritte Wohnhaus mit einem Atelier hat Max Landsberg für den 1869 in Hannover geborenen Bildhauer Alexander Oppler entworfen. Alexander Opplers Bruder, der Maler und
Radierer Ernst Oppler, starb 1922 in Berlin, und vor kurzem wurde sein Grab vom Berliner
Senat zusammen mit 49 weiteren Gräbern zu Ehrengrabstätten ernannt. Über das Schicksal
Alexander Opplers, der noch Anfang der 30er Jahre in Berlin lebte, ist bis heute nichts
bekannt.
Ein viertes Einfamilienhaus von Max Landsberg, das ebenfalls noch vollständig in der „Villenkolonie Grunewald" vorhanden ist, wurde erst 1926 für den Verlagsdirektor Dr. Emil Herz fertiggestellt.
Obwohl Max Landsberg die neuen Tendenzen, die seit Kriegsende in der Kunst und in der
Architektur einsetzten, nicht ignorierte und er sich der Strömung gegen die sogenannte historische Baukunst, die sich in den 20er Jahren gefestigt hatte, bewußt war, hatte er sich doch verpflichtet, beim Entwerfen des Hauses Dr. Herz klassizistische Formen anzuwenden. Den
Grund dafür bildete der Wunsch des damaligen Kunstrates der Stadt Berlin, in Grunewald ein
einheitliches Villenviertel entstehen zu lassen, und so sollte das Äußere des Hauses mit den
schon vorhandenen Nachbarhäusern in Einklang gebracht werden.
Im Jahre 1990 feierte die „Villenkolonie Grunewald" den hundertsten Jahrestag ihres Entstehens. Mit Schriften und einer Ausstellung wurde in diesem Zusammenhang auch der Personen
gedacht, die während des wilhelminischen Kaiserreichs und der Weimarer Republik dort lebten und zur kulturellen Blüte jener Zeit beigetragen hatten. Dagegen wurden die Bauherren
von Max Landsberg, die vor 1933 in der „Villenkolonie Grunewald" lebten und ebenfalls wirtschaftlich, wissenschaftlich und kulturell gewirkt hatten, nicht erwähnt. Die von Max Landsberg in der Villenkolonie Grunewald errichteten Einfamilienhäuser wurden in der Zwischenzeit in Mehrfamilienhäuser mit Büroräumen umgewandelt.
Im Alter von zweiundfünfzig Jahren starb Max Landsberg 1930 in Berlin und wurde auf dem
Jüdischen Friedhof in Weißensee begraben.
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Abb. 2: Parkseite des Hauses Wilhelm Wertheim.
Alfred Messel (1853-1909) und Max Landsberg gehörten nicht zur gleichen Generation,
stammten aber aus ähnlichem sozialem und kulturellem Milieu und waren großbürgerlich erzogen.
Die Liste der Bauten Alfred Messeis ist lang und vielfältig. Er errichtete öffentliche und pnvate
Bauten und machte sich mit dem Warenhaus Wertheim am Leipziger Platz einen Namen in der
Geschichte des Warenhausbaues. Max Landsberg, zunächst Bauleiter dieses Architekten, hingegen hinterließ einzelne Villenbauten und Grabmäler, die sich auf den jüdischen Friedhöfen
in der Schönhauser Allee und der Herbert-Baum-Straße in Weißensee befinden.
Seine kurze Auseinandersetzung mit der Messeischen Stilrichtung war für sein ganzes Schaffen
bis zu seinem frühen Tod bezeichnend. Max Landsberg war von der Architektur Messeis beeindruckt und beeinflußt, und er sah sich nach dessen frühem Tod verpflichtet, weiter für dessen
Ziele einzutreten.
Von Messeis Formensprache hat er vor allem bei den Ansichten seiner Einfamilienhäuser
Gebrauch gemacht. Jedoch näherte er sich bei der Gestaltung seiner Grundrisse eher den
Landhäusern Muthesius' an. In der Funktion verletzte er dabei die Symmetrie, doch gelang es
ihm, sie originellerweise in der äußeren Form wieder herzustellen.
21
Oft gehörten Messeis und Landsbergs private Bauherren der gleichen Religion und dem gleichen Bildungsbürgertum an, und wenn sie nicht gerade Künstler waren, dann waren sie Kunstfreunde und Kunstsammler.
Anmerkungen
1 u. a. „Bauwelt" 1910, H. 68
2 „Zentralblatt der Bauverwaltung", Berlin 1910
Anschrift der Verfasserin:
Dr.-Ing. Myra Warhaftig, Einemstraße 8, W-1000 Berlin 30
Abb. 3: Haus Prof. Dr.
Blaschko in der Villenkolonie
Grunewald (1910-1914),
Straßenseite.
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Abb. 4: Haus Dr. Ludwig
Fulda in der Villenkolonie
Grunewald, Straßenseite.
Abb. 5: Haus des Bildhauers
Alexander Oppler in der
Villenkolonie Grunewald,
Straßenseite.
Wohnhaus Bildhauer A Oppltr.
Slraltaiseik.
Archiirit: Mas IjndshtTf, Btrlm
Architekt! JAK l.
Grundriß.
Lifeplni.
23
Richard Wagner und Berlin (II)
Der verhinderte Aushilfskapellmeister
Von Werner Notz
Wer heute von der S-Bahn-Unterführung am Alexanderplatz Richtung Norden, vorbei an der
Weltzeituhr, über die große steinerne Leere schreitet, wandelt auf den Spuren des 23jährigen
Richard Wagners, der sich im Mai und Juni 1836 Hoffnungen auf eine Karriere in Berlin
machte. Denn ungefähr dort, wo heute beim „Alexanderhochhaus" eine kleine Grünanlage ihr
Dasein fristet, stand einst an der Ecke Alexanderstraße/Alexanderplatz das Königstädtische
Theater1.
Das Theater eines königlichen Strohmannes
König Friedrich Wilhelm III. (1797—1840) hatte sich während der Pariser und Wiener Friedenskonferenzen (1814/1815) an Vaudeville-Theatern und Volksstücken begeistert. Er war
deshalb bestrebt, in Berlin neben Hofoper und Schauspielhaus noch ein drittes, der leichten
Muse gewidmetes Theater einzurichten. Dem preußischen Hof kam es deshalb gelegen, daß
auch in der Berliner Bürgerschaft, vor allem seitens der demokratisch gesinnten Intelligenz, der
Wunsch nach einem bürgerlichen Theater laut wurde. Um die Errichtung eines solchen Theaters zu ermöglichen und auf seine Entwicklung Einfluß zu nehmen, ohne selbst in Erscheinung
zu treten, bediente sich der Hof Karl Friedrich Cerfs (1771—1845) als Strohmann. Cerf2,
eigentlich Karl Friedrich Hirsch, 1802 bis 1811 Pferdehändler in Dessau, diente 1813 bis 1815
als Oberkriegskommissar des russischen Generals von Sayn-Wittgenstein-Ludwigsburg. Dieser empfahl Cerf an den preußischen Hausminister und königlichen Freund, Fürst zu SaynWittengenstein-Hohenstein; bereits 1816 konnte Cerf das Bürgerrecht von Berlin erwerben.
Während der Napoleonischen Kriege hatte er dem preußischen Königshaus offensichtlich so
gute Dienste geleistet, daß man sich seiner auch in Friedenszeiten als Mann für besondere Aufgaben bediente3. So erhielt nicht ein erfahrener Bewerber, sondern der völlig theaterunkundige
Cerf 1822 die erste private Berliner Theaterkonzession, die er sofort mit Billigung der Krone an
einen noch zu gründenden Aktienverein verpachtete. Dieser hatte durch Ausgabe von 400
Aktien das erforderliche Kapital von 120 000 Talern zu beschaffen. Ohne zu zögern, zeichneten Großbürger, Hausbesitzer, Handwerksmeister und Händler die Aktien, das Theaterdirektorium bildeten zunächst ein Jurist und sechs Bankiers, darunter der Vater Giacomo Meyerbeers und ein Onkel Felix Mendelssohn-Bartholdys. Für die künstlerische Leitung war der
Hofschauspieler Heinrich Lewin Bethmann, 1834 bis 1836 Richard Wagners Theaterdirektor
in Magdeburg, zuständig.
Gültig war die Konzession, offenbar zum Schutz der beiden königlichen Bühnen, nur für das
1822 noch außerhalb der Stadt gelegene Cerfsche Haus am Alexanderplatz. Da dieses Grundstück für das geplante Theater zu klein war und es mit den Nachbarn zu keiner finanziell erträglichen Einigung über den Ankauf ihrer Anwesen kam, gelang es nach zähen Verhandlungen,
als Alternative die vier zusammenhängenden, bereits bebauten Grundstücke Alexanderplatz
1—3 und Alexanderstraße 2 zu erwerben. Aus Kostengründen entschloß sich der Aktienverein, die Vorderhäuser nicht abzureißen, sondern für die Nutzung als Theater umzubauen, in
den oberen Etagen Wohnraum für Direktion und Schauspieler zu schaffen. Auf den vier Hin24
terhöfen wurde der Theaterraum für knapp 1600 Besucher mit erhöhter Bühne, versenktem
Orchester und amphitheatralisch angelegten Rängen errichtet. Mit dieser einfachen Lösung
war es dem erst 24 Jahre alten Architekten Carl Theodor Ottmer aus Braunschweig, kurz darauf auch Erbauer der Singakemie, gelungen, sich gegen Langhans d. J.4 durchzusetzen. Bei der
Eröffnung des Theaters am 4. August 1824 begehrte eine große Menschenmenge Einlaß, mehr
als das Theater fassen konnte. Auch in der Folgezeit konnte sich das Theater öffentlichen Interesses erfreuen, selbst der greise Goethe nahm in den Briefen an seinen Berliner Vertrauten
Zelter regen Anteil. Goethe war sogar bereit, an der „Königstadt" seinen „Faust" in einer
Bearbeitung von Holtei auf die Bühne zu bringen.
Schon bald zeigten sich jedoch die Schwierigkeiten des Regie-Komitees, untereinander einig zu
werden und geeignete Stücke zu finden. Das Theater litt so von Anfang an unter einer gewissen
Konzeptionslosigkeit, bedingt auch durch eine weitgehende Repertoire-Einschränkung in der
Konzession: es durften weder das „erste Drama" noch die „heroische Oper" aufgeführt werden, alle übrigen Werke erst dann, wenn sie zwei Jahre lang nicht mehr an den beiden königlichen Bühnen gepielt worden waren oder diese an der Aufführung kein Interesse zeigten. Da es
die neuen Stücke, auf die das Haus ausgelegt war, noch nicht gab, mußte die Direktion zwangsläufig auf bekannte Werke zurückgreifen, was permanent zu heftigen Streitigkeiten mit Hofoper und Schauspielhaus führte. Verstärkt wurden diese Zwistigkeiten durch das Bemühen des
Königstädtischen Theaters, nicht nur ein Opernrepertoire aufzubauen, sondern auch Gesangstars zu verpflichten. Ein besonderer Glücksgriff war dabei das Engagement der 19jährigen
Henriette Sontag, die Berlin in das sprichwörtlich gewordene „Sontag-Fieber" der Jahre 1825
bis 1827 stürzte.
Finanziell ging es mit dem Theater in diesen ersten Jahren bergab, die Direktionen wechselten,
1829 war der Aktienverein bankrott und beschloß seine Auflösung. Bereits seit 1827 hatte Cerf
die Aktien des Theaters systematisch mit Geldern der Krone aufgekauft, was zu vielfältigen
Gerüchten führte, auch wenn die Rolle des Königshauses verborgen blieb5. Cerf, entsprechend
den Geheimverträgen nur Statthalter seiner königlichen Gönner, übernahm nun selbst Konzession und Theater und übte die Direktion vom 19. Mai 1829 bis zu seinem Tode am
6. November 1845 aus — der preußische Hof hatte die Vorstellungen der demokratisch gesinnten Bürger unter seine Kontrolle gebracht.
Cerfs Repertoire umfaßte alle Genres mit Ausnahme des klassischen Dramas. Besonders
erfolgreich waren Stücke von Charlotte Birchpfeiffer und des Hausdichters Karl von Holtei
sowie die Übernahme der Wiener Zauberposse; Cerf machte die Berliner auch mit Ferdinand
Raimund und Johann Nestroy bekannt. Die Opernabteilung widmete sich vorzugsweise zeitgenössischen italienischen und französischen Werken. Dieser Spielplan erforderte einen großen Personalstand; das hauseigene Orchester umfaßte ständig 45 bis 50 Musiker. Das bei
einem derart aufwendigen Spielbetrieb anfallende Defizit glich die Krone aus, Cerf war ein
Garantieeinkommen gesichert.
Blichard Wagners vergebliche Hoffnungen
Aufgrund von Streitereien und Eifersüchteleien im Magdeburger Ensemble war Richard Wagners Verlobte Minna Planer im Herbst 1835 den Lockungen des Königstädtischen Theaters
erlegen; zur gleichen Zeit gastierte auch Wagners Schwager Heinrich Wolfram an der „Königstadt"6. Deshalb ist dem 23jährigen Richard Wagner jenes „das leichtere Genre pflegende"7
Haus am Alexanderplatz nicht ganz unbekannt, als er im Mai 1836 selbst sein Glück in Berlin
25
sucht. Da Heinrich Laube, Wagners Freund aus Leipziger Tagen, zu dem er in Berlin sofort
wieder Kontakt sucht, das Königstädtische Theater für die Aufführung des soeben in Magdeburg durchgefallenen „Liebesverbotes" empfiehlt, wird Wagner schon kurz nach seiner
Ankunft vom „hiesigen Schriftsteller Glaßbrenner" dem Theaterdirektor Cerf vorgestellt: „Ich
traf ihn in der besten Laune, u. kurz u. gut, ich sage Dir, daß ich bei ihm einen Stein im Brett
gewonnen habe. Er sagte gleich: ,Wenn Sie jetzt nichts zu thun haben, so kann ich etwas für Sie
thun. Gläser will verreisen, da können Sie hier seine Stelle so lange einnehmen.' Ich fing gleich
von meiner Oper an, u. er zeigte sich willig, nur könne jetzt nicht davon die Rede sein, weil er
seine neuen Sänger noch nicht hätte. Ich habe ihn noch öfter gesprochen, u. bin immer näher
mit ihm gekommen .. ."8.
In den fast täglichen Liebesbriefen an seine in Königsberg engagierte Verlobte Minna schildert
Wagner den Fortgang seiner beruflichen Bemühungen und sein Verhältnis zu Cerf: Wagner
steht „auf bestem Fuß" mit Cerf, der gibt die „besten Hoffnungen" für die Aufführung des
„Liebesverbotes", Wagner fährt, um Cerf zu treffen, nach Charlottenburg hinaus, der umarmt
ihn bei jeder Begegnung, kurzum, beide sind die „innigsten Freunde von der Welt"9. Gegenüber seiner Mutter meint Wagner in seinem durch den Umgang mit Adolf Glaßbrenner noch
verstärkten jungdeutschen Zynismus: „Cerf weiß vor Liebe zu mir gar nicht wohin, er wird
sicher seine Nachkommenschaft aus dem Testament streichen, und mich dafür einsetzen, — er
weint oft still an meinem Busen die Schmerzen seiner Direktorei aus"10. Hintergrund für diesen
Galgenhumor ist Wagners wochenlanges Warten, daß Gläser endlich seinen Urlaub antritt und
er dessen Kapellmeisterstelle aushilfsweise im Juli und August übernehmen kann11. Wichtiger
ist Wagner jedoch, mit Cerf über die Aufführung seines „Liebesverbotes" handelseinig zu werden — durch dessen Erfolg hofft er, als Nachfolger des Kapellmeisters Gläser oder des Musikdirektors Kugler von Ostern 1837 an fest am Königstädtischen Theater engagiert zu werden12.
Wagner denkt auch schon über das Gehalt nach: so um die 1000 bis 1200 Thaler sollten es
schon sein13.
Am 26. Juni 1836 teilt Wagner seiner Verlobten eine Hiobsbotschaft mit: Cerf müsse unerwartet die Oper „ganz und gar" schließen, aus der Aushilfsstellung werde es somit nichts14. Zwar
wehklagt Wagner, daß ihm Cerf die „wie gelegen" gekommene Stellung unablässig angeboten
habe, doch scheint diese Enttäuschung wenig am beiderseitigen Verhältnis zu ändern: Cerf sei
zwar „ein unbedachter und leichtsinniger Mensch", doch er habe es gewiß gut mit ihm gemeint,
sie seien „immer noch die besten Freunde"15. Zu diesem Zeitpunkt hofft Wagner freilich noch,
daß es zu einer Aufführung des „Liebesverbotes" kommt, Cerf dieses zu guten Konditionen
ankaufe, gleichsam als Schadenersatz für die vertane Wartezeit — und er 1837 als Kapellmeister engagiert werde16. Doch alle Träume zerrinnen im märkischen Sand — als weiterer Kapellmeister wird 1837 Louis Schindelmeißer eingestellt17.
Wagner selbst beurteilt seine Erfahrungen mit Cerf im Rückblick unterschiedlich:
— 1840, während der Pariser Hungerjahre, meint er: „Ich war so weit, daß man meine Oper in
Berlin angenommen hatte; es bedurfte weiter nichts, als daß ich ein halbes Jahr dort mich
aufhalten konnte, um den schwachen und wankelmütigen Direktor, auf den ich jedoch persönlichen Einfluß hatte, immer unter Augen u. Händen zu haben; — doch war ich arm,
keiner wollte mich unterstützen. Ich gab es auf .. ."18
— 1842 schreibt Wagner in der „Autobiographischen Skizze": Cerf sei „unredlich" gewesen,
habe ihm bedenkenlos Versprechungen gemacht und ihn dann hingehalten19. Und doch
wünscht er sich im gleichen Jahr, als er im Bemühen um die Uraufführung des „Holländers"
in Berlin nur auf Kälte und Ablehnung stößt, Cerf wieder herbei, der „bei aller Schroffheit
seines Äußeren mit wahrer freundschaftlicher Sorge sich mir zugewandt hatte"20.
2h
— Jahrzehnte später rechnet Wagner in „Mein Leben" unerbittlich mit Cerf ab: dieser, „eines
der originellsten Produkte des Berliner Bevölkerungswesens", habe ihm bereits beim ersten
Besuch erklärt, daß er mit den Zuständen an seinem Theater aufräumen wolle, insbesondere sich von den älteren Sängern trennen wolle, und dafür jemand suche, der für die neuen
Sänger eingenommen ist. Er habe sich an eine „besonders günstiges Wendung meines
Schicksals" angelangt geglaubt, sei dann aber jäh aus seinen jugendlichen Träumen und
Erwartungen in die triste Wirklichkeit zurückgeholt worden: „Nach Art der Potentaten
hatte er seine Gnadenbezeigungen mir direkt und autokratisch erwiesen: die Rücknahme
und Ungültigkeitserklärung seiner Versprechungen ließ er jedoch durch seine Beamten und
Sekretäre ausführen, indem er auch sein ausnahmsweises Verhalten zu mir plötzlich in das
gewöhnliche Geleis der scheinbaren Abhängigkeit des Potentaten von seiner Bürokratie
hinübergleiten ließ. Mit denselben Menschen, vor denen er mich zuvor gewarnt hatte und
gegen welche er mich sich verbündet wissen wollte, hatte ich mich endlich, als Cerf möglichst ohne jede Entschädigung mich loszuwerden wünschte, über alles das, was zwischen
uns bestimmt abgemacht war, gewissermaßen gesuchsweise zu verständigen, Kapellmeister,
Regisseur21, Sekretär und ähnliche Herren hatten mir zu beweisen, daß meine Wünsche
nicht zu erfüllen seien und daß der Direktor für meine nutzlos in der Erwartung der Erfüllung der mir gemachten Zusagen hingebrachte Zeit keinerlei Entschädigung schulde." Und
zusammenfassend stellt Wagner fest: „Ich entsinne mich, daß der mühselig sich abwikkelnde Prozeß dieser Erfahrung mich mit ahnungsvollem Weh für mein ganzes Leben
erfüllte." Tief enttäuscht über diesen „boshaft aussehenden Betrug", in der Überzeugung,
„auf Sand gebaut zu haben", mit „wahrhaftem Grauen", in einer durch Cerf verschlimmerten Lage, sieht sich Wagner veranlaßt, Berlin zu verlassen.22
Nach heutigem Kenntnisstand dürfte Wagner ein Opfer der undurchsichtigen Finanzverhältnisse am Königstädtischen Theater geworden sein. Denn in den Jahren 1835 bis 1838 blieben
die Zahlungen der Krone aus, Cerf mußte zu Sparmaßnahmen greifen: er stellte deshalb 1836
den Sommer über den Opernbetrieb ein und brachte nur Schauspiele auf die Bühne23.
Wagners „Liebesverbot" dürfte jedoch von vornherein keine Chance gehabt haben, am
Königstädtischen Theater aufgeführt zu werden. Kapellmeister Gläser mußte Otto Nicolai am
7. Juli 1836 mitteilen, daß eine Annahme der Oper „Dima" nicht stattfinden könne, „da in diesem Augenblicke sich die Oper aufgelöst hat und außerdem bei der Wiedereröffnung derselben
eine große Anzahl bereits angekaufter Stücke in Scene gehen werde"24.
Ganz so harmlos und unerfahren war aber auch der 23jährige Wagner nicht. Schon nach den
ersten Gesprächen hatte er Cerf mißtraut, geprüft, „was er mir in's Gesicht sagt" und „was er
hinter meinem Rücken sagt", ihn bereits Ende Mai als „niederträchtigen Kerl" bezeichnet, der
freilich „Nutzen für den ist, der ihn zu behandeln weiß"25. Zugleich war ihm bewußt, daß man
sich bei von Cerf genährten Hoffnungen „nicht verblenden lassen darf", „denn Du kennst ja
den Cerf'26. Für Wagners Geschäftstüchtigkeit sprechen seine Überlegungen, wie er „Cerf in
die Enge treiben könne", von ihm den „Contract vom künftigen Jahr an herauskriege", den
„Kerl" zu einer definitiven Entscheidung über die Aufführung des Liebesverbotes zwingen
könne27. Und kühl-strategisch kalkuliert Wagner, sein „Liebesverbot" auf die Bühne bringen
zu können, sobald er — wenn auch nur als Aushilfskapellmeister — das „Heft in den Händen"
hat28.
Einige Künstler, die später Wagners Weg kreuzten, hatten vorher am Königstädtischen Theater
gewirkt, insbesondere Karl von Holtei, 1837 bis 1839 Wagners Theaterdirektor in Riga, und
Johann Michael Wächter (1825-1827), bei den Uraufführungen des „Rienzi" und „Holländers" in Dresden als Orsini bzw. als Titelheld zu sehen.
27
Cerf und kein Ende
Jahrzehnte später kreuzt noch einmal ein Cerf Wagners Lebensweg. Als Wagner an Straßburg
denkt, „wenn Bayreuth uns abgeschlagen wird", lesen er und Cosima, daß Herr Cerf von Kaiser Wilhelm I. die Erlaubnis erhalten hat, im soeben eroberten Straßburg ein Theater zu errichten. Cosima stellt dazu lakonisch fest: „der Name sagt alles"29.
Und bei Wagners letztem Berlin-Besuch sollte dieser Name wie bei seinem ersten eine Rolle
spielen: das Viktoria-Theater, in dem Mai 1881 der Berliner Erstaufführung des „Rings" stattfindet, gehört den Cerfschen Erben 30 .
Das Ende des Königstädtischen Theaters
Friedrich Wilhelm IV, seit 1840 König von Preußen, war nicht länger gewillt, das Königstädtische Theater zu unterstützen. So verpflichtete der geschäftstüchtige Cerf als Ausweg italienische Opernensembles. Es gelang ihm zwar, das Theater aus den roten Zahlen zu führen, doch
künstlerisch setzte durch den Verzicht auf eigene Produktionen der Niedergang ein. Die von
Cerfs Witwe und dessen ältester Tochter übernommene Direktion verlief glücklos, 1851 mußte
das Theater schließen. Der Hof übernahm das Theatergebäude und die auf ihm lastenden
Schulden, die Cerfschen Erben erhielten eine Abfindung von 17 500 Talern.
Der Theatersaal, der zunächst jahrelang leerstand, wurde später als Wollspeicher genutzt31. Als
er in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts immer baufälliger wurde, mußte er abgerissen werden, während die Vorderhäuser weiter als Wohn- und Geschäftshäuser dienten; um
1900 wird das Haus Alexanderstraße 2 als „Cafe Aschinger" bekannt. Der großen Umgestaltung des Alexanderplatzes 1928 bis 1932 fallen auch die Vordergebäude des ehemaligen
Königstädtischen Theaters zum Opfer — der Platz wird für den in Ausbau befindlichen großen
Kreisverkehr benötigt.
Heute erinnern nur noch einige historische Wandbilder in der weitläufigen Unterführung des
„Alex" an die Geschichte dieses berühmten Berliner Platzes; einer dieser aus Meißner Porzellan gefertigten Stiche zeigt das Königstädtische Theater.
Anschrift des Verfassers:
Werner Notz, Mühlenstraße 1—2
O-1162 Berlin
Anmerkungen
1 Ruth Freydank, Theater in Berlin, Berlin 1988, 222 ff.; Erika Fischer, Das Wallner-Theater in
Berlin unter der Direktion von Franz Wallner (1855—1868), Dissertation 14ff.; Wilhelm Eylitz,
Das Königstädtische Theater in Berlin, Dissertation, Rostock 1940; Hans Knudsen, Theater, in:
Berlin und die Provinz Brandenburg im 19. und 20. Jahrhundert, Berlin 1968,809ff. — Die Baupläne und den Baufortgang hat der Architekt Carl Theodor Ottmer in seinen Architektur Mittheilungen, Bd. 1, Das Königstädtische Schauspielhaus zu Berlin, Braunschweig 1830, erläutert.
— Die Nutzung der Gebäude nach Schließung des Theaters (1851—1928) läßt sich anhand der
Berliner Addressbücher verfolgen. — Zahlreiche Abbildungen (1830—1928) finden sich bei
Klaus J. Lemmer, Alexanderplatz — Ein Ort deutscher Geschichte, Berlin 1980.
2 s. Anm. 1; Allgemeine Deutsche Biographie; August Schmidt, Neuer Deutscher Nekrolog der
Deutschen 1845,834ff.; L. Wolff, Almanach für Freunde der Schauspielkunst 1845, Berlin 1846,
124ff.; satirisch auch Adolph Glaßbrenner, Briefeines Bäckergesellen, in: wie war Berlin vergnügt (Auswahl), Berlin 1977.
28
3 Da Cerf vom preußischen König und vom russischen Zar Gunstbezeugungen erhielt, könnte Cerf
1812 Kurierdienste zwischen dem von Napoleon besetzten Preußen und dem freien Rußland
geleistet haben. Verschiedene Autoren vertreten die Auffassung, daß die Sonderbehandlung
Cerfs auf einem Liebesverhältnis einer hochgestellten Persönlichkeit des preußischen Hofes, u. U.
sogar König Friedrich Wilhelms III., zu Cerfs Ehefrau beruhte. Dafür spreche auch, daß die Familie Cerf bis 1924 von den Hohenzollern Unterstützungsgelder erhielt (s. auch Anm. 30).
4 Carl Ferdinand Langhans (1782—1869) gilt als der bedeutendste Theaterarchitekt im Übergang
zum Historismus. Sein Hauptwerk in Berlin war der Wiederaufbau (1843—1844) und Anbau
(1867—1869) des Opernhauses Unter den Linden (Uwe Kieling, Berlin — Baumeister und Bauten, Leipzig 1987, 197f.).
5 Auch Wagner erwähnt diese Gerüchte um die „nicht besonders geschmackvollen Gründe" für die
Protektion Cerfs durch den Hof (Richard Wagner, Mein Leben, München 1976, 131).
6 Richard Wagner, Mein Leben, 120; Repertorium des Königstädtischen Theaters 1835, 39 — vgl.
auch Wagners tägliche Briefe an Minna Anfang November 1835 (Richard Wagner, Briefe 229ff.)
7 Richard Wagner, Mein Leben, 131.
8 ebda.; Richard Wagner, Briefe, 264 = Brief an Minna Planer vom 21. Mai 1836.
9 ebda., 268 = Brief an Minna Planer vom 24. Mai 1836; ebda., 277 = Brief an Minna Planer vom
30. Mai 1836; ebda., 290 = Brief an Minna Planer vom 7. Juni 1836; ebda., 280 = Brief an
Johanna Rosine Geyer vom 31. Mai 1836.
10 ebda., 282 — Brief an Johanna Rosine Geyer vom 31. Mai 1836.
11 ebda., 268 = Brief an Minna Planer vom 24. Mai 1836; ebda., 264 «• Brief an Minna Planer vom
21. Mai 1836; ebda., 275 = Brief an Robert Schumann vom 28. Mai 1836; ebda., 277 = Brief an
Minna Planer vom 30. Mai 1836; ebda., 285 — Brief an Minna Planer vom 4. Juni 1836; ebda.,
298 = Brief an Minna Planer vom 12. Juni 1836.
12 ebda., 265 = Brief an Minna Planer vom 21. Mai 1836; ebda., 268 = Brief an Minna Planer vom
24. Mai 1836; ebda., 280f. = Brief an Johanna Rosine Geyer vom 31. Mai 1836; ebda., 285f. =
Brief an Minna Planer vom 4. Juni 1836; ebda., 311 = Brief an Minna Planer vom 26. Juni 1836.
13 ebda., 285f. = Brief an Minna Planer vom 4. Juni 1836; ebda., 308 = Brief an Minna Planer vom
23. Juni 1836.
14 ebda., 309 = Brief an Minna Planer vom 26. Juni 1836 — Diese Äußerung Wagners hat zu Mißverständnissen in der Wagner-Literatur geführt. So schreibt Gregor-Delün im Jahre 1980: „Cerf
hatte sich verspekuliert und mußte am 1. Juli sein Theater schließen". (Martin Gregor-Dellin,
Richard Wagner, München 1980, 119). Richtig ist, daß der Schauspielbetrieb des Königstädtischen Theaters ohne Unterbrechung den Sommer über lief, jedoch vom 27. Juli bis 7. Oktober
1836 keine Oper zur Aufführung gelangte (Repertorium des Königstädtischen Theaters 1836,24
ff.). Normalerweise betrug in jenen Jahren auch während der Sommermonate der Anteil der Oper
30%.
15 Richard Wagner, Briefe 309 = Brief an Minna Planer vom 26. Juni 1836.
16 ebda., 309ff. = Brief an Minna Planer vom 26. Juni 1836.
17 Repertorium des Königstädtischen Theaters 1837,5 — Weder in den bekannten Briefen Wagners
aus Königsberg noch in den erhalten gebliebenen Unterlagen des Königstädtischen Theaters im
Staatsarchiv Merseburg finden sich freilich Hinweise, daß es nach Wagners Abreise aus Berlin
noch zu weiteren Kontakten zwischen ihm und Cerf gekommen ist.
18 Richard Wagner, Briefe, 406 = Brief an Theodor Apel vom 20. September 1840 — Dieser Brief
sollte den Freund aus Leipziger Tagen nach mehreren Jahren der Kontaktpause veranlassen,
Wagner finanziell zu unterstützen.
19 Richard Wagner, Briefe, 103.
20 Richard Wagner, Mein Leben, 233.
21 Friedrich Genee — Genees Sohn Richard schrieb Libretti für Johann Strauß („Eine Nacht in
Venedig"), „Boccaccio" (Suppe), „Gasparone" und „Der Bettelstudent" (Millöcker).
22 Richard Wagner, Mein Leben, 131f.
23 Eylitz, a.a.O., 55.
24 Nichtveröffentlichter Brief Franz Gläsers an Otto Nicolai vom 7. Juli 1836 (Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung).
29
25 Richard Wagner, Briefe, 285 — Brief an Minna Planer vom 4. Juni 1836, ebda., 282 = Brief an
Johanna Rosine Geyer vom 31. Mai 1836.
26 ebda., 265 •» Brief an Minna Planer vom 21. Mai 1836.
27 ebda., 265 = Brief an Minna Planer vom 21. Mai 1836; ebda., 270 «• Brief an Minna Planer vom
25. Mai 1836.
28 ebda., 264 = Brief an Minna Planer vom 21. Mai 1836.
29 Cosima Wagner, Tagebücher, Bd. 1,372 = 21. März 1871 — Die Meldung in der „Illustrierten Zeitung" vom 18. März 1871 lautete: „In Straßburg soll, wie verlautet, ein deutsches Theater mit kaiserlicher Subvention errichtet werden. Dem Vernehmen nach wurde die Leitung dem Direktor
Cerf, der bekanntlich sein Viktoria-Theater in Berlin verpachtet hat, angetragen." Es handelte
sich dabei um Rudolf Cerf (1811—1873), den Sohn des einstigen Direktors des Königstädtischen
Theaters, der sich ebenfalls als Theaterunternehmer versuchte und sich offenbar der gleichen
Unterstützung durch die Hohenzollern wie sein Vater erfreuen konnte. Die Hintergründe zum
Straßburger Theaterprojekt Cerfs sind soweit ersichtlich noch nicht erforscht.
30 Freydank, a. a. O., 293, 298; Berliner Addressbücher 1881.
31 Am Alexanderplatz fand einst jährlich die größte Wollmesse Deutschlands statt.
Schwerverwundete Kriegsgefangene 1866 in Berlin
Von Paul Habermann
Der Deutsche Krieg von 1866 brachte viele schwerverwundete Kriegsgefangene in die Hauptstadt des siegreichen Preußen. Die Behandlung der Verwundeten und der vielen an Typhus
und Cholera Erkrankten lag zu einem großen Teil bei den damals nicht sehr zahlreichen zivilen
Krankenhäusern und in den Händen freiwilliger Hilfsorganisationen.
In Berlin war auch das 1837 gegründete und heute noch bestehende Elisabeth-Diakonissenund -Krankenhaus an der Sorge für die Verwundeten beteiligt. Aus einem von Pastor Johannes
Gossner gegründeten „Frauen-Krankenverein" war 1837 unter tätiger Mithilfe des Königshauses, vor allem der Prinzessin Marianne, Gemahlin des Bruders Wilhelm des Königs Friedrich Wilhelm III., das genannte Krankenhaus hervorgegangen. Die Prinzessin Marianne vermittelte auch, daß das Haus mit Zustimmung des Königs den Namen der damaligen Kronprinzessin Elisabeth erhielt1.
Das Ausland blickte auf das Kriegsgeschehen und auf die schweren Verluste, die auf beiden
Seiten entstanden waren. Auch im Monatsblatt der englischen Quäker „The Friend" erschienen Berichte; im Januarheft 1867 wird unter der Überschrift: „Ein Ereignis aus dem vergangenen Deutschen Kriege" ein Auszug aus einem Brief gebracht, in dem über die Hilfstätigkeit des
Elisabeth-Krankenhauses berichtet wird. Als Zeitdokument kann der Brief auch im Hinblick
auf die damals weite Kreise erfassende Hinwendung zu einer ausgeprägten Religiosität heute
noch Interesse finden:
30
„Wir sind in der glücklichen Lage, im folgenden Auszüge aus einem Brief eines Berliner Herrn
an einen Quäker in England zu veröffentlichen. Wir bieten sie unseren Lesern als Beitrag einer
erfreulichen Veranschauung der Macht christlicher Liebe, unter dem Segen Gottes, um auch
das stolze Herz eines verwundeten gefangenen Adligen zu besiegen:
, . . . Glauben Sie nicht, daß ich als Patriot über die Erfolge der Preußen begeistert bin. Ich bin
zu sehr überzeugt, daß die Erde Gottes und jeder Bewohner mein Bruder ist, daß ich nicht
Erbarmen mit den Leiden fühlte, die der vergangene Krieg über Millionen von unschuldigen
Menschen gebracht hat. Angesichts von einigen tausend schrecklich verstümmelter Menschen
hatten wir hier zuviele Beweise vor unseren Augen, um nicht überzeugt zu sein, daß Krieg zweifellos das Schlimmste aller Übel ist. Krieg ist eine Anhäufung aller Sünden. Solche Zeiten sind
wie Gewitterstürme, die die Atmosphäre reinigen. Wir haben sehr erfreuliche Berichte über die
tiefen Eindrücke, die unzählige Menschen gewonnen haben.
In unserem eigenen Krankenhaus (Gossners Elisabeth-Krankenhaus in Berlin) gewannen wir
solche beglückenden Erfahrungen. In vier Monaten haben wir mehr als 160 verwundete Soldaten gepflegt; katholische Österreicher, einige Italiener und einen Juden. Sie besuchten regelmäßig den Abendgottesdienst, wobei von einigen frommen Geistlichen, die sich dabei abwechselten, ein Text aus der Schrift ausgelegt wurde. Sie hörten mit größter Aufmerksamkeit zu, und
bei ihrem anständigen und guten Verhalten wurde der Nutzen für sie offenkundig. Nur ein Fall
war sehr auffallend: Ein aus Böhmen stammender österreichischer Feldwebel verhielt sich
außergewöhnlich unverschämt. Er kam bald nach der großen Schlacht von Königgrätz. Sein
rechter Arm war schrecklich zerschmettert und lag in einem Pflaster-Verband. Der Feldwebel
wies eine Anordnung des Arztes vor, der ihm in Böhmen den Verband gemacht hatte, und
wonach der Arm unverzüglich amputiert werden müsse. Er verlangte, daß dies sofort geschehen sollte, obwohl es spät nachts war, als er ankam. Als ihm unser Arzt sagte, er werde ihn, weil
es jetzt zu spät wäre, am nächsten Morgen untersuchen, begegnete er ihm mit ärgerlichen Ausdrücken, und er rühmte seine hohe Abkunft, er sei von tschechischem Adel. Tatsächlich wollte
nichts ihm gefallen; unser Kaffee, unsere Speisen, unser Brot; nichts war für ihn gut genug. Er
behandelte unsere Schwestern mit Unverschämtheit, obwohl sie sich ihm mit der größten
Freundlichkeit widmeten. Nein, als einstmals die Witwe unseres Königs (Königin Elisabeth;
Verf.), die Schirmherrin unseres Krankenhauses, dort einen Besuch abstattete, sich ihm sehr
freundlich zuwandte und sagte, sie hoffe, daß sein Arm geheilt werden könne, antwortete er
kurz angebunden: Das ist leicht gesagt, und wandte seinen Kopf ab. Trotzdem, sein Arm wurde
erhalten. Nach seiner Untersuchung fand unser Arzt, daß der Oberarm zwar gebrochen sei,
doch daß er bei sorgfältiger Pflege geheilt werden könne. Er machte sich viel Mühe mit dem
hochmütigen Mann: Er entfernte viele Knochensplitter, legte einen neuen Pflasterverband an,
ließ seinen Arm drei Stunden lang morgens und abends baden. Und schließlich — in kurzer Zeit
behandelte er ihn so erfolgreich, daß C — y, als er uns verließ, seine Finger bewegen und seinen
Arm ein wenig gebrauchen konnte. Nun besuchte dieser Mann unsere Kirche und wurde gut
beeinflußt, denn allmählich wurde er freundlicher, und oft sagte er, er könne länger als eine
Stunde ohne müde zu werden einer solchen Schriftauslegung zuhören. Der Gottesdienst
erschien ihm zu kurz, obwohl er eine Stunde dauerte. Nach dem Friedensschluß wurden die
Kriegsgefangenen nach Österreich zurückgesandt. Und als C — y uns verließ, rannen Tränen
über seine Wangen. Beim Händeschütteln mit dem Arzt und mit den Schwestern sagte er: ,Ich
bin zwei Mal besiegt worden, ein Mal auf dem Schlachtfeld durch die Gewalt der Waffen, und
ein zweites Mal in Ihrem Haus durch Güte und christliche Liebe.' In der vergangenen Woche
erhielt unsere Oberin einen Brief von ihm — aus Neustadt in Mähren, datiert vom 30. Oktober
1866: Ehrwürdige Oberin — Nachdem ich vor vier Wochen zurückgesandt worden bin, habe
31
ich jetzt meine Heimat erreicht. Wie oft habe ich an Ihr Krankenhaus gedacht, wo wir unermüdlich freundliche Zuwendung erhielten und wo wir an Leib und Seele gestärkt wurden. Wie oft
habe ich diese gesegnete Zuflucht vermißt, diesen Ort christlicher Liebe und Selbstverleugnung. Wie groß war der Gegensatz, als wir in diesem Lande in unsere eigenen Hospitäler
kamen! Alle meine Kameraden riefen auf einmal: Was für ein Unterschied! Wo sind unsere
Schwestern Agnes und Dorothee!... Oh!, wie danke ich Gott, daß er mich in Ihr Haus brachte,
daß mein Arm so gut geheilt ist und daß ich gelernt habe, wie echter und wahrer Glaube verbunden mit der größten Selbstverleugnung und Liebe zu jedermann, ob Freund oder Feind,
nur verlangt, Leib und Seele zu heilen. In Anbetracht, daß so mancher von uns Ihr Haus mit
neuen Kräften verlassen hat, ist es deutlich, daß Gottes Segen auf Ihrem Hause ruht und daß es
von seinem Geiste beherrscht wird. Seien Sie so freundlich und grüßen Sie mir den Arzt und
alle Schwestern, vor allem aber Agnes und Dorothee und die Gräfin C, die uns mit der größten
Freundlichkeit und Geduld betreut haben. Ich behalte sie alle in bleibendem Gedächtnis. Ich
verbleibe Ihr dankbarer Joseph C — y.'
Berlin, 7. November 1866"
(deutsch von P. H.)
Anschrift des Verfassers:
Dr. med. habil. Paul Habermann
Franz-Nölken-Weg 9,
4770 Soest
Literatur:
1 Baur, W.: Prinzeß Wilhelm von Preußen, geborene Prinzeß Marianne von Hessen Homburg,
Hamburg 1886
2 Elisabeth-Diakonissen- und -Krankenhaus, Festschrift, Berlin 1987
3 „The Friend", London 1867.
Buchbesprechungen
Ursula E. Koch, Der Teufel in Berlin. Von der Märzrevolution bis zu Bismarcks Entlassung / Illustrierte politische Witzblätter einer Metropole 1848 bis 1890. Informationspresse — c. w. leske verlag
Köln, 1991. 880 Seiten.
Mag das Urteil vielleicht etwas vorschnell sein, so lebt das Biedermeier doch als eine Zeit gemütlicher
bürgerlicher Behaglichkeit in der Nachwelt fort. Der Fluß der Geschehnisse schien beschaulich dahinzuziehen, bis die Märzrevolution ihm jenen Stau gebot, diesseits dessen sich fortan das Büd einer
neuen gesellschaftlichen, auf mehr „Kommunikation" bedachten Wirklichkeit entwickeln sollte,
angefangen mit der Gründung populärer Vereine bis hin zu den sich aus politischen Strömungen verdichtenden politischen Parteien, mit denen die Geschichte des Parlamentarismus in den deutschen
Ländern und der Dualismus von Regierungsfraktionen und Opposition anheben. Industrialisierung
und soziale Frage erheischen immer gebieterischer Aufmerksamkeit, nicht minder gerät die Bismarcksche Staatslenkung in ein diskutables Für und Wider der Bürger. Die neuen staatsbürgerlichen
Freiheiten erlösen auch die Kritik aus langer Repression, am wenigsten wohl noch in Berlin, dessen
Bewohnern von jeher eine handfeste kritische Sinnesart nachgerühmt wurde, gern verbunden mit
Witz und Schlagfertigkeit. Die Verfasserin des „Teufels in Berlin" nennt nicht weniger als 35 Titel von
Blättern „kritischen Witzes", die im Trend jener Jahre lagen. Nur drei davon konnten sich über längere
32
Zeit hinweg am Leben halten: der „Kladderadatsch", „Die Wespen" und der „Ulk". Alle drei darf
man als Blätter einer liberalen Mitte bezeichnen. Ihre Auflagezahlen waren zeitentsprechend hoch. In
ihrem Sog trieb rechts und links eine Anzahl meist kurzlebiger und mehr parteigebundener Periodika
dahin. Man war „witzig" politikbegleitend,-kritisierend,-erwartend. Die viel aussagende bildliche
Darstellung rangierte vor dem Wort als Gedicht, Anekdote oder Dialog. Hin und wieder gab es kleine
Rangeleien mit empfindlichen Staatsanwälten. Dabei entbehrten Satire und Parodie gemeinhin noch
jenes aggressiven Sarkasmus, den sie in unserem Jahrhundert gewannen.
Das Buch bietet in seinem ersten Teil die Geschichte der Presseerzeugnisse, der Journalisten, Zeichner und Verleger; im zweiten stellt es die Witzblätter als „humoristisch-satirische Chronik Europas"
vor. Revolution, Bismarck, Kriege, Parteien, Kirche, Sozialisten, Weltkrisen: dem Text, der den
bewegenden Ereignissen bis in deren feine, dem heutigen Leser nicht immer mehr durchweg allgegenwärtige Verästelungen — seien sie personaler oder sachlicher Natur — nachgeht, folgt das Echo mit
den karikierenden Bildern des Blätterwaldes. Die stattliche Neuerscheinung ist durch Inhaltsverzeichnis, Anmerkungen (116 Seiten!), Quellen- und Literaturangaben sowie diverse Register hervorragend erschlossen. Man könnte das Buch im Fall der Fälle geradezu als Lexikon benutzen.
Ein kurzes Nachwort gelte dem Titel „Der Teufel in Berlin", der im ersten Augenblick etwas stutzig
macht. Die Verfasserin gab ihn ihrem Werk nicht, weil sich ein flüchtig auf dem Markt erschienenes
Blättchen so titulierte, sondern sie lehnte sich an Goethes „Faust" an, in welchem dem Teufel —
Mephisto — die Rolle des Schalks zugedacht ist, der den schnell erschlaffenden Geist des Menschen zu
immer neuen Taten anfacht. Freilich ist Fausts Gegenspieler grundsätzlich ein Verneiner alles Gewordenen . . . Sind die Künste der Satire und der Karikatur wahrlich „teuflisch oder satanisch" zu nennen,
wie im Geleitwort von K. Koszyk vorgestellt? (S. 13). Stammt nicht die gescheite Erkenntnis „ridendo
dicere verum" (scherzend die Wahrheit sagen) schon aus den Satiren des alten Horaz?
Gerhard Kutzsch
Gottfried Eisennann: „Gottfried Benn in Berlin. Stationen." 85 Seiten, kurzes Literaturverzeichnis, CMZ-Verlag, Rheinbach-Merzbach 1991.
Die Verbindung von Arzt und Schriftsteller hat der dichterischen Persönlichkeit in neuerer Zeit eine
besondere Prägung gegeben; kommt noch eine stammesmäßige Geformtheit hinzu — wie etwa beim
niederbayerischen Carossa —, wirkt sie auf eigenartige Weise anziehend. Außer Döblin, dem Verkörperer berlinischen Lebens, bietet sich die Beschäftigung mit dem gegenwärtig etwas verblaßten Benn
an. Es werden seine Lebensstationen nachgezeichnet, in denen sich dichterische und ärztliche Wirkung durchdringen.
Benn wuchs als Pfarrressohn auf dem Lande in der östlichen Mark Brandenburg auf, versuchte sich als
Student der Theologie und Philosophie und Germanistik, wechselte über zur Medizin und wuchs über
die alte Pepiniere und die Berliner Universität in die kaiserliche und „weimarische" Reichshauptstadt,
mit der er sich seit dem Ersten Weltkrieg identifizierte. Der Schwerpunkt seines Grüblertums lag seit
dem Ende des Kaiserreiches in dem Klärungsprozeß vieler Großstadtphänomene, vor allem beschäftigte ihn die Ausgesetztheit des Ichs vor dem materiellen Verfall. Mit dem Schwinden aller Werte und
Bindungen ist der Einsame auf die Leere zurückgeworfen. Bekannt sind seine Gedichtstrophen aus
„Morgue", die Erlebnisse aus seiner Sektionstätigkeit am Moabiter Krankenhaus reflektieren. Dem
steht gegenüber, wie er sich in äußerster Anspannung mit dem antiken Erbe, mit (dem Naturwissenschaftler) Goethe und Nietzsche auseinandersetzte. Noch näher lag ihm die Radikalität der Schillerschen Gedankenlyrik. — Verf. zeichnet die Schauplätze von Benns Wirken in Berlin nach, die sich in
großen Zügen mit den Stufen seines Sich-Wandeins decken: die Studienorte an der Kaiser-WilhelmsAkademie, die Praxis in der Belle-Alliance-Straße, die Wohnungen in der Passauer und Bozener
Straße, die Welt der Cafes am Kurfürstendamm und Potsdamer Platz, das Leben am Bayerischen
Platz im Alter. Wichtiger ist das jeweilige Ins-Bild-Fassen existentieller Grunderfahrungen, von
denen Verf. sagt, seine individuellen Erlebnisweisen seien ohne Berlin nicht denkbar. Der Dichter
Benn gibt ja, anders als der behutsame Carossa, eine gewaltsame Figur ab. Die Grundtöne des Himmelstürmenden und schrill Expressiven klangen in den Künstlerkreisen, Cafes und Kleinkunstbüh33
nen der ersten beiden Jahrzehnte in Berlin schon auf; genannt seien Benns Freunde Sternheim und
Hasenclever oder Pfemfert in seinem „Aktions"-Kreis und der Salon Paul Cassirers. Doch zwischen
ihnen ging Benn seinen Weg als ein einzelner mit seiner dichterischen Form der „Cerebration", das ist
der Zerdenkung des Gärenden, die kühl alles Lebendige in eine rational überbetonte Wortform faßt
und allem Gefälligen absagt.
Wo Carossa das Heilende im Träumerischen suchte, kämpfte sich Benn zur „Wirklichkeitszertrümmerung" durch, d. h. zur Konfrontation mit dem sozialen und körperlichen Elend, um es in geistigem
Überfliegen zu bewältigen. — Verf.s Versuch der Stationenbeschreibung und des Gruppierens der
vielfältigen Strömungen und Erlebniskreise um Benn in Berlin kann auf dichterische Interpretation
seiner sprachlichen Eigenart weniger eingehen als eine germanistische Studie, doch wird versucht, das
Besondere seiner gewaltsamen Abstraktion darzulegen, wie z. B. in den „Gesammelten Gedichten"
von 1927 und dem Roman „Der Phänotyp". Er verweist auf Wortschöpfungen durch Neuzusammensetzung wie „Westendweiße" oder „Villenwälder" — ähnlich denen des Sturm und Drang, die neue
Erfahrungsweisen erschließen sollen. Ein Blick auf die Zeitgenossen Bobrowski oder Huchel hätte
noch mehr deutlich gemacht, wie sehr Benn ein Wegbereiter war.
Der Arzt und Mensch Benn war ein Schwermütiger und Verquälter. Verf. beschreibt seine tägliche
Mühsal der Kassenpraxis und der Gutachter-Tätigkeit im OKW in der Bendlerstraße zur Zeit des
Attentats von 1944! — Um seine schweren Lebensphasen in beiden Weltkriegen, im Nachkriegs- und
Blockade-Berlin und in der Zeit des zögernden Wiederaufbaus herum gruppiert Verf. die Glanzlichter in den Zwanzigern und Dreißigern. Er schildert ihn, wie er nach dem Tode seiner ersten Frau ein
Sich-Verzehrender war. Er leistete Uterarische Beiträge für anspruchsvolle Zeitschriften und für den
Rundfunk. Seine intensivste Mitarbeit war die an Hindemiths Oratorium „Das Unaufhörliche", in
dem er sich über das Leiden am Verfall zu hoher Bewußtheit erhob. — Seine ruhmreichste Station
begann, als er, mit Loerke befreundet, in die Sektion Dichtung der Akademie aufgenommen wurde.
Er durfte die Hoch-Zeit der Zusammenarbeit mit Heinrich Mann, Döblin und der Huch genießen;
Liebermann war sein Weggefährte. Vor allem über seine geistige Verwandtschaft mit Loerkes Lyrik
wäre noch mehr zu sagen. Die frühen dreißiger Jahre waren ein gewisses Sich-Konsolidieren. Seine
Daseinssuche ist verhaltener geworden und wirkt gefestigter als die Rilkes oder Georges. Verf.
beschreibt ihn als Stadtmenschen: die Sinnesreize der Großstadt rühren an seine Sensorien, er nimmt
die Schwingungen seiner Künstlerfreunde auch in sich auf und bringt sie in Form und Klang seiner
Gedichte, als deren schönstes „Astern" gilt.
Verf. streicht über die beschämende Episode seines Bekenntnisses zum neuen Staat der braunen Herren etwas leicht hinweg. Es erfolgte trotz des deprimierenden Erlebens um die Vorgänge des Rücktritts Heinrich Manns und die Auflösung der Sektion Dichtung, als deren Sekretär auch Loerke entlassen wurde. Dieser Widerspruch im Leben Benns ist schwer zu verstehen. Hier stand er nicht im Einklang mit den Grundwerten „Härte und Klarheit des Gedankens, Verantwortung im Urteil, Skepsis",
die er als besondere Tugenden der Pepiniere nachlobt, die ihn geformt hätten. Auch sein Wort von der
Armee als innerer Emigration bedürfte eingehender Klärung. Dagegen standen, fast verschlüsselt,
den Unrechtstaat entlarvende Gedichte; er schrieb sie 1943/44 unter den Augen der Nazis während
seiner Dienststunden in der Bendlerstraße. Damals war er ein Verfemter, die Nazis hatten ihn mit
Schreibverbot belegt. Er zahlte einen bitteren Preis im „Zeitalter der Angst".
Was bleibt, ist sein Ringen um das dichterische Ich. Die „dürftige Zeit" der Nachkriegsjahre war der
fruchtbare Boden dafür; damals erschienen seine Gedicht- und Prosabände und machten ihn als
einen der Großen der Öffentlichkeit zugänglich. Seit seinem Tode 1956 ist es stiller um ihn geworden;
sein gewaltsames, aufs äußerste komprimiertes Wort ist heute unbequem und will erobert werden. Die
letzten Gedichte sehen Berlin als ein Lebens-, Leidens- und Erfahrensraum von archaischer Größe.
Dies zu akzeptieren bedarf es der mehr interpretatorischen Beschäftigung, als es auf dem knappen
Raum eines Bändchens möglich ist.
Christiane Knop
M
„Albrecht von Brandenburg. Kurfürst — Erzkanzler — Kardinal. 1490—1545" Beiträge von Horst
Reber, Friedhelm Jürgensmeier, Rolf Decot, Peter Walter, hersg. von Berthold Roland, 252 Seiten,
zahlreiche farbige Abbildungen. Katalog des Landesmuseums Mainz anläßlich des 500. Geburtstages
Albrechts von Brandenburg.
Wenn das Landesmuseum Mainz eine Ausstellung über den Erzbischof Albrecht von Brandenburg
veranstaltet, steht wegen seines reichen kunsthistorischen Fundus die kulturelle und geistige Bedeutung im Vordergrund, die anscheinend mehr auf den rheinischen Kulturraum weist; aber der Hohenzollernfürst, Bruder Joachims I. von Brandenburg, ist gleichermaßen für die brandenburgische Landesgeschichte von Interesse, und der vertiefende Begleitband mit seinen Einzelstudien wird auch diesem Anliegen gerecht, wenn er auch nur partiell Neues bringt. Aber da, wie Horst Reber in seiner Einführung betont, eine aktualisierte Gesamtdarstellung bisher fehlt, geht es in den Beiträgen darum, den
Kurfürsten in den großen Zusammenhang der Reformationsgeschichte einzuordnen. Albrecht war
der Adressat des Lutherschen Thesenanschlags, da er für Tetzel die Generalinstruktion für den
Ablaßhandel ausgestellt hatte und da er als Betroffener die Angelegenheit Luther pflichtgemäß nach
Rom weiterleitete. Durch ihn ist die Reformation angestoßen worden. Wer die große Bewegung einmal nicht von Person und Wirken des Reformators her und nicht im Rahmen der Reichsgeschichte
sehen will, dem erschließt sich hier mit Hilfe der Einzeldarstellungen — Rolf Decot stellt Albrecht in
das Beziehungsgeflecht zwischen Kirche, Reich und Reichsreform des 15. Jahrhunderts; Horst Reber
zeichnet den Umriß seiner Persönlichkeit, Friedhelm Jürgensmeier seinen Pontifikat als Kardinal,
Kurfürst und Administrator von Halberstadt; Peter Walter untersucht seine Beziehungen zum Humananismus — ein großer Macht- und Kulturraum um die Zentren Brandenburg und Berlin — Magdeburg — Erfurt — Halle — Halberstadt bis hin zum Main als eine in sich gespannte, vielfältige Einheit.
Albrechts Verhalten als Erzkanzler des Reiches und zugleich Erzbischof von Mainz trug wesentlich
dazu bei, daß sich mit dem Protestantischwerden von Magdeburg 1561 die brandenburgisch-sächsische Rivalität zugunsten Brandenburgs verschob und die Länder mitteldeutsch-lutherischer Prägung
ein Machtfaktor wurden. Als auch noch das ehemalige Ordensland Preußen unter dem brandenburgischen Vetter Albrecht aus dem Ansbachischen Hause ein weltliches Herzogtum wurde, erbauten sich
im Verein mit dem genannten mitteldeutschen Komplex die Voraussetzungen für den Staat des Großen Kurfürsten. Verf. Decot siedelt den hohenzollerisch-brandenburgischen Kirchenfürsten in Mainz
an auf dem Wendepunkt zwischen Beharrung und Aufbruch, was bedeutet, für ihn war zunächst noch
die alte reichskirchliche Amtsauffassung bezeichnend, das geistliche Amt für den Kirchenfürsten als
seinen Lebensunterhalt anzusehen; der Bischofssitz aber war „Objekt aristokratischer Herrschaftsfamilien". Die im Katalog ausgebreiteten Kunstgegenstände — viele darunter aus Berliner Besitz — zeigen einen Kirchenmann von überzeugender mittelalterlicher Frömmigkeit; so hat er anfangs, beeinflußt von Erasmus' irenischer Auffassung, noch Scheu gehabt, gegen Luther mit der ganzen Konsequenz eines Reichsfürsten vorzugehen. F. Jürgensmeier urteilt, daß er die Eigendynamik und Tragweite der Reformation nicht erkannt habe. Wegen dieser Scheu habe er auch sein Reichsamt als Erzkanzler halbherzig ausgeübt. — Will man im Kardinal Albrecht dagegen den Renaissancefürsten des
Aufbruchs sehen, hat man nach seinen Beziehungen zum Humanismus zu fragen. Von aktuellem
Interesse ist da der Anteil der Fürstenbrüder Joachim und Albrecht an der Gründung der Universität
Frankfurt an der Oder. In ihrer Absicht lag es, sie zur Hohen Schule für das künftige Landesbeamtentum zu machen; in dieser Hinsicht hatte die Viadrina geistige und juristische Bedeutung für den inneren Ausbau der drei sich berührenden Territorien Magdeburg — Halberstadt — Halle und Brandenburg mit der Lausitz, hinzu kam dann das protestantisch-säkularisierte Ordensland Preußen. Das
Verflochtensein der humanistischen Professoren mit den Künstlerkreisen um die Nürnberger Vischer,
Dürer, Cranach, Grünewald und den Buchwerkstätten in Mainz wird bloßgelegt. — Eine Schlüsselrolle für die Ausbildung des Renaissancefürsten Albrecht von Brandenburg spielte dabei die diplomatische Tätigkeit des brandenburgischen Adügen Dietrich von Bülow. Bülow, Albrechts Lehrer und
Förderer seiner Karriere, war der Vermittler des modernen römischen Rechtes, wie es an der Universität Bologna gelehrt wurde. Verf. Peter Walter beleuchtet, wie Albrecht von Brandenburg gegen die
Ansprüche des märkischen Adels als moderner Landesfürst auftrat, vor allem aber als feinsinniger
Mäzen. Er war der Auftraggeber des Halleschen Heilstums, das in dem Katalogband in seiner ganzen
Schönheit wiedergegeben ist. Es war eine Reliquiensammlung, die ähnlich wie die des Kurfürsten
Friedrichs des Weisen in Wittenberg zur Vertiefung der Volksfrömmigkeit angelegt worden war. Von
Rang und Würde seiner Persönlichkeit sprechen ferner die beiden Grabmäler, die er ebenfalls in Auf35
trag gab, das seines Vorgängers Uriel von Gemmingen im Mainzer Dom und sein eigenes, das für
seine Grablege in der Stiftskirche von Halle bestimmt war. Es ist wohl denkbar, daß in frommer Ikonographie und fürstlichem Anspruch frühe Herrschervorstellungen aus seiner Jugend am Berliner
Hof (Verf. läßt ihn unrichtigerweise in Berlin—Neukölln geboren sein) eine Rolle spielten, wo sein
Vater Johann Cicero und sein Bruder Joachim als die gebildetsten Fürsten ihrer Zeit galten. Von da
stieg er auf zu einem der am meisten geachteten Reichsfürstentümer. Seine Rolle als „Königsmacher"
Karls V. wird gestreift.
Es werden u. a. die Porträtbilder Lukas Cranachs und Dürers und die Darstellung als Bischof in den
Illustrationen seiner Stundenbücher in herrlicher Farbigkeit wiedergegeben, die einen Eindruck von
spätmittelalterlicher religiöser Kunst vermitteln.
Christiane Knop
Joachim Wiese: Berliner Wörter & Wendungen. Akademie-Verlag Berlin 1987, Quart, Leinen,
160 Seiten.
Der begrenzte Umfang dieses Wörterverzeichnisses, das einen kleinen Einblick in den Berliner Wortschatz geben will, zwang in der Auswahl der Stichworte zu einer Beschränkung. Möglichst vollständig
aufgenommen wurden solche berlinischen Wörter, die in der deutschen Schriftsprache und allgemein
umgangssprachlich nicht belegt sind (z. B. acheln, Trall). Weiterhin wurden umgangssprachliche
Wörter berücksichtigt, wenn sie für das Berlinische in besonderer Weise typisch oder durch das Berlinische verbreitet wurden. Dabei wird eine normalisierende Schreibweise verwendet. Die Wortartikel
sind in der Weise gegliedert, daß dem Stichwort eine Bedeutungsangabe oder ein Bedeutungshinweis
folgt, gegebenenfalls durch einen Beleg ergänzt, wenn der Sprachgebrauch dadurch besonders illustriert wird. Angaben zur Herkunft eines Wortes werden vor allem bei solchen Stichwörtern gemacht,
deren Etymologie in Wörterbüchern nicht ohne weiteres nachzuschlagen ist. Das Wörterverzeichnis
wurde auf der Grundlage des Materials zusammengestellt, das sich im Archiv des Brandenburg-Berlinischen Wörterbuchs bei der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig befindet. Bei
Quellen des 19. Jahrhunderts wird der Leser durch Namensigel wie Br = Brendicke, Gl = Glaßbrenner, RB = der „Richtige Berliner" darauf verwiesen. Bei der Lektüre fällt auf, daß die heutige Sprache
noch nicht berücksichtigt wurde und die Politik von Ausnahmen abgesehen ausgeklammert worden
ist. Mehr der Kuriosität halber sei hier eine der Bedeutungen für „Schweinebraten" angeführt:
„Durch unangepaßte Normvorschriften erreichte Planübererfüllung".
Einige Beispiele seien zitiert:
Armenkasse: Det jibt wat aus de Armenkasse, „es gibt Prügel"
Bärme: „Hefe"; mit Bezug auf die Bierhefe: Wat nachkommt, is Bärme, das heißt taugt nichts.
Mehr Bedeutungen, als sie das Wörterverzeichnis aufführt, gibt es etwa für Koks, nämlich als fünfte
auch noch Kokain, für Schnee (gleichfalls eine Droge) und für Lulatsch, worunter der Berliner neben
„lang aufgeschossenem Kerl" eben auch seinen Funkturm versteht. Auch für Tunte gibt es neben
„energielose, langweilige, verweichlichte Person" eine eher noch gängigere Bedeutung. Man kann aus
dem Büchlein viel lernen. Während die Bedeutung „sich entfernen" für „Leine ziehen" bekannt ist,
wird der Ursprung „auf den Strich gehen" nicht jedermann geläufig sein. Dies gilt auch für „Potsdamer" = „Mischgetränk aus Bier und Limonade" und für „Weiße mit Strippe", weil der Schnaps den
Weißbierschaum bändigt.
Überhaupt fällt auf, wie reich das Berlinische an Ausdrücken für Trinken oder betrunken ist, wenn wir
hier nur unter den Buchstaben A und B zitieren: andudeln, anjeäthert, anjenüchtert, anjesäuselt,
bedudeln, beschmort, beschnurjelt, eenen zur Brust nehmen und büjeln. Hans G. Schultze-Berndt
Wolfgang Ribbe, Spandau. Colloquium Verlag Berlin 1991. 158 Seiten.
Ganze fünf Jahre früher als Berlin wird Spandau 1232 erstmals in einer Urkunde erwähnt. Die
Mediaevisten nehmen gewiß zu Recht an, daß beide Städte doch etwas älter sind als die schriftliche
Überlieferung bekundet. Wolfgang Ribbe, auch als Spandau-Spezialist ausgewiesen, die Fortentwicklung der kleinen brandenburgischen Landstadt über die mittlere Provinzstadt zum 8. Bezirk einer
Metropole darzustellen, bündelt das Wesentliche aus seinen bisherigen zahlreichen Arbeiten instruktiv zusammen. Über „Kirche und Gesellschaft" im Mittelalter hätte man gern etwas mehr erfahren
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mögen als sich hier auf einer knappen Seite zusammendrängt. Der Abschnitt „Verfolgung und Widerstand" im Hitler-Staat hätte hingegen ein paar Kürzungen durchaus vertragen. Fünfundvierzig Jahre
britische Schutzmacht und ihr Einfluß auf den Bezirk und seine Bevölkerung bleiben außer Betracht.
(Die arg verfehlte Schreibung einiger mehr oder weniger bekannter Personennamen [S. 64,108,132]
sollte das Lektorat in der 2. Auflage des Buches richtigstellen. Und die Fußgängerbrücke über die
Heerstraße [S. 25] überquerte einmal die Tauentzienstraße).
Gerhard Kutzsch
Manfred Gerlach: „Mitverantwortlich. Als Liberaler im SED-Staat." 471 Seiten, zahlreiche Abbildungen, Personenverzeichnis Morgenbuch Verlag, Berlin 1991
Schon der Titel „Liberaler im SED-Staat" zwingt zwei inkompatible Gegebenheiten zusammen und
reißt das Dilemma auf, das zwischen einer parlamentarischen Partei und einer pluralistisch verfaßten
Gesellschaft und der Ausschließlichkeitspartei im totalitären Staat besteht. Daß in der DDR ein Bürgerlicher diese Vereinbarkeit dennoch immer wieder herzustellen versuchte, liegt in seinen Anfängen
begründet: als jugendlicher Idealist, der 1945 „ein friedliches, demokratisches und menschlich besseres Deutschland" erstrebte und diese Zukunft im sozialistischen Staat verwirklicht glaubte. Er hat
noch bis in die Wende an diesem Irrtum festgehalten. — Die stoffreiche Selbstdarstellung des Manfred
Gerlach betrifft in erster Linie den Politiker, der zu ermessen hat, inwieweit sein politisches Umdenken überzeugend vollzogen ist. Doch dieser Prozeß ist noch zu sehr gegenwärtig und kann in einem
Geschichtsverein vorläufig kaum bewertet werden. Für die Berlin-Geschichte ist die Karriere des letzten Staatsoberhauptes der DDR nach dem 9. November und des Vorsitzenden der Blockpartei insofern relevant, als er seine hochpolitische Funktion seit den 50er Jahren von Berlin her ausübte; denn
an sich kam er von den sächsischen Liberalen her. Er beschreibt sehr ausführlich — weil er alles Material zu seiner Selbstanalyse ausschöpfen will — seine Laufbahn vom Initiator einer antifaschistischen
Jugendgruppe über seine Tätigkeit als Mitbegründer der FDJ und darin fungierendes Zentralratsmitglied in der Nähe des frühen Honecker. Seit 1945 Mitglied der LDP, wurde er 1950 Bürgermeister
und Stellvertreter des Oberbürgermeisters von Leipzig. Stetig und seltsam unbehindert von Machtkämpfen durchmaß er alle Bereiche eines politisch Verantwortlichen; er schildert unter anderem sein
Fernstudium der Staats- und Rechtswissenschaften bis zur Promotion und Habilitation unter uns
fremden Rechtsbegriffen, berichtet über seine Zeit als stellvertretender Vorsitzender und dann Generalsekretär der LDPD. Schließlich bekleidete er, dieser Blockpartei angehörend, das Amt des Amtierenden Vorsitzenden des Staatsrates der DDR und wurde nach dem 9. November 1989 Staatsoberhaupt. — Wenn Verf. seinen Weg durch die DDR-Jahre als einen in sich zwingenden Gang rekapituliert, erkennt der westliche Leser ihn von immer derselben schiefen Bewußtseinslage bestimmt. Es
hat, u. a. seit ersten Fühlungnahmen mit der FDP, immer wieder Anlässe gegeben, sich zu fragen, ob
er im echten Sinne ein Liberaler gewesen sei, was er eigentlich hätte verneinen müssen. Aber er überzeugte sich selbst, Blockpolitik der LDPD in enger Fühlungsnahme mit der SED sei der durchsetzungskräftigste Weg, nationale deutsche Geschicke zu gestalten; so schlug sich Verf. auf die Seite der
Befürworter einer DDR als eines sozialistischen deutschen Staates. Folgerichtig befürwortete er die
Niederschlagung des Aufstandes vom 17. Juni 1953, bekannte er sich zur Notwendigkeit des Mauerbaus, rechtfertigte er die Sozialisierung der Landwirtschaft und der Betriebe. — In Berlin stieg er zu
nationalen Führungsaufgaben auf und war doch schon belastet mit der Hypothek, sich immer von der
SED vereinnahmt haben zu lassen und seine Praxis des Wegsehens habitualisiert zu haben. — Es ist
also in 40 Jahren DDR der Aufstieg eines repräsentativen Machthabers und bietet die — eigentlich
wenig informativen — Innenansichten des Staats- und Parteiapparates. Des Verf.s Selbstbefragen, seiner Motive und Entscheidungen und ihrer Folgen, bietet das Bild einer ähnlichen Laufbahn wie vor
ihm in der Sowjetunion der des Kommunisten Wolfgang Leonhard von einer zweifelhaften Situation
zur anderen; er nennt es selbst das Musterbeispiel eines Konfliktes zwischen Anpassung und kritischem Zweifel und der stets wiederholten Selbstbeschwichtigung. Um das Fazit, sich selbst einen verantwortlichen Täter zu nennen, kommt er nicht herum. Der Leser kann als Außenstehender nur
schwer beurteilen, wieweit er noch Wichtiges verdrängt und ob in den schicksalsträchtigen Situationen andere Möglichkeiten hätten gefordert werden können oder müssen.
37
Westliche Leser, die 45 Jahre in einer parlamentarischen Demokratie gelebt haben, können nur
schwer nachvollziehen, wie auch bei einem, der sich der Humanität verpflichtet fühlte, wie er betont,
die oben skizzierte begriffliche Unklarheit über die Grundpositionen des Liberalismus über einen so
langen Zeitraum hat durchgehalten werden können. Auch sein Anspruch, Liberalismus als menschliche Geisteshaltung postuliert zu haben, hilft darüber nicht hinweg. Verf. beschreibt aber im nachhinein, wie bei entscheidenden Ereignissen der deutsch-deutschen Teilung seit der Chruschtschow-Ära
tatsächliche freiere Entscheidungen zu anderen Ergebnissen hätten führen können.
Die Selbstbeschreibung durch 45 Jahre Ostdeutschland ist weitschweifig und zeigt doch immer wieder
dasselbe geschilderte Verhaltensmuster. Unser vorrangiges Interesse beanspruchen die Schilderungen der Vorgeschichte der Wende, die er bis in die Mitte der 80er Jahre zurückverlegt. Es läßt sich verfolgen, wie die politische und geistige Austrocknung der DDR schon bald nach Honeckers Machtantritt begann und wie dieser schon bald die in ihn gesetzten Erwartungen auf größere Lebensnähe
enttäuschte. Schon früh hat Verf. ihn — in der Hoffnung, als sein langjähriger Vertrauter noch etwas
ausrichten zu können — auf die Ineffektivität der Staatswirtschaft hingewiesen und angedeutet, daß
sie nicht der Volkswohlfahrt, sondern der Machterhaltung der SED-Führung diene. Er hat sich damit
zwischen die Stühle gesetzt und sich bei der eignen Partei unbeliebt gemacht. Honecker hat auch unter
dem Druck, der von Glasnost und Perestroika in der Sowjetunion ausging, am erstarrten Kurs der
SED festgehalten und sich zunehmend isoliert. Als sein Verdienst führt Manfred Gerlach an, daß die
LDPD diese Verkrustungen bei Namen genannt und sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten für eine
Kurskorrektur eingesetzt habe — mit zweifelhaftem Erfolg. — So kann Verf., indem er nach den Ursachen für den Zusammenbruch der DDR fragt, nur zu dem Schluß kommen, 1989 sei der Widerspruch
von Theorie und Praxis des Sozialismus so brennend geworden, daß das Volk seine Macht spürte.
„Die Macht lag auf der Straße, und das Volk hob sie auf."
Christiane Knop
Studienfahrt vom 11. bis 13. September 1992 nach Braunschweig und
in den Ostharz
Auf Einladung des Direktors des Braunschweigischen Landesmuseums Gerd Biegel, M. A., wird die
diesjährige Exkursion zum gewohnten Zeitpunkt am zweiten Wochenende im September stattfinden.
Das vorläufige Programm sieht einen Auftakt im Braunschweigischen Landesmuseum vor, dort auch
einen Vortrag „Braunschweig und Preußen im 18. Jahrhundert", und einen mit Stadtrundgang,
Besichtigungen (u. a. Dom) und Führungen (z. B. wahlweise Herzog-Anton-Ulrich-Museum oder
Städtisches Museum) gefüllten Tag, der der Stadt Braunschweig gewidmet ist. Am letzten Reisetag
wird der Bus mit den Teilnehmern zu historischen Orten im Ostharz fahren: Halberstadt und Quedlinburg sind vorgesehen, auch ein Besuch Stolbergs wird erwogen.
Interessenten an der Exkursion können sich vorab unverbindlich beim Schriftführer Dr. H. G.
Schultze-Berndt, Seestraße 13,1000 Berlin 65, melden. Ihnen wird das genaue Programm mit allen
Zeitangaben und Informationen über die Kosten, das Hotel usw. unaufgefordert zugeleitet, das mit
der Meldefrist im Heft 3/1992 dieser „Mitteilungen" veröffentlicht wird.
SchB.
38
t
Im ersten Quartal 1992
haben sich folgende Damen und Herren zur Aufnahme gemeldet:
Hagemann, Christel, Rentnerin
(früher Sachbearbeiterin)
Sophie-Charlotten-Straße 55/56,
1000 Berlin 19
Tel. 3 212813
(Wolfgang Treppe)
Hagemann, Hans, Oberstaatsanwalt a. D.
Sophie-Charlotten-Straße 55/56,
1000 Berlin 19
Tel. 3 212813
(Wolfgang Treppe)
Hager, Bernhard, M. A.,
Regierungsinspektoranwärter
Nettelbeckstraße 2, 6200 Wiesbaden
Tel. 0611/441235
Hintze, Hans-Jürgen, Reederei-Kaufmann
Otto-Grotewohl-Straße 14 c,
O-1080 Berün
Tel. 2 29 45 34
(Gerhard Hintze)
Koch, Klaus, Dipl.-Ing.
Belfaster Straße 54, 1000 Berlin 65
Tel. 4516353
(Gerhard Koch)
Koch, Ursula, Hausfrau
Belfaster Straße 54, 1000 Berlin 65
Tel. 4 5163 53
(Gerhard Koch)
Schüler, Gisela, Sozialamtsrätin
Neidenburger Allee 5, 1000 Berlin 19
Tel. 3021947
Tagesordnung
der Ordentlichen Mitgliederversammlung
Entgegennahme des Tätigkeitsberichtes, des Kassenberichtes und
des Bibliotheksberichtes.
Bericht der Kassenprüfer und der Bibliotheksprüfer.
Aussprache.
Entlastung des Vorstandes.
Verschiedenes.
Anträge sind bis zum 30. April der Geschäftsstelle zuzuleiten.
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Veranstaltungen im II. Quartal 1992
1. Freitag, 24. April 1992,16 Uhr: Wiederholung des geplanten Spaziergangs anläßlich des
150. Todestages Carl Friedrich Schinkels am 9. Oktober 1991 vom Alten Museum über
Schloßbrücke, Königliche Wache, Friedrichswerdersche Kirche zum Schauspielhaus am
Gendarmenmarkt. Leitung Herr Günter WoUschlaeger. Treffpunkt vor dem Alten
Museum an der Granitschale.
2. Mittwoch, 13. Mai 1992, 19 Uhr: Ordentliche Mitgliederversammlung im BerUner Rathaus, Wappensaal. Haupteingang Rathausstraße. Tagesordnung siehe Seite 39.
Anschließend ein Lichtbildervortrag von Herrn Günter WoUschlaeger: „Anmerkungen
zu Haus und Park Neuhardenberg". Bitte beachten Sie den vorverlegten Veranstaltungsbeginn.
3. Sonnabend, 23. Mai 1992, 10 Uhr: Spaziergang durch das ehemalige Regierungsviertel
zwischen Leipziger Straße und Unter den Linden. Leitung: Herr Hans-Werner Klünner.
Treffpunkt: U-Bhf. Stadtmitte, Südausgang.
4. Sonnabend, 13. Juni 1992,10 Uhr: Führung zum Kleist-Grab und zu dessen Umgebung.
Leitung: Herr Hans-Werner Klünner. Treffpunkt: Vorplatz S-Bhf. Wannsee.
5. Dienstag, 16. Juni 1992, 16.30 Uhr: Führung durch die AussteUung des Landesarchivs
„Der Teufel in Berlin — Politische Karikaturen der Bismarckzeit". Leitung: Frau Prof. Dr.
Ursula Koch. Treffpunkt in der Halle des Landesarchivs Berlin, Kalckreuthstraße 1/2,
1000 BerUn 30.
Bibliothek: Berliner Straße 40, 1000 Berlin 31, Telefon 87 2612. Geöffnet: mittwochs 16.00 bis
19.30 Uhr.
Vorsitzender: Hermann Oxfort, Breite Straße 21, 1000 Berlin 20, Telefon 3 33 2408.
Geschäftsstelle: Frau Ingeborg Schröter, Brauerstraße 31, 1000 Berlin 45, Telefon 77234 35.
Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Berndt, Seestraße 13, 1000 Berlin 65, Telefon 45 09-264.
Schatzmeisterin: Frau Ruth Koepke, Temmeweg 38, 1000 Berlin 22, Telefon 3 65 76 05.
Konten des Vereins: Postgiroamt Beriin (BLZ 10010010), Kto.-Nr. 433 80-102, 1000 Berlin 21;
Berliner Bank AG (BLZ 100 200 00), Kto.-Nr. 03 81801200.
Die Mitteilungen erscheinen vierteljährlich. Herausgeber: Verein für die Geschichte Berlins, gegr.
1865, Schriftleitung: Günter WoUschlaeger, Kufsteiner Straße 2, 1000 Berlin 62; Dr. Christiane
Knop, Rüdesheimer Straße 14, 1000 Beriin 28; Beiträge sind an die Schriftleiter zu senden.
Abonnementspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag gedeckt. Bezugspreis für Nichtmitglieder: 16 DM
jährlich.
HersteUung: Westkreuz-Druckerei Berlin/Bonn, 1000 Berlin 49.
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Schriftleitung.
40
Rats Bibliothek
Pochabt der Berliner Stadtbibliothek
A 1015 F
MITTEILUNGEN
DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS
GEGRÜNDET 1865
88. Jahrgang
Heft 3
Juli 1992
Badensche Straße 9, Wilmersdorf. „Wiederaufbau" als Sgraffito an einer Giebelwand
(Zustand 1987).
„Ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst." —
Kunst am Bau in den fünfziger Jahren in Berlin1
Von Volker Welter
Städtebau und Architektur der fünfziger Jahre, der Periode „zwischen Kriegsende 1945 und
dem Beginn der sechziger Jahre, in denen die letzten der in den Fünfzigern geplanten Bauten
ausgeführt wurden"2, sind in die Diskussion gekommen. Während Tütenlampen und Nierentische zu Sammlerobjekten aufstiegen, sanken die gebauten Zeugnisse der Zeit im Ansehen.
Der Städtebau, in Berlin in so unterschiedlichen Anlagen wie dem Ernst-Reuter-Platz oder der
Karl-Marx-Allee, dem Hansaviertel oder der Siedlung Charlottenburg Nord präsent, wird
pauschal als „autogerechte Stadt" abqualifiziert.3 Einzelne Bauten werden nicht unbedingt
positiver beurteilt. „Großstadtsymphonie in Parkgrün und Beton" würde selbst in Fachkreisen
heute wohl nicht mehr nur als Lob verstanden werden.4
Immer häufiger werden Gebäude aus der Zeit einer grundlegenden Renovierung unterzogen.
Veränderte Nutzungen, aufgetretene Schäden oder erhöhte Anforderungen an den Wärmeschutz machen das nötig. In den letzten Jahren hat die Denkmalpflege begonnen, sich mit dieser Architektur zu beschäftigen, um Kriterien für Unterschutzstellungen und Renovierungen
zu entwickeln.5 Durch den Zusammenschluß beider Teile Berlins wird dieser Arbeitsbereich
erweitert. Zum einen sind die neoklassizistischen Wohnkomplexe an der Karl-Marx-Allee
Gebäude, die es in dieser Form im bisherigen West-Berlin nicht gegeben hat6; zum anderen
wird bei zunehmender Bautätigkeit in Groß-Berlin manches Bauwerk aus der Zeit vor dem
Abriß und Ersatz durch einen größeren Neubau zu schützen sein.
Die Spannweite der Architektur der Fünfziger in Berlin ist groß. Sie reicht von einfachen, klaren und kubischen Baukörpern, wie sie Max Taut in dem Buch „Berlin im Aufbau" skizzierte7,
bis hin zu Formen der „Nierentisch-Ästhetik", die heute am ehesten mit jener Zeit identifiziert
werden. Bekanntestes Beispiel in Berlin ist die Kongreßhalle im Tiergarten (1956/57, Hugh
Stubbins). Zwischen diesen Polen liegen so verschiedene Bauten wie das „Ruhrkohle-Haus" in
der Bismarckstraße in Charlottenburg (1958/59, Paul G.R. Baumgarten), das „Kranzler-Eck"
(1957/58) und einige Meter entfernt das Kaufhaus Bilka (1956), die beide von Hanns Dustmann in der Nähe des Bahnhofs Zoo gebaut wurden. Ebenfalls in die Zeit gehören der Wiederaufbau des Schiller-Theaters 1950/51 (Heinz Völker, Rudolf Gross) oder die als parabolisch
geformtes Gewölbe entworfene Canisius-Kirche in der Witzlebenstraße in Charlottenburg
(1954-57, Reinhold Hofbauer).8
Ein wesentliches Merkmal der Architektur war die Freude an der Verwendung von Ornamenten und anderen Dekorationen. Dies galt auch für die aus ökonomischen Gründen äußerst
sparsam und einfach gebauten Wohnhäuser in den Wiederaufbaugebieten Berlins. Gerade bei
ihnen versuchte man, mit einfachsten Mitteln zu gestalten. Differenzierte Strukturen auf den
Fassaden wurden durch glatt abgezogene Flächen im rauhen Kratzputz erreicht, in den Putz
gezogene Fugen ergaben verschiedenste Muster. Der Phantasie waren keine Grenzen gesetzt.
Wellenförmig gebogene Flacheisen, zu Rauten verschweißte Stäbe, ellipsenförmige Gittermuster und barock anmutende freie Formen sind nur wenige Beispiele aus der Vielzahl von Balkongittern, die an Häusern aus den fünfziger Jahren zu sehen sind.
Für zwei der wichtigsten Gestaltungsmaterialien, Fliesen und Glasmosaiksteinchen, sprachen
drei Erwägungen:
42
Abb. 1: Kat. Nr. 8.
Brandenburgische Straße 20,
Wilmersdorf. Hauseingangsgestaltung mit Reliefdarstellungen einer Frau und
eines Mannes.
— unbegrenzte Einsatz- und Gestaltungsmöglichkeiten und
— Wirtschaftlichkeit, da keine Kosten für Pflege und Reparatur der Fassaden in den nächsten
Jahren anfallen sollten. (Ein Grund, der nur bei sorgfältigster Ausführung zutraf.)
Außerdem waren Fliesen und Glasmosaik sauber und ansehnlich, also hygienisch. Das hatte
auch eine symbolische Bedeutung. Nach den Kriegsjahren wollte man in einer gepflegten, sauberen Umwelt leben. Mit gefliesten und mosaizierten Flächen wurden Säulen, Fenster- und
Balkonbrüstungen usw. gestaltet. Rieste man ganze Häuser, beschränkte man sich auf wenige
Grundfarben, um mit anderen Fliesen farbige Akzente setzen zu können.
Ebenfalls Akzente setzten Kunstwerke, die an Außen- und Innenwänden von Häusern angebracht wurden. Mit „Kunst am Bau", der Begriff wurde in den Fünfzigern oft wörtlich umgesetzt9, sollte
— das Aussehen der Gebäude verbessert werden,
— dem Repräsentationsbedürfnis der Bauherren entsprochen werden und,
— ein sehr wichtiger Grund, Künstlern in der wirtschaftlich schwierigen Zeit Arbeit vermittelt
werden.
43
Häufig wurde ein Bauwerk mit mehreren Objekten ausgestattet. Im schon erwähnten SchillerTheater findet man Strukturreliefs von Bernhard Heiliger, Mosaike an Säulen aus der Werkstatt A.Wagner, ein Foyerwandbild von Hans Kuhn und Glasmalereien von Ludwig Peter
Kowalskis.10
Entgegen der Regelung, daß staatliche Bauherren einen bestimmten Prozentsatz der Bausumme für Kunst am Bau ausgeben sollten, war die Initiative privater Bauherren freiwilliger
Art. Dennoch waren die Kosten für sie nicht unrentabel. In der DIN 276 war festgelegt, daß
Kosten für Kunst am Bau bei den für die Berechnung der Miete wichtigen „Kosten des Gebäudes" angesetzt werden durften.11
Die im folgenden beschriebene Inventarisation von Kunst-am-Bau-Objekten beschränkt sich
auf an Fassaden angebrachte Kunstwerke. Die Sammlung der 39 Beispiele erfolgte nach dem
Zufallsprinzip. Sie ist nicht repräsentativ, aber dennoch lassen sich Aussagen treffen, die über
die Einzelfälle hinaus gültig zu sein scheinen.12
Materialien und Techniken
Die beschriebene Vorliebe für Fliesen ist bei den Kunst-am-Bau-Objekten nicht so deutlich.
Von den 39 Beispielen im Katalog sind elf aus bzw. mit Fliesen hergestellt. Zwölf Objekte sind
Sgraffitoarbeiten, und bei neun Kunstwerken wurde Metall verwendet. Für ein Sgraffito werden aus dem noch feuchten Wandputz die beabsichtigten Formen oder Flächen herausgekratzt. Die tieferliegenden Putz- oder Mauerwerksflächen können dann z. B. bemalt werden.
Sgraffitos waren die beliebteste Technik und Fliesen sowie Metall die am häufigsten verwendeten Materialien. Es folgen vereinzelte Natursteinreliefs und Kunstwerke aus Glas oder Beton.
Außerdem gibt es Wandgestaltung aus Farbflächen auf einem Untergrund, meistens Putz.
Flächen der Anbringung
Die Flächen, an denen Kunst-am-Bau-Objekte an den Fassaden angebracht wurden, lassen
sich systematisch einteilen. Im folgenden umfaßt die größte Gruppe 20 Beispiele der Gestaltung einer ganzen Fassadenseite. Elf davon sind Objekte, die eine Giebelwand schmücken.
Diese bevorzugte Stelle läßt sich aus veränderten städtebaulichen Vorstellungen heraus erklären. Der Idee einer aufgelockerten Stadt folgend, lehnte man die alte Struktur der Blockrandbebauung ab. Neue Wohnhäuser wurden als alleinstehende Zeilen gebaut, dadurch lagen die
Giebelseiten frei. Alle Fassaden konnte und wollte man nicht mit Fenstern versehen, deshalb
wurden die „leeren" Wände gerne mit Kunst am Bau dekoriert. Auch in sogenannten „offenen
Ecken" gibt es Giebelwände mit Kunstwerken. Das spezifische Element des Städtebaues jener
Zeit war dort weit verbreitet, wo Neubauten alte Blockstrukturen ergänzten. Die Gebäude
wurden nicht mehr bis an die Blockecken herangebaut, so daß eine viereckige Restfläche frei
blieb.13 Gelegentlich wurden die „offenen Ecken" für die Einrichtung von Tankstellen oder
eingeschossigen Verkaufspavillons genutzt. Gestaltete Brandwände von Altbauten, die infolge
von Kriegszerstörungen der Nachbarhäuser frei lagen, und Fassadenvor- bzw. -rücksprünge
bei Neubauzeilen sind andere Flächen, die in diese Gruppe gehören.
Gestaltungen von Hauseingängen bilden mit zehn Beispielen die zweite größere Gruppe. Entweder wurden kleine Objekte über oder neben der Tür angebracht, oder es wurde die gesamte
Fassadenfläche des über dem Eingang liegenden Treppenhauses gestaltet. Künstlerische Glasscheiben in Oberlichtern sowie in Windfangfenstern waren eine weitere Variante, die oft ähnlichen Hauseingänge zu akzentuieren. Eingangsgestaltungen können auch als der Versuch angesehen werden, mit zeitgenössischen Mitteln an die Tradition der prächtigen Eingangshallen der
früheren Bürgerhäuser anzuknüpfen.
44
Abb. 2: Kat. Nr. 10. Königsberger Straße 36, Steglitz. Brüstungsfeldergestaltung mit farbigem
Fliesenbruch.
Themen und Motive
Je nach Art der Darstellung können die Objekte in drei Gruppen unterteilt werden:
— die naturalistisch-gegenständlichen Kunstwerke (6 Beispiele),
— die stilisiert-gegenständlichen Kunstwerke (14 Beispiele) und
— die ungegenständlichen Kunstwerke (19 Beispiele).
Die fast gleichen Zahlen von gegenständlichen und ungegenständlichen Arbeiten spiegeln die
Auseinandersetzung in der zeitgenössischen Kunst um die Art der Darstellung — realistisch
versus abstrakt/konkret — wider.
Die naturalistisch-gegenständlichen Kunstwerke
Auffallend häufig sind Tiere und Naturszenen das Motiv. In der Sachsenwaldstraße 24 äsen
Rehe friedlich neben der Eingangstür (Kat. Nr. 4)14, an einem Gebäudevorsprung in der Leibnizstraße erlegt Freiherr von Münchhausen gerade einen wütenden Eber (Kat. Nr. 2), und am
Spandauer Damm 70 sitzt ein schelmischer Uhu auf einem Ast über der Haustür; einen Eingang weiter ist es ein gewitzt dreinschauender Igel (Kat. Nr. 5,6). Merkmal der Kunstwerke ist,
daß die Motive verniedlichend und kindlich dargestellt werden. Die Gestaltung der Balkongitter am Haus Olivaer Platz 4 mit Tieren, die vor allem Kinder begeistern, wie Seepferd, Fohlen,
Eichhörnchen usw., macht dies noch einmal deutlich (Kat. Nr. 3). Bemerkenswert an diesem
Beispiel ist auch, daß Tiere von so unterschiedlichen Größen wie Bär und Katze auf eine Darstellungsgröße angeglichen worden sind.
4?
Darstellungen des Menschen gibt es weniger. Eines der beeindruckendsten Beispiele ist die
Giebelwandgestaltung am Wohnhaus Badensche Straße 9 (Kat. Nr. 1). Das haushohe Sgraffitto thematisiert den Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg. Ganz oben auf der Wand ist
ein kleines Fachwerkhaus neben der Jahreszahl 1720 aus dem Putz gekratzt. 1890 mußte es
einem bürgerlichen Wohn- und Geschäftshaus weichen, wie in der Mitte zu sehen ist. Dann
mußte man die Ärmel hochkrempeln: Der untere Teil des Sgraffittos zeigt eine Szene auf einem
Baugerüst. Die Arbeit war das, worauf man stolz war, nicht das Aussehen des neuen Hauses.
Die wahrscheinlichen Gründe für den Neubau, Nationalsozialismus und Krieg, waren 1956
kein Thema für Kunst am Bau. Um, symbolisch gesehen, festen Boden unter die Füße zu
bekommen, griff man weit zurück in die Geschichte und stellte sich in eine „normale" Tradition
von Abriß und Erneuerung der Häuser (Titel). Rehe im Wald oder die Jagdszene mit dem Freiherrn von Münchhausen (Abb. 6) sind ebenfalls als solch ein Zurückgehen in die Geschichte,
die vermeintlich bessere Zeit, zu verstehen.
An Materialien und Techniken sind Sgraffittos und Natursteinarbeiten am häufigsten vertreten, es gibt kein Kunstwerk mit Fliesen.
Die stilisiert-gegenständlichen Kunstwerke
Die Themenwahl ähnelt der vorigen Gruppe, also Tier- und Menschendarstellungen. Allerdings wurden hier auch Signets oder Werbebilder, z. B. die Ansammlung von überdimensionalen Taschen und Koffern, in Sgraffitotechnik an einer Altbaufassade in Neukölln (Kat. Nr. 9)
eingeordnet. Wenn Tiere oder Naturszenen Inhalt sind, findet man wieder eine kindliche Darstellungsweise. Die mit Fliesenbruchmosaik gestalteten Fensterbrüstungen am Haus Königsberger Straße 36 lassen eher an einen Kindergarten als an das ehemalige Schwesternheim des
benachbarten Krankenhauses denken (Kat. Nr. 10, Abb. 2).
Hervorzuheben sind die Reliefs einer Frau und eines Mannes an einem Hauseingang in Wilmersdorf (Kat. Nr. 8). Jeweils an einen Baum gelehnt, wenden beide dem Hineingehenden das
Gesicht zu. Die Frau ist nackt, der Mann hat einen Lendenschurz um die Hüften geschlagen.
Es scheint, als sollten beide an einen glücklichen Urzustand des Menschen gemahnen. Die Darstellung erinnert auch an das uralte Motiv des Lebensbaums.
Eine andere Eingangsgestaltung sind die künstlerischen Glasfenster im Windfang der Stadtbücherei in der Oranienstraße (Kat. Nr. 18). Auf der Glasscheibe neben der Tür symbolisieren
unten Fische das Element Wasser und darüber Pflanzen das Element Erde. Der Besucher der
Bibliothek muß die beiden Elemente, in denen der Mensch sich von Natur aus bewegen kann,
beim Betreten oder Verlassen des Gebäudes passieren. Gleichzeitig geht er unter den Oberlichtern hindurch. Dort verkörpern Vögel und Schmetterlinge das Element Luft.
In der Obentrautstraße 67 ist an einem Wohnhaus eines der inhaltlich am wichtigsten Kunstam-Bau-Objekte zu sehen (Kat. Nr. 15, Abb. 5). Rundstähle sind zu Umrissen von Häuser
gebogen und mit Abstand vor die Wand montiert, Fliesenbruchstücke dazwischen in den Putz
gedrückt worden. Kreisförmig abstrahierte Bäume sind um die Silhouette der aufgelockerten,
modernen Stadt verteilt. Das Ideal des Städtebaus seiner Zeit konnte der Architekt des teilweise wiederauf- und neugebauten Hauses nicht umsetzen. Es blieb ihm nur die programmatische Realisierung des Traumes als Kunst am Bau übrig.
Die ungegenständlichen Kunstwerke
Formen, die mit dem Ausdruck „Nierentisch-Ästhetik" charakterisiert werden können, sind in
dieser Gruppe zu finden. Doch dominieren Kunstwerke, die aus geometrischen Formen beste46
Abb. 3: Kat. Nr. 27.
Goltzstraße 8, Schöneberg.
Wandgestaltung an einem
Fassadenvorsprung.
hen. Fünf der geometrischen Gestaltungen wurden von den Architekten der Häuser mit entworfen. (Allerdings sind nur bei vierzehn der 39 Objekte die Autoren bekannt geworden bzw.
sind die Kunstwerke signiert.) Es sind sämtliche Materialien und Techniken vertreten, und die
Größe der Kunstwerke korrespondiert meistens gut mit der zu gestaltenden Fläche.
Die Fassade eines Hochhauses in der Oranienstraße ist mit dreieckigen Sgraffitos geschmückt
worden (Kat. Nr. 37). Dreiecke aus schwarzen Fliesen teilen die Giebelwand des Hauses Gierkezeile 3 in verschieden große Flächen (Kat. Nr. 26). Die Flächen wurden mit in Farbe und
Struktur unterschiedlichen Putzen versehen. Die straßenseitige Wand des eingeschossigen
Garagentraktes in der Zillestraße, der zum Haus gehört, wurde in ähnlicher Weise gestaltet.
Mit einem aus Putz, Farbflächen und Metallprofilen hergestellten Relief ließ die DEGEWO
ihre Bauherrenschaft an einem Haus in der Leibnizstraße verkünden (Kat. Nr. 34). Dies ist das
einzige Objekt, bei dem ein Signet mit ungegenständlichen Formen kombiniert worden ist. In
der Bismarckstraße in Steglitz ist das Objekt Kat. Nr. 22 zu sehen. Ein Rundstab wurde
gekrümmt mit Abstand vor die Wand montiert. Ähnlich einem Collier betonen farbige Fliesen
die untere Krümmung. Unter den beiden freien Stabenden sind sechs sichelförmige Flächen
aus farbigen Fliesen verteilt. Um das Kunstwerk nicht zu zerstören, wurde bei einer Fassaden47
renovierung (1990) an dem Wandvorsprung auf die Wärmedämmung verzichtet. Die verschlungene Metallplastik am Haus Mehringdamm 39 wurde ebenfalls im Zuge der Fassadenrenovierung restauriert und tritt nun wieder deutlich sichtbar hervor (Kat. Nr. 35). Die Gestaltung einer Brandwand eines Altbaues ist in der Grammestraße 7 zu sehen (Kat. Nr. 29). Senkrechte Sgraffitos in Schwarz, Blau und Weiß markieren den durch Kaminzüge gebildeten Vorsprung in der Wand. Links daneben sind ein großflächiges und drei kleine Sgraffitos aus dem
Putz gekratzt und mit freien Formen ausgemalt worden. Aufgrund des schlechten Zustandes
des Wandputzes ist auch das Sgraffito schon an mehreren Stellen beschädigt.
Ernst war das Leben in den fünfziger Jahren, deshalb wurde es ungerne in der Kunst am Bau
dargestellt. Heiter war dagegen die Kunst der Zeit, deshalb die Thematisierung von Idyllen, die
kindliche Motivauswahl oder das farbenfrohe Spiel mit freien Formen. Fassadengestaltende
Kunst am Bau der fünfziger Jahre war auf jeden Fall vielfältiger, als daß es gerechtfertigt
erscheint, von „einer homogenen Formensprache der 50er" zu reden." Bezeichnend für die
Bedeutung der Kunstwerke heute ist die Tatsache, daß die Namen der Künstler meistens nicht
mehr zu erfahren waren.16
Anschrift des Verfassers:
Volker Welter, Mindener Straße 6, 1000 Berlin 10
Katalog
Der Katalog folgt der Teilung in naturalistisch-gegenständliche, stilisiert-gegenständliche und
ungegenständliche Kunst-am-Bau-Objekte. Innerhalb einer Gruppe sind die Objekte alphabetisch nach Straßen und numerisch nach Hausnummern sortiert.
Die Kunstwerke wurden nach folgendem Schema17 aufgenommen: Lage, Gebäude, Baujahr,
Architekt, Kunstobjekt, Motiv, Material/Technik, Autor, Erläuterung.
Die Grundlage des Kataloges ist eine Semesterarbeit, die ich 1987 im Fach Baugeschichte an
der TU Berlin, FB 08 — Architektur unter Betreuung von Frau Dipl.-Ing. Gabriele Baer erarbeitet habe. Für den vorliegenden Beitrag wurden alle Kunstobjekte noch einmal im September 1990 angesehen. Veränderungen gegenüber der Inventarisation von 1987 wurden unter
dem Punkt „Bemerkung" notiert. Allen, die Hinweise auf Kunst-am-Bau-Objekte bzw. Auskünfte zu den Kunstwerken gegeben haben, sei an dieser Stelle noch einmal gedankt.
Naturalistisch-gegenständliche Objekte
Kat. Nr. 1 (Titel)
Lage:
Gebäude:
Baujahr:
Kunstobj ekt:
Motiv:
Material/Technik:
Autor:
Bemerkung:
Badensche Straße 9, Wilmersdorf (31)
Wohnhaus, sechsgeschossig
1956
Giebelwandgestaltung
Wiederaufbau „1720-1890-Mehlitz 1956"
Sgraffito, schwarz und rot
signiert: Entwurf K. Tarasanski, Ausführung J. P. Dartsch
Das Gebäude wurde September 1990 renoviert. Dabei wurde das Sgraffito auf den neuen Putz übertragen und farblich mit Blau und Hellgelb
neu gefaßt. Die Angaben des Entwerfenden und Ausführenden wurden
entfernt. Details der Darstellung wurden verändert.
48
4
Kat. Nr. 2 (Abb. 6)
Lage:
Gebäude:
Baujahr:
Kunstobjekt:
Motiv:
Material/Technik:
Autor:
Kat. Nr. 3
Lage:
Gebäude:
Baujahr:
Kunstobjekt:
Motiv:
Material/Technik:
Kat. Nr. 4
Lage:
Gebäude:
Kunstobjekt:
Motiv:
Material/Technik:
Kat. Nr. 5, 6
Lage:
Gebäude:
Baujahr:
Kunstobjekt:
Motiv:
Material/Technik:
Leibnizstraße 102, Charlottenburg (12)
Wohnhaus, sechsgeschossig
Altbau
Wandgestaltung am Fassadenvorsprung zum Haus Nr. 103
„1791 — Freiherr v. Münchhausen jagte hier auf dem Hofjagdrevier
Charlottenburg"
Sgraffito, grün und braun
signiert: H 56 — Näheres nicht zu ermitteln
Olivaer Platz 4, Charlottenburg (15)
Wohnhaus, sechsgeschossig
fünfziger Jahre
Balkongittergestaltung in den fünf Obergeschossen
Tiere (von unten nach oben): Bär, Seepferd, Katze, Pferd, Eichhörnchen
Metallscheiben, ausgestanzt
Sachsenwaldstraße 24, Steglitz (41)
Wohnhaus, viergeschossig
Wandgestaltung über und neben dem Hauseingang
Rehe im Wald
Sgraffito, grün
Spandauer Damm 70, 72, Charlottenburg (19)
Wohnhäuser, viergeschossig
zwanziger/dreißiger Jahre, 1953 Wiederaufbau
Reliefs über den Hauseingängen
Nr. 70: Uhu, Nr. 72: Igel
Kalkstein (?)
Stilisiert-gegenständliche Objekte
Kat. Nr. 7
Lage:
Gebäude:
Baujahr:
Architekt:
Kunstobjekt:
Motiv:
Material/Technik:
Autor:
Bemerkung:
Kat. Nr.:8(Abb.l)
Lage:
Gebäude:
Baujahr:
Architekt:
Kunstobjekt:
Motiv:
Material/Technik:
Autor:
Badensche Straße 31, Wilmersdorf (31)
Wohnhaus, sechsgeschossig
1954
Carl Röthele
Gestaltung der Fensterbrüstungen des Treppenhauses über dem
Hauseingang
florale Ornamente
Sgraffito, schwarz und weiß
nicht zu ermitteln
Die Fassade wurde nach 1987 renoviert, dabei wurden die weißen Farbreste von den erhabenen Teilen der Sgraffitos entfernt.
Brandenburgische Straße 20, Wilmersdorf (31)
Wohn- und Geschäftshaus, fünfgeschossig
1910, um 1952 Wiederaufbau
Rudolf Krause; Wilhelm Peters (Wiederaufbau)
zwei Reliefs in der Laibung des Hauseingangs
Frau und Mann
Naturstein (?), mit Binderfarbe, weiß, überstrichen
nicht zu ermitteln
49
Kat. Nr. 9
Lage:
Gebäude:
Baujahr:
Kunstobjekt:
Motiv:
Material/Technik:
Kat. Nr. 10 (Abb. 2)
Lage:
Gebäude:
Baujahr:
Kunstobjekt:
Motiv:
Material/Technik:
Autor:
Bemerkung:
Kat. Nr. 11
Lage:
Gebäude:
Baujahr:
Kunstobjekt:
Motiv:
Material/Technik:
Autor:
Kat. Nr. 12
Lage:
Gebäude:
Baujahr:
Architekt:
Kunstobjekt:
Motiv:
Material/Technik:
Autor:
Kat. Nr.: 13
Lage:
Gebäude:
Baujahr:
Architekt:
Kunstobjekt:
Motiv:
Material/Technik:
Bemerkung:
50
Karl-Marx-Straße 165, Neukölln (44)
Wohn- und Geschäftshaus
Altbau
Werbebild oberhalb des Erdgeschosses
Koffer und Taschen
Sgraffito, ocker, blau, grün und braun
Königsberger Straße 36, Steglitz (45)
Verwaltungsgebäude, dreigeschossig
um 1958
Gestaltung der Brüstungsfelder der Fenster des Mittelrisalits
Tiere (von links nach rechts): EG:Schlange, Seestern, Muschel (?); Hase,
Ente, Igel; 2. OG: Vogel, Sonne, Vogel
Fliesenbruchmosaik, farbig, Tiere immer schwarz
Studenten der Hochschule der Künste
Das Gebäude ist das frühere Schwesternheim des benachbarten
Königswarter Krankenhauses.
Kolonnenstraße 42, Schöneberg (62)
Wohn- und Geschäftshaus, fünfgeschossig
Altbau, Ladenfrontgestaltung 1959/60
Gestaltung der Ladenfront
Steinmetz bei der Arbeit
Natursteinrelief
signiert: R. H. W., Rudi H.Wagner
Lauenburger Straße 22—16, Steglitz (45)
Turnhalle der Sachsenwald-Schule
1957
Hochbauamt Stegütz
Giebelwandgestaltung
Globus, Schüler und Buch
Sgraffito und Farben; eine vertiefte Linie umschreibt drei parabelartige
Felder: oben links: Globus, blau; unten Mitte: Schüler, rot; oben rechts:
Buch, grün. Globus und Schüler sind in Mischtechnik von Sgraffito und
Farben gestaltet, das Buch nur unter Verwendung von Farben.
nicht zu ermitteln
Mehringdamm 14/Obentrautstraße, Kreuzberg (61)
Bürohaus, siebengeschossig
Bildungs- und Technologiezentrum der Handwerkskammer Berlin
1957-59
Paulisch
Wandgestaltung an der Obentrautstraße
Handwerkszeichen (Hammer, Eichel und Eichenblatt im Kreis)
Mosaik, goldfarben
Im unteren Teil der Fassade ist der alte Name der Einrichtung „Gewerbeförderungsanstalt Berlin" ebenfalls in Mosaiktechnik am Gebäude angebracht.
Abb.4:Kat. Nr. 31.
Hohenzollerndamm 51,
Zehlendorf. Giebelwandgestaltung.
Kat. Nr. 14
Lage:
Gebäude:
Baujahr:
Kunstobjekt:
Motiv:
Material/Technik:
Kat. Nr. 15 (Abb. 5)
Lage:
Gebäude:
Baujahr:
Architekt:
Morgensternstraße 30/32, Steglitz (45)
Wohnhaus, dreigeschossig
fünfziger Jahre
Giebelwandgestaltung
Vögel
Fliesen, hellblau und gelb, Metallstäbe, schwarz
Obentrautstraße 67, Kreuzberg (61)
Wohnhaus, fünfgeschossig
Altbau, 1954-56 Wiederaufbau
Gerhard Riwalsky
51
Kunstobjekt:
Motiv:
Material/Technik:
Autor:
Wandgestaltung über der Hofeinfahrt
Silhouette einer Stadt
Metallstäbe, schwarz, Fliesenbruch, farbig
Gerhard Riwalsky
Kat. Nr. 16, 17
Lage:
Gebäude:
Baujahr:
Architekt:
Kunstobjekt:
Motiv:
Material/Technik:
Autor:
Oranienstraße 64, 65, Kreuzberg (61)
Geschäfts- und Ladenzeile, zweigeschossig
1959-62
Max Rudolph
Oberlichtgestaltung über den Hauseingängen
Pflanzen
Glas, schwarz, matt und glänzend, Bleiverglasung
Paul Ohnsorge
Kat. Nr. 18
Lage:
Gebäude:
Baujahr:
Architekt:
Kunstobjekt:
Motiv:
Material/Technik:
Autor:
Oranienstraße 72, Kreuzberg (61)
Stadtbücherei
1959-62
Max Rudolph
Gestaltung der Fenster des Windfanges am Eingang
Tiere und Pflanzen
Glas, farblos, klar und gesandstrahlt
Paul Ohnsorge
Kat. Nr. 19
Lage:
Gebäude:
Baujahr:
Architekt:
Kunstobjekt:
Motiv:
Material/Technik:
Autor:
Bemerkung:
Kat. Nr. 20
Lage:
Gebäude:
Baujahr:
Architekt:
Kunstobjekt:
Motiv:
Material/Technik:
Autor:
Bemerkung:
52
Reichssportfeldstraße 16, Charlottenburg (19)
Wohnhaus, siebzehngeschossig
Unite d'habitation „Typ Berlin"
1957/58
Le Corbusier (d. i. Charles-Edouard Jeanneret)
Reliefs an den östlichen und westlichen Erdgeschoß!
gestaltungen der Innenwände der Loggien.
westliche Fassade: Darstellung des Modulors
östliche Fassade: Charta von Athen — Der Mensch in seiner gebauten
und natürlichen Umwelt
Loggien: Darstellung von Modulormaßen
Reliefs: Sichtbeton
Loggien: Farben auf Beton
Le Corbusier
Seit 1987 werden die Fassaden des Hochhauses renoviert. Der Sichtbeton
wird dabei mit einem Schutzanstrich gegen Witterungseinflüsse versehen.
Die Gestaltungen der Loggien werden erneuert.
Osnabrücker Straße 28/Tauroggener Straße 13, Charlottenburg (10)
Wohnhäuser, fünfgeschossig
1956
nicht zu ermitteln
Giebelwandgestaltung in der offenen Ecke
Sommer und Winter
Sgraffito, grün, blau und gelb
signiert: IO (in Ligatur), Näheres nicht zu ermitteln
laut Auskunft der Eigentümerin stand in der Ecke ursprünglich noch eine
Skulptur — Näheres war nicht zu ermitteln.
Abb.5:Kat. Nr. 15.
Obentrautstraße 67,
Kreuzberg. Die „aufgelockerte
Stadt" als Kunst-am-BauObjekt an einer Hauswand.
Ungegenständliche Objekte
Kat. Nr. 21
Lage:
Bismarckstraße 6, Steglitz (41)
Wohnhaus, dreigeschossig
Gebäude:
Baujahr:
1960
Architekt:
Gerhard Milbach
Kunstobjekt:
Giebelwandgestaltung
Quadrate
Motiv:
Sgraffito, grün, rot und weiß
Material/Technik:
Gerhard Milbach
Autor:
53
Kat. Nr. 22
Lage:
Gebäude:
Baujahr:
Kunstobjekt:
Motiv:
Material /Technik:
Bemerkung:
Kat. Nr. 23
Lage:
Gebäude:
Baujahr:
Kunstobjekt:
Material /Technik:
Kat. Nr. 24
Lage:
Gebäude:
Baujahr:
Kunstobjekt:
Motiv:
Material/Technik:
Bemerkung:
Kat. Nr. 25
Lage:
Gebäude:
Baujahr:
Kunstobjekt:
Motiv:
Material/Technik:
Kat. Nr. 26
Lage:
Gebäude:
Baujahr:
Architekt:
Kunstobjekt:
Motiv:
Material/Technik:
Autor:
Kat. Nr. 27 (Abb. 3)
Lage:
Gebäude:
Baujahr:
Architekt:
Kunstobjekt:
Motiv:
Material/Technik:
Autor:
Kat. Nr. 28
Lage:
Gebäude:
Baujahr:
54
Bismarckstraße 13, Steglitz (41)
Wohnhaus, viergeschossig
fünfziger Jahre
Wandgestaltung an einem Fassadenvorsprung
freie Form
Metallstab, schwarz, Fliesen, farbig
1990 Fassadenrenovierung, Kunstwerk erhalten
Berliner Straße 143, Wilmersdorf (31)
Wohn- und Geschäftshaus, sechsgeschossig
fünfziger Jahre
Gestaltung der Straßenfassade
Fliesen, schwarz und orange, vertiefte Putzstreifen, orange
Brandenburgische Straße 24, Wilmersdorf (15)
Wohnhaus, fünfgeschossig
Altbau
Giebelwandgestaltung (Brandwand)
Rechtecke
Fliesen, weiß, schwarz und mehrere Blautöne
Wahrscheinlich wurde das Objekt im Zusammenhang mit der ehemalig
Tankstelle auf dem Eckgrundstück ausgeführt.
Ebereschenallee 45 a, Charlottenburg (19)
Wohnhaus, zweigeschossig
fünfziger/sechziger Jahre
Giebelwandgestaltung
geometrische Form
Farbe auf Putz
Gierkezeile 3, Charlottenburg (12)
Wohnhaus, sechsgeschossig
1955/56
Edmund Stelter
Gestaltung der Giebelwände von Wohnhaus und Garagentrakt
geometrische Formen
Fliesen, schwarz, verschiedenfarbige und -strukturierte Putzflächen
Edmund Stelter
Goltzstraße 8, Schöneberg (30)
Wohnhaus, fünfgeschossig
1959
Manfred Frankenberger
Wandgestaltung an einem Fassadenvorsprung
freie Form
Metallstäbe, gerade und gebogen, blau, gelb und weiß, Metallscheiben,
rund, weiß
Manfred Frankenberger
Goltzstraße 35, Schöneberg (30)
Wohnhaus, fünfgeschossig
Altbau
Abb.6:Kat. Nr. 2.
Leibnizstraße 102,
Charlottenburg. Sgraffito an
einem Fassadenvorsprung.
Kunstobjekt:
Motiv:
Material/Technik:
Bemerkung:
Kat. Nr. 29
Lage:
Gebäude:
Baujahr:
Kunstobjekt:
Motiv:
Material/Technik:
Autor:
Bemerkung:
Wandflächengestaltung zwischen dem 4. OG und dem Attikageschoß
freie Formen
Sgraffito, rot und schwarz
Nach 1987 wurde die Fassade renoviert, die Sgraffitos wurden entfernt.
Grammestraße 7, Spandau-Siemensstadt (13)
Wohnhaus, viergeschossig
Altbau
Giebelwandgestaltung (Brandwand)
freie Form
Sgraffito, schwarz, weiß, blau und rot, die einzelnen Farbflächen sind
durch Fugen, schwarz, getrennt
signiert: . . . ansing 1955 - Signatur teilweise zerstört, Näheres nicht zu
ermitteln
Das Objekt wird von den Anwohnern „Himmelsgeige" genannt.
55
Kat. Nr. 30
Lage:
Gebäude:
Baujahr:
Kunstobjekt:
Motiv:
Material /Technik:
Bemerkung:
Habsburgerstraße 1, Schöneberg (30)
Wohnhaus, sechsgeschossig
1960
Giebelwandgestaltung
geometrische Formen
Sgraffito, hellblau, Fliesen, grau, blau, rot, gelb und weinrot
Die Fassade wurde nach 1987 renoviert, die Giebelgestaltung wurde dabei
überstrichen.
Kat. Nr. 31 (Abb. 4)
Lage:
Gebäude:
Baujahr:
Kunstobjekt:
Motiv:
Material/Technik:
Hohenzollerndamm 51, Zehlendorf (33)
Wohnhaus, fünfgeschossig
fünfziger/sechziger Jahre
Giebelwandgestaltung
geometrische Formen
Metallstäbe und quadratische Blechscheiben, dunkelgrün
Kat. Nr. 32
Lage:
Gebäude:
Baujahr:
Kunstobjekt:
Motiv:
Material /Technik:
Hohenstaufenstraße 1, Schöneberg (30)
Schulgebäude
fünfziger/sechziger Jahre
Giebelwandgestaltung
geometrische Formen
Farbe auf Putz, verschieden strukturiert
Kat. Nr. 33
Lage:
Gebäude:
Baujahr:
Kunstobjekt:
Motiv:
Material/Technik:
Bemerkung:
Kat. Nr. 34
Lage:
Gebäude:
Baujahr:
Kunstobjekt:
Motiv:
Material/Technik:
Kat. Nr. 35
Lage:
Gebäude:
Baujahr:
Architekt:
Kunstobjekt:
Motiv:
Material/Technik:
Autor:
56
Krumme Straße 93, Charlottenburg (12)
Wohnhaus, fünfgeschossig
Altbau
Giebelwandgestaltung (Brandwand)
geometrische Formen
Fliesen, schwarz, weiß und rot
Ursprünglich wurde das Objekt wahrscheinlich zusammen mit einer Tankstelle auf dem Eckgrundstück ausgeführt. 1990 wurde das Grundstück mit
einem mehrgeschossigen Gebäude bebaut, das Kunst-am-Bau-Objekt ist
nicht mehr sichtbar.
Leibnizstraße 105, Charlottenburg (12)
Wohnhaus, sechsgeschossig
fünfziger Jahre
Relief an Fassadenvorsprung zum Haus Nr. 104
„DE GE WO", geometrische Formen
Metallrechteckprofile, schwarz, Putzflächen, erhaben, glatt, schwarz
und weiß
Mehringdamm 39, Kreuzberg (61)
Wohn- und Geschäftshaus, sieben- und eingeschossig
1954
Richard Hilscher
Giebelwandgestaltung
freie Form
Metallprofile, gerade und geschwungen, schwarz, Fliesen, hellgelb
und orange
nicht zu ermitteln
Kat. Nr. 36
Lage:
Gebäude:
Baujahr:
Architekt:
Kunstobjekt:
Motiv:
Material/Technik:
Autor:
Bemerkung:
Kat. Nr. 37
Lage:
Gebäude:
Baujahr:
Architekt:
Kunstobjekt:
Motiv:
Material/Technik:
Autor:
Kat. Nr. 38
Lage:
Gebäude:
Baujahr:
Architekt:
Kunstobjekt:
Motiv:
Material/Technik:
Autor:
Kat. Nr. 39
Lage:
Gebäude:
Baujahr:
Architekt:
Kunstobjekt:
Motiv:
Material/Technik:
Autor:
Motzstraße 79, Schöneberg (30)
Wohnhaus, fünfgeschossig
1958/59
Wilhelm Siegmund
Giebelwandgestaltung
geometrische Form
Metallstangen, blau, gelb und rot
Wilhelm Siegmund
Die Fassade des Hauses wurde im September 1990 renoviert. Die Metallplastik wurde restauriert.
Oranienstraße 63, Kreuzberg (61)
Wohnhaus, achtgeschossig
1959-62
Max Rudolph
Wandflächengestaltung zum Moritzplatz
Dreiecke
Sgraffito: Dreiecke, braun und rot, senkrechter Balken, schwarz
Paul Ohnsorge
Prager Straße 11, Schöneberg (30)
Wohnhaus, sechsgeschossig
1961
Fehr
Wandgestaltung neben und oberhalb des Eingangs
viereckige Farbflächen
Farbe auf Putz, die einzelnen Felder durch Fugen, schwarz, voneinander
getrennt
Fehr
Württembergische Straße 6, Wilmersdorf (31)
Bürohochhaus, achtzehngeschossig
1954-56
Werry Roth
Wandflächengestaltungen
geometrische Formen
Fliesen, farbig
Prof. Kirschberger
Anmerkungen (abgekürzt zitierte Literatur siehe Literaturauswahl)
1 Schiller, Friedrich: Prolog zu Wallensteins Lager. Zitiert nach der Ausgabe: Reclam UniversalBibliothek Nr. 41. Stuttgart 1988. S. 6, Zeile 138.
2 Durth/Gutschow, S. 16.
3 Die Anlage des Ernst-Reuter-Platzes folgte einem Entwurf von Bernhard Hermkes, der 1955 den
Wettbewerb zur Platzanlage gewonnen hatte.
Die Karl-Marx-Allee wurde zwischen 1951 und 1960 u. a. nach Entwürfen der Kollektive Henselmann und Paulick bebaut.
Das Hansaviertel war das Hauptausstellungsgebiet der Interbau 1957. Die Häuser wurden von
international bekannten Architekten geplant.
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Mit der Siedlung Charlottenburg-Nord erweiterte Hans Scharoun 1957—60 die Großsiedlung
Siemensstadt aus den 20er Jahren.
Reichow, Hans Bernhard: Die autogerechte Stadt. Ein Weg aus dem Verkehrschaos. Ravensburg
1959.
Wissen Sie Bescheid über Berlin?, S. 14.
Verwiesen sei auf die Bücher des Deutschen Nationalkomitees für Denkmalschutz, außerdem auf
die Inventarisierung von Bauten der 50er Jahre in der City Berlins und im Hansaviertel durch Carmen Jung im Auftrag des Landeskonservators Berlin (West) aus dem Jahre 1986. Zu einer Pressefahrt siehe: „Visuelle Präsenz erhalten — Landeskonservator will Architektur der 50er Jahre
schützen lassen". In: Volksblatt Berlin vom 27. Oktober 1987.
Siehe Anmerkung 3.
Helas, Volker: Die Zuckerbäcker. Zur Wende in der DDR-Architektur der fünfziger Jahre. In:
Frankfurter Allgemeine Zeitung. Nr. 197 vom 21. Dezember 1988.
Helas, Volker: Die Architektur der 50er Jahr in der DDR. In: Deutsches Nationalkomitee für
Denkmalschutz: Architektur und Städtebau der Fünfziger Jahre. S. 49—55.
Taut, Max: Berlin im Aufbau. Berlin 1946.
Das Portalrelief an der Kirche wurde 1955 von Ludwig Gabriel Schrieber entworfen. Zementsteinguß, 2,85 m X 9,70 m.
Eine Definition des Begriffes kann hier nicht erfolgen. Wichtig wäre es, eine Trennung der
Begriffe „Kunst am Bau" und „Kunst im Stadtraum" einzuführen, die häufig synonym verwandt
werden.
Wörner, Martin; Mollenschott, Doris: Architekturführer Berlin. Berlin: Reimer 1989. Seite 53.
Die heute gültige Fassung der DIN 276 enthält die gleiche Regelung. Es wird aber genauer differenziert zwischen „Kunstwerken und künstlerisch gestalteten Bauwerken" in Punkt 3.5.5 und
„Kunstwerken und künstlerisch gestalteten Bauteilen im Freien" in Punkt 5.5.
Eine umfassende Inventarisierung von Kunst am Bau in Berlin wurde meines Wissens bisher nicht
vorgenommen. Einzelne Baugesellschaften und Bezirksämter besitzen zwar Listen von Kunstwerken an ihren Häusern, aber meistens sind sie nicht vollständig oder reichen gar nicht bis in die
fünfziger Jahre zurück. In dem vom Senator für Bau- und Wohnungswesen herausgegebenen
Buch „Kunst im Stadtraum" sind auch Kunst-am-Bau-Objekte aus öffentlichem Besitz erfaßt,
doch ist auch das Buch keine vollständige Bestandsaufnahme. Weitere Objekte sind abgebildet
und beschrieben in Damus/Rogge: Fuchs im Busch und Bronzeflamme. Für das Thema dieses
Aufsatzes siehe vor allem: S. 200—203 und 251/52. Im Katalog zur 7. Ausstellung des Deutschen
Künstlerbundes 1957 in Berlin sind ebenfalls Kunst-am-Bau-Objekte beschrieben, abgebildet
allerdings nur zwei. Anders ist die Situation für die ehemalige Hauptstadt der DDR. 1969 begannen der Verband bildender Künstler der DDR und die Deutsche Bauakademie zu Berlin mit der
Herausgabe eines mehrbändigen Kataloges. Unter dem Titel „bildende kunst 4- architektur"
wurde in der gesamten DDR Kunst am Bau mit einer beispielhaften Systematik inventarisiert.
Teil 1 behandelt Berlin, und im Teil 6: Ergänzungen sind auch für Berlin Nachträge verzeichnet.
Die Bauordnung für Berün von 1958 führte die Ecklösung allgemein ein. Bisher waren Eckgrundstücke von Blockrandbebauungen beim Nachweis von Hofflächen im Blockinneren bevorzugt.
Für sie mußten nur 40 anstatt der sonst üblichen 60 m2 nachgewiesen werden. Diese alte Regelung
aus der Bauordnung von 1925 (§8a) wurde aufgehoben.
Nähere Angaben zu den Objekten sind im Katalog zu finden.
Straka, Barbara: Kunst im Zeichen einer Stadt — Eine Stadt im Zeichen ihrer Kunst. In: Kunst im
Stadtraum. S. 6.
Die Ermittlung der Autoren erfolgte durch Nachfragen bei Eigentümern, Verwaltern und Architekten. Es wurden keine Bauakten eingesehen, doch ist es wenig wahrscheinlich, daß dort die
Künstler benannt werden. Eine Möglichkeit, die Autoren festzustellen, wäre die Einsichtnahme
in Ausschreibungs- und Abrechnungsunterlagen der Häuser, soweit solche erhalten sind. Diese
aufwendigen Recherchen konnten von mir nicht vorgenommen werden.
Das Schema der Inventarisierung folgt demjenigen für die Bestandsaufnahme von Kunst am Bau
in der DDR. Siehe: bildende kunst + architektur. Teil 1. Berlin 1969.
Literaturauswahl
Architektur, Kunst und Design der fünfziger Jahre.
Bangert, Albrecht: Der Stil der 50er Jahre. München 1983.
Berlinische Galerie e.V. (Hrsg.): Hauptstadt Berlin. Internationaler städtebaulicher Ideenwettbewerb 1957/58. Berlin 1990.
Borngräber, Christian: Stil Novo. Design in den 50er Jahren. Frankfurt am Main 1979.
Claßen, Martin; Vorfeld, Michael: Architektur der 50er Jahre in Köln. Köln: Bachern 1986.
Deutsches Nationalkomitee für Denkmalschutz (Hrsg.): Architektur und Städtebau der Fünfziger
Jahre. Bonn 1988 (Schriftenreihe des Deutschen Nationafkomitees für Denkmalschutz Band 36).
Durth, Werner; Gutschow, Niels: Nicht wegwerfen! Architektur und Städtebau der fünfziger Jahre.
Hrsg.: Deutsches Nationalkomitee für Denkmalschutz. Bonn 1987 (Schriftenreihe des Deutschen
Nationalkomitees für Denkmalschutz, Band 33).
Hackelsberger, Christoph: Die aufgeschobene Moderne. Ein Versuch zur Einordnung der Architektur der Fünfziger Jahre. München, Berlin: Deutscher Kunstverlag 1985.
Jung, Carmen: Untersuchung der Bauten der fünfziger Jahre im Citybereich und im Hansaviertel in
Berlin (West). Berlin 1986.
Die Bestandsaufnahme erfolgte im Auftrag des Landeskonservators Berlin (West).
Maenz, Paul: Die 50er Jahre. Köln: Du Mont 1984.
Der Senator für das Bau- und Wohnungswesen: Wissen Sie Bescheid über Berlin? Hauptstadt im
Aufbau. Berlin 1958.
Zaunschirm, Thomas: Die fünfziger Jahre. München: Heyne 1980.
Kunst am Bau — Kunst im Stadtraum.
Damus, Martin; Rogge, Henning: Fuchs im Busch und Bronzeflamme. Zeitgenössische Plastik in
Berlin (West). München: Moos 1979.
Deutsche Bauakademie zu Berlin (Hrsg.): Bildende Kunst + Architektur. Katalog Teil 1 Berlin. Berlin (DDR) 1969. Katalog Teil 6 Ergänzungen. Berlin (DDR) 1974 (Deutsche Bauinformation).
Deutscher Künstlerbund (Hrsg.): 7. ausstellung 1957 berlin mit Sonderausstellung kunst am bau.
Berlin 1957.
Der Finanzminister des Landes Schleswig-Holstein (Hrsg.): Kunst am Bau. Kunst an staatlichen
Hochbauten des Landes Schleswig-Holstein. Neumünster: Wachholtz 1985.
Frenzel, Christian Otto: Kunst am Bau in Hamburg 1947—58. Hamburg: Springer 1959.
Informationszentrum Raum und Bau der Fraunhofer-Gesellschaft (Hrsg.): Kunst am Bau. Stuttgart:
IRB-Verlag 1983, 1985 (2. Auflage) (IRB-Literaturauslese Nr. 102).
Kunst am Bau. Informationsdienst des Berufsverbandes bildender Künstler Berlins (Hrsg.). Berlin
Jg. 1. 1979 ff.
Senator für Bauwesen (Hrsg.): Die Kunst am Bau. Bremen 1965 (Die Neugestaltung Bremens.
H. 10).
Der Senator für Bau- und Wohnungswesen: Kunst im Stadtraum. Berlin 1988 (Bildband sowie
Künstler- und Ortsverzeichnis).
Presse- und Informationsamt des Landes Berlin (Hrsg.): Deutscher Werkbund: Informationen
Bauen und Bildende Kunst in Berlin. Berlin 1968 (Berliner Forum 8/68).
Abbildungsnachweis
Alle Fotografien wurden vom Verfasser gemacht und zeigen den Zustand der Objekte im September
1990, soweit nicht anders vermerkt.
59
Richard Wagner und Berlin (III)
„Meine schriftstellerischen Bekannten Heinrich Laube und Adolf Glaßbrenner"
Von Werner Notz
Die ersten Gebäude Berlins, über die Richard Wagner noch vor seinem ersten Aufenthalt in der
preußischen Hauptstadt schreibt, sind die damaligen Berliner Gefängnisse: die Stadtvogtei am
Molkenmarkt und die Hausvogtei an dem nach ihr benannten Platz. Aus Magdeburg hatte
Wagner nämlich voll Anteilnahme das Schicksal seines Freundes aus Leipziger Tagen, Heinrich Laube, verfolgt, der vom 25. Juli 1834 bis 20. März 1835 in Berlin das Los eines Untersuchungsgefangenen erdulden mußte.1
Das königliche Polizeipräsidium am Molkenmarkt, in dessen hinterem Teil sich die Stadtvogtei
befand, war bereits im 16. Jahrhundert ein kurfürstliches Haus, das brandenburgische Staatsmänner und Militärs bewohnten. Seit 1776 von der Tabakverwaltung genutzt, überließ es der
preußische Staat nach deren Auflösung 1791 dem Berliner Magistrat als Polizeipräsidium und
Stadtvogtei; eingesperrt wurden dort alle „nichteximierten" Personen, also Bürger ohne
besonderen Stand und Rang, für die das Stadtgericht zuständig war. Infolge des ständige steigenden Bedarfs an Zellen wurden später auch die Anwesen Molkenmarkt 2 und das „Schwerin-Haus" (Molkenmarkt 3) der Stadtvogtei angegliedert, dieses im Vorderhaus als Kriminalgericht genutzt.21889 wurde das Polizeipräsidium in den Neubau am Alexanderplatz verlegt.
Die alte Stadtvogtei am Molkenmarkt diente zunächst verschiedenen städtischen Einrichtungen als Bürohaus; zunehmend zogen aber kleine Gewerbebetriebe, Handwerker und Läden
ein.3 Seit 1936 bestanden Pläne, auf einem von Molkenmarkt, Stralauer Straße, Mühlendamm
und Spreeufer begrenzten Areal eine neue Reichsmünze zu errichten; 1942, als die Bauarbeiten kriegsbedingt eingestellt werden mußten, war anstelle der Anwesen Molkenmarkt 1 und
Molkenmarkt 2 das Verwaltungsgebäude der Münze fertiggestellt, am Ufer der Spree am
Mühlendamm gegenüber dem Ephraim-Palais gelegen. Sehenswert ist an diesem Gebäude die
Kopie des „Berliner Münzfrieses", eine Schöpfung von Gottfried Schadow.4
Das „Schwerin-Haus" (Molkenmarkt 3), vermutlich nach Plänen von de Bodt 1704 erbaut, ist
ein dreigeschossiger Putzbau mit Sandstein-Gliederungen, stark von der zeitgenössischen Berliner Architektur abweichend: im Erdgeschoß ein nur wenig hervortretender Mittelrisalit und
Stichbogenfenster, im ersten Stock Rundbogenfenster mit Reliefs von Kindergruppen, welche
die Jahreszeiten und die mit ihnen verbundenen Arbeiten darstellen, zwei Steinbalkons auf
Konsolen mit durchbrochenem steinernem Brustgeländer, auf dem Dachgesims eine bekrönende Mittelgeruppe. Dieses Gebäude sollte nach den Vorkriegsplänen als nichtöffentliches
Museum für Münztechnik in die Neubauanlage integriert werden.5
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Bauarbeiten nicht mehr aufgenommen, in die beiden
Anwesen zog das Kulturministerium der DDR ein. Seit der deutschen Einheit residiert nun
dort, wo sich einst die Stadtvogtei befand, die Außenstelle Berlin des Bonner Innenministeriums.
Das Areal der 1750 errichteten Hausvogtei, Gefängnis für Personen gehobenen Standes, die
der Gerichtsbarkeit des Kammergerichtes unterstanden, diente ursprünglich als landwirtschaftlich genutztes „Vorwerk", später für Stallungen des Königlichen Jägerhofes. Nach mehreren Umbauten und Neubauten im Innenhof wurde die Hausvogtei 1881 mit der Inbetriebnahme des modernen Zellengefängnisses Moabit überflüssig. Die Gebäude wurden vorübergehend als Wohnraum genutzt, sogar eine Bezirkswache der Berliner Polizei zog noch ein, doch
m
1891 kam es zum Abriß: die benachbarte Reichsbank errichtete anstelle der Hausvogtei einen
Erweiterungsbau, das Grundstück wurde Teil desriesigenReichsbank-Areals, das im Zweiten
Weltkrieg in Schutt und Asche sank. Da das sozialistische Ostberlin am Wiederaufbau dieses
kapitalistischen Symbol-Gebäudes kein Interesse hatte, ist das Gelände wie einst vor Jahrhunderten wieder zum Brachland geworden, auf dessen Leere die Herren des Politbüros aus ihrer
gegenüberliegenden Schaltzentrale herunterblickten — seit 1990 tun es andere.6
Heinrich Laube lernte diese Bauten Berlins als politisch Verfolgter wegen Wahrnehmung von
Grundrechten wie Meinungsfreiheit und Vereinigungsfreiheit kennen. Nach seiner Ausweisung aus Sachsen im Frühsommer 1834 flüchtete sich Laube nicht in den nächsten deutschen
Staat, um dort wieder auf preußischen Druck wegen seiner jungdeutschen Betätigung verjagt
zu werden, sondern ging nach Berlin, auf seine Verhaftung wartend, schon die beiden möglichen nächsten „Wohnorte", Stadtvogtei und Hausvogtei, besichtigend. Die „romantisch an der
Spree gelegene" Stadtvogtei, eingerichtet für „gewöhnliche Spitzbuben", vermittelte ihm ein
„zutraulicheres Aussehen", durch die ständigen „Einführungen" neuer Gefangener sah er
zudem die Möglichkeit zu unterhaltsamen Studien der unterschiedlichsten Charaktere —
kurzum, Laube zog es vor, „im Notfall dahin" gebracht zu werden. Sein Wunsch ging in Erfüllung: am 25. Juli 1834 wurde er verhaftet und in die Stadtvogtei eingeliefert. Während seines
sechswöchigen Aufenthaltes in einer schmalen Zelle mit Blick auf den kleinen Hof, ohne Sonnenstrahl, da nach Norden gerichtet, verbringt Laube die Zeit mit literarischen Arbeiten, wandelt sich dabei vom Novellisten zum Erzähler. Nach vier Wochen kommen ihm Fluchtgedanken : wie könnte er durch das Tor des an die Spree grenzenden Spazierhofes und dann über den
Fluß auf die andere Seite gelangen ? Schon bald erkennt Laube freilich, daß dies die „Honigwochen" seiner Gefangenschaft waren: drehten sich die Verhöre bislang um seine „Reisenovellen" und einzelne Artikel der „Zeitung für die elegante Welt", werden Anfang September die
Untersuchungen auf seine Jahre zurückliegende burschenschaftliche Betätigung in Halle ausgedehnt — und Laube wird am 7. September 1834 in die Hausvogtei, Verwahrungsort für
„gefährliche Verbrecher", verlegt.
Die „eintönige Hausfront" mit ihrer „fehlenden Physiognomie" der nach dem gefürchteten
Untersuchungsrichter auch „Hotel Dumbach" genannten Hausvogtei hatte in Laube bereits
bei der Besichtigung schlimme Befürchtungen geweckt, die durch die Realität noch übertroffen
werden: einefinstereZelle, genannt das „Loch", mit einer Blechblende vor dem Fenster, ohne
Buch und Papier, gemartert von der „Langeweile der Verzweiflung", ohne „Abfluß der
Gedanken", erst nach Monaten Freistunden und einen Zellengenossen, kurzum, Laube verbringt in der Hausvogtei die „traurigsten Monate meines Lebens". Doch sobald er Februar
1835 wieder Tinte und Feder hat, schreibt er sich seine Qualen von der Seele, beginnt „Die
Krieger", verarbeitet dabei den nahe erlebten polnischen Freiheitskrieg; seine Hafterlebnisse
finden in „Die Bürger" ihren Niederschlag.
Wagner, der dies alles in Magdeburg durch eine Jugendfreundin Laubes mitbekommt,
beschreibt dessen Los im „jungdeutschen" Sinn: „Laube geht es gut: er sitzt in der Berliner
Hausvogtei und darf nicht lesen, nicht schreiben, nicht rauchen", kommentiert später in „Mein
Leben" die Untersuchungshaft als „höchst quälend" für Laube.7 Als Laube am 20. März 1835
unter Auflagen freigelassen wird, ist er ein „bleicher, elender" Mann mit einem brustlangen
Bart, der noch lange an den Haftfolgen leidet, monatelang unfähig zur Ausübung seiner
Schriftstellerei. Doch Wagner schreibt erfreut „Laube ist frei - wenigstens aus dem Gefängnis".8.
Als der 23jährige Richard Wagner Mai 1836 voll Hoffnungen nach Berlin kommt, wartet
Heinrich Laube in der preußischen Hauptstadt „privatisierend und mit literarischen Arbeiten
61
beschäftigt" auf das Urteil in seinem Prozeß; für Wagner ist Laube sofort ein „vertrauter
Anhalt", der Umgang mit ihm hat „immer etwas Tröstliches", ja Wagner wird im Rückblick
sagen, daß er durch Laube „die einzigen, einigermaßen lohnenden Eindrücke von Berlin
gewonnen hat", wobei Laube die „besondere Bewandtnis" des „leidenschaftlich verzehrt aussehenden jungen Mannes" erahnt.9 Laube führt den Freund aus Leipziger Tagen in die Berliner
literarische Gesellschaft ein, macht ihn mit den „ihm dienenden Schriftstellern"w bekannt,
namentlich mit Adolf Glaßbrenner. Laube selbst hatte Adolf Glaßbrenner bereits Mai 1834 als
„frisches witziges Berliner Blut" im Hotel „de Russie" kennengelernt, wo Glaßbrenner zu jener
Zeit seinen ständigen Wohnsitz hatte. Der „junge Raufbold", der Laube durch dessen „Zeitung für die elegante Welt" bereits geistig gefolgt war, hatte sich dem „jungdeutschen" Wortführer rasch mit der „Hingabe eines Glaubensgenossen" angeschlossen. Laube erlebte Glaßbrenner als „engagiert liberal", der „alles im Himmel und auf Erden mit dem Maßstab des
Liberalismus mißt", in jungdeutscher Manier fragt „warum schlecht leben, wenn einem in
jedem Augenblick der Kuckuck holen kann".11
Laube und Glaßbrenner machen „furchtbares Aufsehen und Hailoh" um Wagner, feiern ihn
als „erstes Genie der Welt", ihn überall als solches „ausposaunend".12 Laube, der eine Schwäche für Wagners jungdeutsches „Liebesverbot" hegt, empfiehlt dem Nachwuchskomponisten,
sein Werk am Königstädtischen Theater zur Aufführung zu bringen, gibt ihm Tips für die Theaterverhandlungen, plant für Wagner eine PR-Kampagne, sogar im Ausland.13 Deshalb stellt
Adolf Glaßbrenner den Nachwuchskomponisten bereits am 19. Mai, einen Tag nach Wagners
Ankunft in Berlin, dem Direktor des Hauses, Karl Friedrich Cerf, vor; dabei versucht auch
Glaßbrenner, den Theaterdirektor zur Annahme von Wagners Werk zu bewegen.14 Das wird
auch der innersten Überzeugung des „hiesigen Schriftstellers" entsprochen haben, der wie
Wagner in seinem „Liebesverbot" im Adel die Inkarnation des Spätfeudalismus sieht.
Glücklicherweise hat Adolf Glaßbrenner sein nur wenige Jahre umfassendes Tagebuch während Wagners Berlin-Aufenthalt am 20. Juni 1836 begonnen15, somit neben Laubes Schilderungen des Jahres 1834 und Wagners eigenen Berichten einen Anhaltspunkt für das Treiben
der drei jungdeutschen Geister geliefert. Wagner berichtet, sich mit Laube, Glaßbrenner und
anderen in der Friedrichsstadt zu treffen, um Ausflüge nach Charlottenburg zu machen, mit
Laube „jugendlich erregt" Spaziergänge durch Berlin zu machen, an die er sich bei seinem Berlin-Aufenthalt Frühjahr 1842 voll Sehnsucht erinnert.16 Gesprächsgegenstand werden dabei
auch Laubes Arbeiten am zweiten Band des „Jungen Europa", gewidmet dem polnischen Freiheitskampf, gewesen sein — Wagner schreibt ja während des Berliner Aufenthaltes die „Ouvertüre Polonia" P Entsprechend Glaßbrenners Notizen wird man sich im Tiergarten „In den Zelten" „sehr gut unterhalten haben", über Liberalismus und jungdeutsche Anliegen im allgemeinen diskutiert haben, über den von allen dreien unterstützten polnischen Freiheitskampf, wohl
auch über die in jenen Tagen von Glaßbrenner notierte massive Kritik an Goethe.18 Wagner ist
offensichtlich von Glaßbrenner stark beeindruckt; er imitiert in seinen Briefen aus Berlin dessen Galgenhumor19, hätte keine Bedenken, die Erstaufführung des „Liebesverbotes" von
Laube und Glaßbrenner überwachen zu lassen; die beiden würden schon dafür sorgen, daß
„die Leute recht zufrieden mit mir" sind.20
Nach dem Scheitern seiner Pläne mit dem Königstädtischen Theater hält Wagner nichts mehr
in Berlin. „Ohne weiter darum angegangen zu werden", kümmert sich Laube „energisch"
darum, Wagner aus seiner „Berliner Verlassenheit" zu befreien und ihm das Erreichen seines
nächsten Zieles Königsberg zu ermöglichen: der „treffliche Freund" treibt bei mehreren Personen, darunter wohl auch Glaßbrenner, Wagners Reisegeld auf.21. Vor der Abreise am 7. Juli
1836 ermahnt Laube ihn noch, seine Fähigkeiten zu pflegen, sich nicht in den Bann der „Flach62
i
heit des Theaterlebens" ziehen zu lassen, sich Büchern statt Liebchen zu widmen — Wagner
verschweigt ihm freilich, daß er mit festen Heiratsplänen zu seiner Minna nach Königsberg
reist.22
Zwar sind 1836 Wagner und Glaßbrenner „jungdeutsch" bewegt — doch schon bald führen
ihre geistigen Wege in gegensätzliche Richtungen. Bereits 1834 hatte sich Glaßbrenner gegen
neuromantische Komponisten ausgesprochen, da ihr Werk breiten Schichten nicht verständlich sei, worauf allein es aber Glaßbrenner ankommt — deshalb feiert er Johann Strauß Vater
und dessen Walzer.23 Glaßbrenners Ziel ist entsprechend seinem Bekenntnis zur menschlichen
Wirklichkeit die Volksbühne; den Rückgriff auf geschichtliche und mythologische Stoffe lehnt
er als Abkehr von einer realitätsnahen Auseinandersetzung mit der Gegenwart, die sich an der
gesellschaftlichen Zukunft orientiert, ab.24 Ganz anders Wagner: für ihn war die jungdeutsche
Bewegung, die Auflehnung gegen die alten Meister, nur eine vorübergehende Erscheinung vor
allem durch den Einfluß Laubes, die mit dem „Rienzi" abgeschlossen ist. Wagner bewegt sich
von da an auf den Spuren historischer und mythologischer Stoffe Richtung Gesamtkunstwerk,
während Glaßbrenner „System-Menschen" ablehnt, da sie „immer ihr einzelnes Gute tödten,
weil sie etwas Ganzes bringen wollen, und unser Wissen Stückwerk bleibt".25 So wird Wagner
in den sechziger und siebziger Jahren zum Ziel von Glaßbrenners Attacken und Spott, vor
allem in der „Berliner Montagszeitung". Eine beträchtliche Zahl bissiger Äußerungen über
Wagner und sein Werk im „Wörterbuch der Unhöflichkeit" stammt aus Glaßbrenners Zeitung.26 Ein Zeugnis dieser Spannungen ist heute noch das Grabmal Karl Tausigs (1841—1871)
auf dem Jerusalemskirchhof III (Mehringdamm 21), das einen Grabspruch von Richard Wagner trägt:
Reif sein zum Sterben,
Des Lebens zögernd spriesende Frucht,
Früh reif sie zu erwerben
In Lenzes jäh erblickender Flucht, —
War es Dein Loos, war es Dein Wagen,
Wir müssen Dein Loos wie Dein Wagen beklagen.27
Adolf Glaßbrenner kommentierte diesen letzten Gruß als „auf Stelzen gehenden Unsinn" und
verfaßte ein Spottgedicht:
War es Dein Loos, war es Dein Wagen,
O Tausig
Eine Grabschrift so grausig,
Die geistlos gedichtet,
Dich und Dein Wirken vernichtet,
Von Richard Wagner friedhöflich zu tragen:
So muss ich Dein Loos wie Dein Wagen beklagen?28
Fünf Jahre später hat Adolf Glaßbrenner selbst auf dem Jerusalemskirchhof III seine letzte
Ruhe gefunden.
Anschrift des Verfassers:
Werner Notz, Mühlenstraße 1/2, 0-1162 Berlin
63
Anmerkungen
1 Heinrich Laube schildert seine Erfahrungen und Erlebnisse in den beiden Berliner Gefängnissen
eingehend in seinen Lebenserinnerungen (Heinrich Laube, Gesammelte Werke in 50 Bänden,
Bd. 40, Leipzig 1909, 217—290). Diese Darstellung ist Grundlage der nachfolgenden Schilderung von Laubes Gefängnisaufenthalt.
2 Zur Geschichte der Stadtvogtei: Bericht über die Verwaltung der Stadt Berün in dem Jahre 1829
bisincl. 1840, Berlin 1842; E. Fidicin, Berlin historisch und topographisch dargestellt, 1. Auflage
Berlin 1843,61 f. ;Mila, Berlin oder Geschichtedes Ursprungs. . . , Berlin und Stettin 1829,272,
436; Friedrich Nicolai, Wegweiser durch Berlin und Potsdam, 6. Auflage, Berlin 1833, 58f.;
Borrmann, 359 ff.
3 Die Angaben zur Nutzung nach Auszug von Polizeipräsidium und Stadtvogtei wurden den Berliner Adreßbüchern entnommen.
4 Zu den Bauplänen seit 1936, den fertiggestellten Baumaßnahmen, der weiteren Nutzung und zur
Kopie des „Berliner Münzfrieses" im Detail: Otto Uhlitz, Der Berliner Münzfries, in: Der Bär
von Berlin, Jahrbuch 1978 des Vereins für die Geschichte Berlins, 51 ff. (76ff.); derselbe, Der
Berliner Münzfries und der Neubau der Reichsmünze am Molkenmarkt, in: Der Bär von Berlin,
Jahrbuch 1979 des Vereins für die Geschichte Berlins, 119 ff.
5 Zur Geschichte des „Schwerin-Hauses" s. Anm. 2—4.
6 Zur Geschichte der Hausvogtei: Hans Brendicke, Führer auf der Wanderung durch Alt-BerlinKölln, Berlin 1918,15; Freiherr von Zedlitz, Neuestes Conversations-Handbuch für Berlin und
Potsdam, Berlin 1834,300; E. Fidicin, a. a. O., 144; Nicolai, a. a. O., 58; Mila, a. a. O., 192,297.
— Die Angaben zur Nutzung 1881—1891 wurden den Berliner Adreßbüchern entnommen.
7 Richard Wagners sämtliche Briefe, Band I, Leipzig 1967, 169 = Brief an Theodor Apel vom
7. November 1834; Richard Wagner, Mein Leben, München 1976, 111.
8 Richard Wagner, Briefe, Bandl, 197 (Brief an Theodor Apel vom 8. November 1835).
9 Richard Wagner, Mein Leben, 131 ff.
10 Richard Wagner, Briefe, Band I, 281 (Brief an Johanna Rosine Geyer vom 31. Mai 1836).
11 Laube, a. a. O., 228.
12 Richard Wagner, Briefe, Band I, 264 f. (Brief an Minna Planer vom 21. Mai 1836); ebenda, 281
(Brief an Johanna Rosine Geyer vom 31. Mai 1836).
13 Richard Wagner, Mein Leben, 131; Richard Wagner, Briefe, Band I, 310 (Brief an Minna Planer
vom 22. Juni 1836) — Aufgrund der deutschen Kleinstaaterei galten andere deutsche Staaten als
Ausland.
14 Richard Wagner, Briefe, Band I, 264 f. (Brief an Minna Planer vom 21. Mai 1836); ebenda, 281
(Brief an Johanna Rosine Geyer vom 31. Mai 1836); Richard Wagner, Mein Leben, 131.
15 Das im Stadtarchiv Berlin verwahrte Tagebuch nennt in der Handschrift Glaßbrenners den
20. Juni 1826; unkritisch ist dies auch in der einzigen gedruckten Ausgabe so übernommen
(Heinz Gebhardt, Glaßbrenners Berlinisch, Berlin 1933, 111—118). Dieses Datum kann aber
nicht stimmen: bereits Tage später notiert Glaßbrenner ein Gespräch mit Heinrich Laube. Glaßbrenner hat Laube aber erst Mai 1834 kennengelernt (Laube, a. a. O., 228). Auffallend ist, daß
Glaßbrenner mehrfach auf 1826 statt 1836 datiert, sogar einen „31. Juni" einführt. Da Glaßbrenner sich auch als Rätselfinder betätigte, das Zahlenspiel bereits als Mitarbeiter des „Eulenspiegels" beherrschte, könnte hinter diesen falschen Datumsangaben System stecken; vielleicht dienten sie auch als Schutz vor Durchsuchung und Beschlagnahme des dann schon „zehn Jahre alten"
Tagebuchs.
16 Richard Wagner, Mein Leben, 133; Richard Wagner, Briefe, Band 1,290 (Brief an Minna Planer
vom 6. Juni 1836).
17 Vgl. dazu Teil I dieser Serie in den „Mitteilungen" 1991II, 395 ff.
18 Gebhardt, a.a.O., 112f.
19 Richard Wagner, Briefe, Band 1, 281 (Brief an Johanna Rosine Geyer vom 31. Mai 1836).
20 Richard Wagner, Briefe, Bandl, 265 (Brief an Minna Planer vom 21. Mai 1836); ebenda, 268
(Brief an Minna Planer vom 24. Mai 1836).
21 Richard Wagner, Mein Leben, 134.
64
22 Ebenda.
23 Ingrid Heinrich-Jost, Adolf Glaßbrenner, Berlin 1981, 64 f.
24 Ebenda, 211 — ausdrücklich wendet sich Glaßbrenner gegen die Bearbeitung der Nibelungen
(Friedrich Hebbel).
25 Gebhardt, a. a. O., 112 (Mitte Juni 1836).
26 Wilhelm Tappert, Ein Wagner-Lexicon, Leipzig 1877; Wilhelm Tappert, Richard Wagner im
Spiegel der Kritik (2. Auflage von „Ein Wagner-Lexicon"), Leipzig 1903.
27 Den Grabspruch hat Wagner mit nicht geringem Stolz in seiner Schrift „Das Bühnenfestspielhaus
in Bayreuth" wiedergegeben (Richard Wagner, Sämtliche Schriften und Dichtungen, Volksausgabe, Band 9, 6. Auflage, Leipzig 1912, 323 ff.)
28 Leipziger Allgemeine Musikalische Zeitung vom 9. Juli 1873, 446.
Nachrichten
Historische Mitte Berlins
Wir möchten unsere Mitglieder über den einstimmig gefaßten Beschluß unseres Vorstands in Kenntnis setzen, der in dieser Form dem Regierenden Bürgermeister E. Diepgen und den Senatoren Dr. V.
Hassemer und W. Nagel zur Kenntnis gebracht sowie der Presse zugeleitet worden ist.
Beschluß:
Der Vorstand des Vereins für die Geschichte Berlins, gegr. 1865, befaßte sich auf seiner letzten Sitzung mit der Forderung, wenigstens das ehemalige Außenministerium der früheren DDR unter
Denkmalschutz zu stellen.
Der Vorstand des Vereins forderte den Senat von Berlin auf, angesichts der Scheußlichkeit des Baues
und seiner Architektur von derartigen Vorhaben abzulassen und den Abriß des früheren Außenministeriums zu beschließen.
Der Vereinsvorstand vertrat die Auffassung, daß die historische Mitte Berlins soweit wie möglich wieder hergestellt werden müsse. Der Verein plant, in naher Zukunft in einer öffentlichen Veranstaltung
mit Berliner Experten der Frage nach dem Wiederaufbau des Schlosses und dem künftigen Schicksal
des Staatsratsgebäudes nachzugehen.
65
Studienfahrt nach Braunschweig und in den Ostharz
vom 11. bis 13. September 1992
Freitag, 11. September 1992
8.30 Uhr Abfahrt mit Omnibus am Hauptgebäude der TU Berlin, Straße des 17. Juni 135,
U-Bahnhof Ernst-Reuter-Platz, S-Bahnhof Tiergarten
11.30 Uhr Beziehen des Hotels
13.00 Uhr Gemeinsamer Mittagsimbiß auf Einladung der Feldschlößchen Brauerei AG, anschließend Besichtigung der Feldschlößchen-Brauerei AG, Wolfenbütteler Str. 33, 3300
Braunschweig, Begrüßung und Führung Dipl.-Br.-Ing. Kurt Neunert
19.00 Uhr Treffen im Braunschweigischen Landesmuseum am Burgplatz 1, Vortrag, Gerd Biegel,
M. A., Direktor des Braunschweigischen Landesmuseums, zur Geschichte und Konzeption des Historischen Museums. Führung durch das Braunschweigische Landesmuseum
mit anschließender Diskussion bei einem Glase Wein auf Einladung des Museums.
Sonnabend, 12. September 1992
9.30 Uhr Stadtrundgang (Führung Jürgen Neubauer), Treffpunkt Burgplatz mit Besichtigung des
Doms Heinrichs des Löwen, Burg Dankwarderode (Mittelalter-Abteilung des HerzogAnton-Ulrich-Museums), Altstadtmarkt und Historischem Rathaus, Gang quer durch
die Stadt zum Magni-Viertel mit Besuch im Städtischen Museum.
12.00 Uhr Mittagspause
Besuch der Abteilung Jüdisches Museum des Braunschweigischen Landesmuseums im
Ausstellungszentrum hinter St. Aegidien (Führung Dr. Hans-Jürgen Derda), ggf. Viktoria-Luise-Ausstellung.
Rückweg zum Hotel mit Kaffeepause
19.00 Uhr Gemeinsames Abendessen
20.00 Uhr Treffen im Braunschweigischen Landesmuseum am Burgplatz 1, Vortrag Gerd Biegel, M.
A., Direktor des Braunschweigischen Landesmuseums: Braunschweig und Preußen im
18. Jahrhundert.
Sonntag, 13. September 1992
9.00 Uhr Abfahrt mit Reisebus
10.30 Uhr Halberstadt, Führung (auch in Quedlinburg) Museumsdirektor Dr. Adolf Siebrecht.
Besuch des Städtischen Museums und des Gleimhauses, Besichtigung von Dom und
Liebfrauen sowie kurzer Rundgang im Altstadtbereich.
Anschließend Quedlinburg, Besuch St. Servatius und Feininger-Galerie. Mittagessen in
der Burg (Stiftsschenke).
Heimfahrt über Hamersleben (Stiftskirche) und Sommerschenburg (Gneisenau) bis
Autobahn-Auffahrt Marienborn.
Für die Unterkunft steht das Frühlings-Hotel, Bankplatz 7,3300 Braunschweig, Tel. (05 31) 4 9317/
49318, Telefax (05 31) 13268, zur Verfügung, in dem eine hinreichende Zahl von Zimmern, auch
Einzelzimmern, sämtlich mit Dusche/Bad/WC, reserviert werden konnte. Die Übernachtung einschließlich Frühstücksbuffet kostet 58 DM pro Person im Doppelzimmer, 68 DM pro Person im Einzelzimmer. In einigen Fällen konnte das Restaurant noch nicht gebucht werden, in dem die Mahlzeit
eingenommen werden soll. Es ist aber sichergestellt, daß die Verköstigung wie in all den Vorjahren zur
Zufriedenheit klappt.
Das Teilnehmerhonorar beläuft sich auf 139 DM, es schließt die Omnibusfahrt, alle Führungen,
Besichtigungen und Eintrittsgelder ein.
Anmeldungen werden bis spätestens 31. Juli 1992 bei Dr. H. G. Schultze-Berndt, Seestraße 13,1000
Berlin 65, Tel.: 45 09—264 erbeten. Dann erhalten alle Teilnehmer das endgültige Programm zusammen mit dem üblichen Fragebogen.
66
Buchbesprechung
Berlin im November. Texte: Anke Schwartau, Cord Schwartau und Rolf Steinberg. Fotos: Klaus und
Dirk Lehnartz, Pressefoto Mrotzkowski, Günter Peters, Zenit u. a. Berlin: Nicolaische Verlagsbuchhandlung, 1990.167 Seiten, 24,80 DM. - Bilder aus Berlin. Der Weg zur deutschen Einheit. Bildredaktion: Rolf Steinberg. Fotos: Paul Langrock, AU Paczensky, Günter Peters, Günter Schneider,
Andreas Schoelzel, Hans Peter Stiebing u. a. Chronologie: Richard Schneider. Berlin: Nicolaische
Verlagsbuchhandlung, 1990. 150 Seiten.
Die beiden Bildbände, ähnlich in der Aufmachung, ergänzen sich inhaltlich: auf „Berlin im November" mit Fotos von 1989 folgt „Der Weg zur deutschen Einheit" bis zum 4. Oktober 1990. [Statt des
3. Oktober, des Tages der deutschen Einheit, wurde der 4. Oktober 1990 als Abschlußtag gewählt,
weil an diesem Tag im Berliner Reichstagsgebäude erstmals seit 57 Jahren wieder „ein frei gewähltes,
demokratisches gesamtdeutsches Parlament" zusammentrat (S. 149).] „Berlin im November" enthält
außer Bildern auch ein Vorwort des damaligen Regierenden Bürgermeisters Walter Momper, einen
Essay unter dem Titel „Berlin — Wiedergeburt einer europäischen Metropole?" über die Jahre der
Teilung durch die Mauer 1961 bis 1989 und deren Überwindung sowie eine „Chronik der Ereignisse"
vom 13. August 1961 bis zum 31. Dezember 1989; alle Texte, auch die knappen Bildunterschriften,
mit englischer und französischer Übersetzung (auf die der Folgeband verzichtet). Statt eines Essays
sind — nach einem Vorwort von Richard Schneider — in diesem Band drei Texte als zeitgeschichtliche
Dokumente abgedruckt: die „Gemeinsame Erklärung des Regierenden Bürgermeisters Walter
Momper und des Oberbürgermeisters Tino Schwierzina am 2. Oktober 1990 im Rathaus Schöneberg" („Erklärung zur Wiederherstellung der Einheit Berlins", S. 8 f.), die „Fernseh- und Rundfunkansprache von Bundeskanzler Helmut Kohl am Abend des 2. Oktober 1990" („Ein Tag der Freude,
des Dankes und der Hoffnung", S. 10—12) und die „Ansprache von Bundespräsident Richard von
Weizsäcker bei einem Staatsakt zum ,Tag der deutschen Einheit' in der Berliner Philharmonie am
3. Oktober 1990" („Sich zu vereinen heißt teilen lernen", S. 13—24). Eine knappe „Chronologie" der
Ereignisse vom 18. Januar 1989 bis zum 4. Oktober 1990 (S. 145—149) beschließt diesen Band, der
weit mehr Fotos von „Staatsaktionen" enthält als der erste, in welchem sehr viel stärker die Atmosphäre der letzten Wochen des Jahres 1989 eingefangen ist in Bildern, die bei allen, die diese Epoche
in Berlin miterlebt haben, die Erinnerung an die bewegenden Ereignisse wieder wachrufen wird.
Zugleich machen diese — im doppelten Wortsinn historischen — Bilder deutlich, in welchem Zeitraffertempo sich hier Geschichte abgespielt hat und wieviel uns heute bereits von diesen Bildern trennt.
Doch nicht nur für die in Berlin „Dabeigewesenen" werden diese Fotodokumentationen die schon
geschriebenen und noch zu schreibenden historischen Rückblicke anschaulich illustrieren.
Christiane Schuchard
Im zweiten Quartal 1992 haben sich folgende Damen und Herren
zur Aufnahme gemeldet:
Bolstorff, Annemarie
Hüninger Straße 37
1000 Berlin 37
Tel.: 8313103
von Drigalski, Fedor, Rentner
Bielefelder Straße 10 a
1000 Berlin 31
Tel.: 8615810
Dr. Hutter, Peter,
Wiss. Volontär/Staatl. Schlösser u. Gärten
Akazienstraße 12
1000 Berlin 62
Tel.: 7842434
Selmke, Wolf-Jürgen, Disponent
Berchtesgadener Straße 33
1000 Berlin 30
Tel.: 213 49 31
(Karl-Heinz Grave)
Weil, Hans, Techn. Angestellter
Undinestraße 10
1000 Berlin 45
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Veranstaltungen im III. Quartal 1992
Sommerpause im Monat Juli
1. Sonnabend, den 1. August 1992, 11 Uhr: Sommerlicher Spaziergang durch den Neuen
Garten. Leitung: Herr Joachim Hans Ueberlein. Treffpunkt in Potsdam, Haltepunkt des
Busses 106 von Wannsee kommend, an der Endhaltestelle der Straßenbahn, Nähe Schwanenallee.
2. Sonntag, den 23. August 1992, 11 Uhr: Sommerausflug des Vereins für die Geschichte
Berlins, gegr. 1865. Besichtigung der historischen Räume des Schlosses Oranienburg. Leitung: Frau Dawid. Anschließend gegen 13.15 Uhr in freier Entscheidung Mittagessen
oder Imbiß im Hotel Oranienburger Hof. Individuelle Anfahrt, Fahrverbindungen
S-Bahnhof Oranienburg, dann etwa 500 Meter Fußweg. Treffpunkt Kreismuseum Oranienburg am Schloß. Anmeldungen bis 7. August 1992 telefonisch unter 8 54 5816, ab 19
Uhr.
3. Montag, den 7. September 1992,19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Günter WoUschlaeger: „Anmerkungen zu Haus und Park Neuhardenberg". Pommernsaal des Rathauses Charlottenburg.
4. Vom 11. bis 13. September 1992 Studienfahrt nach Braunschweig und in den Ostharz.
Leitung Herr Dr. Hans Günter Schultze-Berndt, Programm S. 66.
5. Sonnabend, den 26. September 1992,10 Uhr: Führung durch das ehemalige Bankenviertel. Friedrich-/Ecke Behrenstraße. Leitung: Herr Hans-Werner Klünner. Treffpunkt
U-Bhf. Französische Straße, Nordausgang.
Bibliothek: BerUner Straße 40, 1000 Berlin 31, Telefon 87 2612. Geöffnet: mittwochs 16.00 bis
19.30 Uhr.
Vorsitzender: Hermann Oxfort, Breite Straße 21, 1000 Berlin 20, Telefon 3 33 2408.
Geschäftsstelle: Frau Ingeborg Schröter, Brauerstraße 31, 1000 Berlin 45, Telefon 772 34 35.
Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Berndt, Seestraße 13, 1000 Berlin 65, Telefon 4509-264.
Schatzmeisterin: Frau Ruth Koepke, Temmeweg 38, 1000 Berlin 22, Telefon 3 65 76 05.
Konten des Vereins: Postgiroamt Berlin (BLZ 10010010), Kto.-Nr. 433 80-102, 1000 Berlin 21;
Berliner Bank AG (BLZ 10020000), Kto.-Nr. 03 81801200.
Die Mitteüungen erscheinen vierteljährlich. Herausgeber: Verein für die Geschichte Berlins, gegr.
1865, Schriftleitung: Günter WoUschlaeger, Kufsteiner Straße 2, 1000 BerUn 62; Dr. Christiane
Knop, Rüdesheimer Straße 14, 1000 Berlin 28; Beiträge sind an die Schriftleiter zu senden.
Abonnementspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag gedeckt. Bezugspreis für Nichtmitglieder: 16 DM
jährlich.
HersteUung: Westkreuz-Druckerei BerUn/Bonn, 1000 Berlin 49.
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Schriftleitung.
68
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A 1015 F
MITTEILUNGEN
DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS
GEGRÜNDET 1865
88.Jahrgang
Heft 4
Johann Friedrich Dieffenbach
Oktober 1992
Johann Friedrich Dieffenbach und sein Berliner Umfeld*
Ein Gedenkblatt zum 200. Geburtstag
Von Walter Hoffmann- Axthelm
Als der preußische Staatsminister für die geistlichen Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten Karl Freiherr von Stein zum Altenstein (1770—1840) am 22. Mai 1829 die Ernennung des
seit sechs Jahren als praktischer Arzt in Berlin wirkenden Dieffenbach zum „Charitearzt bei der
chirurgischen Station" vollzog, hatte er den Grund gelegt für die akademische Laufbahn eines
der bedeutendsten Chirurgen des 19. Jahrhunderts.
Dieser Johann Friedrich Dieffenbach wurde am 1. Februar 1792 in Königsberg i. Pr. geboren,
wo sein Vater Conrad Philipp seit kurzem als Magister an der hochangesehenen Stadtschule,
dem Collegium Fridericianum, wirkte. Zwei Jahre später starb er mit 30 Jahren, die Mutter,
Tochter des Rostocker Ratschirurgen Buddig, kehrte mit zwei Kindern in ihre Heimatstadt
zurück, wo der Sohn aufwuchs, die Lateinschule besuchte und 1810 das Studium der Theologie
begann. 1813, als sein mecklenburgischer Landesherr im Aufstand gegen Napoleon zur Bildung eines freiwilligen Jägerkorps aufrief, meldete er sich zu einer berittenen Einheit, und ein
Pferdenarr ist Dieffenbach zeitlebens geblieben. Da die Mecklenburger nur auf Nebenkriegsschauplätzen eingesetzt wurden, liefen die Kampfhandlungen bis auf ein Reitergefecht mit den
auf Napoleons Seite streitenden Dänen im wesentlichen an dem begeisterten Freiheitskämpfer
vorbei, so daß er im Mai 1814, wie er schreibt, „ehrenvoll nach Hause" ging. Daheim in Rostock
hatte er den inzwischen erfolgten Tod der sehr geliebten Mutter zu beklagen.
Der heimgekehrte Krieger gab nach langem Schwanken die Theologie auf und begann 1816,
also mit 24 Jahren, in seiner Geburtsstadt Königsberg das Studium der Medizin, wo er durch
den bedeutenden Karl Ernst von Baer{ 1792—1876) in die Anatomie und Physiologie, durch
Karl Unger {119,2—1835) in die Chirurgie eingeführt wurde. In Ungersbescheidener 10-Betten-Klinik unternahm Dieffenbach Selbstversuche, verpflanzte Haare fremder Personen mit
Erfolg in seinen Arm. Als begeisterter Schwimmer fand er aber auch Zeit, eine städtische
Schwimmschule zu gründen und zu betreuen; folgenreicher war, daß er 1818 nach dem Besuch
eines Wartburgfestes Mitbegründer der Königsberger Burschenschaft wurde, was ihm 1819
nach Einsetzen der Demagogenverfolgung den Entzug des Stipendiums und beinahe die Relegation eingetragen hat.
Eine weitere Folge war die Auflage, die Vaterstadt zu verlassen, was ihm umso schwerer fiel, als
er inzwischen in leidenschaftlicher Liebe zu der neun Jahre älteren Frau des prominenten
Königsberger Arztes Motherby verfallen war. Johanna, eine nach Wilhelm von Humboldt
„sehr kluge und gute aber gar nicht hübsche, eigentlich häßliche Frau", hatte schon einige Affären hinter sich, als sie die Gefühle des 27jährigen Studenten ebenso heiß erwiderte. Dieser ging
1820 nach Bonn, wo er in Philipp von Walther (1182—1849) einen chirurgischen Lehrmeister
von Rang gefunden hat, der die operative Begabung seines Schülers erkannte und förderte.
Selbstbewußt schrieb der Student an seine Schwester: „Zur Chirurgie bin ich geboren. Meine
technische und mechanische Fertigkeit der Finger läßt mich mit der Tüchtigkeit eines alten
Meisters jede Operation machen."
* Festvortrag, gehalten am 9. April 1992 auf dem Dieffenbach-Symposium „Ästhetische Gesichtschirurgie" an der Berliner Charite.
70
4
Abb. 1: Die „Alte Charite", erbaut 1785-1800, 1910 größtenteils abgebrochen
Walther gewährte diesem Naturtalent bald eine gewisse Selbständigkeit und verschaffte ihm
nach anderthalb Jahren einen Aufenthalt in Paris als Betreuer einer von ihm am Auge operierten russischen Fürstin. Hier lernte er die Pariser Chirurgen kennen, den dominierenden
Dupuytren (1777—1835) und den Wundarzt der Napoleonischen Feldzüge Larrey
(1766—1842), der ihm ein glänzendes Zeugnis auf den Weg gab, auch frischte er seine theoretischen Kenntnisse bei dem führenden Experimentalphysiologen Magendie( 1783—1855) auf.
Nach Lösung von der Fürstin führte ihn der Weg für einige Monate nach Montpellier, der Stadt,
in der im 14. Jahrhundert Guy de Chauliac (gest. um 1368) mit seinem Werk „Chirurgia
magna" den Grund für die europäische Chirurgie gelegt hatte. Jetzt lernte er bei Jacques
Mathieu Delpech (1777—1832) die geschlossene Sehnendurchtrennung kennen, die er später,
nach dem Beispiel seines Freundes Louis Stromeyer durch einen kleinen Hautschnitt ausgeführt, so meisterhaft handhaben wird. Da geriet er in den Begeisterungsstrudel für den griechischen Befreiungskampf gegen die Türken, als Arzt wollte er helfen und begab sich zur Einschiffung nach Marseille, doch fehlte es zunächst noch am Gelde. Hier fand ihn die herbeigeeilte
Johanna Motherby, und es gelang ihr, ihn nach Deutschland, nach Würzburg zurückzuholen,
wo er neben anderen Größen den Internisten Johann Lucas Schönlein (1793—1864) kennenlernte, der später nicht ohne sein Mitwirken nach Berlin berufen wurde.
In Würzburg verfaßte Dieffenbach die in seine Zukunft weisende experimentelle Dissertation
„Nonnulla de Regeneratione et Transplantatione" (Einiges über Wiederherstellung und
[Gewebs-] Überpflanzung), die er seinem Lehrer von Walther widmete. Nun hatte er mit 30
Jahren zwar den Doktortitel erworben, doch es fehlte noch das Staatsexamen, das er als gebürtiger Preuße in Berlin abzuleisten hatte. Im ersten Halbjahr 1823 war auch diese letzte Klippe
umschifft, sofort folgte die Niederlassung in Berlin als „Arzt und Operateur".
71
Das war zunächst eine reine Armenpraxis, doch bald sprachen sich seine Leistungen herum, so
daß er 18 24 die inzwischen geschiedene Johanna heimführen konnte. Wie zuvor in Königsberg
eröffnete sie bald einen literarischen Salon, was dem vielbeschäftigten Arzt die Ruhe raubte, sie
führte ihn aber auch bei ihrem alten Freund Wilhelm von Humboldtein, den er, wie uns dessen
Bruder A lexanderberichtet, noch auf dem Totenbett betreut hat. Um es vorwegzunehmen: Die
an diese Ehe gestellten Erwartungen erfüllten sich nicht, vor allem war es wohl der Altersunterschied, der nach einigen Jahren die Scheidung ausgelöst hat. Zu diesem Thema schreibt ein
Biograph des Jahres 1883: „Dieffenbach hat viel geliebt, und deshalb möge ihm viel verziehen
sein." 1831 ging er eine neue Ehe ein mit der 21jährigen Tochter Emiliedes märkischen Arztes
Heidecker, die ihm mit drei gesunden Kindern, zwei Töchtern, einem Sohn, ein volles Familienglück bescherte.
Auch der Praktiker Dieffenbach arbeitete vorwiegend chirurgisch, führte, da es keine Privatkliniken gab, selbst Eingriffe wie die Lösung akuter Brucheinklemmungen in seiner oder des
Patienten Wohnung durch, dies in einer Zeit, in der keimfreies Arbeiten und Narkose unbekannt waren und alles von der schnellen und geschickten Hand des Operateurs abhing. Lebendig schildert er, in welchem Milieu und unter welch primitiven Umständen dies oft geschehen
mußte. Und ein Arzt auch der kleinen Leute ist er lebenslang geblieben, ähnlich wie in der
Generation zuvor der Prototyp des deutschen Hausarztes, der „alte Heim" (Ernst Ludwig
Heim, 1747-1834), und nach ihm der Augenarzt Albrecht von Graefe (1828-1870).
Bald nach der Niederlassung finden wir als erste fachliche Veröffentlichung den Bericht über
seine Transplantationsversuche, es folgten in den kommenden Jahren Beiträge vorwiegend zur
plastischen Chirurgie in allen Regionen, wobei ihn speziell der operative Verschluß der angeborenen Gaumenspalte fesselte. 1829 publizierte er die „Gelungene Heilung eines Wolfsrachens durch Hasenschartenoperation und Gaumennaht". Auch arbeitete er über die Übertragung von Blut, in Berlin ein Gebiet mit Tradition, hatte doch hier der Leibarzt des Großen Kurfürsten Johann Sigismund Elsholtz (1623—1688) 1664 als einer der ersten Blutinjektionen in
menschliche Venen ausgeführt.
Als Berlin 1831 von einer Cholera-Epidemie heimgesucht wurde, der auch der philosophische
Kopf der Universität Georg Hegel (1770—1831) zum Opfer fiel, stellte sich der Chirurg Dieffenbach auch dieser Herausforderung: Durch Einleitung präparierten Blutes versuchte er, das
Gefäßsystem der Cholerakranken wieder aufzufüllen.
Durch seine Veröffentlichungen, auch Vorträge in den ärztlichen Vereinen, vor allem aber
durch operative Erfolge war der Neuankömmling schon bald zu einem nicht zu übersehenden
Faktor in der Berliner Chirurgengilde aufgestiegen. So war es nicht erstaunlich, daß, als der
2. Wundarzt an der Charite Alexander Kluge (1782—1844), dort für die Chirurgie, die
Geburtshilfe und die Stationen der Syphilitiker und Geisteskranken verantwortlich, beim
Direktor Rustum Entlastung von der Chirurgie nachsuchte, dafür den 36jährigen Dieffenbach
als Nachfolger vorschlug: „Unter allen hiesigen praktischen Wundärzten finde ich nur einen
Mann,... und das ist der ebenso talentvolle, als fleißige und bescheidene Dr. Dieffenbach."
Als Dieffenbach im Frühjahr 1829 in die Charite eintrat, die sich ja noch in einer Zwitterstellung zwischen militär-ärztlicher und akademischer Ausbildungsstätte befand (Abb. 1), hatte er
sich zwei prominenten Chirurgen zu stellen, seinem Chefarzt Rust und dem Direktor des Chirurgischen Universitäts-Klinikums von Graefe.
Johann Nepomuk Rust (1775—1840, Abb. 2) vertrat von 1818 an als 1. Wundarzt und Generaldivisionschirurg an der Charite die Chirurgie, war auch Vortragender Rat im Ministerium
und wurde 1824 ordentlicher Professor der Universität, war also Dieffenbachs oberster Chef.
Seine Verdienste waren vor allem organisatorischer Art, sie wirkten sich positiv in ganz Preu72
.
Abb. 2:
Johann Nepomuk Rust
ßen aus, seine Zeit als zuverlässiger Chirurg alter Schule aber hatte er jetzt mit 55 Jahren und
schwindender Sehkraft hinter sich. Dieffenbachs kongenialer Freund Louis Stmmeyer
(1804—1874) beschreibt ihn etwas boshaft in seinen Memoiren: „Er war ein kleiner dicker
Mann, sehr kurzsichtig, seine rechte Hand war eben so ungeschickt wie seine linke, man freute
sich bei jeder seiner Operationen, wenn der Assistent unverletzt davonkam, aber er war doch
ein guter Lehrer."
Bald überließ Rust seinem Mitarbeiter Dieffenbach das Operieren und beschränkte sich auf die
klinischen Vorlesungen, die er, wie ein anderer Chronist berichtet, nur im Sitzen abhielt, mit
einer grünen Tuchmütze auf dem Kopf und einem dicken Teppich unter den in Plüschstiefeln
steckenden Füßen. Seine konservative Einstellung selbst auf dem Gebiet der Tumorchirurgie
erweist sich in seinem posthum erschienenen Buch „Helkologie, oder Lehre von den Geschwüren".
Ganzanders Carl Ferdinand von Graefe(1787-1840, Abb. 3), 1810durch Wilhelm vonHumboldt mit 23 Jahren als erster Direktor des Klinisch-chirurgisch-augenärztlichen Instituts der
eben begründeten Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität berufen; er war also als Chefarzt
ein Jahr jünger als Dieffenbach bei Beginn seines Medizinstudiums. Als Graefe sich 1813 zur
Befreiungsarmee meldete, wurde er von König Friedrich Wilhelm III. zum Divisions-Generalchirurgus mit der Aufsicht über das gesamten Lazarettwesen zwischen Weichsel und Weser
ernannt, eine gewaltige Aufgabe, die er vorbildlich erfüllt hat. Nach Friedensschluß reklamierte ihn die Universität und stellte ihm nach zunächst recht kümmerlicher Unterbringung
zwei Gebäude einer ehemaligen Bleizucker- und Stärkefabrik in der Ziegelstraße 5/6 zur Verfügung, die er 1818/19 umbauen ließ und in denen er und seine Nachfolger Dieffenbach und
Langenbeck so erfolgreich gewirkt haben (Abb. 4).
Graefe, 1826 auf Vorschlag des polnischen Senats nobilitiert, war ein ebenso eleganter wie
gewissenhafter Chirurg mit einer speziellen Neigung zur plastischen Chirurgie im KieferGesichtsbereich. Ihm war 1816 als erstem überhaupt der Verschluß einer Gaumenspalte gelungen, er führte die erste Entfernung eines von Krebs befallenen Unterkiefers in Deutschland
73
durch, und den Nasenersatz aus körpereigenem Material übte er mit zwei Methoden aus, der
1814 von dem britischen Chirurgen Carpue (1764—1846) ans Licht gezogenen uralten indischen, die sich eines aus dem Stirnbereich entnommenen und um einen Stiel geschwenkten
Hautlappens bedient, und der von ihm selbst nach mehr als zwei Jahrhunderten wiedererweckten und bevorzugten italienischen des Gaspare Tagliacozzi(1545—1599), die das Material dem
Oberarm entnimmt.
Diese Eingriffe erregten natürlich Dieffenbachs höchstes Interesse, wurden bald von ihm ausgeführt und weiterentwickelt. Er neigte mehr zur indischen Nasenplastik, weil „die Stirnhaut
wegen ihrer Dicke und Derbheit ein besserer Stoff ist als die Armhaut". Sein Verhältnis zu
Graefe war, da sie beide das Feld der plastischen Chirurgie beackerten, nicht spannungsfrei,
doch von gegenseitiger Achtung getragen. So verteidigte er Graefes Primat des Gaumenverschlusses gegen die Pariser Chirurgen, er machte sich aber darüber lustig, daß Graefedem indischen und italienischen Nasenersatz noch einen deutschen hinzufügte.
Spannungen ergaben sich im Laufe der Jahre mit einer gewissen Selbstverständlichkeit zwischen! dem impulsiven und selbstbewußten Dieffenbachund dem alternden Rust, die sich erst
lösten, als der nun bereits 48jährige Nachwuchschirurg am 25. Mai 1840 mit der Vertretung
seines erkrankten Chefs beauftragt wurde, mit berechtigter Hoffnung auf die Nachfolge. Im
gleichen Jahr starb Rust am 9. Oktober auf seinem schlesischen Gut.
Inzwischen hatte sich aber eine ganz neue Situation dadurch ergeben, daß Graefe am 4. Juli in
Hannover auf einer Konsultationsreise — er sollte dort den augenleidenden Kronprinzen, den
späteren blinden König Georg operieren — mit 53 Jahren einem Typhus-Infekt erlegen war.
Schon am 9. Juli wurde Dieffenbach zum interimistischen Leiter auch der Graefeschen Klinik
ernannt. Nun leitete er also zwei chirurgische Kliniken, jedoch beide nur vertretungsweise mit
dem einschränkenden Zusatz „ohne weitere Konsequenz", was ihn beunruhigte und zu einem
Beschwerdebrief an das Ministerium veranlaßte. Der ihm durchaus gewogene Minister von
Altenstein reagierte zunächst mit Schweigen, so daß Dieffenbach verärgert sogar ein Übersiedeln nach Wien in Erwägung zog, wohin er durch einen früheren Schüler zu Gastoperationen
und Demonstrationen geladen war. Dann aber folgte am 2. Oktober 1840 die Ernennung zum
Nachfolger von Graefes als ordentlicher Professor und Direktor des Königlich chirurgischaugenärztlichen Klinikums, das ihm am 6. November offiziell übergeben wurde.
Nachfolger von Rust&n der Charite wurde der Leiter der Augenstation Johann Christian Jüngken (1793—1875), ein Grae/e-Schüler, der als ein mittelmäßiger Chirurg nunmehr beide Kliniken in einer Hand vereinigte. Auf seinem eigentlichen augenärztlichen Gebiet beherrschte er
zwar exzellent den Starstich, doch stand er allen Neuerungen wie dem Augenspiegel reserviert
gegenüber, so daß sich in den sechziger Jahren der Schwerpunkt der Berliner Ophthalmologie
in die Privatklinik des genialen Graefe- Sohnes Albrecht verlagerte, dessen akademische Laufbahn Jüngken jedoch bis zu seinem Ausscheiden 1868 blockierte. Da aber war der Wegbereiter
der deutschen Augenheilkunde bereits der tödlichen Tuberkulose verfallen.
Dieffenbach war am Ziel. Zwar standen die Räumlichkeiten in der Ziegelstraße mit nur 28 Betten jenen der Charite erheblich nach, doch hatte er endlich die so lang ersehnte Selbständigkeit.
Sein Tagewerk begann um 9 Uhr mit den Hausbesuchen, für ihn wohl auch eine Entspannung,
konnte der Pferdefreund doch dabei das stattlichste Gespann Berlins in scharfem Trab selbst
durch die Straßen lenken. Der Chirurg saß auch im Vorstand des Vereins für Pferdezucht und
verfaßte noch kurz vor seinem Tode eine Schrift über „Das Selbstfahren".
Kleinere Eingriffe wurden wie damals üblich in der Wohnung des Patienten, bei Auswärtigen
im Hotel durchgeführt, ein Privatassistent hatte sie vorzubereiten. Um 12 übergab er in der Ziegelstraße dem Kutscher die Zügel, es folgte die Visite, einige Verbände wurden gewechselt,
74
Abb. 3:
Carl Ferdinand von Graefe
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vielleicht etwas operiert, dann hielt er, wie schon zu Graefes Zeiten und bei allen Nachfolgern
üblich, von 2 bis 3 die Klinik. Auch der Verfasser sah hier als Student Ende der zwanziger Jahre
den letzten Großen im Klinikum A ugust Bier (1861—1949) operieren und erinnert sich dessen
Bemerkung, dies sei kein Operationssaal, sondern eine Operationsscheune. Das war natürlich
nicht mehr Dieffenbachs Wirkungsstätte, es war der von 1879 bis 1893 unter den Nachfolgern
Langenbeck und Bergmann entstandene, uns vertraute Klinkerbau, in welchem sich die Bettenzahl von 28 auf 138 erhöht hat (Abb. 5).
Zurück zu Dieffenbach. Nach der Klinik ging er zu Fuß zum Mittagessen in seine Wohnung am
Zeughaus 2, ohne Pause folgte dort die Sprechstunde, anschließend vielleicht noch einige
Besuche oder dringende Eingriffe. Um 9 Uhr das gemeinsame Abendbrot mit anschließender
Plauderstunde und in der Nacht die Schreibtischarbeit. Stromeyer zitiert in seiner Autobiographie die Charakteristik eines Freundes: „Dieffenbach war ein entschiedenes Genie, voll der
edelsten, großartigsten Züge; er hatte ein gewaltige göttliche Liebe zu seiner Wissenschaft.
Andere neben sich ließ er nicht gern aufkommen, weil er dann nicht so viel sehen, nicht so viel
operieren konnte. Geldinteresse hatte er gar nicht; er kannte den Werth des Geldes nicht.
Unter den Berliner Schlemmern lebte er auf das mäßigste; er trank fast nichts, aß auffallend
wenig; er schlief fast nie mehr als sechs Stunden, denn abends arbeitete er regelmäßig von 11 bis
2 Uhr in der Nacht, oft noch später."
75
Während sich Graefebci der Studentenausbildung auf klinische Demonstrationen beschränkt
hatte, wobei er aber als Novum die Studenten praktisch mitarbeiten ließ, hielt der neue Direktor daneben noch Vorlesungen über allgemeine und spezielle Chirurgie. Da es im Klinikum
keine Prosektur gab, mußten sich die zwei Assistenten der Pathologie annehmen, bei der
mikroskopischen Diagnose der Geschwülste half der Dieffenbach noch aus Bonn freundschaftlich verbundene Johannes Müller(1801—1858), der in Berlin zum Begründer des Fachses Physiologie geworden ist. „Wir sind alle seine Schüler gewesen", sagte Rudolf Virchow
(1821—1902) über ihn 1858 in seiner Gedächtnisrede in der Berliner Universitätsaula. Drei
großen Ärzten, dem 1839 unter Dieffenbachs Mitwirkung von Zürich an die Charite berufenen
Internisten Johann Lucas Schönlein, der dort eine neue Ära der Inneren Medizin begründete,
dem Physiologen Müllerund dem Chirurgen Dieffenbachverdankte die medizinische Fakultät
der jungen Friedrich-Wilhelms-Universität den Aufstieg zur Weltgeltung. Fortgesetzt wurde
diese Entwicklung durch den jungen Virchow, der 1844 als Assistent, 1846 als Nachfolger des
mit Dieffenbach befreundeten pathologischen Anatomen Robert Froriep (1804—1861) an der
Charite seine steile Kometenbahn begann.
Bis Albrecht von Graefe den Durchbruch für eine selbständige Augenheilkunde bewirkte,
wurde dieses Fach in Deutschland als Anhängsel der Chirurgie verwaltet, so auch in der Ziegelstraße. Dieffenbach aber hatte ophthalmologische Erfahrungen, er hatte Lidplastiken und
Hornhautüberpflanzungen durchgeführt, und über die 1839 publizierte Schieloperation durch
Muskeldurchschneidung sagte später der jüngere Graefe, sie allein genüge, um seinem Namen
Weltgeltung zu schaffen. Wieder war, wie bei der Sehnendurchtrennung, der Hinweis von Stromeyer gekommen, der die Operation ersonnen und an der Leiche erprobt hatte, doch die
Durchführung am Lebenden dem Freunde überließ. Diese Freundschaft mit dem damaligen
Professor in Freiburg, seit 1848 Langenbecks Nachfolger in Kiel, hat erst Dieffenbachs früher
Tod gelöst. Der Chronist von 1883 schrieb, die beiden verhielten sich zueinander wie Gedanke
und Tat. „Dieffenbach wandelte die Stromeyer'sche Idee in die That und förderte damit ebenso
seinen eigenen Ruhm als den seines Freundes."
Nur sieben Jahre waren Dieffenbach als Klinikleiter vergönnt, in unablässiger chirurgischer
Tätigkeit, unterbrochen 1843 durch eine Berufung nach St. Petersburg an den Zarenhof, um
dort durch Sehnendurchtrennung den Klumpfuß eines Zarenenkels zu heilen. Der Eingriff war
ein voller Erfolg, über zwei Monate dauerte die Nachbehandlung, doch um das Honorar wurde
er geprellt, was er, der Unzählige umsonst behandelt hat, in diesem Fall als Kränkung empfand.
Dieffenbachs letzte Schrift, auch sie ein stilistisches Meisterwerk, wurde durch ein Ereignis in
den Vereinigten Staaten ausgelöst. Am 16. Oktober 1846 hatte der Zahnarzt William T. G.
Morton im General Hospital von Boston bei einer Operation des bedeutenden Chirurgen John
Collins Warren die Äthernarkose demonstriert, eine Sensation, die sich wie ein Lauffeuer auch
über die alte Welt verbreitete. Nur Monate später erschien Dieffenbachs auf Versuchen beruhende Abhandlung. „Der Äther gegen den Schmerz" mit kritischer Stellungnahme. Darin
beschreibt er das Eintreten euphorischer Gefühle „besonders beim weiblichen Geschlechte",
auch von Tobsucht, stellt aber fest, daß selbst der höchste Schmerz bei den größten Operationen aufgehoben wird. „Der schöne Traum, daß der Schmerz von uns genommen wird, ist Wirklichkeit geworden. Der Schmerz, dieses höchste Bewußtwerden unserer irdischen Existenz,
diese deutlichste Empfindung der Unvollkommenheit unseres Körpers, hat sich beugen müssen vor der Macht menschlichen Geistes." Er erkennt aber auch die Gefahr der Überdosierung
und warnt vor Anwendung bei Neigung zu Schlagfluß und Blutsturz. Abschließend die nüchterne Feststellung, daß „bei umsichtiger Anwendung für die leidende Menschheit ein bedeutender Gewinn erwachsen ist".
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Abb. 4: Das Chirurgische Universitätsklinikum in der Ziegelstraße, 1820—1878
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Abb. 5: Der Klinikneubau in der Ziegelstraße von der Spreeseite, 1880. Baubeginn 1878
Am 19. Oktober 1847, dem Tage des silbernen Doktorjubiläums, schrieb der 55jährige Chirurg: „Es ist mir, als hätten die vielen Kranken, unter denen ich gelebt, mich so gestählt und
gestärkt, daß ich auf noch 25 Jahre kontrahiere." Welch tragischer Irrtum! Drei Wochen später,
am 11. November, stellte Dieffenbach in der mittäglichen Klinik einen zwei Tage zuvor operier77
ten Patienten vor, gab Anweisungen für die Nachsorge und setzte sich in Erwartung des nächsten Falles auf ein Sofa, wobei er einen hospitierenden Pariser Kollegen an seine Seite winkte,
um ihm in dessen Sprache einige Erläuterungen zu geben. Kaum hatte dieser Platz genommen,
fühlte er des Meisters Kopf an seiner Schulter. — Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen.
Bis zu diesem Tage hatte Dieffenbach jeden freien Augenblick für die Abfassung seiner „Operativen Chirurgie" verwandt, deren erster Band 1845 erschien; der zweite wurde 1848 posthum von seinem Neffen und Schüler Julius Bühring ediert. So wurde der Nachwelt sein Testament auf dem Gebiet der plastischen Chirurgie übermittelt.
Im Berliner Bezirk Kreuzberg begegnet sich eine Dieffenbachstraße mit einer Graefestraße,
nahe dabei, auf dem Friedrichswerderschen Kirchhof, fand der Chirurg in seiner Grabkapelle
die letzte Ruhe (Abb. 6).
Dieffenbach konnte wie einst Moses nur einen Blick werfen in das Neuland, das sich durch ein
schmerzloses Operieren für die Chirurgie eröffnet hatte, und genau 20 Jahre später begann mit
der Einführung der Antiseptik, der Keimbekämpfung durch Desinfektionsmittel, durch den
schottischen Chirurgen Joseph Lister (1827—1912) der Weg zum keimfreien Operieren unserer Tage. Seinem würdigen Nachfolger Bernhard von Langenbeck(18W—1887) sind diese entscheidenden Entwicklungen während einer 34jährigen Amtszeit in einem Maße zugute
gekommen, daß darüber — schon von den Zeitgenossen beklagt — die Verdienste seines ebenbürtigen, aber so ganz anders gearteten Vorgängers überschattet wurden. Der zweite Nachfolger Ernst von Bergmann(1836—1907) erarbeitete dann an dieser Klinik konsequent und richtungweisend das uns Heutigen selbstverständliche aseptische System, das im absolut keimfreien Milieu arbeitet.
So erfüllen wir mit diesem Gedenkblatt eine Ehrenpflicht im Erinnern an einen vor 200 Jahren
Geborenen, der sich die „Wiederherstellung zerstörter Teile des menschlichen Körpers" als
Lebensaufgabe gestellt und wie kein anderer vor ihm erfüllt hat.
Literatur
Brunn, W. v.: Die Chirurgie unter Johann Friedrich Dieffenbach 1840—1847. In: Diepgen, Paul/Paul
Rostock, Das Universitäts-Klinikum in Berlin. Leipzig 1939, S. 66—78
Dieffenbach, J. F.: Beiträge zur Gaumennaht. Ann. ges. Heilk. Berlin, 4 (1826a) 145—165;
4 (1827) 450-455
Dieffenbach: J. F.: . . . Wiederherstellung zerstörter Teile des menschl. Körpers .. . Berlin 1829
Dieffenbach, J. F.: Über die Durchschneidung der Sehnen und Muskeln. Berlin 1841
Dieffenbach, J. F.: Die Operative Chirurgie. Bde. I und II, Leipzig 1845/1848
Elsholtius, J. S.: Clysmatica nova. 2. Ed., Colonia Brandenburgica (Berlin-Köln) 1667
Genschorek, W.: Johann Friedrich Dieffenbach. In: Wegbereiter der Chirurgie. Leipzig 1983
Hoffmann-Axthelm, D.: Hegel in Berlin. Mitt. Verein. Gesch. Berlins 66 (1970) 317-322
Hoffmann-Axthelm, W.: Die Familie von Graefe und ihre Villa Finkenherd im Berliner Tiergarten.
Mitt. Verein. Gesch. Berlins 66 (1970) 294-301, 322-334
Humboldt, W. v.: Briefe, Tagebücher, Dokumente. Hrsg. Rudolf Freese (o. Jg.) S. 859 u. 967
Killian, H : Meister der Chirurgie. 2. Aufl. Stuttgart 1980, S. 346-347
Lampe, R.: Dieffenbach. Leipzig 1934
Rohlfs, H ; Johann Friedrich Dieffenbach. Dtsch. Arch. Gesch. Med. 6 (1883) 452-489;
7 (1884) 44-143
Scheibe: 1710—1910 Zweihundert Jahre des Charite-Krankenhauses zu Berlin. Berlin 1910
Stromeyer, G. F. L.: Erinnerungen eines deutschen Arztes. 2. Ausg. Hannover 1875
Anschrift des Verfassers:
Professor Dr. Dr. Walter Hoffmann-Axthelm, Schlierbergstraße 84, W-7800 Freiburg i. Brsg.
78
i
Abb. 6: Dieffenbachs Grabkapelle auf dem Friedrichswerderschen Kirchhof
Das Mausoleum Blüchers in Krieblowitz
Von Jörg Kuhn
Am 16. Dezember 1992 jährt sich zum 250. Male der Geburtstag des Feldmarschalls Gebhard
Leberecht von Blücher. Blücher, der wohl prominenteste preußische Heerführer der Befreiungskriege, wurde am 16. Dezember 1742 in Rostock geboren. Bereits zu Lebzeiten eine
Legende, wurde er mit bedeutenden privaten und öffentlichen Gunstbezeugungen geehrt.
Eine Fülle von Denkmälern wurde ihm zu Ehren errichtet: 1819 in Rostock (G. Schadow),
1819-27 in Breslau (Rauch), 1819-26 in Berlin (Rauch) und 1892-94 in Kaub am Rhein
(Schaper), um nur einige der wichtigen zu nennen. Das gewaltigste Denkmal, das Blücher und
79
dem siegreichen preußischen Heer gleichermaßen gewidmet wurde, ist jedoch das von 1843 an
in Krieblowitz in Schlesien erbaute Mausoleum. Die Geschichte des Bauwerks und die Betonung seiner kunsthistorischen Bedeutung sollen aus gegebenem Anlaß in dem folgenden Beitrag behandelt werden.
Die erste Grabgestaltung (1819 bis 1842)
Am 12. September 1819 starb auf seinem Sommersitz Krieblowitz in Schlesien Feldmarschall
Gebhard Leberecht Blücher, Fürst von Wahlstatt, im Alter von 76 Jahren. Blücher hatte 1814
diese Besitzung in Anerkennung seiner militärischen Verdienste von König Friedrich Wilhelm
III. als Geschenk erhalten1. Seinem persönlichen Wunsch2 folgend, wurde Blücher auf dem
weitläufigen Gutsbesitz, in einem von Kornfeldern umgebenen und aus Linden angepflanzten
Hain beigesetzt3. Über der Grabstätte sollte nach Verfügung des Verstorbenen ein gewaltiger,
als „Blücherstein"4 bekannter Findling vom Zobten5 errichtet werden. Dieses Vorhaben scheiterte jedoch an der technischen Schwierigkeit, den 13 000 Zentner schweren Granitstein nach
Krieblowitz zu schaffen6. So blieb das Projekt unausgeführt. Erst 1842, „beim Festmahle zu
100jährigen Geburtstagsfeier" des Feldmarschalls, konnte Blüchers ehemaliger Adjutant, Ferdinand Ludwig Graf Nostiz7, König Friedrich Wilhelm IV. von der mißlichen Lage der Grabstelle unterrichten8. Der König erteilte daraufhin Nostiz und dem Bildhauer Christian Daniel
Rauch (1777—1857) den Auftrag, dem Verstorbenen ein würdiges Grabmal zu schaffen. Das
seit 1819 „in unzureichender Weise in feuchtem Grunde mit niedriger Steinbedeckung"9 liegende Grab sollte, auf Anregung des Königs, durch ein Grabgebäude nach dem Vorbild „des
Grabmals der Plautier bei Tivoli" entworfen werden10.
Die Neugestaltung des Grabmals seit 1842
Auf Befehl Friedrich Wilhelms IV. wurde 1842 mit der Planung eines Mausoleums für Blücher
begonnen. Den Auftrag zum Entwurf der Architektur erhielt, wahrscheinlich auf Empfehlung
Rauchs11, der seit 1841 im Hofbauamt tätige Architekt Johann Heinrich Strack
(1805-1880)12. Strack, Schüler Schinkels an der Berliner Bauakademie, hatte 1842 auf einer
mit August Stüler unternommenen Reise nach England dort die an die Antike angelehnte
Sepulkralarchitektur des 18. Jahrhunderts kennengelernt13. Für den Grabbau Blüchers entwarf er nun einen über 11 Meter hohen Monumentalbau. Die vom König gewünschte Anlehnung des Entwurfes an den Rundbau des aus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert stammenden Plautier-Mausoleums wurde von Strack jedoch nicht wörtlich umgesetzt. Der Vorbildcharakter des 2 km von der Villa Adriana in Tivoli an der Via Tiburtina gelegenen antiken
Grabbaues ist nur von allgemeiner Art, wie der Vergleich zeigt (Abb. 1). Im Hinblick auf ein
konkretes Vorbild ist das von den Architekten des 18. und 19. Jahrhunderts häufig als architektonisches Versatzstück verwendete Lysikrates-Monument von 335 bis 334 v. Chr. in Athen
bedeutsamer.
80
Das Blücher-Mausoleum in Krieblowitz. Stahlstich um 1860. Archiv Einholz, Berlin
Beschreibung des Mausoleums in Krieblowitz
Der über quadratischem Grundriß errichtete Unterbau birgt die eigentliche Gruftkammer. Ein
vorgelegter Sockel mit Wulstabschluß betont den Denkmalcharakter. In die östliche Hauptfront des Gruftgeschosses ist ein rechteckiges Portal mit profiliertem Gewände tief eingeschnitten. Das Portal wird durch eine zweiflügelige kassettierte Eisentür verschlossen. Eine vierstufige Freitreppe, die von Eckpodestenflankiertwird, leitet den Besucher zum Eingang. Von der
leicht konischen Form des Unterbaues vorbereitet, wird der Bau über einem kräftigen Kranzgesims mit einem zylindrischen Turm fortgesetzt. Die von einem monumentalen Konsolgesims
getragene Attika dient als Auflager für die flache Kuppel. Das Gruftgeschoß ist in symbolhafter
Weise aus glattpolierten, bronzeverdübelten Quadern des Materials vom „Blücherstein"
gefügt14. Die gleichfalls glatten Blöcke des Turmgeschosses sind aus grauem Granit der Strehlenschen Granitwerke gearbeitet. Die Kuppel mit einem Durchmesser von 4,54 Metern wurde
nach dem Vorbild des Theoderich-Grabmals in Ravenna15 vom Breslauer Steinmetzmeister
Bungenstab16 aus einem Granitfindling herausgeprellt. Die Versetzung des 240 Zentner
schweren Monoliths verzögerte die Fertigstellung des Mausoleums um fast zwei Jahre17.
81
Außer der vorgegebenen Verwendung des farbigen Steinmaterials setzte Strack zur Gestaltung
des Baues weitere architektonische Mittel ein. Fugenführung, Gesimse und Profilbänder bilden eine kontrastreiche horizontale Gliederung des monumental aufstrebenden Bauwerks.
Das Gruftgeschoß weist über dem Portal eine auf den Geehrten und auf die Stifter hinweisende
Inschrift auf: „Dem Fürsten Blücher von Wahlstatt, Friedrich Wilhelm III., Friedrich Wilhelm
IV. und das Heer, vollendet 1853". Die als Gestaltungselement genutzte Inschrift war ehemals
vergoldet.
Das Porträtrelief Blüchers von Rauch und Berges
Der wichtigste Schmuck des Mausoleums ist jedoch das in eine Rundnische eingelassene,
kolossale Porträtrelief Blüchers von Christian Daniel Rauch, ausgeführt von Heinrich Berges.
Gemäß dem im Dezember 1842 erteilten Auftrag zur Gestaltung der Grabstätte reiste Rauch
am 16. Juli 1843 nach Schlesien, um sich über die lokale Situation einen Überblick zu verschaffen18. Vor seinem Aufenthalt in Krieblowitz besuchte er das bei Löwenberg (Lowöwek Slaski)
gelegene Schlachtfeld an der Katzbach, wo zur Erinnerung an die Schlacht vom 26. August
1813 auf Betreiben von Graf Nostiz eine von Rauch geschaffene Kolossalbüste Blüchers am
26. August 1841 aufgestellt worden war19. Das Modell für das Porträtrelief für Krieblowitz
dürfte Rauch kurz nach seiner Rückkunft in Berlin am 22. Juli 1843 geschaffen haben.
Sein Gehilfe Heinrich Berges führte daraufhin das Originalgipsmodell in der für die Marmorfassung gewünschten Größe aus (ca. 135 cm Durchmesser). (Abb. 2)
In der Formulierung des Kopfes hatte Rauch, die Blickrichtung nach rechts verändernd, weitgehend auf seine 1815 modellierte Blücherbüste zurückgegriffen, die auch der Büste an der
Katzbach zugrunde gelegen hatte. Die 1815 entstandene Büste Blüchers war im Auftrag des
bayrischen Kronprinzen Ludwig für die Walhalla bei Regensburg geschaffen worden. Auf Vermittlung von Johann Gottfried Schadow gewährte Blücher Rauch am 1. und 5. April 1815
Modellsitzungen20. Das am 10. April bereits fertiggestellte Gipsmodell gelangte zu großer
Popularität. Bis Februar 1816 waren wegen der starken Nachfrage bereits 76 Abgüsse angefertigt worden21. Aufträge zur Ausführung dieses Büstenmodells in Marmor, Bronze und Eisen
unterstrichen die Wertschätzung, die Rauchs Darstellung des Fürsten entgegengebracht
wurde.
Im Gegensatz zu dieser Büste, deren Bruststück antikisch-ideal unbekleidet ist22, ist dasselbe
bei dem Krieblowitzer Porträtrelief durch ein assoziativ an Herkules23 erinnerndes Löwenfell
bedeckt. Das antike Nischenbildnis vom Typus des imago clipteata verlassend, läßt Rauch
malerisch die sichtbare Pranke des Löwenfells weit über den Reliefrahmen hängen. Interessant
hierzu ist der Vergleich mit einer nach Karl Friedrich Schinkels Entwurf 1816 entstandenen
Eisengußplakette24 (Abb. 3). Die von Berliner Bürgern Blücher gewidmete Plakette zeigt die
stark nach rechts gewandte Profilbüste Blüchers, deren Bruststück ebenfalls durch ein Löwenfell bedeckt wird. Fast einem Mantelverschluß vergleichbar, sind die Vordertatzen des Fells
wehrhaft vor der Brust Blüchers zusammengeknotet. Rauch hat sein Krieblowitzer Blücherporträt, wenngleich formal anders gestaltet, inhaltlich sichtbar an diesen Entwurf Schinkels
angelehnt. Ähnlich wie bei Schinkel wirkt auch die Porträtformulierung gegenüber der Büste
von 1815 vergröbert und gleichzeitig malerischer. Trotz aller realistischen Elemente — Falten,
Fettpolster, buschige Augenbrauen und ebensolcher Oberlippenbart — wirkt das Porträt Blüchers von 1815 feiner und würdevoller. Die ungewöhnlich hohe Anbringung und die dadurch
bedingte Kolossalität des Krieblowitzer Reliefs lassen, zusammen mit den beschriebenen
Modifikationen des Porträts gegenüber der Büste von 1815, stärker Blüchers Bild als „Mar82
4'
Abb.l:
Mausoleum der Plantier bei
Tivoli, 1. Jh. n. Chr. Aufnahme
um 1890. Archäologisches
Institut der FU Berlin.
schall Vorwärts" hervortreten. Von einer früheren Planung, die einen Bronzeguß des Reliefs
vorsah, nahm man wegen der offensichtlich schon damals geläufigen Gefahr eines Metalldiebstahls Abstand 25 .
Nach der Umsetzung des Modells in den Originalgips betraute Rauch seinen Schüler und Mitarbeiter Heinrich Berges (1805-1852) 2 6 , der bereits 1829/30 bei der Ausführung des Rauchschen Modells zum Münchner Maximilian-Denkmal eine wesentliche Aufgabe übernommen
hatte, auch mit der Ausführung in Carrara-Marmor. Als frühe Erwerbung (1851) hat sich in
der Berliner Gipsformerei die Originalabformung bis heute erhalten (Formnr. 3311).
Spätestens 1851 war das Relieftondo angebracht und das Mausoleum — bis auf die Kuppel —
fertiggestellt worden. Endlich konnte am 26. August 1853, dem Jahrestag der Schlacht an der
Katzbach, das Mausoleum in Anwesenheit des Königs eingeweiht werden27.
Die Wahl dieses Datums anstelle des eigentlich zu erwarten gewesenen Datums des Todestages
Blüchers verändert die Bedeutung des Grabmals, über seine Funktion als Bestattungsort Blüchers hinaus, zum Siegesdenkmal des preußischen Heeres und des regierenden Königshauses.
83
Veränderungen am Mausoleum nach 1853
Während eine niedrige Mauer mit Tor, die das Areal weitläufig umgibt, mit der Errichtung des
Mausoleums nach 1843 entstanden sein dürfte, handelt es sich bei der hinter dem Mausoleum
vertieft angelegten Gruftkammer um eine spätere Ergänzung für die Familie Blüchers. Da Blüchers zweite Frau, Amalie von Colomb, 1850 verstarb, könnte diese spätere Gruft in der nachfolgenden Zeit entstanden sein.
Nach 1945 wurden das Mausoleum geplündert, der innere Gruftkammerboden aufgebrochen
und der Sarg Blüchers verschleppt. Von den Särgen der Familie in der rückwärtigen Gruft sind
nur noch geringe Reste vorhanden. Das Porträtrelief Blüchers von Rauch wurde bis zur
Unkenntlichkeit zerstört (Abb. 4). Auf Initiative der polnischen Denkmalpflege ist das Relief
— in Unkenntnis des Vorhandenseins des alten Gipsabdruckes in Berlin und wohl auf der
Grundlage alter Fotographien — kürzlich wieder ergänzt worden. „Das Ganze", hatte 1853 ein
Besucher über das Mausoleum geäußert, „macht einen würdigen monumentalen Eindruck
und ist nach Construktion und Material geeignet, den Jahrhunderten zu trotzen" 28 . In der
Abenddämmerung betrachtet, bietet sich auch heute noch — trotz aller Verwüstungen — dem
modernen Besucher dieses Bild.
Anmerkungen:
1 Allgemeine Deutsche Biographie, Leipzig, Bd. 2 (1875), S. 727—733 (v. Meerheimb).
2 Grundmann, Günther, Stätten der Erinnerung in Schlesien, Weiler i. Allgäu 1964, S. 64.
3 Der romantische Wunsch aufgeklärter Fürsten, sich in Landschafts- und Parkgrüften beisetzen zu
lassen, hatte seit der Beisetzung Johann Moritz' von Nassau-Siegen 1679 in einem Wäldchen auf
seinem Besitz in Kleve eine reichhaltige Tradition hervorgerufen, von der auch in Schlesien viele
in Parks eingebettete Grabstätten und Mausoleen des 18. und 19. Jahrhunderts zeugen. Vgl.
hierzu: Ausstellungskatalog „Der große Kurfürst 1620—1688. Sammler Bauherr Mäzen", Potsdam-Sanssouci 1988, S. 40; Grundmann, Günther, Stätten der Erinnerung. Denkmäler erzählen
schlesische Geschichte, München 1975.
4 Zeitschrift für praktische Baukunst, Hrsg. von J. A. Romberg, 11, Leipzig 1851, Spalte 279.
5 Der Zobten (Sleza) 15 km östlich von Schweidnitz (Swidnica) gelegen, ist mit 718 m die höchste
Erhebung des nördlichen mittelschlesischen Eulengebirges (Gory Sowie). Seit dem S.Jahrhundert v. Chr. wurden auf diesem sog. „Heiligen Berg Schlesiens" verschiedene keltische und germanische Kultstätten angelegt. (Vgl. hierzu: Ivan Bentschev u. a., Polen. Geschichte, Kunst und
Landschaft einer alten Kulturnation, Köln 1989. S. 546). 1816 wurde der Zobten auch als möglicher Aufstellungsort für ein Blücherdenkmal (u. a. lieferte J. G. Schadow einen Entwurf) vorgeschlagen. (Vgl. hierzu: Karl und Friedrich Eggers, Daniel Christian Rauch, Berlin 1878, Bd. 2,
S. 110). Es wäre interessant, der Überlegung nachzugehen, ob Blüchers seit 1784 bestehende Mitgliedschaft in einer Freimaurerloge (seit 1803 war er sogar Meister vom Stuhl in der Loge „Zu den
drei Balken" in Münster) für ihn ausschlaggebend war, sich als Grabmal einen „kultischen" Findling vom Zobten zu wählen.
6 Grundmann, 1964, a. a. O., S. 79
7 Ferdinand August Ludwig Graf Nostiz (1770—1866), Adjutant Blüchers in der Schlacht von
Ligny (1815), rettete geistesgegenwärtig dem vom Pferd gestürzten Blücher das Leben. Schadow
porträtierte Nostiz (auf dessen Verlangen) auf dem die verlorene Schlacht von Ligny darstellenden Sockelrelief am Rostocker Blücherdenkmal. Vlg. hierzu: Schmidt, Martin H., Johann Gottfried Schadow — Das Blücherdenkmal in Rostock unter besonderer Berücksichtigung des verwendeten Materials Bronze, Magisterarbeit FU Berlin, Berlin 1991, S. 25
8 Eggers, Christian Daniel Rauch, a. a. O., Bd. 2, S. 161.
9 Ebenda, S. 161
84
Abb. 2:
Chr. D. Rauch/H. Berges:
Relieftondo für Krieblowitz.
Foto: D. Graf, Archiv Gipsformerei SMBPK
10 Ebenda, S. 161.
11 Johann Heinrich Strack (Bückeburg 1805—1880 Berlin), war bereits 1825 auf Empfehlung
Rauchs von K. F. Schinkel als Schüler aufgenommen worden. 1835 entwarf Strack für die Familie von
Rauchs Tochter Agnes d Alton-Rauch eine repräsentative Villa in Halle, die von Rauch mit eigenen
Werken ausgeschmückt wurde. Vgl. hierzu: Findeisen, Peter, Die Villa dAlton in Halle, in: Kunze,
Max (Hrsg.), Christian Daniel Rauch. Beiträge zum Werk und Wirken (Beiträge der WinckelmannGesellschaft, Bd. 10), Stendal 1980, S. 58-67.
12 Zeitschrift für praktische Baukunst, 11,1851, a. a. O., Spalte 279. Zu Strack vgl.: Kieling, Uwe,
Berlin — Baumeister und Bauten, Leipzig 1987, S. 211 ff. Interessant für die Entstehungsgeschichte
des Blüchermausoleums dürften Stracks Reisen nach Italien (1838), Frankreich und England (1842)
sein. Bekannt sind auch Stracks hervorragende archäologischen Bauaufnahmen.
85
Abb. 3:
Fr. Schinkel: Blücher-Plakette,
Eisen,1816. Foto: Archiv
Arenhövel, Berlin
13 Stellvertretend für ähnliche, damals allgemein bekannte britische Sepulkralbauten, sei hier auf
das 1778 von Robert Adam (1728-1792) für den Philosophen David Hume (1711-1778) auf
dem Calton-Friedhof in Edinburgh errichtete Mausoleum verwiesen. Vlg. hierzu: Curl, James
Steven, Entstehung und Architektur der frühen britischen Friedhöfe, in: Ausstellungskatalog „O
ewich is so lanck. Die historischen Friedhöfe in Berlin-Kreuzberg", Landesarchiv Berlin, Berlin
1987, S. 268 Abb. 3
14 Zeitschrift für praktische Baukunst, 11, 1851, a. a. O., Spalte 279.
15 Zeitschrift für Bauwesen, 3, Leipzig 1853, Spalte 308
16 Ebenda, Spalte 172.
17 Zeitschrift für praktische Baukunst, 11, 1851, a. a. O., Spalte 279.
86
Abb. 4:
Blücher-Mausoleum,
Zustand 1989.
Foto: Noack, Breslau
18 Eggers, a. a. O., Bd. 2 (1878), S. 161 f.
19 Ebenda, S. 162.
20 Ebenda, S. 294. Schadow verwendete die 1815 von Rauch modellierte Blücherbüste als Vorbild
für die Formulierung des Kopfes seines Blücherdenkmals für Rostock. Zur Blücherbüste Rauchs
siehe: Ausstellungskatalog „Ethos und Pathos. Die Berliner Bildhauerschule 1786—1914", hrsg.
von Bloch, Peter, Einholz, Sibylle und Simson, Jutta v., Berlin 1990, S. 362 Abb. 310.
21 Eggers, Karl und Friedrich, Christian Daniel Rauch, Berlin 1873, Bd. 1 S. 166.
22 Das einzige — mit Uniform — bekleidete Exemplar der Rauchbüste von 1815 bestellte am
19. Februar 1826 der Herzog von Wellington. Vgl. hierzu: Eggers, 1873, a. a. O., Bd. 1, S. 56 und
S.161.
87
23 Seit der Renaissance wurden insbesondere Fürsten (u. a. Prinz Eugen, August der Starke von
Sachsen, König Friedrich II. von Preußen) als Herkules dargestellt. Die Würdigung Blüchers als
Herkules klingt auch in dem Titel der Blücherbiographie „Fürst Blücher von Wahlstatt und seine
Heldentaten" von Rumpf an. Das Löwenfell-Motiv ist auch bei den frühen Blücherdenkmälern
zu finden.
24 Ausstellungskatalog „Berlin und die Antike", hrsg. von Arenhövel, Willmuth, Berlin 1979, S. 219
Kat.-Nr. 401 und S. 222 Abb. 401. Die Rückseite der Plakette zeigt den drachentötenden Erzengel Michael, Symbolfigur der Deutschen seit den Befreiungskriegen. Frdl. Hinweis von Dr. Sibylle
Einholz, Berlin, und Dr. A. Arenhövel, Berlin.
25 Eggers, Rauch, a. a. O., Bd. 2 (1878), S. 162.
26 Zu Heinrich Berges (Berlin 1805—1852 Rom) vgl. zuletzt: Hüfler, Brigitte, Kurzbiographien
Berliner Bildhauer, in: „Ethos und Pathos...", Berlin 1990, a. a. O., Beiträge, S. 414 (mit weiterer Literatur). Berges war seit 1821 Schüler, dann Gehilfe von Rauch und blieb bis zu seinem Tod
in Rom dessen wichtigster Mitarbeiter. Eigenhändige Werke Berges befinden sich u. a. in den
Schlössern von Potsdam-Sanssouci.
27 Eggers, Rauch, a. a. O., Bd. 2 (1878), S. 162.
28 Zeitschrift für Bauwesen, 3, 1853, a. a. O., Spalte 308. Der Autor besuchte Krieblowitz im September 1989.
Anschrift des Verfassers:
Jörg Kuhn, Fehmarner Straße 19, W-1000 Berlin 65
B uchbesprechungen
„Berliner Ring. Bilder und Texte." Hrsg. Ulrich Eckardt, Stefanie Endlich, Rainer Höynck, 214 Seiten, zahlreiche Abbildungen, Anhang. Nicolaische Verlags-Buchhandlung, Berlin 1990
Das Projekt einer Zustandsbeschreibung des Gegenwärtigen im Berliner Umland mit dem Blick auf
das Vergangene geht auf die Zeit vor der Wende zurück und erfährt durch die Ereignisse der letzten
beiden Jahre seine Bestätigung und neue Perspektiven; dies macht den Reiz des Lesens aus. — Das
Buch ist konzipiert als eine Dokumentation über die Wechselwirkungen zwischen dem Ballungsraum
Berlin und seinem einst ländlichen Umland. Sein Titel „Berliner Ring" meinte ursprünglich die Verkehrsverbindung, die das Umland umschloß und einband, daraus wurde ein begrenzender Stadtring,
der heute eine historische, sozioökonomische und kulturelle Lebenswelt erschließt. — Die schon früh
angesetzte Projektierung machte es möglich, das Land innerhalb des Ringes wehmütig als ein Land
der Strenge und Dürftigkeit zu beschreiben, in die sich die Furcht vor eventueller schneller Nutzung
einschleicht. „Armut des Landes widersteht nicht den Verlockungen des großen, schnellen Geldes"
(15). Nun ist diese Gefahr konkreter und dringender geworden. Bilder und Texte zeigen allenthalben
ein gefühlshaft starkes Engagement, den beschaulichen, stark von der Vergangenheit geprägten
Zustand abzubilden und zu beschwören; sie sprechen vom Dank, das ersehnte Umland wieder eigen
nennen zu können. Inzwischen betrachtet der Leser die selbst erfahrenen Dörfer und Gehöfte, Straßen und Wasserläufe und empfindet in den widergespiegelten Bildern eine sich stets erneuernde
Bezauberung.
88
Die Fotos von Elke Nord berühren durch ihre harten Schwarzweißkontraste; es sind Bilder, aufgebaut
aus geometrischen Figuren, ferner sind da filigranartige Gebilde vor bewegter Wasserlandschaft. Sie
sind nicht schön im Sinne von gefällig, strahlen aber den Reiz des einfachen Sichdarbietens aus. Im
Gegensatz dazu erscheinen die Bilder von Peter Berndt. Es sind die flammenden Kronen der Alleebäume, es sind heitere Tage über Dorfstraßen und Wiesen, es ist schwarzer Regen, der das helle Land
frißt. Seine Farbigkeit ist den märkischen Malern des 19. Jahrhunderts verpflichtet, so etwa die „Fähre
in Caputh". In ihnen erscheint eine fast archaische Welt eingefangen und stilisiert. — Begleitet werden
die Bilder von einfühlsamen und aufschlußreichen Texten. So berichtet Heinz Knobloch vom Oranienburg der Kurfürstin Louise Henriette, und die historische Skizze entfaltet die Problematik, die
eine gegenwärtige wirtschaftliche Erschließung zu berücksichtigen hat: die einst in den Zweckverband eingeschleppte Unausgewogenheit der Interessen von Stadt und Land, die durch Gewerbe und
Handel seit der Randwanderung der Industrie entstanden sind und die schon 1910 nicht mehr harmonisiert werden konnten, die Verzerrung durch den Großraumgedanken von Speers „Germama",
dann durch den wirtschaftlichen Niedergang seit dem Mauerbau, andererseits die Bewahrung historischer Strukturen.
Christiane Knop
Irina Liebmann: „Berliner Mietshaus". Erstausgabe 1982 im Mitteldeutschen Verlag Halle, 1990
Ausgabe der Frankfurter Verlagsanstalt. 196 Seiten.
Der Verlag hat nicht erklärt, warum er eine Veröffentlichung aus der alten DDR von 1982 nach der
Wende erneut publiziert hat, aber auf den zweiten Blick wird ersichtlich, daß in dieser Augenblicksaufnahme ein historisches Bild in der Phase seiner Entstehung vorliegt. Vfh. unternimmt im Auftrag
des Fernsehens eine quasi protokollarische Aufnahme der Lebensgeschichten der Bewohnerschaft in
einer Mietskaserne am Prenzlauer Berg. Getreu der Maxime, die Geschichte eines Hauses sei die
Geschichte seiner Bewohner, entfaltet sie die Vielgestaltigkeit der Schicksale, hält sich aber mit persönlicher Wertung und Stellungnahme völlig zurück, was doppelbödig wirkt, vor allem nach der
Wende. Denn sie beabsichtigt vermutlich, durch Schweigen dem Erzählerischen Freiraum zu verschaffen. In die Selbstdarstellung der Befragten bricht der Stolz auf die Bewältigung vieler Krisen
nach dem Nichts von 1945, auch Stolz auf die erreichte gewisse Vorurteilslosigkeit und das Leben
nach eigenen Kategorien, wie es sich die zweite Generation der DDR geschaffen hat. Das gesellschaftliche Bild der Mieterschaft, Arbeiterschaft und Kleinbürgertum zugehörig, steht im Gegensatz zur
einstigen Hobrechtschen Absicht der sozialen Durchmischung. Es sind hier die eigentlichen Bevorrechteten in der sozialistischen Gesellschaft, aber die klassentypische Erscheinung des Arbeiters beitet sich nicht dar. Ihr Dasein wird als Nutznießertum entlarvt; man hat sich eingerichtet und lebt ohne
Risiko und ohne nach dem Ganzen zu fragen. — Die ältere, die vorsozialistische Generation hat das
Fazit ihrer Lebenserfahrungen in Binsenweisheiten gefaßt und gibt sich damit zufrieden. Vf. kennzeichnet die Essenz ihrer Protokolle als „Darstellung des eignen Spielraums und dessen gelegentliche
Berührung mit der Weltgeschichte, beides im Bratkartoffelgeruch des Alltags". — Diese so bequem
eingerichtete Welt lebt vom Beharren. Wird sie fragwürdig, stellt sich Verdrängungswiderstand ein.
Diese Einsicht hat den Verlag vielleicht zu einer Neuausgabe motiviert.
Christiane Knop
Hans Jürgen Räch: „Die Dörfer in Berlin. Ein Handbuch der ehemaligen Landgemeinden im Stadtgebiet von Berlin", hrsg. von der Akademie der Wissenschaften der DDR, 392 Seiten mit 625 Abbildungen, VEB-Verlag für Bauwesen, Berlin 1988, in zweiter Auflage 1990.
Welcher Westberliner vor der Wende sein heimatkundliches Interesse an der Erkundung der einst
brandenburgischen Dörfer auf Barnim und Teltow auf den Westteil von Berlin beschränken mußte,
kann nun eine vollständige Übersicht über alle Landgemeinden, die 1920 in den Stadtkreis Berlin eingemeindet wurden, gewinnen. Das Handbuch versteht sich als Nachschlagewerk, aufgeteilt in eine allgemeine, historische Darstellung und eine Katalogisierung der Ortsteile von Adlershof bis Zehlendorf, und bietet eine erneute Gesamtberliner sozioökonomische und baugeschichtliche Analyse der
Stadtlandschaft außerhalb der einstigen fünf Städte von 1709. Sie war schon 1988 vor der Wende
erschienen und liegt nun in 2., durchgesehener Auflage vor. Sie basiert auf dem „Historischen OrtsW
lexikon" von Brandenburg, bezieht aber eigene Aufmessungen und Dokumentationen des Verfassers
mit ein, stützt sich ferner auf Aufnahmen des Meßbildarchivs am Institut für Denkmalpflege im einstigen Ostteil der Stadt. — Der Leser kann die Entwicklung der um Berlin herum gruppierten Dörfer
gleichsam in drei Augenblicksaufnahmen verfolgen: am Zustand, den die mittelalterliche Ostbesiedlung (die hier „feudale Ostexpansion" genannt wird) geschaffen hat und den das Landbuch Karls IV.
noch dokumentierte, am Zustand vieler Kolonistenansiedlungen des 18. Jahrhunderts, und schließlich sieht er den Prozeß der Verstädterung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor sich. Es ist
erstaunlich, zu beobachten, wie lange sich die soziale Abstufung erhalten hat. Sie ist noch immer an
den dörflichen Wohnbauten ablesbar. So kann der Leser sich die Sozialgeschichte jedes Dorfes selbst
zusammenstellen, nachdem er den Vorgang und seine bestimmenden Faktoren einmal erkannt hat.
Verfasser ist Volkskundler und lenkt den Blick auf die ländliche Volksarchitektur in ihrem Wandel; er
verweist auf Einzelheiten wie etwa Traufen- oder Giebelstellung, Quergliederung und Raumanordnung der Bauernhäuser, beschreibt ihre Herkunft vom mitteldeutschen Ernhaus. Er verweist ferner
auf Ziegelziersetzungen an Wohngebäuden und Stallungen, Back- oder Waschhäusern, Taubentürmen, auf Fachwerk- und Ziegelbauten, Dorfkirchen und Brücken. In dieser Hinsicht werden die Dörfer im einstigen Ost und West gleichwertig behandelt.
An fast allen Orten läßt sich der Prozeß der Verstädterung ablesen; er ging von der verkehrsmäßigen
Erschließung aus, die mit der preußischen Städteordnung ihren Anfang nahm und Ansiedlung von
Gewerbe, später Industrie, für die Großstadt zur Folge hatte. Viele Dörfer bekamen erst in den Gründerjahren eine zahlreichere Bevölkerung durch Ausflugslokale und Villenkolonien. Verfasser führt
uns die verschiedenartigsten Industriebetriebe vor Augen: Leim- und Palmölsiedereien, Brauereien,
Eiswerke, Anilinfabriken, Krankenanstalten und Rieselfelder, Rennplätze und Güterbahnhöfe,
Direktorenwohnhäuser und Feuerwehren, Kommunalbauten und Schulen, Büdner- und Kossätenhäuser. Er führt — meist anhand alter Fotos — alte Gutshäuser vor Augen, vor allem die spätklassizistischen Wohnhäuser der reichen Bauern aus den Gründerjahren. — Ein Sachworterklärungsteil verdeutlicht die Fachbegriffe aus Architektur und materieller Kultur, Verwaltung und Landwirtschaft. —
Wenn auch unterschwellig eine gewisse Vorliebe für die Ansiedlungszeugnisse der ärmeren ländlichen Schichten und Vorbehalte gegen Villenkolonien und reiche Mietshäuser spürbar sind, so ergibt
sich doch aufgrund des in Ost und West gleichen Gegenstandes eine gleiche Behandlung. Doch hätte
die 1990 durchgesehene Auflage aktualisiert werden müssen; sie spricht noch von „Berlin (West)",
„Hauptstadt der DDR" und „Wohnbedürfnissen der Bourgeoisie".
Christiane Knop
Gerd Koischwitz: „Märkische Geschichte und Geschichten. Zwischen Havel und Oder", 190 Seiten, 68 Abbildungen, Möller Druck und Verlag, Berlin o. J. (1991).
Die Mark Brandenburg zwischen Havel und Oder wird in der vorliegenden Schilderung auf das
Gebiet im Halbkreis um das nördliche und nordöstliche Berlin beschränkt, so, wie es seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert durch Wasserstraßen und Eisenbahnen zu einem Lebens- und Wirtschaftsraum verbunden wurde. Die Erschließung durch Klöster, Städte und ritterliche Siedlungsherren hat
diese Entwicklung vorgebahnt. Im Sinne seiner Heimatforschung der Dörfer, die den Bezirk Reinickendorf ausmachen, hat Verfasser nun den Erfahrungsraum auf das bisher unzugängliche historische Umland ausgeweitet; so entsteht über unterschiedliche geographische Landschaften wie Dünengebiete der Eiszeit, Luchgebiete von Rhin und Havel, Fließtäler und landwirtschaftliche Nutzflächen
hinweg der Eindruck der Einheit in der Vielfalt. Festgemacht an der noch faßbaren Welt der Klöster
wie Chorin und Lindow, der Leistung der Bauern und Kolonisten, der Städter des 13. und 14. Jahrhunderts, wird die materielle Kultur ausgiebig recherchiert, so etwa Hausformen, Wald- und Weidewirtschaft, Bienenzucht, Bierbrauen und Metallverhüttung, aber auch die Fülle anderer Gewerbe und
bäuerlicher Tätigkeiten. In heutigen Kleinstädten wie Liebenwalde, Bernau oder Kremmen wird der
märkische Alltag vergangener Zeiten geschildert. Im Mit- und Gegeneinander der verschiedenen
Gruppen und Stände, im Verlauf der Kämpfe zwischen Landesherren und Ständen und in den wirtschaftlichen Maßnahmen im Staat der Hohenzollern entfaltet sich die ganze Palette der Sozialgeschichte. So ist das Büchlein im besten Sinne dazu geeignet, das Umland neu zu erfahren. — Leider ist
aus manchen älteren Fotos nicht ersichtlich, ob ihre Objekte heute noch auffindbar sind.
Christiane Knop
90
Eingegangene Bücher
— Besprechung vorbehalten
1. Bauhaus Archiv Berlin: Bauhaus Berlin, Auflösung Dessau 1932, Schließung Berlin 1933, Bauhäusler und Drittes Reich, 1985, 301 Seiten.
2 Berlin-Museum — 750 Jahre Berlin: Stadtbilder, Berlin in der Malerei vom 17. Jahrhundert bis
zur Gegenwart. Nicolaische Verlagsbuchhandlung, Berlin, 1987, 576 Seiten.
3. Dieter Blum, Emanuel Eckardt: Das Orchester, die Innenwelt der Berliner Philharmoniker.
Scripta Verlags-Gesellschaft, Stuttgart 1983, 228 Seiten.
4. Iris Demmler: Friedrich Karl von Savigny, Reihe politische Köpfe, Politik. Stapp Verlag Berlin,
1985, Taschenbuch 140 Seiten.
5. Hans Dollinger: Friedrich II. von Preußen. Sein Bild im Wandel von zwei Jahrhunderten. List
Verlag München, 1986, 223 Seiten.
6. Hans-Ulrich Engel: Berlin und die Mark Brandenburg. Eine Erinnerung, Bildband mit 96 Fotografien. Verlag Weidlich, Würzburg, 1987, 116 Seiten.
7. Käthe Frankenthal: Der dreifache Fluch: Jüdin, Intellektuelle und Sozialistin. Lebenserfahrungen einer Ärztin in Deutschland. Campus Verlag Frankfurt/New York, 1981, 320 Seiten.
8. Klaus-Dietrich Gandert: Vom Prinzenpalais zur Humboldt-Universität, Henschelverlag Kunst
und Gesellschaft Berlin, 1986, 200 Seiten.
9. Günther Hahn, Alfred Kernd'l: Friedrich der Große im Münzbildnis seiner Zeit. Ullstein Verlag
Frankfurt-Berlin, 1986, 271 Seiten.
10, Otto Hintze: Die Hohenzollern und ihr Werk 1415—1915. Verlag Paul Parey Hamburg und Berlin, 1987, 704 Seiten.
11. Winfried Hofmann: „Flegels haben Wir genung im lande", Friedrich der Große in Zeugnissen,
Berichten und Anekdoten. Ullstein Verlag Berlin, 1986, 411 Seiten.
12 Norbert Huse: verloren, gefährdet, geschützt, Baudenkmale in Berlin. Argon Verlag Berlin,
1988, Ausstellungskatalog, 374 Seiten.
13. Josef P. Kleihues und Heinrich Klotz: Internationale Bauaustellungen Berlin 1987, Beispiele
einer neuen Architektur. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart, 1986, 283 Seiten.
14. Dorothea Kolland: Zehn Brüder waren wir gewesen. . . Spuren jüdischen Lebens in Berlin-Neukölln. Verlag Editions Hentrich Berlin, 1988, 515 Seiten.
15. Karl-Heinz Metzger, Ulrich Dunker: Der Kurfürstendamm, Leben und Mythos des Boulevards
in 100 Jahren deutscher Geschichte. Konopka Verlag für Architektur Berlin, 1986, 284 Seiten.
16. Gert von Paczensky, Herbert Ganslmayr: Nofretete will nach Hause, Europa-Schatzhaus der
„Dritten Welt". Verlag C. Bertelsmann, München, 1984, 318 Seiten.
17. Herbert Remmert und Peter Barth: Hannah Hoch, Werke und Worte. Verlag Frölich & Kaufmann Berlin, Ausstellungskatalog 1982, 147 Seiten.
18. Helmut Richter: Berlin, Aufstieg zum kulturellen Zentrum. Ferd. Dümmels Verlag Bonn, 1987,
180 Seiten.
19. Jutta von Simson: Der BUdhauer Albert Wolff, 1814-1892. Gebr. Mann Verlag Berlin, 1982,
255 Seiten.
20. Wolfgang Schäche: Ludwig Hoffmann, Stadtbaurat von Berlin 1896—1924, Lebenserinnerungen eines Architekten. Gebr. Mann Verlag Berlin, 1983, 394 Seiten.
91
Veranstaltungen im IV. Quartal 1992
1. Freitag, den 30. Oktober 1992,15 Uhr: Geführte Besichtigung der Domäne Dahlem und
des Museums im Haus. Gruppen-Eintrittspreis 1,50 DM pro Person. Treffpunkt auf dem
Hof. Fahrverbindungen Dorfaue Dahlem, U-Bhf. Dahlem-Dorf.
2. Mittwoch, den 11. November 1992, 15 Uhr: Fachführung zur Restaurierung des Reiterstandbildes Friedrich Wilhelms IV. vor der Alten Nationalgalerie. Treffpunkt Lübarser
Straße, Tor 3, Wittenau. Telefonische Anmeldungen wegen der beschränkten Teilnehmerzahl erforderlich. Nur diese können berücksichtigt werden. Anmeldungen unter
8 54 5816 ab 19 Uhr bis zum 5. November. Fahrverbindungen S-Bahnhof Wittenau,
Nordbahn.
3. Freitag, den 20. November 1992,18 Uhr: Führung durch die Ausstellung „Neue Welten —
neue Wirklichkeiten. Amerika von 1492 bis 1992". Leitung: Frau Dr. Elke Ruhnau. Treffpunkt im Foyer des Martin-Gropius-Baues. Der Eintrittspreis ist bitte von den Mitgliedern zu entrichten.
4. Donnerstag, den 26. November 1992, 16.30 Uhr: Führung durch die Ausstellung des
Landesarchivs „Platz der Republik — Vom Exerzierplatz zum Regierungsviertel". Leitung: Herr Dr. Uwe Schaper. Treffpunkt in der Halle des Landesarchivs Berlin, Kalckreuthstraße 1/2, Berlin 30.
5. Freitag, den 4. Dezember 1992,16 Uhr: Adventskaffee im St.-Michaels-Heim, Bismarckallee 23 in Berlin 33. Telefonische Anmeldungen unter 854 5816 ab 19 Uhr bis zum
28. November 1992. Treffpunkt Raum 014/015.
Bibliothek: Berliner Straße 40, 1000 Berlin 31, Telefon 87 2612. Geöffnet: mittwochs 16.00 bis
19.30 Uhr.
Vorsitzender: Hermann Oxfort, Breite Straße 21, 1000 Berlin 20, Telefon 3 33 2408.
Geschäftsstelle: Frau Ingeborg Schröter, Brauerstraße 31, 1000 Berlin 45, Telefon 7723435.
Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Bemdt, Seestraße 13, 1000 Berlin 65, Telefon 45 0 9 - 2 64.
Schatzmeisterin: Frau Ruth Koepke, Temmeweg 38, 1000 Berlin 22, Telefon 3 65 76 05.
Konten des Vereins: Postgiroamt Berlin (BLZ 10010010), Kto.-Nr. 433 80-102, 1000 Berlin 21;
Berliner Bank AG (BLZ 100 200 00), Kto.-Nr. 03 81801200.
Die Mitteilungen erscheinen vierteljährlich. Herausgeber: Verein für die Geschichte Berlins, gegr.
1865, Schriftleitung: Günter WoUschlaeger, Kufsteiner Straße 2, 1000 Berlin 62; Dr. Christiane
Knop, Rüdesheimer Straße 14, 1000 Berlin 28; Beiträge sind an die Schriftleiter zu senden.
Abonnementspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag gedeckt. Bezugspreis für Nichtmitglieder: 16 DM
jährlich.
Herstellung: Westkreuz-Druckerei Berlin/Bonn, 1000 Berlin 49.
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Schriftleitung.
92
A 1015 F
MITTEILUNGEN
DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS
GEGRÜNDET 1865
89. Jahrgang
Heftl
Januar 1993
*^°Ä"°'M
WfeÄ,
Der Berliner Schriftsteller August Friedrich Cranz (1737-1801)
im Kreis seiner Familie
August Friedrich Cranz.
Ein preußischer Kriegsrath als freier Schriftsteller
Nachricht von einem merkwürdigen Zensurfall aus dem Jahre 1782
Von Dieter Reichelt
„Du gütiger Monarch! auch ich verdank es Dir,
Daß nicht der Kerker mir die Freyheit raubte,
Als frey zu denken sich mein Geist erlaubte;
Als ich nach Potsdam floh, zu Dir —
Ein Königliches Wort gab Freyheit mir,
Gab mir das Glück, daß ich, geschützt von Deinem Throne,
Noch ungekränkt und ruhig wohne;
Oh schütze ferner mich — bey jedem Mißverstand.
Nur wo Du herrschest, ist mein wahres Vaterland."
Diese Verse, an die nicht das klassische Maß angelegt werden darf (sie sind mehr von inhaltlichem Interesse), sind enthalten im 8. Stück der Berlinischen Correspondenz vom 3. Januar
1783. Herausgegeben wurde diese Zeitschrift von dem Preußischen Kriegsrath August Friedrich Cranz, der seit 1779 in Berlin als freier Schriftsteller wirkte. Er veröffentlichte seitdem
Unterhaltungsliteratur unterschiedlicher Art als sogenannte periodische Schriften, Wochenschriften, Broschüren, Fliegende Blätter in einem Umfange von oft nur 16 Druckseiten, meist
im Oktav-Format zu niedrigen Preisen bei kleineren Berliner Verlegersortimentern, wie Ch. L.
Stahlbaum, S. F. Hesse, oft aber auch „Auf Kosten des Verfassers", das heißt im Selbstverlag.
Dabei erhielt er viel Beifall von einem Publikum, das seit etwa 1770 ein verändertes Leseverhalten zeigte. Während in den Jahrzehnten, eigentlich Jahrhunderten, vorher die Bibel, Katechismus, Gesangbuch, Erbauungsschriften, auch Volkskalender u. ä. die Hauptlesestoffe breiterer Bevölkerungskreise waren, die immer wieder zu Rate gezogen wurden, entwickelte sich
im letzten Drittel des 18. Jh. seine sogenannte extensive Lektüreweise. Es wurden immer
wieder neue Stoffe als Romane, Unterhaltungsschriften der verschiedensten Art, oft auch als
Periodika, gelesen, wobei verstärkt auch neue soziale Schichten, Handwerker, Bedienstete,
Manufakturarbeiter, auch Frauen, als Leser in Erscheinung traten.1
Cranz hatte in Berlin Zensurfreiheit erlangt, diese aber nach einiger Zeit wieder verloren. Wir
wollen im folgenden auf diese Seite seines Schaffens etwas näher eingehen, unter Heranziehung bisher nicht veröffentlichter handschriftlicher Quellen sowie seltener Drucke dieses
Autors.2 Uns interessiert vor allem die Beantwortung zweier Fragen: 1. auf welche Weise
erlangte er Zensurfreiheit, und welche Auswirkungen ergaben sich daraus, und 2. wie hat er sie
wieder verloren und welche Folgen waren damit verbunden?
1 Zur Zensurfreiheit von August Friedrich Cranz in der Zeit von 1779 bis 1782
In seiner Studie „Die Freiheit der öffentlichen Meinung unter der Regierung Friedrichs des
Großen" schreibt Franz Etzin in bezug auf die seit dem 1. Juni 1772 gültige neue Ministerialverordnung, die das Zensuredikt von 1749 abgelöst habe: „Unter der neuen Verordnung für
die Buchzensur kam es auch vor, daß einzelnen Leuten völlige Freiheit der Meinungsäußerung
94
Abb. 1:
Druckerlaubnis durch
Friedrich II. für die periodisehen Blätter von Cranz
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für die von ihnen zu veröffentlichenden Werke zugesichert wurde. Es ist nicht ersichtlich, durch
welche Mittel sie zu diesem Sonderrecht gelangten. Nur besonderes Vertrauen des Königs oder
der verantwortlichen Minister kann ihnen dazu verholfen haben. Einer solchen Freiheit
erfreute sich der Kriegs- und Steuerrat Heinrich Crantz."3 Bereits Zeitgenossen berichteten,
daß Cranz unter dem Schutz Friedrichs gestanden habe. Der bekannte Berliner Aufklärer
Friedrich Gedike geht in der Berlinischen Monatsschrift auf die Dominanz der Aufklärung und
die Beweise für die Meinungsfreiheit in Berlin ein und verweist darauf, daß diese Freiheit teils
sogar durch den ausdrücklichen Befehl des Monarchen erwirkt wurde, womit eine spezielle
Kabinettsordre von Friedrich gegenüber Cranz, und zwar die vom 28. November 1782 gemeint
sein dürfte.4 Die eingangs zitierten Verse von Cranz beziehen sich unmittelbar auf die Entscheidung Friedrichs des Großen vom 28. November 1782, wir kommen noch darauf zurück.
95
1.1 Zur Erteilung der Zensurfreiheit
Cranz hatte sich Anfang September 1779 mit einem Antrag an den König gewandt. Er wurde
von Friedrich am 6. September 1779 (vgl. Abb. 1) positiv beschieden, zunächst so, daß dem
Kriegsrath Cranz „wohl erlaubet werden kann, seine periodischen Blätter, wovon ein Stück
hierbey liegt, ferner drucken zu lassen .. ."5 Der Kriegsrath Schlüter als der von der Sache her
zuständige Zensor wurde von dem Etats-Minister von Münchhausen über diese Kabinettsordre des Königs mit Schreiben vom 8. September 1779 unterrichtet. Am 13. September geht
Münchhausen auf die Zensurfreiheit direkt ein. In einem Schreiben an Schlüter (Abb. 2) heißt
es: „In Folge der Cabinets-Ordre vom 6. Sept. sind des Kriegsraths Cranz periodische Blätter
von der Censur befreyet.. ."6
1.2 Beweggründe und Folgen der Zensurfreiheit
Zunächst verdient hervorgehoben zu werden, daß die Initiative von Cranz selbst ausging. In
seiner Unterhaltungsschrift „Meine Lieblingsstunden in Briefen", 2 Bände, die 1781 bei dem
bereits erwähnten Berliner Buchhändler Ch. L. Stahlbaum erschienen sind, hat er sich ziemlich
klar zur Zensur geäußert. In seiner „Vorrede zum zweyten Theil", geschrieben am 27. August
1779, geht er in dieser Frage davon aus, daß es der Zensor nicht einfach hat. „Es ist ein gar zu
epinenses Amt Zensor zu seyn. Wenn einmal Zensur da ist, wer soll ihre Grenzen bestimmen?"
Cranz stellt fest, daß der Zensor „arm ist", er aber als Autor lieber selbst die Verantwortung
übernehmen möchte. „Mag lieber was ich thue und schreibe bey meinen Obern selbst verantworten. Um also niemand meiner Schriften wegen in Unruhe zu lassen, suchte ich — in dem
Bewußtseyn der treuesten Ergebenheit gegen die Gesetze des Staats die unmittelbare allerhöchste Königliche Protektion und Erlaubniß auf meiner eigenen Verantwortung, meine periodischen Schriften ungehindert fortsetzen zu dürfen."7 Cranz wollte sich in seinem schriftstellerischen Schaffen die besten Bedingungen, eine möglichst große Unabhängigkeit, sichern.
Dieses Ziel glaubte er im wesentlichen durch drei Schritte zu erreichen: 1. Verzicht auf sein
Amt als Kriegs- und Steuerrath und Aufnahme einer Tätigkeit als freier Schriftsteller in Berlin8, 2. Erlangung der Druck- und Zensurfreiheit und 3. Tätigkeit nicht nur als Autor, sondern
gleichzeitig als Herausgeber, als „Selbstverleger", in der Kombination der Herausgabe von
Zeitschriften und periodischen Blättern. Cranz vertraute sich damit in einem starken Maße
dem sich auch in Berlin herausbildenden modernen Buchmarkt an; er ging ein sehr hohes
unternehmerisches Risiko ein, auch finanziell, indem er hohe Kredite zur Selbstfinanzierung
aufnahm. Dieser sehr eigenwillige Autor wollte viel schreiben und „nicht nach Art der privilegirten Journalisten ankündigen, was vorgeschrieben wird, sondern wie ichs finde" .9 „Mein Plan
war, auffallende Dinge zu schreiben, um das Publikum stark in Contribution zu setzen — weil
ich Geld brauchte."10 Gerade deshalb, sowohl aus Gründen der „Brodschreiberei" als auch
weil er glaubte, daß der Schriftsteller ein natürliches Recht auf Meinungs-, Zensur- und Pressefreiheit habe, wollte er Zensurfreiheit haben. „Ich habe sie erhalten, diese nie genug zu verehrende allerhöchste Protektion des besten der Könige, und unter diesen glorieusen Schutz, unter
dem milden Schatten der königlichen Huld athmet mein Geist edle Freyheit des wahren
Mensch. Meine Brust schläft sanfter."11
Aus der Sicht des Königs lag 1779 nichts vor, was eine ablehnende Haltung bedingt hätte,
zumal er bereits in einer viel früheren Zeit, in den vierziger Jahren, einen solchen Versuch bei
Ambrosius Haude gestartet hatte und das Bestreben von Cranz auch ganz in der Denkart
96
Abb. 2:
Zensurbefreiung für die
periodischen Blätter durch
den Etats-Minister
von Münchhausen
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Friedrichs lag: „Was mich betrifft, so wünsche ich ein edles, kühnes, freidenkendes Volk zu
beherrschen, ein Volk, das Macht und Freiheit hätte, zu denken und zu handeln, zu schreiben
und zu sprechen ..." 1 2 Warum sollte man bei einem Kriegsrath, der noch dazu in Cleve tätig
gewesen war, eine solche Vergünstigung nicht ermöglichen? Die Formulierung, daß dem
Kriegsrath Cranz „wohl erlaubet werden kann", deutet darauf hin. Cranz war während seines
ersten Aufenthalts in Berlin Hauslehrer beim Grafen Solms, und er soll seine Stelle als Kriegsund Steuerrath in Cleve auf dessen Empfehlung erhalten haben. Möglicherweise gab es auch
bei der Erteilung der Zensurfreiheit eine befürwortende Stellungnahme der Familie Solms. In
dem Freiherrn von Münchhausen hatte Cranz jedenfalls einen Minister, der dem König sehr
nahestand und dem Antrag wohlwollend gegenüberstand.
Allerdings darf dabei nicht vergessen werden, daß Cranz trotz der ihm erteilten Zensurfreiheit
dennoch unter Kontrolle stand, keine „völlige Freiheit der Meinungsäußerung" hatte, wie
Etzin schreibt, denn genaugenommen war er nur von der Vorzensur, nicht aber von der Zensur
überhaupt befreit. Münchhausen teilte dem Zensor Schlüter am 13. September 1779 aus97
drücklich mit, daß „Cranz vor dem Inhalt verantwortlich bleibet".13 Schlüter war ein von seinem Amt äußerst besessener Zensor, und er machte von Anfang an auch aus seiner ablehnenden Haltung gegenüber der erteilten Zensurfreiheit kein Hehl. Er beklagte, daß er nunmehr
keine einheitliche Zensorennorm mehr habe und andere Autoren dann ebenfalls Forderungen
stellen könnten. Da Cranz und Schlüter offensichtlich sehr unterschiedliche Auffassungen über
Schriftstellerei hatten und sie sich zudem rein subjektiv mit äußerster Antipathie gegenüberstanden, kam es von Anfang an zwischen den beiden Kriegsräthen zu Spannungen und zu zahlreichen Auseinandersetzungen.14
Anfangs wirkte sich die Zensurfreiheit für Cranz als durchaus positiv aus. Er konnte viel publizieren, und da er in seiner Schreib-Art die freie Denk-Art des Königs nutzte, erregte er Aufmerksamkeit. Die Nachfrage nach seinen Schriften stieg; er hatte auch gute Einnahmen, wie er
glaubhaft berichtete. „Ich hatte von Anbeginn meiner Schriftstellerschaft das Glück gehabt,
daß alles, was ich drucken ließ, häufig verkauft, und viel gelesen wurde." a Zugleich rief Cranz
mit seiner Vielschreiberei, der ungewöhnlichen Art, wie er schrieb, und der öffentlichen Verkündung, daß er von der Zensur befreit sei, verschiedene Widersacher auf den Plan. Cranz
berichtet, daß er sich viele Feinde gemacht habe, „daß Männer von Wichtigkeit und Einfluß
sich ganz ernstlich auf die Lauer legten mich zu verderben, mich selbst bey der ersten Gelegenheit um der von Sr. Königl. Majestät Allerhöchst verliehenen Censurfreyheit zu bringen,
Bedacht nähmen; daß Männer, die mit Christenthum und Wohldenkenheit viel Parade
machen, mir Gruben bereiteten — und ihre Schleuder mit Steinen luden, um mir solche an den
Kopf zu werfen".16 Es scheint, daß vor allem zwischen gleichgelagerten Autoren, Wochenschriftenschreibern, in Berlin ein erbarmungsloser Konkurrenzkampf geführt wurde. Da die
Gegner von Cranz, die allerdings nicht nur unter Autoren zu suchen waren, zunächst nichts
Genaues über die verliehene Zensurfreiheit wußten, waren sie am Anfang vorsichtig, zumal
einige „Berichterstattungen" über Cranz am Hofe bei Friedrich keinen Anklang fanden. „Laß
er ihn immer schreiben, das müssen wir uns alle gefallen lassen", so etwa soll der König geantwortet haben.17 Daß es Versuche gab, den Konkurrenten Cranz zu vernichten, wurde vor allem
sichtbar, als gegen ihn 1782 zwei anonyme Schmähschriften veröffentlicht wurden. Daraufhin
strengte Cranz einen Injurienprozeß gegen Schlüter an, der nach seiner Meinung seine Pflichten als Zensor verletzt habe, indem er diese Schriften habe unzensiert durchgehen lassen. Der
Drucker hatte bei Schlüter tatsächlich angefragt, ob er so etwas drucken könne, und aus den
Akten ist zu entnehmen, daß der Zensor dagegen keine Einwände hatte; sogar von einer
Ermunterung des Druckers ist die Rede. Möglicherweise hat der Zensor mit den Pasquillanten
zusammen gearbeitet.18 Obwohl der Injurienprozeß schließlich nicht zustande kam, hatte aber
das Ansehen von Cranz durch die Schmähschriften gelitten. Die Rufmord-Campagne gegen
Cranz, wozu er allerdings auch selbst durch falsches Verhalten beigetragen hatte, nahm ihren
Lauf. Man muß bei ihm zwischen subjektiven und objektiven Faktoren unterscheiden. Rein
subjektiv war sein Vorgehen insofern kritikwürdig, als er zwar auf die neuen Möglichkeiten,
die sich aus der Herausbildung des modernen Büchermarktes ergaben, sehr wagemutig einstieg, er aber mit Geld im unternehmerischen Sinne überhaupt nicht umgehen konnte, so daß
er bei seinen Kreditoren deshalb zunehmend in Mißkredit geriet. Objektiv betrachtet hatte sich
Cranz mit seinen Unterhaltungsschriften von der in Berlin dominierenden Art der Literatur in
Gestalt der Moralphilosophie abgesetzt. Er war ein herausragender Vertreter des sich in dieser
Stadt neu entwickelnden Unterhaltungsschrifttums unterhalb der Popularphilosophie, und er
entsprach damit durchaus den neuen Bedingungen des Buchmarktes, vor allem in bezug auf
Unterhaltung. Da er in seine Stücke oft kritische Untertöne, Charlatanerien u. ä. „nur so
nebenbei" mit einfließen ließ und nicht wie etwa Wieland und Nicolai die Mittel der Verfrem98
Abb. S.Instruktion des Königs
an den Minister von Münchhausen über die Vorgehensweise gegenüber Cranz
dung nutzte, mitunter sogar ziemlich deutlich adressierte, stieß er jedoch auf die Schranken der
Zeit. Besonders deutlich wurde dies, als das „Erneuerte Censur-Edict" von 1788 erlassen
wurde, in dem „sogenannte Volksschriften" scharf kritisiert wurden; man kann mit Sicherheit
feststellen, daß die Cranzschen Schriften für die diesbezüglichen Passagen Modell gestanden
haben. Aber auch die Berliner Aufklärer kritisierten die Fliegenden Blätter von Cranz, weil sie
nach ihrer Auffassung „keinen edlen Zweck verfolgten, nicht nützlich" seien, obwohl sie beim
Publikum sehr gefragt waren. Cranz konterte immer damit, daß Unterhaltung durchaus nützlich sei: „Das Urtheil des Publikums, nicht einzelne, sondern die meisten Stimmen der wirklichen Leser, werden mir zum Barometer dienen." „Indessen kenne ich zu meiner Befriedigung
viele vernünftige Leser die den Nutzen mancher vergnügten Stunde von meinen Schriften
gehabt haben."19
2 Verlust der Zensurfreiheit und Folgen
Die ständigen Reibereien, die Cranz seit der Erlangung der Zensurfreiheit mit dem für
Wochenschriften und periodische Blätter zuständigen Zensor Kriegsrath Schlüter hatte, die
aber meist nicht an die Öffentlichkeit kamen, aber auch mit strenggläubigen Lutheranern oder
Pietisten, traten in dem Moment offen zutage, als er dazu überging, seit November 1782 die
Berlinische Correspondenz herauszugeben. Obwohl es sich bei dieser Zeitschrift um eine
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Wochenschrift handelte, kam sie vom Inhalt, ihrer Themenstruktur, Machart, Funktion und
Wirkung sehr stark in die Nähe einer Tageszeitung. Waren für die beiden einzigen Berliner
Tageszeitungen, die 1721 gegründete „Berlinische privilegierte Zeitung", die spätere „Vossische Zeitung", und die 1746 gegründeten „Berlinischen Nachrichten von Staats- und Gelehrtensachen", die unter dem Namen „Haude-Spenersche Zeitung" bekannt wurde, die Zensurbestimmungen ohnehin bereits schärfer als bei Büchern, Broschüren, so kam für die Berlinische Correspondenz von Cranz noch verschärfend hinzu, daß der Herausgeber über Berlin
unterhaltsam und zugleich räsonierend berichten wollte, wobei er sich auch auf das Feld der
Politik wagte. „Um die neuesten Revolutionen in den europäischen Staaten einem jeden verständlich zu geben, werde ich Beschreibungen von Staaten, von Verfassungen und die
Geschichte derselben in gedrungener Kürze voranschicken, und mir politische Raisonnements
erlauben, um richtige Einsicht in allgemein interessirende Begebenheiten zu befördern."20
Bereits im 1. Stück vom 15. November 1782 gab er von dieser Zielstellung eine Probe, in dem er
ein Urteil des Berliner Cammergerichts über den in Berlin sein Unwesen treibenden „neuen
Messias" Rosenfeld, wir würden heute sagen, „erörterte". Obwohl er diesen Menschen offenbar für ein schädliches Mitglied der Gesellschaft hielt, auch das Urteil hielt er für gerecht,
bemängelte er die Begründung: „ . . . aber die Gründe des Referenten sind kein Kompliment
für ein Zeitalter, dem man in mehr als einem Betracht zuviel Ehre erweiset, wenn man ihm nicht
einen neuen Thomasius wünschen sollte, um die Erleuchtung selbst in Gerichtshöfen zu befördern."21
Daraufhin kam es am 25. November zu einem heftigen Protestschreiben des Berliner Cammergerichts an den König, mit dem Vorschlag „dem Hoffiscal Behrends den Auftrag zu thun, den
Crantz wegen dieser . . . aufrührerischen, in öffentlichen Blättern angebrachten Critique sofort
zur Verantwortung zu ziehen, und dem Landreuter aufzugeben, den Crantz .. . zur Hauß Vogtey abzuliefern".22 Schon am nächsten Tag stellte der General-Fiscal einen Haftbefehl aus, dem
sich Cranz jedoch durch die Flucht nach Potsdam entzog. Hier überreichte er dem König seine
Petition. Dieser erließ am 28. November die folgende Cabinettsordre. Wir zitieren hier die
Bayreuther Zeitung Nr. 149 vom 3. Dezember 178223:
„Der Kriegsrath Cranz, der bekannte Berlinische Schriftsteller, fährt noch immer fort, das hiesige Publikum mit seinen kleinen periodischen Werken voll beißender Satyre zu amüsieren,
sich aber auch öfters manchen Verdruß damit selbst zuzuziehen. Seine Kritic im ersten Stück
seiner Berlinischen Correspondenz ist ein neuer Beweis davon. Da er geglaubt, das von dem
Criminal-Senat des Kammergerichts gesprochene Urteil über den letzhin ausgepeitschten vorgeblichen neuen Messias sey nicht philosophisch genug abgefaßt, so nimmt er den Referenten
desselben darüber heftig durch. Es war aber andern, daß Herr Cranz durch den Fiscus deshalb
sollte arretiret werden, wenn er nicht die Flucht ergriffen und sich nach Potsdam begeben hätte.
Hier überreichte er dem Monarchen seine Vorstellung und bittet um Schutz wider seine Ankläger. S. Majestät haben ihm aber darauffolgende merkwürdige Cabinetts-Resolution ertheilen
lassen: ,So lange der Kriegsrath Cranz zu Berlin sich in seinen Schriften in denjenigen Schranken, die ein jeder ehrliebender Mann beobachten muß, halten und nichts darinn einfließen lassen wird, was wider den Staat, eine aufgeklärte und vernünftige Religion und die guten Sitten
läuft, so lange wird ihn auch der König bey der ihm bewilligten Censurfreyheit schützen. Zu
dem Ende haben Se. Majestät den Befehle an den Staatsminister von Münchhausen für diese
Freyheit nicht nur erneuert, sondern Sie haben ihm auch zugleich befohlen, ihn wegen seiner
neuerlichen periodischen Schrift wider allen Anfall und Gefangenschaft in Schutz zu nehmen.
Se. Majestät erwarten nun aber auch Ihrer Seits, daß er diese Freyheit nicht mißbrauchen, und
seine beißende Feder so in dem Zaum halten werde, damit Sie sich nicht genöthigt sehe, diese
100
Abb. 4:
Schreiben der Minister von
Finckenstein und von Hertzberg an den König in der
Angelegenheit der „Österreichischen Charlatanerien" mit
der Marginal-Ordre vom
4. Dez. 1782
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Freyheit wieder aufzuheben, und andere scharfe und für ihn empfindliche Verfügungen ergehen lasse.
Potsdam, den 28. November 1782
Friederich."
Äußerst wichtig ist dabei ein Kabinettsschreiben des Königs vom selben Tage an den Minister
von Münchhausen (vgl. Abb. 3), weil in ihm die Haltung Friedrichs zu Cranz noch etwas deutlicher als in der Cabinettsordre sichtbar wird: „Mein lieber Staats Minister von Münchhausen.
Der Kriegs-Rath Crantz soll auf die Original-Anlage so wenig in seiner ihm ertheilten CensurFreyheit beeinträchtigt, als wegen seiner beygelegten periodischen Schrift von jemand beunruhigt werden. Ich will vielmehr, daß Ihr Ihn dagegen, so oft er nichts wider den Staat, eine vernünftige Religion, wahre Tugend, und gute Sitten, schreibt, jedesmal schützen sollet, jedoch
habe Ich ihn bey dieser Gelegenheit gewarnet, daß er nicht allzu naseweis seyn möchte, sonsten
er doch einmal anlaufen, und seine beißende Schreib-Art ihm Ungelegenheiten zuziehen
könte. Ich überlaß obiges Eurer Verfügung und bin Euer wohl affektionirter König.
Potsdam den 28ten November 1782
Friedrich".24
101
Daraus geht klar hervor, daß Cranz beim König unmittelbar vorgelassen wurde und von ihm
direkt Ratschläge erhielt. Der König verwies ihn dann an Münchhausen, der das weitere veranlaßte.
Merkwürdig an diesem Zensurfall ist einmal die erlassene Cabinetts-Ordre. Cranz wurde also
nicht, wie vom Cammergericht vorgeschlagen, inhaftiert, sondern die Zensurfreiheit wurde
erneuert und der Minister von Münchhausen sogar mit seinem Schutz beauftragt. Eigentlich
noch merkwürdiger wird der „Zensurfall Cranz" aber dadurch, daß der Befehl des Königs nach
nur einer Woche, am 4. Dezember 1782, bereits wieder aufgehoben wurde und Cranz seit dem
6. Dezember 1782, nicht erst 1783, wie Etzin feststellt, der üblichen Zensur unterworfen wird,
verbunden auch mit Auswirkungen auf das gesamte Berliner Buchwesen. Wie kam es zu einer
so schnellen Veränderung?
Cranz hatte in dem 2. Stück seiner Berlinischen Correspondenz, das vermutlich am
22. November erschienen war25, angekündigt, daß er über die von Kaiser Joseph II. seit 1780
eingeleiteten Reformen berichten will. Es heißt bei ihm: „Anfrage des Verfassers an seine
Leser. Seit dem Antritt der Regierung Kayser Josephs des zweyten, sind alle öffentlichen Blätter von den neuen Reformationen und treflichen Anordnungen, welche in den österreichischen
Erbländern vorgenommen werden, angefüllt... Meine darüber erhaltene Originalnachrichten bin ich nicht abgeneigt, unter dem Titel: Oesterreichische Realitäten und Charlatanerien
öffentlich herauszugeben, und solche mit freyen Raisonnements für das Publikum in Wien und
Prag Stückweise drucken zu lassen." Er fragt an, ob das hiesige Publikum am Besitz solcher
Nachrichten interessiert ist, und er bittet um Subscription beim Buchhändler Stahlbaum an der
Stechbahn.26 Damit begab er sich auf ein für Brandenburg-Preußen äußerst sensibles Gebiet,
die Beziehungen zu Österreich bzw. zum Kaiser in Wien. Von der Zensur her war dafür das
Außenministerium zuständig. Finckenstein und Hertzberg wandten sich mit Schreiben vom
4. Dezember 1782 (vgl. Abb. 4) an den König, machten auf die Konsequenzen einer derartigen
eventuellen Veröffentlichung aufmerksam und sagten außenpolitische Verwicklungen voraus.
„Wir glauben, daß es unsere Pflicht ist, Ihrer Majestät zu berichten, daß der besagte Kriegsrath
Cranz offensichtlich zum Nachteil der Interessen des Staates die Zensurfreiheit, die ihm
gewährt wurde, mißbraucht hat." Bemängelt wird, daß der Autor seinem Publikum verspricht,
„besondere Begriffe seiner Einschätzung zu den Reformen des Kaisers zu geben . . . Der Titel
Charlatanerien enthält schon eine Beleidigung gegen die Regierung des Kaisers, und dieser
wird nicht zögern, Genugtuung zu fordern . . . Schließlich haben wir Grund zu der Vorhersage,
daß dieser Mensch Ihre Majestät kompromittieren wird bei allen Höfen und daß wir nicht mehr
wissen werden, was wir auf deren Klagen antworten sollen."27 Der Schaden, der dadurch entsteht, ist dann im nachhinein durch eine bloße Bestrafung nicht immer zu reparieren, schreiben
sie am 7. Dezember.28 Die Randnotiz des Königs zum Schreiben vom 4. Dezember lautete: „il
faut les soumettre ä la Critique . .. ne permettre l'Impression que des choses, qui ne choquent
point les Prussames de l'Europe. Frederic."29 Bezugnehmend auf diese Marginal-Ordre Friedrichs vom 4. Dezember teilten Finckenstein und Hertzberg am 6. Dezember Cranz mit, daß er
nunmehr wieder der Zensur unterworfen sei. Ihm wurde eine solche Veröffentlichung bei Strafandrohung untersagt und genau vorgeschrieben, im doppelten Sinne, daß und wie er zu widerrufen habe.30 Der Autor wandte sich wieder an den König und beschwerte sich über die Vorgehensweise des auswärtigen Departements, hatte damit aber keinen Erfolg. Da das 2. Stück, der
Stein des Anstoßes, bei seinem Aufenthalt in Potsdam am 21.12%. November höchstwahrscheinlich bereits vorgelegen haben dürfte, als der Monarch die Zensurfreiheit von Cranz
erneuerte, kann man vermuten, daß wir es hier mit unterschiedlichen Herangehensweisen in
bezug auf Zensurbedingungen zu tun haben, denn immerhin ist in der Marginal-Notiz des
102
.
Abb. 5:
Special Befehl zur Zensurerneuerung an sämtliche
Berliner Buchhändler und
Buchdrucker vom
4. Dez. 1782
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Königs von einer Mißbilligung nicht die Rede. Im Gegenteil: Wir interpretieren die Notiz so,
daß Friedrich bei entsprechender Kritik oder Zensur durchaus für eine Veröffentlichung war.
Auch ein Schreiben von Finckenstein und Hertzberg an Münchhausen vom 7. Dezember deutet in diese Richtung wie die Entscheidungsalternativen, die bereits im Schreiben vom
4. Dezember benannt werden (vgl. Abb. 4). Zweifellos waren die von Finckenstein und Hertzberg gegenüber Cranz eingeleiteten Maßnahmen sowohl durch die Cabinetts-Ordre des
Königs vom 28. November als auch durch die mehr oder weniger allgemein gehaltene Randnotiz vom 4. Dezember gedeckt, aber es scheint, daß Friedrich zwar für eine mehr „kontrollierte Publikationspolitik", nicht aber für Verbot, Wegnahme der Zensurfreiheit u. ä. gegenüber einem Mann wie Cranz war, der „seine Berliner" immerhin oft auf recht groteske Weise
zum Lachen brachte; zumal dieser Wochenschriftenschreiber zwar auch manche Handlungen
von Staatsdienern, auch Ministern, respektlos offenlegte, er aber ein überzeugter Anhänger
der brandenburg-preußischen Monarchie war. Welche Widersprüche der viel zitierte Begriff
„aufgeklärter Absolutismus" einschließt: am Zensurfall Cranz kann die diesbezügliche Problematik in Reinkultur studiert werden. Im Rückblick aus dem Jahre 1790 machte Cranz in
103
bezug auf diesen Zensurfall eine sehr interessante Feststellung: „Bis dahin rechnete ich allein
auf den großen, allein herrschenden König, dachte nicht auf den Einfluß der Mächtigen, die
dem souverainsten Willen andere Richtung geben können — und fügte mich in die Umstände —
mußte sich der große König doch auch fügen!"31
Was den ihm wörtlich vorgegebenen Widerruf betraf, so mußte er ihn in seine Zeitschrift aufnehmen. Allerdings brachte er zahlreiche nicht von der Hand zu weisende Argumente an, die
für eine solche Veröffentlichung sprachen und begründete sein Vorhaben auch dem König
gegenüber. Er schreibt u. a.: „An der mir marquirten Königl. Ungnade bin ich unschuldig. So
lange Schlözers Briefwechsel und Staatsanzeigen hier öffentlich debitirt werden, so lange
Büsching seine Materialiensammlung zur neueren Geschichte öffentlich herausgiebt und die
hießigen Zeitungen Beweise enthalten daß Kaiserliche Verfügungen und Reformen um alte
Mißbräuche abzustellen auch von hießigen Landeseinwohnern ohne Verbrechen gewußt werden dürfen, so lange waren die Nachrichten, welche ich unter dem Titel: Oesterreichische Realitäten und Charlatanerien ankündigte die unschuldigste Sache von der Welt..." 32 Wenn er in
seiner Berlinischen Correspondenz allerdings feststellte, daß „kein Gesetz existirt, wodurch die
Geschichte des laufenden Zeitalters, außer den Grenzen des brandenburgischen Vaterlandes,
zu kennen verboten wäre"33, so irrte er insofern, da im Zensuredikt von 1749 Formulierungen
enthalten waren, die in ihrer Allgemeinheit — nichts wider den Staat zu veröffentlichen, durchaus im Sinne eines Verbotes ausgelegt werden konnten. Und dieses Zensuredikt von 1749, die
Grundsubstanz, war auch 1782 noch voll gültig, nicht, wie Etzin meint, das von 1772. Hier handelte es sich um eine wichtige Präzisierung, nicht aber in bezug auf die drei klassischen Zensurgrenzen. Tatsächlich waren die außenpolitischen Argumente so stark, daß Cranz in diesem Fall
nicht recht behielt. Richtig ist, daß in den achtziger Jahren in Brandenburg-Preußen, speziell in
Berlin, viel über die Reformpolitik Josephs II. veröffentlicht wurde; in der gelehrt-wissenschaftlichen und auch in der popularphilosophischen Form war das möglich. Daß es bei Cranz
zu einem Verbot kam, lag hauptsächlich auch daran, daß dieser Autor, oft Satirenschreiber,
sehr eigenwillig und kaum berechenbar war. Seine populär-unterhaltsame Schreibweise
erreichte auch Handwerker, breitere Schichten.
Erfolgreich waren die Bemühungen von Cranz, von dem Zensor Schlüter befreit zu werden,
der offiziell, nach dem 6. Dezember, nur noch wenige Tage gegenüber Cranz im Amt war. Es
dürfte auf den König und seinen Minister Münchhausen zurückzuführen sein, daß er schon am
13. Dezember den bekannten Berliner Aufklärer Geheimrat C. W. von Dohm als Zensor zugeteilt bekam, mit dem er 1783 und 1784 auch relativ gut arbeiten konnte, und der wie Friedrich,
der Großkanzler von Carmer und Münchhausen im Gegensatz zu Hertzberg und Finckenstein
mehr für eine „aufgeklärte Zensurpolitik" gegenüber Cranz eintrat. Wie gefährlich dieser
Autor in seinem Bestreben, „lächelnd Wahrheiten zu verkünden", 1782 in Berlin eingeschätzt
wurde, das wurde nicht zuletzt daran sichtbar, daß es sogar zu einer speziellen Art von Zensurerneuerung in Auswirkung der geschilderten Vorfälle kam, wobei auch hier das Departement
für Auswärtiges die Regie übernahm. In einem vom Finckenstein und Hertzberg am 7. Dezember 1782 erteilten „allergnädigsten Special Befehl" an sämtliche Berliner Buchhändler und
Buchdrucker heißt es bei Androhung von Strafe, „daß sie nicht das geringste, auch nicht für den
Kriegs Rath Cranz, drucken sollen, was nicht die ordnungsmäßige Censur passirt" (Abb. 5).34
Das bereits 1749 erlassene Zensuredikt war, wie weiter oben betont, in seiner Grundsubstanz
immer noch gültig. In der Praxis der siebziger und achtziger Jahre wurde es aber teilweise nicht
beachtet. Nicht wenige Berliner Buchhändler hielten sich nicht an die Bestimmungen des
Edikts. Sie reichten ihre Manuskripte nicht ein und waren quasi zu einer Art Selbstzensur übergegangen, weil sie aus Erfahrung wußten, was sie schreiben durften und was nicht.
104
.
Die Rücknahme der erteilten „Zensurfreiheit" an Cranz, der erlassene „allergnädigste Special
Befehl" vom 4. Dezember 1782 wie die Untersuchung der Zensurbedingungen dieses Autors
insgesamt, die er von 1779 bis 1782 hatte, all das macht das Widersprüchliche der spätfriderizianischen Zeit deutlich. Sein Spielraum als Autor war tatsächlich relativ groß, was die Behauptungen von Gedike über die Berlinischen Freiheiten durchaus bestätigt. Andererseits hatte die
Zensur in dem Staate Brandenburg-Preußen Grenzen. Dies war aber durchaus nicht etwas, das
nur auf Preußen zutraf, noch viel weniger sind die Vorgänge um Cranz etwa eine Bestätigung
des vielzitierten Lessingschen Zitats, wonach Preußen das sklavischste Land Europas gewesen
sei. Eher zeugen sie vom Gegenteil. Es waren Grenzen der Zeit, des 18. Jahrhunderts überhaupt.
Anmerkungen
1 Über die Zäsur im Leseverhalten, dem Wandel von einer intensiven zu einer mehr extensiven
Leseweise, vgl. die Schriften von Rolf Engelsing, bes.: Die Perioden der Lesergeschichte in der
Neuzeit. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens, 10 (1970), Sp. 945—1002, Frankfurt/Main,
neuerdings das Kapitel VI. Die Entstehung des modernen Publikums — die „Leserevolution", in:
Geschichte des deutschen Buchhandels. Ein Überblick, von Reinhard Wittmann, München
1991, S. 171-199.
2 Für die uns gewährte Hilfe und Unterstützung bei der Nutzung der Quellen möchten wir uns herzlich bedanken bei Herrn Dr. W. Vogel, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, BerlinDahlem, Frau Dr. Kohnke und Herrn Dr. Waldmann, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Abt. Merseburg, sowie Herrn A. Burkhardt, Landesgeschichtliche Vereinigung für
die Mark Brandenburg e.V. Die vorliegenden Ausführungen sind Teil einer Studie des Verfassers
mit dem Titel: August Friedrich Cranz. Ein fast vergessener Berliner Schriftsteller im letzten
Drittel des 18. Jahrhunderts. Zwischen Zensurfreiheit und Zensorenmacht. Ein Versuch aus den
Quellen.
3 Vgl. in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte 33 (1921) S. 127. Der
Vorname Heinrich ist falsch, gemeint ist August Friedrich Cranz. So schrieb er sich selbst immer.
In der Literatur ist auch die Schreibweise Crantz anzutreffen. Cranz wurde auch nach seinem Ausscheiden aus der clevischen Kriegs- und Domainenkammer, in der er als Kriegs- und Steuerrat
tätig war, zumeist als „Kriegsrath Cranz" bezeichnet.
4 Wir beziehen uns hier auf die von Harald Scholtz herausgegebene Schrift Friedrich Gedike: Über
Berlin. Briefe „Von einem Fremden" in der Berlinischen Monatsschrift 1783—1785. Berlin 1987,
bes. auf den 5. Brief Dominanz der Aufklärung und Beweise für die Meinungsfreiheit in Berlin,
S. 28-32.
5 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (GStAPK), Abt. Merseburg, Rep. 9, F. 2 a,
Fasz. 30, Bl. 1.
6 Ebenda, Bl. 1 R.
7 Meine Lieblingsstunden in Briefen, den besten Menschen bestimmt. Berlin 1781, S. 271. Die
1. Auflage dieser Schrift erschien bereits 1779 in Baden.
8 In Berlin lebten im letzten Drittel des 18. Jh.s etwa 280 Schriftsteller. Darunter waren aber nur
sehr wenige „freie Schriftsteller", die das Schreiben berufsmäßig betrieben, womit bedeutende
Risiken in finanzieller Hinsicht und auch in bezug auf ihr Ansehen in der Gesellschaft verbunden
waren.
Zu dieser Problematik verweisen wir auf zwei Abhandlungen: Helga Eichler: Berliner Schriftsteller und Publizisten am Ende des 18. Jahrhunderts. In: Jahrbuch für Volkskunde und Kulturgeschichte. 30. Band (Neue Folge Bd. 15), Jahrgang 1987, Berlin 1987, S. 9-42, und Wolfgang von
Ungern-Sternberg, Schriftsteller und literarischer Markt (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Bd. 3, hrsg. von R. Grimminger. Erster Teilb.) München 1984, S. 133—185.
9 Berlinische Correspondenz historischen und litterarischen Inhalts. Eine periodische Schrift. Von
dem Verfasser der Lieblingsstunden, Berlin 1782, S. 5.
10 Fragmente über verschiedene Gegenstände der neuesten Zeit. Berlin 1790, S. 14.
105
11 Meine Lieblingsstunden, S. 271.
12 In der Übersetzung aus den Werken Friedrich des Großen, veröffentlicht 1784 in der Berlinischen
Monatsschrift, III, 316, abgedruckt in der Publikation: Norbert Hinske (Hrsg.) Was ist Aufklärung? Beiträge aus der Berlinischen Monatsschrift (1783-1786), Darmstadt, 1981, S.393,
zitiert bei Harald Scholtz, S. 161.
13 Vgl. Abbildung 2, Note 6.
14 GStAPK, Abt. Merseburg, Rep. 9, F. 2a, Fase. 16-17, verschiedene Seiten.
15 Fragmente, S. 3/4.
16 Charlatanerien in alphabetischer Ordnung, als Beyträge zur Abbildung und zu den Meynungen
des Jahrhunderts. Berlin 1781, S. 4/5 im 4. Abschnitt.
17 Wir stützen uns auf Selbstdarstellungen von Cranz; zu nennen ist z. B. seine periodische Schrift
Fragmente über verschiedene Gegenstände . . . , hier Seite 16, die aber in den Akten über ihn
durchaus bestätigt werden.
18 Auf diese für die Zensurgeschichte hochinteressante Seite können wir aus Platzgründen hier nicht
näher eingehen.
19 Zitate aus der Berlinischen Correspondenz, S. 126/127 und Anhang, 3. Beilage, S. 16.
20 Berlinische Correspondenz, 1. Stück, S. 4.
21 Berlinische Correspondenz, S. 11/12.
22 GStAPK, Abt. Merseburg, Rep. 16/17, Blatt 51 R.
23 zitiert bei Franz Etzin, S. 128. In den Akten ist sogar von den „verschiedenen aufhetzerischen
Schriften des bekannten Berlinischen Schriftstellers Herrn Kriegsrath Crantz" die Rede (Handschriften zur Geschichte Berlins und der Mark Brandenburg. Eine Auswahl aus den „Manuscripta Borussica" der Deutschen Staatsbibliothek, bearb. v. Helga Döhn, Berlin 1988, HA 1/6/
60, S. 40, Abschrift einer „Cabinets Resolution" des Königs Friedrich II. von Preußen, Potsdam,
28.11.1782, an den Kriegsrath Crantz), geschuldet der Tatsache, daß Cranz oft ziemlich respektlos schrieb, er sich als Satirenschreiber nicht an die üblichen Normen hielt, obwohl er als ein „konservativer Aufklärer" außerordentlich königstreu, keinesfalls ein Gegner des brandenburgischpreußischen Staates war.
24 GStAPK, Abt. Merseburg, Rep. 9, F. 2a, Fase. 16-17, Blatt 45.
25 Dieses 2. Stück ist undatiert, aber zwischen dem 1. Stück (15.11.) und dem 3. Stück (30. IL), also
wahrscheinlich als „Wochenstück" am 22.11. erschienen.
26 Seiten 31/32.
27 GStAPK, Abt. Merseburg, Rep. 9, F. 2a, Fase. 30, Blatt 9. Von uns aus dem Französischen übersetzt.
28 GStAPK, Abt. Merseburg, Rep. 9, F. 2a, Fase. 16-17, Blatt48.
29 Vgl. Abb. 4.
30 GStAPK, Abt. Merseburg, Rep. 9, F. 2a, Fase. 16-17, Blatt 50.
31 Fragmente, S. 34.
32 GStAPK, Abt. Merseburg, Rep. 9, F. 2 a, Fase. 30, Blatt 42.
33 Seite 70.
34 GStAPK, Abt. Merseburg, Rep. 9, F. 2a, Fase. 30, Blatt 62.
Schreibweise und Zeichensetzung der Originaltexte wurden von uns nicht verändert.
Anschrift des Verfassers:
Dr. Dr. Dieter Reichelt, Traberweg 8, 0 - 1 1 5 7 Berlin
Die Abbildung im Titel ist enthalten in seiner Publikation Der Freund des Staats eine periodische
Schrift zur Verbreitung nützlicher Volkskenntnisse, Berlin, im Selbstverlag des Verfassers (1797)
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Abb. 1: Eduard Veit (links) und Robert W. A. Warschauer im Bankgebäude Behrenstraße 48. Fotomontage 1874 aus Anlaß des 25jährigen Bestehens der Bank.
Robert Warschauer (1860—1918) — ein Berliner Privatbankier
Von Herbert May
Robert Warschauer war der Sohn Robert Wilhelm Adolph Warschauers (1816—1884), der
1849 zusammen mit dem Bankier Eduard Veit (1824—1901) das Berliner Bankhaus Robert
Warschauer & Co. gegründet hat. Seine Wurzeln hatte das Bankhaus in dem 1803 in Königsberg gegründeten Handels- und Bankgeschäft Oppenheim & Warschauer, das seit 1805 von
dem Großvater Robert Warschauers, Marcus Warschauer (1777—1835), mitgeleitet wurde
und in dem von 1839 bis 1849 auch Robert W. A. Warschauer leitend tätig war.1 Damals war
das Bankgeschäft zumeist nicht Gegenstand eines selbständigen Berufes, sondern trat häufig
als Nebenzweig des Handels- und Speditionsgewerbes auf.
Marcus Warschauer trat vermutlich als Erwachsener vom jüdischen zum christlichen Glauben
über — sein Sohn ist bereits kurz nach der Geburt getauft worden2 — und gehörte damit zusammen mit den Berliner Bankiersfamilien Mendelssohn und Oppenheim zu der einige tausend
Personen zählenden Gruppe von Juden, die vor allem in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts
den Übertritt zum Christentum vollzogen haben.3
107
„Was auch immer die Motive beim Übertritt zum Christentum gewesen waren, die Taufe
erwies sich tatsächlich als Eintrittbillet zur deutschen Gesellschaft, die die Preisgabe der jüdischen Identität mit der vollständigen Integration zu belohnen schien."4 Insofern war die Entscheidung für diesen Schritt in der Mehrzahl der Fälle weniger religiös als sozial bedingt: Trotz
des Emanzipationsedikts von 1812, das die Juden zu preußischen Staatsbürgern mit entsprechenden Rechten und Pflichten machte, blieb die gesellschaftliche Wirklichkeit weit hinter dem
Anspruch auf vollkommene soziale Gleichheit zurück.5 Der latent vorhandene Antisemitismus des 19. Jahrhunderts wirkte hemmend auf die soziale Mobilität der Juden und verunsichernd. Die Aufgabe der jüdischen Religion war daher „keine skurrile Verirrung charakterloser Verräter, sondern . . . ein Reflex auf die allgemeine Lage des deutschen Judentums insbesondere im Zeitalter der Restauration".6
Durch Heirat gelangten die Warschauers zu verwandtschaftlichen Beziehungen mit den Spitzen der preußischen Hochfinanz. Marcus Warschauer war mit der Nichte des bekannten Berliner Bankiers Mendel Oppenheim verheiratet, Robert W. A. Warschauer heiratete 1840 Marie
Mendelssohn, die Tochter Alexander Mendelssohns, seit 1828 Inhaber des Berliner Bankhauses Mendelssohn & Co. Robert W. A. Warschauers Tochter Marie wiederum ehelichte Ernst v.
Mendelssohn-Bartholdy, der seit 1874 das vorgenannte Mendelssohnsche Bankhaus leitete.7
Das junge Bankunternehmen Robert Warschauer & Co. hatte seinen Sitz im Berliner Bankenviertel um die Behrenstraße, die parallel zur Straße Unter den Linden verläuft. Die Bank war
zunächst in der Charlottenstraße ansässig, 1856 zog sie dann in ein größeres Haus in der Behrenstraße, das Robert W. A. Warschauer gekauft hatte. Im Erdgeschoß des um 1800 gebauten
und 1909 abgebrochenen zweigeschossigen Hauses Behrenstraße 48 waren die Geschäftsräume untergebracht, das Obergeschoß diente der Familie Robert W. A. Warschauers, später
dann auch der seines Sohnes Robert als Privatwohnung.8
Im Zusammenhang mit dem Aufstieg Berlins zum Bank- und Börsenplatz entwickelte sich das
Bankhaus Robert Warschauer & Co. schon bald zu einem der renommiertesten und kapitalkräftigsten Bankhäuser Preußens. Es war ohnehin noch die Zeit der Privatbankhäuser, eine
Zeit, in der Gerson Bleichröder als wichtigster Geldbeschaffer Bismarcks fungierte.
Zu den angesehensten Berliner Privatbanken zählten neben Robert Warschauer & Co. und
Bleichröder die Häuser Delbrück, Gebr. Schickler, Leo & Co., J. Gebert & Co., F. M. Magnus,
J. Mendelssohn & Co. sowie Gebr. Arons.
Die Privatbankhäuser waren vor allem mit Staatsanleihen befaßt, in vielen deutschen Staaten
jedoch auch an der Gründung von Eisenbahngesellschaften beteiligt.9
Die Staatsanleihen bildeten auch einen wesentlichen Geschäftsgegenstand des Bankhauses R.
Warschauer & Co. — vor allem in den ersten drei Dekaden seines Bestehens. Bereits 1859 verschaffte R. Warschauer im Konsortium mit anderen angesehenen Privatbankhäusern wie
Bleichröder, Mendelssohn & Co., Gebr. Schickler, F. M. Magnus dem mobilmachenden preußischen Staat eine Anleihe von über 30 Mio. Talern.10
Dies waren die Anfänge des sogenannten Preußenkonsortiums, aus dem später das Reichsanleihekonsortium wurde. Im Preußenkonsortium emittierte Robert Warschauer & Co. im
Dezember 1870 zusammen mit zahlreichen anderen Banken aus Anlaß des Deutsch-Französischen Krieges Anleihen in Höhe von mehr als 51 Mio. Talern. Dabei übernahm Robert Warschauer & Co. einen Emissionsanteil von 2122 500 Talern. In den folgenden 10 Jahren führte
das Konsortium 640 Mio. Mark Preußen- und 142 Mio. Mark Reichsanleihen dem Markt zu.11
Mit nur 22 Jahren trat Robert Warschauer 1882 als öffentlicher Sozius in die Leitung der Bank
ein, nachdem sein Vater seit 1878 infolge eines Schlaganfalls keine Leitungsfunktion mehr
wahrnehmen konnte. Robert Warschauer war damit dem Wunsch seines Vaters gefolgt und trat
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Abb. 2: Das Bankhaus Robert Warschauer & Co. in der Behrenstraße 48, um 1874.
dessen Nachfolge in der Bank an, nachdem er im Anschluß an sein Abiturexamen zunächst
einige Semester Jura und Biologie an verschiedenen Universitäten studiert hatte. Das bankenwirtschaftliche Rüstzeug holte sich der junge Warschauer während eines einjährigen Aufenthaltes in Großbritannien beim Londoner Bankhaus C. H. Hambro & Son.12
In einer Zeit wachsender internationaler Wirtschafts- und Finanzbeziehungen stieg das Bankhaus unter der Ägide Robert Warschauers zunehmend ins Auslandsgeschäft ein.13 Die Bank
beteiligte sich zusammen mit anderen Privat- und vor allem Großbanken an zahlreichen ausländischen Emissions- und Gründungsgeschäften. Sie war an der Emission ausländischer
Staatsanleihen (China, Serbien, Osmanisches Reich, Italien, Rußland) ebenso beteiligt wie am
Bau und an der Finanzierung ausländischer Eisenbahnlinien als Aktionär und Obligationär
entsprechender Eisenbahngesellschaften.
Auf diese Weise wirkte die Bank bei der Errichtung von Eisenbahnlinien in Ägypten, Nordamerika, Italien, Rußland und Südafrika mit.
1889 saß Robert Warschauer zusammen mit Bleichröder, Mendelssohn & Co., J. S. H. Stern,
M. A. v. Rothschild & Söhne sowie einigen Großbanken im Gründungskonsortium der Aktionäre der Deutsch-Asiatischen Bank. Einige Jahre später war das Bankhaus Mitbegründer des
Credito Italiano in Mailand und Genua.
Daß Robert Warschauer & Co. mit den kapitalkräftigen Großbanken durchaus mithalten
konnte, beweist die Tatsache, daß das Bankhaus 1887 zusammen mit dem Frankfurter Privatbankhaus J. S. H. Stern mit einer 5,5 % chinesischen Anleihe über 5 Mio. Mark den Markt
unterbieten konnte.
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Das Auslandsgeschäft barg hingegen auch große Risiken, waren bei den oft unsicheren politischen Verhältnissen in den jeweiligen ausländischen Staaten weder regelmäßige Zinsleistungen noch eine Kapitalrückzahlung gewährleistet. Bekanntes Beispiel dafür ist das langjährige
und zähe Ringen Carl Fürstenbergs, des Chefs der Berliner Handelsgesellschaft, mit dem zahlungsunfähigen und -unwilligen serbischen Staat.
Als durch den Burenkrieg die Wirtschaftlichkeit der Niederländisch-Südafrikanischen Eisenbahngesellschaft in Frage gestellt wurde, bildeten die am Unternehmen beteiligten Berliner
Banken Robert Warschauer & Co. und die Berliner Handelsgesellschaft ein Schutzkomitee,
um die Rechte der Aktionäre und Obligationäre dieses Unternehmens wahrzunehmen.
Die trotz dieser Imponderabilien „fast krampfhaft zu nennende Bemühungen der Bankleiter,
deutsches Kapital ins Ausland zu werfen"14, sind ursächlich in dem industriellen Interesse der
Banken zu suchen. Die Beschäftigung der deutschen Industrie mittels Anleiheemissionen war
entweder durch Aufnahme von Zusatzklauseln in den Anleiheverträgen geregelt oder erfolgte
auf indirektem Weg. Als Gewinn für die beteiligten Banken ergab sich eine Stabilisierung und
Ausweitung ihrer Geschäftsbeziehungen zu Handel und Industrie.
Eine der großen inländischen Finanzgeschäfte war die Beteiligung Robert Warschauers & Co.
als Aktionär beim Magdeburger Gruson-Werk, einer vornehmlich im Rüstungsbereich (Panzerplatten und Geschosse) tätigen Metall- und Maschinenbaufirma, die in den 50er Jahren des
letzten Jahrhunderts von dem Ingenieur H. Gruson gegründet und 1886 in eine AG umgewandelt worden war.
Die intensive und expandierende Geschäftstätigkeit des Bankhauses machte Neueinstellungen
erforderlich und führte somit zu einer beträchtlichen Vergrößerung des Personals.
Teilhaber der Bank war neben Robert Warschauer und dem Mitbegründer und Seniorchef
Eduard Veit seit 1871 Warschauers Cousin Hugo Oppenheim (1847—1921).
1898 schied Robert Warschauer aus gesundheitlichen Gründen — er litt an einer chronischen,
nicht operablen Blinddarmreizung — aus der Bank aus. Ein Jahr später legte auch der Seniorchef Eduard Veit die Leitung nieder. An ihre Stelle rückten die zwei Einzelprokuristen der
Bank, Alfred Cohn und Otto Mendelssohn-Bartholdy, als öffentliche Sozien nach. Gleichzeitig wurde mit der Darmstädter Bank für Handel und Industrie ein Kommandit-Vertrag
geschlossen, um dem Haus auch Ersatz für die mit dem Ausscheiden der beiden Teilhaber Warschauer und Veit entzogenen bedeutenden Kapitalien zu schaffen.15
Dem Konzentrationsprozeß im deutschen Bankwesen zollte schließlich auch Robert Warschauer & Co. Tribut. Die Privatbanken waren im Vergleich zu den großen Aktienbanken
(Dresdner Bank, Deutsche Bank, Disconto-Gesellschaft, Darmstädter Bank für Handel und
Industrie) nur schwer in der Lage, die gerade nach 1896 — nach Überwindung der „Gründerkrise" — von der Industrie benötigten bedeutenden Kapitalien zu Verfügung zu stellen.16 1905
wurde das Bankhaus Robert Warschauer & Co. von der Darmstädter Bank für Handel und
Industrie übernommen. Die Großbank hatte an die drei Teilhaber Cohn, Mendelssohn-Bartholdy und Oppenheim insgesamt 29 375 000 Mark zu vergüten.17 „Das allgemeine tiefe
Bedauern, welches das Aufhören der Firma bei ihrem in- und ausländischen Kundenkreise
auslöste . . . mußte den Sozien die Überzeugung gewahren, daß sich ihr Haus das Ansehen
einer vornehmen Weltfirma errungen hatte."18
Nach seinem Ausscheiden aus der Bank hat Robert Warschauer seinen Wohnsitz nach Charlottenburg verlegt. Die Familie besaß in dem als Ort der Sommerfrische beliebten Charlottenburg
ein Grundstück an der Berliner Straße (heute Otto-Suhr- Allee), auf dem Robert Warschauers
Vater 1870 durch die namhaften Architekten Martin Gropius und Heino Schmieden eine
repräsentative Villa hatte errichten lassen.19 Das Grundstück war seit den 40er Jahren des
110
Abb. 3: Robert Warschauer
(9. August 1860 - 30. Mai
1918).
19. Jahrhunderts im Besitz der Warschauers. Zunächst befand sich dort ein kleines Haus, das
später auch als Gästehaus genutzte sogenannte „Biedermeierhaus", das ebenso wie die spätere
Villa von der Familie in der Regel im Sommer bewohnt wurde; während des Winters lebten die
Warschauers in ihrem Berliner Domizil in der Behrenstraße.
Das Charlottenburger Wohnhaus des Millionärs Warschauer (geschätztes Vermögen 1913:
5 bis 6 Mio. Mark) 20 lag in einer großbürgerlich geprägten Wohngegend um das sogenannte
Knie, den heutigen Ernst-Reuter-Platz. Hier lebten die Exponenten der lokalen und überregionalen „High Society", die Charlottenburger Industriellen Gebauer und March, der Historiker Theodor Mommsen, die Physiker Werner v. Siemens und Hermann v. Helmholtz sowie die
Bankiers Bleichröder und Reichenheim.
Großbürgerlich gestaltete sich auch das Leben der Warschauers in der Berliner Straße 31/32,
wo sich über ein Dutzend Hausangestellte um das Wohl der Familie und die Instandhaltung der
aufwendigen Wohn- und Gartenanlagen kümmerte.
Mit dem Rückzug aus dem Berufsleben wurde das Charlottenburger Haus zum Lebensmittelpunkt des erst 38jährigen Warschauer. Doch auch in seinem Privatleben mußte Robert Warschauer einen herben Rückschlag hinnehmen: Nach nur lOjähriger Ehe starb 1900 seine Frau
111
Katharina, eine Tochter des Berliner Hofkapellmeisters C. Eckert. Robert Warschauer heiratete ein zweites Mal: Aus der Ehe mit Adele Thevoz gingen drei Kinder hervor, von denen die
beiden Töchter später in die USA auswanderten, während der 1982 verstorbene Sohn Robert
in Berlin blieb und nach den Zweiten Weltkrieg als promovierter Historiker am Geheimen
Preussischen Staatsarchiv in Dahlem arbeitete.21
Nachdem Charlottenburg zu seiner Heimatstadt geworden war, unterstützte Robert Warschauer zusammen mit seiner Frau als Mäzen das soziale und kulturelle Leben der Stadt. Karitativ tätig war Robert Warschauer u. a. als Kurator des nach seiner Großmutter Marianne Mendelssohn benannten und in der Scharrenstraße (heute Schustehrusstraße) gelegenen Mariannenstifts. Zweck dieser Stiftung war es, „weiblichen, ausnahmsweise männlichen Personen in
vorgerücktem Lebensalter Wohnung nebst Heizmaterial zu gewähren".22
Robert Warschauer war Mitglied im Verein der Gönner für das Kaiserin-Auguste-VictoriaHaus zur Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit in Deutschland, welches 1907—09 westlich
des Schlosses Charlottenburg errichtet wurde. Er trug außerdem finanziell zum 1904 an der
Guerickestraße vollendeten Bau des Kaiser-Friedrich-Andenkens des Vereins für Armen-,
Kranken- und Kinderpflege bei.23
Besonders engagierten sich die Warschauers in der Pflege kriegsverwundeter deutscher Soldaten des Ersten Weltkrieges. In einem Gebäude des Grundstücks Berliner Straße 31/32 richtete
Warschauer ein Lazarett für verwundete Frontsoldaten ein, und Adele Warschauer unterstützte als Vorstandsmitglied die entsprechende Arbeit des Vaterländischen Frauenvereins,
einer im „Cecilienhaus" an der Berliner Straße beheimateten Organisation des Roten Kreuzes.24 Im kulturellen Bereich erfuhr der Bau des 1912 eröffneten Deutschen Opernhauses an
der Bismarckstraße die finanzielle Unterstützung Robert Warschauers.25
Robert Warschauer starb am 30. Mai 1918. Die Villa in der Berliner Straße blieb noch bis 1922
im Besitz der Familie und wurde schließlich 1939 abgerissen, nachdem sie einige Zeit leergestanden hatte und dem Verfall preisgegeben war. Auf dem Grundstück sollte ein Gebäude
des Deutschen Chemieverbandes errichtet werden, dessen Ausführung die Kriegswirren
jedoch verhinderten.26 Heute befindet sich dort, wo die Warschauer-Villa stand, das „Eternit"Haus.
Adele Warschauer bezog mit ihren Kindern eine Villa im Grunewald. Während der NS-Zeit
spielte sie als engagierte Christin eine bedeutende Rolle innerhalb der „Bekennenden Kirche".
Adele Warschauer unterstützte die Bekenntnisgemeinde nicht nur finanziell, in ihrem Haus im
Grunewald fanden auch Versammlungen von Mitgliedern statt.27 Martin Niemöller, einer der
führenden Vertreter der Bekennenden Kirche, hat auf die Bedeutung Adele Warschauers für
die Bekenntnisgemeinde hingewiesen und sich in diesem Zusammenhang 1973 für die gefährdeten Erhaltung des Warschauer-Erbbegräbnisplatzes stark gemacht.28
Die jüdische Geschichte holte in der NS-Zeit die Warschauers wieder ein. Aus Furcht vor
nationalsozialistischen Repressalien legte die Familie den Namen Warschauer ab und führte
fortan als Familiennamen den Geburtsnamen Adele Warschauers: Thevoz.
Bestattet sind Robert Warschauer und die 1941 verstorbene Adele Thevoz auf dem Charlottenburger Luisenfriedhof I an der Guerickestraße und damit in unmittelbarer Nähe ihres ehemaligen Anwesens.29 Die repräsentative, exedraartige Grabanlage ist eines der wenigen noch
erhaltenen Erbbegräbnisse auf diesem ältesten Begräbnisplatz Charlottenburgs. Robert Warschauer ließ die Anlage nach dem frühen Tod seiner Frau Katharina errichten, nachdem er die
Grabstelle bereits zwei Jahre zuvor erworben hatte.30
Entworfen wurde die Grabanlage von dem Königlichen Hofbaurat Ernst von Ihne.31 Zu den
bekanntesten Bauwerken des 1888 zum Hofarchitekten avancierten Ihne zählen das in Nach112
i
Abb. 4: Villa Warschauer, Berliner Straße 31/32 (um 1874). Architekten: Martin Gropius/Heino
Schmieden.
barschaft zum Berliner Stadtschloß gelegene Königliche Marstallgebäude, das Kaiser-Friedrich-Museum (heute Bode-Museum) sowie die Preußische Staatsbibliothek an den „Linden". 32 Die Auftragsvergabe an den Hofarchitekten Wilhelms II. für die Errichtung einer
Familiengrabstätte ist symptomatisch für das Bemühen des Großbürgertums in der damaligen
Zeit, „renommierte Architekten zu gewinnen, deren Bekanntheit und Ansehen dem sozialen
Geltungsdrang der jeweiligen Familie Nachdruck verlieh". 33
Die Warschauer-Grabstätte hat heute nicht mehr die ursprüngliche Gestalt. Es fehlen sowohl
die einst auf der halbrunden Mauer befindlichen und von dem Bildhauer Walter Schott angefertigten Engelsfiguren als auch das große Kreuz in der Mitte der Anlage, von dem nur noch der
Sockel übriggeblieben ist.34
Anmerkungen
1 Vgl. Hugo Rachel/Paul Wallich, Berliner Großkaufleute und Kapitalisten, Bd. 3, Berlin 1939,
neu hrsg. von Johannes Schultze/Henry C. Wallich/Gerd Heinrich, Berlin 1967, S. 56. Alfred
Cohn, Geschichte des Bankhauses Robert Warschauer & Co., Berlin 1919, S. 2 ff. (unveröffentlichtes Manuskript).
2 Vgl. beglaubigte Abschrift des Taufscheins der Evang. Löbenicht-Kirchengemeinde in Königsberg vom 15. September 1816 (im Besitz von Bernhard Thevoz).
113
3 Vgl. Jüdisches Leben in Deutschland. Selbstzeugnisse zur Sozialgeschichte 1780—1871, hrsg. von
Monika Richarz, Stuttgart 1976, S. 47.
4 Peter Melcher, Der Bürger als Landedelmann. Die Familie Oppenheim/Oppenfeld als Beispiel
jüdischer Assimilation, in: „O ewich is so lanck". Die historischen Friedhöfe in Berlin-Kreuzberg,
Ausstellungskatalog, hrsg. von Christoph Fischer und Renate Schein, Berlin 1987, S. 231.
5 Vgl. Reinhard Rürup, Juden in Preußen. Probleme ihrer Geschichte, in: Juden in Preußen, Ausstellungskatalog, hrsg. vom Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz, Dortmund 1981, S. 33 ff.
6 P. Melcher, Der Bürger als Landedelmann . . ., S. 231.
7 Vgl. Mendelssohn-Stammbaum, in: Die Mendelssohns in Berlin. Eine Familie und ihre Stadt,
Ausstellungskatalog, hrsg. von der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Wiesbaden 1983,
Anhang.
8 Zum Haus Behrenstraße 48 vgl. Julius Kohte, Wohnhäuser von kunstgeschichtlichem Wert in
Berlin und Vororten, o. O., o. J. (1923), [maschinenschriftliches Manuskript], S. 9. Zu den spezifischen Wohnverhältnissen im Haus vgl. Berliner Adreßbücher 1859 ff.
9 Vgl. Reinhard Rürup, Deutschland im 19. Jahrhundert, Göttingen 1984, S. 68 ff.
10 Vgl. Erich Achterberg, Lebensbilder deutscher Bankiers aus fünf Jahrhunderten, Frankfurt/
Main, 21964, S. 163 f.
11 Vgl. Fritz Seidenzahl, 100 Jahre Deutsche Bank. 1870-1970, Frankfurt/Main 1970, S. 303 f.
Wolfgang Radtke, Die Preußische Seehandlung, Berlin 1987, S. 75.
12 A. Cohn, Geschichte des Bankhauses Robert Warschauer & Co. . . . , S. 8 f.
13 Vgl. zum folgenden: Hans Weber, Der Bankplatz Berlin, Köln/Opladen 1957, S. 63 f.; Karl Fürstenberg, Die Lebensgeschichte eines deutschen Bankiers, Berlin 1931, Neudruck 1961, S. 155,
159,197 f., 368; Fritz Seidenzahl, Als in Europa noch chinesische Anleihen emittiert wurden, in:
Beiträge zu Wirtschafts-und Währungsfragen und zur Bankgeschichte, hrsg. von der Deutschen
Bank AG, Mainz 1984, S. 35 ;ders., 100 Jahre Deutsche Bank.. .,S. 77; Erich Achterberg, Berliner Hochfinanz. Kaiser, Fürsten, Millionäre um 1900, Frankfurt/Main 1965, S. 152 f.; A. Cohn,
Geschichte des Bankhauses Robert Warschauer & Co. . . . , S. 10 f.
14 H. Weber, Bankplatz Berün . . . , S. 64.
15 A. Cohn, Geschichte des Bankhauses Robert Warschauer & Co. . . . , S. 13.
16 Vgl. Manfred Pohl, Die Entwicklung des deutschen Bankwesens zwischen 1848 und 1870, in:
Deutsche Bankengeschichte, hrsg. vom Wissenschaftlichen Beirat des Instituts für bankenhistorische Forschung e.V., Bd. 2, S. 263, 271 ff.
17 Vgl. E. Achterberg, Berliner Hochfinanz..., S. 56. Rudolf Martin, Jahrbuch des Vermögens und
Einkommens der Millionäre in Berlin, Berlin 1913, S. 190.
18 A. Cohn, Geschichte des Bankhauses Robert Warschauer & Co., S. 14.
19 Vgl. Paul Ortwin Rave/lrmgard Wirth, Die Bauwerke und Kunstdenkmäler von Berlin, Stadt und
Bezirk Charlottenburg, Textband, Berlin 1961, S. 370 f.
20 Vgl. Rudolf Martin, Jahrbuch des Vermögens und Einkommens der Millionäre im Königreich
Preußen: Provinz Brandenburg, Berlin 1913, S. 10.
21 Auskunft Bernhard Thevoz.
22 Statut des Mariannenstifts in Charlottenburg, in: Die Mendelssohns in Berlin . . . , S. 255.
23 Auskunft Dietlinde Peters. Evangelisches Zentralarchiv Berlin, Konsistorium Rep. 14/4278,
Verwaltungsbericht des Vereins von 1904.
24 Auskunft Bernhard Thevoz. Bezirksamt Charlottenburg von Berlin, Abt. Volksbildung — Heimatmuseum, Rechenschaftsbericht des Vaterländischen Frauenvereins von 1915.
25 Auskunft Bernhard Thevoz.
26 P. O. Rave/I. Wirth, Die Bauwerke und Kunstdenkmäler von Berlin . . . , S. 370.
27 Auskunft Bernhard Thevoz.
28 Evangelische Luisen-Kirchengemeinde — Kirchhofsverwaltung, Erbbegräbnisakte Warschauer,
Brief Niemöllers.
29 Die heute nicht mehr existierende Grabstätte R. W. A. Warschauers befand sich auf dem Friedhof
der Jerusalemer und Neuen Kirchengemeinde am Halleschen Tor.
30 Vgl. Evangelische Luisen-Kirchengemeinde — Kirchhofsverwaltung, Erbbegräbnisakte Warschauer.
31 Ebd.
114
i
Abb. 5: Grabanlage Warschauer/Thevoz auf dem Luisenlriedhol 1, Zustand 1989.
32 Vgl. zu Ernst Ihne: Neue Deutsche Biographie.
33 Vgl. Peter Melcher, Weißensee. Ein Friedhof als Spiegelbild jüdischer Geschichte in Berlin, Berlin 1986, S. 26.
34 Ein Engel ist noch erhalten und steht nur wenige Meter von der Grabanlage Warschauer entfernt
vor der Friedhofskapelle.
Bildnachweis
Alle Fotos, mit Ausnahme von
Nr. 5 (Klaus Schulze, Berlin):
Bernhard Thevoz, Berlin.
Anschrift des Verfassers:
Herbert Mey, Kunigundendamm 7, W-8600 Bamberg
Aus Platzmangel kann die Bekanntgabe der im letzten halben Jahr aufgenommenen Mitglieder erst
im nächsten Heft erfolgen.
Die Redaktion
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Veranstaltungen im I. Quartal 1993
1. Sonnabend, den 13. Februar 1993, 17 Uhr im Xantener Eck, 1000 Berlin 15, Xantener
Straße 1: Geselliges „Eisbeinessen", wahlweise Schnitzel. Anmeldungen telefonisch unter
8 54 58 16 ab 19 Uhr bis zum 6. Februar 1993
2. Freitag, den 19. Februar 1993,15 Uhr. Führung durch die Nikolaikirche, Stadtmitte. Leitung Frau Donata Kleber. Treffpunkt in der Turmhalle. Der Eintrittspreis ist von den Mitgliedern zu entrichten.
3. Montag, den 15. März 1993,19.30 Uhr im Rathaus Charlottenburg, Bürgersaal: Lichtbildervortrag von Herrn Günter WoUschlaeger „Beispiele Berliner Jugendstilarchitektur".
4. Montag, den 29. März 1993,19.30 Uhr im Rathaus Charlottenburg, Bürgersaal: Lichtbildervortrag von Herrn Hans-Werner Klünner „Das Berliner Schloß in seinen letzten hundert Jahren".
Bibliothek: Berliner Straße 40, 1000 Berlin 31, Telefon 87 2612. Geöffnet: mittwochs 16.00 bis
19.30 Uhr.
Vorsitzender: Hermann Oxfort, Breite Straße 21, 1000 Berlin 20, Telefon 3 33 2408.
Geschäftsstelle: Frau Ingeborg Schröter, Brauerstraße 31, 1000 Berlin 45, Telefon 77234 35.
Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Berndt, Seestraße 13, 1000 Berlin 65, Telefon 45 09-264.
Schatzmeisterin: Frau Ruth Koepke, Temmeweg 38, 1000 Berlin 22, Telefon 3 65 76 05.
Konten des Vereins: Postgiroamt Berlin (BLZ 10010010), Kto.-Nr. 433 80-102, 1000 Berlin 21;
Berliner Bank AG (BLZ 100 20000), Kto.-Nr. 03 81801200.
Die Mitteilungen erscheinen vierteljährlich. Herausgeber: Verein für die Geschichte Berlins, gegr.
1865, Schriftleitung: Günter WoUschlaeger, Kufsteiner Straße 2, 1000 Berlin 62; Dr. Christiane
Knop, Rüdesheimer Straße 14, 1000 Berlin 28; Beiträge sind an die Schriftleiter zu senden.
Abonnementspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag gedeckt. Bezugspreis für Nichtmitglieder: 16 DM
jährlich.
Herstellung: Westkreuz-Druckerei Ahrens KG Berlin/Bonn, 1000 Berlin 49.
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Schriftleitung.
116
RatsbibUcthek
Fachabt. der Berliner StockbibliothekA 1 0 1 5
F
MITTEILUNGEN
DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS
GEGRÜNDET 1865
89. Jahrgang
Heft 2
„Pfaueninsel Russ. Rutschbahn", Postkarte 1928
April 1993
Die russische Rutschbahn auf der Pfaueninsel
Von Michael Seiler
Zum 200. Gartenjubiläum der Pfaueninsel, die Friedrich Wilhelm JJ. durch Kabinettsorder
vom 12. November 1793 zur Gartenanlage bestimmt hatte, möchte der Verfasser hiermit eine
Folge von Beschreibungen wenig bekannter Besonderheiten der Insel beginnen.
Verläßt der Pfaueninsel-Besucher den wiederhergestellten Rosengarten Lennes auf der Ostseite am Schöpfbrunnen und folgt der buchsbaumgesäumten Chaussee, so tritt am Ende der
Wegebiegung, diagonal gestellt und nur zum Teil sichtbar, ein grauer, hölzerner Kubus ins Blickfeld (Abb. 1). Die Legende des Inselplanes erklärt, daß es sich um den Rest der ehemaligen
Rutschbahn oder „montagne russe"l handelt, der ohne nähere Erklärung unverständlich bleibt.
Caesar von der Ahe hat 1939 in den Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Potsdams2 der
1937 teilweise abgetragenen Rutschbahn einen eigenen Aufsatz gewidmet. Wenn ich dieses
Thema wieder aufgreife, so deshalb, weil die Arbeit von der Ahes ohne Abbildungen auskommen mußte und dem Anekdotischen den Vorrang gegenüber der architektonisch-gärtnerischen Darstellung einräumte. Heute dagegen, da ein Teil der Anlage verschwunden ist, wissen
die wenigsten, wie diese Rutschbahn aussah und wie sie sich in das Parkbild fügte.
Nach der Aussage des Hofgärtners J. A. F. Fintelmann wurde die Rutschbahn im Sommer 1818
erbaut3 und, wie von der Ahe schreibt, im Mai 1819 eingeweiht. Der Bau der Rutschbahn geht
ebenso wie der etwas spätere Bau des Blockhauses Nikolskoe (Sommer 1819) auf Eindrücke
zurück, die der preußische Monarch Friedrich Wilhelm III. im Jahre 1818 anläßlich des Besuches bei seiner mit dem Großfürsten Nikolaus seit 1817 verheirateten Tochter Charlotte empfangen hatte. Der kaiserlich russische Oberstlieutenant von Traitteur hatte 1818 für den preußischen König ein Modell der Rutschbahn angefertigt, das, wie von der Ahe ermittelte, erst im
März 1819 an das Berliner Hofmarschallamt übersandt wurde. Wenn kein Datierungsfehler
vorliegt, kam dieses Modell als Vorlage für den Bau auf der Insel zu spät. Der erste Kostenanschlag für die von Baurat Andreas Ludwig Krüger entworfene und dem Zimmermeister Kratz
ausgeführte Rutschbahn betrug 4245 Taler 13 Groschen. Die Summe war dem König zu hoch,
und Krüger hat dann den entsprechend reduzierten Bau für fast die Hälfte des Betrages, nämlich 2306 Taler 22 Groschen, entstehen lassen. Das Inventar von 1833 beschreibt die Rutschbahn wie folgt: „Dieselbe besteht aus einem hölzernen Gebäude mit Treppe und Fahrbahn,
welches unten einen Raum zur Aufbewahrung der Wagen pp. enthält, über welchem die mit
einer hölzernen Balustrade umgebene Platforme befindlich ist, welche sich in die, in gebogener
Linie bis zur Erde hinab laufende Fahrbahn endigt. Es gehören hierzu: 1. Vier kleine Rollwagen, von denen zwei gelb und zwei blau gestrichen, im Sitz und in der Lehne gepolstert und mit
Tuch bezogen. Jeder derselben mit 4 eisernen kleinen Rollen statt der Räder und mit zwei
kugelförmigen messingenen Handgriffen versehen. 2. Eine eiserne Winde, mit starker Leine,
Rolle und Kloben, 3. Eine Glocke mit Zug, 4. Eine hölzerne Barriere, zum Verschließen und
zum Wegnehmen eingerichtet."4 Nach dem von Ferdinand Fintelmann 1820 aufgestellten
Inventar waren die Sitze und Lehnen ursprünglich mit Leder überzogen und die Wagen mit
eisernen Rädern versehen, die 1823 durch messingene und dann durch eiserne Rollen ersetzt
wurden. Nach der Bauaufnahme von F. Fleschner aus dem Jahre 1877 (Abb. 2) setzte an den
heute noch erhaltenen und als Lagerraum der Gärtnerei genutzten Kubus eine hölzerne,
asymptotisch durchgebogene Abfahrt von 19,55 m Länge an. Die Abfahrt hatte zwei Rollbahnen von je 0,78 m und eine Treppe von 1,04 m Breite. Daran anschließend wurden die beiden
hölzernen Rollbahnen direkt auf dem leicht geneigten Gelände aufliegend in einer Länge von
118
Abb. 1: Der erhaltene Kubus der Rutschbahn, an der linken Seite setzte die Abfahrtsrampe an.
Foto Rogge 1979.
38 m bis zum Stellweg geführt, der an dieser Stelle mit einer Aufweitung reagierte. Aus einem
Brief Fintelmanns geht hervor, daß der König selbst den Platz für die Rutschbahn bestimmte.5
Man kann davon ausgehen, daß der Monarch sich dabei von Lenne und Fintelmann raten ließ.
Die Rutschbahn ist jedenfalls so geschickt in das Gehölz zwischen zwei Wege gesetzt, daß sie in
der landschaftsgärtnerischen Komposition unbemerkt bleibt. Sie zeigt sich auf beiden Seiten
erst dann als interessante Überraschung, wenn man unmittelbar vor ihr steht. Ihre nordwestliche Ausrichtung verhindert nicht nur, daß der Hinabgleitende von der Sonne geblendet wird,
sondern zeigt ihm den Endpunkt im besten Lichte. Westlich vom Endpunkt der Rutschbahn
stand eine der alten Insel-Eichen, um deren Stamm man eine Rundbank gelegt hatte. Fintelmann bemerkte dazu: „Der Blick nach dem Schlosse von der Bänke vor dieser schrägen Holzbahn, ist bei guter Beleuchtung eine hübsche Parthie.'"' So eröffnete sich dem Benutzer der
Bahn nach dem Nervenkitzel der Abfahrt einer der schönsten Bücke der Insel. Daß die Wagen
über den Endpunkt der Holzbahn am Stellweg hinaus über den Rasenhang rollten, wie man aus
der Schilderung der Gräfin Keller entnehmen könnte 7 , ist mehr als unwahrscheinlich. Einerseits hätten bei dem sandigen Untergrund die Eisenräder im Nu den ganzen Hang zerwühlt,
und andererseits sagt Fintelmann ausdrücklich, daß die Bahn „nur kurz und grade ausführend"
sei.8 Auch sprechen alle Plandarstellungen gegen diese Annahme. Die Gräfin meinte wohl die
verbohlte 38 m lange Strecke mit nur noch geringem Gefälle, die am Rande des Rasens endete.
Der noch erhaltene hölzerne Kubus der Rutschbahn, in dem früher die kleinen Rollwagen
untergebracht waren, mißt 5,95 X 6,25 mim Grundrißundist ohne die nicht mehr vorhandene
Balustrade 6,10 m hoch. Die Balustrade hatte eine Höhe von nur 1,005 m.
119
• • • >
Abb. 2: Bestandszeichnung der Rutschbahn von F. Fleschner 1877, SSGP Planslg. Nr. 9018.
Friedrich Wilhelm III. erprobte, wie von der Ahe ausführlich beschreibt, höchstselbst die
Rutschbahn anläßlich eines Familienfestes auf der Pfaueninsel am 28. Mai 1819. Dabei stieß er
mit einem Schlitten, den der Prinz Carl gerade dieselbe Bahn hinaufzuziehen begann, zusammen. Eine Verletzung des Nasenbeins, die aber schon am 8. Juni wieder ausgeheilt war, war die
Folge. Das war dem Frondeur, dem General Friedrich August Ludwig von der Marwitz, in seinen „Denkwürdigkeiten" Anlaß zu beißender Kritik, die in dem Satz gipfelte: „Aber welch ein
Skandal, daß in einem Lande, wo niemand rutscht, der neunundvierzigjährige König sich bei
solchem Vergnügen die Nase zerschlagen mußte!"9 Wir werden bei dem folgenden Exkurs
über die Geschichte der Garten-Rutschbahnen erfahren, daß der volkstümliche Monarch sich
durchaus nicht in schlechter Gesellschaft bewegte.
Cäsar von der Ahes Behauptung: „Für die damalige Zeit war dieser ,Montagne russe'
genannte russische Rollberg etwas ganz Neues" mag für Preußen gelten, ist jedoch im Rahmen
der europäischen Gartengeschichte nicht zutreffend. Schon 1665 wird im Versailles Ludwigs
XIV. im Bereich der Menagerie eine „ramasse" oder „roulette" zum Vergnügen des Hofes
betrieben. Ein mit Rollen oder Rädern versehener hölzerner Schlitten, der 8 bis 9 Personen
Platz bot, fuhr mit hoher Geschwindigkeit auf einer hölzernen Schiene den Hügel von Satory
herunter. Ihren Ursprung hat die „ramasse" in Savoyen, wo man schon seit Jahrhunderten auf
aus Reisig zusammengebundenen schlittenähnlichen Gefährten die gefährlich vereisten Hänge
herunter zu Tale glitt. „Ramazza" (= ramasse) bedeutet im piemontesischen Dialekt Reisigbesen.10 Um eine so vergnügliche Talfahrt in die Gärten der schneearmen lle de France zu holen,
war der Wechsel zur Rolle oder zum Rad vonnöten. Zugleich war diese Zerstreuung damit in
120
Abb. 3: Park Oranienbaum, Katalnaja Gorka, der Pavillon und ein Teil der Rutschbahn, Abb. 140 aus
Audrey Kennet, Die Paläste von Leningrad, Luzern 1974.
der schönen Jahreszeit, der Zeit der Gartenfeste, möglich. Gegen 1672 wurde es still um die
„ramasse" in Versailles, die dann, fast 20 Jahre später, 1691 in Marly unter Verwendung des
alten Schlittens eine prachtvolle Wiedergeburt erlebte. Wenn auch der 53jährige Sonnenkönig
nicht mehr selbst hinabfuhr, so sah er doch mit Vergnügen den Prinzen dabei zu und unterließ
es nie, seinen Gästen dieses Gartenvergnügen zu zeigen und anzubieten. So hatte die Königin
von England am 28. Juli 1694 die Ehre, den Schlitten von Marly zu benutzen.11
1762 bis 1774 entstand im Park von Oranienbaum bei St. Petersburg für die Zarin Katharina II.
nach Antonio Rinaldis Entwürfen die Katalnaja Gorka. Das ist ein dreiflügeliger Gartenpavillon, im ersten Geschoß mit breiten Terrassen versehen, an den sich ein dreibahniger Rollberg,
begleitet von Kolonnaden, anschloß (Abb. 3). Die mittlere Bahn diente der Abfahrt, während
auf den beiden Seitenbahnen die Wagen mit einem an einer Winde befestigten Seil wieder
emporgezogen wurden. Der Hof Katharinas amüsierte sich hier sommers wie winters mit Rollwagen oder mit Schlitten, nahm im Pavillon Erfrischungen ein oder schaute von den Terrassen
zu. In der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die in Verfall geratene Rutschbahn mitsamt der
Kolonnade abgetragen. Der dreiflügelige Pavillon ist erhalten. Die Literatur berichtet, daß solche Roll- und Rutschberge in Rußland allgemein verbreitet waren und sind. Ob diese Tradition
der Anregung durch das französische Vorbild bedurfte oder eine unabhängige Parallelentwicklung ist, muß offen bleiben. Mit Sicherheit jedoch hat das Muster der russischen Rutschbahnen
wieder auf Paris gewirkt. Denn bereits 1816, drei Jahre vor Einweihung der Rutschbahn auf der
Pfaueninsel, waren die ersten „montagnes russes" in der Nähe der Barriere du Roule in Paris
Zielscheibe der Karikaturisten.12 Diese Rutschbahnen verbreiteten sich in den Pariser Vergnü121
Abb. 4: Konstruktionszeichnung der Rutschbahn von Klüsener nach 1900, SSGP Planslg. Nr. 9019.
gungsgärten auch unter anderen Namen wie „montagnes suisses" oder „montagnes egyptiennes" bis in die Mitte des Jahrhunderts. 1829 gründeten die Brüder Gericke auf dem Berliner
Kreuzberg nach Pariser Vorbild den Vergnügungspark Tivoli und statteten ihn mit einer stadtberühmten Rutschbahn aus, die selbst den Philosophen Hegel und den Prediger Schleiermacher zu ihren Benutzern rechnen durfte.13 Nicht unerwähnt bleiben soll die von Friedrich
Wilhelm IV. Ende Dezember 1844 im Park des Schlosses Bellevue erstmals errichtete „russische Rutsch-Eisbahn", deren Benutzung allen bei Hofe vorgestellten Personen vorbehalten
war.14
Doch nun zurück zur Pfaueninsel. Wie aus der schon genannten Beschreibung der Gräfin Keller hervorgeht, war es bis zur Revolution 1918 beim Besuch des Hofes auf der Insel Gepflogenheit, „daß auf der unter Friedrich Wilhelm III. angelegten russischen Rutschbahn gefahren
werden mußte". Wie ich aus Erzählungen des Reviergärtners Hugo Neubert, der seit 1910 auf
der Pfaueninsel arbeitete (er starb 97jährig im Jahre 1983), weiß, durfte er noch als junger Gartengehilfe die Rutschbahn erproben, bevor „allerhöchste Herrschaften" sich ihr anvertrauten.
Aus Neuberts Nachlaß stammt ein Foto, daß ihn in fröhlicher Runde (Bierfäßchen) am Fuße
der Bahn zeigt. Eine Postkarte aus dem Jahre 1928 gibt ein Bild der gesamten Bahn vom Stellweg aus gesehen (Titel). Wie so häufig in Gärten, so auch auf der Pfaueninsel, war man, wenn
Einrichtungen wegen mangelnder Unterhaltsmittel in Verfall gerieten, stets geneigt, die Ordnung durch Abriß der ruinösen Anlagen wiederherzustellen. Dies widerfuhr um 1936/37 der
Abfahrtrampe der Rutschbahn, während der blockhafte Anfangsbau als Geräteschuppen
unter Verlust der nun nicht mehr benötigten Balustrade erhalten blieb. Dieser Abbruch ist um
122
Abb. 5: Der gerettete hölzerne Rollwagen der Rutschbahn mit Messinggriffen, Eisenrädern und seitlichen Führungsrädchen, Foto Rogge 1979.
so ärgerlicher, als man 1936 anläßlich der Olympischen Spiele und 1937 in dann zum Glück
beendeter Tradition die Insel für diese „großartigen Feste" mit aufwendigen, ephemeren Bauten verschandelte. Erfreulicherweise wurde noch im November 1935 vor dem Abbruch eine
Aufnahme des Bestandes gefertigt. Wir besitzen insgesamt sechs bautechnische Darstellungen
der Rutschbahn, die meist aus Anlaß notwendiger Instandsetzungsarbeiten entstanden. Die
älteste ist eine wenig aussagekräftige Zimmermannsskizze aus dem Jahr 1833. Eine gute Vorstellung des schlichten Bauwerkes bietet die von Klüsener signierte, undatierte (mit Sicherheit
nach 1900 entstandene) Konstruktionszeichnung (Abb. 4) zusammen mit der Bestandszeichnung von Fleschner aus dem Jahre 1877 (Abb. 2). Es ist das Verdienst des jetzt pensionierten
Kutschers Willy Grenda, in der Nachkriegszeit einen der drei erhaltenen Rollwagen vor der
Vernichtung bewahrt zu haben (Abb. 5). Das stark lädierte Gefährt soll so weit restauriert werden, daß es in der Ausstellung zum Jubiläum der Insel gezeigt werden kann. Ich halte es für
wünschenswert, die Rutschbahn als ein einzigartiges, zum Teil erhaltenes Zeugnis des spielerischen Vergnügens in der Gartenkunst durch Rekonstruktion der Abfahrtsrampe wiederherzustellen. Ich halte dies bei der guten Quellenlage für gerechtfertigt, zumal auch erfahrungsgemäß die Fundamente für die Zimmermannskonstruktion noch im Boden stecken. Man wird
auf einem so wiederhergestellten „montagne russe" allein schon aus heutigen Sicherheitsvorstellungen nicht mehr rutschen. Man wird ihn aber besichtigen und die aussichtsreiche Plattform betreten können. Rein praktischen Nutzen würde die wiederhergestellte Abfahrtsrampe
den Gärtnern der Insel bringen, die unter der Rampe wieder wie früher Frühbeetfenster und
Blumentöpfe lagern könnten. Finanzpolitisch wäre die Wiederherstellung also die Schaffung
123
von dringend benötigtem Lagerraum in Form einer Rutschbahn mit gleichzeitigen hohen kulturgeschichtlichem Demonstrationswert.
Anschrift des Verfassers
Prof. Dr. Michael Seiler
1000 Berlin 39
Pfaueninsel
Anmerkungen
1 Fintelmann, Gustav Adolph, Wegweiser auf der Pfaueninsel, Berlin 1837, kommentierter Nachdruck, Berlin 1986, S. 27.
2 Ahe, Caesar von der, Die einstige Rutschbahn auf der Pfaueninsel, in: Mitteilungen des Vereins
für die Geschichte Potsdams, NF Heft 5, S. 426-429.
3 „Inventarium des Königl. Schlosses und anderer Gebäude auf der Pfaueninsel", angefertigt im
Dezember 1820 von Fintelmann, S. 27, SSGP Inv. 451.
4 SSGB, Inventarium der Königl. Gebäude auf der Pfauen-Insel 1834, Vol. II, S. 85.
5 von der Ahe, a.a.O., S. 427.
6 a.a.O., S. 26, Fußnote.
7 Keller, Mathilde Gräfin von, Vierzig Jahre im Dienste der Kaiserin, Leipzig 1935, S. 35, ausführlich zitiert bei von der Ahe.
8 a.a.O., S. 27.
9 vgl. von der Ahe, a.a.O., S. 427.
10 Raynal, Marcel, Marly, 1691: l'escarpolette et la ramasse, ARTKEO 1, Marly le Roi 1990,
S. 31-35.
11 ebd., S. 43.
12 Langlois, Gilles-Antoine, Folies Tivolis et attractions les premiers parcs de loisirs parisiens, Paris
1991, S. 173-178.
13 sieh Anm. 1, S. 428.
14 Krieger, Dr. Bogdan, Das Königliche Schloß Bellevue, Berlin 1906, S. 162—164 mit zwei zeitgenössischen Darstellungen der Bahn.
124
Der Situationsplan von Christian Friedrich Schmidt
aus dem Jahr 1643
Ein Beitrag zu seiner Zuordnung auf den Werder bei Colin
Von Erika Schachinger
Die Federzeichnung des Baumeisters Christian Fri(e)drich Schmidt zeigt das Gelände vor der
Hundebrücke um 1643 mit dem Besitz an Land und Gebäuden, die der Kurfürst Friedrich Wilhelm dem Oben ägermeister Jobst Gerhard von Hartefeld (Hartenfeldt, Hertefeld) und seiner
Ehefrau Margarete von Effern auf dem Werder bei Colin zeit ihres Lebens überließ. Hartefeld
war außerdem noch Kammerherr und Hauptmann der Ämter Zehdenick und Liebenwalde.
Von dem Geschenk ausgenommen waren außer dem Gärtnerhaus mit den angedeuteten Beeten der Bärenplatz mit dem Bärenkäfig sowie die mit B B bezeichnete Konditorei, die in kurfürstlichem Besitz blieben. Das Ehepaar erhielt das sog. Erbhaus (A A), das zuvor der Hofmarschall bewohnt hatte und das nach Osten (Bereich d e f) bis an eine — auf dem Plan nicht sichtbare — Kalkgrube erweitert werden durfte. Auf dem mit C bezeichneten „Plätzlein" hatte ein
Büchsenmacher seine Wohnung und sicher auch seine Werkstatt. In dem mit b c gekennzeichneten Gebäudeteil des Erbhauses lebte und arbeitete ein Bernstein-Schleifer im Erdgeschoß.
Beider Quartiere wurden in das kurfürstliche Geschenk mit einbezogen, ebenso das Gewölbe
(Eingang g), das unter bzw. an der Konditorei entlang bis zu dem Bärenkäfig reichte. Das Ehepaar erhielt außerdem das im Süden liegende Gelände (EFGHIKL), das etwas größer als ein
Morgen war. Es umfaßte zwei Teiche (N M) sowie das Terrain (E L F G), das an die beiden Teiche stieß, im Text der Schenkung Holzgarten genannt, von dem es einen kleinen Teil darstellte.
Für das Gelände sowie für die erwähnten Gebäude und geplanten Neubauten galt der ausdrückliche Vorbehalt, daß sie nach dem Tode des Ehepaares wieder an den Kurfürsten und
dessen Nachfolger zurückfallen mußten. Den Erben des Ehepaares wurde jedoch ein
Anspruch auf Erstattung der Ausgaben eingeräumt.1 — Sämtliche Gebäude mußten später der
Errichtung des Zeughauses weichen. Für die Regulierung der Spree und den Ausbau des Werders zu der als Friedrichswerder bekannten Stadtanlage hatte der Oberjägermeister das ihm
überlassene Gelände schon frühzeitig wieder abtreten müssen.
Die Zeichnung von C. F. Schmidt wurde erstmals von Albert Geyer veröffentlicht, der sie
jedoch in den Zusammenhang mit der Entwicklung der Anlage des Lustgartens stellte.2 Liselotte Wiesinger und Clemens Alexander Wimmer folgten ihm in dieser Hinsicht.3 Goerd
Peschken änderte die Blickrichtung auf die von Geyer vorgestellte Konstruktion, bezog sie
jedoch weiter auf den Lustgartenbereich.4 Waltraud Volk war die erste, die die Zeichnung von
1643 mit dem Hinweis auf das Gelände und Umfeld des späteren Zeughauses veröffentlichte.5
Schon Hans Jahn hatte in diesem Bereich das Hartefeldsche Haus erkannt, als einen Neubau
von 1661, der auf dem Perspektivplan von Johann Bernhard Schultz, „Residentia Electoralis
Brandenburgica", von 1688 — gegenüber dem einstigen Anwesen von Johann Gregor Memhardt an der Hundebrücke — zu sehen ist.6 Den beiden zuletzt genannten Autoren kann ich
mich anschließen. Zur Begründung ihrer Zuordnung läßt sich folgendes beitragen:
1. Die die Schmidtsche Zeichnung von 1643 enthaltende Akte gehört seit alters zu dem das
Gebiet von Friedrichswerder umfassenden Aktenbestand, den das Findbuch der Rep. 21
des GStAPK auf S. 65 f. ausweist. Man kann davon ausgehen, daß die früheren Archivare
aufgrund ihres ständigen Umgangs mit dem Aktenmaterial gute Ortskenntnisse besaßen.
125
Der Situationsplan von Christian Friedrich Schmidt, 1643.
2. Das oben erwähnte Findbuch der Rep. 21, S. 66, weist im Zusammenhang mit der Schenkung vom 4. April 1643 auch auf das Haus des Oberjägermeisters von Hartefeld mit der
„merkwürdigen" Zeichnung vom 17. November 1660 hin. Diese nur im Findbuch
erwähnte, leider nicht mehr vorhandene Zeichnung könnte der Entwurf für den Neubau
von 1661 gewesen sein, vielleicht von Memhardt, doch wenigstens unter seiner Aufsicht.
Die Anlage des Friedrichswerders — im Zusammenhang mit dem Festungsbau, den er leitete — stellt eine bisher nicht genügend beachtete städtebauliche Leistung von Memhardt
dar. Der gekrümmte Verlauf der Straßen, der die Anlage wie eine traditionelle Stadterweiterung aussehen läßt, hat zum großen Teil wasserbautechnische Ursachen.
3. Die Aufzählung von Angaben für 1643 und 1660 in einer Position des Findbuches der
Rep. 21, S. 66, läßt die Schlußfolgerung zu, daß der 1661 errichtete Neubau auf dem 1643
verschenkten, damals bereits bebauten Gelände entstand.
1660 hatte der Oberjägermeister von Hartefeld noch das Haus des Holzförsters Andreas Herman(n), eines seiner Untergebenen, dazu erworben, offensichtlich um seinen Baugrund zu
erweitern. Für den geplanten Neubau bat er den Kurfürsten im Januar 1661 um die benötigten
Baumaterialien, mit dem Versprechen, ein ansehnliches Gebäude zu Ehren seiner Kurfürstlichen Durchlaucht zu errichten. Aus seiner Bitte, die ihm gewährt wurde, ist auch zu entneh126
Ausschnitt des Perspektivplanes von Johann Bernhard Schultz, 1688. In der Mitte die Hundebrücke,
die Colin mit dem nördlichen Friedrichswerder verband.
men, daß es ihm um die Gleichsetzung der „Freiheiten" für beide Objekte, für das von ihm
erhandelte wie für sein eigenes Wohnhaus auf dem Werder vor der Hundebrücke ging7, gleichsam als eine gemeinsame Basis für das Bauvorhaben. Hartefeld ließ einen stattlichen Neubau
errichten, der an beiden Seiten je einen turmartigen Trakt hatte, die eine Dreiflügelanlage
andeuteten, wie ihn die ältere Gebäudegruppe auf dem Plan von 1643 nahezulegen schien (C
A A). Die Frage muß offen bleiben, ob alte Bauteile in den Neubau übernommen wurden.
Das Hartefeldsche Haus kam später in den Besitz des magdeburgischen Kammerjunkers und
Hauptmanns Ludwig von der Groben, eines Schwiegersohnes des Ehepaares Hartefeld.
Bereits am 25. August 1680 kaufte der Kurfürst diesen Besitz von Ludwig von der Groben für
4500 Taler.8 Vermutlich diente das Gebäude noch eine Weile als Dienstwohnung, bis es für die
Errichtung des Zeughauses abgebrochen wurde, dessen Erbauung 1695 unter der Leitung von
Johann Arnold Nering begann.
Noch zwei Bemerkungen zu der von Geyer und Peschken angeführten Argumentation.
4. Der Begriff „Garten" ist bekanntlich vielschichtig. Auf dem Werder als dem erweiterten
Wirtschaftsbereich des Schlosses befanden sich u. a. ein Küchengarten und ein Holzgarten.
Deshalb muß die in der Schenkungsurkunde von 1643 angeführte kurfürstliche Gartenmauer (auf dem Schmidtschen Plan mit der Linie E F gekennzeichnet) nicht unbedingt eine
frühe Lustgartenmauer darstellen, waren doch der Küchengarten, Holzgarten usw. auch
„Unser", d. h. in kurfürstlichem Besitz.
127
5. Das auf dem Schmidtschen Plan angegebene und in der Schenkungsurkunde von 1643
erwähnte Gewölbe war nicht das einzige auf dem Werder. Auch das alte Ballhaus dort hatte
ein Gewölbe 9 , u. a. zur Kühlung der für den Ausschank bestimmten Getränke. Dem bereits
erwähnten Hofmarschall unterstand die Hofküche, zu der auch die angeführte Konditorei
gehörte. Es war sinnvoll, zur Kühlhaltung und Lagerung der Lebensmittel ein Gewölbe in
der unmittelbaren Nähe zu haben. Daß die Maße dieses Gewölbes mit denen des Münzturmes übereinstimmen, der bekanntlich kein Gewölbe hatte, wie Peschken ausführt, mag
Zufall sein, wenn nicht als eine bestimmte Größenordnung Brauch.
Diese Darlegungen können keinen endgültigen Beweis liefern, den Schmidtschen Plan von
1643 dem späteren Zeughausgelände und seiner Umgebung zuzuordnen. Jedoch spricht vieles
für diese Sicht. Darauf möchte ich mit diesem Beitrag aufmerksam machen. Das Problem, die
Palisade auf dem Plan schlüssig zu deuten, konnte nicht gelöst werden.
Anmerkungen:
1 GStAPK, Rep. 21, Nr. 191 b, Fasz. 15, bezeichnet „des Oberjägermeister von Hartenfeldt Haus auf
dem Werder", Bl. 1 f.: Text der Schenkung vom 4.4.1643; Bl. 3 v u. Bl. 4 r: der zu dem Text gehörige Situationsplan von Christoph Fri(e)drich Schmidt. — Zur Bedeutung von Hartenfeldt (Hartefeld, Hertefeld) und seinem Amt vgl. Franz Genthe: Die preußischen Oberjägermeister. Ein Beitrag zur Geschichte des Oberjägermeister-Amtes von 1579—1825, in: Hohenzollern-Jahrbuch,
Bd. 10, Berlin 1906, S. 261-274, bes. S. 268.
2 Albert Geyer: Geschichte des Schlosses zu Berlin, Bd. 1: Die kurfürstliche Zeit bis zum Jahre 1698,
Teil 2: Die Bilder, Berlin 1936, Nr. 74. Vgl. seine Konstruktion, a.a.O., Nr. 73, mit Kommentar,
Bd. 1, S. 46.
3 Liselotte Wiesinger: Das Berliner Schloß. Von der kurfürstlichen Residenz zum Königsschloß,
Darmstadt 1989, S. 86 f. mit Abb. Clemens Alexander Wimmer: Addenda zum Berliner Lustgarten, 1645—1713, in: Geschichte und Pflege, hrsg. von Frank Augustin u. a., Berlin 1991, S. 96.
4 Goerd Peschken: Das königliche Schloß zu Berlin, Bd. 1: Die Baugeschichte von 1688—1701, mit
Nachträgen zur Baugeschichte des Schlosses seit 1442, Beiträge von Hans Junecke und Erich Konter, München 1992, S. 76 f. mit Abb. Der Autor weist auf S. 77 f. darauf hin, daß der Schmidtsche
Plan zur Erläuterung der Situation zum größten Teil perspektivisch gezeichnet wurde, der in diesem Plan dargestellte Grundriß jedoch maßstäblich gehalten ist.
5 Waltraud Volk: Berlin, Hauptstadt der DDR. Historische Straßen und Plätze heute, 1. Auflage,
Berlin 1972, S. 12. (Die Abbildung, irrtümlich mit 1647 datiert, fehlt in den letzten Auflagen.)
6 Hans Jahn: Berlin im Todesjahr des Großen Kurfürsten. Erläuterungen zum Perspektivplan von
Johann Bernhard Schultz aus dem Jahr 1688, in: Schriften des Vereins für die Geschichte Berlins,
Heft 55, Berlin 1935, S. 32. Nachlaß Jahn, LAB, Rep. 200, Acc. 220, Nr. IV/40.
7 GStAPK, Rep. 9, CC 22, Fasz. 1, Bl. 38 r: Hartefelds Gesuch. Bl. 40 f.: Gewährung der Baumaterialien vom 18.1.1661, u. a. mit dem Hinweis auf sein Versprechen, das Gebäude gar „ziehrlich",
d. h. zur Zierde der Residenz, aufbauen zu lassen.
8 Jahn, a.a.O., S. 32. GStAPK, Findbuch der Rep. 21, S. 65. Brand. LHA, Pr. Br. Rep. 2, S 3203/6:
Konzept und eine Ausfertigung des Kaufvertrages vom 25. 8. 1680, mit Quittung von 1681 über
den Erhalt des Kaufpreises.
9 GStAPK, Rep. 21, Nr. 191 c, Fasz. 2, bezeichnet „Apoteker undt Materialisten aufdn Friederichswerder", Bl. 11 u. Bl. 14 f. Auf den Fundamenten des Ballhauses stand später die „Einhornapotheke" in der Kurstraße. Vgl. Friedrich Nicolai: Beschreibung der Königlichen Residenzstädte
Berlin und Potsdam und aller daselbst befindlicher Merkwürdigkeiten, Berlin 1786, Bd. 1, S. 151.
Jahn, a.a.O., S. 31.
Für Hinweise danke ich Herrn Professor Dr. Michael Seiler.
128
Abkürzungen:
GStAPK
Brand. LHA
LAB
Acc.
Fasz.
Rep.
Bl.
r
v
=
=
=
=
=
=
=
=
Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz
Brandenburgisches Landeshauptarchiv
Landesarchiv Berlin
Accession (Aktenzugang)
Faszikel (Aktenbündel, Heft)
Repositur (Aktenbestand)
Blatt (Vorder- und Rückseite)
recto (Vorderseite)
verso (Rückseite)
Abbildungsnachweis:
— Der Schmidtsche Plan von 1643 stammt aus dem Werk von A. Geyer, a.a.O., Teil 2, Nr. 74.
— Ausschnitt des Schultzschen Planes von 1688, der folgender Mappe entnommen wurde: Heinz
Spitzer und Alfred Zimm (Hrg.): Berlin von 1650 bis 1900. Entwicklung der Stadt in historischen
Plänen und Ansichten, Berlin und Leipzig 1986, Tafel 2.
Vorankündigung:
Eine Publikation der Verfasserin obigen Beitrags wird voraussichtlich Ende 1993 mit folgendem Titel
erscheinen. Der Friedrichswerder. Die Geschichte einer Berliner „Vorstadt", 1658—1708, Köln und
Weimar: Böhlau-Verlag (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz, Beiheft 4).
Anschrift der Verfasserin:
Erika Schachinger, Reichsstraße 28 a, 1000 Berlin 19
Das Denkmal am Berliner Königstor
Von Paul Habermann
Am 20. Februar 1913 wurde am Königstor neben der Bartholomäuskirche ein Gedenkstein für
den hundert Jahre zuvor hier gefallenen Alexander Freiherrn von Blomberg eingeweiht. Der
junge Offizier hatte in einem Kosakenregiment bei einem Angriff russischer Truppen auf das
von den Franzosen besetzte Berlin seinen Tod gefunden (Abb. 1).
Der Sockelstein aus Muschelkalk hat die Zerstörungen des Krieges überstanden und wurde
auch in der DDR-Zeit nicht als militaristisches Denkmal beseitigt, sondern fand als ein Zeichen
der gern betonten historischen russisch-preußischen Waffenbrüderschaft in der Zeit der
Befreiungskriege eine gewissen Beachtung und auch gelegentlich Erwähnung in Ost-Berliner
Zeitungen.1
Doch ist Alexander Freiherr von Blomberg in Berlin fast völlig vergessen. Aber in der Zeit nach
den Befreiungskriegen 1813 bis 1815 galt er wie Theodor Körner als Symbolgestalt eines jungen Dichters und Soldaten, der sein Leben im Kampf gegen die bedrückende Napoleonische
129
Herrschaft eingesetzt hatte. Wesentlich für die Ausbreitung seines Ansehens war die Freundschaft mit dem damals noch sehr geschätzten romantischen Dichter Friedrich de la Motte Fouque (1777—1843), der im Jahre 1820 Blombergs literarischen Nachlaß mit einer biographischen Einführung herausgab3, die dann auch die Grundlage späterer Darstellungen, meist aus
dem lippischen Raum, wurde.
Zu Blombergs Ruhm trug damals auch mit bei, daß man meinte, er sei der erste deutsche Offizier gewesen, der in diesem Feldzug im Kampfe gegen Napoleon sein Leben verlor. Jedoch war
schon zwei Tage zuvor, ebenfalls in russischer Uniform, der Hauptmann Otto von Arnim bei
dem gleichen Vorstoß auf Berlin bei Werneuchen gefallen. Hans Scholz hat über den „Tod des
Kosakenhauptmanns" ausführlicher berichtet.11
Der schöne klassizistische, mit einem antiken Helm geschmückte Stein an der Bartholomäuskirche am Königstor war vom Verein der Lipper in Berlin gestiftet worden und wurde am
Gedenktag, dem 20. Februar 1913, vom Fürsten Leopold von Lippe enthüllt.2 Sogar eine
Delegation der russischen Botschaft unter Führung eines Obersten war zur Einweihung
erschienen1, da der junge Offizier hier ja als russischer Soldat gefallen war.
Im Jahre 1986 setzte ihm der Lippische Heimatbund mit einer von H. Detering besorgten Neuherausgabe von Gedichten Blombergs ein literarisches Denkmal in unserer Zeit.2
Carl Alexander Johann Ludwig Freiherr von Blomberg wurde am 31. Januar 1788 auf dem
elterlichen Gut Iggenhausen bei Lage in Lippe geboren. Sein Vater Ludwig Walfart Alexander
Freiherr von Blomberg war als Hofrichter Chef einer hohen juristischen Behörde des Fürstentums Lippe und als Landrat ständischer Deputierter des lippischen Adels. Auch die Mutter,
Catrin Sophie Friederike geborene Freiin Schott zu Schottenstein aus einem süddeutschen
Geschlecht, entsprach nicht dem üblichen Bild der Gutsfrau der damaligen Zeit. Sie war als
Verfasserin geistlicher Schriften hervorgetreten und stand mit vielen bedeutenden Zeitgenossen in persönlicher und brieflicher Verbindung.
Wie auf den Adelshöfen üblich, erhielt der junge Freiherr seine erste Schulbildung zu Hause
durch einen Pfarramtskandidaten. Im Jahre 1797 zogen die Eltern nach Lemgo, um den Söhnen den Besuch des dortigen sehr angesehenen Gymnasiums zu ermöglichen. Aber schon im
Jahre 1800, also mit zwölf Jahren, tritt Alexander als Gefreitenkorporal8 in das in Hamm in
Westfalen garnisonierende preußische Infanterieregiment v. Bremer, später v. Schenck, ein.
Wir können uns heute nicht mehr vorstellen, was ein so junges Kind in einer Kompanie rauhbeiniger Soldaten erlebt haben mag. Der Soldatenstand war damals durchaus nicht sehr angesehen. Als später, am 3. September 1814, in Preußen die allgemeine Wehrpflicht eingeführt
wurde, empörten sich die Bürger, daß ihre Söhne in einer so wenig anständigen Gesellschaft
dienen sollten. Üblicherweise kamen die jungen Adligen, auch aus den Kadettenanstalten, erst
mit sechzehn Jahren als Offiziersnachwuchs zur Truppe. Aber es gab durchaus auch Ausnahmen. Die allgemeine Erziehung und geistige Bildung hing weitgehend vom Zufall bzw. von der
Anteilnahme der jeweiligen Kommandeure ab. Zu dieser Zeit wurden Kinder fast allgemein in
einer für die Gegenwart undenkbaren Weise frühzeitig belastet.4 Mit dem Datum vom 2. Juni
1801 ist Alexander von Blomberg Porte-epee-Fähnrich in der Kompanie v. Bodelschwingh des
Infanterieregiments v. Schenck. Erst 1804, nach der Ernennung zum Fähnrich, zählt er dann zu
den Offizieren (Abb. 2).8
Mit seinem Regiment nahm er an der verhängnisvollen Schlacht bei Jena teil und geriet mit ihm
nach der Kapitulation von Erfurt in französische Kriegsgefangenschaft, aus der die Offiziere
mit dem Versprechen, nicht wieder die Waffen gegen Napoleon zu führen, entlassen wurden.
Nach dem Frieden von Tilsit (1807) war diese Verpflichtung hinfällig. Blomberg begab sich
nach Pommern zu den von Blücher geführten Truppen. Aber der König von Preußen hatte jetzt
130
Abb. 1:
Der Gedenkstein
weniger Soldaten als vor der Schlacht von Jena, und nicht alle Offiziere erhielten ihre
vollen Bezüge. Mit halbem Sold konnte Blomberg dann als „inaktivierter Offizier" in Berlin
leben.
Er fand jetzt Zeit, seine Kenntnisse zu erweitern und an seinen Dichtungen zu arbeiten. „Er
hatte hier das Glück, die Bekanntschaft mehrerer der ausgezeichnetsten Menschen aller Art zu
machen, deren Zuneigung und Freundschaft ihm viele glückliche Stunden schuf und in deren
Umgang er reichen Gewinn für seinen Geist fand."2
Auch den Major von Schill lernte er kennen. Als dieser 1809 glaubte, er könne mit einer militärischen Aktion einen allgemeinen Volksaufstand gegen Napoleon auslösen, wollte sich auch
Alexander von Blomberg seinen Truppen anschließen. Er nahm an, daß König Friedrich Wilhelm III. insgeheim diese Aktion billigte. Doch der König sah in dem unzeitigen Vorgehen eine
gefährliche Disziplinlosigkeit.12 Blomberg wurde auf dem Wege zu Schill von preußischen
Husaren festgenommen und erhielt einen dreimonatigen Festungsarrest in Kolberg.
Durch das Eingreifen der preußischen Husaren war Blomberg dem harten Schicksal entgangen, das viele der Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften traf, die sich Schills vergeblichem
131
Zuge angeschlossen hatten. Es wurden ja nicht nur die von der patriotischen Geschichtsschreibung in den Vordergrund gestellten elf Offiziere in Wesel erschossen, sondern in Braunschweig
auch vierzehn Unteroffiziere und Mannschaften; etwa fünfhundert Mann kamen auf französische Galeeren, von denen die Überlebenden dann erst nach 1814 befreit wurden. Der scharfsichtige Kritiker Friedrich August Ludwig v. d. Marwitz, der Schill persönlich kennengelernt
hatte, urteilt über den Husarenmajor: „Er war sehr tapfer, auch listig, aber unglaublich dumm,
wodurch bald Hochmut erregt wurde, den er unter einer erheuchelten Bescheidenheit zu verbergen trachtete. Zu nichts weniger war er geschaffen als zu einem Feldherrn, und den wollte er
spielen. Daran ist er gescheitert."9
Nachdem die ihm viele Freiheiten lassende Haft in Kolberg überstanden war, konnte Blomberg
nach Berlin zurückkehren und traf dort viele seiner alten Bekannten wieder. Einige seiner
Gedichte erschienen in dieser Zeit im Druck, und etwa um 1810 begannen die Arbeiten an seinem Trauerspiel „Konrad in Welschland". Als er danach als Leutnant in ein schlesisches Infanterieregiment in Neisse eingestellt wurde, hatte er als Mitglied eines Liebhabertheaters Gelegenheit zu verschiedenen Dichtungen.
In dem Verlangen, am Kampf gegen Napoleon teilnehmen zu können, waren in dieser Zeit
nicht wenige deutsche Offiziere in russische Dienste getreten. Bei Fouque wird über von Blomberg berichtet: „Er kam um seinen Abschied ein und ging zur russischen Armee, wo er als
Capitain und Ajutant des Generals von Tettenborn, der die Avantgarde befehligt, eingestellt
wurde."2 Doch hat es sich, mindestens formal, wohl nur um eine Beurlaubung gehandelt, denn
am 24. Juni 1813 erscheint in „Berlinische Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen" vom
Kommandeur des Füsilierbataillons des 10. Regiments ein „Erneuter Aufruf, dem Regiment
bestimmte Nachrichten mitzuteilen von dem wahrscheinlichen Ableben des v. Blomberg oder
sonst vorhandenen triftigen Gründen, welche die Wiederkehr des im Regiment allgemein
geschätzten Offiziers bis jetzt verhinderten".5
Als russischer Hauptmann ist Alexander Freiherr von Blomberg dann am 20. Februar 1813 am
Königstor in Berlin gefallen. Zum Tod seines elf Jahre jüngeren Freundes, mit dem ihn auch das
„brüderliche Du" verbunden hatte5, gibt Fouque eine Schilderung, bei der er sich auf den
Ohrenzeugenbericht einer Darstellung des Generals von Tettenborn beruft. Dieser war mit
einer Kosakenabteilung durch das Schönhauser Tor in Berlin eingedrungen und bis zum Alexanderplatz vorgestoßen; doch mußten sich die Kosaken wieder zurückziehen. Sein Adjutant,
von Blomberg, sollte dem Obersten von Benekendorff den Befehl überbringen, das Bernauer
Tor—das amtlich aber schon seit 1809 Königstor benannt wurde — anzugreifen. Blomberg bat,
sich an diesem Angriff beteiligen zu dürfen. Als das Tor geöffnet wurde, glaubte er, daß es Berliner Bürger seien, die den Befreiern ihr Tor öffneten. Er ritt den Kosaken voran hinein. Von
einer Salve tödlich getroffen, stürzte er vom Pferd.
Ein ehemaliger preußischer Leutnant von Höbe, der gleichfalls in der russischen Armee diente,
schildert den Kampf um das Bernauer Tor ausführlicher. Dort hatte Blomberg das Kommando
über zwei Kanonen der russischen Artillerie. „Er hatte den Auftrag, das Bernauer Tor einzuschießen und dann mit den Kosaken, welche seinen Kanonen als Bedeckung beigegeben
waren, womöglich in das Tor hineinzusprengen."6 Tettenborn und der die gesamte Angriffstruppe befehligende General Tschernitscheff hatten beabsichtigt, durch die Aktion am Bernauer Tor die Aufmerksamkeit der Franzosen vom Hauptangriff durch das Schönhauser Tor
abzulenken. „In der festen Erwartung, es würde dann ganz Berlin gegen die Franzosen losbrechen, wie ihnen dies durch ihre hiesigen Vertrauensleute eingeredet sein mochte."6 Aber diese
Hoffnung war durchaus unbegründet. Einige Berliner hatten die Kosaken zwar begeistert
begrüßt. Als sie dann aber aufgefordert wurden, sich selber am Kampf zu beteiligen, zogen sich
132
Abb. 2:
Carl Alexander Ludwig
Freiherr von Blomberg
die Bürger wieder still in ihre Häuser zurück. Bei Klöden und Rellstab finden sich reizvolle
Schilderungen der damaligen Situation aus der Sicht der Einwohner der preußischen Hauptstadt, in der der unerwartete Angriff der Kosaken zunächst beträchtliche Verwirrung bei den
Franzosen ausgelöst hatte.
Varnhagen schreibt in einem Brief vom 26. Februar 1813 kühl distanziert über die dramatischen Ereignisse13; von Höbe schildert als Soldat die militärische Lage aus der Sicht des
Angreifers. Über den Tod Blombergs schreibt er: „Wir hatten nach der Rückkehr vom Alexanderplatz etwa zehn Minuten am Schönhauser Tor gehalten, als eine Meldung kam, der Hauptmann von Blomberg sei am Bernauer Tor gefallen. Tschernitscheff teilte dies seiner Umgebung
mit: Das Bernauer Tor habe sich bewegt und da habe der Hauptman von Blomberg geglaubt, es
werde für ihn geöffnet, er sei also mit den Kosaken herangesprengt, sei aber aus dem offenen
Tore, dem Wachthause und ebenso aus dem Hause des Steuereinnehmers mit Gewehrfeuer
133
empfangen worden, worauf man ihn, zwei Kosaken und einige Pferde habe zusammenstürzen
sehen. Die einige Stunden später erfolgten Erörterungen haben auf das bestimmteste herausgestellt, daß der Hauptmann von Blomberg dicht am Bernauer Tor, außerhalb desselben,
erschossen und vom Pferd gefallen ist."6
Bürger trugen den Gefallenen in ein Haus. Er wurde dann auf dem St.-Georgen-Kirchhof nahe
der Blindenanstalt begraben. Sein Freund Zeune, Leiter der Blindenanstalt und seit 1810 Professor der Erdkunde, ließ an einer dem Grabe nahestehenden Pappel einen ehernen Grabschild mit Namen und Todestag des Gefallenen befestigen mit der Inschrift: .Erstes Opfer im
deutschen Freiheitskampf.' Ein später am Königstor errichtetes Erinnerungsmal mußte dem
sich ausweitenden Verkehr weichen, bis dann 1913 der noch heute stehende Gedenkstein
geschaffen wurde.
Fouque hatte schon 1816 einen Lebenslauf des Freundes verfaßt und gab 1820 „Hinterlassene
poetische Schriften des Freiherrn Alexander von Blomberg" heraus, die in Berlin in der Maurerschen Buchhandlung erschienen. Hundert Jahre später gibt B. Heinemann eine ausführliche
Würdigung Blombergs in einer 1916 in Münster verfaßten Dissertation. Hier werden auch noch
weitere Arbeiten Blombergs erwähnt, die bei Fouque nicht veröffentlicht sind. Auch Briefe
vervollständigen das Lebensbild.5
Gedichte des noch nicht Zwanzigjährigen zeigen eine an barocke Vorbilder erinnernde Naturlyrik. Als Beispiel soll hier die erste Strophe des Gedichtes „Der Frühling" von 1806 angeführt
werden:
Der junge Lenz senkt lächelnd sich hernieder
Und leeret seines Füllhorns gold'ne Pracht
Und Phöbus Milde kehrt beglückend wieder,
Besiegt entflieht des Winters lange Nacht,
Und mit des Lebens Wiederkehr erwacht
Im Busen mir der heitre Geist der Lieder.
Auch der patriotische Aufschwung vor den Befreiungskriegen findet seinen Wiederhall in
Gedichten: „Auf den Einzug des Königs und der Königin in Berün. 1809" oder in Erinnerung
an die in Wesel erschossenen Kameraden: „Nachruf der in Wesel Gefallenen an ihre Waffenbrüder. 1809". Nach dem Tod der Königin Luise: „Klagen um die Allgeliebte. 1810".
Die Gedichte können vor der Nachwelt eher bestehen als das dramatische Werk. Hier erstaunt
zunächst, welche Geschichtskenntnisse sich Blomberg in der unruhigen Kriegszeit verschafft
hat, um „Konrad in Deutschland", Vorspiel in einem Aufzug, und „Konrad in Welschland", ein
Trauerspiel in fünf Aufzügen, zu schaffen. Unvollendet ist das Schauspiel „Woldemar in Dänemark" geblieben.
Aber diese Bühnenwerke zeigen auch die Schwäche der poetischen Kraft des Dichters. Zu
„Konrad in Welschland" nennt das Personenregister einundvierzig Darsteller. Die Handlung
wird umständlich ausgebreitet. Die Charaktere sind edel oder schurkisch und zeigen keine Entwicklung. Längere Dialoge sind nach dem Vorbild Schillerscher Dramen in reimlosen, fünfhebigen Blankversen geschrieben. Dabei gibt es auch einprägsame schöne Sätze:
Von Gärtners Hand zur rechten Zeit beschnitten
Zu neuem Leben grünt der Weinstock auf.
134
Abb. 3: Preußische Soldaten am Königstor
In einer Zeit schwärmerischer Romantik und der nationalen Begeisterung nach dem Kampf
gegen Napoleon fanden unverkennbar zeitbezogene Textstellen besondere Zustimmung der
Leser:
Sieh'! wenn ich dies Treiben sah,
Dies Schmiegen in das Joch der fremden Knechtschaft,
Dies Sichgefallen in den Ketten selbst,
Wenn ich die heim'schen Sitten allgemach
Verschwinden sah in diesem fremden Wesen,
Ja selbst die Sprache sich verlieren sah,
Das letzte Band des Volks an seinen Boden,
Da dünkt es mich, als sei schon alles todt.
Die Zeitgenossen fanden in solchen Versen das Schillersche Pathos und ihr eigenes nationales
Empfinden. Aber die Literaturkritik muß die Tiefe der Charakterzeichnungen vermissen.
Der dichterische Ruhm des Alexander Freiherr von Blombergs ist heute verklungen. Aber der
Stein an der Bartholomäuskirche erinnert an einen Abschnitt deutscher Kultur — und Berliner
Stadtgeschichte.
135
Literatur:
1 Berliner Zeitung am Abend (Ost) v. 10.12.1958.
2 Detering, Heinrich: Alexander von Blomberg „Die verlassene Wirklichkeit". Gedichte. Detmold
- Göttingen 1986.
3 Fouque, Friedrich Freiherr de la Motte: Hinterlassene poetische Schriften des Freiherrn Alexander von Blomberg. Berlin 1820.
4 Habermann, Paul: Zur Frage d. soziolog. Bedingtheit d. Pubertätsprobleme in d. Vergangenheit.
Kinderärztl. Praxis 19. Jg. Leipzig 1951.
5 Heinemann, Bernhard: Wilhelm und Alexander von Blomberg. Zwei westfälische Dichter. Dissertation Münster 1916.
6 Höbe, v.: Bericht in Adami, Friedrich: Vor 50 Jahren. Berlin 1863.
7 Klöden, Karl Friedrich v.: Jugenderinnerungen, hrsg. v. Karl Koetschau. Berlin 1911.
8 Kloosterhuis, Dr. Jürgen: pers. Mitteilung.
9 Marwitz, Friedrich Aug. Ludw. v. d.: Nachrichten aus meinem Leben. Hrsg. v. Günter de Bruyn,
Berlin 1989.
10 Rellstab, Ludwig: Aus meinem Leben. Berlin 1861.
11 Scholz, Hans: Wanderungen und Fahrten in der Mark Brandenburg. Bd. 8, Berlin 1980.
12 Stamm-Kuhlmann, Thomas: König in Preußens großer Zeit. Friedrich Wilhelm III., der Melancholiker auf dem Thron. Berlin 1992.
13 Varnhagen, Karl August von Ense: Schriften und Briefe. Hrsg. von Werner Fuld, Stuttgart 1991
Für wertvolle Hinweise dankt Verf. Freiherrn v. Eckardstein-Iggenhausen.
Bildnachweis:
Abb. 1: Fotografie von R. Kondmann, Berlin
Abb. 2: Aus Fouque, Friedrich Freiherr de la Motte.
Abb. 3: Foto Landesbildstelle
Anschrift des Verfassers:
Dr. med. habil. Paul Habermann, Franz-Nölken-Weg 9, 4770 Soest
Nachrichten
Bohlendächer in Berlin und Brandenburg
Als Bauhistoriker und Bauforscher habe ich vor kurzem mit einer baugeschichtlichen Dissertation
über Bohlendachkonstruktionen des 18. und 19. Jahrhunderts in Berlin und der Mark Brandenburg
begonnen. Bei Bohlendächern handelt es sich um eine besondere holzsparende Konstruktionsweise
für Dächer; es werden relativ kurze Brettbohlen zwei- und dreilagig versetzt zu Sparren miteinander
vernagelt, die so ziemlich große Spannweiten überbrücken können. Gestalterisch fallen die Bohlendächer in der Regel durch ihre tonnen- oder spitzbogenförmigen Dachflächen sehr auf. Das auffälligste erhaltene Berliner Beispiel ist wohl das Gebäude Breite Straße 20 in Berlin-Spandau.
Allzu viele der ehemals im Stadtbild Berlins zahlreichen Bohlendächer sind mittlerweile verschwunden ; einiges findet man heute noch in Hinterhöfen auf eher untergeordneten Neben- und Wirtschaftsgebäuden. Zur Zeit möchte ich mir einen Überblick über den Gesamtbestand der noch erhaltenen
Dächer verschaffen. Ich möchte die Leser dieser Zeitschrift freundlich bitten, mir aus ihrer Kenntnis
von erhaltenen Bohlendächern in Berlin und der Mark Brandenburg zu berichten. Ich bin gespannt
auf das Echo!
Dipl.-Ing. Eckhart Rüsch, M. A., Hochkirchstraße 12, 1000 Berlin 62, Telefon (030) 7883402.
136
Aus dem Mitgliederkreis
Am 2. Oktober 1992 ist unserem Mitglied Dr. Rainer Hildebrandt, dem langjährigen Leiter der
„Arbeitsgemeinschaft 13. August" e.V., im Kronprinzenpalais der Verdienstorden des Landes Berlin
verliehen worden.
SchB.
Studienfahrt nach Braunschweig und in den Ostharz
Wieder war dem Verein und der halben Hundertschaft Mitreisender der Glücksfall beschert, in der
Person des Leitenden Museumsdirektors Gerd Biegel, M. A., des Direktors des Braunschweigischen
Landesmuseums, eine Persönlichkeit an der Hand zu haben, die sich in gleicher Weise als Organisator
und Vortragender, als Stadtführer und glänzender Vertreter der guten Sache seines Landesmuseums
bewährte, der Reisegruppe trotz vieler anderer Verpflichtungen ein ganzes Wochenende widmete
und durch Engagement und Kenntnisreichtum ebenso auffiel wie durch liebenswürdige Präsenz. Auf
G. Biegel geht auch die Einladung nach Braunschweig zurück, als er aus den „Mitteilungen" erfahren
hatte, welchem Mißgeschick wir bei der geplanten Exkursion 1991 nach Kassel aufgesessen waren,
und auf dessen gute Vorschläge sich auch das Programm stützen konnte.
Der Besuch in der Feldschlößchen Brauerei AG, mit einem kräftigen Imbiß auf Einladung der Brauerei eingeleitet, mit der vortrefflichen Führung durch den Betriebsleiter Dipl.-Br.-Ing. Kurt Neunert,
dürfte allerdings mehr auf das Konto des Schriftführers gehen.
Dafür gab es dann bereits am ersten Abend im Braunschweigischen Landesmuseum im Anschluß an
den Vortrag Gerd Biegeis zur Geschichte und Konzeption des Historischen Museums Wein ad libitum, wie dann auch am zweiten Abend, als Dr. Christof Römer seinen inhaltsreichen Vortrag „Braunschweig und Preußen im 18. Jahrhundert" zu Gehör brachte. Beide Male war Gelegenheit gegeben,
die reichen Sammlungen des Braunschweigischen Landesmuseums kennenzulernen und sie mit den
Augen der beiden Referenten zu betrachten.
Zwischen diesen beiden Museumsbesuchen lag ein ganzer Tag Braunschweig, mit einem von Jürgen
Neubauer sympathisch angeführten Stadtrundgang, der zum Dom St. Blasii Heinrichs des Löwen, zur
Burg Dankwarderode und in die Mittelalter-Abteilung des Herzog-Anton-Ulrich-Museums führte,
zur Brüderkirche und über den Altstadtmarkt schließlich ins Historische Rathaus. Zwischendurch
war Gelegenheit gegeben, der Eröffnung einer Fotoausstellung über die preußische Prinzessin und
braunschweigische Herzogin Victoria Luise in einem Braunschweiger Kaufhaus beizuwohnen, mit
der auf die am 20. Dezember 1992 eröffnete große Ausstellung über Victoria Luise aufmerksam
gemacht werden sollte. Im Ausstellungszentrum hinter St. Aegidien war Dr. Hans-Jürgen Derda ein
aufgeschlossener Führer durch die Abteilung Jüdisches Museum des Braunschweigischen Landesmuseums, die im Hinblick auf den Neubau des Jüdischen Museums mit künftigem Sitz des Vereins am
Berlin-Museum, die ständige Ausstellung im Martin-Gropius-Bau und das Centrum Judaicum in der
Oranienburger Straße des Interesses der Berliner Gäste sicher sein konnte.
Mit der bei diesen Studienfahrten und von den so disziplinierten Teilnehmern gewohnten Pünktlichkeit traf der Reisebus am Sonntag in Halberstadt ein, wo Museumsdirektor Dr. Adolf Siebrecht die
Besucher erwartete, um sie zunächst an Domkustos Leuschner weiterzureichen. Dieser verstand es,
den Dom und vor allem dessen Schatz lebendig werden zu lassen. Im Städtischen Museum zeigte Dr.
A. Siebrecht anhand eines Stadtmodells die Historie Halberstadts auf, die dann auch in Liebfrauen
noch einmal sichtbar wurde.
In Quedlinburg herrschte großes Gedränge, doch war dafür gesorgt worden, daß die Gruppe aus Berlin zur festgesetzten Zeit durch die Stiftskirche St. Servatius geführt werden konnte. Vielleicht weniger
große Kunst, dafür aber ein größeres Erlebnis noch bereitete der Besuch der Stiftskirche St. Pankratius in Hamersleben, weil H.H. Pfarrer Ludger Kemming es verstand, die Gäste in seinen Bann zu ziehen und das Schicksal seines Gotteshauses und der Gemeinde sichtbar werden zu lassen. Der
Beschluß, das August Graf Neithardt von Gneisenau zum Geschenk gemachte Schloß Sommerschenburg in Sommersdorf ebenso wie das benachbarte Mausoleum nur von außen zu betrachten, war
leichter gefaßt als realisiert. Denn als der Bus mit inzwischen angelaufenen anderthalb Stunden Verspätung vor dem Schloß eintraf, wartete dort ein so unwiderstehlich freundlicher Führer, daß man den
137
Wunsch, das Schloßinnere mit dem Gneisenau-Gedenkzimmer zu besichtigen, wirklich nicht ausschlagen konnte. Niemand hat auch diesen herzerfrischenden Rundgang durch das immer noch als
Schule genutzte Schloß bereut. Und weil die Zeit nun schon sehr weit vorgeschritten war, wurde im
„Deutschen Haus" in Sommerschenburg auch noch das Abendessen eingenommen und die vielleicht
auf einen Sonntagsbesuch von 50 hungrigen Gästen nicht eingerichtete Küche bis auf den letzten
Brotkrumen leergegessen.
Gute Stimmung und wohlverdiente rechtschaffene Müdigkeit hielten sich auf dem Heimweg unter
der Obhut des zuverlässigen Fahrers die Waage. Ein Dank geht noch einmal von dieser Stelle an alle
Gastgeber, vor allem an Gerd Biegel, M. A., der es sich vom Reiseleiter (nicht ungern) gefallen lassen
mußte, der „August Everding von Braunschweig" tituliert zu werden.
Das Ziel und gleich auch Programm der anstehenden Exkursion 1993, vorzugsweise in eine Stadt
oder Region der neuen Bundesländer, wird im Juli-Heft der „Mitteilungen" veröffentlicht, voraussichtlich die Bergstadt Freiberg in Sachsen (Termin: 10 bis 12. September). Hans G. Schultze-Berndt
Buchbesprechungen
Hans Jürgen Räch: „Die Dörfer in Berlin. Ein Handbuch der ehemaligen Landgemeinden im Stadtgebiet von Berlin", hrsg. von der Akademie der Wissenschaften der DDR, 392 Seiten mit 625 Abbildungen, VEB-Verlag für Bauwesen, Berlin 1988, in zweiter Auflage 1990.
Welcher Westberliner vor der Wende sein heimatkundliches Interesse an der Erkundung der einst
brandenburgischen Dörfer auf Barnim und Teltow auf den Westteil von Berlin beschränken mußte,
kann nun eine vollständige Übersicht über alle Landgemeinden, die 1920 in den Stadtkreis Berlin eingemeindet wurden, gewinnen. Das Handbuch versteht sich als Nachschlagewerk, aufgeteilt in eine allgemein historische Darstellung und eine Katalogisierung der Ortsteile von Adlershof bis Zehlendorf,
und bietet eine erneute gesamtberliner sozioökonomische und baugeschichtliche Analyse der Stadtlandschaft außerhalb der einstigen fünf Städte von 1709. Sie war schon 1988 vor der Wende erschienen und liegt nun in 2., durchgesehener Auflage vor. Sie basiert auf dem „Historischen Ortslexikon"
von Brandenburg, bezieht aber eigene Aufmessungen und Dokumentationen des Verfassers mit ein,
stützt sich ferner auf Aufnahmen des Meßbildarchivs am Institut für Denkmalpflege im einstigen Ostteil der Stadt. — Der Leser kann die Entwicklung der um Berlin herum gruppierten Dörfer gleichsam
in drei Augenblicksaufnahmen verfolgen: am Zustand, den die mittelalterliche Ostbesiedlung (die
hier „feudale Ostexpansion" genannt wird) geschaffen hat und den das Landbuch Karls IV noch
dokumentierte, am Zustand vieler Kolonistenansiedlungen des 18. Jahrhunderts, und schließlich
sieht er den Prozeß der Verstädterung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor sich. Es ist
erstaunlich, zu beobachten, wie lange sich die soziale Abstufung erhalten hat. Sie ist noch immer an
den dörflichen Wohnbauten ablesbar. So kann der Leser sich die Sozialgeschichte jedes Dorfes selbst
zusammenstellen, nachdem er den Vorgang und seine bestimmenden Faktoren einmal erkannt hat.
Verfasser ist Volkskundler und lenkt den Blick auf die ländliche Volksarchitektur in ihrem Wandel; er
verweist auf Einzelheiten wie etwa Traufen- oder Giebelstellung, Quergliederung und Raumanordnung der Bauernhäuser, beschreibt ihre Herkunft vom mitteldeutschen Ernhaus. Er verweist ferner
auf Ziegelziersetzungen an Wohngebäuden und Stallungen, Back- oder Waschhäusern, Taubentürmen, auf Fachwerk- und Ziegelbauten, Dorfkirchen und Brücken. In dieser Hinsicht werden die Dörfer im einstigen Ost und West gleichwertig behandelt.
An fast allen Orten läßt sich der Prozeß der Verstädterung ablesen; er ging von der verkehrsmäßigen
Erschließung aus, die mit der preußischen Städteordnung ihren Anfang nahm und Ansiedlung von
Gewerbe, später Industrie, für die Großstadt zur Folge hatte. Viele Dörfer bekamen erst in den Gründerjahren eine zahlreichere Bevölkerung durch Ausflugslokale und Villenkolonien. Verfasser führt
uns die verschiedenartigsten Industriebetriebe vor Augen: Leim- und Palmölsiedereien, Brauereien,
Eiswerke, Anilinfabriken, Krankenanstalten und Rieselfelder, Rennplätze und Güterbahnhöfe,
Direktorenwohnhäuser und Feuerwehren, Kommunalbauten und Schulen, Büdner- und Kossätenhäuser. Er führt — meist anhand alter Fotos — alte Gutshäuser vor Augen, vor allem die spätklassizistischen Wohnhäuser der reichen Bauern aus den Gründerjahren. — Ein Sachworterklärungsteil verdeutlicht die Fachbegriffe aus Architektur und materieller Kultur, Verwaltung und Landwirtschaft. —
138
J
Wenn auch unterschwellig eine gewisse Vorliebe für die Ansiedlungszeugnisse der ärmeren ländlichen Schichten und Vorbehalte gegen Villenkolonien und reiche Mietshäuser spürbar sind, so ergibt
sich doch aufgrund des in Ost und West gleichen Gegenstandes eine gleiche Behandlung. Doch hätte
die 1990 durchgesehene Auflage aktualisiert werden müssen; sie spricht noch von „Berlin (West)",
„Hauptstadt der DDR" und „Wohnbedürfnissen der Bourgeoisie".
Christiane Knop
Gerd Koisehwitz: „Märkische Geschichte und Geschichten. Zwischen Havel und Oder", 190 Seiten, 68 Abbildungen, Möller Druck und Verlag, Berlin o. J. (1991).
Die Mark Brandenburg zwischen Havel und Oder wird in der vorliegenden Schilderung auf das
Gebiet im Halbkreis um das nördliche und nordöstliche Berlin beschränkt, so, wie es seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert durch Wasserstraßen und Eisenbahnen zu einem Lebens- und Wirtschaftsraum verbunden wurde. Die Erschließung durch Klöster, Städte und ritterliche Siedlungsherren hat
diese Entwicklung vorgebahnt. Im Sinne seiner Heimatforschung der Dörfer, die den Bezirk Reinickendorf ausmachen, hat Verfasser nun den Erfahrungsraum auf das bisher unzugängliche historische Umland ausgeweitet; so entsteht über unterschiedliche geographische Landschaften wie Dünengebiete der Eiszeit, Luchgebiete von Rhin und Havel, Fließtäler und landwirtschaftliche Nutzflächen
hinweg der Eindruck der Einheit in der Vielfalt. Festgemacht an der noch faßbaren Welt der Klöster
wie Chorin und Lindow, der Leistung der Bauern und Kolonisten, der Städter des 13. und 14. Jahrhunderts, wird die materielle Kultur ausgiebig recherchiert, so etwa Hausformen, Wald- und Weidewirtschaft, Bienenzucht, Bierbrauen und Metallverhüttung, aber auch die Fülle anderer Gewerbe und
bäuerlicher Tätigkeiten. In heutigen Kleinstädten wie Liebenwalde, Bernau oder Kremmen wird der
märkische Alltag vergangener Zeiten geschildert. Im Mit- und Gegeneinander der verschiedenen
Gruppen und Stände, im Verlauf der Kämpfe zwischen Landesherren und Ständen und in den wirtschaftlichen Maßnahmen im Staat der Hohenzollern entfaltet sich die ganze Palette der Sozialgeschichte. So ist das Büchlein im besten Sinne dazu geeignet, das Umland neu zu erfahren. — Leider ist
aus manchen älteren Fotos nicht ersichtlich, ob ihre Objekte heute noch auffindbar sind.
Christiane Knop
„Berlin-Mitte um die Jahrhundertwende", 103 Fotos aus dem Bildarchiv der Berliner Verkehrsgesellschaft (BVG), hersg. von Jürgen Grothe, 120 Seiten, Haude & Spener, Berlin 1991.
Unter den neu erschienenen Bildbänden vom alten Berlin nimmt der vorliegende einen guten Platz
ein. — Auf Wunsch des Bildarchivs der BVG ist ein Teil der dort geretteten Zweckaufnahmen publiziert worden, die die Hochbahngesellschaft 1907 von unbekannten Fotografen hat herstellen lassen.
Sie sollten anläßlich des U-Bahn-Baus vom Leipziger Platz zum Spittelmarkt die Fassaden dokumentieren, um eventuell später auftretende Schäden feststellen zu können. Der Weg der Betrachtung läuft
von der Voßstraße über den Wilhelm- und Zietenplatz, die Oberwall- und Niederwallstraße, den
Spittelmarkt und die Wallstraße bis zur Neuen Grünstraße, darüber hinaus der Friedrichsgracht.
Dabei kommen heute fast unbekannte Straßenabschnitte ins Bild wie die Alte Leipziger und die
Kleine Jägerstraße. — Aufgerissenes Straßenpflaster, Bauzäune und Arbeitsgeräte, Arbeitsvorgänge,
denen die Berliner geruhsam zuschauen, vermitteln einen Hauch von Alltäglichkeit und leise sich
andeutender Veränderung; beides kann der heutige Betrachter, auch wenn er das historische Berlin
kennt, schwer nachvollziehen. Hier werden geschäftige Nebenstraßen abgebildet, keine spektakuläre
Repräsentation, und darin liegt der melancholische Reiz.
Viel Aufmerksamkeit wird dem Hausvogteiplatz als dem Konfektionszentrum geschenkt. Er ist baugeschichtlich in die Gründerzeit-Architektur einzuordnen, sein So-Sein wird erklärbar durch die Ausweitung des Konfektionsexports und die Ansiedlung neuer Reichsbehörden und Banken. Der Bilderraum ist Erlebnis, wohin man auch sieht, sei es das Hotel Kaiserhof, der Messelbau Wertheims am
Leipziger Platz, die kleinbürgerliche Wallstraße und das Spreeviertel im alten Colin, der Anblick der
Gaslampen an den Auslagen der Geschäfte, die Reklamen mit den auffallend vielen jüdischen Namen
in der Konfektionsbranche, der angepriesenen Produkte, von denen es viele, wie zum Beispiel
Jupons, nicht mehr gibt, der Roll- und Pferdewagen und Baubuden; erstaunlich ist die Vielfalt der
Branchen, der Versicherungen und Banken. Einigen der Fotos sind Bilder vom gegenwärtigen
Zustand beigegeben; sie bestätigen die heutige Fremdheit, und es erweist sich als schwierig, aber möglich, mit dem Buch in der Hand einen Spaziergang durch Teile der Friedrichstadt, des Friedrichswer139
ders und des Fischerviertels zu versuchen. Drei alte Kartenausschnitte eines Stadtplans helfen zum
Auffinden der Objekte. — Spannungsvoll war das Miteinander barocker, spätklassizistischer und wilhelminischer Fassaden.
Christiane Knop
Dieter H. Schubert: Berliner Köpfe. Wer lebt(e) wo? Ein touristisches Adreßbuch. Elefanten Press
Verlag GmbH, Berlin 1992. Broschiert, 185 Seiten.
Daß man über Berlins Ruf streiten kann, wie der Autor in seiner Einleitung schreibt, ist nicht zu
bezweifeln, trifft aber auch auf seine Aussage zu, daß der Ruf der Berliner immer besser war als der
ihrer Stadt. Genau 50 Berliner, geborene wie gelernte, werden mit ihren Berliner Adressen und einer
kurzen Beschreibung ihres Erdenwandels vorgestellt. Die sehr kurze Charakterisierung der „Berliner
Köpfe" im Inhaltsverzeichnis wird dann aber in den Text nicht übernommen. Heißt es über den alphabetisch ersten Kopf, Arnim, Bettina von, „Die literarische Anwältin der Armen aus der Lindenallee",
so lautet der entsprechende Untertitel der eigentlichen Lebensbeschreibung „Die Dichterin, die dem
preußischen König trotzte — verstorben am 20. Januar 1859 in Berlin". Bismarck, Fürst Otto von,
kann sich gegen seine Kurzcharakterisierung: Deutschlands „Eiserner Kanzler" und „Depeschenverdreher" nicht wehren.
Bemerkenswert sind die Darstellungen auf Seite 16 (nicht 17) „Nikolai Bersarin. Der erste sowjetische
Stadtkommandant in Berlin — schreibt sich in sieben Wochen in die Berliner Stadtchronik ein" — im
Inhaltsverzeichnis kürzer gekennzeichnet als „sowjetischer Kommandant mit Herz für Berlins Bevölkerung". Nicht jedem Berliner dürfte geläufig sein, daß Generaloberst Bersarin am 16. Juli 1945 an
der Kreuzung Alt-Friedrichsfelde/Schloßstraße tödlich verunglückte, als die Bremsen seines Motorrades versagen und er gegen einen Militärlastwagen seiner Armee geschleudert wird. Als Pendant
kann dann Lucius D. Clay nicht fehlen, „Der Initiator und Mitorganisator der Luftbrücke—wird 1962
zum Ehrenbürger Berlins ernannt", treffender vielleicht im Inhaltsverzeichnis: Der „Luftbrückenmann" aus Georgia/USA.
Wer nach der Länge der einzelnen Beiträge urteilt, könnte den Verdacht hegen, die Gewichte seien
ungleich verteilt (beispielsweise je vier Seiten für Karl Liebknecht und Rudi Dutschke, drei Seiten für
Fontane und je zwei Seiten für Else Lasker-Schüler und Moses Mendelssohn), doch ist eine solche
Zählweise nicht bezeichnend für den Inhalt des Büchleins. Daß auch dort von Faschismus gesprochen
wird, wo der Nationalsozialismus gemeint ist, stört sicher nicht nur den Historiker, dem die gravierenden Unterschiede zwischen den Inhalten dieser beiden Begriffe geläufig sind, hätte aber sicher auch
dem Lektor auffallen müssen.
Hans G. Schultze-Berndt
„Berliner Plätze. Hans-Werner Klünner. Photographien von Max Missmann". 140 Seiten,
117 Abbildungen, Argon Verlag, Berlin 1992
Unser Vorstandsmitglied Hans-Werner Klünner hat ein Bilderbuch für geistige Spaziergänge zusammengestellt und mit so kenntnisreichen Beschreibungen versehen, wie wir das von ihm gewohnt sind.
Doch seine Ansprüche gehen höher, sie wollen historisch greifen, wenn auch für den Betrachter das
nostalgische Vergnügen zunächst im Vordergrund steht. Die Fotos von Max Missmann stammen aus
dem Bestand des Märkischen Museums und sind in ausgezeichneter Qualität wiedergegeben. Über
ihre Entstehung und ihren künstlerischen Wert gibt das Nachwort des Dr. Gottschalk Aufschluß.
Beim Betrachten beschleicht den Leser immer wieder das Gefühl schmerzlichen Bedauerns, wie
schön Berlin vor seiner Zerstörung war — trotz aller damals schon geäußerten kritischen Anmerkungen am Stadtbild. Verf. führt Karl Scheffler an, auf den sich auch spätere Kritik bezog. Doch von der
modernen Verödung oder Überbauung her gesehen möchte man dem Verdikt widersprechen, weil
das einst so urban Gestaltete uns wohltuend anrührt. So rückt auch der historische Exkurs von Klünner alte, überzogene Urteile zurecht.
Plätze kannte die mittelalterliche Stadt als bloße Verkehrsverbreiterungen. Der historische Gang
durch die Bilder zeigt ihre Entwicklung von Marktorten zu den pompös gestalteten und umbauten
Schmuckplätzen um die Jahrhundertwende des 19. Jahrhunderts auf, wie der „Zug nach dem
Westen" sie erzeugt hat und wie sie — zuerst in der alten Luisenstadt — auf dem Reißbrett entworfen
sind. Es werden dann die Plätze betrachtet, wie sie sich im Zuge der Stadterweiterung im 18. Jahrhundert aus Tor- und Festungsanlagen entwickelten und die dann die Doppelfunktion von Markt- und
Exerzierplätzen bekamen wie das alte Octogon, das Quarree und Rondell. Dabei ist es wichtig zu wis140
sen, daß nach der Städteordnung von 1808 zunächst der Staat für das Land für Plätze zuständig war
und erst seit 1876 wieder die Stadtväter von Berlin. Der Name des Hobrechtschen Bebauungsplanes
wird neu gewertet als eine stadtplanerische Reißbrettgestaltung, von Lennes Ideen befruchtet und von
der Erschließung der Verkehrswege angestoßen. — Die nächste Gestaltungsphase brachte Denkmäler
und Brunnen auf die Plätze, v. a. auf die, welche gestaltet wurden, als die Stadt Berlin sich nach Westen
und Süden ausdehnte und ihre Bebauungspläne mit denen der benachbarten Städte wie Charlottenburg, Schöneberg und Wilmersdorf zusammenstießen. — Verf. macht darauf aufmerksam, daß die
Platzgestaltung der reichen Nachbargemeinden vorbildhaft für Berlin wurden und diese wiederum
auf die neuen aufwendigen Schmuckplätze, etwa in Schöneberg und Charlottenburg, zurückwirkten,
d. h. die neueren — etwa in Friedenau und Wilmersdorf—sind nicht als historisch gewachsene zu verstehen, sondern aus spekulativen Gründen so angelegt, sie sollten neue Bauherren anziehen. —
Gestreift wird ferner die Entwicklung, die seit den 20er Jahren greifbar ist, begrünte Plätze zu gepflasterten „umzubauen" — als Beispiel werden der Lustgarten, der Wilhelm- und Opernplatz genannt —
und sie zu leeren Aufmarschplätzen veröden zu lassen. Die historische Betrachtung gipfelt in Anmerkungen zu der gegenwärtigen Neuplanung von Potsdamer und Alexanderplatz und klingt versöhnlich
aus mit einem Blick aus dem Cafe Josty auf den alten Potsdamer Platz, worin die Fontane-Zeit aufschimmert.
Beim Stadtbummel anhand der Bilder beglückt den Betrachter an der Nikolaikirche die kleinstädtisch
anmutende Abgeschiedenheit, am Petriplatz die schöne Perrikirche von Strack, deren Ruine noch
lange Jahre nach dem Krieg zu sehen war; bei der Marienkirche zeigt sich noch der alte Marktplatz,
der heute als Vorplatz gestaltlos geworden ist. Beim Rosenthaler Platz läßt sich noch die alte Gestaltung nachvollziehen, ebenso wie beim alten Alex der Grundriß der Esplanade. — Mit Bedauern
betrachtet man, vergleichend mit der heutigen Anschauung, die alte Gestalt des Spreewaldplatzes,
des Wilhelm- und des Augustenburger Platzes; der Nostalgie frönt man beim Anblick des weiträumigen Oranienplatzes mit seiner Brücke über den damals noch existierenden Luisenstädtischen Kanal.
Oder man genießt ein Stück Italien in der Luisenstadt, z. B. auf dem Mariannenplatz von 1908, um
nur einiges herauszugreifen. — Am andern Ende der Bilderkette schaut man auf den dörflichen
Richardplatz oder die Dorfaue von Müggelheim. — Man läßt sich vom Erklärer Klünner auch gern in
persönlich weniger gekannte Stadtgegenden entführen, weil er das Geschaute so nachvollziehbar
beschreibt und mit altem Leben bestückt. Die Plätze zeigen alle Zustände alten berlinischen Lebens.
Man greife nur hinein...
Christiane Knop
Jeffrey Ethel und Alfred Price: „Angriffsziel Berlin. Auftrag 250: 6. März 1944". 280 Seiten mit
Sach- und Personenregister und zahlreichen Abbildungen, Motorbuch Verlag, Stuttgart 1982
Zwei Autoren, der Amerikaner J. Ethell und der Brite A. Price, beschreiben aus zeitlicher Distanz
und nach längst erfolgter Versöhnung den bis 1943 größten und verlustreichsten Einsatz der 8. amerikanischen Luftflotte auf Berlin, zusammengestellt aus vielen Zeugenaussagen und Interviews der
damals Beteiligten bzw. Betroffenen, ergänzt durch Funde aus den Militärarchiven. „Als die Autoren" — sie werden vom Verlag als kompetente Militärschriftsteller bezeichnet — „einen über dreißig
Zentimeter hohen Berg offizieller Dokumente, persönlicher Berichte und Interviews vor sich hatten,
war darin der Beitrag von 160 Einzelpersonen der daran Beteiligten und der militärischen Stellen und
Archive bei den damaligen Kampfgegnern enthalten . . . Danach brauchte dann nur noch das Buch
geschrieben zu werden." (236) — So ungefüge und aufgeschwollen ist es dann auch geworden; leicht
lesbar und farbig ist es nur für den fliegerischen Fachmann, schwerer nachvollziehbar aber für den
Laien, weil er durch die Überfülle an Kampfberichten nur schwer einen roten Faden hindurchzuziehen vermag. Dennoch sei zugestanden, daß der Aufwand an gesammeltem Material, das bis in die
Oral history reicht, dem ungewöhnlichen Gegenstand angemessen ist, weil bis dahin ungewohnte
Kräfte und weite strategische Überlegungen in das Ringen eingesetzt wurden, das die Kriegsentscheidung herbeiführen sollte. — Die Berliner, die den Bombenkrieg miterlebt haben und sich der ersten
amerikanischen Großangriffe am Tage noch erinnern, haben ein Recht zu erfahren, inwieweit sie
kriegsentscheidend waren und welche Rolle die eigenen deutschen Kräfte gespielt haben. — Der
Angriff fiel in die Zeit sich mehrender deutscher Verluste an allen Fronten und angespanntester
Rüstungsproduktion. Bisher hatte die Royal Air Force nur Nachtangriffe auf größere Städte bei günstigen Bewölkungsverhältnissen geflogen. Angriffe auf Berlin erschienen des weiten Rückflugs zu
den englischen Luftbasen und wegen des starken Luftabwehrgürtels um die Reichshauptstadt risiko141
reich. Aber Berün war das erstrebenswerteste Ziel, weil es mit seinen Ministerien und Stäben der politische und administrative Mittelpunkt und die Großstadt mit der stärksten Industriekapazität war.
Diese Umstände werden detailliert ausgeführt, desgleichen die Schwierigkeiten des 900 km weiten
Rückweges der Bomber zu ihren Stützpunkten an der englischen Südostküste. — Die amerikanische
Luftflotte hatte ihre Angriffe auf deutsche Ziele 1942 verhältnismäßig bescheiden begonnen, trug sie
dann, ausgehend von einem Angriff auf Wilhelmshaven, 1943 selbstbewußter weiter ins Reichsgebiet
hinein und bereitete sich auf das Ziel Reichshauptstadt nun planmäßig vor, seit es gelungen war, feuerkräftige Begleitjäger an ihre Seite zu stellen. Seit 1944 lag ganz Deutschland in Reichweite für große
Angriffe der starken Verbände. So erschien 1944 der Erfolg eines Schlages gegen Moral und Industriekapazität der Berliner realistisch. Als sich in den ersten Märztagen über Norddeutschland eine
Schönwetterfront mit günstigen Bewölkungsverhältnissen aufbaute, war man schnell entschlossen.
Die Vorbereitungen werden ausführlich geschildert. Noch waren Kräftepotentiale und Erfahrungen
auf beiden Seiten unterschiedlich, noch war die deutsche Luftabwehr durchaus zu fürchten. Es wird
dann Ausmaß und Schwere der Luftschlachten dramatisch geschildert, in die sich der Verband der
B 17-Bomber begab. Durch hohe Verluste durch deutsche Jäger und Flak ist er auf dem Rückflug vor
allem verletzlich geworden. — Die Augenzeugen aus Berlin geben vom Angriff und seiner Auswirkung (auf die Luftwaffenhelfer!) nur ein punktuelles Bild; es erscheint irgendwie blaß. Darum ist für
einen Rezensenten das Kapitel „Rückschauende Betrachtung" (230 ff.) das Wesentliche: Das eigentliche Ziel wurde nicht erreicht, denn die Produktionsstätten wurden nicht getroffen, das Bomben
„aufs Geratewohl" war sogar ein Fehlschlag, und die Moral der Berliner blieb unerschüttert. — Die
deutsche Luftverteidigung funktionierte so wirkungsvoll, wie es ihr möglich war; sie erlitt einen verhältnismäßig geringen Verlust an Jägern, dafür war die Einbuße an erfahrenem Flugpersonal um so
schmerzlicher. Da andererseits die US-Luftflotte tief ins Feindgebiet einfliegen mußte, hatte die Luftabwehr genügend Zeit, sich zu sammeln und den Feind auf seinem Rückweg mit frischen Kräften
anzugreifen. Dennoch werten Vff. ihren Sieg als zweifelhaft, da der Verlust an flugerfahrenem Personal um diese Zeit kaum noch zu ersetzen war, ebenso wie der knappe Ausstoß an neuen Maschinen,
während die Amerikaner frische Kräfte ins Feld führen konnten.
Mit dem Schlag vom 6. März 1944 bewies die 8. Luftflotte, daß das schwierige Ziel Berlin trotz aller
Verluste erreichbar war und daß die Deutschen im Reich wie in den besetzten Gebieten überall am
Tage zu treffen waren. — Die amerikanischen Verluste konnten infolge reichlichen Nachschubs besser
als beim Gegner ersetzt werden; denn bei den Deutschen war der Mangel Ausbildungskapazitäten für
das junge Flugpersonal unaufhebbar. In der Folgezeit mußte die Ost- und Südfront von Jagdeinheiten
stark entblößt werden, um die Heimat zu schützen. Diese Kräfteverschiebung war auf die Länge
kriegsentscheidend, da im Juni die Invasion der Alliierten einsetzte. Ihre Luftwaffe konnte der deutschen das Gesetz des Handelns vorschreiben. Vff. behaupten sogar, beim Einsatz gegen die Invasionsarmee sei die Jagdflotte verzettelt worden und habe sich nie wieder so weit erholt, dem Schlag des
Gegners zuvorzukommen.
Während die Augenzeugenberichte der Berliner Zivilisten uns vertraute Erlebnisse von Angst und
Schrecken wiedergeben, berichten auch die US-Piloten von den ungeheuren physischen und psychischen Anstrengungen dieser Einsätze, die sie gegen die eigene Angst fliegen mußten.
Wenn der Klappentext von Ausgewogenheit im Sinne von Objektivität spricht und von ungeschminkter Darstellung ohne Effekthascherei, so ist dem wohl zuzustimmen. — Die deutsche Übersetzung von
Roderich Cescotti ist nicht frei von Anglizismen und ungelenken Passagen.
Christiane Knop
Ekkhard Verchau: „Theodor Fontane. Individuum und Gesellschaft", 310 Seiten, 13 Abbildungen,
Literaturverzeichnis, Zeittafel, Register und Quellenverzeichnis, Ullstein Taschenbuch, Berlin 1983.
Als die Mauer gefallen war, ersetzten Fontanes „Wanderungen" mit einer Fülle von Auszügen den
Mangel an historischen Informationen, bis neue Reiseführer in die Mark Brandenburg erschienen
waren. Diese Suche hat den literarischen Fontane ein wenig in den Hintergrund gedrängt. So läßt es
sich auf ein Kompendium zurückgreifen, in dem Verf. die Fachliteratur bis an die Schwelle der 80er
Jahre verarbeitet. Für den Nichtfachmann ist darin ein Leitfaden in das Gewirr der sozialwissenschaftlich und ideologisch beeinflußten Deutungen gegeben, der den Leser auf die werkgerechte
Betrachtung verweist. Denn daß die scheinbar so eindeutige Grundfrage aller Fontaneschen Dichtung, die nach dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, doppelbödiger ist, als man glaubt,
142
I
zeigt das Spektrum der Fontane-Bücher aus verschiedenen geistigen Lagern. Dem hält Verf. zu Recht
entgegen: „Fontane ist für jeden ein Ärgernis, der versucht, ihn einseitig zu interpretieren." Schon die
Monographien der zwanziger Jahre haben ihn aus der Einengung auf den Preußen-Sänger und märkischen Heimatdichter befreit; ebenso falsch ist es, ihn als Bruder der Naturalisten und Verfechter des
vierten Standes zu verabsolutieren. Wie sehr er ein Gestalter von Geschichte ist, zeigt Verf. am Kapitel
„Fontane und Menzel" auf. Hierin liegt sein gedanklicher Schwerpunkt. — Verf. gibt eine sorgfältige
Biographie, erzählt vom jungen Apotheker, vom demokratischen Barrikadenkämpfer und Journalisten, vom Kriegsreporter und Reiseschriftsteller, vom Literatur- und Theaterkritiker, vom Autobiographen und Romancier, kurz, er blättert das ganze Spektrum auf, weil er betont, der späte Fontane
sei ohne den jungen und mittleren undenkbar, so, wie es die Darstellung von Hans Scholz schon vor
Jahren tat. Aber das Wesentliche liegt für ihn beim Romanschriftsteller der Meisterjahre, eingebunden in die Eckpunkte „LAdultera" und „Der Stechlin", wobei jeder Roman nach seinen Grundzügen
berichtet und bewertet wird. Wie der einzelne sich im Raum seiner Geschichte und Gesellschaft versteht und sein Lebenskonzept nach Schuld und Sühne durchlebt und durchleidet, das bringt Verf. auf
die bisher weniger beachtete Maxime des Professors Willibald Schmidt aus „Frau Jenny Treibel". Dieser hat seiner klugen Tochter Corinna als tröstliche Lebensweisheit das Pindar-Wort mitgegeben:
„Vollende dich aus dir selbst — se ipsum habere!" Hier wird vom Verf. ein interpretatorischer Neuansatz gemacht. Von Fontanes freiheitsbetonter Selbstdeutung her ergibt sich das umfassende Prinzip
seiner Selbstfindung. Sein Unabhängigkeitsdrang sei ein „Grundgestein", es habe ihn als Künstler
freigemacht, nur sich selbst und den Forderungen des Stoffes anzugehören, ohne nach beengenden
Kunstregeln und nach der Meinung der Kritiker zu fragen. Habe ihm Mut und Kraft gegeben, seine
soziale Existenz dafür aufs Spiel zu setzen; gemeint ist seine Berufs- und Ehekrise von 1876.
Von hier aus ergibt sich das ganze „weite Feld" seiner Gestalten und Probleme, Ereignisse und
Gespräche als ein Spannungsfeld gesellschaftlicher Probleme, auf dem jeder seiner Romane seinen
Platz hat. Dies führt Verf. knapp, doch erschöpfend aus. Ihm kommt zustatten, daß der Roman „Mathilde Möhring" erst 1969 in seiner wahrscheinlich echten Textgestalt aus dem Nachlaß wieder hergestellt wurde und so in die moderne soziologische Deutung einbezogen werden konnte. Sie ist am
besten geeignet, das durchdringende Prinzip von Individuum und Gesellschaft von hier aufzurollen.
Erzählt hierin 1891 Fontane noch kühl und fast ohne Anteilnahme von der Verstrickung der Kleinbürgerin Mathilde Möhring in das Geflecht von lieblosem Charakter, kleinbürgerlichem Milieu und
wilhelminischer Gesellschaft, so bringt er mit der Reihe der anrührenden Frauengestalten wie Effi
Bliest, Stine, Lene, Grete Minde, Cecile, Melanie van der Straaten „ganz aus mir selbst" die Menschen hervor, die natürlicherweise das Leben lieben und daran leiden, eben weil sie es lieben und deshalb gegen die Normen der Gesellschaft verstoßen. Ihnen gilt Fontanes warmherzige Anteilnahme.
Ihre Gestalten soll der Leser liebgewinnen. — Nach literargeschichtlichem Brauch wird das Dreigestirn der Altersromane „Vor dem Sturm", „Effi Briest" und „Der Stechlin" als eine Einheit abgehandelt und unter den Begriff „politischer Roman" subsumiert. Politisches Anliegen meint in den neunziger Jahren Adelskritik und die Frage nach dem gesellschaftlichen Recht des Arbeiterstandes. Die so
liebenswürdigen Gestalten in ihrem weltabgeschiedenen Winkel und bei ihren scheinbar bloß charmanten Plaudereien verkörpern eine Adelsgesellschaft im Umbruch. An ihr verdeutlicht Fontane den
Adel, „wie er sein sollte und wie er ist". Verf. zitiert die oft angeführten Aussprüche vom Respektieren
des Alten und dem liebenswerten Neuen, von der Einsicht in das Gegebene und seinem Verhältnis
zum Neuen, vom anderen Unterbau der Gesellschaft, der notwendig werde, und der Kritik an der
überholten Vorherrschaft des Adels im Wilhelminischen Kaiserreich. Erweist daraufhin, wie sehr das
Bild vom Stechlinsee als einem Naturwesen autobiographische Züge von Fontanes seelischer und geistiger Gestimmtheit widerspiegelt: sein feinnerviges Gespür für die Zeit, die gelassen jeden und jedes
gelten läßt, aber revolutionär „auffährt, wenn irgendwo in der Welt etwas los ist".
Als ein Kernkapitel erscheint das über die Wahlverwandtschaft mit Menzel dem Historienmaler. Was
beide im tieferen Sinne verbindet, ist ihr echtes Erleben der preußischen Geschichte in Berlin und
darüber hinaus der Geschichte überhaupt als Inbegriff der Wahrheit. Fontane habe in Menzels
Bildern nicht nur preußische Lebensluft gepriesen, sondern in ihm den Künstler der Lebenswahrheit erkannt, der das Rauchsche der Plastik in die Malerei überführt habe: den großen Menschen — etwa im Bild des Eisenwalzwerkes. 1887 äußerte er sich über Menzels Wiedergabe der
Geschichte, er finde in ihr das „Hineinragen des Großen in das Kleinleben". Das ist mit seiner eignen
Gestaltung historischer Gestalten identisch. Und noch weiter geht die innere Nähe: „Menzel ist ein
143
Meister darin, in der Großstadt zu leben und doch nicht von ihr gefressen oder abgetötet zu werden.
Die große Stadt hat nicht Zeit zum Denken, und was noch schlimmer ist, sie hat auch nicht Zeit zum
Glück. Was sie hunderttausendfältig schafft, ist die Jagd nach dem Glück, die gleichbedeutend ist mit
dem Unglück!"
So erweist sich Fontanes Standortbestimmung als das Gegengewicht zur Einseitigkeit, den Menschen
entweder als bloßes Gesellschaftswesen oder als Gegenstand rein personaler Geschichtsschreibung
zu sehen, sondern er sei da wahrer Mensch, wo er im Rahmen der Gesellschaft seine Entfaltungsmöglichkeiten gesucht und gefunden habe.
Christiane Knop
Renate Petras: „Das Schloß in Berlin. Von der Revolution 1918 bis zur Vernichtung 1950",
160 Seiten, 109 Abbildungen, davon einige farbig, Anhang mit Dokumentationen und Literaturverzeichnis, Verlag für Bauwesen, Berlin und München 1992
In eine gegenwärtig aktuelle Debatte hinein schildert Vfn. aus ihrer unmittelbaren Kenntnis als freie
Mitarbeiterin bei der Denkmalpflege im Ostteil der Stadt und als Schülerin von Professor Hamann,
damals Leiter des Kunsthistorischen Instituts der Humboldt-Universität, die Kämpfe um die Erhaltung des Berliner Schlosses. Es ist zwar nicht so, daß die vorhandene Literatur—so die Presseinformation des Verlages — „sich vordergründig historischen Glanzpunkten der Geschichte und Baugeschichte zuwendete"; eine solche Baugeschichte stellt ebenso umfassend das Buch von Peschken/
Klünner „Das Berliner Schloß" dar, dem sich Vfn. auch verpflichtet fühlt, wie sie dankend anmerkt.
Aber sie gibt durch kunsthistorische Wertung und ausgezeichnete Architekturbeschreibung, vor
allem der Innenräume, ihrer Darstellung die notwendige Fundierung, um den tragisch zu nennenden
Ablauf des Widerstandes durch einen Teil des damaligen geistigen Berlin zu schildern und ihn nach
Wert und Ausmaß zu würdigen. Sie konnte nach der Wende das bisher totgeschwiegene Thema
abhandeln und kommentieren, soweit das nicht schon vor einigen Jahren durch die Veröffentlichung
im Haude & Spener Verlag geschah. Den Schwerpunkt legt sie auf die „demokratische Phase" des
Bestehens des Schlüterbaues, als seine im kaiserlichen Berlin hoch angesetzte Bedeutung auf das rein
Kunsthistorische gerichtet wurde und sein Wert als schönster und kostbarster, europäischen Rang
beanspruchender Barockbau uneingeschränkte Geltung bekam. Durch die Kunstbestrebungen im
Schloßmuseum und bei der Verwaltung der Staatlichen Schlösser und Gärten schob es sich ins
Bewußtsein der Bevölkerung.
In die Erinnerung älterer Leser tritt noch einmal die Faszination, die im Nachkriegs-Berlin von den
großen im Schloß veranstalteten Ausstellungen der französischen Impressionisten und Expressionisten und von der Dokumentation des Jahres 1848 ausging. Durch die Epoche der Verwaltung unter
dem Magistrat von Groß-Berlin, dem ersten freigewählten Magistrat von 1946, und schließlich unter
dem Ost-Berliner Magistrat nach Gründung der DDR zog sich eine Entwicklungslinie, die insgeheim
schon zu der ideologisch motivierten, politischen Entscheidung für den Abriß gegen jedes kunstkritische und städtebauliche Argument führte. Bei der Erörterung der heutigen Gesichtspunkte über den
Wiederaufbau oder seinen Verzicht ist zu bedenken, daß schon in frühester Nachkriegszeit durch
Scharoun, damals Leiter der Abteilung Bau- und Wohnungswesen, die Weichen für eine Substanzerhaltung gestellt worden waren, und zwar keineswegs rückwärts gewandt und nicht in Verkennung der
historischen Situation, sondern im Zusammenhang mit der wegweisenden Ausstellung der Entwürfe
„Berlin baut" — den modernen Städtebau aus dem Geiste des Bauhauses. Bei allem Engagement ging
es Scharoun so wie später Hamann um das Schloß als einen Ort künftigen demokratischen Lebens.
Schon von dieser frühen Debatte berichtet Vfn. von einer heftigen Spannung zwischen den vorgeschobenen Nützlichkeitserwägungen der ideologiebestimmten offiziellen Stellen und den wegweisenden Vorschlägen und Bestrebungen der Befürworter für die Erhaltung, vor allem vom Akademiepräsidenten Rolf Stroux, den Kunsthistorikern Hamann und Justi, um nur einige aus der Reihe namhafter
Protagonisten zu nennen. Noch 1949 erachtete der Arbeitskreis für die Geschichte Berlins im „Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands" das Schloß als eine Jahrhundertaufgabe.
„Sicher wird eine spätere Zeit einmal in der Lage sein, das Schloß von innen heraus neu aufzubauen
und es einem demokratischen Verwendungszweck zuzuführen, den es schon seit 1918 hatte." — Um
die Würde eines hohen Kunstwerks zu wahren, hatte Scharoun die Kosten bereits aufgelistet und
erhaltenswerte Teile mit damals möglichen Mitteln gesichert.
Doch bald danach wurde mit der neuen Hauptstadtplanung, ihrem Raumordnungsvorschlag und
dem Entwurf des Aufbaustädtegesetzes die abschüssige Bahn betreten, ideologisch gesteuert von
i/i/i
ATT
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Emigranten aus Moskau und politisch durchgeführt vom Aufbauministerium. Sie erklärten, eingenommen von der Vorstellung des Roten Platzes, die Neugestaltung des alten Stadtzentrums zur neuen
nationalen Aufgabe. Den Abschluß bildete die bekannte Ulbricht-Rede, der Lustgarten und das
Gebiet der Schloßruine solle und müsse zu einem großen Demonstrationsplatz für den Aufbauwillen
„unseres Volkes" werden. — Auf einer Seite stand die offizielle Denkmalpflege mit der Behauptung,
das Schloß sei das Symbol für den Verfall der feudalistischen Macht, dagegen standen die Warnungen
und Klagen der Fachleute, daß mit dem Abriß Schlüter ausgelöscht werden würde. Grotewohl zeigte
sich ihren Argumenten, vor allem von Hamann zugespitzt, anfangs noch zugeneigt, aber sein SichEinsetzen war nur matt; auch ihn überholte der rücksichtslose Erneuerungswille.
Seit den ersten Sprengungen im September 1950 trat Hamann durch persönliches Erscheinen und
weitausgreifende Aufklärung in einer Fülle von Gutachten und Appellen immer mehr an die Spitze
derer, die noch etwas zu retten suchten. Vfn. bezeichnet dies als „ergreifendste Einzelleistung". Er
erhielt anfangs noch Schützenhilfe von Konservatoren anderer, darunter westdeutscher, Länder,
nicht aber offiziellen Protest aus Bonn oder West-Berlin, da die DDR von diesen nicht anerkannt
wurde. Nur die Direktorin der Verwaltung der Staatlichen Schlösser und Gärten, Margarete Kühn,
konnte noch mit ihrer Stellungnahme die schwedische Presse von der künstlerischen und historischen
Bedeutung des Schlosses überzeugen und sie zu moralischem Protest ermutigen, aber es war zu spät.
Sie sagte: „Es gibt kein politisches Argument, das den Abbruch rechtfertigen könnte."
So kann Vfn. den ganzen Vorgang resümieren: „Die Proteste, die faktisch erfolglos waren und das
Berliner Schloß nicht retten konnten, stehen bis in die Gegenwart für die Wahrung der deutschen
Kunst und Kultur; sie dokumentieren die Auflehnung einzelner gegen Gewalt und Willkür." So ist
dies in der Zeit, in welcher nach Zivilcourage gerufen wird, ein bedeutsames Buch. — Darüber hinaus
betrachtet man mit schmerzlicher Anteilnahme die schönen Fotos — von guter Qualität — von Glanz
und Zerstörung des Schlüterbaus. Ferner ist es instruktiv, im Anhang Briefwechsel, Appelle und offizielle Verlautbarungen zu lesen und deren Untertöne zu vernehmen.
Christiane Knop
„Gruppe Ulbricht" in Berlin April bis Juni 1945. Von den Vorbereitungen im Sommer 1944 bis
zur Wiedergründung der KPD im Juni 1945. Eine Dokumentation. Mit einem Geleitwort von Wolfgang Leonhard. Herausgegeben und eingeleitet von Gerhard Keiderling, Berlin 1993 (Politische
Dokumente, Bd. 13). Berlin Verlag Arno Spitz, gebunden, 766 Seiten, 198 DM.
Der exponierteste Vertreter der SED-abhängigen DDR-Geschichtsschreibung war, was die
Geschichte Berlins seit 1945 angeht, der Historiker Gerhard Keiderling. Dieser hat es nach dem Ende
der SED und der DDR unternommen, die für die deutsche und speziell auch die Berliner Nachkriegsentwicklung außerordentlich bedeutsame Tätigkeit der „Gruppe Ulbricht" durch eine umfangreiche
Quellenpublikation zu dokumentieren. Keiderling zeigt sich hierbei als perfekter historiographischer
Verwandlungskünstler, der nicht nur von seinen inhaltlichen Aussagen her, sondern auch im ganzen
Sprachgebrauch — insbesondere in der verwendeten Begrifflichkeit — gegenüber seinen früheren Veröffentlichungen nicht wiederzuerkennen ist.
So hat er noch vor wenigen Jahren selbst eine SED-konforme Kurzschilderung der Tätigkeit der
„Gruppe Ulbricht" geliefert (in: Berlin 1945-1986. Geschichte der Hauptstadt der DDR [1987],
S. 60—66), während er nunmehr die „Hofchronistik" und „legitimatorische Funktion der SEDGeschichtsschreibung" anprangert und seine Quellendokumentation als einen „Beitrag zur geistigen
Auseinandersetzung mit dem Kommunismus und zur historiographischen Abrechnung mit dem realen Sozialismus' in der früheren DDR" verstanden wissen möchte (S. 738, 21,19). Die „Gruppe Ulbricht" sieht er heute als „Weichensteller für jene .antifaschistisch-demokratische Umwälzung' in der
SBZ, die die Übertragung des stalinistischen Sowjetsystems auf die DDR vorbereitete" (S. 104); 1970
figurierten die Gruppenmitglieder dagegen als „Pioniere des Neuaufbaus" (Gerhard Keiderling/
Percy Stulz: Berlin 1945-1968, S. 24), und noch 1987 wurde die Gruppe von ihm als „ein Zentrum
für den antifaschistischen Neubeginn in Berlin" gelobt (Berlin 1945—1986, S.65).
Auf die Problematik dieser Kehrtwendung Keiderlings soll hier nicht weiter eingegangen werden.
Seine erste Publikation nach der politischen „Wende" von 1989 bietet jedenfalls erstmals die Möglichkeit, einen ungeschminkten Überblick über die intensiven Aktivitäten der „Gruppe Ulbricht" im
Mai/Juni 1945 zu gewinnen, die als deutsches Hilfsorgan der Roten Armee zwei Hauptaufgaben zu
erfüllen hatte: die Bildung einer — kommunistisch dominierten — Berliner Stadtverwaltung und die
Wiedergründung der KPD. Neben Ulbricht selbst, den Keiderling gleich dreimal als machtehrgeizi145
gen, organisatorisch sehr fähigen Apparatschik charakterisiert (S. 17 f., 45 f., 74 f.), gehörten seiner
Aktionsgruppe neun weitere Mitglieder an. Hierzu zählten unter anderem Karl Maron (Mai 1945 bis
Dezember 1946: erster Stellvertreter des Oberbürgermeisters und „starker Mann" im Berliner Magistrat, 1950-1955: Chef der Deutschen Volkspolizei, 1955-1963: Innenminister derDDR)und Otto
Winzer (Mai 1945 bis Dezember 1946: Stadtrat für Volksbildung im Berliner Magistrat, 1965—1975:
Außenminister der DDR). Einer der beiden letzten Überlebenden der Gruppe, der 1949 abtrünnig
gewordene Wolfgang Leonhard, hat zur vorliegenden Dokumentation ein anerkennendes „Geleitwort" verfaßt.
Als Kenner der frühen Nachkriegsgeschichte Berlins, mit der er sich schon seit über drei Jahrzehnten
befaßt, hat Keideriing insgesamt 175 aussagekräftige Dokumente für den Druck ausgewählt und
kommentiert. Die Quellen stammen überwiegend aus dem ehemaligen Zentralen Parteiarchiv der
SED (heute wichtigster Bestandteil der dem Bundesarchiv unterstehenden „Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR") und dort vor allem aus den Nachlässen von Wilhelm
Pieck und Walter Ulbricht. Sie sind chronologisch geordnet und werden hier, von einigen Ausnahmen
abgesehen, das erste Mal veröffentlicht, wobei der Abdruck zum weitaus größten Teil in Form von
Faksimiles erfolgt.
Gegliedert ist der Dokumententeil in vier Komplexe: 1. Vorbereitungen der KPD-Führung in Moskau auf die politische Betätigung in Deutschland nach dem Ende des Krieges (40 Dokumente: Juli
1944 bis Ende April 1945); 2. Hauptteil: die „Gruppe Ulbricht" in Berlin (95 Dokumente: Anfang
Mai bis 13. Juni 1945); 3. „Nachträge": Berichte zur politischen Entwicklung, insbesondere zur KPD,
aus dem Sommer 1945 (19 Dokumente); 4. Erinnerungsberichte von Mitgliedern der „Gruppe Ulbricht" (21 Dokumente). Besonders erwähnenswert ist die Fülle von Informationen, die im zweiten
Dokumentenkomplex in den Berichten der Gruppenmitglieder aus den einzelnen Berliner Bezirken
zu den dortigen politischen Entwicklungen in den ersten Nachkriegswochen enthalten ist. Ergänzt
werden die Dokumente durch eine nützliche Aufstellung von Kurzbiographien aller zehn ursprünglichen Mitglieder der Gruppe.
Eine grobe Durchsicht ergibt den Eindruck, daß die vom Herausgeber vorgenommene Kommentierung der Quellen insgesamt als gelungen anzusehen ist: zu den erläuterungsbedürftigen Begriffen,
Namen, Ereignissen und Sachzusammenhängen finden sich im allgemeinen informative Anmerkungen, die den Benutzungswert der Dokumentation stark erhöhen. Angesichts des enormen Detail- und
Inhaltsreichtums der aufgenommenen Dokumente kann man es Keideriing nicht zum Vorwurf
machen, wenn in Einzelfällen doch einmal eine wünschenswerte Erläuterung unterblieben ist (z. B.
hinsichtlich eines Otto Schulz, der kurzzeitig als Berliner Oberbürgermeister vorgesehen war, siehe
S. 312 u. 320).
In formaler Hinsicht sind dagegen mancherlei Mängel zu beanstanden. So zählte der Rezensent 34
fehlende Seitenzahlen, und die Seiten 103 und 104 sind vertauscht. Die Dokumente 3 und 4 sind in
umgekehrter Reihenfolge abgedruckt; es fehlt der wesentliche Teil von Dokument 143 b, ebenso der
Quellennachweis für die Dokumente 143 und 150. Die aus mehreren Quellen bestehenden Dokumente 134,138,143 und 163 sind nicht entsprechend untergliedert im Dokumentenverzeichnis aufgeführt. Dieses Verzeichnis enthält zudem keine Seitenangaben, mit deren Hilfe einzelne Dokumente
leichter aufzufinden wären. Immerhin halten sich die kaum vollständig zu vermeidenden Druckfehler
und falschen Zahlenangaben in engen Grenzen: Solche Fehler finden sich z. B. auf S. 275 („1954"
statt „1945"), S. 339, Anm. 3 („1944" statt „1945") und S. 566, Anm. 3 („1871" statt „1889" als
Geburtsjahr Ernst Reuters).
Ein Ortsregister wäre wünschenswert gewesen, insbesondere um die vielen in den Quellen enthaltenen Informationen zu den einzelnen Berliner Bezirken und Stadtteilen schnell auffinden zu können.
Es ist außerdem bedauerlich, daß in das Personenregister nur diejenigen Personen aufgenommen
worden sind, die „eine größere Rolle" gespielt haben: Gerade solche umfangreichen Quelleneditionen wie die hier zu besprechende Dokumentation können mittels eines vollständigen Personenregisters die Gelegenheit bieten, auch über Politiker der zweiten Reihe und weniger wichtige Zeitgenossen auf einfache Weise etwas in Erfahrung zu bringen. Die Bibliographie hätte bei einem so grundlegenden Quellenwerk ausführlicher gestaltet werden sollen. Schließlich fragt sich der Leser noch,
warum der Band nur Fotos von fünf der zehn Mitglieder der „Gruppe Ulbricht" enthält.
In vielen Fällen ist sowohl die handschriftliche Originalquelle als auch eine maschinenschriftliche
„Klarschrift" derselben abgedruckt worden. Mag dies aus Gründen der Authentizität und histori146
i
sehen Bedeutung bei den Bleistiftnotizen Wilhelm Piecks, die er in Vorbereitung oder als Protokollierung wichtiger Besprechnungen anfertigte, noch angängig sein, so hätte es zumindest bei den Dokumenten 94,95 und 127 völlig ausgereicht, jeweils die sog. „Klarschrift" in die Dokumentation aufzunehmen. Die Reproduktionsqualität der faksimilierten Dokumente ist im allgemeinen wenig befriedigend und zum Teil sogar so ungenügend, daß die Schrift kaum noch lesbar ist. Dies bleibt auch dann
ein schwerwiegender Kritikpunkt, wenn man den oft schlechten Zustand der Originalquellen und die
technischen Probleme ihrer Reproduktion in Rechnung stellt. Es fragt sich daher, ob man anstelle des
ganz überwiegend praktizierten Faksimileverfahrens nicht besser alle Quellen in Form eines neu zu
erstellenden Drucksatzes hätte publizieren sollen. Allerdings hätte ein solches Vorgehen wohl auch zu
einer Erhöhung des mit 198 DM ohnehin schon sehr beträchtlichen Buchpreises geführt, der nicht
zuletzt auf die bemerkenswerte Tatsache zurückzuführen ist, daß der Verleger die Produktion des
Quellenbandes ohne Bezuschussung von anderer Seite finanziert hat.
Ist also die mangelhafte formale Gestaltung der Publikation ihr wesentliches Manko, so stellt die
historische Einführung des Herausgebers ein wichtiges inhaltliches Positivum dar: Neben der Kärrnerarbeit der Suche, Auswahl und Kommentierung themenrelevanter Dokumente und knappen Ausführungen zur Quellenlage und zum Forschungsstand (S. 733—740) bietet Keiderling auf 80 Seiten
(S. 25—104) in einer gut strukturierten und konzentriert geschriebenen Einleitung einen informativen Überblick über die programmatische Vorbereitung der Exil-KPD in Moskau auf die Zeit nach
dem Nationalsozialismus, die Ausbildung von Kadern in der Sowjetunion für den Einsatz in Deutschland, die Reise der „Gruppe Ulbricht" von Moskau nach Berlin (30. April bis 2. Mai 1945), die
Errichtung der weitgehend kommunistisch beherrschten Orts- und Bezirksverwaltungen, die Bildung
des Berliner Magistrats — in dem die entscheidenen Positionen ebenfalls mit Kommunisten besetzt
wurden —, die Führungsfunktion der Moskauer Exilanten unter den deutschen Kommunisten, die
Vorbereitungen zur Bildung von Einheitsgewerkschaften, die Wiedergründung der KPD (11. Juni
1945) und das damit verbundene Ende der „Gruppe Ulbricht". So klar und kompakt wie in Keiderlings Einführung sind viele der hier behandelten Zusammenhänge bisher nirgends dargestellt worden. Es kann z. B. jetzt die Geschichte der Bildung des ersten Berliner Nachkriegsmagistrats, dessen
Mitglieder am 19. Mai 1945 vom sowjetischen Stadtkommandanten Bersarin offiziell in ihr Amt eingeführt wurden, in groben Zügen als aufgeklärt gelten (S. 57—68).
Trotz ihrer formalen Mängel stellt die Dokumentation über die „Gruppe Ulbricht" eine außerordentlich wertvolle Edition von Quellen dar, die für die Zeitgeschichtsforschung bis vor kurzem größtenteils unzugänglich waren. Paradoxerweise ist es ausgerechnet einer der ehemaligen historiographischen Hauptlegitimerer der SED-Herrschaft, der durch dieses kompetent zusammengestellte Quellenwerk und dessen fundierte Einleitung und Kommentierung in der Tat einen grundlegenden „Beitrag zur Aufhellung zur Frühgeschichte der SBZ, zur Genesis der SED und der sowjetischen Besatzungspolitik sowie (...) zur Biographie Walter Ulbrichts" und damit auch einen „Beitrag zur geistigen Auseinandersetzung mit dem Kommunismus" (S. 19) geleistet hat.
Dieter Hanauske
Kulturland-Karte Berlin — Brandenburg. Herausgegeben vom Verkehrsamt Berlin und dem
Landesfremdenverkehrsverband Brandenburg. Verlag Dirk Nishen GmbH & Co. KG Berlin 1992,
4,95 DM.
Die auch mit englischem und spanischem Text erhältlichen Karten führen zu insgesamt 40 ausgewählten Zielen, je zur Hälfte in den beiden Bundesländern Berlin und Brandenburg. Auf der eigentlichen
Landkarte wird mit Pfeilen auf die Ziele hingewiesen. Diese werden briefmarkengroß abgebildet und
beschrieben, wobei die Fahrverbindungen, Öffnungszeiten, Telefonnummern usw. angegeben sind.
Unter der Nummer 30 Märkisches Museum/Berlin-Museum werden so die nötigen Angaben
gemacht, auf der gesonderten Karte der Berliner Innenstadt fehlt dann aber der Hinweis auf das Berlin-Museum. Ein Ausschnitt aus dem Stadtplan von Potsdam und ein Übersichtsplan über das
Schnellbahnnetz der Region Berlin vervollständigen diese freundlich gestaltete Handreichung. Wenn
man übrigens Dammsmühle nicht auf der Landkarte findet, so nicht deswegen, weil wie früher dies
einstige Stasi-Territorium von den Plänen ausgemerzt worden ist, sondern des Maßstabs wegen.
SchB.
147
Hans-Rainer Sandvolt: „Widerstand in Pankow und Reinickendorf." In der Reihe „Widerstand
von 1933-1945", hrsg. von der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Heft 6, Berlin 1992, 288 Seiten, zahlreiche Abbildungen, Angaben über Ehrungen, Gedenktafeln und Gräber, Literatur- und
Personenverzeichnis.
In bekannter Vorgehensweie werden vom Verf. zwei weitere Bezirke Berlins auf der Suche nach Spuren des Widerstandes abgefragt. Betrachtet man — außer den Quellenbelegen — das Alter der Zeitzeugen, ahnt man, daß dies vielfach in letzter Minute geschieht, ehe das Vergessen einsetzt bzw. die
Spuren undeutlich werden. Für den Stoff ist es von unschätzbarem Vorteil, daß nach der Wende die
beiden Bezirke als die Einheit behandelt werden können, die sie tatsächlich sind. Denn in ihren Voraussetzungen sind sie beide ähnlich strukturiert als eher bürgerliche denn Arbeiterbezirke, aber mit
einigen Großbetrieben und Laubenkolonien oder Einzelhäusern versehen, boten sie jedoch — ähnlich
wie in Spandau — mit einem hohen Anteil an Arbeiterbevölkerung Ansatzpunkte für sozialdemokratisch und kommunistisch organisierten Widerstand. Als quasi vorbestimmte Orte bewährten sich solche Reformsiedlungen wie die Weiße Stadt in Reinickendorf, ferner die Reformschulen in Niederschönhausen und Pankow und Einrichtungen moderner Medizin in den Anstalten von Buch und Wittenau. Besondere Wirkung ging ferner von der „Hochburg der Bekennenden Kirche" in Pankow mit
ihren Stützpunkten in Tegel, Wittenau und Hermsdorf aus. Durch sie gewann der Widerstand ein
intensives Gesicht. — Verf. geht anfangs auf die Strafanstalt Tegel ein, wo die Geistlichen als Begleiter
der verurteilten Opfer zur Menschlichkeit herausgefordert wurden; genannt sei unter anderen Poelchau; darunter waren ferner religiöse Sozialisten, die die Widerstandskämpfer und Angehörigen verbotener Parteien aus Arbeiterkreisen betreuten. Tegel war zeitweise die Gefängnisstätte von Dietrich
Bonhoeffer, Martin Albertz, Pater Delp und Probst Bernhard Lichtenberg. Es wird ersichtlich, wie
der Widerstand in diesem und allen weiteren Kapiteln festgemacht ist an vielen herausragenden
Namen, es kommen aber auch unerwartet viele unbekannte ans Licht. Es ist überhaupt nötig, die
Geschichte des Widerstandes in ihren wesentlichen Zügen zu kennen, um die Struktur des hier Geleisteten zu sehen. — Vom Widerstand der SPD wird ähnliches berichtet, wie es allgemein andernorts
bekannt ist. Das Muster ihres Verhaltens sind illegale Flugblattaktion, Treffen an geheimen Orten,
Verhaftung, Prozeß und Verurteilung. Ihr Antrieb war das Bewußtsein, als SPD seit dem PreußenSchlag von 1932 die letzte Verteidigerin der Weimarer Demokratie zu sein. Um so tragischer erscheint
es, daß viele ihrer Mitglieder nach demEndeder Diktatur in der DDR wieder verhaftet wurden, als sie
sich der Zwangsvereinigung widersetzten. — Der kommunistische Widerstand ging von kleinen unabhängigen Gruppen aus, nachdem die KP verboten war, und die Partei sich anderen Gruppen gegenüber verbohrt verhielt. Die Arbeit der Kleingruppen und Einzeltäter war größtenteils heldenhaft und
opferbereit. Verf. leuchtet dann in die reformpädagogische Arbeit der „weltlichen Schulen" hinein,
wie sie seit der Weimarer Zeit auf dem Wedding und in Pankow bestanden; er nennt die Lebensgemeinschaftsschule in Niederschönhausen ebenso wie die Schulfarm Scharfenberg. Ihre ehemaligen
Schüler attestieren die ihnen dort selbstverständlich gewordene aufrechte Haltung, die sie zum Widerstand trieb. — Ein glücklicher Umstand war es, daß beide Bezirke — bis hinaus auf das Umland von
Birkenwerder und Hohen Neuendorf — im Kirchenkreis Berlin Land II organisiert waren, an dessen
Spitze der Superintendent Dr. Fritsch stand, der die Bekennende Kirche, obwohl selbst neutral, mutig
förderte. Unter seinem Schutz konnten sich die Gemeinden in Pankow, Wittenau und Hermsdorf
sowie Tegel im Sinne der Erklärung von Barmen profilieren. Langsam in Vergessenheit geratende
Namen wie die der Pfarrer Beschoren und Jungclaus, Pankow und Beyerhaus, Dannenberg, Ruhnke
und Gehann, vor allem die ersten Vikarinnen, sind zu nennen. Ihr Widerstand spiegelt sich auf der
Ebene der theologischen Auseinandersetzung ebenso ab wie im täglichen Kleinkrieg, den die Deutschen Christen aus Zermürbungsgründen anzettelten. Jede der Gemeinden hatte ihre eigene Prägung
durch ihren jeweiligen Pfarrer, und einige von ihnen waren Vertrauensleute der BK-Kirchenleitung. —
Die Hochburg war Pankow, das einheitlich der BK angehörte, genannt das „Dahlem des Nordens".
Seine Gläubigen kamen teils aus dem Pankower Bürgertum, teils fand der Kampf auch in den Arbeiterwohnstraßen statt, die an den Prenzlauer Berg grenzten. In die Auseinandersetzung wurde auch
der spätere Bischof Dr. Kurt Scharf verstrickt. Die Pankower Hoffnungskirche war die Asylstätte für
jüdische Amtsbrüder und sonstige jüdische Verfolgte. Es wird ferner vermerkt, daß es Dr. Fritschs
fortschrittlicher Sinn war, der die ersten Pfarrerinnen heranzog, als allgemein noch Frauen in geistlichen Ämtern abgelehnt wurden. Ihr Einsatzfeld waren die Notgemeinden. — Aus den Reihen der
Katholiken wird der Bischof Graf von Preysing genannt, der vielen Verfolgten zur Emigration verhol148
j
fen hat, ferner Pfarrer Erxleben in der Frohnauer Invalidensiedlung als Vermittler zwischen dem
Obersten Wilhelm Staehle und dem Solf-Kreis und den Kreisauern. Ferner gab es viele Opfer aus den
Reihen der Zeugen Jehovas in beiden Bezirken. — Das Krankenhaus Nordend in Niederschönhausen
war die letzte Station des todkranken Carl von Ossietzky. — In zwei weiteren Gruppen werden Einzeltäter aufgeführt; es sind vorwiegend Künstler, deren Haltung hier als „innere Emigration" gekennzeichnet wird. Genannt werden die Maler Max Grunwald, Hannah Hoch und Bernhard Hoetger, der
Dichter Oskar Loerke, ferner „Ärzte als Helfer" oder Mitglieder des Kreisauer Kreises wie Otto von
der Gabelentz, der ein Vordenker der Kreisauer war und später Direktor des Otto-Suhr-Institutes
wurde. In Frohnau knüpfen sich außer an die Person Staehles die Fäden an den Kreis um den Arzt Dr.
Wentzler, der, obwohl Leibarzt Görings, Kenntnisse vom geplanten Attentat weitergab. — Bisher
wenig gewürdigt und weithin unbekannt ist die „Gruppe Mannhart", initiiert von Dr. Max Klesse und
ausgehend von revolutionär-sozialistischer Gründung; sie leistete vorwiegend in Betrieben der
metallverarbeitenden Industrie — Rheinmetall-Borsig — aufklärerische Arbeit. Ihre Ärzte und Pädagogen erörterten Verfassungspläne und Unterrichtsstoffe für die Nachkriegszeit und -Ordnung und
gewannen Teile der Rüstungsarbeiterschaft für den Widerstand. Hier gab es Querverbindungen zum
Widerspruch der Ärzte um Wladimir Lindenberg. Aus allem Dargestellten ergibt sich eine Geschichte
in der Geschichte. — Das Erstaunliche ist, daß, wer sachgetreu den Einzelheiten nachgeht, im Untergrundereignis Widerstand ein Ganzes entdeckt. Verf. hat es in seiner Verflochtenheit sichtbar
gemacht. Er hat alle Gruppen aufgesucht, viele Tatsachen recherchiert und sie in das Gemälde eingebracht. Nicht nur die mannigfachen Verbindungen unter ihnen werden sichtbar, sondern auch eine
Geistesgeschichte in der Zeit des Dritten Reiches ergibt sich. Man kann von einer Aufarbeitung sprechen.
Christiane Knop
Der Buchzwilling Nr. 1: Aus dem Berliner Verbrecherleben/Das Kriminalmuseum (Polizeihistorische Sammlung Berlin) 1990; Der Buchzwilling Nr. 2: Berlins heimliche Sehenswürdigkeiten/Berlins unheimliche Sehenswürdigkeiten; Der Leierkasten/Ein Wahrzeichen Berlins. Alle drei Bände
im Verlag Wort- & Bild-Specials H. P. Heinicke Berlin 1990/91.
Der Königlich-Preußische Kriminal-Kommissar Karl Weien veröffentlichte 1890 Enthüllungen aus
der Praxis über Gaunersprache, Einbrecher, Unterweltlokale, Bauernfänger und die berüchtigten
Louis (Zuhälter). An Literatur über diese Themen fehlt es nicht: kulturhistorisch am interessantesten
und sehr ausführlich sind bei Weien wohl die Ausdrücke des Gaunerjargons wiedergegeben, von
denen einige heute noch in jenen Kreisen lebendig sind und andere sich sogar in unsere brave
Umgangsspache eingeschlichen haben (ausbaldowern, Schale [Kleidung], Lurke [Kaffee], Nepp,
Kaschemme usw.). Die Gaunersprache bediente sich der Ausdrücke, schuf sie aber keineswegs immer
originär: viele sind dem Hebräischen entlehnt. Hinweisen kann man auf einen gewissen Sinnwandel
der Wörter „Verbrechen, Verbrecher": betrachtete das vorige Jahrhundert schon jeden geringfügigen
Taschendiebstahl als Verbrechen, versteht man heute — cum grano salis — darunter mehr schwere
Vergehen gegen Leib und Leben. Von diesen ist im kleinen Band „Berliner Verbrecherleben" auch
keine Rede.
Hundert Jahre weiter - 1990 - führt uns der Zwillingsband „Das Kriminalmuseum" in die Polizeihistorische Sammlung Berlins am Platz der Luftbrücke. Das Museum soll, wie einer seiner Mitarbeiter
im Vorwort sagt, als Lehrmittelsammlung und Instrument der Öffentlichkeitsarbeit auch dokumentieren, zu welchen Vergehen und Verbrechen sich der Mensch hinreißen läßt, zum anderen sollen die
Aufgaben der Polizei als Ordnungs- und Machtinstrument des Staates verdeutlicht werden. Das
geschieht im Museum selbst wie im Buch höchst eindringlich — starke Nerven müssen sich hier beweisen.
Buchzwilling Nr. 2 behandelt Berlins „heimliche" und „unheimliche" Sehenswürdigkeiten. Hier spekuliert man wohl ein wenig auf das vermutete Sensationsverlangen der Buchkäufer. Diese werden
enttäuscht. Was an Texten und Bildern geboten ist, ist (meistens) weder heimlich noch unheimlich.
Menschen und Schauplätze, Unfälle, Prozesse, Affären, Spionage - kurz alles, was in den Spalten der
Presse einmal wochenlang für Furore gesorgt hat, findet sich zusammen, mit knappen, nicht immer
ganz präzisen Texten und uninteressanten, nichtssagenden, technisch schlechten Bildchen versehen.
Hier wurde, wie man so sagt, mit heißer Nadel gestrickt.
149
Mit ungleich liebenswürdigerer Materie stellt sich ein drittes Bändchen des Verlages vor: Der Leierkasten/Ein Wahrzeichen Berlins. Wirklich wird ein gutes Stück Kulturgeschichte vorgeführt, nicht
nur der deutschen Hauptstadt zugehörig, aus der Feder mehrerer Autoren und wissenschaftlich fundiert. Der Leser wird eingehend informiert über die Geschichte des Drehorgelbaues, dessen Techniken und über die Darstellungen auf Straßen und Plätzen vor entzückten Zuhörern. Mögen auch heute
noch Geräte gebaut werden, sie bleiben ein Relikt vergangener Tage: eigentlich schade!
Gerhard Kutzsch
„Berliner Straßen und Plätze". Verschiedene Autoren. 160 Seiten, 26 Abbildungen, Nicolaische
Verlagsbuchhandlung, Sender Freies Berlin, Berlin 1988
Was sich im Vorwort „Mosaiksteine einer Stadtgeschichte" nennt, ist die schriftliche Aufzeichnung
einer Sendereihe des Senders Freies Berlin zur 750-Jahr-Feier Berlins 1987. Wer anhand des Büchleins eine imaginäre Reise durch Berlin unternimmt, wird durch die vielfältigste Topographie in alle
Himmelsrichtungen geführt, über Boulevards sowie über Dörfer am Stadtrand. Er liest von versteckten und unbedeutenden Straßen wie der Kunkelstraße, von Relikten aus vorindustrieller Zeit oder
von einstigen Grenzorten wie Staaken. Er begegnet großbürgerlichem Wohnen am Bayerischen Platz
und im einstigen „Geheimratsviertel" an der Köthener Straße.
Dichter und Schriftsteller wie Auerbach und Bergengruen, Goethe und Glaßbrenner, Gutzkow,
Stinde und die Bettina werden mit ihren Lebensbildern vorgestellt, Musiker wie Quantz und Beethoven, Fasch und Furtwängler werden erinnert, desgleichen Maler wie Baluscheck, Zille, Stadtplaner
wie Brix und Architekten, Unternehmer wie Borsig und Gotzkowsky, der Erfinder Nipkow, Ärzte wie
Dieffenbach, Widerständler und Verfolgte wie Stauffenberg und Lise Meitner.
Die unterhaltsame Reise zu Menschen vergangener Jahrzehnte und Epochen gerät zur kleinen Kulturgeschichte.
Christiane Knop
150
Im III. Quartal 1992 haben sich folgende Damen und Herren
zur Aufnahme gemeldet
Dr. Bert Becker, wiss. Mitarbeiter
Düsterhauptstraße 2, 1000 Berlin 28
Tel. 4024259
Ernst Kluge, Rentner,
Königsheideweg 72, O—1195 Berlin
Tel. 6372329
Im IV. Quartal 1992 haben sich
zur Aufnahme gemeldet
Karen Birckholz, Rechtspflegerin
Max-Lingner-Straße 5 B, O-1100 Berlin
Tel. 4728266
Alfred Etzold, Dipl.-Gärtner
In den Ruthen 9, 0-1413 Schüdow
Tel. (033056)910
Gisela Freydank, Museologin
Wilhelmsruher Damm 93, 1000 Berlin 26
Tel. 415 2410
Gertrud Fritsch, Rentnerin
Brunnenstraße 185, O-1054 Berlin
Klaus Geike
Herrenmaßschneider/Rentner
Rochowstraße 18, O-1017 Berlin
Heinz Knobloch
Schriftsteller, Journalist
Masurenstraße 4, O-1100 Berlin
Tel. 4722083
Jürgen Krämer, Bezirkschronist
Kienbergstraße 30, O-1140 Berlin
Tel. 545 2132
Karl-Heinz Laubner, Dipl.-Ing.
Am Steinberg 122 a, O-1120 Berlin
Tel. 4714158 oder 4297174
Bernd Müller, Handwerker
Florastraße 48, 0-1147 Berlin
Tel. 5626234
Dieter Zins, Rentner
Leonberger Ring, 1000 Berlin 47
Tel. 6041645
gende Damen und Herren
Klaus Linsener, Rentner
Friedensweg 33, 1000 Berlin 49
Tel. 7466450
Sabine Linsener, Pensionärin
Friedensweg 33, 1000 Berlin 49
Tel. 7466450
Eveline Naumann
Tänzerin, Tanzpädagogin
Am Schlehdorn 18, 0-1147 Berlin
Tel. 5626254
Ruth Neumann, Rentnerin
Conrad-Blenkle-Straße 42, O-1055 Berlin
Tel. 4297174
Jutta Pagel, Dipl.-Betriebswirtschaftlerin
Schmollerstraße 9, 0-1193 Berlin
Tel. 2728283
Karl Pagel, Dipl.-Afrikanist
Schmollerstraße 9, 0-1193 Berlin
Tel. 2728238
Joachim Strunkeit, Dipl.-Braumeister
Roedernstraße 48, 1000 Berlin 28
Tel. 4041449
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Veranstaltungen im II. Quartal 1993
1. Mittwoch, den 5. Mai 1993, 19 Uhr: (Bitte beachten Sie die veränderte Anfangszeit!)
Jahreshauptversammlung 1993 im Raum 219 des Berliner Rathauses, Stadtmitte.
Tagesordnung:
1. Begrüßung durch den Herrn Vorsitzenden.
2. Entgegennahme des Tätigkeits-, des Kassen- und des Bibliotheksberichtes.
3. Berichte der Kassen- und Bibliotheksprüfer.
4. Aussprache.
5. Entlastung des Vorstandes.
6. Wahl des Vorstandes.
7. Wahl von zwei Kassenprüfern und zwei Bibliotheksprüfern.
8. Verschiedenes.
9. Anschließender Vortrag.
Anträge aus dem Kreis der Mitglieder sind spätestens bis zum 23. April 1993
der Geschäftsstelle einzureichen.
2. Freitag, den 14. Mai 1993, 15 Uhr: „Märkische Sakralplastik in der Nikolaikirche".
Stadtmitte. Leitung Frau Donata Kleber. Treffpunkt in der Turmhalle. Der Eintrittspreis
ist von den Mitgliedern zu entrichten.
3. Dienstag, den 25. Mai 1993, 14.30: Führung durch die Parochialkirche in der Klosterstraße. Stadtmitte. Leitung Archivleiterin Frau Gudrun Meckel. Treffpunkt vor dem Kirchenportal. Ein eventueller Eintrittspreis ist von den Mitgliedern zu entrichten.
4. Sonntag, den 6. Juni 1993, 10 Uhr: Führung durch das ehemalige Vergnügungsviertel
zwischen Linden und Weidendammer Brücke. Leitung Herr Hans-Werner Klünner.
Treffpunkt U-Bhf. Französische Straße, Nordausgang.
5. Sonnabend, den 19. Juni 1993,17 Uhr: Im Alten Dorfkrug zu Lübars, 1000 Berlin 28,
Alt-Lübars 8, geselliges Beisammensein. Drei Gerichte stehen zur Auswahl. Bekanntgabe bei den telefonischen Anmeldungen unter 8545816 ab 19 Uhr bis zum 15. Juni
1993.
Bibliothek: Berliner Straße 40, 1000 Berlin 31, Telefon 87 2612. Geöffnet: mittwochs 16.00 bis
19.30 Uhr.
Vorsitzender: Hermann Oxfort, Breite Straße 21, 1000 Berlin 20, Telefon 3 33 2408.
Geschäftsstelle: Frau Ingeborg Schröter, Brauerstraße 31, 1000 Berlin 45, Telefon 772 34 35.
Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Berndt, Seestraße 13, 1000 Berlin 65, Telefon 45 09-264.
Schatzmeisterin: Frau Ruth Koepke, Temmeweg 38, 1000 Berlin 22, Telefon 3 65 76 05.
Konten des Vereins: Postgiroamt Berlin (BLZ 100100 10), Kto.-Nr. 433 80-102, 1000 Berlin 21;
Berliner Bank AG (BLZ 100 200 00), Kto.-Nr. 03 81801200.
Die Mitteilungen erscheinen vierteljährlich. Herausgeber: Verein für die Geschichte Berlins, gegr.
1865, Schriftleitung: Günter Wollschlaeger, Kufsteiner Straße 2, 1000 Berlin 62; Dr. Christiane
Knop, Rüdesheimer Straße 14, 1000 Berlin 28; Beiträge sind an die Schriftleiter zu senden.
Abonnementspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag gedeckt. Bezugspreis für Nichtmitglieder: 16 DM
jährlich.
Herstellung: Westkreuz-Druckerei Ahrens KG Berlin/Bonn, 1000 Berlin 49.
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Schriftleitung.
152
A 1015 F
MITTEILUNGEN
DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS
GEGRÜNDET 1865
89. Jahrgang
Heft 3
Juli 1993
Rätiblbllothek
Fachcbt. der Berliner Stadlblbllothok
Der Altaraufsatz der Dorfkirche zu Döbbersen in Mecklenburg von H. J. Bulle, 1729
Die St.-Vitus-Kirche zu Döbbersen
Von Günter Wollschlaeger
Einige Kilometer nördlich der Stadt Wittenburg liegt im Gebiet des ehemaligen Bistums Ratzeburg das Dorf Döbbersen, nicht weit von der sächsisch-lauenburgischen Grenze entfernt.
Seine Kirche steht, schon von weitem für den aus allen Himmelsrichtungen Ankommenden
sichtbar, inmitten einer weit gestreckten Niederung auf einem Hügel in unmittelbarer Nähe des
sich südöstlich hinziehenden, von lichtem Mischwald halb eingefaßten Woezer Sees.
Wie in Brandenburg begann auch in Mecklenburg der Kirchenbau im hohen Mittelalter. Das
auf uns gekommene Gotteshaus von Döbbersen, das einen Vorgängerbau aufweisen muß, ist
am 30. Juni 1255 geweiht worden:
„Nos Fridericus dei gratia Razeburgensis episcopus consecravimus hanc ecclesiam et hoc
altare in honorem sancte Crucis, beate Mariae virginis, Viti... martyris . . . et omnium sanctorum, anno domin(i) M. CC.L.V II. kalend. Julii, pontificatus nostri anno quinte."1 heißt es in
mittelalterlichem Latein.
„Wir, Friedrich, von Gottes Gnaden Ratzeburgs Bischof, haben diese Kirche und diesen Altar
geweiht, zu Ehren des Heiligen Kreuzes, der gesegneten Jungfrau Maria, des Märtyrers Virus
und aller Heiligen im Jahre des Herrn 1255. . . . In unserem fünftem Amtsjahr."
Die ersten Kirchdörfer waren mit der frühen Besiedlungswelle im letzten Viertel des 12. Jahrhunderts entstanden. Besonders gut organisierte das Bistum Ratzeburg die Kolonisation des
Landes. Von den hier gegründeten großen Dörfern faßte man jeweils neun bis fünfzehn zu
einem Kirchspiel zusammen. Döbbersen wird schon 1194 als eine zu Ratzeburg gehörende
Parochie erwähnt und reiht sich damit in die Reihe der frühen Gründungen von Schlagsdorf,
Carlow, Mustin, Karchow, Vellahn und Vietlübbe. Die Ratzeburger Diözese umfaßte um 1195
schon dreißig Pfarren mit einem Ausstattungssoll von je vier Hufen, das aber nirgends verwirklicht wurde. Überall blieb es bei den üblichen zwei Hufen.2 Auch an der Ostseeküste bezeugen
zahlreiche bis in das beginnende 13. Jahrhundert zurückreichende Kirchenbauten die zeitige
Erschließung. Um 1230 war dann das Netz der kirchlichen Gliederung vollendet worden. Erst
viel später teilte man die großen Kirchspiele dieser Zeit wieder auf. Das Patronat über die Gotteshäuser und die damit verbundene Verpflichtung für deren Instandhaltung und den Unterhalt der Priesterschaft besaß der jeweilige weltliche oder geistliche Landesherr. Die Backsteinkirche von Döbbersen ist im Übergangsstil errichtet worden, im wesentlichen von der Spätromanik geprägt: Ein Bau mit eingezogenem, also schmalerem und niedrigerem Chor mit
geradem Schluß für die Geistlichkeit, einem Langhaus für die Gemeinde und einem ursprünglich mächtigen Westturm in der gleichen Breite: Eine sinngemäße Übersetzung großer Architektur in ein kleines Format.
Auf der Südwestseite des Turmes führt die ursprüngliche enge gemauerte Treppe, die sehr
stark ausgetreten ist, zum heutigen Glockenstuhl im Obergeschoß.
Über einfachem Sockel mit Plattenschräge besteht das aufgehende Mauerwerk im wendischen
Verband — zwei Läufer, ein Binder — in allen drei Teilen — Chor, Langhaus, Turm — aus dem
mittelalterlichen Klosterformat und ist, abgesehen von vereinzelten neuzeitlichen Ausbesserungen, jeweils einheitlich durch Ecklisenen und Zahnfriesen unter dem Kranzgesims gegliedert, während die Westwand eine stillose moderne Verblendung besitzt. Die eben erwähnten
Lisenen erscheinen als schmale Wandvorlagen ohne Basen und Kapitelle deutlich funktionsgebunden, sie dienen im dünneren Mauerwerk der einzelnen additiv gebundenen Baukörper als
haltgebende Wandschicht.
154
Im Südosten fällt der Hang zum See hin ab. Dort liegen sichtbar unter dem ebenfalls teilweise
ausgebesserten Backsteinsockel mehrere Feldsteinschichten zur besseren Isolierung, weil Feldsteine das Wasser nicht in dem Maße wie Backsteine aufsaugen. Die Fensteröffnungen sind der
Wölbung im Inneren wegen paarweise angeordnet und schließen im Chor im Rundbogen, im
Langhaus im gestelzten Rundbogen und im Turm im Spitzbogen. Die Schauseite bildet die
Nordwand zum Dorf hin. Im Turmuntergeschoß befindet sich das mehrfach abgetreppte
Rundbogenportal für die Gläubigen mit eingestellten Rundstäben und durch kelchartige
Formsteine und doppelte Platten betonter schwarz glasierter Kämpferzone. Darüber setzt die
Archivolte die Gewändegliederung fort. Alle Formsteine und die Ziegel der äußeren Wandschicht des Rundbogens sind alternierend brandfarben und schwarz glasiert.
Über dem Portal reißt ein neuzeitlich gefaßtes großes Rundbogenfenster die Mauerfläche auf
und wird von ursprünglichen rundbogigen, verputzten Blendarkaden unter zierlichen verputzten ursprünglichen Kreisblenden flankiert.
Ein doppelter Zahnfries mit dazwischenliegender nur aus Läufern bestehender „Backsteinstromschicht" schließt das Untergeschoß ab.
Das zweite Turmgeschoß unter behelfsmäßigem Dachstuhl, der Turm ist in den siebziger Jahren abgetragen worden, zerreißt ebenfalls eine neuzeitlich gefaßte große Luke, die wohl dem
Einbringen der drei Glocken gedient haben mag, westlichflankiertvon einer erhaltenen romanischen verputzten Kreisblende.
Sie und die Portalbogen sind nicht perfekt ausgeführt worden und wirken daher besonders
lebendig.
Auch reduziert wirkt der Westbau wuchtig und eindrucksvoll. Unheil und Tod kamen nach
frühchristlicher Überlieferung aus dem Westen. Der Westbau symbolisiert daher in unseren
Breiten die Burg des kriegerischen Erzengels Michael. Er verteidigt das himmlische Jerusalem,
das der Kirchenbau von alters her bedeutet. Die zugesetzte Priesterpforte in der Chorwand
zeigt unter den Abrißspuren eines späteren Anbaues die gleiche aufwendige Gliederung des
Laienportals. An dieser Nordwand der kleinen Dorfkirche feiert sich in der Mitte des 13. Jahrhunderts noch einmal die ganze repräsentative Schmuckfreude der Backstein-Spätromanik,
und man ist versucht, dem unwiederbringlich im Dunkel der Vergangenheit versunkenen Bauherren-Geheimnis dieses Gotteshauses auf die Spur zu kommen.
Im Inneren verweisen Turmhalle und Langhaus mit kuppelartigen, aufwendig gebusten Domikalgewölben auf die spätromanische Baukunst Südwestfrankreichs und Westfalens.
Der Chorraum ist kreuzgratgewölbt.
Die Turmhalle öffnet sich zum Langhaus in einem Spitzbogen mit konsolartig auf halber Höhe
endendem Unterzug, beide sind heute zum Kirchensaal zusammengefaßt. In gleicher Weise ist
der Chor- oder Triumphbogen gestaltet.
In jeder mittelalterlichen Kirche raunt für den, der es hören will, das über Jahrhunderte eingefangene Leben. Wie die alten Häuser atmen auch die Dorfkirchen den Geist früherer Generationen, obwohl wir nichts von den Menschen, die sich dort zur Messe, an den hohen Feiertagen,
zur Taufe, Kommunion, Hochzeit, zum Totengedenken oder zum Gottesdienst und zum Erntedank versammelten, wissen können.
An jenem 30. Juni 1255 war Heinrich der Löwe sechzig Jahre tot. Er hatte 1154 auf dem
Reichstag zu Goslar von König Friedrich I., der sich dann auf seinem ersten Italienzug von
Papst Hadrian IV. zum Kaiser hatte krönen lassen, das Recht der Bischofsinvestitur in seinen
Marken erhalten und wahrscheinlich noch im selben Jahr das Bistum Ratzeburg wiedergegründet. Das Recht der Bischofsinvestitur galt damals als königliches Recht, und sicher mochte der
155
junge Staufer mit dem Privileg die Herkunft seines Vetters berücksichtigt haben. Denn dieser
war Enkel Lothars HL, der sich 1133 in Rom von Innocenz IL ebenfalls zum Kaiser hatte krönen lassen und in der Benediktinerabteikirche von Königslutter seine letzte Ruhestätte gefunden hat. Vielleicht war Friedrich auch anfänglich bereit gewesen, dem Herzog als seinem Vertreter die uneingeschränkte Herrschaft im Norden des Reiches einzuräumen, um selbst im
Süden freie Hand zu haben. Doch die übersteigerten Ansprüche Heinrichs hatten das gute Einvernehmen, das Friedrich wünschte, bald zunichte gemacht. Nach dem Tod des Löwen hatte
das Land die starke Hand verloren, die es schützte. Uneinigkeit und hierdurch bedingte Fehden
waren an der Tagesordnung. Mit dem unerwarteten Tod Heinrichs VI. 1197 und der unheilvollen Doppelwahl des Barbarossa-Sohnes Philipp von Schwaben und des Löwen-Sohnes
Otto IV. zu deutschen Königen und dem daraufhin im Reich auflodernden Bürgerkrieg konnten die Dänenkönige Knud und nach 1202 Waldemar IL die südliche Ostseeküste zwischen
Hamburg und Rügen unterwerfen. Im November 1201 war Ratzeburg in die Hände Waidemars gefallen, aber überall regte sich Widerstand, und der Bischof Philipp von Ratzeburg
begleitete 1210 den Weifenkaiser Otto LV. auf seinem Italienzug.3 Nach der vorübergehenden
Gefangennahme Waidemars durch den Grafen von Schwerin im Jahre 12234 zerfiel das dänische Großreich so schnell, wie es entstanden war, und auch der Versuch Waidemars, das Verlorene wiederzugewinnen, endete mit seiner Niederlage bei Bornhöved am 22. Juli 1227.
Etwa eine Generation vor dem Kirchweihtag hatten Wolfram von Eschenbach den „Parzival",
Hartmann von Aue den „Armen Heinrich", der jüngere Gottfried von Straßburg „Tristan und
Isolde" gedichtet und Walther von der Vogelweide die Zerrissenheit seines Vaterlandes
beklagt. Die vier haben dem Leben der Stauferzeit poetischen Ausdruck verliehen; mit ihnen
hatte die deutsche Lyrik ihre erste Klassik erlebt.
Aber das fünfte Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts, von der zweiten Kirchenbannung des Staufers
Friedrichs IL, Königs beider Sizilien, 1239 bis zu seinem Tod im Kastell Fiorentino in der Capitanata am 13. Dezember 1250 hatten Zeitgenossen als die Phase des „Apokalyptischen Endkampfes" zwischen Kaiser- und Papsttum in der Auseinandersetzung um die Vorherrschaft in
der christlichen Welt gesehen.5 Diese Auseinandersetzungen wurden auf allen Ebenen geführt,
mit Waffen auf den Schlachtfeldern und mit Worten und Pamphleten in den Kirchen. Friedrich IL, der wohl geistvollste, aber auch der umstrittenste und doch einer der größten Herrscher
des Abendlandes, der 1248 bei der Belagerung von Parma in Vittoria Staatsschatz, Kaiserkrone, Königssiegel und das persönliche Exemplar seines Buches „De arte venandi cum avibus" eingebüßt hatte, war nun zum Mittelpunkt der politischen Streitigkeiten zwischen Zentralgewalt und Kurie, Kirche und Ketzern geworden. Er galt entweder als treuer oder undankbarer Sohn der Kirche, als ihr Verteidiger, Vernichter oder Erneuerer.
An jenem 30. Juni 1255 lagen diese Erschütterungen erst wenige Jahre zurück.
Im Jahre 1226 war Franz von Assisi gestorben, die andere bedeutende geistige Potenz dieser
Zeit. Seine Bettelordensbewegung unterwanderte über die Städte langsam, aber sicher die
reichsitalischen Machtstrukturen, bis Reichstreue schließlich als unvereinbar mit Glaubenstreue gesehen werden konnte. Für den einzelnen jedoch entstanden in ihrem Gefolge die ersten
sozialen Einrichtungen größeren Umfangs, Siechen- und Armenhäuser, Spitäler, Armenküchen und andere Wohltätigkeitseinrichtungen. Im Jahre 1226 gehörte Döbbersen dem damals
bereits dreihundert Jahre alten Benediktiner-Nonnenkloster Zeven.6 Ursprünglich in Heeslingen nordöstlich von Bremen gegründet, war es durch Erzbischof Adalbert von Bremen 1141,
neunzehn Jahre nach Beendigung des Investiturstreites durch das Wormser Konkordat, das der
Kirche nicht die gewünschte Unabhängigkeit vom Staat gebracht hatte, wenige Kilometer südwestlich nach Zeven verlegt worden. Das Kloster war einem der vierzehn Nothelfer, dem heili156
gen Vitus, geweiht worden und hatte dieses Patrozinium dem Vorgängerbau in Döbbersen
übertragen.
Vier Jahre später erwähnt das Ratzeburger Zehntregister von 1230, die älteste Bauernurkunde
Deutschlands, Zeven nicht mehr als Besitzer, es wird es verkauft haben.
Das Christentum hatte über ein Jahrtausend die Entwicklung des öffentlichen und gesellschaftlichen Lebens mitvollzogen und immer wieder in der Achtung der Gottebenbildlichkeit des
Menschen und der Welt als Schöpfung Gottes seinen Standort neu bestimmt. Wir wissen nicht,
ob sich die Menschen im Jahre 1255 in Döbbersen über ihre Zugehörigkeit zur Kirche hinaus
innerlich wirklich als Christen fühlten. Heidnische Überlieferungen spielten jedenfalls im Bauernvolk noch immer eine große Rolle. In der Rostocker Umgebung war es noch um 1500 —
etwa eine Generation vor der Reformation — altheiliger Brauch, in der Ernte das letzte Eckchen des Kornfeldes ungemäht stehen zu lassen. Man sammelte sich dort zu folgendem Gebet:
„ Wode, du Goder, hal dienern Rosse nu Foder; up dit Johr Distel un Dorn, up anner Johr beter
Korn".7
Beharrlich setzte die Kirche der Orientierungslosigkeit einer Lebensführung, die zwischen
Heiden- und Christentum schwankte, die Bereitschaft des persönlichen Glaubensbekenntnisses und die Treue zur christlichen Sittenlehre entgegen. In einem Fest der Sinne machte sie die
Verinnerlichung, die Einkehr und die Buße der Gläubigen im Gottesdienst sichtbar. Der
Mensch des Mittelalters lebte aus der Anschauung. Im Schmuck des Gotteshauses erlebte er in
der heiligen Messe das Heilsgeschehen der Vergangenheit immer wieder von neuem, die historische Distanz war aufgehoben. Die Feier wahrte nicht nur die Erinnerung an das Leiden Christi, sondern gab ihm die lebendige Kraft zur Bewältigung seines schwierigen Alltagsdaseins.
Der Einzug des Priesters in das Gotteshaus, das Anlegen des liturgischen Gewandes, das
Gebet an den Altarstufen, der Kuß von Evangelienbuch, Altar und Kruzifix, die verlesenen
Texte, die Weihräucherung, die Verwandlung von Brot und Wein in Fleisch und Blut, die Segnungen und die Entlassung waren von beeindruckender, von uns Heutigen, die wir in Begriffen
denken, nicht mehr nachvollziehbarer Stärke. Die himmlischen Heerscharen und die Dreieinigkeit Gottes sollten die Dämonenfurcht bezwingen, die in der alten Vielgötterei wurzelte.
Das strenge Protokoll der kirchlichen Festtage lehrte die Menschen aber auch, sich Ordnungen
und Gesetzen zu fügen, die nicht von ihnen stammten, den göttlichen Geboten. Beichte und
Buße sollten das bäuerliche Volk disziplinieren. Die an den Altären betenden Gläubigen fühlten sich als Einwohner des himmlischen Jerusalem. Das im Westbereich des Gotteshauses liegende Eingangsportal führte zur Passionsdarstellung im Osten und machte den durch Jerusalem gehenden Weg nach Golgatha nachvollziehbar. Das gesamte mittelalterliche Denken lokalisierte das Paradies im Osten, und Thomas von Aquin hatte gelehrt: „Wir beten nach Osten,
weil das Paradies im Osten liegt." Auch die drei Weisen aus dem Morgenland hatten den Stern
von Bethlehem im Osten gesehen.
Aus der Reformationszeit — Herzog Heinrich von Mecklenburg hatte am 17. September 1533
das Abendmahl in beiderlei Gestalt gefeiert — stammen zwei sich entsprechende Wandmalereien, die noch schwach erkennbar sind, in den Fensterzonen des Langhauses. Auf der Nordwand flankieren Moses und Aaron das Kreuz mit der ehernen Schlange über dem Lamm mit
der Siegesfahne, auf der Südwand stehen Melanchthon und Luther neben dem Gekreuzigten.
Nach dem Protokoll der Kirchenvisitation von 1534 hatten die von Pentz zu Raguth der Pfarre
Döbbersen eine Hufe, drei Wiesen, Hebungen und Zinsen genommen.8
In dieser lapidaren Notiz wird der starke Einfluß deutlich, den die Adelsfamilien auf die kirchli157
chen Verhältnisse auf dem Lande nach der Reformation gewinnen konnten. Sie übten bereits in
diesem Jahr 1534 über hundertundvierunddreißig Kirchen das Patronatsrecht aus.9 Auf der
anderen Seite hielt sich das katholische Element im Bereich der Domstifte Schwerin und Ratzeburg hartnäckig. Die Gestaltung des Gottesdienstes änderte sich nicht, nur daß die Messe
deutsch und die Predigt evangelisch geworden waren. Schwer begreiflich für den Gläubigen
blieb zunächst die Abschaffung der Wandlung der Abendmahlselemente und die Einführung
des Laienkelches. Aber nach und nach wandelte sich Döbbersen zu einer streng lutherischen
Bekenntnisgemeinde, die alle innerprotestantischen konfessionellen Streitereien nicht
berührte. Diese Unbeirrbarkeit in Glaubensdingen wird auch Jahrhunderte später für die
Gemeinde Döbbersen bestimmend sein.
Erst zu Anfang des 18. Jahrhunderts hatte man sich von den Folgen des Dreißigjährigen Krieges so weit erholt, daß auch der Patronatsherr von Döbbersen daran denken konnte, die Ausstattung des Gotteshauses zu erneuern. Nachdem Wallenstein Mecklenburg 1627 erobert hatte
und ein Jahr später vom Kaiser mit diesem Herzogtum belehnt worden war, hatten kaiserliche,
dänische und schwedische Truppen das Land verheert und die Bevölkerung drangsaliert und
gemordet. Seuchen und Krankheiten kamen hinzu. Besonders schwer betroffen waren die
mittleren, östlichen und südlichen Gebiete Mecklenburgs, deren Einwohnerschaft teilweise
auf ein Zehntel schrumpfte.10
Vielleicht, um Plünderungen auszugleichen, oder aus Dankbarkeit für das eigene Überleben
stiftete kurz vor dem Ende der Schrecknisse laut Inschrift „Franz Sitz, Meister der Glas Hidden
zu Boddin, Anno 1646,20. März" dem kleinen Gotteshaus drei Altarleuchter aus Messing. Im
Jahr zuvor waren mit dem Friedensschluß von Brömsebro die schwedisch-dänischen Auseinandersetzungen beendet worden. Da außerdem seit 1644 in Münster und Osnabrück die
Gesandten der kriegführenden Staaten verhandelten, hatte man vielleicht auch in Döbbersen
neue Hoffnungen auf eine Zukunft ohne Greuel und Töten geschöpft.
Infolge weiterer glücklicher Umstände konnte man dann schon im Friedensjahr 1648 den zerstörten Kirchturm erneuern.11
Die oktogonal gebrochene Granit-Fünte auf jüngerem Fuß aus dem 13. Jahrhundert — vielleicht schon im Vorgängerbau vorhanden —, die, mit einer Taufschale versehen, noch heute in
Gebrauch ist, und gotische Wandmalerei-Reste aus dem 15. Jahrhundert — eine heilige Gertrud in der nördlichen Triumphbogenlaibung, ein heiliger Georg im östlichen Bereich der südlichen Langhauswand und zwei Rosetten im dortigen Gewölbe — sind aus der Zeit vor dem
Dreißigjährigen Krieg auf uns gekommen. Auch muß der mittelalterliche Altarschrein die
Kriegswirren überdauert haben, denn die Pfarrchronik berichtet ohne Einzelheiten, daß 1727
Altar und Kanzel abgebrochen und die Schnitzfiguren der Heiligen auf dem Speicher des
Pfarrhauses gelagert worden seien. Deshalb hätten sich die Mägde nicht mehr über den Boden
getraut — Jahrhunderte nach der Reformation!
Später seien die Skulpturen, als der Woezer See ausgepumpt wurde, im Dampfkessel verheizt
worden! Liturgische Geräte aus der Zeit vor 1618 fehlen.
Zu Anfang des 18. Jahrhunderts erhielt der Sakralbau, den raumillusionistischen Vorstellungen dieser theaterbesessenen Zeit entsprechend, einen aus dem Chorgewölbe herunterzulassenden Taufengel, der durch Schönheit und Eleganz besticht. Sein Haupt trägt nach antikem
Vorbild einen Lorbeerreif. In seiner Rechten hält er einen Lorbeerkranz, der als Halterung der
massiv goldenen Taufschale, die 1945 die Sieger erbeutet haben, diente. Die Haltung der linken Hand und die leicht aufgeblasenen Wangen deuten auf eine verlorene Posaune, mit der er
frohlockend die vollzogene Taufe verkündete und die auf unserer Abbildung noch zu sehen ist.
Die Taube des Heiligen Geistes innerhalb der Strahlen der Gottesgnade krönt ihn.
158
Abb.l:
Der Taufengel,
Anfang 18. Jh.
Wieder erhebt sich die Frage nach dem Stifter, der einen ungewöhnlich begabten Bildhauer mit
dieser Arbeit für die Dorfkirche beauftragt hatte.
Etwa zwanzig Jahre danach fertigte zwischen 1724 und 172912 H. J. Bulle, der zu den über
lokale Bedeutung hinaus gelangten mecklenburgischen Bildhauern gehörte und der wenige
Jahre vorher, 1721, in der ehemaligen Zisterzienser-Nonnenklosterkirche von Ivenack im
Landkreis Malchin, die um 1700 barockisiert worden war, ein prachtvolles Marmorepitaph für
Ernst Christoph von Koppelow vollendet hatte13, den wiederum für eine Dorfkirche ungewöhnlich aufwendigen Altaraufsatz mit reichem figürlichem Schmuck.
Gotische Altäre dienten der Heiligenverehrung, protestantische Altäre zeigen theologische
Abhandlungen.
Die Predella weist mit der Abendmahlsdarstellung auf die Sündenvergebung hin. Sie flankierten zwei Engelchen, die heute im Pfarrhaus stehen. Der eine trägt auf einem Kissen ein Herz
nach dem Hebräerbrief 3/8 „verhärtet Eure Herzen nicht...", und der andere trägt Helm und
Rüstung, Buch und Schwert nach dem Hebräerbrief 4/12 „Denn das Wort Gottes ist lebendig
und wirksam und schärfer als jedes zweischneidige Schwert.. ,".14 Im Zentrum des architekto159
nisierend aufgebauten Retabels finden wir Christus am Kreuz zwischen Maria und Johannes, in
den versetzten Interkolumnien stehen Moses mit den Gesetzestafeln und Aaron mit dem Räuchergefäß. Von weiteren Engeln umgeben, darunter dem Erzengel Michael als Seelenwäger,
kündet die Grablegung Christi darüber vom Triumph über den Tod und der Erlösung der
Welt.
Grabplatten und Totenschilde sowie die Konsole einer nicht mehr vorhandenen Totenkrone
deuten auf zahlreiche Begräbnisse unter dem Kirchenschiff, die von einem Treppenlauf in der
Sakristei an der Südwand, die aufgrund ihrer Formensprache in die Erbauungszeit des Sakralbaues gehört, zugänglich sind.
Den weiteren Verlauf der Geschichte kennzeichnen die identischen Inschriften zweier Silberkelche, Stiftungen des Erbherren auf Badow Heinrich von Döring vom 20. März 1738 und von
Ernst und Duna Pentzen, Anno 1791: „Geraubt am 6. November 1806, beschädigt wiedererhalten am 26. Oktober 1807, am 16. Dezember 1807 repariert durch Spenden der
Gemeinde."
Nach den notwendigen Renovierungen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts — die Kirche
erhielt damals eine neue Kanzel und Emporen — lieferte die Firma Runge in Hagenow 1878
eine neue Orgel, und zwei Jahre später, 1880, goß man die älteste Glocke aus dem Jahre 1429
um. Deren Mantel trug in einem Medaillon einen stilisierten einköpfigen Adler mit ausgebreiteten Schwingen im Durchmesser von sieben Zentimetern, von A und O in gotischen Majuskeln gerahmt.13 War diese Glocke dem Mahner Johannes geweiht?
Die zweite verkündet: „Mich hat gegossen Laurentz Stralborn in Lübeck, anno 1743. Zur Buss
und Gottesdienst — Ruf ich mit meinem Schall — die noch im Leben sind — zur Ruh die Toten
all. — H. T. Past. Johannes Henricius Schwarz."
Die dritte, die jüngste, ist schlicht und schmucklos und weist in das 19. Jahrhundert.
Unter bescheidenen und überschaubaren Verhältnissen wurde in Döbbersen das Glaubensbekenntnis gesprochen, wie es durch Jahrhunderte überliefert worden war, wurden Lieder gesungen, die Martin Luther und Paul Gerhardt gedichtet hatten, wurde das Evangelium gepredigt,
und in der Kontinuität, in der Wiederholung vertrauter Texte war die disziplinierte und nach
innen gewandte geistige Kraft des Glaubens so stark geworden, daß in unserem Jahrhundert
dort einmal die „Klarheit und Geltung des Evangeliums" (Paul Bard) gegen alle Widerstände
behauptet werden konnte.
In den ersten Wochen nach der „Machtergreifung" hatte die nationalsozialistische Führung
den Eindruck zu erwecken versucht, treu auf der herkömmlichen christlich-nationalen Tradition zu fußen. Auch das NS-Programm hatte sich zum positiven Christentum bekannt. Aber
bald schon setzte die seit 1932 aktiv gewordene „Deutsch-christliche Bewegung", seit dem
Februar 1933 offen begünstigt durch die Partei, zur Gleichschaltung von Staat und Kirche an
und drängte im Sommer 1933 nach dem manipulierten Wahlsieg vom Juli massiv in die Kirchenbehörden. Obwohl der lutherische Protestantismus durch die Überlieferung des Landeskirchentums, durch die althergebrachte Auffassung von „christlicher Obrigkeit" und Luthers
Lehre von den „Zwei Reichen" in seinem religiös begründeten Widerstandsrecht stark befangen war, protestierten am 7. September 1933 der Dahlemer Pfarrer Martin Niemöller und Dietrich Bonhoeffer, die die Wahrheit des Christentums gefährdet sahen, unüberhörbar gegen den
kirchlichen Antisemitismus des Arierparagraphen und riefen zur theologischen Neuorientierung auf. Nur wenige Tage später wählte eine Reichssynode den Königsberger Wehrkreispfarrer Ludwig Müller zum Reichsbischof. Auf der anderen Seite stimmten dem Dahlemer Aufruf
innerhalb weniger Wochen etwa zweitausend Pfarrer zu, und im Dezember 1933 hatten sich
bereits sechstausend Mitglieder im „Pfarrer-Notbund" zusammengeschlossen. Die in der
160
Abb. 2: Ansicht der additiv gegliederten Kirche von Süden.
Nachfolge der Dahlemer Aktion gegründete Bekenntniskirche und die katholischen Bischöfe
stellten sich teilweise in verschiedener Taktik entschlossen nicht nur der inneren Zersetzung
der Kirche durch Gestapo-Einflüsse entgegen, sondern vor allem gegen den Totalitätsanspruch des nationalsozialistischen Regimes, das heißt, gegen die Mißachtung der Grundrechte
des einzelnen, gegen die rassendogmatische Umdeutung des Glaubens, gegen den Personenkult um Hitler und gegen die sogenannte Blutsgemeinschaft des Volkes. Die Intensität dieses
Widerstreites verdeutlichen die Predigten Kardinal Faulhabers über das Alte Testament und
die Hirtenbriefe der deutschen Bischöfe aus dem Sommer 1933, die „Barmer Erklärung" vom
Mai 1934 oder die amtlichen Verkündigungen der Bekenntniskirche. Im März 1935 wurde das
von protestantischen Kanzeln verlesene Manifest gegen die „Rassenmystik" Anlaß zur Verhaftung von siebenhundert Geistlichen. In der zu Pfingsten 1936 vom Bruderrat, der Leitung der
Bekenntniskirche, entworfenen Denkschrift, die Hitler übergeben werden sollte, heißt es:
„Wenn Blut, Rasse, Volkstum und Ehre den Rang von Ewigkeitswerten erhalten, so wird der
evangelische Christ durch das erste Gebot gezwungen, diese Bewertung abzulehnen. Wenn der
arische Mensch verherrlicht wird, so bezeugt Gottes Wort die Sündhaftigkeit aller Menschen.
Wenn dem Christen im Rahmen der nationalsozialistischen Weltanschauung ein Antisemitismus aufgedrängt wird, der zum Judenhaß verpflichtet, so steht für ihn dagegen das christliche
Gebot der Nächstenliebe." Und ein Hirtenbrief der deutschen Bischöfe erklärt im Jahre 1942:
„Wir möchten ganz besonders betonen, daß wir nicht nur für religiöse und kirchliche Rechte
eintreten, sondern auch für menschliche Rechte schlechthin . . . Ohne ihre Gewähr muß der
ganze Bau westlicher Kultur zusammenfallen."
161
Trotz unterschiedlichem Taktieren in den Konfessionen und kirchlichen Gruppen wurden
diese Grundsätze nicht nur gepredigt, sondern vorgelebt. Hunderte von Pfarrern und Kirchenbeamten wurden aus ihren Ämtern und von ihren Kanzeln entfernt oder in Gefängnisse und
Konzentrationslager geworfen. Berlin-Dahlem stellte das inoffizielle Hauptquartier der
Bekennenden Kirche, und Martin Niemöller war einer ihrer bekanntesten Leiter. Gehörten,
um ein Beispiel zu nennen, 1937 in Berlin nur 160 Geistliche der Bekennenden Kirche an,
waren 40 deutsche Christen und eine breite Gruppe von 200 Pfarrern in einer mittleren Position, so hat die Wirksamkeit der kirchlichen Opposition mehr als einmal die Regierung vor
extremen Maßregeln zurückschrecken lassen.16
Vor diesem Hintergrund wenden wir uns wieder der kleinen mecklenburgischen Landgemeinde zu. Am 1. Oktober 1934 war dort Paul Bard als Vikar eingeführt und drei Wochen später, am 21. Oktober, ordiniert worden. Doch schon ein halbes Jahr später, am 18. Februar 1935,
mußte der Landessuperintendent Schönrock aus Wittenburg an den Oberkirchenrat berichten,
der Vikar habe in den Dörfern der Gemeinde statt der Bibelstunden „Vorträge zur kirchlichen
Lage" gehalten und in scharfer Weise gegen den Reichsbischof und gegen den Landesbischof
Stellung bezogen, weil diese deutsche Christen seien. Darüber hinaus habe der Vikar zum
17. Februar die Gemeindemitglieder aufgefordert, im Pfarrhaus den Eintritt in die Bekenntnisgemeinde zu erklären.
Zehn Tage später zählte man fast 200 Mitglieder. Knappe drei Wochen später wurde daraufhin
durch Verfügung des Oberkirchenrates vom 16. März der Bard erteilte Auftrag zurückgenommen. Der Kampf verschärfte sich zusehends. Sechs Tage vorher, am 10. März, war der Vikar
nach einer kurzen Kanzelerklärung mit der Gemeinde und einem Amtsbruder der befreundeten Landeskirche in das Pfarrhaus gezogen — 300 Gläubige, die zum unverfälschten Wort Gottes standen. Bekenntnisgottesdienste in Kirchenbauten waren verboten.
Am 22. März beschloß der Gemeindekirchenrat Döbbersen, nur gemeinsam mit dem Vikar
zur Verhandlung über dessen anderweitige Verwendung zu erscheinen. Man sollte sich diese
Bauern einmal vorstellen, die da in ihrer Glaubensstärke und Glaubenstreue vor dem Oberkirchenrat in ihren Sonntagsanzügen den Verbleib ihres „Pastors" forderten! Den neuen Vikar
hatten sie abgelehnt. Im Kirchspiel Döbbersen hatten sich zuvor innerhalb von vierundzwanzig
Stunden 560 Gemeindemitglieder für Paul Bard entschieden, trotzdem lehnte der Oberkirchenrat das Gesuch ab. Der Vikar beschwerte sich nun über seine Absetzung beim mecklenburgischen Staatsministerium und beim Reichsministerium des Innern und nahm ohne Erlaubnis
weiterhin Amtshandlungen in der Gemeinde vor. Es kam, wie es kommen mußte. Bard wurde
durch die Geheime Staatspolizei am 26. März verhaftet, aber nach wenigen Tagen wieder entlassen — eine erste Warnung an den tapferen Geistlichen. Danach drängten sich am 31. März
1935 500 Gottesdienstbesucher im Pfarrhaus, Ausdruck des damals möglichen schärfsten
Widerspruchs gegen die erkennbare Inhumanität des Regimes, aber auch der Identifikation
der Gemeinde mit den nichtnazifizierten Geistlichen, die entschlossen gegen die Anpassung
und ideologische Verblendung der deutschen Christen antraten und das Evangelium unverwässert bewahrt wissen wollten. 350 Erwachsene besuchten durchschnittlich den Gottesdienst
im Pfarrhaus und standen unverdrossen in den Stuben, zwischen den Türen und auf den Treppen. Acht Zehntel der Gemeinde rechneten sich zur Bekenntniskirche, zehn bis zwanzig deutsche Christen dagegen hörten die Predigten in der Kirche.
Daß Bard eines Tages von Unbekannten vor seinem Pfarrhaus zusammengeschlagen werden
konnte, kennzeichnet treffend die inneren Verhältnisse unter dem Nationalsozialismus. Nach
diesem Zwischenfall siedelte er in das Gutshaus Raguth über, behielt aber seine Dienstwohnung im Dorf. Von nun an stellten sich die Gräfinnen Bernstorff schützend vor die Gemeinde.
162
Konfirmanden- und Bibelstunden, Andachten und Gottesdienste wurden jetzt im Gutshaus
gehalten. Die nervöse Spannung nahm zu. Am 29. August 1935 erließ die Geheime Staatspolizei Mecklenburgs ein Rede- und Aufenthaltsverbot für das Land Mecklenburg gegen Bard,
„um die durch die staatsfeindliche Tätigkeit des Vikars Bard in seinem früheren Kirchspiel
Dobbersen dauernd hervorgerufene Unruhe zu beseitigen". Bei der gewaltsamen, zwangsweisen Räumung der Dienstwohnung nahm der Landessuperintendent Schönrock Bards Privatpapiere an sich und benutzte diese später, um den Vikar als Staatsfeind beim Reichsstatthalter
zu denunzieren. Das war das Ergebnis der jahrelangen Mißachtung aller christlichen Grundsätze des Regimes, die auch die Kirche in wachsende Bedrängnis gebracht hatte. Wenige
Wochen später forderte der Pfarrverweser, der natürlich deutscher Christ war, in einer Eingabe
vom 10. Oktober das Verbot der Bibelstunden und Gottesdienste im Raguther Haus, die über
den Rahmen der Hausgemeinschaft hinausgingen, ein Hinweis auf die Glaubenstreue der
Gemeinde auch nach der Landesverweisung Bards. Dieser versuchte inzwischen erfolglos von
Berlin-Spandau aus, er war im Johannesstift untergekommen, seine Wiedereinsetzung als
Vikar der Gemeinde Dobbersen zu erreichen. Schließlich wurde er als Prädikant der
Gemeinde Barver bei Diepholz überwiesen. Aber am 24. April 1936 wurde durch den Generalamnestie-Erlaß des Reichsministers Kerrl auch das Rede- und Aufenthaltsverbot Bards aufgehoben. Er verbrachte daraufhin seine Jahresurlaube in Mecklenburg und predigte nach wie
vor hierbei im Gutshaus Raguth. Nach dem Krieg scheiterten die Bemühungen der Gemeinde,
ihn wieder als Pastor in Dobbersen zu gewinnen an der Weigerung der Ehefrau, in die Sowjetische Zone überzusiedeln.
Die Denkarten der oppositionellen Kräfte unterschiedlicher politischer Couleur spiegeln die
wirklichen Verhältnisse unter der nationalsozialistischen Herrschaft wider. Ein Beispiel bildet
wieder die Familie Bernstorff.
Gegen den Gutsbesitzer Graf von Bernstorff zu Raguth und Dobbersen sowie zu Wotersen im
Herzogtum Lauenburg hatte der Reichsstatthalter Hildebrandt wegen der Aufnahme und
Unterstützung des Vikars Bard und der Bekennenden Kirche ein Verfahren vor dem Parteigericht beantragt. Graf Bernstorff war seit dem 1. Oktober 1931 Mitglied der NSDAP und Obersturmbannführer der SA. Der Streit durchlief erfolglos für den Reichsstatthalter die Instanzen
verschiedener „Gaugerichte" und endete mit dem Freispruch des Grafen, der nicht Mitglied
der Bekennenden Kirche war. Parteizugehörigkeit schließe die Mitgliedschaft in der Bekennenden Kirche nicht aus, hieß es — eine Folge der unklaren Linie in der Kirchenpolitik Hitlers.
Ein anderer Angehöriger der Familie, der 1890 geborene Albrecht Graf von Bernstorff, war bis
1933 Botschaftsrat an der Deutschen Botschaft in London gewesen und wurde, „Bankier und
Gutsbesitzer", als Widerstandskämpfer am 24. April 1945 hingerichtet.17
Nach dem Freispruch des Grafen kam es zu verschärften Repressalien gegen Glieder der
Bekennenden Kirche zu Dobbersen durch die NSDAP und zu Verhaftungen — ein Zeichen
dafür, wie sehr die Herrschaftsausübung des Regimes auf dauernder, ratloser Improvisation
und mangelnder Koordination der Führungsentscheidungen beruhte.
Die Leitung der Bekennenden Kirche in Berlin war jedoch weiterhin trotz aller Konfrontationen bestrebt, die geistliche Versorgung dieser großen Bekenntnisgemeinde durch Vikare
sicherzustellen. Friedrich Heinrich von Arnsberg hatte als ehemaliger Oberleutnant der
Reichswehr Theologie studiert. Im Haus Raguth untergebracht, wurde auch er von der Geheimen Staatspolizei vor die Wahl gestellt, ins Gefängnis zu gehen oder seine Wirksamkeit in der
Gemeinde Dobbersen aufzugeben. Pastor Buchin aus Neubrandenburg nannte ihn „einen der
ritterlichsten und tapfersten Kämpfer der Bekennenden Kirche". Kurz vor dem Krieg trat er
163
wieder in die Wehrmacht ein und kam als Major in Rommels Afrika-Korps in britische Gefangenschaft. Damals hatte die Leitung der Bekennenden Kirche erkannt, daß die Versorgung der
Gemeinde durch Vikare nicht mehr durchführbar sei. Von jetzt an setzte sie emeritierte Pastoren ein, da „durch unkirchliche Maßnahmen der deutsch-christlichen Kirchenleitung in Mecklenburg die bekenntnistreue Verkündigung des Wortes Gottes gefährdet ist, andererseits aber
die Gemeinde der seelsorgerlichen Betreuung dringend bedarf". Bis zum Kriegsende kam es
immer wieder zu mehr oder minder harten Konfrontationen mit dem Chef der Geheimen
Staatspolizei, dem damaligen Oberregierungsrat Oldag.18
Obwohl die Gemeindemitglieder aus den Dörfern mit ihren bescheidenen Mitteln das Gotteshaus wiederholt liebevoll ausgebessert haben, ist heute seine Bausubstanz gefährdet. Die
Turmdeckung ist nicht mehr dicht, und der Regen spült ab und zu schon einen Stein herunter.
Zwar ist die kleine Dorfkirche am 3. Oktober 1982 in die Kreisdenkmalliste aufgenommen
worden, doch nur eine gründliche Wiederherstellung von der Trockenlegung der Fundamente
bis zur Dachsanierung kann dem Wert des kulturhistorischen Gebäudes entsprechen. Noch ist
es Zeit, das unbekannte Baudenkmal nicht nur seiner Vergangenheit zu überlassen, sondern
ihm wieder eine Zukunft zu geben. Persönliches Engagement ist gefragt, weil auch die Mittel
der deutschen Stiftung Denkmalschutz begrenzt sind. Die von uns vor kurzem durchgeführte
finanzielle Hilfsaktion für die Dorfkirche von Zernikow im Kreis Gransee macht der Redaktion Mut zu einem Aufruf, auch die Erhaltung der Kirche von Döbbersen zu fördern.
Wer sich also mit einem kleinen Betrag beteiligen möchte, möge sich mit der Redaktion unter
der Telefonnummer 8545816 in Verbindung setzen oder sich direkt an Frau Judith Braun,
evangelisch-lutherische Pfarre St. Vitus, 19243 Döbbersen über Hagenow, wenden. Auch die
Übernahme längerfristiger Patenschaften wäre denkbar, die einen jährlichen Förderungs- und
Instandhaltungsbetrag nach eigenem Ermessen in beliebiger Höhe erfordern würde. Mögliche
Sponsoren der Wirtschaft sind gesondert angesprochen worden. Alle Förderer werden auf
einer Tafel im Kirchenschiff namentlich genannt werden, falls sie damit einverstanden sein
sollten.
Anschrift des Verfassers:
Günter Wollschlaeger
Kufsteiner Straße 2
10825 Berlin
Anmerkungen:
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
Mecklenburgisches Urkundenbuch, Schwerin 1864, 2. Band, Nr. 752.
Chronik der Pfarre Döbbersen.
Chronik der Pfarre Döbbersen.
Chronik der Pfarre Döbbersen.
Friedrich Graefe, Die Publizistik in der letzten Epoche Kaiser Friedrichs II. Heidelberg 1909,
Abhandlungen zur mittleren und neueren Geschichte, 24.
Germania monastica, Klosterverzeichnis der deutschen Benediktiner und Cisterzienser, Ottobeuren, 1967.
Chronik der Pfarre Döbbersen.
Archiv Schwerin, Handakten der Pfarre Döbbersen.
Horst Ende, Dorfkirchen in Mecklenburg. Evangelische Verlagsanstalt Berlin, ohne Erscheinungsdatum.
Horst Ende, Dorfkirchen in Mecklenburg. Evangelische Verlagsanstalt Berlin, ohne Erscheinungsdatum.
164
11 Chronik der Pfarre Döbbersen.
12 Chronik der Pfarre Döbbersen.
13 Thieme/Becker, Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler von der Antike bis zur Gegenwart,
Band 5, Deutscher Taschenbuch Verlag, Oktober 1992.
14 Freundliche Auskunft von Herrn Pastor Christian Voß, Zarrentin.
15 Chronik der Pfarre Döbbersen.
16 Hans Rothfels, Die deutsche Opposition gegen Hitler, Fischer Bücherei, November 1969.
17 Totentafel bei Schlabrendorff, Offiziere gegen Hitler.
18 Chronik der Pfarre Döbbersen.
Abbildungsnachweis:
Titel und Abb. 1 Archiv der Pfarre Döbbersen.
Abb. 2 Günter Wollschlaeger.
Zwischen Stasi und CIA
Aus den Memoiren eines Charite-Professors
Von Walter Hoff mann-Axthelm
Mein Eintritt in die Charite geschah im Hauruckverfahren. Im November 1950 erhielt ich im
märkischen Perleberg ein Telegramm von Professor Rosenthal, binnen zwei Tagen als Oberarzt
die Leitung der Kieferchirurgischen Poliklinik zu übernehmen. Rosenthal, eine Doppelbegabung, war bekannt als ein guter Operateur von Gesichtsspalten, der sich, aus dem Leipziger
Thomanerchor hervorgegangen, in den zwanziger Jahren zu einem der bedeutendsten Oratoriensänger seiner Zeit entwickelt hatte.
In Berlin war wieder einmal Not am Mann, aber Rosenthal wußte, daß ich in der Kriegs- und
Nachkriegszeit als Soldat und Zivilist am Berliner Lazarett und der Hamburger Klinik bei
Schuchardt, dem damals bedeutendsten Kiefer-Gesichtschirurgen, eine entsprechende Fachausbildung erhalten hatte. So siedelte ich also Hals über Kopf von der Perleberger Poliklinik
um in die Chirurgische Abteilung des ältesten deutschen Zahnärztlichen Universitäts-Instituts
in der Invalidenstraße, in welchem meine Frau und ich dereinst studiert hatten. Meine Frau
folgte mit vier Kindern, was damals noch unproblematisch war, völlig legal nach Berlin-West in
ihr Elternhaus am Kleinen Wannsee, nach recht wehmütigem Abschied von unserem Perleberger Haus.
165
Bald hatte ich mich in den Lehr- und Ausbildungsbetrieb eingearbeitet, hielt Kollegs, Kurse
und Vorträge, prüfte Staatsexamen, wurde Mitbegründer und Schriftleiter der einzigen Fachzeitschrift der DDR, holte den Dr. med. nach, schrieb an einem ersten Lehrbuch, fuhr aber
auch unverdrossen fort, über das Erlebte Buch zu führen, mal regelmäßig, mal mit langen Intervallen, so daß ganz nebenbei eine „Chronik zwischen Ost und West" entstanden ist. Ich lebte in
einer gewissen Unbekümmertheit, trug keinen Maulkorb, legte mich wenn nötig mit Funktionären an, einmal in öffentlicher Diskussion mit Gesundheitsminister Steidle, was diesen zu
einer seitenlangen Replik im „Deutschen Gesundheitswesen" bewog. Meist ging es darum, in
der Zeitschrift Glückwünsche für den großen Stalin oder Walter Ulbricht abzuwehren, was
manchmal etwas aufregend war, wobei mir aber SED-Genosse Rosenthal wacker sekundierte.
Das hatte auch das Gute, daß man niemals auf die Idee gekommen ist, mich für die Partei zu
werben oder gar als Informanten für den Stasi anzuheuern. Wohl aber erhielt ich ein solches
Angebot vom amerikanischen Geheimdienst, der Central Intelligence Agency (CIA: Uns
interessiert, ob in der Geschwulstklinik mit Isotopen gearbeitet wird), das aber mit dem Hinweis auf die Verantwortung für meine große Familie leicht abzulehnen war.
Im März 1954 habe ich mich habilitiert, die Berufung als Dozent zog sich lange hin, 1958 wurde
auch die Ernennung zum Abteilungsleiter nach Rosenthals Emeritierung zunächst vom Rektor
abgelehnt mit der Begründung, „daß er noch kein positives Verhältnis zur Deutschen Demokratischen Republik und ihrer Gesellschaftsordnung gewonnen hat". Zuvor hatten Magnifizenz das gleiche befürwortet. Im Begleitschreiben des Staatssekretariats wird abwiegelnd
bemerkt, „daß bei allen Besprechungen Ihre fachliche Qualifikation stets und von jeder Seite
voll anerkannt wurde".
Ich hatte ihnen aber auch einiges geboten, so im Oktober 1955 den Ruf nach Jena abgelehnt —
das war doch etwas weit von West-Berlin — und mich zwei Monate später im zuständigen Polizeirevier offiziell in das westliche Wannsee-Haus umgemeldet, was damals innerhalb von
Groß-Berlin noch möglich war. Es war dies meine Reaktion auf die Kündigung des von mir
bewohnten Institutszimmers durch die Charite-Verwaltung, verbunden mit polizeilicher
Abmeldung hinter meinem Rücken. Am nächsten Morgen erschien ich pünktlich zum Dienst,
zugegeben, mit leicht beschleunigtem Puls.
Schwierig wurde es natürlich bei der Ernennung zum Professor. Von der dafür eingesetzten
Kommission unter Vorsitz des Dekans, des Pathologen Kettler, wurde ich einstimmig für würdig befunden, dann aber legte die SED-Parteigruppe ihr Veto ein. Vor der Abstimmung in der
Fakultätssitzung im März 1959 verkündete der Sozialhygieniker Genosse Winter auftragsgemäß, man könne einen Mann, dessen Frau republikflüchtig geworden ist, nicht zum Professor
machen. So mußten alle SED-Mitglieder einschließlich des Dekans — an den Fingern abzuzählen — gegen mich stimmen, während die Direktoren der großen Kliniken dafür waren, so daß
ich eine Stimme Mehrheit erhielt. Anderntags erschien ich mit der Perleberger polizeilichen
Abmeldung meiner Frau bei Kettler, der, etwas peinlich berührt, sich einen Auszug machte und
Weiterleitung versprach. Zugleich bestellte mich Felix, Herr der Chirurgie als Nachfolger von
Sauerbruch, zu sich und sicherte mir nach Einsichtnahme zu, gegen diese „unglaubliche Frechheit" Stellung zu nehmen. Mit der Hartnäckigkeit eines Cato stellte er in jeder Fakultätssitzung
die Frage, ob es angängig sei, daß ein angesehenes Mitglied der Fakultät verleumdet werde, bis
Kettler seinen Irrtum bedauerte und Winter eine gequälte Rücknahme äußerte.
Dennoch zog sich die Sache hin, bis ich zum intelligentesten unter den Genossen, dem auch
fachlich guten Biochemiker und Altkommunisten Rapoport ging und ihm vortrug, daß von den
fünf Habilitanden von Rosenthal ich als einziger noch hier sei, die anderen seien geflüchtet.
Einige von ihnen hätten schon eine Professur, auf die ich hier vergeblich warte. Schon nach
166
Hoffmann-Axthelm beim
Kolleg im Institut, 1952
wenigen Stunden kam sein Anruf, die Angelegenheit verliefe in meinem Sinne. Und so
geschah es auch, aber nichts ist ohne Kampf, aber auch nichts mit der geringsten Konzession
meinerseits gegangen.
Stets wurde mir ein treues SED-Mitglied als Assistent und Aufpasser hineingesetzt. Zuerst der
aus Hamburg eingewanderte KPD-Mann Peters, dem ich eines Tages in ruhiger Aussprache
meinen politischen und weltanschaulichen Standort klarmachte, was er ernsthaft zur Kenntnis
nahm. Damit wurde mir bestätigt, daß den überzeugten Genossen Leute mit einer festen, wenn
auch konträren Einstellung lieber sind als jene, die es mit keiner Seite verderben wollen, die sich
mit Kompromissen durchzumogeln suchen. Er verunglückte auf einer Dienstfahrt nahe
Rostock tödlich, ich habe ihm als sein Vorgesetzter dort die Grabrede gehalten.
Sein Nachfolger Raue hatte bei mir studiert und die Studentenorganisation im Hause geleitet.
1956 wurde er mir als Assistent oktroyiert. Fachlich war er tüchtig, nebenamtlich stieg er zu
immer höheren Würden auf, vertrat die Zahnmedizin im Staatssekretariat und im Zentralkomitee der Einheitspartei, deren Mitglieder er im Parteigebäude, der früheren Reichsbank,
behandelte. Dann aber beichtete er mir während eines dienstlichen Zwiegesprächs, daß er alle
diese Funktionen im Auftrag der CIA wahrnähme. Später erfuhr ich von ihm, daß sein Bruder
zweiter Mann in der Abteilung Abwehr West des Staatssicherheitsdienstes sei und seine
Schwägerin als Medizinstudentin in Moskau Augen und Ohren offenhielte, ebenso daß seine
167
Helferin Ingrid, wohl nur als Botengängerin, mit im Spiel sei. Also ein perfekter Spionagering.
So sehr mich dieses Vertrauen berührte, stärker war die Last der Mitwisserschaft in meiner
damaligen Stellung und unter den obwaltenden Umständen.
Jahrelang ging dieses gefährliche Spiel gut. Als ich am 15. Juni 1959 mit meiner Frau von einer
Aufführung in der Ostberliner Staatsoper nach Wannsee fuhr, hielt ich mit dem Wagen in der
Invalidenstraße vor unserem Institut, um nach dem Bereitschaftsdienst zu sehen. Der angetroffene Assistent sagte mir, daß für diese Nacht Raue eingeteilt sei, ihm aber die Nachtschwester
telefonisch dessen Ausbleiben mitgeteilt habe. So sei er spontan eingesprungen.
Am anderen Morgen erschien Raue nicht zum Dienst, dann kam zwischen 10 und 11 Helferin
Ingrid in mein Zimmer: Sie hätte eben nach ihm gesucht, aber seine Wohnungstür sei verbarrikadiert, mit Stempeln des Stasi. Sie wolle schnell zu Hause Bescheid geben, ihre Papiere holen
und ab über die Grenze. Ich sagte: „Lassen Sie das, Mädchen, nichts wie aus dem Haus und
über die Brücke!" (Die benachbarte Sandkrugbrücke war die Grenze. Noch jahrelang erhielt
ich von ihr, jetzt Verwaltungsleiterin einer Klinik der Freien Universität, zu Weihnachten Blumengebinde).
Wenige Minuten nachdem Ingrid mein Zimmer verlassen hatte, erschien ein der Partei zugehöriger Assistent, machte mir offiziell von den Vorgängen Mitteilung und fragte beiläufig nach
ihr. Ich sagte, sie sei eben bei mir gewesen und habe um eine Stunde Urlaub für irgendeine Erledigung gebeten. — „Leider ist Schwester Ingrid nach Westberlin entwichen", hieß es in einer
Institutsversammlung im Oktober 1960, in der zwei uniformierte Stasi-Offiziere uns mitteilten,
daß Raue im März wegen Verrats wichtiger Staatsgeheimnisse zu lebenslänglichem Zuchthaus
verurteilt sei.
Raues Domizil befand sich neben dem Raum in der Charitestraße, in welchem ich mein Möbellager unterhielt. Schon vor längerer Zeit hatte mich meine Vermieterin gebeten, ihrer Nachbarin für deren Mieter, einen ordentlichen jungen Herrn von der Charite, ein Bett zur Verfügung
zu stellen. Dagegen war nichts einzuwenden, und so hat Raue bis zu seiner Verhaftung in unserem Bett geschlafen. Davon hatte ich keine Ahnung, aber — wer hätte mir das geglaubt?
Das „Lebenslänglich" brauchte nicht abgesessen zu werden, nach einem Jahrzehnt Haft wurde
Raue auf Bewährung entlassen und mit der Leitung einer Staatspraxis im Ostberliner Bezirk
Köpenick beauftragt. 1972 erschien mein einstiger Assistent in meinem Dienstzimmer an der
Freien Universität, ich weiß nicht mehr ob als Flüchtling, ob ausgetauscht oder freigekauft. Die
Überführung in den Westen war im abgeschlossenen Kofferraum eines anonymen Wagens
erfolgt, ohne daß man ihn über Sinn und Ziel der Fahrt unterrichtet hätte. Erst als er nach
mehrfachem Halt herausgeholt wurde, merkte er an der Lichtfülle, daß er sich auf West-Berliner Boden befand.
Nach seiner Verhaftung hatte er im Stasi-Untersuchungsgefängnis Hohenschönhausen in der
Dauer zermürbende, aber sonst korrekte Verhöre zu überstehen, dann wurde er nach der Verurteilung dort fachlich eingesetzt, gemeinsam mit seinem Zellengenossen Oberarzt Voigt von
der II. Medizinischen Klinik der Charite. Der hatte mir 1964, nach drei Jahren Haft nach WestBerlin entlassen, berichtet, daß er Dokumente und Personalpapiere zwischen so plötzlich auseinandergerissenen Familienmitgliedern hin- und hergetragen hatte, was auch ich in den
Wochen zwischen Mauerbau und Ausscheiden täglich praktiziert habe. So war z. B. Pfarrer
Strauß, wohnhaft in Potsdam, von seiner Kirche Nikolskoe hoch über der Havel getrennt. Die
Kirchenschlüssel waren bei ihm, sein Geld lag in der Sakristei. Auch das ließ sich ausgleichen.
Bemerkenswert war Raues Schilderung, auf welche Weise man ihn der Spionage überführt
hatte. Seine West-Berliner CIA-Dienststelle befand sich in Zehlendorf. Im gegenüberliegenden Haus hatte sich der Stasi eingenistet und jeden, der das CIA-Gebäude verließ, mit einem
168
Abb. 2: Das Zahnärztliche Universitäts-Institut in der Invalidenstraße, erbaut 1912. Die Plakate
tragen „Kampfparolen", 1952
Feraobjektiv fotografiert. So mit seinem Abbild vor der Haustür des eigenen Dienstherrn konfrontiert, war jedes Leugnen sinnlos.
Natürlich habe ich ihn gefragt, ob er auch meine Kenntnis seiner Spionagetätigkeit preisgegeben habe. „Ach, Sie glauben ja nicht, wie sie mir zugesetzt haben, immer ging es um Mitwisser.
Da ist mir auch mal Ihr Name herausgerutscht." Und ich war zu dieser Zeit und noch Jahr und
Tag an der Charite, ahnungslos, wie dünn das Eis gewesen ist, auf dem ich mich — und oft recht
lebhaft — bewegt hatte.
Selbstverständlich hätte ich damals gern gewußt, was darüber in meine Stasi-Akte eingetragen
wurde, über deren Existenz ich durch Raue informiert war. Vieles mußte erst geschehen und
fast 85 Jahre mußte ich alt werden, bis ich im Januar 1993 vom „Bundesbeauftragten für die
Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik", nach ihrem Leiter Gauck-Behörde genannt, meine „personenbezogenen Unterlagen"
erhielt, ein Konvolut von 21 paginierten Seiten, in welchem aber Blatt 12 und 17 fehlen. Der
Inhalt übertraf alle Erwartungen.
Die Überwachung war eine totale, und nicht nur im „Demokratischen Berlin". So gibt es im
Dezember 1959, als ich also schon vier Jahre West-Berliner Bürger war, einen „Ermittlungsauftrag" über mich mit der (unkorrekten) Wannsee-Anschrift, in welchem Name und Adresse
des beauftragten Informanten von der Gauck-Behörde gelöscht wurden. Der „Ermittlungsbericht" vom 28. Januar 1960 entwirft ein geradezu idyllisches Bild über unser Familienleben,
sogar die beiden Großmütter in unserem Haushalt werden erwähnt. „Zwischen den Eheleuten
besteht ein sehr gutes Verhältnis. Politisch treten sie im Wohngebiet nicht in Erscheinung. Ihre
Einstellung ist nicht bekannt, ihr Ruf ist sehr gut, sie werden als ruhige und ordentliche Men169
sehen bezeichnet, die einen einwandfreien Lebenswandel führen." — Kann man mehr verlangen? — Abschließend werden aus dem West-Berliner Telefonbuch die richtige WannseeAnschrift und die Praxisadresse meiner Frau zitiert.
Aber schon 1955 bin ich unangenehm aufgefallen. In einer Stellungnahme der Kaderabteilung
der Charite vom 7. Januar heißt es anläßlich der Reisegenehmigung zu einem Kongreß in
Genf: „Seine Haltung gegenüber unserer Republik ist nicht positiv. In seiner Eigenschaft als
Schriftleiter der .Deutschen Stomatologie' lehnte er es kategorisch ab, Artikel z. B. anläßlich
des Monats der Deutsch-Sowj. Freundschaft zu veröffentlichen. Seiner Wahlpflicht bei den
Volkskammerwahlen am 17. Oktober 1954 ist er trotz Aufforderung nicht nachgekommen."
Ganz einig scheinen sich die hohen Gremien aber nicht zu sein, denn: „Da die Ernennung zum
Dozenten trotz unserer (der Kaderabteilung) Ablehnung ausgesprochen wurde, überlassen wir
die Entscheidung über diese Reise dem Staatssekretariat für Hochschulwesen." Und das hat sie
genehmigt.
Am 8. Februar 1960 erhalte ich vermutlich die Quittung auf Raues Geständnis meiner Mitwisserschaft: „Gegen Hoffmann-Axthelm wird Material zur operativen Bearbeitung gesammelt.
Er gehört zur reaktionären Klinikleitung, die eine feindliche Kaderpolitik betreibt." Angeblich
sorge ich für die Entfernung aller fortschrittlichen Kräfte, womit meine Einflußmöglichkeiten
allerdings überschätzt werden. Dann aber wird es ernst: „Es wird an der Aufklärung der Person
gearbeitet. Zur Bearbeitung wird im II. Quartal eine Person geworben. Ziel der Bearbeitung ist
der Nachweis staatsfeindlicher Tätigkeit und die Inhaftierung des H.. "
Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang das Fehlen des Namens Raue. Vielleicht wurde
dessen Fall auf den beiden verschwundenen Seiten behandelt, denn seine Angelegenheit — ein
ganzer Spionagering innerhalb des Staatssicherheitsdienstes — war ja für diesen eine eklatante
Blamage.
Daß ich damals so gut davongekommen bin, dürfte ich wohl einem gewissen Bekanntheitsgrad
in Ost und West zu danken haben. Eine „Inhaftierung" hätte Wirbel gemacht und sich letztlich
nicht gelohnt.
Erstaunlich ist ein Bericht vom 9. Juni 1961 aus Marburg an der Lahn, wo unser damals zwanzigjähriger Sohn Dieter Theologie studierte. In Studentenkreisen habe er erzählt, „daß sein
Vater, obwohl er an der Humboldt-Universität lehre, ein entschiedener Gegner der DDR
wäre". Ich solle zahlreichen Assistenten zur Flucht nach Westdeutschland verholten, ihnen
Referenzen mitgegeben haben, sogar einem Agenten des amerikanischen Geheimdienstes.
Der „fand nach seiner Entlassung aus der Haft sofort die Unterstützung des Prof. HoffmannAxthelm". Das kann auch nur der Fall Raue gewesen sein, der aber saß damals und noch lange
beim Stasi fest. Der Spitzel hat seinen Bericht wohl kräftig ausgeschmückt. Weiter heißt es im
Schreiben der Hauptverwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit an die Leitung der StasiVerwaltung Groß-Berlin: „Wir werden versuchen, weitere Einzelheiten in Erfahrung zu bringen, bitten jedoch um Mitteilung, ob es an der med. Fakultät einen Professor genannten
Namens gibt." — Mein Sohn meinte jetzt dazu, der Informant könne nur einer der vier Kommilitonen gewesen sein, die mit ihm von der Berliner Kirchlichen Hochschule nach Marburg
gegangen sind. Und der sitzt heute vermutlich in einer westdeutschen Pfarre und liest seiner
Gemeinde aus dem Matthäus-Evangelium vor: Einer unter euch wird mich verraten.
Noch einmal werde ich im Mai 1961 aktenkundig. In aller Arglosigkeit hatten wir mit Hilfe
unseres Ostmarkkontos im staatlichen Reisebüro eine Rußlandreise gebucht. Auch das wurde
an den Stasi weitergeleitet und löste eine Anfrage der Hauptverwaltung an den mich seit langem betreuenden Unterleutnant Zeiseweis aus: „Es wird gebeten, uns umgehend mitzuteilen,
welche Gründe zur operativen Bearbeitung der vorgenannten Person vorliegen und ob auf170
Abb. 3: Blick von Westen in die Invalidenstraße und die Sandkrugbrücke mit den Grenzsperren. Der
spitze Giebel in der Bildmitte gehört dem Zahnärztlichen Institut
grund des vorhandenen Materials gemeinsame operative Maßnahmen während der Reise,
wenn ja — welche, eingeleitet werden sollen." — Anfang Juni sind wir mit Zwischenaufenthalt
in Moskau wohlbehalten vom Schwarzen Meer heimgekehrt, ohne etwas von operativen Maßnahmen gemerkt zu haben.
Am 13. August folgte der Mauerbau, am 27. März 1962 bittet Zeiseweis, inzwischen zum
Leutnant befördert, „die beiliegende Handakte zur Ablage zu bringen, weil H.-A. seine Tätigkeit im Demokratischen Berlin nach dem 13. August 1961 aufgegeben hat", d. h., er wurde eliminiert, nachdem er in einer in verbindlicher Form geführten Verhandlung mit dem Rektor
und dem stellvertretenden Staatssekretär für das Hochschulwesen im Hauptgebäude der
Humboldt-Universität eine Rückkehr mit der Familie in die DDR abgelehnt hatte.
Mancher Hochschullehrer und mancher Politiker wäre wohl ganz froh, wenn er eine derartige
Stasi-Anamnese vorlegen könnte. Andererseits ist es doch recht schlimm, daß man diesen, und
nicht nur diesen roten Ballast jahrzehntelang mit sich herumschleppt, aber er läßt sich nun einmal nicht so einfach abwerfen, selbst wenn man zu denen gehört, die noch einmal davongekommen sind.
Anschrift des Verfassers:
Professor Dr. Dr. Walter Hoffmann-Axthelm
Schlierbergstraße 84
79100 Freiburg i. Br.
171
Das Niederländische Palais
Ein Beitrag zur Geschichte der Oranier in Berlin
Von Bert Becker
Wer heute auf den Spuren der Niederländer in Berlin und Brandenburg wandelt, wird noch
einige entdecken.1 Sowohl in Gebäuden als auch in Straßennamen manifestieren sich die engen
Beziehungen zwischen Preußen/Deutschland und den Niederlanden — von der Einwanderung holländischer Kolonisten im Mittelalter und in der Neuzeit2 bis zu den dynastischen Verbindungen der beiden Höfe in Berlin und im Haag3. Vor allem die Mark Brandenburg kann mit
dem Holländischen Viertel in Potsdam4 und dem Oranienburger Schloß einzigartige Denkmäler deutsch-niederländischer Beziehungen aufweisen. Dagegen steht Berlin vergleichsweise
bescheiden da. Prominentes Zeugnis des niederländischen Einflusses in Berlin war bis nach
dem Zweiten Weltkrieg ein eindrucksvolles Gebäude in der Straße Unter den Linden: das Niederländische Palais. Zwar wird es noch in einigen modernen Stadtführern erwähnt5, doch
schwindet zunehmend die Erinnerung an das Haus und seine Bewohner. Kaum einem Berliner
ist wohl die Tatsache bekannt, daß der erste niederländische König sein Exil und seine letzten
Lebensjahre in der Straße Unter den Linden zubrachte. Mit der Abräumung der Reste des zerstörten Palais im Jahre 1963 scheint auch das Wissen um das bedeutende Gebäude und um die
Herkunft seines Namens langsam im Bewußtsein zu verschwinden. Dabei manifestiert das
Haus einen wichtigen Abschnitt deutsch-niederländischer Beziehungen auf dynastischer
Ebene. Der vorliegende Aufsatz versucht, die Geschichte des Niederländischen Palais näher zu
beleuchten, wobei dem 19. Jahrhundert, als es sich im Besitz des Hauses Oranien befand,
besondere Beachtung geschenkt wird.
Zur frühen Geschichte des Hauses
Das Haus Nr. 36 Unter den Linden entstand im Zuge des Ausbaus der Dorotheenstadt in der
Mitte des 18. Jahrhunderts. Ein Vorgängerbau war bereits 1673 auf den Grundstücken Nr. 35
und 36 als „Artillerie-Etablissement" errichtet worden. Dieses Gebäude umfaßte somit auch
das rechte Nachbargrundstück des späteren Palais. Als militärische Befestigung in Richtung
der Spree bestand es nach dem Plan von J. B. Schultz (1688) „aus einem großen, mit einer
Mauer umgebenen Hof (...), auf dem nach der Linden- und nach der Wall-Seite je ein großes
einstöckiges, nach der West- und Ost-Seite je ein ähnliches, doch kleineres Gebäude sich
befand."6 Kaum verwunderlich, daß der erste Besitzer ein Soldat war. Durch Allerhöchste Verschreibung überließ es König Friedrich Wilhelm I. am 17. Oktober 1713 dem General der
Infanterie und Chef des Feld-Artillerie-Regiments, Christian von Linger, gegen Zahlung von
2500 Talern.
Das Gebäude blieb fast 40 Jahre im selben Besitz. In dieser Zeit (1736—1740) entstanden die
ersten Skizzen und Pläne des Kronprinzen Friedrich und seines jungen Baumeisters Knobelsdorff zur Gestaltung des Lindenforums.7 Das Forum war ursprünglich wesentlich größer konzipiert, als es sich heute darstellt. Friedrich entwarf unter anderem den Plan für eine Kunstakademie, die dreimal so groß wie die Oper werden sollte. Von den sogenannten Offiziershäusern,
zu denen von Lingers Haus zählte, bis fast zur Friedrichstraße sollte der Komplex der Akademie reichen. Mit den beschränkten Mitteln des Staates war aber eine solche monumentale
172
Abb. 1: Außenansicht des Niederländischen Palais nach dem Umbau von 1777 (Foto aus: J. Lazarus,
Die Geschichte der Straße „Unter den Linden", in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins 4/1908, S. 97)
Umgestaltung mit vielen Abrissen, Um- und Neubauten nicht zu verwirklichen. So entstand
später nur ein verkleinertes Forum, das die Offiziershäuser nicht antastete. 8
Sein Haus verkaufte General von Linger am 25. Februar 1752 für 6100 Taler. Der neue Käufer,
Gastwirt Friedrich Wilhelm Peters, scheint jedoch seine Verpflichtungen dem Verkäufer
gegenüber nicht eingehalten zu haben oder in finanzielle Schwierigkeiten geraten zu sein.
General von Linger mußte das Haus zurückkaufen, veräußerte es jedoch wenig später am
2. April 1753 an den Kriegsrat Burchhard Ludwig Schmidt für 5600 Taler. Dieser hatte die
günstige Lage des Geländes inmitten der Dorotheenstadt erkannt, die inzwischen mit schönen
Gebäuden bebaut worden war. Das alte Gebäude ließ Schmidt völlig abreißen und teilte das
Grundstück in zwei gleich große Hälften auf. Auf jeder Hälfte errichtete er zu den Linden hin
großzügige Neubauten. Die hintere Seite wurde mit Höfen und Gärten bestückt und mit einer
Mauer abgeschlossen. Die beiden Häuser erhielten die Nummern 35 und 36.
Das Haus Nr. 36 war nach den Plänen des Oberbaudirektors Friedrich Wilhelm Dietrichs von
Andreas Krüger als Palais erbaut worden. Dietrichs war ein erfahrener Baumeister, der in Buch
die Dorfkirche, in Berlin die Böhmische Kirche, mehrere Palais und die Orangerie in Potsdam
errichtet sowie den Bau von Schloß Sanssouci begonnen hatte. Der 17 Jahre jüngere Andreas
Krüger hatte sich vor allem durch Landschaftsmalereien und Prospekte mit Ruinen einen
Namen gemacht. Von ihm stammten die künstlerischen Verzierungen der Tür, die das Haus bis
1777 schmückten.9 Nach dem Tod von Schmidt (1755) wechselte das Palais mehrfach seinen
Besitzer. Von 1775 bis 1782 gehörte es dem königlichen Minister Freiherr Friedrich Christoph
von Görne, der umfangreiche Veränderungen vornehmen ließ. So ließ er 1777 die Treppe des
173
Gebäudes beseitigen und dafür einen von acht gekuppelten ionischen Säulen getragenen Balkon setzen. Zugleich wurde die Stirnwand verändert und gleichförmig verziert. Im Inneren
wurde 1779 im linken Flügel ein Speisesaal in ovaler Form eingefügt, das wohl erste Beispiel
der gegen Ende des 18. Jahrhunderts beliebten ovalen und runden Gestaltung rechteckiger
Räume durch elliptische Säulenstellungen an den Schmalseiten. Vermutlich geht der Umbau
auf den älteren Langhans zurück10, der den Speisesaal damit zum „vielleicht schönste(n) aller
im neuklassischen Geschmack eingerichteten Säle Berlins" machte.11 Durch zwei Geschosse
reichte der Saal, der wie andere Räume im Palais von den Malern Rode und Frisch ausgestaltet
wurde.12
Nachdem von Görne 1782 seines Amtes enthoben worden war, ging das Gebäude in den Besitz
des Kriegsrates Gravius über und wurde schließlich am 10. März 1787 vom preußischen König
Friedrich Wilhelm II. für 35 000 Taler gekauft. Er schenkte es seinem unehelichen Sohn, dem
Grafen Friedrich Wilhelm Moritz Alexander von der Mark, unmittelbar nach dessen Geburt.
Das Kind war aus der Liebesverbindung des Königs mit Wilhelmine Rietz hervorgegangen.
Doch schon 1787 starb es, und so blieb das Haus im Besitz der Geliebten des Königs, die 1796
zur Gräfin von Lichtenau erhoben wurde.13 Zwischen 1787 und 1794 erfolgte im Auftrag des
Königs ein Umbau des Palais durch den Architekten M. P. Boumann.14 Das Haus wurde durch
die Verlängerung der Flügelbauten und ein zweites Quergebäude um einen neuen zweiten
Innenhof mit Ställen für 24 Pferde, Wagenremisen, Räumen für Bedienstete, einem Theaterund Tanzsaal, einer Gemäldegalerie und anderen Räumlichkeiten großzügig erweitert. Die
Innenräume stattete Boumann in frühklassizistischem Stil aus. „Aus väterlicher Liebe, zum
Vergnügen und zur mehren Bequemlichkeit" ließ der König in dem Palais sogar ein „Schauspiel-Haus" nach den Ideen seiner Geliebten einbauen. In den nächsten Jahren gelang es der
Lichtenau, ihr kostbar ausgestattetes Palais zu einem Treffpunkt der feinen Berliner Gesellschaft zu machten. Durch die Raffinesse der Gräfin und die politische Unfähigkeit des Königs
wurde das Palais zu einer Art „Nebenhof", an dem Hofadel, die Prinzessinnen und sogar die
Königin erschienen. Staatsmänner, Diplomaten, Offiziere und Künstler gingen bei Empfängen
und Gesellschaften ein und aus.15
Doch die Geselligkeit währte nur kurz. Nach dem Tod von König Friedrich Wilhelm II. am
16. November 1797 und dem Regierungsantritt seines Sohnes verlor die Gräfin ihre Güter und
wurde aus Berlin verbannt. Das Palais Unter den Linden schenkte König Friedrich Wilhelm III.
1798 der Berliner Armen-Direction. Der wohltätige städtische Verein konnte mit dem prachtvollen Haus wohl wenig anfangen und überließ es zeitweise der englischen Gesandtschaft. Am
24. März 1803 wurde es für 67 000 Taler an den niederländischen Erbprinzen veräußert, „dem
seine Beziehungen zum Königlich Preußischen Hofe es wünschenswerth erscheinen ließen,
hier in der Residenz ein eigenes Heim zu besitzen".16 Damit begann die Geschichte des „Niederländischen Palais", das von dieser Zeit mit diesem Namen oder auch mit „Oranisches
Palais" bezeichnet wurde.17 Welche Beziehungen die Niederlande zum preußischen Hof hatten
und warum die Oranier viele Jahre in Berlin zubrachten, soll im folgenden ausführlich erläutert
werden.
Die Häuser Oranien und Hohenzollern
Die engen Familienbande zwischen dem niederländischen Königshaus Oranien-Nassau und
deutschen Adelgeschlechtern reichen bis in das 16. Jahrhundert zurück. Der erste deutsche
Prinz von Oranien in den Niederlanden, der berühmte Wilhelm der Schweiger (1533—1584),
174
1
Abb. 2: Der ovale Saal im Niederländischen Palais von C. G. Langhans (Foto aus: Bogdan Krieger,
Berlin im Wandel der Zeiten, Berlin 1923, S. 163)
war zugleich ein Graf von Nassau. Er wurde als Begründer der niederländischen Unabhängigkeit der Urvater des heutigen niederländischen Königshauses. Die komplizierten genealogischen Abfolgen der folgenden Jahrhunderte sollen hier nicht im einzelnen beleuchtet werden.
Das Hauptaugenmerk richtet sich auf den Beginn des Königtums in den Niederlanden Anfang
des 19. Jahrhunderts. In den Jahrhunderten zuvor hatten Statthalter des Hauses Oranien-Nassau und Seitenlinien das Land regiert. Der letzte Statthalter Wilhelm V. (1748—1806) heiratete
1767 in Berlin die preußische Prinzessin Friederike Sophie Wilhelmine, deren Onkel und Vormund Friedrich der Große von Preußen war. Damit begann die Geschichte der engen Beziehungen zwischen dem Haus Oranien und dem Haus Hohenzollern. Friedrich II. hatte seine
Nichte selbst über die Taufe gehalten und ihr die Namen seiner Lieblingsschwester, der Markgräfin von Bayreuth, gegeben.18
Aus dieser Ehe ging fünf Jahre später, am 24. August 1772, der erste Sohn hervor. Wilhelm VI.
wurde in 's Gravenhage (Den Haag) geboren und erfuhr eine sorgfältige Erziehung durch seine
kluge Mutter und durch bekannte Gelehrte der damaligen Zeit. Ein Teil der Ausbildung
erfolgte in Berlin. Nach dem Studium des Staatsrechts in Leiden ging der junge Erbprinz 1789
auf eine längere Deutschlandreise, die ihn 1791 wieder nach Berlin führte. Dort lernte er seine
zwei Jahre jüngere Kusine Friederike Luise Wilhelmine kennen, eine Tochter König Friedrich
Wilhelms IL, die Schwester des späteren Königs Friedrich Wilhelm III. Der Hochzeitskontrakt
war bereits drei Jahre zuvor von seiner Mutter vorbereitet worden. So heiratete der neunzehnjährige Erbprinz von Oranien-Nassau am 1. Oktober 1791 — wie sein Vater — eine preußische
Prinzessin. Die Feierlichkeiten in Berlin dauerten siebzehn Tage. Aus der Ehe gingen vier Kinder hervor, die — außer dem ersten Sohn — alle in Berlin geboren wurden.'"
175
Erwerb des Palais
Nach der Besetzung der Niederlande durch französische Truppen im Januar 1795 floh der
Statthalter mit seiner Familie zunächst nach England. Damit begann auch für den Erbprinzen
eine fast neunzehnjährige Zeit der Verbannung. Am 10. September 1795 reiste der junge Wilhelm nach Berlin, um preußische Hilfe zu erbitten. Bei Friedrich Wilhelm II. fand er jedoch
kein Gehör. Der Preußenkönig hatte gerade Frieden mit Frankreich geschlossen und war durch
die dritte polnische Teilung in Anspruch genommen.20 Trotz dieser Enttäuschung beschloß der
Prinz, auf Dauer in Berlin zu bleiben, um auf die erhoffte Niederlage der Franzosen zu warten.
Seine Frau und sein Sohn folgten ihm im Mai 1796, sie bewohnten einige Räume des königlichen Schlosses. Seine Zeit im Exil nutzte Wilhelm, um sich mit seinen durch die Heirat erworbenen Besitzungen in Schlesien zu beschäftigen, die er durch verschiedene Ankäufe langsam
vergrößerte.
Von Berlin aus suchte der Erbprinz Kontakte zu oraniertreuen Kreisen in den Niederlanden.
Wiederholt verließ er die Stadt, um an der Vorbereitung von militärischen Aktionen der Engländer und Russen teilzunehmen, die versuchten, die Niederlande dem französischen Einfluß
zu entreißen. Als diese ergebnislos verliefen, orientierte sich Wilhelm an Napoleon Bonaparte,
der ihn 1802 für den Verlust seines Landes mit einigen Besitztümern in Deutschland entschädigte, darunter dem Bistum Fulda. Wihelm nahm seine Stellung als Fürst von Fulda und — nach
dem Tode des Vaters — auch von Nassau ein. In den folgenden vier Jahren verbrachte seine
Familie die Sommermonate in Fulda, im Winter lebte sie in Berlin. Eine standesgemäße Bleibe
in der preußischen Hauptstadt war bald gefunden: 1803 kaufte Prinz Wilhelm das Haus Nr. 36
in der Straße Unter den Linden. Damit wurde das Palais zur dauernden Residenz des exilierten
Erbprinzen der Niederlande.
Nach der Niederlage Preußens bei Jena und Auerstedt (1806) verlor der niederländische Prinz
sämtliche deutsche Besitzungen und floh mit dem preußischen Hof nach Ostpreußen. In den
Augen Napoleons war Wilhelm ein Verräter, weil er den Oberbefehl über den rechten Flügel
des preußischen Hauptheeres übernommen hatte. Erst nach dem Frieden von Tilsit (1807)
konnte der Erbprinz nach Berlin zurückkehren und sein Palais Unter den Linden wieder beziehen.21 Von hier aus pflegte er heimlichen Kontakt mit jenen Kreisen, die in Berlin den Widerstand gegen die Franzosenherrschaft organisierten. Die vertriebenen Oranier spielten dabei
eine wichtige Rolle, weil sie enge Verbindungen mit ihren in England lebenden Verwandten
unterhielten, „die vom Haß gegen Napoleon lebend, von England aus die Restauration der
Weltverhältnisse erwarteten".22 Ihnen schloß sich der preußische Offizier von Gneisenau an,
der in England Kontakte mit den Oraniern aufgenommen hatte.23 Ein geistiges Zentrum des
Widerstandes in Berlin bildete die Gräfin Brühl, „bei der sich eine kleine Koterie vereinigte, die
ausschließlich vom Haß gegen Napoleon, Hoffnung auf England und von den kleinen Mitteilungen lebte, die in horriblen Geschichten über den einen und großartigen Aussichten vom
anderen ihre Nahrung suchten".24
Mit dem Beginn der Befreiungskriege hielt es den Erbprinzen nicht mehr in Berlin. Die Preußen lehnten es ab, ihn wieder in ihre Dienste zu nehmen, und so reiste der niederländische Fürst
nach Stockholm und nach London ab. Nach dem Aufstand in den Niederlanden und dem
Abzug der Franzosen kehrte Wilhelm am 30. November 1813 in die Niederlande zurück. Die
Familie folgte ihm wenig später (8. Januar 1814) aus Berlin nach.
176
Letzte Jahre im Niederländischen Palais
Nach der Vereinigung von Belgien und Lüttich mit den Niederlanden wurde der Erbprinz 1815
zum König der Vereinigten Niederlande gekrönt. Wilhelm I. war der erste niederländische
König in der Geschichte, womit die Periode der Statthalterschaft beendet wurde. Seine Regierungszeit zwischen 1815 und 1840 soll hier nicht näher behandelt werden. Zum preußischen
Hof wurden die engen Kontakte aufrechterhalten und durch zahlreiche Aufenthalte im Niederländischen Palais in Berlin unterstrichen. Eine noch engere Verbindung beider Königshöfe
kam durch zwei prächtige Hochzeiten zustande. Am 21. Mai 1825 erfolgte die Vermählung von
Wilhelms zweitem Sohn, dem Prinzen Wilhelm Friedrich Karl, mit der preußischen Prinzessin
Luise Auguste Wilhelmine Amalie, der dritten Tochter König Friedrich Wilhelms III. Wenige
Jahre später (1830) heiratete die jüngste Tochter des niederländischen Königs, die Prinzessin
Marianne, den vierten Sohn des preußischen Monarchen, Prinz Albrecht.
In das gleiche Jahr fiel der Anfang vom Ende der Regentschaft Wilhelms I. Nach inneren Unruhen spaltete sich Belgien vom Vereinigten Königreich der Niederlande ab und bildete fortan
eine unabhängige Monarchie. Wilhelm, der diesen Schritt nie akzeptierte, war international
und im eigenen Land bald isoliert. Hinzu kam der Tod seiner Frau Wilhelmina am 12. Oktober
1837. Des Alleinseins bald überdrüssig, gab der König zwei Jahre später öffentlich seine
Absicht bekannt, ein zweites Mal zu heiraten. Die Auserwählte war die Gräfin d'Oultremont,
die ehemalige Hofdame Wilhelminas.25 Die Nachricht versetzte die Niederlande in größte
Aufregung, da Wilhelm eine morganatische Ehe mit der Gräfin schließen wollte. Während dieser Vertrauenskrise trat die niederländische Verfassungsreform in eine neue Phase, doch schienen die Regelungen für Wilhelm unannehmbar zu sein. Sein Widerstand gegen jede Veränderung im Äußeren und im Inneren, gepaart mit der Affäre um seine Wiederverheiratung, führten letztlich am 7. Oktober 1840 zu seiner Abdankung.26 Nach längerem Zögern beschloß er,
seinen „Wanderstab" zu nehmen und nach Berlin zurückzukehren.27 Nur wenige betrauerten
ehrlich seine Abdankung und seine Abreise. Spottblätter und Spottbilder ergingen sich gegenüber dem abreisenden Fürsten in gehässigen Giftigkeiten. Bissige Seitenhiebe persönlicher Art
gab es von allen Seiten über die Millionen, die er angesammelt hatte, und über die Heiratspläne
mit „Jetje Dondermond"28, wie die Gräfin d'Oultremont vom Volk bezeichnet wurde. Eine
Karikatur zeigte im Herbst 1840, wie die Gräfin den abgedankten Monarchen am Mantel über
die Grenze zieht: Wilhelm winkt noch einmal mit dem Hut, und auf der Schulter trägt er einen
prallen Geldsack.29
Letzte Jahre in Berlin
Tatsächlich nahm Wilhelm 20 Millionen Gulden mit nach Berlin und bezog dauerhaft sein
Palais in der Straße Unter den Linden. Kurz nach seiner Ankunft im Dezember 1840 verzeichnet eine zeitgenössische Quelle eine gemeinsame Tafel mit dem preußischen König Friedrich
Wilhelm IV, mit der der abgedankte Fürst willkommen geheißen wurde.30 In Berlin nannte
Wilhelm sich fortan „König Wilhelm Friedrich, Graf von Nassau" (niederländisch: Koning
Willem Frederik, graaf van Nassau). Der nur noch nominelle Königstitel wurde ihm niemals
streitig gemacht.
Für den bevorstehenden Einzug der Gräfin d'Oultremont erfolgten bereits Anfang 1841
umfangreiche Einrichtungsarbeiten in der unteren Etage des Niederländischen Palais. Diese
zwangen Wilhelm im Januar 1841 zu einem kurzen Umzug in das Palais des Prinzen Albrecht,
177
also in das Wohnhaus seiner Tochter Marianne und seines Schwiegersohnes.31 Seinen Kindern
wie auch der gesamten königlich-preußischen Familie schien die baldige Ankunft der Geliebten des alten Königs sichtbares Unbehagen zu bereiten. Davon ist folgendes überliefert: „Frau
v. d. Goltz, die Hofdame der verstorbenen Königin von Holland, erzählte uns, daß Prinzeß
Albrecht zu ihr kam, um ihr zu sagen, daß Gräfin d'Oultremont erwartet werde. Da ihr Vater in
dieser Verbindung sein Glück sähe, könne sie nichts dagegen tun, sondern werde der Trauung
in ihrem Palais beiwohnen." Auch dem abgedankten Fürsten schien die Angelegenheit peinlich zu sein: „König und Königin erzählten, wie ihnen der alte Bräutigam sehr verlegen die
Sache mitgeteilt habe. Für die königliche Familie ist es ein unangenehmes Ereignis."32
Doch Wilhelm blieb bei seinen Plänen. Am 14. Juni 1841 traf die Gräfin mit ihrem Bruder in
Berlin ein, wo sie im Hotel Petersbourg abstieg. Noch am gleichen Tag ging der alte König zu
ihr. Am Tag darauf traf sie mit Prinz Wilhelm33 und Marianne zusammen.34 Die Trauung
erfolgte am 16. Juni 1841 im Palais des Prinzen Albrecht und war in einem privaten Rahmen
gehalten. Folgende Schilderung ist überliefert: „Den Morgen bekam sie (die Gräfin d'Oultremont, B. B.) den schönsten Schmuck von Perlen und Brillanten, dann fuhr sie allein nach dem
Albrechtschen Palais, in schweren weißen Atlas gekleidet; Spitzenschleier, Brillanten und
Orangenblüten machten ihren Kopfputz aus. Im Palais angekommen, stand sie einen Augenblick auf dem Vorflur still, nicht wissend, wohin sie ihre Schritte lenken sollte, als sich eine
kleine Seitentür öffnete und den alten König eintreten ließ, der ihr den Arm bot, sie in die unteren Zimmer zu führen. Hier fanden sich Prinz und Prinzeß Albrecht ein, Graf d'Oultremont
(der Bruder der Braut, B. B.), Fürst Wilhelm Radziwill35, Graf Zielen36, Fürst Wittgenstein
und die holländischen Herren aus der Begleitung des Königs, um die Trauzeugen des Königs
abzugeben. Die Trauung ward nach katholischem Ritus vom Propst Brinckmann37, nach protestantischem vom Prediger Moliere vollzogen. Nach beendeter Zeremonie hat sich die Gesellschaft getrennt; erst bei der Tafel haben die Umgebungen der Prinzeß die junge Vermählte
gesehen. Wie sonst ist der alte König zuerst eingetreten und hat sich gleich an den holländischen Gesandten Grafen Perponcher gewendet. Dann folgten Prinzeß Albrecht und die Gräfin
von Nassau (d. h. die Neuvermählte, B. B.), die, gleich die Damen der Prinzeß anredend, sie
gebeten hat, sie so freundlich wie im Haag zu behandeln. Zum Tee blieb das junge Paar bei
Prinzeß Albrecht und fuhr abends nach seinem Palais. Prinzeß Albrecht zeigte große Überwindung ; Augenzeugen versichern, wie ihr während der Trauung die Tränen aus den Augen stürzten."38
Das Ehepaar blieb fortan in Berlin wohnen. In den Niederlanden verbesserte sich das Bild Wilhelms durch großzügige Schenkungen für wohltätige Zwecke. So übersandte er aus seinem
enormen Kapital den Angehörigen von verunglückten Scheveninger Fischern 300 Gulden,39
dem evangelischen Armenhaus in Amsterdam 200 Gulden40 und der Gemeinde Dieren sogar
6000 Gulden zum Bau einer Kirche.41 Ansonsten kümmerte sich der alte König wenig um die
Politik seines Landes, in das er noch dreimal reiste.42
Sein Tod traf alle überraschend. Am 12. Dezember 1843 starb der erste niederländische König
im seinem Palais an einem Schlaganfall. Die „Berlinischen Nachrichten" widmeten ihm einen
Nachruf im Stil der Zeit: „Es hat der Vorsehung gefallen, heut Morgen nach 9 Uhr, S. M. den
König Wilhelm Friedrich, Grafen von Nassau, aus dieser Zeitlichkeit sanft und schmerzlos
abzurufen. Höchstderselbe hatte noch in den Frühstunden den Thee eingenommen, als
urplötzlich ein Schlagfluß seinem an großen Ereignissen reichen, vielbewegten Leben, im Beysein des vielgeliebten Sohnes, des Prinzen Friedrich der Niederlande k. H. ein Ende machte.
Nicht uns geziemt es, das Lob des dahingeschiedenen Monarchen, der als Gast unter uns
weilte, zu verkünden. Seine hohe Leutseligkeit, seine überall bewährte Huld und Herablas178
i
Abb. 3: Wilhelm I., König der
Niederlande — nach einem
Gemälde von C. H. Hodges,
ca. 1816 (Foto aus: Winkler
Prins, Geschiedenis der
Nederlanden, Teil 3, Amsterdam/Brüssel 1976, S. 42)
sung, sein ausgezeichneter Wohlthätigkeitssinn - denn kein Hilfsbedürftiger ging von Ihm
ungetröstet — machte Ihn auch uns — ganz abgesehen von den vielfachen verwandtschaftlichen
Verhältnissen, in welchen der Hochselige zu unserem Königshaus stand — werth und theuer.
Daher auch die allgemeine Theilnahme, welche sein plötzliches Ableben erregte, daher auch
die tiefe Betrübnis bei allen Denen, welche die Ehre genossen, dem Hochseligen nahe gestanden zu haben. So ruht nun der edle Dahingeschiedene aus von seiner Arbeit!"43
Das preußische Königshaus legte zwei Tage nach dem Tod Wilhelms eine vierwöchige Trauer
an. Das Niederländische Palais wurde versiegelt und verschlossen und seine Räume für den
Trauergottesdienst am 22. Dezember 1843 dekoriert. Alle Gemächer verhängte man mit
schwarzen Tüchern. An dem um sieben Uhr abends stattfindenden Trauergottesdienst nahmen König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen, die Königin, die Prinzen und Prinzessinnen
und Wilhelms zweiter Sohn, Prinz Wilhelm Friedrich Karl, mit seiner Ehefrau sowie die
Gesandten von verschiedenen verwandtschaftlichen Höfen teil. Die Leichenrede hielt der
Oberhof- und Domprediger Dr. Ehrenberg. Nach dem Gottesdienst wurde der Sarg zur Einschiffung gebracht, die die „Berlinischen Nachrichten" wie folgt beschrieben: „Abends nach
10 Uhr wurde der Sarg, unter den Militär-Honneurs, von 24 Unteroffizieren auf den achtspän179
nigen k. (königlichen; B B.) Leichenwagen gehoben, worauf sich der Conduct, unter dem
Geläute der Glocken, die Linden entlang, nach dem Einschiffungsorte, unter Vortritt von k.
Stallmeistern, welche Fackeln trugen und der Escorte von Cavallerie-Detachements, in Bewegung setzte. Dort angelangt, wurde der Sarg auf das schon in Bereitschaft gesetzte k. Dampfboot getragen, welches unter der Bedeckung zweier k. niederländ. Generalmajore alsbald nach
Hamburg abging."44 Dem Zuge folgten König Friedrich Wilhelm IV. und die Prinzen. Der
Leichnam wurde per Schiff über Hamburg nach Rotterdam gebracht und am 28. Dezember
1843 in Delft beigesetzt.
Ein Palais „im Zauberschlaf"
Das Niederländische Palais erbte Wilhelms zweiter Sohn Prinz Wilhelm Friedrich Karl
(1797—1881), der 1825 seine Nichte, die preußische Prinzessin Luise, geheiratet hatte. Die
Gräfin von Nassau hingegen erhielt ein großzügiges Jahrgeld und verließ Berlin.4'' Das niederländische Prinzenpaar benutzte das Palais fortan bei seinen regelmäßigen Verwandtenbesuchen in Berlin. Vor allem mit seinem Schwager Prinz Wilhelm, dem späteren deutschen Kaiser,
unterhielt Friedrich herzliche Beziehungen. Beide hatten sich in ihrer Jugendzeit gut kennenund schätzen gelernt.46
1870 starb Luise. Mit ihrem Tod kam das Niederländische Palais durch Erbgang in den Besitz
des preußischen Königshauses.47 Offenbar war dem niederländischen Prinzen Friedrich ein
lebenslanges Nutzungsrecht zugestanden worden, denn er bewohnte es weiterhin bei seinen
regelmäßigen Besuchen in Berlin. 1873 ließ er das Gebäude sogar in großem Umfang renovieren. Wohl aus Gefälligkeit stellte er das Haus der Tochter des Kaisers regelmäßig zur Verfügung, die es bei ihren Berliner Aufenthalten zusammen mit ihrem Gatten, dem Großherzog
von Baden, bewohnte.48
Kaiser Wilhelm schätzte das Haus sehr, weil es unmittelbar neben seinem eigenen Palais lag.
Trotzdem scheint es die meiste Zeit leergestanden zu haben. Ein Zeitgenosse berichtet, daß
„jedesmal, wenn der Prinz der Niederlande oder die Großherzoglich Badenschen Herrschaften ihren Aufenthalt in dem Palais genommen haben, (...) das sonst so verschlossene und stille
Palais wie aus einem Zauberschlafe (erwacht)". Und weiter wird ausgeführt: „Gleich dem
Zauberschlosse in dem Märchen von Dornröschen wird das Palais von der Einwohnerschaft
Berlins betrachtet, es ist das einzige Gebäude Unter den Linden, welches in dem steten
Geräusch der schönsten Straße Berlins eine fürstliche Ruhe bewahrt."49
Mit dem Tod des Prinzen Friedrich der Niederlande am 8. September 1881 endet — strenggenommen — die Geschichte des Niederländischen Palais. Von diesem Zeitpunkt an hatte das
Haus Oranien keine Ansprüche mehr auf das Gebäude. Nach mehr als 78 Jahren ging damit
ein Kapitel der Geschichte der deutsch-niederländischen Beziehungen zu Ende. Gleichwohl
blieb der Name des Palias bis zu seiner Zerstörung erhalten.
Funktionsverlust und Zerstörung
Am 23. April 1883 wurde das Niederländische Palais von der Königlichen Bibliothek („Kommode") erworben, die schon seit längerem unter akuter Raumnot gelitten hatte. Jedoch ging
das Gebäude nicht vollständig in den Besitz der Bibliothek über, denn schon am 27. September
desselben Jahres tauschte Kaiser Wilhelm I. an der Behrenstraße liegende Grundstücke, die in
180
Abb. 4: Speisesaal im Niederländischen Palais von C. G.
Langhans, um 1779 (Foto aus:
Friedrich F. A. Kuntze, Das
Alte Berlin, Berlin/Leipzig
1939, S. 92)
seinem Besitz waren, gegen den vorderen Teil des Hauses ein. Damit wurde das Palais zweigeteilt: Die hinteren Gebäude verblieben bei der Bibliothek, die vorderen bestimmte der Kaiser
zum Gästehaus des Hofes. Diese wurden mit dem zur Linken liegenden Wilhelmspalais (Hausnummer 37) durch eine aus Glas und Eisen hergestellte Galerie verbunden. Von diesem Zeitpunkt an war der vordere Teil des Niederländischen Palais praktisch ein Nebenbau des Wilhelmspalais.50 Weitere Umbauten wurden 1883/84 und 1887 vorgenommen, nach deren
Abschluß das Gebäude als Quartier für kaiserliche Gäste sowie als Unterkunft für Hofdamen
und Bedienstete genutzt wurde.51
Die hinteren Bauten wurden der Bibliothek am 7. Oktober 1883 übergeben und bekamen die
Hausnummer 40—42 in der Behrenstraße. Dorthinein verlegte die Königliche Bibliothek die
Karten- und Musikabteilung und das Journalzimmer. Am 15. Oktober 1884 wurde der Lesesaal eröffnet, obgleich der Ausbau des Hauses noch den ganzen Winter 1884/85 andauerte. 52
In dem zur rechten liegenden Gebäude mit der Nummer 35 befand sich 1878 das „Hotel du
Nord". 53 Bereits 1889 mußte es einem Neubau der Disconto-Gesellschaft weichen, der innerhalb von zwei Jahren als Erweiterung der Bankgebäude in der Behrenstraße errichtet wurde.
Die Disconto-Gesellschaft kaufte 1908 auch einige Hintergebäude des Niederländischen
181
Palais und ließ die Gebäude, die 1787 bis 1794 im Auftrag König Friedrich Wilhelms II. für
seine Geliebte errichtet worden waren, abreißen. Bei den Abbrucharbeiten fanden die Bauarbeiter eine Zinkplatte aus dem Jahre 1794, die den Einbau des Schauspiel-Hauses belegte.54
Durch die Neubebauung des Grundstücks Nr. 35 verschwand 1925 auch die Lindengasse, ein
kleiner Zwischenraum zum Niederländischen Palais.
Obwohl das Palais durch die mehrfachen Umbauten am Ende des 19. Jahrhunderts stark verändert worden war, blieb es bis zum Zweiten Weltkrieg in seiner künstlerischen Substanz erhalten. 1908 beschrieb ein Zeitgenosse das Innere des Niederländischen Palais mit folgenden
Worten: „Unter den wenigen Gebäuden der alten Zeit, welche noch heute Unter den Linden
stehen, ist dies eins der künstlerisch hervorragendsten. Es fällt besonders durch die schöne Säulenhalle ins Auge, die der Fassade ihren vornehmen Charakter gibt. Diese Vorhalle ist bei
einem Umbau des Gebäudes schon früher im Jahre 1777 ausgeführt. Die ganze Front ist im
Charakter eines maßvollen Barockstils gehalten. Im Innern dagegen sind einzelne Teile im
Rokokostil ausgeführt. Erhalten ist die Treppe mit ihrem kunstvollen Geländer aus Schmiedeeisen. Ferner in einzelnen Räumen die alten Holzvertäfelungen der Wände, die Dekorationen der Decken und einige der alten Möbel. Das große Prunkstück des Innern ist der hohe,
durch zwei Geschosse reichende Speisesaal, der künstlerisch besonders reizvoll durch seine
ovale Grundform und durch die imposanten Säulenstellungen ist. Die Decke zeigt ein großes
allegorisches Gemälde von der Hand des einst hoch gefeierten Berliner Malers Rode."55
Im Zweiten Weltkrieg wurde das Niederländische Palais zerstört. Seine Reste dienten in den
fünfziger Jahren teilweise als Büros. Mit dem Bebauungsplan der „Hauptstadt der DDR" von
1961 wurde sein Schicksal besiegelt. Der Aufbau der Straße Unter den Linden wurde als kulturpolitische Aufgabe betrachtet, „die vor der Geschichte bestehen" mußte. Die wiederaufgebaute Straße — so sahen es die Ostberliner Planer — sollte „Teil des sozialistischen Stadtkerns
der Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik sein und mit davon künden, daß in
unserer Republik das Gesicht der Zukunft ganz Deutschlands geformt wird".56 Mit der noch
vorhandenen historischen Bausubstanz verfuhr man rigoros. Die Reste des Niederländischen
Palais wurden vollständig beseitigt. An seiner Stelle errichtete man direkt neben dem Wilhelmspalais ein Duplikat des gut erhaltenen Gouverneurshauses in Stahlbeton-Skelettbauweise. Das Original in der Rathausstraße wurde wenig später der Verbreiterung der Fahrbahn
geopfert. 1963/64 fügte man die barocke Sandsteinkartusche vom Portalrisalit des Gouverneurshauses in den Neubau Unter den Linden ein. Auf diese Weise erhielt das neue Gebäude
ein reichverziertes Portal mit einem Balkon, einer Wappenkartusche und einem Adler mit
Spruchband. Lediglich die Freitreppe stammt vom Niederländischen Palais, womit sie der einzige erhaltene bauliche Zeuge des ursprünglichen Hauses ist. Ein weiterer Bezugspunkt beider
Häuser ist der Zeitpunkt der Entstehung im 18. Jahrhundert und der gemeinsame Baumeister,
Friedrich Wilhelm Dietrichs.57 Sowohl das Neue Gouverneurshaus als auch das Wilhelmspalais dienen bis heute der Pädagogischen Fakultät der Humboldt-Universität. Im Gouverneurshaus befinden sich neben normalen Arbeits-, Seminar- und sonstigen Nebenräumen eine
Reihe laborartiger Einrichtungen, z. B. im ersten Obergeschoß das Didaktische Labor für Physik- und Chemieunterricht und ein phonetisches Labor. Auch im zweiten Obergeschoß gibt es
Arbeits- und Laborräume für Institute der Fakultät. An die adligen niederländischen Bewohner des früheren Hauses erinnert nichts mehr.
Anschrift des Verfassers:
Dr. Bert Becker
Düsterhauptstraße 2
13469 Berlin
182
Anmerkungen:
1 „Auf den Spuren der Niederländer zwischen Thüringer Wald und Ostsee" wandelte 1991 eine
Reihe von Geschichtsforschern aus Deutschland und den Niederlanden. Das gleichnamige Symposium der Deutsch-Niederländischen Gesellschaft e.V. fand am 11./12. Oktober 1991 in der
Humboldt-Universität statt; die Referate wurden in einer Broschüre publiziert. Die Ausländerbeauftragte des Berliner Senats stellte 1992 in einer großformatigen Broschüre die „vielfältigen und
wechselvollen Beziehungen vor, die Berlin mit dem weltoffenen Land an der Rheinmündung verbinden. Vgl. Oudeslui js, Diedericke M.: Holländer an der Havel, hg. von der Ausländerbeauftragten des Senats von Berlin, Berlin 1992.
2 Vgl. Bekmann, Johann Christoph: Historische Beschreibung der Chur und Mark Brandenburg,
1. Theil, Berlin 1751, S. 170.
3 Vgl. Strauch, Rudi/Großkopff, Rudolf: Die Deutschen an Hollands Thron. Die Geschichte des
Hauses Oranien-Nassau, Oldenburg/Hamburg 1966.
4 Vgl. Schmelz, Ulrich: Das Holländische Viertel in Potsdam, Potsdam 1992.
5 So z. B. im „Baedeker" von Berlin (8. Aufl. 1992), S. 248.
6 Saul, B.: Das Niederländische Palais Unter den Linden Nr. 36, in: Der Bär, Nr. 4/1878, S. 33.
7 Hans Georg Wenzeslaus von Knobelsdorff (1699—1753). Maler, Gartengestalter, Architekt,
Innendekorateur. 1729 erste Kontakte zum Kronprinzen Friedrich; autodidaktische Bildung auf
der Berliner Akademie bei Malern und Landbaumeistern. Vgl. Berliner Biographisches Lexikon,
Berlin 1993, S. 225 (im folgenden BBL genannt).
8 Vgl. Löschburg, Winfried: Unter den Linden. Gesichter und Geschichten einer berühmten
Straße, Berlin/Ost 1972, S. 47 f.
9 Vgl. Saul, S. 35.
10 Carl Gotthard Langhans d. Ä. (1732—1808), Architekt. Er verkörperte die Übergangszeit vom
Spätbarock zum Frühklassizimus und erbaute u. a. das Brandenburger Tor. Vgl. BBL,
S. 243-244.
11 Die Bau- und Kunstdenkmäler von Berlin. Bearb. v. Richard Borrmann, Berlin 1893, S. 321.
12 Christian Bernhard Rode, Mitglied der Kgl. Akademie der Wissenschaften, und Johann Christoph Frisch. Vgl. Saul, S. 34.
13 Um die Gestalt der Wilhelmine Rietz ranken sich zahlreiche Skandalgeschichten, die hier nicht
näher aufgeführt werden sollen. Sie war die Tochter eines Trompeters aus der Spandauer Straße.
Der damalige Prinz und spätere König Friedrich Wilhelm II. lernte sie als 14jährige bei ihrer
Schwester, einer Figurantin des Kgl. Theaters, kennen. Empört über die schlechte Behandlung
durch die Schwester brachte der Prinz sie nach Potsdam und ließ sie ausbilden. Von seinem Regierungsantritt bis zu seinem Tod war Madame Rietz, wie sie im Volksmund hieß, die Geliebte des
Königs. Vgl. Saul, S. 45.
14 Michael Philipp Daniel Boumann d. J. (1747-1803); 1778 Berufung zum Geheimen Oberhofbaurat und Baudirektor, 1794 zum Oberfinanzrat; 1799 Mitbegründer der Bauakademie; Vertreter des Frühklassizismus. Vgl. BB1, S. 59.
15 Die „verderbten Verhältnisse am Hofe" und die Rolle des Palais, welches „in der chronique scandaleuse der preußischen Geschichte einen beachtlichen Platz (einnimmt)", schildert ausführlich
Winfried Löschburg in seinen beiden informativen Büchern „Unter den Linden" (a.a. O., S. 78)
und „Spreegöttin mit Berliner Bär. Historische Miniaturen" (Berlin/Ost 1987, S. 50—54).
16 Saul, S. 46.
17 Vgl. Borrmann, S. 320.
18 Während Wilhelm V. als ein schwacher Mann ohne Format beschrieben wird, gilt Wilhelmine als
eine Frau mit großen Qualitäten und von hellem Verstand. Algemene Geschiedenis der Nederlanden, Bd. IX, Antwerpen u. a. 1961, S. 257; Strauch/Großkopff, S. 65 ff.
19 Es waren (mit niederländischen Namen): 1. Willem Frederik George Lodewijk, 2. Willem Frederik Karel, 3. Pauline und 4. Marianne. Vgl. Nieuw Nederlandsch Biografisch Woordenboek,
Bd.I, Leiden 1911, Sp.1539.
183
20 Der Friede von Basel wurde am 5. April 1795 zwischen Frankreich und Preußen geschlossen.
Frankreich blieb im Besitz des linken Rheinufers; Preußen zog seine Truppen aus dem Revolutionskrieg zurück.
21 Vgl. Nieuw Nederlandsch Biografisch Woordenboek, Bd. I, Sp. 1562 f.
22 Vom Leben am preußischen Hofe 1815—1852. Aufzeichnungen von Caroline v. Rochow und
Maria de la Motte-Fouque, bearb. von Luise v. d. Marwitz, Berlin 1908, S. 38 f.
23 August Wilhelm Anton Neidhardt von Gneisenau (1760—1831), preußischer General und Heeresreformer. Im Feldzug von 1815 war er Generalstabschef Blüchers und hatte großen Anteil an
den Erfolgen der Befreiungskriege. Vgl. BBL, S. 143 f.
24 Vom Leben am preußischen Hof, S. 38 f.
25 Gräfin Adrienne Louise Flore Henriette d'Oultremont Wegimont (geb. 1792), Tochter eines Lütticher Vaters und einer Amsterdamer Mutter. Sie war 1830 zwar dem Haus Oranien treu geblieben, galt aber in der Öffentlichkeit als eine Belgierin und war zudem katholisch. Vgl. Strauch/
Großkopff, S. 93f.
26 Vgl. G. J. Hooykaas: De politieke ontwikkeling in Nederland 1830—1840, in: Algemene
Geschiedenis der Nederlanden, Bd. 11, Bussum 1983, S. 312.
27 Vgl. Hooykaas, S. 313 f.
28 Wörtlich übersetzt: „Donnermund".
29 Vgl. P. J. Blök: Geschiedenis van het Nederlandsche Volk, Bd. 4, Leiden o. J. (1926), S. 357.
30 Vom Leben am preußischen Hof, S. 378
31 Das Palais befand sich in der Wilhelmstraße 102 gegenüber der Kochstraße. 1832 wurde es nach
Entwürfen des Baumeisters Schinkel für das Prinzenpaar im Innern prächtig eingerichtet. Vgl.
Friedrich Morin: Berlin und Potsdam im Jahre 1860 (Reprint Braunschweig 1980), S. 155 f.
32 Vom Leben am preußischen Hof, S. 384.
33 Bruder von König Friedrich Wilhelm IV, der spätere deutsche Kaiser Wilhelm I. (1797—1888).
Vgl. Heinz Börner: Kaiser Wilhelm I. 1797—1888. Deutscher Kaiser und König von Preußen,
Köln 1984.
34 Vom Leben am preußischen Hof, S. 384.
35 Sohn des Fürsten Anton (1797—1870), preußischer Generalmajor. Diese und die beiden folgenden biographischen Anmerkungen aus: Vom Leben am preußischen Hof, S. 384.
36 Hans Graf v. Zieten (1770—1848), General-Feldmarschall. Seine Mutter war mit der Gräfin
d'Oultremont verwandt.
37 Fürstbischöflicher Delegat in Berlin, Propst an der St.-Hedwigs-Kirche.
38 Vom Leben am preußischen Hof, S. 384.
39 Berlinische Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen. In der Haude und Spenerschen Zeitungs-Expedition, Nr. 27, 2. Februar 1841.
40 Berlinische Nachrichten, Nr. 80, 5. April 1841.
41 Berlinische Nachrichten, Nr. 184, 9. August 1843.
42 Vgl. Blök, S. 366.
43 Berlinische Nachrichten, Nr. 292, 12. Dezember 1843.
44 Berlinische Nachrichten, Nr. 302, 23. Dezember 1843.
45 Das Testament des verstorbenen Königs schloß seine hinterlassene Gemahlin von der Erbfolge
aus. Die Gräfin begab sich nach einer Trauerzeit zu ihren Verwandten und lebte noch mehr als
20 Jahre, zuletzt auf Schloß Rahe bei Aachen. Vgl. Strauch/Großkopff, S. 95.
46 Prinz Friedrich, der 1797 in Berlin geboren wurde, verlebte seine Jugend bis zur Rückkehr der
Oranier in die Niederlande (1815) in Berlin. In dieser Zeit entstanden Jugendfreundschaften mit
dem späteren König Friedrich Wilhelm IV. und Prinz Wilhelm I. Vgl. Nieuw Nederlandsch Biografisch Woordenboek, Bd. I, Sp. 896 ff.
47 Vgl. Klünner, Hans-Werner: Das Panorama der Straße Unter den Linden vom Jahre 1820,2. Teil,
in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins, Nr. 2/1965, S. 23.
48 Luise (1838—1923), seit 1856 verheiratet mit Friedrich I., Großherzog von Baden. Vgl. Börner
(Beilage).
49 Saul, S. 46.
184
50 Vgl. Schulz, Wolfgang: Stadtführer durch das historische Berlin, 2., verb. Aufl., Berlin 1981,
S.49.
51 Vgl. Borrmann, S. 320.
52 Vgl. Paunel, Eugen: Die Staatsbibliothek zu Berlin. Ihre Geschichte und Organisation während
der ersten zwei Jahrhunderte seit ihrer Eröffnung (1661—1871), Berlin 1965, S. 352—356.
53 Vgl. Saul, S. 33.
54 Vgl. Löschburg, Unter den Linden, S. 78.
55 Voß, Georg: Die Straße Unter den Linden um das Jahr 1822. Bilderreihe in der Privatsammlung
des Hofkunsthändlers Louis Meder, in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins,
Nr. 4/1908, S. 77 f.
56 HansGericke: Aufbau der Straße Unter den Linden, in: Deutsche Architektur 11/1962, S. 636.
57 Das Gouverneurshaus wurde 1721 von M. H. Böhme und Friedrich Wilhelm Dietrichs erbaut.
Vgl. Schulz, S.49.
185
Studienfohrt zur ßergboustodt Freiberg
vom 10. bis 12. September 1993
Die gute Hoffnung, in diesem Heft der „Mitteilungen" fristgerecht das vollständige Programm
der Exkursion nach Freiberg in Sachsen veröffentlichen zu können, trog trotz der Unterstützung, die uns Dr. Ulrich Thiel, Direktor des Stadt- und Bergbaumuseums Freiberg, und Dring. Heinz-Michael Eßlinger, Vorstand der Freiberger Brauhaus AG, haben zuteil werden
lassen. Zwar wurde uns von der Freiberg-Information die nötige Zahl an (Einzel-)Zimmern
zugesagt, bislang konnten wir aber weder die Hotels, noch die Übernachtungspreise in Erfahrung bringen. Hier steht deswegen nur das in groben Zügen abgesprochene Programm, noch
nicht der exakte Ablauf der Studienfahrt und auch noch nicht der Teilnehmerbeitrag nebst
Angabe der Kosten für die Unterkunft.
Wer Lust verspürt, sich der Reisegruppe anzuschließen, wird gebeten, dies dem Schriftführer
formlos und ohne Verbindlichkeit mitzuteilen. Allen Interessenten wird dann das endgültige
Programm mit allen erforderlichen Angaben zusammen mit einem Antwortbogen zugehen,
dessen Rücksendung dann die Entscheidung für die Teilnahme bedeutet.
Vorläufiges Programm
Freitag, 10. September 1993
Abfahrt von der TU Berlin, Straße des 17. Juni
Eintreffen in den Hotels, Mittagessen
Besichtigung der Übertageanlage der „Alten Elisabeth"/alternativ des Freiberger Brauhauses
Besichtigung des Stadt- und Bergbaumuseums mit Einführungsvortrag
Kaffeepause
Dombesichtigung
Ausklang des Tages in der historischen Gaststätte „Brauhof"
Sonnabend, 11. September 1993
Stadtführung
Besichtigung der Petrikirche
Führung durch das Rathaus
Gemeinsames Mittagessen
Bergbauhistorische Exkursion über die Silberstraße mit Kaffeepause
Gemeinsamer Theaterbesuch
Sonntag, 12. September 1993
Fortsetzung der Bergbauhistorischen Exkursion
Gemeinsames Mittagessen
Heimreise über Kloster Nossen, Kaffeepause unterwegs
Auf Zuschriften, die Interesse an dieser ersten Studienreise des Vereins nach Sachsen bekunden, freut sich Dr. Hans Günter Schultze-Berndt, Seestraße 13, 13353 Berlin, Telefon
4 50 92 64 oder 4 0142 40 möglichst bis zum 1. August (wie gesagt unverbindlich), was die
Teilnahme nicht ausschließt, wenn die Anmeldung erst später eingeht, sofern denn die Exkursion zustande kommt! Bitte drücken Sie die Daumen!
SchB.
186
Im I. und IL Quartal 1993
haben sich folgende Damen und Herren zur Aufnahme gemeldet:
Hans-Joachim v. Albert, Bundesrichter i. R.
Alemannenstraße 4
7500 Karlsruhe
Tel. (07 21) 8178 65 (Wolf-D. Scherbius)
Anneliese Grajek,
Kardinal-Schulte-Straße 25
5060 Bergisch-Gladbach
Fritz Peter Hoppe, Offizier der Bundeswehr
Sophie-Charlotte-Straße 32 a
1000 Berlin 37
(Grave)
Wolfgang Leren, Kunsthistoriker
Hohenschönhauser Straße 10
0-1156 Berlin
Tel. 9 725213
Dr. Manfred Rosenbach, Seminarleiter
Oertzenweg 28 c
1000 Berlin 37
Tel. 8 028614
(Schröter)
Eva Träder, Musiklehrerin i. R.
Königstraße 4 a
14109 Berlin
Tel. 805 5563
(Dr. Knop)
Empfehlung der Redaktion:
Im Heft 2/1993 war das Inhaltsverzeichnis der Jahrgänge 84—87 den Mitteilungen beigefügt
worden. Wie immer liegt ein Angebot des Buchbinders der Bibliothek vor. Bei genügender
Beteiligung ergibt das Binden mit Rückentitel (einschl. MwSt) 35 DM. Wir bitten den Heftesatz mit Inhaltsverzeichnis bis spätestens 25. August in der Bibliothek des Vereins (BerlinWilmersdorf, Berliner Straße 40) abzugeben. Für eine einmalige zügige Abrechnung bitten
wir den vorgenannten Betrag vertrauensvoll mit den gesammelten Heften und dem Inhaltsverzeichnis in der Bibliothek zu hinterlegen. Die Bibliothek ist geöffnet jeden Mittwoch, 16 bis
19.30 Uhr.
Den Tauschpartnern die neue Anschrift zur Kenntnis:
Verein für die Geschichte Berlins
Bibliothek
Berliner Straße 40
10715 Berlin
187
Veranstaltungen im III. Quartal 1993
1. Freitag, den 30. Juli 1993,17.00 Uhr: Sommerausflug des Vereins für die Geschichte Berlins, gegr. 1865. Besuch des „Feuerstättenmuseums" in Mahlsdorf, dem einzigen Feuerstättenmuseum in Deutschland (Melanchthonstraße 63, Ecke Albrecht-Dürer-Straße).
Eintritt 1 DM pro Person. Anschließender gemütlicher Imbiß (Grill) mit Getränken im
Garten oder in den Räumen des Museums, mit Kostenbeteiligung. Führung durch die
Museumsleute. Fahrverbindungen: S-Bahn bis Bhf. Mahlsdorf. Von dort (Haltestelle vor
dem Lampengeschäft) mit den Bussen 154, 198 oder 295 drei Stationen bis Rosenhaag.
Für Autofahrer: B 1 bis Mahlsdorf. Ampelkreuzung Hönower Straße, dort links ab.
Anmeldungen bis zum 27. Juli unter 8 54 58 16 ab 19.00 Uhr.
Im Monat August Sommerpause.
2. Donnerstag, den 9. September 1993,16.30 Uhr: Besuch der Ausstellung „Berlin, 17. Juni
1953". Führung: Herr Andreas Mahal. Landesarchiv, Kalckreuthstraße 1—2.
3. Freitag, den 10. September 1993, bis Sonntag, den 12. September 1993: Studienfahrt zur
Bergbaustadt Freiberg. Leitung Herr Dr. Hans Günter Schultze-Berndt.
4. Sonnabend, den 18. September 1993, 10.00 Uhr: Besuch des Friedhofes I der GeorgenParochial-Gemeinde, Greifswalder Straße 229/234. Führung durch die Damen Kerstin
Hentschel und Martina Jesse. Treffpunkt am Friedhofsportal. Fahrverbindungen: Ab
U-Bahnhof Rosa-Luxemburg-Platz drei Stationen mit der Straßenbahn: Linien 2, 3 und
4. Für Spaziergänger zu Fuß ab Alexanderplatz.
Bibliothek: Berliner Straße 40, 10715 Berlin, Telefon 87 2612. Geöffnet: mittwochs 16.00 bis
19.30 Uhr.
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188
A 1015 F
MITTEILUNGEN
DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS
GEGRÜNDET 1865
89. Jahrgang
Heft 4
-fcPodictt.
Oktober 1993
' o ine k
Porträt des Berliner Pharmazeuten und Chemikers Martin Heinrich Klaproth.
Ölgemälde, nicht vor 1811.
Martin Heinrich Klaproth (1743-1817)
Zum 250. Geburtstag des bedeutenden Berliner Pharmazeuten und Chemikers
Von Günter H o p p e
In der großen Reihe der berühmten Naturwissenschaftler, die in Berlin gewirkt haben, nimmt
Martin Heinrich Klaproth einen ehrenvollen Platz ein. Sein Wirken beginnt noch in der Zeit
der letzten von der Alchimie beeinflußten Goldmacher und Wunderheiler und war bestimmt
vom beharrlichen Bestreben, den Beruf des Apothekers auf eine exakte wissenschaftliche Basis
zu stellen sowie die verbreiteten Geheim- und Schwindelrezepte durch analytische Aufklärung
zu bekämpfen. Hierauf fußt das erste preußische Arzneibuch (Pharmacopoea Borussica), das
er mit anderen im Jahre 1799 herausgab 1 und dem eine große Vorbildwirkung innewohnte, die
weit über Preußen hinausging.
Klaproths Hauptarbeitsmethode war die experimentelle Aufklärung der chemischen Zusammensetzung von Stoffen durch chemische Analyse. Es gelang ihm, dieses Verfahren zu hoher
Vollkommenheit zu entwickeln, und er wandte es zunehmend auch auf Naturkörper an, die
keine direkten Beziehungen zur Pharmazie besaßen, auf Minerale und Gesteine. Dabei arbeitete er Verfahren aus, sog. Aufschlußverfahren, mit denen es gelang, auch solche Stoffe, wie
z. B. Edelsteine, der Analyse zugänglich zu machen, bei denen dies bis dahin nicht gelungen
war. Als Ausgangsstoffe für die Analysen legte er sich eine umfangreiche Sammlung von Mineralen an und arbeitete mit dem jungen Berliner Mineralogen Dietrich Ludwig Gustav Karsten
(1768—1810) zusammen, der ihn u. a. bei der mineralogischen Identifizierung der Minerale
unterstützte.
Die sehr zahlreichen chemischen Mineralanalysen, die Klaproth mit einer bis dahin unbekannten Genauigkeit ausführte, machten ihn zu dem führenden Vertreter der Mineralchemie seiner
Zeit.2 Er besaß einen ungewöhnlich scharf ausgeprägten Sinn für die Unterscheidung der chemischen Reaktionen, und so gelang es ihm mehrfach — man könnte fast sagen als Nebenergebnis —, noch unbekannte chemische Elemente in den untersuchten Mineralen zu entdecken.
Dies begann im Jahre 1789 mit den Entdeckungen der Elemente Zirkonium und Uran. 3 Dann
folgten die Elemente Strontium, Titan und Tellur sowie nach der Jahrhundertwende das Element Cer. Diese wurden auch noch von anderen Chemikern entdeckt, nahezu zeitgleich, aber
unabhängig von Klaproth. Außer Cer erhielten die Elemente ihre Namen von ihm.
Mit den Elemententdeckungen krönte Klaproth seine unermüdlichen, in den sechs Bänden
seiner „Beiträge zur chemischen Kenntnis der Mineralkörper" 4 zusammengefaßten und für die
Mineralogie unschätzbaren Untersuchungen, die er mit besonderer Liebe ausgeführt hat. Im
Gegensatz zu dieser experimentellen Tätigkeit besaß Klaproth jedoch zeit seines Lebens eine
tiefe Abneigung gegen Hypothesen und Theorienbildung. Eine Ausnahme bildete seine
Abkehr von der herrschenden Phlogistonlehre und Anerkennung der Sauerstofftheorie des
französischen Chemikers Antoine Laurent Lavoisier (1743—1794), die er aufgrund eigener
Experimente im Jahre 1793 vollzog. Es ist ferner darauf hinzuweisen, daß Klaproth seine
ersten großen chemischen Erfolge erst sehr spät erreicht hat, die ersten Elemententdeckungen
mit 46 Jahren. Dies steht mit seinem Werdegang in engem Zusammenhang.
Geboren wurde Klaproth am 1. Dezember 1743 in Wernigerode am Harz als Sohn eines durch
den Stadtbrand von 1751 verarmten Schneidermeisters, und so war ihm der Besuch der höheren Schule nur durch Gelderwerb beim Kurrendesingen möglich. Ein Jahr vorzeitig verließ er
die Schule und trat 1758 als Lehrjunge in die Ratsapotheke in Quedlinburg ein. Der damalige
190
Apothekenbetrieb war noch ganz handwerksmäßig. Klaproth sagte darüber: „Eines von meinem Lehrherrn genossenen Unterrichts kann ich mich nicht rühmen, sondern ich mußte mich
nach damaliger Sitte mit demjenigen begnügen, was ich von dem handwerksmäßigen Verfahren meiner älteren Mitgenossen absah und durch sparsames Lesen eines oder des anderen veralteten Apothekerbuches, wozu aber überhaupt wenig Muße vergönnt war, mir zu eigen
machen Gelegenheit fand."5 Die Gesellenjahre, die er in Quedlinburg, Hannover, Berlin6 und
Danzig zubrachte, boten auch nur geringe Möglichkeiten der Weiterbildung, die er jedoch mit
der ihm eigenen Initiative konsequent nutzte.
Nach halbjähriger Tätigkeit in Danzig wurde Klaproth im Jahre 1771 von dem schwerkranken
Berliner Apotheker Valentin Rose d. Ä. (1736—1771) in dessen Apotheke zum weißen
Schwan gerufen. Für Klaproth war es ein besonderer Glücksfall, kam er doch dadurch in Verhältnisse, die für seine Weiterbildungsbestrebungen ungewöhnlich günstig waren. Von Rose,
der wissenschaftliche Ambitionen hatte, stammt das noch heute bekannte „Rosesche Metall",
auch war er ein Schüler des berühmten Chemikers der Berliner Akademie der Wissenschaften
und früheren Apothekers Andreas Sigismund Marggraf (1709—1782) und hatte eine Nichte
Marggrafs geheiratet. Rose verstarb vier Wochen nach Klaproths Eintritt und setzte ihn noch
auf dem Sterbebett als Verwalter seiner Apotheke und als Vormund seiner Kinder ein.
Neun Jahre lang hat Klaproth die Schwan-Apotheke, die in der Spandauer Straße gegenüber
der Heilig-Geist-Kapelle lag, als Provisor verwaltet. Der älteste Sohn Roses, Valentin Rose
d.J. (1762—1807), ging in dieser Zeit als Apothekerlehrling nach Frankfurt am Main und
übernahm später die väterliche Apotheke, 1785 als Provisor und 1790 als Besitzer. Er wurde
ein enger Vertrauter Klaproths und z.T. auch Mitarbeiter bei dessen mineralchemischen
Arbeiten.7
Im Jahre 1780 konnte Klaproth mit 37 Jahren den entscheidenden Schritt seines Lebens tun. Er
heiratete Christiane Sophie Lehmann, und nun war es ihm, dem von Haus aus völlig Mittellosen, möglich, eine Apotheke zu kaufen, offensichtlich mit Geldern der Familie seiner Frau,
ebenfalls einer Nichte Marggrafs. Es war die in früherer Zeit im Besitz der Familie Marggraf
gewesene Bären-Apotheke, die sich auch in der Spandauer Straße, aber nahe der Nikolaikirche
an der Ecke Probststraße befand. Durch großen Fleiß hat Klaproth diese Apotheke mit bald
drei Gesellen, dazu noch Lehrlingen, zu einer der bedeutendsten Apotheken Berlins machen
können, wozu die von ihm betriebene vorbildliche Ausbildung seines Personals viel beitrug.
Jetzt konnte er sich auch ein kleines besonderes Laboratorium einrichten und seinen speziellen
wissenschaftlichen Neigungen ohne Vernachlässigung beruflicher Pflichten nachgehen. Hier,
im Laboratorium seiner privaten Apotheke, hat Klaproth den größten Teil der chemischen
Entdeckungen gemacht, die seinen Weltruhm begründeten.
Aber Klaproth vergrub sich trotz seiner großen Liebe zum experimentellen Arbeiten nicht in
seinem Laboratorium. Er begann schon bald, dem Vorbild zahlreicher Gelehrter in Berlin zu
folgen und privaten Unterricht in Form von Vorlesungen abzuhalten. Er las regelmäßig über
Chemie, was bei einem breiten Publikum großen Anklang fand. Dies hatte die Folge, daß er als
Lehrer der Chemie von mehreren Berliner Institutionen herangezogen wurde, vom Collegium
chirurgicum, von der Bergakademie und von Artillerie-Schule bzw. -Akademie sowie als Prüfer vom Ober-Collegium medicum. Klaproth muß ein beliebter Lehrer gewesen sein. Sein Vortrag wird als „einfach und ungeschmückt, aber klar, bestimmt und gedrängt" beschrieben.8
Aber nicht nur als Lehrer war Klaproth beliebt, auch im lebhaften Gesellschaftsleben Berlins
muß er ähnlich gewirkt haben. Die Liste seiner aktiven Mitarbeit ist lang und beginnt mit der
Zugehörigkeit zu den Freimaurern. Bereits 1776 wurde er in die Loge zur Eintracht aufgenommen und stieg, nachdem er 1793 Meister vom Stuhl geworden war, schließlich bis zum zugeord191
neten National-Großmeister im Altschottischen Direktorium auf. Er bildete einen Gegenpol
zu der gegen die Aufklärung gerichteten mystisch-alchimistischen Haltung Johann Christoph
v. Wöllners (1732—1800), womit dieser den König Friedrich Wilhelm II. beherrschte.
Die Gesellschaft naturforschender Freunde Berlins nahm Klaproth 1786 auf und wählte ihn
bereits 1791 zum ordentlichen Mitglied, was die turnusmäßige Abwechselung des Direktoramtes mit den übrigen elf ordentlichen Mitgliedern bedeutete. Diese Vereinigung war eine private
Gründung von 1773 und traf sich regelmäßig wöchentlich zu Vorträgen und Aussprachen über
Themen der Naturkunde aller drei Naturreiche. Klaproth nahm, wie die ausführlichen Tagebücher der Gesellschaft9 belegen, ohne Unterbrechungen am Leben der Gesellschaft teil und
berichtete oft über die Ergebnisse seiner Mineralanalysen.
Eine ökonomische, modern anmutende Zielsetzung verfolgte die Holzsparende Gesellschaft
von 1788, die aber nach dem Brand des Friedrichswerderschen Rathauses (1795), wo sie ihren
Sitz hatte, bald wieder einging. Klaproths Beteiligung an ihren Bestrebungen geht aus einem
Vortrag hervor, den er später vor der Märkisch-ökonomischen Gesellschaft in Potsdam gehalten hat.10 Er behandelte darin die möglichst vollständige Ausnutzung der Brennstoffe, speziell
Holz, die dadurch erreicht werden kann, daß die Verbrennung der entstehenden Gase und der
Holzkohle im Ofen räumlich getrennt wird. In der von ihm vorgeschlagenen Form setzte sich
sein Gedanke nicht durch. Erst viel später wurde ähnliches in der Koks- und Gaserzeugung
verwirklicht.
Diese Betätigungen genügten Klaproth offensichtlich nicht. Nachdem es ihm im Sommer des
Jahres 1800 gelungen war, einige Zusammenkünfte von interessierten Wissenschaftlern über
Experimentalchemie und über Elektrizität zustande zu bringen, entwickelte sich daraus noch
im gleichen Jahr die Philomathische Gesellschaft unter Klaproth als Direktor. Philomathie
sollte die Liebe zu Kenntnissen überhaupt und zu allem Wissenswerten bedeuten. Von den
Mitgliedern wurden reihumgehend Vorträge aus allen Wissenschaftsgebieten gehalten.11 Im
Jahre 1806 bestand die Gesellschaft noch. Danach ging das Interesse an ihr zurück.
Schließlich sind noch zwei im Jahre 1810 gegründete Gesellschaften zu nennen, an denen
Klaproth beteiligt war. Eine davon war die von dem bekannten Arzt Christoph Wilhelm
Hufeland (1762—1836) gegründete Medizinisch-chirurgische Gesellschaft in Berlin12, in der
Klaproth von 1812 an mehrfach Vorträge über die Ausübung des tierischen Magnetismus in
Paris und über pharmazeutisch-chemische Themen hielt. Im Jahre 1814 wurde er zu einem der
sieben Vorsteher dieser Gesellschaft und ihrer Sparten gewählt. Die andere Vereinigung ist die
Gesellschaft für Natur- und Heilkunde13, die sich der Zusammenhänge zwischen Medizin und
Naturwissenschaft annahm und die Beziehungen zur Philosophie eifrig diskutierte. Klaproth,
der hier Gründungsmitglied war, hat sich auch für diese Probleme lebhaft interessiert.
Die Aufnahme Klaproths in die Akademie der Wissenschaften in Berlin als Mitglied, die im
Jahre 1788 erfolgte, hatte vor allem den Charakter der offiziellen Anerkennung. Allerdings
stand die Akademie damals, u. a. bedingt durch die veralteten Statuten und das Auswahlverfahren, nicht in besonderer Blüte14, auch erhielt Klaproth zunächst keine Besoldung, die sonst
bei ordentlichen Mitgliedern üblich war. Dennoch bestand für Klaproth die Aussicht, eventuell
einmal ordentlicher Chemiker der Akademie und damit ein Nachfolger des großen Marggrafs
zu werden. Diese verlockende Aussicht trat tatsächlich ein, aber erst nach zwölf Jahren, als der
damalige Chemiker der Akademie, Franz Carl Achard (1753—1821), seine im großen Stil
angestellten Versuche zur technischen Verwertung der Marggrafschen Zuckerentdeckung in
Runkelrüben erfolgreich beendete und das Laboratorium sowie die Chemikerstelle freigab.
So wurde Klaproth im Jahre 1800 ordentlicher Chemiker der Akademie. Er gab sogleich seine
private Apotheke auf, da ihm das Laboratorium nebst einer kleinen Dienstwohnung im glei192
chen Haus zur Verfügung gestellt wurde. Beides lag in der Dorotheenstraße (Clara-ZetkinStraße), nahe der Akademie, die im Obergeschoß des königlichen Marstalls Unter den Linden
untergebracht war. Allerdings mußte Klaproth erst noch einen Neubau des Laborgebäudes
nebst Hörsaal abwarten, da dieses, wie Klaproth schrieb, durch die „wohllöbliche RunkelRüben-Roh-Zucker-Fabrikations-Kommission", der er übrigens auch selbst angehört hatte,
vollkommen verdorben und unbenutzbar geworden war.15 Darüber gingen drei Jahre hin.
Danach hat Klaproth wieder experimentell gearbeitet und knüpfte an frühere Erfolge an (Entdeckung des Cers 1804), obwohl er den Höhepunkt seiner analytischen Leistungen schon
zuvor erreicht hatte. Die private und institutionelle Vorlesungstätigkeit führte er wie zuvor
weiter, da die Akademie nur ein sehr bescheidenes Gehalt zahlte.
Im Jahre 1806 veränderte sich unter dem Ansturm Napoleons die Situation in Preußen vehement. Es kam zum Zusammenbruch des Heeres und zum Verlust der westlichen Landesteile
einschließlich der Universität Halle. So war die Gründung der Berliner Universität ein Akt
hoher nationaler Bedeutung. Er wurde möglich durch die Zusammenfassung aller bereits in
Berlin vorhandener Lehr- und Ausbildungspotentiale. Für Klaproth brachte die Neugründung
die Berufung als Professor der Chemie, für den bereits 67 Jahre alten Autodidakten eine nochmalige Anerkennung. Das Laborgebäude der Akademie wurde nun zugleich auch für die Universität genutzt. Wie die Vorlesungsverzeichnisse ausweisen, hat Klaproth in jedem Semester
über experimentelle und analytische Chemie gelesen und chemische Versuche vorgeführt.
Aber bereits nach vier Jahren ging dies zu Ende, da seine Gesundheit durch Schlaganfälle
immer mehr beeinträchtigt wurde. Er verstarb am 1. Januar 1817 im 74. Lebensjahr.
Klaproths Wertschätzung reichte zu seinen Lebzeiten weit über Berlin hinaus. Sie zeigt sich
auch in den zahlreichen Porträts, die von ihm bekannt sind. Sein Biograph E. Dann verzeichnet
insgesamt 16 Porträts in Form von Stichen, Lithographien, Büsten, Reliefs und einem Ölgemälde.16 Die Entwicklung der chemischen Wissenschaft blieb natürlich nach Klaproth nicht
stehen, sie ist im Gegenteil durch ihn noch beschleunigt worden. Bereits in den ersten Jahren
des 19. Jahrhunderts stellte der Berliner mathematisch interessierte Chemiker Jeremias Benjamin Richter (1762—1807) anhand von Analysen mit Genauigkeiten, wie sie Klaproth erreicht
hatte, dar, daß die Elemente in Verbindungen mit bestimmten Verhältnisgewichten auftreten.
Dies setzte der berühmte schwedische Chemiker Jons Jakob Berzelius (1779—1848) durch
Berücksichtigung der elektrochemischen Eigenschaften der Elemente fort, wodurch er zur
Aufstellung chemischer Formeln gelangte. Damit wurden die chemischen Verhältnisse aller
aus mehreren Elementen zusammengesetzten Verbindungen leicht übersehbar. Diese und
weitere Fortschritte ließen Klaproths Leistungen vorübergehend geringer erscheinen, zumal er
sich auf theoretischem Gebiet nicht betätigt hatte.
Der berühmte Berliner organische Chemiker August Wilhelm Hofmann (1818—1892) war der
erste, der Klaproths Bedeutung für die Entwicklung der Chemie wieder klar erkannte und herausstellte.17 Sein Urteil über Klaproth ist sehr treffend. Neben den wissenschaftlichen Leistungen würdigt Hofmann auch das Verhalten Klaproths Fachkollegen gegenüber. Hierzu soll Hofmann zu Wort kommen:18
„Die scharfe Beobachtungsgabe Klaproths und die nüchterne Erklärung des Beobachteten,
durch welche er zu so zahlreichen und großartigen Entdeckungen geführt worden war, haben
ihn oft genug die Fehler seiner Vorgänger erkennen lassen. Bezeichnend für den Mann, der so
viele Entdeckungen darzulegen, so viele Irrtümer zu berichtigen hatte, ist der Geist, in welchem er sich der einen wie der anderen Aufgabe entledigt hat. Von einer Bescheidenheit, der
jede Überhebung fern liegt, voll Anerkennung für die Verdienste Anderer, rücksichtsvoll für
fremde Schwäche, aber von unerbittlicher Strenge in der Beurteilung der eigenen Arbeit, hat
193
uns Klaproth für alle Zeiten das Vorbild eines echten Naturforschers gegeben."
Hofmann stiftete im Jahre 1881 zusammen mit 16 Persönlichkeiten aus Wissenschaft und chemisch-pharmazeutischer Industrie eine Marmorbüste Klaproths für die Aula der Universität.
Sie befindet sich heute in der Ausstellung des Museums für Naturkunde der Humboldt-Universität.19
Klaproth fand seine Grabstätte auf dem Friedhof der Dorotheenstädtischen und Friedrichswerderschen Gemeinden. Eine Nachricht über sein Grab aus dem Jahre 1869 lautet :20 „Wenn
wir den Hauptgang verfolgen, tritt uns an seinem Endpunkte ein mächtiges altes Monument
entgegen. Ein großes eisernes Kreuz, auf drei Stufen sich erhebend, ragt — fast das älteste
Grabmal auf diesem Kirchhofe — hart am Oranienburger Tor über die Kirchhofsmauer hervor.
( . . . ) Ein merkwürdiges Denkmal! Das erste Grabkreuze, das aus der Königlichen Eisengießerei hierselbst hervorgegangen, ein Werk, das in dankbarer Anerkennung der Verdienste des
großen Chemikers, Akademie und Eisengießerei vereint seinem Andenken geweiht haben." 21
Abb. 1: Situationsskizze des südlichen Teils des Friedhofes der Dorotheenstädtischen und Friedrichswerderschen Gemeinden im Zustand des Jahres 1866 mit eingetragener Baufluchtlinie (gestrichelt),
nach der der Friedhof im Jahre 1889 zur Anlage der Hannoverschen Straße verkleinert wurde.
Grabstellen: 1 M. H. Klaproth, 2 C. W. Hufeland, 3 J. G. Schadow, 4 G. W. F. Hegel, 5 J. G. Fichte.
Leider sind das Grab und das Grabmal nicht erhalten geblieben. Im Zuge der Entfernung der
Stadtmauer wurden die Wege, die an deren Innenseite verliefen, auf das heutige Maß verbreitert. So entstand anstelle einer schmalen „Communication" zwischen dem Oranienburger und
dem Neuen Tor die Hannoversche Straße von 30 m Breite (8 Ruthen). Der Platz dafür konnte
wegen der Artillerie-Kaserne nicht stadteinwärts gewonnen werden. Deshalb wurde das Friedhofsgelände, das von außen bis an die Stadtmauer reichte, entsprechend einer Baufluchtlinie,
die durch „Allerhöchsten Erlaß" vom 20. Juni 1865 genehmigt war, um fast 21 m Breite verkleinert. Ein Plan aus dem Jahre 1866, nach dem 1889 im wesentlichen verfahren wurde, informiert hierüber. Betroffen waren etwa 200 Gräber, von denen fast 90 noch namentlich gekennzeichnet waren. Diese lagen im dicht ausgenutzten westlichen Teil. Der östliche Teil hatte ältere
Gräber und, fast allein noch mit Grabmal versehen, das Grab Klaproths. Einige Gräber bedeutender Persönlichkeiten wurden umgelegt, u.a. von Johann Gottlieb Fichte (1762—1814),
194
Abb. 2:
Gußeisernes Grabmal für
Martin Heinrich Klaproth.
Hergestellt in der Königlichen
Eisengießerei in Berlin.
Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831), Christoph Wilhelm Hufeland (1762-1836)
und Johann Gottfried Schadow (1764—1850). Klaproths Grab wurde eingeebnet, es geriet
unter den Fußweg vor dem später erbauten Haus Nr. 131 der Chausseestraße. Das Grabkreuz
ist verschollen.
Anmerkungen
Der Autor dankt für Hinweise und Hilfen mehreren Kolleginnen und Kollegen des Institutes für
Mineralogie und der Handschriftensammlung im Museum für Naturkunde der Humboldt-Universität zu Berlin, des Landesarchives Berlin sowie Herrn Professor Dr. E. Vaubel.
1 Die erste Auflage der Pharmacopoea Borussica gab Klaproth zusammen mit J. L. Formey, S. F.
Hermbstaedt und V. Rose d. J. heraus.
2 Hoppe, G.: Martin Heinrich Klaproth als Mineralchemiker und Mineralsammler. In: Der Aufschluß, Heidelberg, Jg. 40, 1989, S. 201-214.
195
3 Die spätere Bedeutung des Urans, die über Wohl und Wehe der Menschheit entscheiden kann,
war von Klaproth unmöglich voraussehbar. — Die Eigenschaft der Radioaktivität wurde 1896 von
H: Becquerel und die der Kernspaltung 1938 von O. Hahn und F. Straßmann entdeckt.
4 Klaproth, M. H.: Beiträge zur chemischen Kenntnis der Mineralkörper. Bd. 1,1795, Bd. 2,1797,
Bd. 3,1802, Bd. 4,1807, Posen, Berlin; Bd. 5,1810, Berlin, Leipzig; Bd. 6,1815, Berlin, Stettin.
5 Dann, G. E.: Martin Heinrich Klaproth (1743—1817). Ein deutscher Apotheker und Chemiker.
Sein Weg und seine Leistung. Berlin, 1958, X + 171 S. (S. 15).
6 Klaproth war von 1768 bis 1770 in der Berliner Apotheke zum Engel, an der Ecke Mohren- und
Mauerstraße, tätig.
7 Nach dem frühen Tod Valentin Roses d. J. nahm sich Klaproth dessen drei Söhnen an: Wilhelm
(1792-1867) wurde Apotheker, Heinrich (1795-1864) Chemiker und Gustav (1798-1873)
Mineraloge, die beiden letzten Professoren an der Universität Berlin.
8 Siehe Anm. 5, S. 67.
9 Vorhanden im Bestand GFN der Handschriftensammlung des Museums für Naturkunde der
Humboldt-Universität Berlin.
10 Klaproth, M. H.: Über die möglichst vollständigste Benutzung der Brennmaterialien bei Heizung
der Öfen. In: Allgem. Journal der Chemie, Hrsg. A. N. Scherer, Bd. 9, 1802, S. 227-284.
11 Über die Philomathische Gesellschaft in Berlin erschien eine Nachricht in der Neuen Berlinischen
Monatsschrift, Hrsg. J. E. Biester, Jg. 11, 1804, S. 231-235.
12 Anonym: Geschichtliche Darstellung der Hufelandischen Gesellschaft zu Berlin. Berlin, 1833.
13 Harndt, E.: Das Wirken der Gesellschaft für Natur- und Heilkunde im 19. Jahrhundert. Festvortrag auf dem 164. Stiftungsfest am 3. Februar 1974.
14 A. v. Humboldt hatte dafür drastische Worte, als er die Akademie mit einem „Siechenhaus" verglich, „in dem die Kranken besser schlafen als die Gesunden".
15 Siehe Anm. 5, S. 41.
16 Siehe Anm. 5, S. 105-108 und Tafeln I, X-XXHI.
17 Hofmann, A. W.: Chemische Erinnerungen aus der Berliner Vergangenheit. Berlin, 1882,
S. 23-26.
18 Siehe Anm. 17, S. 25.
19 Hoppe, G., Damaschun, F., und Wappler, G.: Eine Würdigung Martin Heinrich Klaproths als
Mineralchemiker. Pharmazie, Jg. 42, 1987, S. 266—267.
20 Kleri, U. (Pseudonym für Ulrike Laar): Berliner Friedhöfe. Berlin, 1869, S. 22.
21 Gestiftet wurde das Grabkreuz von den Kindern Klaproths. Der Entwurf wird nach E. Schmidt
(Der preußische Eisenkunstguß. Berlin, 1981, S. 142) K. F. Schinkel zugeschrieben, soll aber,
einer Notiz bei S. Einholz (In: Der Bär von Berlin. Bd. 38/39,1989/90, S. 121) zufolge auf J. G.
Schadow zurückgehen.
Bemerkungen zu den Abbildungen
Titelbild: Das Ölgemälde befindet sich (seit 1934) im Besitz des Deutschen Museums in München;
Foto und freundliche Erlaubnis zur Reproduktion von diesem Museum. Einer der Vorbesitzer des
unsignierten Gemäldes hatte es dem Berliner Maler K. F. J. H. Schumann (1767—1837) zugeschrieben, was aber nicht gesichert ist, siehe Anm. 5, S. 106. — Klaproth ist auf dem Gemälde mit dem
Roten-Adler-Orden, 3. Klasse, geschmückt, der ihm am 18. Januar 1811 verliehen wurde. Der
Namenszug „Martin Heinrich Klaproth, Ober-Medicinalrath und Professor ord." ist eine Reproduktion der Unterschrift des Testamentes Klaproths vom 26. Februar 1813, deponiert im Staatsarchiv
Potsdam.
196
Zu 1: Abb. aus Schmidt, E.: Der preußische Eisenkunstguß. Berlin, 1981, S. 143 (nach „Magazin der
Abbildungen von Gußwaaren der Kgl. Eisengießerei", Heft 3,1819). Das Grabkreuz ist auch auf der
Neujahrsplakette der Königl. Eisengießerei zu Berlin von 1818 abgebildet.
Zu 2: Nach einer Zeichnung in der Akte der Straßenbau-Polizei-Verwaltung zu Berlin, betr. Communication vom Oranienburger bis zum Neuen Thor, 1866 bis 1904, Blatt 45, deponiert im Landesarchiv
Berlin, Rep. 10-02, Nr. 6764.
Anschrift des Verfassers:
Professor Dr. Günter Hoppe
Wilhelm-Wolff-Straße 65
13156 Berlin
Einige Dokumente aus der Frühgeschichte
des Zoologischen Gartens
Von Harro Strehlow
Die der Eröffnung des Zoologischen Gartens bei Berlin am 1. August 1844 vorausgehenden
Jahre sind bisher nur wenig bekannt. Schon Beringuier (1877) verweist darauf, daß Akten aus
dieser für die Entstehung des Zoologischen Gartens wichtigen Zeit verschwunden seien.
So geben die wichtigen Veröffentlichungen zur Geschichte des Zoologischen Gartens
(Beringuier 1877; Heilborn 1929; Klös 1969) nur einen kleinen Einblick in die vielschichtigen
Probleme und den Ablauf der Ereignisse zwischen dem Wunsch Lichtensteins, einen Zoologischen Garten zu errichten, und seiner Eröffnung. Vor allem die Übergabe des Fasaneriegeländes mit den darauf stehenden Gebäuden und die genauere Beschreibung dieser Bauten wies
wegen unzureichender Quellen noch Lücken auf (Klös u. a. 1990). Den genauesten chronologischen Überblick über diese Zeit hat bisher Schlawe 1963 gegeben.
Der Einblick in einige noch vorhandene Akten im Landesarchiv ermöglicht es, wenigstens
einige Punkte genauer darzustellen. Nachdem König Friedrich Wilhelm IV. am 31. Januar
1841 seine Zustimmung zur Bildung einer Kommission zur Errichtung des Zoologischen Gartens, der die Herren Lichtenstein, Lenne, von Ladenberg und von Humboldt angehören sollten, gegeben hatte und diese seit dem 11. Mai 1841 die Bedingungen und Planungen für den
Zoologischen Garten erarbeitete, erließ der König auf ihren Rat hin am 8. September 1841 die
zweite Kabinettsorder über den Zoologischen Garten. In dieser bei Beringuier (1877) und
Klös (1969) zitierten Kabinettsorder werden die Grenzen des Zoos, ein Darlehen von 15 000
Talern und die Schenkung von Bauten und Tieren von der Pfaueninsel festgelegt.
Ein Problem, das sich heute aus diesem Dokument ergibt, ist das Fehlen des vom König zitierten Planes. In der Order heißt es:
„1. in dem auf dem zurückgehenden Plan mit A bis H näher bezeichneten Teile der Fasanerie
ein Zoologischer Garten . . . angelegt werde."
Dieser bisher noch nicht aufgefundene Plan bildet eine von Passow 1838 gefertigte Karte der
Fasanerie, in die dann 1841 die Grenzen des zukünftigen Zoologischen Gartens eingetragen
wurden. Es handelt sich dabei nicht um den Plan, den Seiler (1979) mit Einzeichnungen Lennes veröffentlicht hat.
197
Bei den folgenden beiden Dokumenten handelt es sich scheinbar um eine Nebensächlichkeit:
Die Umzäunung der Fasanerie und des Zoologischen Gartens. Da der Vorgang aber ein Licht
auf die Umstände und Schwierigkeiten wirft, die bei der Schaffung des Zoologischen Gartens
die Gründer und die Ministerien beschäftigten, seien sie hier ausführlich zitiert:
„An
den Königlichen Geheimen
Regierungs-Rath
Herrn von Massow
Hochwohlgeboren
Hier
Mittels Allerhöchster Cabinets-Order vom 8ten September v. Js. haben des Königs Majestät zu
genehmigen geruht, daß in einem Theile der jetzigen Fasanerie hierselbst ein zoologischer Garten angelegt und der zu dem Ende zusammentretenden Privatgesellschaft, außer anderen Vergünstigungen, auch der zur Einfriedung des Gartens erforderliche Plankenzaun auf die Dauer
des Bestehens dieser Anstalt überwiesen werden soll.
Die bisher bestehende Fasanerie soll nach Potsdam verlegt und zur Einfriedung derselben
sollte, nach der früher ergangenen Bestimmung, derjenige Theil des die hiesige Fasanerie einschließenden Plankenzaunes mit benutzt werden, welcher noch übrig bleiben würde.
Zum Zweck der möglichst baldigen Beschaffung der zur neuen Fasanerie bei Potsdam dringend nothwendigen Einfriedung hat das Königliche Hofjagdamt den Wunsch geäußert, nicht
bloß den nach Einfriedung des Zoologischen Gartens noch disponibel bleibenden Theil des
hiesigen Plankenzaunes von ungefähr 2400 Fuß, sondern auch den übrigen Theil dieses Zaunes, welcher die dem Zoologischen Garten abgeschlossen bleibenden Partien der hiesigen
Fasanerie mit umgibt und nach der früheren allerhöchsten Bestimmung zum Verschluß des
Zoologischen Gartens auf der nördlichen Seite reserviert bleiben und dem sich zu bildenden
Vereine überwiesen werden sollte, von ungefähr gleicher Länge, zur Einzäunung der neuen
Potsdamer Fasanerie verwenden zu dürfen, wogegen dann dem Zoologischen Garten-Vereine
im laufenden Jahre, sobald die Zwecke desselben solches erfordern, eine andere Umzäunung
überwiesen werden könne.
Auf meine Bevorwortung haben des Königs Majestät mittels Allerhöchster Cabinets-Order
vom ll10" v. Mts. die Verwendung dieser ganzen Zaunstrecke von ca. 4800 Fuß zur Befriedung
der neuen Potsdamer Fasanerie zu genehmigen geruhet, und es wird nun mehr alsbald mit dem
Abbruch der ganzen Zaunstrecke, welche sich vom unteren Eingangsthore der hiesigen Fasanerie, in der Nähe der Fasanerie-Allee, nach dem Landwehrgraben, und von dort bis nach dem
oberen Ausgangsthore der nach Charlottenburg führenden großen Lindenallee hinzieht, vorgegangen werden. Zum Zweck der demnächsten Beschaffung der zum Verschluß des zoologischen Gartens erforderlichen Zaunstrecke veranlasse ich Euer Hochwohlgeboren, diesen
neuen Zaun, welcher sich in gerader Linie von dem einen nach dem anderen Thore ziehen wird,
nach dem Muster der alten Planken und Zäune veranschlagen zu lassen und diesen Anschlag
baldigst einzureichen. Da durch den Abbruch des Zaunes das hiesige Fasanerie-Terrain dem
Zutritt des Publikums geöffnet wird, so habe ich das Königliche Hof-Jagd-Amt ersucht, die
dadurch notwendig werdende Bewachung der Holzbestände einstweilig bewirken zu lassen. —
Durch die dem hiesigen Fasanerie-Terrain gegebene anderweitige Bestimmung fällt der auf der
Südseite der von dem einen nach dem anderen Thore sich hinziehenden Linie belegene Theil
dem Zoologischen Garten-Vereine, der nördliche, nach dem Landwehrgraben zu belegene
Theil dagegen der Thiergartenverwaltung anheim. Es wird dieser letzte Theil dem Thiergarten
198
einverleibt, weshalb Euer Hochwohlgeboren die Aufsicht und Verwaltung in gleicher Weise
wie über den übrigen Thiergarten zu übernehmen und mit dem dazu vorhandenen Personale zu
bewachen hat.
Berlin, den 5,en Januar 1852
Unterschrift"
Nachdem der nördliche Teil des Zaunes noch im Januar abgerissen worden war, wurde von
Massow beauftragt, für die Neuerrichtung des Zaunes an der Zoogrenze einen Kostenvoranschlag anfertigen zu lassen. Dieser Aufforderung folgt er am 21. Januar und übergibt den Auftrag für den Kostenvoranschlag an H. Kramer, der ohne Datumsnennung schreibt: „Ew. Hochwohlgeboren verehrliche Verfügung vom 8Kn und 21ten d. M. zufolge habe ich mich, nach vorheriger Rücksprache mit dem Gartendirector Herrn Lenne, der nebenbemerkten Kostenveranschlagung unterzogen, und überreiche bei Rückgabe des hierzu mir hochgeneigt mitgetheilten Situations-Plans von dem anzulegenden Zoologischen Garten, den betreffenden, von mir
angefertigten, die Summe von 2498 RThl. 19 SGr. 6 Pfg. betragenden Kosten-Anschlag, mit
dem Bemerken, daß ich zur Stelle von der örtlichen Lage, sowohl der bestehenden noch fernerhin beizubehaltenden, als auch der neu aufzustellenden Umzäunung, mit Benutzung des vorerwähnten Situationsplans, von dem ich die verlangte Copie gehorsam überreiche, genaue
Kenntnis genommen und ermittelt habe, daß die fernerhin beizubehaltende in vollständig
gutem Zustand sich befindende Umzäunung, in den Begrenzungen BCDEFG aufgestellt ist,
und die neue Umzäunung in die Begrenzungen GHAB noch aufzustellen sein würde.
H. Kramer"
Obwohl der Vorgang um die Umzäunung geregelt ist, kann mit dem Bau des Zoologischen
Gartens trotz der Königlichen Order und trotz des erfolgten Umzugs der Fasanerie immer noch
nicht begonnen werden. Das Komitee mahnt deshalb am 7. März 1842 den Regierungsrath von
Massow:
„Euer Hochwohlgeboren
haben die Unterzeichneten hiedurch ergebenst zu benachrichtigen, wie sie von des Herrn
Staats-Ministers Eichhorn Excellenz beauftragt worden, die Ausführung der von Sr. Majestät
befohlenen Anlage eines Zoologischen Gartens in gemeinsamer Berathung zu machen, und
die geeigneten Schritte zur Besitznahme des Allerhöchsten Orts dazu theilweise bewilligten
Terrains der bisherigen Fasanerie zu thun. In Folge dieses Auftrages erlauben sie sich, Ew.
Hochwohlgeboren als Chef der Thiergartenverwaltung um die erforderliche Einleitung einer
förmlichen Übergabe des fraglichen Terrains zu ersuchen und erklären, daß sie den hier mitunterzeichneten Gartendirektor Lenne beauftragt haben, in ihrem Namen nicht nur die erforderlichen auf die Ueberweisung allerhöchsten Befehle zu producieren, sondern auch den Uebergabe Act commissarisch zu vollziehen.
Berlin am 7ten März 1842
Kortüm Crede Lenne Lichtenstein
Doch es vergehen noch mehr als zwei Monate, bis in die Angelegenheit Bewegung kommt:
199
„An den Königlichen Geheimen RegierungsRath u. Ritter
Baron von Massow
Hochwohlgeboren
Berlin
Er. Hochwohlgeboren sehr geneigte Zuschrift vom 16./18. c. gemäß werde ich mich zur Übernahme des von der ehemaligen Fasanerie zum zoologischen Garten bestimmten Theiles derselben, Sonnabend den 21. d. Mts. vormittags 10 Uhr an (unleserlich) Stelle einfinden.
Sanssouci, d. 19. Mai 1842
Lenne"
Die Übergabe des Fasaneriegeländes fand wie geplant statt. Das Protokoll enthält nur die
Übergabe des gesamten Geländes an die Tiergartenverwaltung. Dort heißt es:
„Verhandelt in Gegenwart des Geheimen Regierungs Raths von Massow und des Herrn Garten Directors Lenne am 21sten May 1842 in der ehemaligen Fasanerie.
Zufolge der Verfügung des Herrn Geheimen Staats Ministers von Ladenberg Excellenz vom
7ten v. Mts., soll das Terrain der am hiesigen Thiergarten belegenen Fasanerie, mit allen darauf
stehenden Gebäuden und mit dem noch stehen gebliebenen Theile des Zauns, welcher das
Fasanerie-Terrain umschloß, von Seiten des Herrn Ober Jäger Meisters, Fürst Carolath Beuthen Durchlaucht an den Herrn Geheimen Regierungs Rath von Massow übergeben werden...
Das Terrain, welches Gegenstand der heutigen Uebergabe resp. Uebernahme sein soll, ist auf
der Passowschen Karte von der Königl. Fasanerie bei Berlin de 1838 genau verzeichnet und
umfaßt:
a) denjenigen Theil welcher schon vor dem Jahre 1832 zur Fasanerie gehörte
b) denjenigen Theil des Thiergartens auf linkem Landwehr-Graben-Ufer welcher im Jahre
1832 zur Erweiterung der Fasanerie an das Königl. Hof-Jagd-Amt übergeben wurde.
Oertlich ist dies Terrain theilweise durch einen noch vorhandenen Bretterzaun und anderen
Theils durch die Spuren des daselbst gestandenen und in diesem Frühjahre abgebrochenen
Zaunes bezeichnet, so daß es einer genauen Beschreibung der Grenzen nicht bedarf; nur im allgemeinen wird bemerkt, daß das Fasanerie Terrain rundum von einem breiten Weg umgeben
ist, welcher an der Schlagbaum-Brücke bei der Fasanerie auf dem linken Landwehr-GrabenUfer beginnt, sich längs der zum Albrechtshof gehörenden Äcker und Wiesen Stücke von
Osten nach Süden fortzieht, gegen Mittag längs des Kittmarschen Grundpunkts bis gegen die
Lützow und Wilmersdorfer Ackerseiten, an der westlichen Seite der Fasanerie fortgeht,
sodann an der westlichen Seite die neu erworbenen Ländereien auf Charlottenburger Feldmark links liegen läßt und sodann auf der östlichen Seite längs des Landwehr-Grabens bis zu
der erwähnten Schlagbaums Brücke fortführend, mit dem Anfangspunkte daselbst sich wieder
vereinigt.
Das Terrain mit den darauf stehenden in der Anlage näher bezeichneten Gebäuden, dem an
der Süd und West Seite noch stehenden Zaune, ingleichen sämmtlichen Bäumen und Sträuchern pp übergeben . . .
Hiermit ist diese Verhandlung geschlossen und unterschrieben
gez. Schröder Schinkel Hesse Krack
gez. Krack"
Aus der Anlage ist ersichtlich, daß auf dem Gelände sieben Gebäude stehen. Dazu kommen
noch vier Brunnen und die noch bestehenden Zäune. Interessant sind die Angaben über die
200
Bauten, die später als Bestandteil des Zoologischen Gartens z. T. noch lange eine Aufgabe
erfüllen und deren Abmessungen und Einrichtungen bisher noch nicht bekannt waren:
„I. Das Wohnhaus des Fasanen-Meisters (im Zoo als Inspectionshaus bezeichnet) ist 52'
lang 35 V2 Fuß tief, 2 Stockwerke hoch, massiv gebaut und hat ein flaches zweiseitiges Zinkdach mit zwei Walmen. Es hat sowohl einen Eingang von der Straße als auch von dem Hofe
mit Sandstein-Stufen.
In der unteren Etage ist befindlich nach der Straße: ein Hur, zwei Stuben; nach dem Hofe:
ein Treppenflur, eine Stube, eine Küche, eine Kammer;
in der oberen Etage nach der Straße: ein Saal, eine Stube; nach dem Hofe: ein Treppenflur, zwei Stuben, eine Küche.
II. Das Stallgebäude (im Zoo später als Winterhaus bezeichnet, d. Verf.) ist 39'9" lang und
32' tief, eine Etage hoch von Fachwerk und hat ein zweiseitiges Dach doppelt, mit Ziegeln
eingedeckt. Es enthält einen Kuhstall, einen Pferdestall mit Futterkammer, eine Gesindestube, einen Entenstall, einen Hundestall.
III. Der Holzstall mit Remisengebäude (im Zoo als Büffelhaus bezeichnet, d. Verf.)
36' lang 36' breit von Holz und Fachwerk mit einseitigem geraden Dach und Spließdach
mit Ziegeln eingedeckt. Es enthält eine Wagenremise, einen Holzstall.
IX. An Zäunen noch vorhanden von der Charlottenburger Allee bis zur Ecke des Lützower
Salons . . . zusammen 364° 8'. Zaun 8 Fuß hoch mit Deckbrettern."
Während das Büffelhaus nur bis 1857 seinen Dienst tat, nutzte der Zoo das Winterhaus noch
bis 1884/85 und das Inspectionshaus, das frühere Wohnhaus, noch bis 1898. Büffelhaus und
Inspectionshaus sind schon auf der Karte der Fasanerie von 1795 eingezeichnet (Klös u. a.
1990), während das Winterhaus erst auf der Karte von 1833 zu finden ist.
Zusammenfassung:
Einige Akten des Landesarchivs geben Aufschluß über Aspekte der Vorgeschichte der Eröffnung des Zoologischen Gartens am 1. August 1844. Die Übergabe des Fasaneriegeländes mit
dem Bauzaun und einige der später im Zoo noch genutzten Bauten werden somit dokumentiert.
Literatur:
Beringuier, R., 1877: Zur Geschichte der Fasanerie (des jetzigen Zoologischen Gartens) bei Berlin.
Der Bär 3, 105-109, 117-120
Heilborn, A., 1929: Zoo Berlin 1841—1929. Actienverlag des zoologischen Gartens zu Berlin
Klös, H.-G., 1969: Von der Menagerie zum Tierparadies. Haude & Spener. Berlin
Klös, H.-G.; U. Klös; H. Strehlow; W. Synakiewicz, 1990: Der Berliner Zoo im Spiegel seiner Bauten
1841-1990. Heenemann. Berlin
Schlawe, L., 1963: Unbekannter Zoologischer Garten bei Berlin. 1844-1869, AGT 1
Seiler, M., 1979: Peter Joseph Lennes erster Entwurf für den Berliner Zoo — ein nicht realisiertes Projekt, eine „Pfaueninsel" vor die Tore der Stadt zu holen. Bongo 3, 63—74
Anschrift des Verfassers:
Dr. Harro Strehlow
Meierotterstraße 5
10719 Berlin
201
Überlegungen zu einer Entwurfszeichnung
von Karl Friedrich Schinkel für den mittleren Erdgeschoßsalon
des Casinos in Glienicke
Von Harry Nehls M.A.
Für Herrn Alfred Gobert.
Karl Friedrich Schinkels (1781—1841) früheste Schöpfung im Schloßpark von Glienicke ist das
Casino am Ufer des lagunenartigen Jungfernsees. Die künsterisch wertvollste Innenraumausgestaltung dieser italienisierenden Architektur erhielt der Mittelsalon im Erdgeschoß, für den
der geniale Schinkel mehrere Entwurfszeichnungen geliefert hat. Die hier wiedergegebene
Zeichnung (Abb. 1) für die östliche Wanddekoration entstammt dem Schinkelwerk „Sammlung architektonischer Entwürfe" (Berlin 1840).! Vor den marmorierten Wandfeldern sind
deutlich zwei weibliche Statuen mit Theatermasken auf hohen Sockeln zu erkennen, die als
Pendants konzipiert waren. Die charakteristische Haltung, d. h. das auf einen Felsen aufgestützte rechte bzw. linke Bein (vgl. Abb. 3), erweist den Statuentypus als Bild der tragischen
Muse bzw. der Melpomene.
Im besagten Mittelsalon des Casinos befanden sich zu Lebzeiten des Prinzen Carl von Preußen
(1801—1883) zahlreiche Antiken, darunter auch die sogenannte Muse Vescovali.2 Hauptsächlich durch die Vermittlung des in Rom lebenden Bildhauers Emil Wolff (1802—1879) konnte
sie Prinz Carl aus der Sammlung des Antikenhändlers Luigi Vescovali, daher die Bezeichnung
„Muse Vescovali", für seine eigene Glienicker Antikensammlung erwerben. Mehrere Notizen
des Schinkel-Forschers Johannes Sievers (1880—1969)3, die im Geheimen Staatsarchiv in Berlin-Dahlem aufbewahrt werden, bezeugen, daß Friedrich Wilhelm IV. seinen jüngeren Bruder
Carl bei diesem Antikenankauf unterstützte: „Einer gnädigen Antwort wegen der Melpomene
entgegensehend, verbleibe ich bis in den Tod Dein treuer Bruder Carl." Nicht erhalten ist leider
ein Brief des preußischen Gesandten von Buch in Rom vom 13. Dezember 1844 an den Kabinettsekretär Sasse, „wonach er (v. Buch) im Auftrag des Königs das Antiquitätenlager Vescovalis angesehen und in Übereinstimmung mit dem Bildhauer Wolff 4 Statuen für den von Seiner Majestät beabsichtigten Zweck empfähle: Omphale 200, Apollo 400, Melpomene 250
(und einen) kleinen Herkules (für) 50 Scudi". Anfang Januar 1845 erhielt dann der Architekt
Ludwig Persius (1803—1845), Schinkels engster Mitarbeiter in Glienicke, vom König den Auftrag, „Vescovali in Rom zu besuchen, der seine Kunstsammlungen a tout pris verkaufen will" .4
Am 22. Mai 1845 war der Kauf perfekt, und bereits ein Jahr später, am 7. Januar 1846, meldete
der Geheime Kabinett- und Rechnungsrat C. C. Müller (1773—1849) dem Hofmarschall G.
W. L. von Meyerinck (1789—1860), „er habe heute Prinz Carl geschrieben, die Melpomene
läge in der Kiste auf dem Potsdamer Bahnhofe für ihn bereit". Im Mai desselben Jahres fand die
kostbare Marmorstatue aus hadrianisch-antoninischer Zeit ihre endgültige Aufstellung im
Mittelsalon des Glienicker Casinos, vermutlich derart, wie Karl Friedrich Schinkel es durch
seine Zeichnung vorgegeben hatte.
Eine frühere Entwurfszeichnung Schinkels aus dem Jahre 18255 zeigt eine andere Figurenkonstellation: links den sogenannten Adoranten oder Betenden Knaben, rechts eine Kannephore,
d. h. Krugträgerin. Bis heute ist der genaue Standort der 1826 in Glienicke aufgestellten Bronzekopie des Betenden Knaben6 nicht gesichert. Mit der Aufstellung der 1846 erworbenen
Muse Vescovali im mittleren Erdgeschoßsalon des Glienicker Casinos ist Schinkels Entwurfszeichnung in die Tat umgesetzt worden. Liegt nicht von daher die Vermutung nahe, daß auch
der Betende Knabe dort einstmals stand?
202
Abb. 1: Entwurfszeichnung
von K. F. Schinkel.
Anmerkungen
1 Vgl. J. Julier, Parkgebäude nach Entwürfen Schinkels. In: Ausstellungskat. Schloß Glienicke. Berlin 1987, S. 33ff. besonders S. 34 mit Abb. 14, Kat. Nr. 78.
2 Vgl. H. Nehls, Italien in der Mark. Zur Geschichte der Glienicker Antikensammlung. Berlin 1987,
S. 10, 15 und 60 mit Abb. 12.
3 Vgl. H. Nehls, In memoriam Professor Dr. Johannes Sievers 1880—1969. In: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins 4 (1990), S. 331«.
4 Vgl. Nehls a. O. (wie Anm. 2), S. 37 Anm. 67.
5 Abgebildet in: Schloß Glienicke (wie Anm. 1), S. 243 Abb. 145.
203
6 Dazu ausführlicher: H. Nehls, Glienicker Nachlese. Die Bronzekopie des sogenannten Betenden
Knaben oder „Adoranten" vor dem Glienicker Casino. In: Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte 40 (1989), S. 140ff. Der Betende Knabe von Glienicke könnte genausogut zunächst
(November 1826) im Casino gestanden haben und erst späterhin (um 1870?) in den sogenannten
Pompejanischen Garten vor dem Casino verbracht worden sein.
Abbildungsnachweis
1 Foto des Verfassers
Anschrift des Verfassers:
Harry Nehls M.A.
Schloßstraße 2 H
14059 Berlin
„beglaubigt: Schummel"
Von Manfred Stürzbecher
Viele Schreiben des Polizeipräsidenten und später des Landesgesundheitsamtes Berlin, die sich
auf das Apothekenwesen bezogen, trugen diese Schlußformel. Bei der Suche nach den Personaldaten von Dr. med. Otto Kracht, als Arzt approbiert 1902, Regierungs- und Medizinalrat
beim Polizeipräsidenten und später Dezernent im Landesgesundheitsamt für das Apothekenund Arzneimittelwesen, stieß ich auf Unterlagen, aus denen Angaben über den beruflichen
Lebensweg des Hauptsachbearbeiters für Apotheken, Arzneimittel, Drogerien und Gifthandel hervorgehen. Schummel war mehr als zwei Jahrzehnte die „Drehscheibe", über die die
bürokratische Abwicklung der Vorgänge aus dem Apothekenwesen, ob Apothekenkonzessionen oder Ergebnisse der Apothekenrevisionen, pharmazeutisches Vorexamen — zeitweise
auch die Approbation für Apotheker — liefen. Weniger die Person als seine Funktion als Verwaltungsbeamter für das Apothekenwesen ist den älteren Apothekern aus Berlin noch in Erinnerung. Es erscheint daher nicht uninteressant, den beruflichen Lebensweg dieses mit der
Pharmazie in Berlin in enger Verbindung stehenden Verwaltungsbeamten aufzuzeigen.
Walter Ernst Schummel wurde am 24. Mai 1886 als Sohn eines Prinzlichen Domänenrates in
Flatow/Westpreußen geboren. Er besuchte das Gymnasium seiner Vaterstadt bis zur Obersekundareife und begann 1905 mit dem Vorbereitungsdienst zur gehobenen Verwaltungslaufbahn, zunächst beim Landratsamt in Flatow, dann beim Regierungspräsidenten in Marienwerder. Seit 28. Oktober 1907 Regierungssupernumerar, legte er 1910 in Danzig „die Staatsprüfung" ab. Am 1. Oktober 1912 wurde er Hofkammersupernumerar bei der Königlichen Hofkammer in Berlin-Charlottenburg. 1913 heiratete er Betty Fahrenkamp aus Kowall, Kreis
Grimmen (geb. 19. Mai 1888). Aus der Ehe ging die Tochter Elisabeth (geb. 5. Februar 1920)
hervor, die 1946 als gelernte Putzmacherin tätig war. Wehrdienst scheint Schummel weder im
Frieden noch im Krieg geleistet zu haben, so daß angenommen werden muß, daß er aus
gesundheitlichen Gründen wehruntauglich war.
204
Am 1. Januar 1915 wurde er zum Hofkammersekretär ernannt. Im Jahre 1918, das genaue
Datum ist leider nicht überliefert, wechselte er als Polizeisekretär ins Polizeipräsidium. Ob dieser Wechsel mit dem Untergang der Monarchie nach der Abdankung des Kaisers am
9. November 1918 im direkten Zusammenhang stand, läßt sich nicht sagen. Wahrscheinlich hat
der Laufbahnwechsel persönliche Gründe, denn die Hofkammerverwaltung mußte abgewikkelt werden, und dies geschah sicher nicht innerhalb weniger Wochen.
Seit 1913 war Schummel Freimaurer, offensichtlich ein sehr engagierter, denn bis 1926
erreichte er den 7. Grad, wie es in einer Notiz aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg heißt.
1923 wurde er zum Polizeiinspektor befördert. In dieser Zeit scheint er schon das Sachgebiet
des Apothekenwesens beim Medizinaldezernenten im Polizeipräsidium bearbeitet zu haben.
Wie später berichtet wurde, war sein Engagement als Freimaurer wenigstens seit 1933 seiner
Beamtenkarriere nicht förderlich. Weitere Beförderungen blieben aus. 1944 erhält er die Funktion eines „Teilvorstehers".
Seit seinem Zuzug in den Berliner Raum war er auch ehrenamtlich in der kommunalen Verwaltung tätig, nach der Bildung der Einheitsgemeinde Berlin 1920 in der „Unterbürgermeisterei
Schmargendorf" (Personalabteilung) bis zum Zusammenbruch 1945.
Der konservative Beamte paßte offensichtlich nicht in das Weltbild der Nationalsozialisten,
andererseits behielt er seine amtliche Funktion und sein Ehrenamt. Pflichtgetreu hat er seinen
Dienst im Polizeipräsidium bis zu den Kampfhandlungen im April 1945 erfüllt, und bereits
Ende Mai 1945 beteiligt er sich, nach Verlagerung der Medizinalaufsicht, zu der das Apothekenwesen gehörte, vom Polizeipräsidenten auf den Magistrat (Landesgesundheitsamt), am
Aufbau des Amtes im Gebäude der ehemaligen preußischen Bau- und Finanzdirektion in der
Invalidenstraße 52 an der Sandkrugbrücke. Den täglichen Weg von Schmargendorf zum Lehrter Bahnhof legte er offensichtlich, bis die öffentlichen Verkehrsmittel wieder funktionierten,
mit dem Fahrrad zurück, wie aus den Akten zu erkennen ist.
Vom 6. August 1946 ist eine Notiz erhalten, aus der hervorgeht, daß er Hauptsachbearbeiter im
Dezernat Heilmittel und Gifte mit der Zuständigkeit „Apothekenwesen, Konzessionen und
Verpachtungen, Drogerien, Gifthandel" war. Im März 1947 wird er u. a. wie folgt beurteilt:
„Allgemeine Angelegenheiten des Dezernats, Verkehr mit Arznei- und Heilmitteln, Rauschgifte, Apothekenbetriebsordnung, Apothekervorprüfung, Neueinrichtung, Verlegung, Verpachtung, Übertragung und Konzessionsverfahren von Apotheken, Pharmazeutische Bevollmächtigte. Herr Schummel ist der Erledigung dieser Aufgaben stets in bester Weise gewachsen,
da er langjährige Erfahrungen auf diesem Gebiet besitzt. Fleiss und Führung sind einwandfrei.
Es empfiehlt sich nicht, Herrn Schummel aus diesem Arbeitsgebiet herauszunehmen, um ihn
anderweitig zu beschäftigen."
Die Befähigung und Eignung für den Verwaltungsdienst wird ihm in dieser vom Stadtrat Dr.
Dr. Harms, dem Hauptdienststellen-Leiter und dem Betriebsrat unterschriebenen Dienstleistungsbericht bescheinigt. Der Entwurf zu diesem Bericht war unter dem 15. Februar 1947 von
seinem Dezernenten Dr. Otto Kracht gefertigt worden. Er hatte geschrieben: „Herr Schummel
war und ist der Erledigung dieser Aufgaben stets in bester Weise gewachsen, wie ich in langjähriger Zusammenarbeit mit ihm bezeugen kann." Er fügt dann hinzu: „Er wird aber bestens zu
einer Beförderung in eine höhere Gehaltsgruppe (Gruppe III) empfohlen. Herr Schummel
wurde im Polizeipräsidium trotz seiner guten Arbeit nicht mehr befördert, nachdem er 1935
hatte melden müssen, daß er Mitglied einer Freimaurerloge war."
Die Empfehlung der Eingruppierung in die Gruppe III der Tarifordnung für Angestellte wurde
nicht berücksichtigt. Seine Bruttogesamtvergütung betrug zu diesem Zeitpunkt 509,53 RM.
Im Spätsommer 1949 erkrankte Schummel an einer Lungenentzündung und wurde für einige
205
Zeit dienstunfähig. Der behandelnde Arzt beantragte Krankenernährung mit der Lebensmittelkarte II und stellte fest, daß er nur noch halbtags Büroarbeit leisten könne. Trotz Brochiektasen konnte er bald wieder seinen vollen Dienst aufnehmen. Im Sommer 1950 machten eine
Netzhautablösung und der graue Star eine Operation im Gertraudenkrankenhaus notwendig.
Das Bruttogehalt betrug damals 528,87 DM. Am 31. Mai 1951 wurde er durch den leitenden
Fachbeamten Lic. Dr. Dr. Piechowski aus dem Dienst verabschiedet. Im Alter von 69 Jahren ist
er nach langem Leiden am 25. Januar 1956 in Berlin verstorben.
Anschrift des Verfassers:
Dr. Dr. Manfred Stürzbecher
Buggestraße 10 b
Berlin
Anmerkung der Redaktion
Zu dem Aufsatz über den Situationsplan von Chr. Fr. Schmidt von 1643 von Frau Erika
Schachinger in Heft 2, 1993, S. 12 ff. nimmt Herr Professor Dr. Goerd Peschken zum BärenZwinger Stellung:
Die Situation ist klar durch den Bärenplatz und -kästen. Ein Hofjägermeister mochte sich zum
Vergnügen Bären halten. Aber dieser Bärenplatz und -kästen ist schon da, ehe Hertefeld Haus
und Grundstück bekommt. Die Bären sind also kurfürstlich. So eine Anlage schaffte man vor
allem an, wo etwas stark gesichert werden sollte. Denn Bären sind viel gefährlicher als Hunde.
Also handelt es sich um einen Zwinger. Man sieht auf dem Plan den Weg über die Hundebrücke schräg durch den Zwinger laufen. Tags waren die Bären in ihrem Kasten, nachts liefen
sie frei auf dem Bärenplatz, und niemand konnte passieren.
Der Bärenzwinger sicherte den Zugang zum Schloß von der Landseite vor Gesindel usw., auf
der Stadtseite wurden die Stadttore nachts verschlossen, da war so eine Sicherung weniger
nötig.
Hierzu erklärt Frau Erika Schachinger, daß sich die aufgeworfene Frage bisher nicht lösen ließ.
Die Haltung von Bären als Kuriosität, ihre Verwendung bei der Jagd und als Wildbret auf der
kurfürstlichen Tafel — galten doch Kopf und Tatzen als besondere Leckerbissen — sind weitere
Deutungsmöglichkeiten für den Bären-Zwinger auf dem Plan von C. F. Schmidt aus dem Jahr
1643.
206
Aus dem Mitgliederkreis
Georg Holmsten achtzig Jahre
In ungebrochener geistiger und körperlicher Frische vollendete Georg Holmsten am 4. August sein
80. Lebensjahr.
Wir kennen ihn von unseren Veranstaltungen, den bescheidenen, zurückhaltenden Balten, der im
Alter von neun Jahren 1922 mit seinen Eltern nach Berlin gekommen war und hiergeblieben ist. Seine
mehr als dreißig veröffentlichten Bücher weisen ihn als erfolgreichen Schriftsteller aus, auch wenn er
sich selbst nur als „kleinen Sachbuchautor" bezeichnen möchte. Doch diese sich wenig geltend
machende Selbsteinschätzung straft seine spritzig-flüssige Feder Lügen. Erinnert sei nur an seine
„Berliner Miniaturen", die 1946 erschienen waren und eine Auflage von mehr als hunderttausend
Exemplaren erreichten.
Das Studium der Geschichte und Literatur an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin brach er
nach der „Machtübernahme" durch die Nationalsozialisten aus politischen Gründen ab und wurde
Journalist. Bei Kriegsausbruch Redakteur und Chef vom Dienst in der Auslandsredaktion des Deutschen Nachrichtenbüros, rief ihn nach der Einberufung Admiral Canaris Anfang 1943 in das Amt
Ausland-Abwehr des OKW. Hier kam er mit den Offizieren der Opposition gegen Hitler in Berührung und sollte bei Gelingen des Staatsstreiches das Deutsche Nachrichtenbüro übernehmen. Er
gehört zu den wenigen des Widerstandskreises, die den 20. Juli 1944 im Bendlerblock überlebten,
weil ihm Freunde sofort ein Frontkommando ohne Rückmeldung verschafft hatten und ihn die
„Gestapo" deshalb aus den Augen verlor.
Seine Erlebnisse bei den Abwehrkämpfen auf den Seelower Höhen und um Berlin schlugen sich nach
dem Krieg in seinen Büchern „Der Brückenkopf" und „Endstation Berlin" nieder. In den fünziger
Jahren veröffentlichte er zehn historisch-biographische Romane, die eine Gesamtauflage von mehr
als einer Million Exemplaren ergaben. Besonders hervorgehoben seien seine Rowohlt-Monographien über bedeutende Preußen und Franzosen, denen in den siebziger Jahren zeitgeschichtliche
Themen und die Schilderung Berlins und des Umlandes folgten. In diesen Bereich gehören auch die
Baedeker-Führer durch die Bezirke Charlottenburg, Kreuzberg, Steglitz, Tempelhof, Wedding und
Wilmersdorf. Seine 1984 vorgelegte „Berlin-Chronik" erlebte die Neuauflage 1990 und die Bände
„Potsdam" die 5. Auflage im selben Jahr und „Brandenburg" die 2. 1991.
Seit nunmehr 41 Jahren ist der Autor mit der baltischen Lyrikerin und Malerin Aldona Gustas verheiratet, die den Kreis der „Berliner Malerpoeten" ins Leben gerufen hat.
1981 erhielt Georg Holmsten das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse. Der Verein für die Geschichte Berlins wünscht dem Jubilar weiterhin Arbeitsfreude und Schaffenskraft!
Günter Wollschlaeger
207
Nachrichten
Wieder in Berlin zu Hause
Seit dem 1. Juni 1993 hat der Verlag Mittler & Sohn wieder in Berlin seinen Sitz.
Mit der Erteilung des Privilegs zur Gründung einer Buchdruckerei am 3. März 1789 begann die nun
mehr als 200jährige Geschichte des Hauses Mittler & Sohn. Am 1. Juli 1816 folgte mit der Herausgabe der ersten Nummer des „Militär-Wochenblattes" die Erweiterung zu einem erfolgreichen Verlagsunternehmen, Grundstein zugleich zu einem der führenden Militär-Verlage in Deutschland. Aber
auch auf vielen anderen Sachgebieten wie Theologie, Philosophie, Unterrichtswesen und insbesondere der Geschichte betätigte sich der Verlag. So gedenken wir besonders dankbar der Betreuung
unserer MITTEILUNGEN, zuerst in Commission und vom 40. Jg. bis 1923 als Verlag sowie auch seit
Heft 15 der „Grünen" Schriften des Vereins bis zum bitteren Ende des Verlages in seinem Domizil
Kochstraße 68—71, dem Untergang des Zeitungsviertels überhaupt gegen Ende des letzten Krieges.
Der Verein für die Geschichte Berlins, gegr. 1865, wünscht dem Verlag „Mittler & Sohn" die Fortsetzung seiner erfolgreichen Arbeit, möglichst wieder mit eigenem Etablissement, in unserer Hauptstadt Berlin.
Karlheinz Grave
Die St.-Vitus-Kirche zu Döbbersen
Mit Brief vom 6. September 1993 hat die Projektabteilung der Deutschen Stiftung Denkmalschutz
trotz erheblicher Etatkürzungen dem Verein für die Geschichte Berlins die Überprüfung der Möglichkeiten zugesagt, die St.-Vitus-Kirche zusätzlich in das 1994er Programm aufzunehmen.
„Wir hoffen sehr, daß es uns gelingt, in Döbbersen zu helfen", schreibt uns Frau Monika Entschelmeier.
Inzwischen erstellte die Architektengemeinschaft Albrecht und Härtung, Schwerin, in Zusammenarbeit mit der Bauabteilung des Oberkirchenrates Schwerin eine Schadensdokumentation, und Frau
Pastorin Braun entwickelte mit dem zuständigen Bauausschuß und dem Gemeindekirchenrat ein im
Bereich der Möglichkeiten liegendes Sanierungskonzept für die Erhaltung des Bauwerkes. Demnach
sollen zunächst die Fundamente, der Sockelbereich und die Turmeindeckung saniert werden. Auf
Wunsch interessierter Mitglieder veröffentlicht die Redaktion das Spendenkonto für die Restaurierung der einzelnen Ausstattungsstücke (Taufengel, Altar, Totenschilde, Wappen, Bleiglasfenster und
die Sicherung der Wandmalereien): Spar- und Kreditbank Nürnberg, Konto Kirchengemeinde
Döbbersen, Konto-Nr. 53 11128, Bankleitzahl 760 605 61.
Spendenquittungen werden ausgestellt, die Einzahlungsbelege sollten den zusätzlichen Vermerk
„Verein für die Geschichte Berlins" tragen. Mit weiteren Auskünften steht die Redaktion gern zur
Verfügung.
208
Buchbesprechungen
Julius II. Schoeps: „Bürgerliche Aufklärung und liberales Aufklärungsdenken. A. Bernstein in
seiner Zeit." 319 Seiten, Personenregister, Werk-, Quellen- und Literaturverzeichnis im Anhang,
Burg Verlag, Stuttgart und Bonn 1992. Im Handel nicht erhältlich, dem Verein gespendet von Herrn
Johannes Lindner.
Nachdenken über Preußen hat mehr und mehr die Ansicht zutage gefördert, daß bürgerlich-aufklärerisches Denken und demokratisch-nationales Handeln in den drei mittleren Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts eine liberale Entwicklung vorbereitet haben, die erst durch die Reichsgründung in andere
Bahnen gelenkt worden ist. Die vorliegende Studie macht diese Entwicklung an einer Gestalt fest, die
mit ihrem politischen und publizistischen Wirken den Linksliberalen der Bismarckzeit wie den Sozialdemokraten eine achtenswerte Größe war. Das von ihm als „Urwähler-Zeitung" gegründete, später
„Volkszeitung" genannte Organ stand bis 1933 hoch im Ansehen; Aron Bernstein kam als Jude,
zunächst nur mit talmudischem Wissen ausgestattet und von unbändigem Wissensdrang getrieben
und von Berlins geistiger Ausstrahlungskraft angezogen, in die Stadt des Jungen Deutschland und
machte sofort seine demokratischen Ideale zu den seinen. Die Titelformulierung des Buches „Bürgerliche Aufklärung und liberales Aufklärungsdenken'" will auf das Phänomen aufmerksam machen,
daß sich national-demokratisches Einigungsbestreben unter linksliberalem Vorzeichen in der Spätzeit der Aufklärung begab, ja als Aufklärungsgeschehen in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts schon
fast ein Anachronismus war und möglicherweise nur durch das Nachwirken Mendelssohnschen Geistes in Berlin zu erklären ist. Daß jüdisches Emanzipationsstreben ein Teil der bürgerlichen Befreiung
sein würde, hatte 1830 Heine vorausgesagt. Daher heißt das Kapitel, das A. Bernstein vorstellt, „Aufbruch aus dem Ghetto" (von Danzig). Es sollte ein Weg persönlicher Selbstverwirklichung und allgemeiner Bewußtseinserhellung werden. — Bernstein war ein Vorkämpfer für die Aneignung deutscher
Kultur durch die Juden in Preußen und wurde Journalist und Volksaufklärer als Verfasser populärwissenschaftlicher Sachbücher, vor allem auf naturwissenschaftlichem Gebiet. Im Berlin der Märztage
wurde er politischer Mahner und stand zeit seines Lebens für die Revolution von 1848. — Er sei zwar
keine Gestalt großen Formats gewesen, sagt Verf., aber doch voll interessanter Wirkung und prägend
für das jüdische Berlin seit 1848. — Verf. stellt ihn auch dar als Novellenerzähler speziell jüdischer
Schicksale aus dem Ghetto, in Wirkung und Sprache etwa den Auerbachschen „Dorfgeschichten"
vergleichbar, und charakterisiert seine wissenschaftlichen Tätigkeiten um die Jahrhundertmitte als
beste pädagogische Arbeit. — Verfassers Spurensuche und Berichterstattung muß sich mit zuweilen
unsicherer Quellenlage abfinden; Formulierungen wie „ist nicht mit Sicherheit auszumachen" kehren
oft wieder. Sein Nachlaß ist verschollen, seit Nachkommen aus Budapest nach Auschwitz transportiert wurden. Als Informanten dankt Verf. u. v. a. den Berlinern Dr. Cecile Lowenthal-Hensel und
Johannes Lindner. Sein Wirken ist in die Aufbruchszeit zwischen 1830 und 1888 hineinzustellen, d. h.
in die Epoche nationalen Erwachens, was die Probleme der Einigung unter freiheitlichem Vorzeichen
aufwirft.
Von den demokratischen Pressekämpfen der Jungdeutschen angeregt, macht Aron Bernstein Gesellschaftsfragen und die Deutung des Gesetzmäßigen innerhalb des Sichverändernden innerhalb des
Geschichtsprozesses seiner Zeit zu seinem vordringlichen Anliegen. In willenstarkem Bildungsdrang
anverwandelt er sich autodidaktisch alle geistigen Bereiche von öffentlichem Interesse. Er wird Zeitungsgründer eines echten Volksblattes, das u. a. auch Hegeische Ideen populär zu machen sucht. So
sehr er auch nach Geschichtsdeutung strebt und in Hegels Philosophie Denkmodelle für die Vollendung menschlichen Geistes sieht, steht ihm doch Gegenwärtiges mehr im Vordergrund. Für die
Aneignung seiner Gestalt sind die Kapitel über die Barrikadenkämpfe von 1848 und seine Tätigkeit
als Leitartikler der „Volkszeitung" der Schwerpunkt. Den Juden erschienen die Vorboten der demokratischen Revolution als verheißungsvolle Signale, fast als messianische Hoffnungszeichen auf endliche Befreiung menschlichen Geistes. Tiefergreifender jedoch als Bernsteins aktive Teilnahme „auf
den Barrikaden" sind seine späteren Reflektionen in seiner Schrift „Revolutions- und Reaktionsgeschichte". Sie offenbart den Angelpunkt seines Denkens: die demokratische Gestaltung von Gesellschaft und Staat. Von hier aus ist seine Frontstellung gegen die Oktroyierte Verfassung von 1849 gegeben, die er bis zu seinem Tode 1884 beibehalten sollte. Die andere Variante seines Denkens ist die
nationale Komponente. Mit allen Demokraten teilt er die Enttäuschung über die Ablehnung der Kai209
serkrone durch Friedrich Wilhelm IV., die alle Hoffnungen auf ein Volkskaisertum zunichte machte.
Bernstein hat das politische Leben seither als eine Fehlentwicklung angesehen, weil ihm der in der
Reaktion christlich begründete Staat als unliberal galt.
So suchte er alle politischen Kräfte zu wecken, hier eine Korrektur anzubringen. — Ein weiterer
Angelpunkt seiner publizistischen Tätigkeit war die Auseinandersetzung mit der Haltung des Königs.
Er machte ihn wegen seines Unverständnisses für demokratische Ideale für das Scheitern der revolutionären Bewegung seit 1848 persönlich verantwortlich. Bernstein war wohl sein politischer Gegner,
aber er achtete ihn als König, sprach nobel und verhalten von ihm; sein Tod rief schmerzliche Betroffenheit hervor. In seinem Nachruf bezeichnete er ihn als eine tragische Gestalt und bedauerte, er sei
schon 1849 „aus dem Leben getreten", da sei er mit dem unzeitgemäßen Prinzip gefallen, für das er
besten Willens gelebt habe.
Seine eigentliche Profilierung erfuhr Bernstein durch seine eigene Zeitung, die er zum Sprachrohr für
demokratische Gedanken machte. Hier hat er volkspädagogisch gewirkt durch seine persönlich
gefärbten Artikel, die er bewußt in unakademischer und unliterarischer Sprache abfaßte. Mit seiner
Idee eines Volksblattes stand er Duncker, dem Mitbegründer der Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine, nahe. Das bedeutete Eintreten für die Gewerkschaftsidee statt Klassenkampfideale. Er plädierte für Gewerbefreiheit und eine möglichst staatsfreie Wirtschaft und lehrte aus Abneigung gegen
Lassalle eher eine Harmonisierung von Arbeit und Kapital. Er hat, so Verf., mit Hilfe von Duncker
und seinem Verleger Heymann die Volkszeitung für das liberale Bürgertum der 50er und 60er Jahre
gestaltet. Sie wurde später ein antibismarckisches Blatt in der Zeit der Sozialistenverfolgung, fand
sogar in den frühen 70er Jahren die Sympathie des Kronprinzen Friedrich Wilhelm.
Dem Kenner der Parteiengeschichte der 60er Jahre ist besonders das Kapitel über den „Preußischen
Linksliberalismus" interessant. Die „Neue Ära" nach Antritt der Regentschaft Wilhelms 1. wurde
noch einmal eine Zeit der demokratischen Hoffnungen und der Herausforderung für die Liberalen,
der Sammlung und Organisation ihrer Partei. Aron Bernstein war — im Verein mit Duncker — maßgeblich an der Gründung des Deutschen Nationalvereins beteiligt. Nahm er jedoch anfangs noch eine
schwankende Haltung ein, um dem König Verfassungstreue zu signalisieren und ihn auf die Ebene der
Verfassungsmäßigkeit herüberzuziehen, so steuerte er einen entschiedeneren Kurs seit den Ereignissen um die Militärreform, die sich zum Verfassungskonflikt ausweiten sollten. Bernstein hat früh die
Uneinigkeit zwischen den liberalen Flügeln angeprangert und sich schließlich auf die Seite der neuen
Deutschen Fortschrittspartei geschlagen. Für sie stand er mit seiner „Volkszeitung" ein und wurde zu
einer Integrationsfigur.
Stark tritt in ihr die Antipathie gegen Lassalle und die Arbeiterbewegung hervor. Die Erörterung des
Streites, ob die Liberalen durch ihre Hinwendung zum Handwerkerstand ihre Basis verengt hätten,
erscheint zweitrangig gegenüber der dezidierten Haltung Bernsteins im Verfassungskonflikt. Diese
Vorgänge werden vom Verf. ausführlich dargelegt. Aus dem Hin und Her der Liberalen in ihrem Verhältnis für oder gegen Bismarck blieb allein Bernstein eindeutig sein Gegner. Er lehnte sein Indemnitätsverlangen ab, er bezeichnete jede nationale Einheit ohne Freiheit als Sklaverei, er favorisierte die
großdeutsche Lösung, weil er eine Verpreußung Deutschlands fürchtete. Damit stand er unter seinen
Freunden in der Fortschrittspartei allein da. Bei genauer Betrachtung dieser Vorgänge aus der Sicht
der preußischen Linksliberalen scheint sich eine bisher marginale Beurteilung der Historiker zu bestätigen: 1866 sei die eigentliche Wende in der Demokratisierung Preußens gewesen, sie nehme die
nationalkonservative Strukturierung des Bismarckreiches vorweg, ja 1871 sei nur fixiert worden, was
sich im Verfassungskonflikt vorbereitet habe. Darin liegt wohl die Kernfrage der Studie von Schoeps.
Sie führt zur darüber hinausreichenden Frage, ob Bismarck den Krieg gegen Österreich bewußt herbeigeführt habe, um Preußens Führungsanspruch in Deutschland zu sichern, oder ob er damit den
Konflikt zwischen Krone und Parlament beenden wollte. Das Problem stellte sich Bernstein in dieser
Zuspitzung noch nicht, wichtiger waren ihm zunächst die Folgen des Friedensschlusses von Nikolsburg. Wie sollte das spätere Reich der Deutschen verfaßt sein? Er plädierte, anders als Bismarck, für
einen Bundesstaat Deutschland, und zwar aus Furcht vor der Etablierung eines absolutistischen Staates wie im Frankreich Napoleons III. Als das geeignete Mittel, um die Freiheit der Deutschen zu
bewahren, sah er das Modell der Paulskirchenverfassung von 1849 an. An ihr pries er: „Sie ist die Einheit, sie ist die Freiheit. In ihr kann Nord und Süd geeint werden, durch sie kann historisches Recht und
Fortschritt der Zeit ausgesöhnt werden!" Dagegen nannte er die Bismarckverfassung ein „Fürstenbündnis mit unverantwortlicher Regierung".
210
Zum Verdienstvollen seines Wirkens gehört sein Engagement für ein Reformjudentum aus dem Geiste der Aufklärung: hier erntete die Enkelgeneration die Früchte des Mendelssohnschen Wirkens. —
Und er stellte sein Talent in den Dienst der Verbreitung naturwissenschaftlichen Forschens im Geiste
der Humboldtschen Kosmos-Konzeption. Über beides ist viel zu lesen. Die Vertiefung und Verifizierung des Dargestellten erfolgt in einem ausführlichen Anmerkungsapparat.
Christiane Knop
Herbert Meschkowski: Jeder nach seiner lacon. Berliner Geistesleben 1700—1810. — München
Zürich: Piper,, 1986. - 303 S., 38 Abb. - ISBN 3-492-02970-1
„Berliner Geistesleben", dieser Begriff ist sozialhistorisch in unterschiedlichen Ebenen angesiedelt,
im höfischen Leben der Residenzstadt, im Bürgertum, der Intelligenz einerseits, aber auch in den
mittleren und unteren sozialen Schichten. Resultierend daraus sind auch die Merkmale dessen, was
unter Geistesleben verstanden werden muß, schwer vergleichbar. Denn dazu gehörten im 18. Jh. in
Berlin solche unterschiedlichen Zeugnisse wie die friderizianische Philosophie, die materialistische
Schrift „L'homme machine" von J. de La Mettrie, die Postulate des Popularphilosophen Friedrich
Nicolai und seiner Gesinnungsgenossen in der geheimen Mittwochsgesellschaft, die vielfältigen neologischen Bestrebungen des Berliner Oberkonsistoriums, etwa von Spalding und Zöllner, bis hin zu
Äußerungen von Handwerksgesellen, Manufakturarbeitern oder der vielzitierten Frau auf dem Mühlendamm, die ihren Zuhörern für einen Dreier das Neueste aus den Zeitungen vorlas.
In der zu besprechenden Publikation von H. Meschkowski wird nun der Versuch unternommen, diese
komplizierte Frage „in einem Stück", gemessen an der unübersehbaren Zahl von Veröffentlichungen
zu Einzelaspekten eine Seltenheit, darzustellen. Der Autor stellt das Zeitalter Friedrichs des Großen,
die Zeit nach 1740, in der Berlin zu einem geistigen Zentrum in Deutschland und darüber hinaus
wurde, viele weltanschaulich auch unterschiedlich orientierte Gelehrte, Künstler, Schriftsteller nach
Berlin kamen, sich eine außerordentlich freigeistige Atmosphäre entwickelte, in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen. Die Grundlagen für die enorme Vielfalt, durch die sich das Berliner Geistesleben
im 18. Jh. auszeichnete, wurden aber bereits um 1700 mit der Gründung der preußischen Societät der
Wissenschaften, deren Initiator und erster Präsident Gottfried Wilhelm Leibniz war, gelegt. Hier,
eigentlich noch im 17. Jh., mit der brandenburgischen Kurfürstin Sophie Charlotte und den Bemühungen des Kurators der französischen Kolonie, Ezechiel von Spanheim, um eine erste gelehrte
Gesellschaft in Berlin, beginnt auch der weitgespannte Bogen seiner narrativen Geschichtsdarstellung.
Obwohl der Autor in seinen Ausführungen auch auf einige Geistesprodukte des „hellen Berliners",
dieser Begriff ist bereits in zeitgenössischen Schriften zu finden, eingeht: „man findet hier beinahe in
allen Köpfen Begriffe verbreitet, die sonst fast geheim und unzugänglich gehalten werden", so wird
der „Bericht von einem Fremden" zitiert (S. 13; hinter dem sich allerdings der Berliner Aufklärer
Friedrich Gedike verbirgt, wie mittlerweile nachgewiesen werden konnte), hat er sich jedoch mehr auf
die Höhenflüge des Berliner Geistesleben konzentriert. Die Auswahl von historischen Ereignissen,
Institutionen und Persönlichkeiten, die in zwölf Kapiteln jeweils gesondert dargestellt werden, ist so
vorgenommen, daß sich der Leser einen guten Überblick über das, was an Ideen in dem langen Zeitraum von 1700 bis 1810, dem Gründungsjahr der Berliner Universität, angeboten wurde, worüber
gestritten wurde, verschaffen kann. Neben bekannten Berlinern und Gelehrten, Aufklärern, die sich
nur vorübergehend in der Stadt aufhielten, wie Lessing, Moses Mendelssohn, Nicolai, Voltaire, Maupertuis, Lambert, den Brüdern Humboldt, Büsching, Meierotto, Moritz bis hin zu Fichte und Schleiermacher, die Wesentliches zum geistigen Klima Berlins beigesteuert haben, werden auch die Aktivitäten von Personen geschildert, die meist nur dem Fachmann geläufig sind, etwa die von Isaac Beausöbre um die Schaffung eines Diskussionsklimas im Berlin im Zeitalter der Frühaufklärung, solcher
„königlichen Narren" wie des ehemaligen Mönches und Feldpredigers Graben zum Stein aus Tirol
und des durch wissenschaftliche Arbeiten ausgewiesenen Salomon Jacob Morgenstern oder die weit
gefächerten Bestrebungen des aus der Schweiz stammenden Johann Georg Sulzer, der eine neue
Ästhetik begründete, eine Zeitschrift herausgab, mit den kritischen Äußerungen von Lessing und
Nicolai jedoch nicht immer übereinstimmte. Behandelt wird das Geistesleben am Hof, im Tabakskollegium, an der neuen, 1744 gegründeten Akademie, an den Berliner Gymnasien, im Mathematischen
Kaffeehaus und in der Mittwochs-Gesellschaft.
211
Dieses Buch wirkt aber nicht nur vom Inhalt her, sondern wesentlich auch von der Diktion, dem
äußerst lebendigen Stil des Autors. Seine längere intensive Beschäftigung mit der Thematik überträgt
sich auch auf den Leser, der auch gefühlsmäßig angesprochen wird. Der Autor stützt sich auf eine
umfangreiche Fachliteratur, zeitgenössische Schriften aus dem 18. Jh., auf Anekdoten und vieles
mehr. Schön ist es, daß er im Gegensatz zu manchen „wissenschaftlichen" Sachbuchautoren auch
seine Quellen genau bekanntgibt, wodurch der Leser in dieser oder jener Frage weiter in die Tiefe
gehen kann.
„Jeder nach seiner Fagon", dieses oft zitierte Leitmotiv des Berliner Geisteslebens, ist der rote Faden
in den Ausführungen Meschkowskis. Für unsere Begriffe hätten aber dabei die Widersprüche zwischen den freigeistigen Bestrebungen einerseits und den tief verwurzelten traditionellen Verhaltensnormen in solchen großen Bereichen wie Religion. Sitte und Moral sowie Politik andererseits, die im
gesamten untersuchten Zeitraum vorhanden waren und nach 1786 offen ausgebrochen sind, noch
stärker herausgearbeitet werden müssen. Zu denken ist an solche Auseinandersetzungen wie Gesangbuchstreit, der Streit um den Kalenderinhalt und um die Predigerkritiken, nicht zuletzt um das Religions- und das Zensuredikt. Daß der Soldatenkönig „die Wissenschaft und ihre Repräsentanten"
„verachtete" (S. 52), ist nicht ganz richtig; denn immerhin sind in seiner Regierungszeit, was nicht
gering zu veranschlagen ist, die zwei ersten kameralistischen Lehrstühle in Deutschland überhaupt, in
Halle und in Frankfurt an der Oder, ins Leben gerufen worden. Die leider immer wieder auftauchende
Behauptung vom „flachen Wolff", „einen Versuch zu erkenntnistheoretischen Überlegungen gibt es
bei ihm überhaupt noch nicht" (S. 73), ist durch die Hallenser Wolff-Forschung (H.-M. Gerlach, G.
Schenk u. a.) schon lange widerlegt worden. Das Edikt zur Ausweisung Wolffs wurde nicht am
8. Januar 1723 (S.61), sondern am 8. November 1723 erlassen.
Das Buch hat ein Literaturverzeichnis, aber leider kein Register. Diese kritischen Anmerkungen können jedoch den sehr hohen Wert der Publikation in keiner Weise mindern. Insgesamt stehen die Ausführungen des Autors auf einem hohen Niveau, inhaltlich, sprachlich, darstellungsmäßig und auch in
der Hinsicht, daß sie eine sehr gute Grundlage für Diskussionen der verschiedensten Art bilden. Das
Buch ist sicherlich längere Zeit aktuell, steht aber leider nur noch in Bibliotheken zur Verfügung.
Dieter Reichelt
Christian G. Seeber: Wasserwandern in und um Berlin. Elefanten Press Verlag GmbH, Berlin 1992.
Broschiert, 190 Seiten.
Den zehn Routen mit einer Dauer von wenigen Stunden bis zu mehreren Tagen sind Paddeltips vorangestellt. Ausgangspunkt und Endpunkt werden ebenso angegeben wie die Länge der Fahrt, deren
Dauer, die einzelnen Ortspassagen und Haltepunkte bzw. Anlegestellen. An Landkarten wird die
Fahrtstrecke verdeutlicht. Auf Kentergefahr bei hohem Wellengang sowie starken Sport- und Ausflugsverkehr wird gesondert hingewiesen. Der Interessent wird auf die Geologie und Geographie,
besonders aber auch auf die Historie der Landschaften links und rechts (oder an Backbord und
Steuerbord) des Weges aufmerksam gemacht. In einem Anhang werden Fachgeschäfte für Wassersportler aufgeführt, die Dachverbände der Paddel-, Kajak- und Kanusportfreunde ebenso aufgelistet
wie Wassersportclubs in Berlin und das Verzeichnis der Schleusen und Schleusenzeiten. Die Handlichkeit des Büchleins kommt seinem Zweck entgegen.
SchB.
Dietmar Schenk: „Anton von Werner, Akademiedirektor. Dokumente zur Tätigkeit des ersten
Direktors der Königlichen akademischen Hochschule für die bildenden Künste zu Berlin,
1875-1915." Hochschule der Künste, Berlin. Edition des HdK-Archives, 1993.
In einer sehr informativen Schrift, der ersten einer geplanten Reihe über die Bestände des Archives
der Hochschule, gibt der Archivar der HdK. Dr. Dietmar Schenk, einen umfassenden Überblick über
das vierzigjährige Wirken Anton von Werners als Direktor der damaligen „Königlichen akademischen Hochschule für die bildenden Künste". Der Band ergänzt in idealer Weise die Ausstellung über
Leben und Werk des Künstlers, die das Deutsche Historische Museum seit Mai dieses Jahres zu
dessen 150. Geburtstag gezeigt hat.
212
I
Anton von Werner durchlief ein „Karriere-Muster" (Verf.), dessen Ursprung noch im ausgehenden
18. Jahrhundert verwurzelt zu sein scheint: Akademie-Besuch, Studienreisen nach Italien und Frankreich und schließlich die Berufung in ein öffentliches Amt. Befangen in der europäischen Historienmalerei des 19. Jahrhunderts wurde er folgerichtig zum loyalen Repräsentanten der offiziellen Kunst
des Kaiserreiches und stand dem Beginn der Moderne — Impressionismus, Jugendstil und schließlich
Herwarth Waldens „Sturm"-Bewegung — nicht nur ablehnend, sondern verständnislos gegenüber.
Der „Simplicissimus" konnte ihn daher als „streitbare Verkörperung königlich-preußischer Kunst"
sehen. Anton von Werner, der im Alter von 32 Jahren das Amt des Direktors übernommen und
anfänglich die Berliner Akademie der Künste aus ihrer Stagnation herausgeführt hatte, blieb bis zu
seinem Tode am 4. Januar 1915 eine „Person der Gründerzeit" (Verf.), wenn er auch „eine relativ
selbständige Künstlerschule unter dem Dach der Akademie" (Verf.) verwirklichte, die das Prinzip des
Atelierunterrichtes betonen sollte. Triebfeder hierfür bildete die Berufungspolitik, die Anton von
Werner weitgehend selbständig handhaben konnte. „Innerhalb des Studienplanes legte von Werner
großen Wert auf die technischen, d. h. sowohl auf die eher handwerklichen wie die naturwissenschaftlichen Aspekte der Ausbildung. So richtete er ein chemisches Laboratorium ein, in dem Experimente
mit Farben durchgeführt wurden." (Verf.) Trotzdem konnte im Jahre 1896 bereits der Direktor der
Nationalgalerie, Wilhelm von Bode, in der Zeitschrift „Pan" die „Praxisferne der akademischen
Kunsthochschule" kritisieren. Es war das Jahr des zweihundertjährigen Jubiläums der Akademie der
Künste.
Inzwischen war mit der Unterrichtsanstalt des Berliner Kunstgewerbemuseums, die seit 1907 ein
Mann wie Bruno Paul leiten sollte, ein nicht unbedeutendes Konkurrenzunternehmen erwachsen, das
die Wende einleiten sollte. Bruno Paul, der im Jahre 1924 die „Berliner Vereinigten Staatsschulen für
freie und angewandte Kunst", in der beide Anstalten aufgegangen waren, übernehmen sollte, steht für
den Beginn einer neuen Ära.
Dieser Band will keine Geschichte der „Kgl. akademischen Hochschule für die bildenden Künste"
vorlegen, gewährt aber eine interessante kritische Würdigung und Auseinandersetzung mit der Vorgeschichte der jetzigen Hochschule der Künste.
Günter Wollschlaeger
Hans von Godin: Strafjustiz in rechtloser Zeit. Mein Ringen um Menschenleben in Berlin 1943—45.
Berlin 1990, 205 Seiten, 5 Abb., 21x14 cm, geb. mit Schutzumschlag 28 DM. ISBN
3-87061-364-5.
Der Autor Hans Freiherr von Godin, heute unweit Münchens ansässig und als Anwalt auch in den
neuen Bundesländern tätig, berichtet aus schwerer Zeit, von ihm als „rechtlos" gekennzeichnet, in der
er seine Zulassung als Strafverteidiger nur in der Form eines Assessors als amtlich bestellter Vertreter
der Rechtswanwälte Frey und Hardegen erlangt hatte. Als junger Assessor führte er in Kreisen seiner
Anwaltskollegen den Beinamen „Der Löwe des Frauengefängnisses Moabit", weil sich dort die meisten Frauen um eine Verteidigung durch ihn bemühten. Daß er einen guten Stern hatte, glaubt man
ihm, wenn man der Schilderung der Verteidigung seines eigenen Vaters folgt.
Diesem Bericht stellt er Überlegungen zum deutschen Rechtssystem und zur deutschen Strafjustiz
besonders in der NS-Zeit voran, wobei er der deutschen Justiz zu ihrer Ehrenrettung attestiert, „daß
es wahrscheinlich in den meisten Ländern nicht besser zugeht" (S. 69).
Der Volksgerichtshof hatte am 6. Mai 1944 mit den Unterschriften seines Präsidenten Dr. Freisler
und des Kammergerichtsrats Rehse den Vater des Autors Rechtsanwalt und Notar Reinhard Freiherr
von Godin aus Berlin wegen Wehrkraftzersetzung zum Tode verurteilt. Reinhard von Godin hatte
nach dem Todesurteil des Volksgerichtshofs für einen von ihm verteidigten „habsburgisch separatistischen Volksfeind" laut Haftbefehl die Behauptung aufgestellt, „daß das Urteil nicht hätte gefällt werden können, wenn das Gericht nicht trotz des schon im Voruntersuchungsverfahren zu seinen Gunsten lautenden Gutachtens des Psychiaters offenbar von oben her angewiesen wäre, ein Todesurteil zu
fällen." Die Schilderung des Gnadenverfahrens ist sehr lebendig und bewegend, es führt dazu, daß
der Reichsminister der Justiz Dr. Thierack am 15. Dezember 1944 „mit Ermächtigung des Führers"
die Todesstrafe in acht Jahre Zuchthaus umwandelt.
213
Der Bericht, der an Margret Boveris „Tage des Überlebens" erinnert, bricht ab, eine Fortsetzung der
Lebenserinnerungen des Autors wäre wünschenswert. Im Anhang (65 Seiten) sind die Dokumente in
zumeist maschinenschriftlicher Form wiedergegeben, also nicht im Original. Eine kleine Korrektur ist
angebracht, wenn der Verfasser schreibt, in der „Kristallnacht" seien alle Synagogen Berlins der
Brandstiftung zum Opfer gefallen — „fast" alle waren es, und gerade die bedeutendste in der Oranienburger Straße wurde gelöscht.
Der Lebensgrundsatz Hans von Godins, wie er sich in den Versen Theodor Storms ausdrückt, findet
in diesem Buch beredten Niederschlag:
Der eine fragt, was kommt danach?
der andere fragt nur: Ist es Recht?
und darin unterscheidet sich
der Freie von dem Knecht.
Hans Günter Schultze-Berndt
Profession ohne Tradition. 125 Jahre Verein der Berliner Künstlerinnen. Herausgegeben von der
Berlinischen Galerie, Museum für Moderne Kunst, Photographie und Architektur. Ein Forschungsund Ausstellungsprojekt der Berlinischen Galerie in Zusammenarbeit mit dem Verein der Berliner
Künstlerinnen. Kupfergraben Verlagsgesellschaft mbH, Berlin 1992. Broschiert 619 Seiten. ISBN
3-89181-410-0.
Unter einem Sechspfünder mag man sich je nach Herkunft und Geschlecht eher einen Begriff aus der
Geburtshilfe oder aus der Artillerie vorstellen. Hier ist aber ein Buch anzuzeigen, das glatt seine sechs
Pfund auf die Waage bringt (akkurat 2950 g). So abschreckend sonst aber derartige Dimensionen wirken mögen, so erfreulich sind Inhalt und Lektüre des Ausstellungskatalogs, um den es sich im Grunde
handelt. In einem richtig munteren Vorwort gehen Jörn Merken, Direktor der Berlinischen Galerie,
und Karoline Müller, Erste Vorsitzende des Vereins der Berliner Künstlerinnen, auf die Intentionen
des jubilierenden Vereins und der Ausstellungsmacher ein. Die Vorbereitungen für die Ausstellung
zogen sich über gut zwei Jahre hin, insgesamt 47 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben
recherchiert oder geschrieben, und die Vielzahl der Aufsätze dieses Buches zeugt vom Erfolg der
Bemühungen. Es werden historische Entwicklungen beschrieben, Biographien von Künstlerinnen
vermittelt, Rechtsfragen diskutiert, Statistik ebenso bemüht wie Politik und Psychologie. Natürlich
wird auch die wechselvolle Vereinsgeschichte ausführlich dokumentiert, durchaus selbstkritisch übrigens. Von mehr als hundert Leihgebern zwischen St. Petersburg und London, Kopenhagen und Paris
werden rund 250 Ausstellungsstücke vorgestellt und beschrieben. Mit Interesse erfährt man, daß das
Archiv des Vereins der Berliner Künstlerinnen Material zur 125jährigen Geschichte des Vereins,
mehrere hundert Dossiers zu Künstlerinnen, Kunstfreundinnen und Ehrenmitgliedern sowie ein Photoarchiv mit rund 4000 Abbildungen enthält.
Carola Muysers beschäftigt sich mit der Konzeption von Projekt, Ausstellung und Katalog. Aus den
Recherchen zum 125jährigen Jubiläum des Vereins der Berliner Künstlerinnen ergab sich, daß in
mehr als 50 Zeitschriften und Zeitungen über dessen Aktivität umfassend und regelmäßig berichtet
worden ist.
Je mehr Einzelheiten aus der Vereinschronik auftauchten, desto spannender erwies sich die
Geschichte des Verbandes. Bis zur Zulassung von Frauen zur Kunstakademie 1919 galt die vereinseigene Zeichen- und Malschule als eine der renommiertesten Ausbildungsstätten für Künstlerinnen.
In den 125 Jahren des Bestehens haben sich 1200 Malerinnen, Grafikerinnen und Bildhauerinnen
dem Verein angeschlossen. Mehr als 4000 Grafiken, Plastiken und Gemälde aus der Hand von
Frauen konnten lokalisiert werden. Zum Jubiläum wurden eine große Ausstellung, das umfangreiche
Katalogbuch mit größerem Format als die Berliner Telefonbücher und ein Lexikon erarbeitet. Der
Katalog geht weit über die Auswahl der in der Ausstellung vorgestellten Künstlerinnen hinaus. Er
setzt drei Schwerpunkte: „Profession ohne Tradition. 125 Jahre bildende Kunst von Frauen", „Auftrag — Kunstmarkt — Eigensinn. Künstlerinnen im Kunstbetrieb" und „Konflikte — Strategien —
Erfolge, 125 Jahre Verein der Berliner Künstlerinnen". 40 Autorinnen und Autoren haben aus der
Sicht ihres Spezialgebiets, die die unterschiedlichsten Disziplinen verkörpern, jeweils einen bestimmten Zeitabschnitt oder Aspekt betrachtet. Dabei wird nicht nur die Vereinsgeschichte in einer ausführlichen Chronik rekonstruiert, sondern auch auf Ereignisse aus stadtgeschichtlicher, historischer und
214
kunsthistorischer Sicht eingegangen. Das die Grundlage des Vereins bildende Mäzenatentum, die
Situation des Vereins im Dritten Reich und seine Rechtsgeschichte werden ausführlich dargestellt.
Um ein aufschlußreiches „Hinterfragen" geht es in dem Beitrag Jörn Merkerts, der sehr frei nach Peter
Weiss überschrieben ist: „Darum geht es. Geht es darum ? oder Die Entwicklung und Mißachtung der
Kunst von Frauen erforscht und ausgestellt durch die Wissenschaftsgruppe des Vereins der Berliner
Künstlerinnen unter Anleitung der Berlinischen Galerie." Der Direktor dieser Galerie schildert von
den Bemühungen der Vereinsvorsitzenden Karoline Müller, „mit nicht einzudämmendem Eifer" auf
einer Ausstellung zu bestehen, und er charakterisiert sein Gegenüber Karoline Müller als „eine von
ihrer Idee besessene Person..., die von taktisch differenziert vorgetragenem Widerstand nur um so
mehr angefeuert wurde". Kritisch geht J. Merken mit der jüngeren Generation ins Gericht, „die Mitte
der sechziger Jahre ihr Studium begann und der sich nie dagewesene Möglichkeiten eröffneten". Und
weiter: Es war also „die später so genannte 68er Generation, die — sich dessen weitgehend unbewußt
— in den Genuß der Möglichkeiten kam, die Generationen von Frauen vor ihnen in zähen Auseinandersetzungen erkämpft hatten. Dafür kein Bewußtsem zu haben, ist auch eine Form der Traditionslosigkeit."
Es würde den Platz sprengen, wollte man auch nur annähernd auf den Inhalt dieses Standardwerks
eingehen. Vielleicht verdient aber aus der Sicht des zwei Jahre älteren Vereins für die Geschichte Berlins, gegr. 1865, der Aufsatz Karoline Müllers „Leftie Loser Lobbyist. Eine Textcollage der Kronprinzessin Victoria gewidmet" Aufmerksamkeit und Interesse. Während mit der Festigung der Europäischen Gemeinschaft die alten Feindschaften des 19. Jahrhunderts schwächer werden, ist die Kronprinzessin immer noch eine historische Figur, die das Paradox verwirklicht, ebenso unbekannt wie
verhaßt zu sein. So leitet die Vereinsvorsitzende ihren Beitrag ein. Sie fährt fort: Es ist einfach bemerkenswert, mit welcher Kontinuität in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereichen Bismarcks
Verdikt über seine mächtigste politische Gegnerin Geltung behielt. Die englische Prinzessin hat sich
wirklich um die Förderung der Kultur in Deutschland verdient gemacht — von der Körperhygiene bis
zum Museumsbau. Ihre Kämpfe für Frauenemanzipation, freies Denken und die Förderung der Künste wurden durch Bismarck gekontert und scheiterten nach 1888 gänzlich. Nur in einer Verbindung
von aufgeklärtem Bürgertum und einem liberalen Herrscherhaus wäre eine Entwicklung denkbar
gewesen, die anders ausgesehen hätte als der „Wilhelminismus" und seine Folgen. Hier sei dem
Rezensenten der Einwand erlaubt, daß der auch sonst in der Literatur anzutreffende Begriff „Wilhelminismus" falsch geprägt ist, da dessen Namensgeber Wilhelm (II.) hieß und nicht Wilhelmine. Daß
Karoline Müller nun eine Ehrenrettung der Kronprinzessin Victoria betreibt, verdient Respekt und ist
sicher in jeder Beziehung gerechtfertigt. Allerdings muß man gegenüber den einleitenden Bemerkungen Opposition oder zumindest Reserven anmelden, wenn die Autorin schreibt: Die Kronprinzessin
Victoria kam im Januar 1858 von England nach Preußen zu den Barbaren, den Ungebildeten, den
Grausamen. Zu Bismarck mit seinen manipulierten Medien, seiner großen Armee und seiner
Geheimpolizei, seinen Überwachungen, zu „Eisen und Blut" mit modernen Spitzelmethoden. — Hier
scheint, mit Verlaub gesagt, die umgekehrte Voreingenommenheit zu herrschen, die Victoria in Preußen begegnete. Quod erit demonstrandum.
Es ist amüsant zu lesen, wie Wilhelm von Bode und die „Kronprinzens" manchmal „kungelten", wenn
es um Ankäufe, Vorlieben und Beeinflussungen bei den Königlichen Museen ging. Die Künstlerin
Victoria wird auch mit ihren Werken vorgestellt. Das letzte Wort über die Kronprinzessin wird den
1921 erschienenen Lebenserinnerungen Helene Langes entnommen: „Der Weltgeschichte, die aus
Fürstengalerien mit Schlachtenbildern im Hintergrund besteht, wird sie nichts bedeuten. In die Kulturgeschichte aber wird sie eingehen . . . als die erste Fürstin, die ihren vollen Einfluß für die Frauenbewegung einsetzte zu einer Zeit, in der die Acht weiter Kreise noch schwer auf ihr lastete."
Die schon erwähnte Chronik des Vereins der Berliner Künstlerinnen 1867—1982, der eigentliche
Katalogteil und das Verzeichnis der ausgestellten Werke bilden den Abschluß dieses hervorragenden
Bandes. Es mag thematisch bedingt sein, daß ein Gruppenbild von Mitgliedern der Berliner Neuen
Gruppe von 1954 mit Renee Sintenes doppelt wiedergegeben wurde (Abb. 148 und 184). Unausrottbar scheint der Gebrauch des falschen Begriffs Exponat zu sein, selbst in einem solch wertvollen
Werk. Im Lateinischen gibt es nämlich kein Verbum „exponare", sondern nur „exponere", folglich
müßte es nicht Exponat heißen, sondern Exposit, wie man ja auch immer noch von einer Depositenkasse und nicht von einer Deponatenkasse spricht. Auch besuchen wir immer noch eine Exposition
und nicht eine Exponation. Selbst wer die schöne Folge expono, exposui, expositum, exponere nicht
215
auf der Schule gelernt hat, sollte nicht falsche Ausdrücke gebrauchen (Fremdwörter sind Glückssache), nur um die so passenden Begriffe Gegenstand, Ausstellungsstück oder Objekt zu vermeiden.
Das letzte Wort sei dem mitverantwortlichen Jörn Merkert gegeben (und seine Aussage gilt nicht nur
für den Verein der Berliner Künstlerinnen): „Einen Verein, der die Tiefen seiner Vergangenheit ausloten will, um sein Heute zu begreifen, nenne ich einen mutigen, einen klugen und unbequemen Verein." Diesem sei für die Zukunft Glück auf dem Wege gewünscht und für die Ausstellung und den
Katalogband gedankt.
SchB.
Dieter Hanauske: „Die Berliner Wohnungspolitik in den 50er und 90er Jahren. Aus der
Geschichte lernen?" 188 Seiten, Literaturverzeichnis, reichlich viel Anmerkungen, Berlin Verlag
Arno Spitz, Berlin 1993.
Ob man aus der Geschichte lernen kann, wird verschieden beantwortet. Aber eine politische Aufgabe
unter ähnlichen Umständen mit erprobten Mitteln der Vergangenheit lösen zu wollen, kann erfolgreich sein und eine historische Phase nachhaltig bestimmen. Im vorliegenden Fall fragt Verf. — um die
Diskussion zu versachlichen — aus der Kenntnis von Zahlenmaterial und theoretischem Rüstzeug der
Senatsbauverwaltung nach der Möglichkeit, sich bei der Wohnungspolitik der 90er Jahre an der der
50er zu orientieren und zu erwägen, ob gleiche Grundsätze und Instrumentarien auch künftig geeignet seien. Als Vergleichsgrundlage wird der soziale Wohnungsbau im damaligen West-Berlin untersucht; im Ostteil sind heute gleiche staatliche und wirtschaftliche Verhältnisse gegeben, die das Problem nun als gleichartig erscheinen lassen. — Die damalige Lage war gekennzeichnet durch eine Wirtschaftskrise mit hoher Arbeitslosigkeit, höchst schlechter Bausubstanz des verbliebenen Bestandes,
extremem Kapitalmangel und sehr niedriger Mietzahlungsfähigkeit. Da nur geringe Renditen bei
Neubauvorhaben erwartet werden konnten, war kaum Privatkapital in Anspruch zu nehmen, so daß
die Finanzierung über sorgfältig geplanten Einsatz öffentlicher Mittel erfolgte. Der so erstellte soziale
Wohnungsbau wurde in Ausstattung und Standard von der Bauverwaltung entsprechend beeinflußt;
seine Architektur wird hier als eher nüchtern-funktionale Durchschnittsware — gemessen am Wohnsiedlungsbau der 20er Jahre — bezeichnet, als ein Stil „gemäßigten Modernismus'" anzusehen als
Knappheitsarchitektur, wie sie die bescheidenen Mittel der Zeit hergaben. Aber er war so erfolgreich,
daß die extreme Wohnungsnot verringert werden konnte und sich Berlin darin merklich von der Bundesrepublik abhob. Verf. schildert ihn als eine staatlich gelenkte Wohnraumbewirtschaftung, zu der es
keine Alternativen gab, sofern man Verstaatlichung des Wohnungsbestandes ablehnte und andererseits akzeptierte, daß eine freie Bewirtschaftung aus Kapitalmangel noch nicht möglich war.
Noch in der Mitte der 80er Jahre schien der Wohnungsmarkt ausgeglichen, die Verschlechterung
setzte erst ein, als zu diesem Zeitpunkt die Einkommen stiegen und die Bevölkerung Berlins zunahm.
Verf. schildert die baupolitischen Maßnahmen jener Jahre, die ausgefüllt waren mit Verbesserung des
Wohnumfeldes und behutsamer Stadterneuerung statt Kahlschlagsanierung. Mit dem Auseinanderklaffen von Bestand und Bedarf war schon der rot-grüne Senat konfrontiert, nach der Wiedervereinigung ist es der Diepgen-Senat erst recht. Er hat nun eine erneute Forcierung des Wohnungsbaus
bezahlbarer Wohnungen auf sein Programm gesetzt. Damit ist die Situation der der 50er Jahre vergleichbar: das gleiche große Defizit an Wohnungen, die hohe Sanierungsbedürftigkeit bei Altbauten,
riesiger Finanzierungsbedarf und Mietendilemma. Hinzu kommt ein eklatanter Flächenbedarf, der
unter dem Motto „Verdichtung statt Zersiedlung" angegangen werden soll, was zu Schwierigkeiten
und Protesten führt.
Die Wohnungsbestandspolitik hat es dennoch leichter als in der ersten Nachkriegszeit, denn damals
war es eine allgemeine Wohnungsnot, was sich heute als eine partielle darstellt, da es vor allem an
bezahlbarem Wohnraum mangelt, wehalb die Schere zwischen oben und unten immer weiter auseinanderklafft. Denn die Wellen von Umwandlungen preiswerten Raumes in Eigentumswohnungen
führten zu weiterem Verlust. Hinzu kommt ein hoher Anteil von sanierungsbedürftigem Raum in
Plattenbauten des östlichen Teils. Wie denn überhaupt die Wohnungspolitik die Negativa im östlichen
Teil anzugehen hat, die monotone Baukörpergestaltung und das Wohnen in Großraumsiedlungen mit
reinem Schlafstadtcharakter. Bilanzierend findet man also eine Reihe von Problemen gleichartig mit
denen der 50er Jahre, einige dagegen sind neu. Selbst wenn man also auf das damals angewandte
216
Instrumentarium zurückgreift, sind Erfolge schwieriger zu erreichen infolge der allgemeinen Kostenexplosion auf dem Mietpreissektor. Das Problem wird also sich nur langfristig lösen lassen und noch
die 90er Jahre bestimmen.
Im Ausblick auf die Zukunft will Verf. nur einige grundlegende Hinweise geben. Ein ausschließliches
und alleinverpflichtendes Leitbild einer Stadtplanung kann nicht gegeben werden und soll es auch
nicht, dafür aber einen Negativkatalog; er schließt Kahlschlagsanierung und Großsiedlungsbauweise
aus, weiß sich aber im Ringen um den Flächenbedarf am tiefsten verstrickt. Er hält größere Verdichtung für nur eine Teillösung und plädiert flankierend für bessere Ausschöpfung der vorhandenen
Reserven, die er beschreibt. Denn der Drang nach Verdichtung wird durch die Notwendigkeit der zu
schaffenden Infrastruktur begrenzt. Eher scheint ein Bebauen des Umlandes, etwa entlang der Bahnlinien, erfolgversprechend. Eines der Zentralprobleme sind die Eigentümerfragen. — Als menschenfreundlichste städtebauliche Form wird die mitteldimensionierte Wohnsiedlung in der Art der 20er
und 50er Jahre bevorzugt, die auch Gewerbeansiedlungen einschließt. Besser als die Errichtung großer neuer Stadtteile wird wahrscheinlich die Begrenzung in kleinere Quartiere sein, die von jeweils
einem Bauträger erschlossen werden könnten. Es werden jeweils Vor- und Nachteile erörtert, und es
wird die Frage aufgeworfen, wer denn planen solle, ob eine zentrale Bauverwaltung oder private bzw.
halböffentliche Institutionen. In der Wohnungsbaupolitik, die ja auch Wohnungsbestandspolitik
bedingt, wird das alte Instrumentarium aus der Zeit des sozialen Wohnungsbaues durchforstet; vieles
ist brauchbar, da begrenzte Finanzierungsmöglichkeiten und begrenzte Baukapazitäten weiterhin die
größte Schwierigkeit bilden. Eine Reihe von Förderungsmöglichkeiten bietet Verf. an.
Christiane Knop
Birgit Gatermann und Sabine Paque: Kunstführer Berlin. Broschiert, 301 Seiten, Verlag Elefanten
Press, Berlin 1991.
Der Kunstführer Berlin gibt sich bunt, was nicht nur daran liegt, daß den einzelnen Galerien und
Museen in beiden Teilen Berlins zumeist farbige Abbildungen zugeordnet sind, sondern auch auf die
im vorderen Teil und am Schluß eingeschossenen Anzeigen der „Sponsoren" zurückzuführen ist,
denen ausdrücklich für ihre Unterstützung gedankt wird. Zunächst wird den Ostberliner Galerien
eine Betrachtung gewidmet, für die der Journalist Detlev Lücke und (für die alternative Ausstellungsszene) der Kunstwissenschaftler Heinz Havemeister gewonnen wurden. Die Standorte der Galerien
auch des Westens werden auf Übersichtskarten festgehalten. Einer für die jeweilige Galerie repräsentativen Abbildung steht dann auf der rechten Seite eine Charakterisierung mit Angabe der Anschrift,
Telefonnummer und Öffnungszeiten sowie der Verbindungen mit öffentlichen Nahverkehrsmitteln
gegenüber. Außerdem werden die von den Galerien vertretenen Künstler aufgeführt. Bei den
Museen sind die einzelnen Sammelgebiete berücksichtigt, es wird auch der Direktor genannt. Größeren Museen werden dann drei Seiten Text eingeräumt. Auf 30 Seiten werden freie Ausstellungsorte
(nichtkommerzielle Initiativen) vorgestellt und beschrieben. Eine Zusammenfassung in englischer
Sprache beschließt den offiziellen Teil. Ganz am Ende (dort hört dann aber die Paginierung schon
lange auf) werden die Künstler alphabetisch aufgelistet, dazwischen liegt ein mit „Adressenregister"
überschriebener Annoncenteil.
SchB.
Bernard von Brentano: „Wo in Europa ist Berlin? Bilder aus den zwanziger Jahren", 222 Seiten, 9
Abbildungen, Insel Verlag, 1981.
„In Buchform erscheint, was damals hervorragender Tagesjournalismus war, heute Kulturgeschichte
ist, nun zum erstenmal", sagt der Klappentext. Zur Kulturgeschichte kann es erhoben werden, da der
Autor damals das scheinbar schnell Vergängliche gültig und einmalig festzuhalten strebte. Er suchte
als Berlin-Korrespondent der Frankfurter Zeitung das verborgene Berlin zu erspähen. Die Feuille217
tons der einzelnen Monate des Jahres 1926 stellte er zu einem Buch zusammen, dessen Titel heute
provozierend aktuell klingt.
Von kulturgeschichtlichem Wert sind die Echos auf Filmpremieren jener Zeit, z. B. Chaplins „Goldrausch" oder „Faust" oder „Metropolis" und die russischen Filme wie die Darstellung des Weltkrieges
in einem Ufa-Film. Schon damals vermißte er Vergangenheitsbewältigung und nahm kritisch Stellung
zu einem Hetzfilm, aber auch der allzu breit angelegten Wirkung sowjetischer Filme, die ihre Zeit so
überaus beeindruckten. — Wir betrachten beim Lesen Augenblicksbilder berlinischer Örtlichkeiten
wie der Waisenbrücke, der Kirchstraße in Moabit, vieler Wohnhäuser auf dem Wedding und reizvoller
Augenblicke am Wittenbergplatz, besuchen mit ihm eine Zwangsversteigerung. — „Berlin — von Süddeutschland her gesehen", schildert das Tempo der Stadt, schildert in bündigen Aussagen die Mode
jener Jahre, wie sie den Kurfürstendamm „republikanisch" machte. Er setzte die junge Generation
dort in Beziehung zum neuen Erscheinungsbild, erspürte ihr Sich-Anpassen wie ihre Lebensfreude.
Der Berlinbericht, der der Sammlung den Titel gab, handelt von der verfehlten Landung der Flieger
Chamberlain und Levine in Cottbus statt in Tempelhof, wo sie die Presse vergeblich erwartete. In groteskem Gegensatz zum weltverändernden Ereignis steht das menschenleere Berlin, weil die Polizei
die Zuschauer von den Straßen getrieben hatte; die Ankunft auf der Wiese von Cottbus war banal.
Während das offizielle Berlin sich zum Empfang bereithielt, ist der Niederschlag des Großartigen und
Kühnen in die Unscheinbarkeit verlagert. „Dieser Kampf (mit dem Element) ist ein Wurf in den Himmel." (108)
Von präzisester, feinster, fast expressionistischer Prosa ist ein Kurzbericht von der Funkausstellung
1926 unter dem Funkturm. „Zu beobachten, wie die Stadt langsam im Spiel der Natur verschwindet,
ausgelöscht wird aus der Welt der aufziehenden Nacht und ihr zum Trotz in sich selber erwacht. Ihre
Lichter ansteckt, ihre Straßen verdoppelt anfüllt mit Menschen, Autos, Wagen, Geschrei, Bewegung
und Musik, um sich dann erst zu beruhigen, wenn der Wächter auf diesem Turm längst schon den
blauen Morgen aufziehen sieht." (127)
Hellsichtig und unbeeindruckt von der Tagespropaganda beleuchtet er die deutsch-französische Verständigung und stuft Paul Valerys Versuch als hilflos ein, solange die historischen Ursachen nicht
erfaßt sind: „Die Fragen unserer Zeit sind gegeben. Sie heißen nicht nur Deutschland und Frankreich,
sie heißen auch Europa, Rußland, Amerika, Krieg und Friede, Sozialismus, Faschismus, und reihenweise könnte man hier Worte hinschütten, von denen noch jedes einzelne ein Problem ist. Dazu eine
Anwort zu formulieren, wird eine Aufgabe der Schriftsteller sein, wie sie es immer gewesen ist." — So
hat Verf. dem kritischen Anspruch aus europäischer Sicht durchaus entsprochen. Noch waren es ja die
„guten Jahre" der Weimarer Republik.
Christiane Knop
Eckart Kleßmann: „E. T. A. Hoffmann oder die Tiefe zwischen Stern und Erde. Eine Biographie",
592 Seiten, zahlreiche Abbildungen, meist von Hoffmann selbst, auch zeitgenössische Stiche und
Zeichnungen, Anhang mit Register, Anmerkungen und ausführlicher Bibliographie, Deutsche
Verlags-Anstalt, Stuttgart 1988.
Wer das stoffreiche Buch durchgearbeitet hat, meint zu Recht, eine gründliche und für die Hoffmannforschung relevante Studie vor sich zu haben; der Autor legt sie nach jahrelanger Beschäftigung mit
der Gestalt des Dichters vor. Er will vom Klischee des bloßen Gespenstersehers, Exaltierten und von
der bloß lokalpatriotischen Assoziation des Mannes vom Gendarmenmarkt und bei Lutter und
Wegener loskommen. Der Untertitel „Tiefe zwischen Stern und Erde", einem Wort Jakob Böhmes
entnommen, zielt auf den Romantiker Hoffmann in seiner Gespaltenheit zwischen Selbstgewißheit
und Weltfremdheit und begleitet ihn in gründlich durchgeführten Interpretationen seiner Dichtung
und Musik auf dem Weg seiner Schönheitssuche und seinem Ringen um geistige Transzendenz. Am
Ende erkennt man seine Erzählkunst als Glieder einer Kette, darin er den Ausweg aus seinem Leiden
am gedemütigten und verletzlichen Ich und der Ahnung dämonischer Schicksalstiefen sucht. Dies
haben, so scheint es, seine Zeitgenossen und einige spätere Biographen verkannt. Über sie hinausgehend macht Verf. den anspruchsvollen Versuch, in des Dichters Lebenslauf und in seiner schrecklichen Todeskrankheit die Spur eines tapferen Schicksals zu finden, die das Außergewöhnliche selbst
218
formte. Neuartig ist es, das Künstlerische bei Hoffmann von seiner Musik und seiner Dichtung her
zugleich zu erschließen. — Der Berliner ist leicht geneigt, den Erzähler Hoffmann vom „Eckfenster"
am Gendarmenmarkt höher zu werten als den Bamberger Theaterleiter und Komponisten, weil er ihn
so besser kennt; der Jurist am Kammergericht steht dahinter ganz und gar zurück. Hier wird nun der
historisch Interessierte hineingenommen in Hoffmanns Hin- und Hergeworfenwerden zwischen seinen verschiedenen Lebensstationen seit seiner unglücklichen Kindheit. Es geht von der Residenzstadt
Berlin um 1800 in die öde Provinz, nach Bamberg und Warschau, und wieder zurück ins Berlin der
beginnenden zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts. Die dichterische und künstlerische Vollendung
bringt diese späte Berliner Zeit. Die Kehrseite seines Beamtendaseins am Kammergericht freilich ist
bei Hoffmanns häufiger Krankheit und Geldnot das „Hungern in Berlin", wie ein Kapitel überschrieben ist.
Hoffmanns biographische Landschaft ist von verschiedenen Profillinien geprägt: von seiner musikalischen Laufbahn als Theaterleiter in Bamberg, vom Wandel des gesellschaftskritischen Erzählers seit
dem „Kreisler" bis zum „Meister Floh". Es ist dies ein Reifen von bizarrer Wunschwirklichkeit zu geistiger und künstlerischer Realität, die sich gültiger in seiner Erzählkunst als in seiner Musik niederschlägt, obschon hier Hoffmann als einer der frühen romantischen Komponisten geistlicher Musik
gewürdigt wird. Er schuf sich in Erzählung, Märchen und Roman eine eigne Kosmologie, ein Geisterreich aus zaubrischen Gestalten, luziden Bildern, betörenden Klängen und tröstlichen Träumen; über
allen steht die Verheißung: „Durch das elfenbeinerne Tor kommt man ins Reich der Träume". Verf.
verfolgt dieses Reifen, indem er es festmacht an den klassisch-germanistischen Interpretationen vom
„Ritter Gluck", „Die Elixiere des Teufels", „Kater Murr", „Der Goldene Topf, „Klein-Zaches",
„Die Abenteuer der Silvesternacht" bis hin zu „Meister Floh".
Er verfolgt die sinngebenden Leitmotive von Menschmaschine, Eingeschlossensein des Menschen in
die Erdtiefe („Bergwerk von Falun") und die Motive von Spiegelbild und Schatten als Sinnbildern für
das Ringen um Identität, wie das für viele Erzählungen der Romantiker wesentlich ist.
Das ganze Geflecht seiner Verwobenheit in die Wirksamkeit seiner Zeitgenossen in Berlin wird dargelegt, es sind dies die Kreise der Romantiker, die Freundschaft mit Devrient wird ausgelotet und
seine Tätigkeit in der Kommission zur Behandlung „hochverräterischer Umtriebe" beschrieben, die
den Fall Friedrich Ludwig Jahn betraf, mit dem Hoffmann befaßt war. Der eigentlich unpolitische
Dichter wird durch seine aufrechte Haltung als juristischer Beamter hineingezogen in das politische
Getriebe der Reaktionszeit. (Nur seine Krankheit zum Tode hat ihn vor der Strafversetzung in die
Provinz bewahrt.)
So erlangte der preußische Dichter Hoffmann in seiner Berliner Zeit europäischen Rang.
Der ausführliche Anhang verweist auf die Fülle der verarbeiteten Sekundärliteratur und Quellen,
auch der musikalischen.
Christiane Knop
219
Veranstaltungen im IV. Quartal 1993.
1. Freitag, den 22. Oktober 1993, 19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Professor Dr.
Pierre-Paul Sagave, Universität Paris: „Paris — Berlin, Stadtentwicklung einst und jetzt".
Pommernsaal des Rathauses Charlottenburg. (Bitte beachten Sie Wochentag und Veranstaltungsraum).
2. Mittwoch, den 10. November 1993,16.00 Uhr: Auf allgemeinen Wunsch Wiederholung
des Besuches der Ausstellung „Berlin, 17. Juni 1953". Führung Herr Andreas Mahal,
Landesarchiv, Kalckreuthstraße 1/2.
3. Montag, den 15. November 1993, 19.30 Uhr: Lichtbildervortrag der Damen Kerstin
Hentschel und Martina Jesse: „Die Friedhöfe der Evgl. Georgen-Parochial-Gemeinde".
Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg.
4. Sonnabend, den 11. Dezember 1993,17.00 Uhr: Geselliges Beisammensein im Advent in
den Historischen Weinstuben im Knoblauch-Haus neben der Nikolaikirche, Berlin-Mitte,
Poststraße 23. Menü: Berliner Erbsensuppe mit kleinem Würstchen — Sauerbraten in
Rosinensauce mit Apfelrotkohl und Kartoffelkl. — Schokoladenspeise mit Weinbrand
verfeinert und Sahne garniert. 34 DM. Auf Wunsch Hühnerfrikassee. Telefonische
Anmeldungen unter 8 54 58 16 ab 19.00 Uhr bis zum 6. Dezember.
Bibliothek: Berliner Straße 40, 10715 Berlin, Telefon 87 2612. Geöffnet: mittwochs 16.00 bis
19.30 Uhr.
Vorsitzender: Hermann Oxfort, Breite Straße 21, 13597 Berlin, Telefon 3 33 2408.
Geschäftsstelle: Frau Ingeborg Schröter, Brauerstraße 31,12209 Berlin, Telefon 77234 35.
Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Berndt, Seestraße 13, 13353 Berlin, Telefon 45 09-264.
Schatzmeister: Karl-Heinz Kretschmer, Greveweg 6, 12103 Berlin, Telefon 7 53 42 78.
Konten des Vereins: Postgiroamt Berlin (BLZ 100 10010), Kto.-Nr. 433 80-102, 1000 Berlin 21;
Berliner Bank AG (BLZ 100 200 00), Kto.-Nr. 03 81801 200.
Die Mitteilungen erscheinen vierteljährlich. Herausgeber: Verein für die Geschichte Berlins, gegr.
1865, Schriftleitung: Günter WoUschlaeger, Kufsteiner Straße 2,10825 Berlin; Dr. Christiane Knop,
Rüdesheimer Straße 14, 13465 Berlin; Beiträge sind an die Schriftleiter zu senden.
Abonnementspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag gedeckt. Bezugspreis für Nichtmitglieder: 16 DM
jährlich.
Herstellung: Westkreuz-Druckerei Ahrens KG Berlin/Bonn, 12309 Berlin.
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Schriftleitung.
220
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A 1015 F
MITTEILUNGEN
DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS
GEGRÜNDET 1865
90. Jahrgang
Heft 1
Januar 1994
Heraldische Reliefs an der Westfront des Reichstagsgebäudes
Heraldische Ungereimtheiten am Berliner Reichtagsgebäude
Alte Sünden und neue Nutzung durch den Deutschen Bundestag
Von Eckart Henning
Der Umbau des Reichstagsgebäudes zum Sitz des Deutschen Bundestages im Berliner Bezirk
Tiergarten kann frühestens von 1995 an erfolgen, da für 1994 „noch keine Mittel in den Haushalt des Bauministeriums eingestellt" worden seien.1 Daher kommen wohl diese Erinnerungen
an die einst emotional geführte Debatte2 und den „heraldischen Schmuck des Reichstagshauses" der Jahre 1895—99 nicht zu spät, um beim Umbau noch Berücksichtigung zu finden.
Als Paul Wallot in den Jahren 1884—94 „den Millionenbau" (Abb. 1) errichtete und es um die
Gestaltung und Gliederung der gewaltigen Fassadenflächen ging, versäumte er leider, heraldischen Rat bei Fachleuten einzuholen: „Wollte er vor dem nicht mehr unbedeutenden Häuflein
der Wissenden sich keine Blöße geben, so mußte er sich mit der Heraldik näher bekannt
machen; es standen ihm nicht allein eine gute Anzahl von Lehrbüchern zur Verfügung,
sondern es hätte nur eines Wunsches bedurft, um zahlreiche Kenner der heraldischen Kunst
zu bewegen, sich ihm dienstbar zu machen".3 Aus diesen Sätzen von Heinrich Ahrens
(1845—1904) spricht nicht nur die gekränkte Eitelkeit des verschmähten Spezialisten4, der sich
über „eine fast wegwerfende Nichtachtung" durch den Architekten beklagt und sich nun dafür
rächt, indem er alle die „argen, so unglaublichen heraldischen Fehler" aufzählt, die sich die
Steinmetzen am Reichstag haben zuschulden kommen lassen, sondern auch ein Patriot, der die
heraldische Effekthascherei an einem so wichtigen Bau wie dem Reichstag tadelt bzw. dem
„widerwärtigen Protzen- und Gigerlthume unserer Zeit" zuschreiben zu können meinte.''
Nun ist der heraldische Schmuck des Reichstagsgebäudes im Innern durch den Reichstagsbrand (1933) und außen durch die Beschädigungen des Zweiten Weltkrieges (1944/45) bzw.
beim Wiederauf- und -ausbau (1957—73) inzwischen weitestgehend verloren gegangen, so
daß dadurch das heraldische Sündenregister Wallots bzw. seiner Bildhauer erheblich kürzer
geworden ist.6 Die noch verbliebenen Mängel am „Leichenwagen erster Klasse", wie Stadtbaurat Ludwig Hoffmann den Reichstagsbau einst bezeichnete7, beschränken sich im wesentlichen
auf die dem früheren Königsplatz bzw. Platz der Republik zugewandte Westfront (Abb. 2).
Sieht man vom Giebelfeld Fritz Schapers (1841—1919) einmal ab, der „bei seinen klassizistischen Anschauungen den rein germanischen Geist, der dem Wallofsehen Werk aufgeprägt ist,
nicht verstanden" habe, wie sein Apologet Maximilian Rapsilber fand8, so sind doch unterhalb
davon — links und rechts des Portikus I — zwei restaurierte heraldische Wandreliefs stehengeblieben, die jedem Betrachter ins Auge fallen, der die fast vierzig Stufen zu der von sechs
Säulen getragenen Vorhalle heraufsteigt. Rapsilber nannte diese bis zur Architravhöhe reichenden Wappenreliefs, die der Bildhauer Otto Lessing (1846—1912) 1893/94 „nach den
Zeichnungen Wallot's modelliert" habe1*, „umso erfreulicher". Er vergaß allerdings hinzuzufügen, daß Lessing die Ausführung zweimal wiederholen mußte, bis Wallot damit zufrieden war,
was sich dieser nur leisten konnte, „weil es direkt von Künstlern und deshalb sehr billig zu
machen gewesen sei".10
Die linke Fläche zeigt eine Eiche, die rechte eine Fichte, an denen die kronentragenden Wappenschilde der deutschen Bundesstaaten aufgehängt sind. Es handelt sich — vgl. unser Schema
(Abb. 3) — um die Schilde von vier Königreichen (1—4), sechs Großherzogtümern (5—10),
drei Herzogtümern (11—13), fünf Fürstentümern (14—18), drei Freien Reichsstädten (19) und
zwei Reichslanden (20). Gegen den heraldischen „Regieeinfall", die Schilde an diese „deut222
Abb. 1: Grundriß des Reichstagsgebäudes
sehen" Bäume zu hängen, wäre wenig einzuwenden, wenn es sich nur um Schilde handeln
würde, doch ihre Kronen passen schon deswegen nicht ins Bild, weil sie von den Bäumen fallen
würden, auch sind es keine Rangkronen, die in der Heraldik an die Stelle des Oberwappens
(Helm, Helmzier und -decken) treten könnten - sondern reine Phantasieprodukte. Die
Schilde selbst stellen eine bunte Mischung verschiedenster Formen dar; so gibt es gotische
Schilde aus dem 14., unten abgerundete aus dem 15. und geschweifte aus dem 17./18. Jahrhundert zu sehen, also wirklich „gemischten Historismus" in Reinkultur. Ärgerlicher ist
jedoch, daß an den Wandflächen die Wappen von zwei der damaligen Bundesstaaten ganz und
gar fehlen, nämlich die der Herzogtümer Sachsen-Coburg-Gotha und Sachsen-Altenburg.
Ferner fehlen die beiden Fürstentümer Schwarzburg-Sondershausen und Reuß jüngere Linie,
bei denen man allerdings geltend machen könnte, daß sich die Wappen von Schwarzburg-Sondershausen und Schwarzburg-Rudolstadt nahezu11, und Reuß ältere und Reuß jüngere Linie
vollständig gleichen, doch auch die Wappen der beiden Großherzogtümer MecklenburgSchwerin und Mecklenburg-Strelitz entsprechen sich weitestgehend12, wurden aber inkonse223
quenterweise doppelt wiedergegeben. Die Wappenschilde der drei freien Hansestädte sind in
einem geteilten, in der oberen Hälfte gespaltenen Schild vereint dargestellt worden, obwohl
natürlich jeder Stadtstaat einen eigenen Schild zu beanspruchen gehabt hätte (Lübeck weist
außerdem eine rote Farbschraffur auf, die bei den beiden anderen Städten gar nicht erst vorgesehen war). Auch Lothringen und das Elsaß mußten sich einen gemeinsamen Schild teilen.
Ganz durcheinander geht die Wappengröße bzw. -qualität an den beiden Bäumen und dies
sicherlich nicht nur aus künstlerischen Gründen: Bekanntlich stehen den Bundesstaaten je
nach Anlaß ein großes, ein mittleres oder ein kleines Landeswappen zu Gebote (wie den meisten Bundesländern auch heute): bei den größeren Staaten fanden am Reichstag aber unmotiviert nur die kleinen Wappen Verwendung (so erscheint Preußen mit dem Adler-, Bayern mit
dem Rauten- und Sachsen mit dem Balkenschild), bei einigen kleineren Staaten aber die großen Wappen (so treten Sachsen-Weimar und beide Mecklenburg sechsfeldrig mit aufgelegtem
Mittelschild in Erscheinung). Merkwürdigerweise bildete man ausgerechnet die kleinen Wappen der vier Königreiche aus Gründen politischer Symbolik optisch vergrößert ab (was allenfalls ihren großen bzw. „vermehrten" Schilden gut bekommen wäre), nicht aber die großen
einiger sonstiger Bundesstaaten des Deutschen Reiches, die dafür kleiner gerieten — eine ausgleichende heraldische Gerechtigkeit?
Beide Bäume am Reichstag, Eiche und Fichte, fungieren als Stammbäume13, doch sollten dann
— dem Prinzip des Wachsens entsprechend — die Schilde der ältesten deutschen Staaten unten
und die der jüngeren weiter oben angebracht worden sein, was leider nicht durchgängig der Fall
ist. Auch die „Bewohner" der Zweige, Knaben und Männer als Schildhalter, die die Bäume in
den verschiedensten Körperhaltungen (nämlich breitbeinig, sitzend oder hervorwachsend)
„bevölkern", sind durchaus überflüssig, da doch aufgehängte Schilde gar keine Schildhalter
benötigen (notabene hatte z.B. Preußen „wilde Männer", während in anderen deutschen Staaten noch heute Löwen, Bären, Greifen, Adler, Hirsche usw. als Schildhalter vorkommen). Hinzugefügt sei noch, daß die beiden heraldischen Stammbäume in der Literatur auch als „Flußreliefs"14 bezeichnet werden, wohl weil sich am Fuße der Eiche ein guterhaltener Greis ausruht,
der den „Vater Rhein" versinnbildlicht, während sich am Fichtenfuß eine füllige Schönheit
lagert, die die Weichsel verkörpern soll.
Von Lessing, der „wohl der am meisten beschäftigte Künstler am Bau des Reichstags" gewesen
ist15, stammt übrigens auch das Denkmal des Dichters Gotthold Ephraim Lessing in Berlin an
der ehem. Lennestraße im Tiergarten, dessen Urgroßneffe er war, ferner schuf er einen Teil der
Terrakottareliefs am Martin-Gropius-Bau und den Zierschild im Giebel des ehem. Reichsmilitärgerichtes in der Witzlebenstraße; in Leipzig hat Lessing am Bau des Reichsgerichts mitgewirkt.
Doch wie reagierte der Reichstag nun selber auf die Kritik an seinem Gebäude, das selbst Kaiser Wilhelm II. als „den Gipfel der Geschmacklosigkeit" (1893)16 empfand ? Das zeigt sich am
besten in der Verhandlung vom 1. März 1899 und noch deutlicher in der Etatdebatte vom
20. März 1899, die nicht nur an einem Entwurf von Franz v. Stuck und an den Wahlurnen
Adolf v. Hildebrands Anstoß nahm, sondern auch unversehens zu einer Abrechnung mit den
heraldischen Fehlern geriet, in deren Folge Geheimrat Wallot dann zum 1. April vom Vorsitz
der „Ausschmückungskommission" zurücktrat. Darin bemerkte der Führer des Zentrums,
Ernst Maria Lieber, unter Hinweis auf die erwähnte Schrift von Ahrens: „Aber, meine Herren,
wenn man an einem monumentalen Bau deutscher Reichstagsgesetzgebung deutsche Staatsund Stadtwappen anbringt, dann dürfte doch die Forderung voll berechtigt sein, diese Wappen
historisch und heraldisch richtig darzustellen. Hier ist kein Platz für Phantasiewappen, und hier
ist auch kein Platz für Phantasiekronen".17
224
Abb. 2: Aufriß der Westfront
Mit meinen Bemerkungen greife ich nur einen kleinen Teil der Kritik auf, die sich auf den noch
vorhandenen heraldischen „Schmuck" der historischen Westfront des Reichstags bezieht, die
nicht nochmals restauriert, sondern sachkundig korrigiert werden sollte, während an der Ostfront des Gebäudes die heutigen Wappen der Länder der Bundesrepublik Deutschland angebracht bzw. in Stein gehauen werden könnten.
Da sich sowohl die Jury des Wettbewerbs als auch die Bau- und Konzeptkommission des Bundestages für den Umbauentwurf des britischen Architekten Sir Norman Forster entschied, der
den Reichstag leider nicht mit einer Kuppel (wie es der 2. Sieger Santiago Calatrava vorschlug),
sondern mit einem flachen, in das Gebäude integrierte Glasdach versehen wird, bleibt zu hoffen, daß er neuen symbolischen Schmuck, wie ihn die Hoheitszeichen der Länder darstellen,
nur unter der Aufsicht eines wappenkundigen Beraters anbringen läßt. Dafür ist es allerdings
erforderlich, daß sich die Bundesbaudirektion — anders als Wallot — mit Heraldikern verbündet, die sie berät.18 Der Bundestag selbst hat sich noch nicht entschieden.
Anschrift des Verfassers:
Professor Dr. Eckart Henning M.A.,
Hüninger Straße 52 H, Telefon (0 30) 8 3170 52
14195 Berlin-Dahlem
225
Anmerkungen
1 Nach einer Meldung des Berliner Tagesspiegels Nr. 14621 vom 21. Juli 1993, Seite 8.
2 Vgl. Titelnachweise bei Eckart Henning/Gabriele Jochums: Bibliographie zur Heraldik, Köln/
Wien 1984, S. 123,128,136,140. — Die wichtigste Literatur zur Baugeschichte des Reichstags, s.
Verena Haas/Stephan Waetzoldt: Bibliographie zur Architekturgeschichte des 19. Jahrhunderts,
Nendeln 1977 (222 Gebäude-, 152 Wallot-Titel).
3 Heinrich Ahrens: Das deutsche Reichstagshaus in seinem heraldischen Schmucke und seine
Inschriften, in: Vierteljahrsschrift Herold 23 (1895), S. 419-461, hier S. 419 (auch als Sonderdr.,
Hannover 1896). Vgl. von dems.: Der heraldische Schmuck des Reichstagshauses, in: Heraldische Mitteilungen 10 (1899), S. 51-54.
4 Jürgen Arndt: Biographisches Lexikon der Heraldiker, hrsg. vom Herold, Neustadt/A. 1992,
S. 2 (= J. Siebmachers Großes Wappenbuch, Band H).
5 Ahrens (wie Anm. 3), S. 420.
6 Vgl. allgemein Michael Steven Cullen: Der Reichstag. Geschichte eines Monuments, Berlin
1983, und Heinz Raack: Das Reichstagsgebäude in Berün, Berlin 1978, ferner Jürgen Schmädeke: Der Deutsche Reichstag, 2. Aufl. Berlin 1976.
7 Nach Cullen (wie Anm. 6), S. 32.
8 Maximilian Rapsilber: Das Reichstagshaus in Berlin. Eine Darstellung der Baugeschichte und der
künstlerischen Ausgestaltung des Hauses, Berlin 1894, S. 73. Vgl. dazu noch allgem. Heraldische
Mitteilungen 8 (1895), S. 5, und zum Giebelfeld ib. 10 (1899), S. 74-76.
9 Rapsilber (wie Anm. 8), S. 73. Nach Cullen (wie Anm. 6), S. 29 soll die Westfront von Wallot erst
1891 detailliert festgelegt worden sein.
10 Cullen (wie Anm. 6), S. 30.
11 Beim ersten ist lediglich das Regalienfeld golden, beim letzten silbern.
12 Der hier unberücksichtigt gebliebene Unterschied zwischen den beiden Wappen Mecklenburgs
zeigt sich im 5. Feld, in dem sich die Herrschaft Stargard darstellt: der aus der oberen linken Ecke
des Feldes hervorkommende, mit einem Puffärmel am Oberarm und zwei fliegenden Bändern am
Unterarm bekleidete menschliche Arm ist Mecklenburg-Schwerin vorbehalten, während derjenige bei Mecklenburg-Strelitz aus einer Wolke kommt und am Puffärmel eine fliegende Schleife
aufweist.
13 Vgl. die Auffassung der Deutschen Bauzeitung 28 (1894), S. 579, und Richard Streiter: Zur
Baugeschichte des Reichstagshauses. Schluß-T, in: Zentralblatt der Bauverwaltung 14 (1894),
S. 497—500, hier S. 498. — Warum übrigens Raack (wie Anm. 6), S. 108, die Fichte erstmals als
„Kiefer" bezeichnet, ist nicht ersichtlich.
14 Cullen (wie Anm. 6), S. 30.
15 Cullen (wie Anm. 6), S. 180.
16 Äußerung auf einer Italienreise des Kaisers, die er anläßlich der Silberhochzeit König Umbertos
unternahm, vgl. Berliner Tageblatt v. 29. April 1893. Die noch prägnantere Formulierung Wilhelms II., der den Reichtstag bekanntlich als „Reichsaffenhaus" bezeichnete, dürfte politische,
keine ästhetischen Gründe haben; sie findet sich im Brief an Eulenburg v. 9. Dezember 1894 (vgl.
Philipp Eulenburgs politische Korrespondenz, hrsg. von John C G . Röhl, Bd. 2:1892—95, Boppard/Rh. 1978, S. 1424).
17 Vgl. die Stenographischen Berichte über die Verhandlungen des Deutschen Reichstags,
10. Legislaturperiode 1898/1900, Bd. 2, Berlin 1899, S. 1632 und insbesondere Heraldische Mitteilungen 10 (1899), S. 29-32 mit ausführlichen Zitaten aus der Etatdebatte (oben, S. 31).
18 Sachkundigen Rat erteilt in Deutschland u. a. der älteste überregional ausgerichtete Verein
„Herold" für Heraldik, Genealogie und verwandte Wissenschaften (gegr. Berlin 1869). Sein
damaliger Vorsitzender Stephan Kekule v. Stradonitz äußerte in der Vereinssitzung vom 31. März
1899 übrigens, daß er „glatt und ohne Gewissensskrupel den Stab über die Heraldik des Reichstagsbaus breche. Der Architekt operiert mit Formen, die er nicht kennt und die kennenzulernen er
mit künstlerischer Überlegenheit verschmäht; er verwendet diese Formen in einer Weise, die
sinnlos und darum anstößig ist" (vgl. Heraldische Mitteilungen 10, 1899, S. 51—54, hier S. 52).
226
Eichen- bzw. Rheinrelief
19
13
11
Hzgt.
Braunschweig
7
5
Ghzgt.
Mecklenbg.
-Schwerin
3
18
16
Hzgt.
Anhalt
Kgr.
Preußen
1
9
Freie Städte
Lübeck/Bremen
/Hamburg
Fst.
Waldeck
Ghzgt.
Baden
Kgr.
Sachsen
Ghzgt.
Sachsen
-Weimar
Fst.
Schaumburg
-Lippe
Fichten- bzw. Weichselrelief
Reichslande
Elsaß u.
Lothringen
20
14
12
Kgr.
Bayern
2
10
8
4
15
Fst.
Schwarzburg
-Rudolstadt
Hzgt.
SachsenMeiningen
6
Ghzgt.
Mecklenbg.
-Strelitz
17
Fst.
Reuß ä.L.
Ghzgt.
Hessen
Kgr.
Württemberg
Ghzgt.
Oldenburg
Fst.
Lippe-Detmold
Abb. 3: Schema der heraldischen Reliefs an der Westfront des Reichstagsgebäudes
(nach H. Ahrens, ergänzt von E. Henning)
227
Wilhelm Raabes „Im alten Eisen" — ein berlinischer Roman?
Von Christiane Knop
Für viele Leser ist Raabe vor allem der Dichter der „Chronik der Sperlingsgasse". Und da er
darin eine bis zu ihrer Kriegszerstörung real nachzuvollziehende Berliner Örtlichkeit schilderte, lag es nahe, den Autor hauptsächlich als Schilderer Berliner Lebens und seiner kleinbürgerlichen Gesellschaft im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts anzusehen. Die literaturwissenschaftliche Forschung hat diesen Sachverhalt längst differenzierter dargestellt. In der Wertung
des gesellschaftlichen und zeitkritischen Gehalts seiner Dichtung ist Raabe in Fontanes Nähe
gerückt worden, dessen geistiges Schwergewicht, Tiefe und Komplexität aber evidenter sind.
Und dies erscheint so, je mehr Fontanes Alterskunst in den Mittelpunkt aller Betrachtungen
tritt. Gemessen an seiner anspruchsvollen Erzählweise erscheint das geschilderte Leben in der
„Sperlingsgasse" eine liebenswerte Spitzweg-Idylle. Allerdings stört ihre behaglich breite Ausmalung und die Aufschwellung mit romantischen Einschüben die leichte Lesbarkeit. Hat man
sich aber „eingelesen", stößt man auf einen weitaus komplizierteren und tiefgründigen Erzähler, als es anfangs scheint. Raabe ist ein Erzähler, dessen Gesamtwerk von tief pessimistischer
Lebenserfahrung durchzogen ist. Man hat darauf verwiesen, daß er diese Erfahrung von Schopenhauers philosophischem System ins Licht gehoben fand; einige Romane können so gedeutet werden; später rückte er von diesen Aussagen wieder ein wenig ab. Was den dichterischen
Wert anbelangt, so stehen seine Dingsymbole über der philosophischen Deutung; vor allen sei
hier das des „Schüdderump" genannt, des Karrens für die Pestleichen, der unbekümmert um
menschliches Glücksstreben und menschliches Leid über alle hinwegrollt. Er ist der unbarmherzige und grausam-gleichgültige Schicksalswagen. Ein gleichartiges Dingsymbol meint das
„alte Eisen" als Leitbild für den „Kehrricht des Lebens". Es heißt also, über die scheinbare
kleinbürgerliche Behäbigkeit und Verklärung von Leben und Gestalten in Raabes Dichtung
vorzudringen bis auf die Tragödie des Weltlaufes überhaupt. — Schon in seinen literarischen
Anfängen in der „Sperlingsgasse" ist das Dachstuben-Idyll nur ein scheinbares Glück. „Es ist
eigentlich eine böse Zeit!" ist seine Grundstimmung. Die Traumbilder des vergangenen
Jugendglücks werden bewußt und in therapeutischer Absicht gegen die dunkle Folie des
Altersleidens gesetzt.
Es ist ferner darauf verwiesen worden1, daß, wenn Raabe Menschenschicksale beschreibt, seine
lebengestaltende und ins Große greifenden Lebenskräfte verzehrt werden von einer persönlichen organischen Schwäche, die ihn vom Handeln abzieht. Als deren Prototyp habe er selbst
auf die Figur des „Stopfkuchens" verwiesen, des unheldischen Helden, der „immer schwach
auf den Füßen" war. Seine faultierhafte Schwäche hat Stopfkuchen in die Einsamkeit gebracht,
wo er sich vorm Leben buchstäblich verschanzt und in sich selbst vergraben hat. Aber die phlegmatische Schwäche ist ihm zur Stärke geraten; in äußerlicher Ruhe vorm Lebenszugriff hat er
die innere Kraft zur Aufklärung von Menschenschicksalen entfaltet; er wurde ein Weltweiser,
der im Leiden am Leben standhält. Die meisten Raabeschen Romane haben einen solchen
Weisen zum „Helden".
Es gibt vom Menschen Raabe keine weltbewegenden Lebensdaten zu berichten; er lebt in seinem Werk verborgen und muß dort aufgesucht werden. — Geboren 1825, also im Vormärz,
seine Jugend in der Kleinstadtenge von Holzminden und Wolfenbüttel verbringend, schließlich „lesend und grübelnd in Magdeburg", wie er selbst sagt, so tritt er sein bewußt gestaltendes
Leben erst in Berlin an. Er kam 1854 nach Berlin und hat 1856 die „Chronik der Sperlingsgasse" veröffentlicht, die ihn bekannt machte. Später führte er ein normales Bürgerdasein in
228
Braunschweig (1870 bis 1910) und Stuttgart und starb 1910. — Das Unbürgerliche seiner Existenz liegt in dem Wagnis, ein Schriftstellerdasein bei so eingezogenem Leben führen zu wollen,
und zwar ein reiches. Er hat in sechs Jahrzehnten seines Wirkens 68 Romane und Erzählungen
voll hintergründiger Tiefe geschrieben! — Die „Chronik der Sperlingsgasse" ist einer seiner
beliebtesten Romane, nicht aber sein wertvollster. Hinter der darin vorgebundenen Maske des
Biedermeierlichen bildete er die Kraft zur Bewältigung des Tragischen erst aus, gelingen sollte
sie ihm im Alter. Da ersetzte er das Weitausgreifende des Lebens durch die Entfaltung des Seelischen; er brauchte, wie Fontane, Zeit. Nicht nur die in den meisten Erzählungen vorzufindende Erzählerhaltung ist die eines alten Mannes, sondern er mußte selbst ein Alter werden,
ehe er seine anspruchsvolle Aussagekraft ausbildete — wie viele Dichter des Realismus. — „Im
alten Eisen" gehört zu den Spätwerken; als der Roman 1886 erschien, war sein Autor 61 Jahre
alt. In der Lebensphase zwischen 1862 und 1870, seiner mittleren Schaffenszeit, die er in Stuttgart verbrachte, hatte er sich die erzählerische Meisterschaft erschrieben und die Gesetze
romanhafter Gestaltung beherrschen gelernt. Die letzte, die späte Phase von 1870 bis zum Tod
gilt in den Biographien als die Epoche seiner Meisterschaft. Ihre Vergleichbarkeit mit Fontane
ist oft angedeutet, aber selten näher beleuchtet worden. — Die vorliegende Betrachtung soll ein
Beitrag dazu sein und soll in dieser Richtung verstanden werden. Stolte2 sagt: „Daß Wilhelm
Raabe, neben Fontane, ein geradezu geistiges Heimatrecht in Berlin beanspruchen kann, ist
wenig bekannt."
Der Holsten-Verlag hat 1965 drei seiner Erzählungen unter dem Titel „Berliner Trilogie" herausgebracht; es sind „Deutscher Adel" (1877), „Villa Schönow" (1883) und „Im alten Eisen"
(1886).3 Sie gehören nicht ursprünglich zusammen und wurden vom Herausgeber nur ihres
Schauplatzes wegen zu einer Trilogie zusammengebracht. Sie spielen im Berlin der Gründerjahre und haben die sich rasant entwickelnde Mietskasernenstadt als Handlungsraum. — So wie
die Aufarbeitung einiger evangelischer Gemeindegeschichten — etwa die der Zionsgemeinde
erkennt, daß sich in den damaligen Vorstädten Berlins, verborgen hinter konventionellen
äußeren Formen, eine Sozialrevolutionäre Entwicklung auszubilden begann, so läßt sich möglicherweise bei einigen scheinbar unpolitischen Erzählern des Realismus der 80er Jahre ähnliches feststellen. Will man Raabe als berlintypischen Erzähler, vergleichbar Fontane, verstehen,
so müßte die Betrachtung über die konkrete Gesellschaftskritik hinaus seine Daseinsanklage
ins Auge fassen. Sie sollte von gleicher Überzeugungskraft sein, wie sie in den Bildern der
Käthe Kollwitz zu finden ist.
Es bleibt zunächst zu berichten, was Raabe hier erzählt.
Die Handlung begibt sich in einer der Arbeitervorstädte Berlins. Hier ist auf dem Dachboden
einer Mietskaserne die Witwe Erdwine Wermuth, geborene Hegewisch, gestorben und hat ihre
beiden Kinder, einen 12jährigen Jungen und seine kleine Schwester, hilflos und in größter
Armut zurückgelassen. Die Kinder verbringen allein gelassen die nächsten drei Tage bei der
Leiche, nachdem der Junge alles, was zum Leichenbegängnis gehört, nämlich den Weg zum
Armenarzt, Armenvorsteher und Tischler, erledigt hat. Dann hält er mit seiner Schwester bei
der Toten Wache und will sich später mit dem Degen seines Großvaters „in der Welt durchhauen". — Gleichzeitig hält in einem reichen Bürger- und Geschäftshaus der Gründerjahre der
bei Damen hochgeschätzte Privatgelehrte, der Hofrat Dr. Albin Brokenkorb, einen seiner feingeistigen literarischen Vorträge. Aber Brokenkorb, der sonst an die geschmäcklerische Gesellschaft so Angepaßte, fühlt sich auf unerklärliche Weise innerlich angegriffen. Er ahnt, daß ihn
etwas aus seiner Gewohnheit reißen wird. Tatsächlich hat in seiner Abwesenheit ein Unbekannter den Hofrat sprechen wollen; als er ihn nicht antraf, hat er bei seinem Diener statt seiner
Visitenkarte einen Wanderstock aus Weißdornholz abgegeben, in der sicheren Erwartung, daß
229
Brokenkorb ihn wiedererkennen und die darin enthaltene Anspielung verstehen werde. — Dieser Besucher war Peter Uhusen, ein Jugendfreund aus Lübeck, der nach langer Zeit des
Umhergetriebenseins mit Brokenkorb eine alte Rechnung zu begleichen hat.
Als Uhusen am nächsten Morgen wiederkommen will, trifft er auf dem Weg dahin die „Mutter
Cruse", seine alte Theaterprinzipalin. Sie hat in Lübeck eine Wanderbühne geführt; aus dieser
gemeinsamen Jugendzeit kennen sich Uhusen, Brokenkorb, die Cruse und Erdwine Hegewisch. Uhusen ist dann längere Zeit bei ihrer Truppe gewesen und mit ihr nach Amerika gegangen, dann aber eine Zeitlang bei den Soldaten im Sklavenkrieg geblieben. Die Cruse hat nach
dem Tod ihres Mannes in Berlin einen Handel mit Lumpen und Altwaren angefangen und
führt nun im Arbeiterviertel einen Keller, den sie das alte Eisen nennt. Er scheint der tiefste
soziale Abstieg zu sein. — Bei diesem unerwarteten Zusammentreffen erfährt Peter von ihr, daß
Wolfgang Wermuth den Degen seines Großvaters Hegewisch, seinen kostbarsten und letzten
Besitz, im alten Eisen für eine Tüte Sargnägel versetzt hat, die der Tischler braucht, den Sarg
der Mutter zu schließen. Peter und die Cruse erkennen den Degen und seine Bedeutung wieder
und ahnen, daß diese Fügung sie herausfordern wird. So tritt Peter bei Brokenkorb sehr
bestimmt auf und bringt ihn dahin, sich mit ihm und der Cruse gemeinsam auf die Suche nach
den Kindern zu machen.
In der Mietskaserne haben sich die Nachbarn aus Furcht vor Ansteckung zurückgezogen und es
den Kindern allein überlassen, die Tote einzusargen und mit dem Totenwagen zum Friedhof zu
fahren. Es hat sich nur ein befreundetes Straßenmädchen, genannt Rotkäppchen, um sie
gekümmert, etwas Essen gebracht und sich selbst dann wieder unter dem Dachboden versteckt, weil es die Polizei fürchten muß. So finden die Freunde die Wohnung leer und fahren auf
Rotkäppchens Weisung zum Friedhof in der Vorstadt, kommen aber auch hier zu spät, denn in
der frühen Dunkelheit und Winterkälte wegen hat der Totengräber den Sarg in der Grube
abgestellt und will die Beisetzung erst am nächsten Morgen vornehmen. Die Kinder sind fort;
niemand weiß, wo sie geblieben sind; der Totengräber berichtet nur, daß er sie mit Gewalt
davon abbringen mußte, nachts allein auf dem Friedhof bei der Toten Wache zu halten.
In der Nacht erhellt sich in den Gesprächen zwischen der Cruse, Peter und Albin Brokenkorb
die nach der gemeinsam verbrachten Jugend erlebte Vergangenheit. Brokenkorb ist der von
allen Schicksalsschlägen Ausgenommene, der ein bequemes bürgerliches Dasein gewann. Er
hat Erdwine, die ihm anvertraut worden war, verlassen; sie heiratete den lebensuntüchtigen
Hegewisch, der früh starb, nun ist sie ebenfalls früh verstorben. Die beiden anderen sind vom
Lebenskampf zerzaust und bis auf den tiefsten Punkt ihrer Existenz heruntergekommen; die
Cruse haust im Lumpenkeller und handelt mit „dem letzten Abgang des Leben", Peter schlug
sich nach seinen Schauspielerjahren im Sklavenkrieg durch, wurde in Wien Feuerwerker und
heiratete. Aus seinem scheinbar endlich beruhigten Leben riß ihn eine Pulverexplosion; die
eine Gesichtshälfte wurde ihm zerstört, das rechte Auge ist blind geworden, die Hand verstümmelt. Vor kurzem ist seine Frau gestorben, nun ist er wieder ohne bestimmtes Ziel unterwegs,
jetzt spricht er sich bei der Mutter Cruse frei und findet in ihr eine Verstehende.
Beim Begräbnis am nächsten Tag erweisen die Freunde der Erdwine Wermuth die letzte Ehre,
ihre Kinder treffen sie aber wieder nicht an, sie sind fortgelaufen in die Dachstube, wohin ihnen
die Freunde folgen. Am Ende bleibt es Rotkäppchen überlassen, dem Jungen, wie versprochen, seines Großvaters Degen zu bringen. Dann wählen die Kinder sich Peter Uhusen zum
Ziehvater, Wendeline Cruse wird sie alle nach Wien zurückbegleiten, Brokenkorb kehrt in sein
altes Leben zurück.
Diese Handlungsübersicht zeigt, wie ungeheuerlich die Romanidee ist. Eine Weltdüsternis, die
an Schopenhauers Pessimismus erinnert, bestimmt den Ablauf. Es wiederholt sich hier, wie
230
oben erwähnt, der Gestaltungszug aus anderen Romanen Raabes: die Grausamkeit der Menschenschicksale und die Kraft, sie anzugehen, knüpft sich an die organischen Schwächen, und
dies geschieht hier im wortwörtlichsten Sinne: Peter Uhusen hat eine verstümmelte Hand und
ein halbes Gesicht. Der gute Ausgang der Erzählung mindert ihren tragischen Bodensatz nicht;
die Kinder sind allein gelassen bei einer Toten, „Trost und menschliche Hilfe der Welt" bleiben
aus.
Ehe etwas über den Gehalt ausgesagt werden kann, ist zu fragen: Wie ist die Handlung gefügt,
und welche Funktion hat der Erzähler darin? — Der Erzähler stellt mit der Wirform des Verbs
und mit der oft verwendeten Anrede eine Gemeinsamkeit zwischen sich, dem Leser/Hörer
und den Handelnden her; er betont, er sei im rechten Augenblick zur Stelle, und greift — mit
einem Wanderstock — die handelnden Personen im wahrsten Sinne an, er treibt sie absichtlich
zueinander. Leser und Autor erfüllen gemeinsam eine Aufgabe, sie schaffen durch ihr Gegenwärtigsein die Voraussetzungen für alles Geschehen: daß nämlich die Kraft entfaltet werde, die
Kinder ins Leben zurückzuführen, damit sie sich „durchhauen" können. Gemeinsam erheben
sie zur Wirklichkeit, was das Schicksal als Möglichkeit vorgezeichnet hat, nämlich die Menschen auf „einen Haufen zu kehren, wenn es ihm an der Zeit scheint" (382), und dies geschieht
am Ort des alten Eisens.
Vom Erzähler und Zuhörer in ihrer Gemeinsamkeit wird ferner verlangt, daß sie ihrer Verantwortung entsprechen, die ihnen das Schicksal auferlegt hat, das da verlautbart werden soll.
„Wir müssen noch hier hindurch . . . Wer uns den Griffel in die Hand gedrückt hat, trägt die
Verantwortung" (479). — Das Objekt der handelnden Personen ist, mitzuwirken an der
zunächst unsichtbaren Aufgabe, ein altes Jugendversäumnis aufzuarbeiten, „den sauer gewordenen süßen Kinderbrei jetzt zu fressen". — Ist das Schicksal und seine Absicht geklärt, können
Hörer und Erzähler „frei aufatmen in eigner Sache". — Das Unheil der Welt hat sich des Peter
Uhusen bemächtigt und wird ihn als Werkzeug benutzen, weil er von Tod und Teufel frei ist,
und ihn „mit der Nase auf der Menschen mögliche Schicksale stoßen" (372). Der Handlungsablauf bis zu diesem Ziel wird gesehen als eine Tragikomödie unter „unseres Herrgotts Direktion". — Unter diesem Aspekt bekommen die handelnden Personen, die Cruse, das Rotkäppchen und Peter, das besondere Ansehen einer ausersehenen Gemeinschaft mit übergeordnetem Bezug, ähnlich der Gesellschaft vom Turm in der Pädagogischen Provinz; der Leser kann
durch sie „von diesem Keller aus (altes Eisen) die Erde endlich einmal im vollen Lichte liegen
sehen" (386). Wer ihr angehört, muß sich im Lebenskampf ausgezeichnet haben. „Der letzte
Altwarenhändler sortiert da auch und rechnet nicht jeden, jede und jedes nobel zum alten
Eisen" (387). Die Bildkraft und beziehungsreiche Symbolik weisen auf die Nähe zum Sinnbild
der Schusterkugel im „Hungerpastor".
Die Handlung beraubt Albin Brokenkorb der falschen Sicherheit und bürgerlichen Behaglichkeit und führt ihn in die „Abrechnung". Die greifbaren Instrumente einer solchen Abrechnung
sind der Stock und der Degen, die vom Ding zum Dingsymbol werden. Der „Salonvorträgler",
wie Brokenkorb genannt wird, der Mann ohne festen Lebensbezug, wird aus der oberflächlichen Gesellschaft herausgezogen. Ein unerklärliches Unbehagen läßt ihn sich absondern; er
wird durch eine bloße Verstimmung in seiner Existenz beeinträchtigt, so daß er, die nächste
Zukunft unbewußt vorwegnehmend, feststellt: „Ich habe mein Teil" (353). Mit einem Wanderstock, aus einer „grünen Hecke" herausgerissen und mit einer Bocksfratze versehen, steigt
eine lebensvolle Vergangenheit auf, die nun verschüttet ist. Sie faßt ihn wieder „mit eisernem
Griff". Der Knüppel ist grob, er muß es aushalten, daß Brokenkorb sich mit ihm durch das
„Dickicht seiner Lebenspfade arbeiten" muß. Doch wird der Stock schließlich ein Führerstab
in die Wahrheit, nämlich zur Erkenntnis seiner Schuld des verantwortungslosen Egoismus. Er
231
zerbricht, als man die Kinder aus ihrer Not befreit hat. — Mit dem Degen, dem entsprechenden
Dingsymbol, wird der junge Held Wolf Wermuth zum Ritter geschlagen. Der Degen ist die
ererbte Waffe seines Großvaters; auf ihm sind die Schlachten verzeichnet, aus denen er als
Besiegter hervorging. Doch Wolf beschützt mit ihm die kleine Schwester und will sich mit ihm
durch die „Feigheit des Gesindels" — gemeint ist das Proletariat der Mietskaserne — durchhauen. — Zwar gerät auch er zeitweise unter das alte Eisen im Lumpenkeller, in den „letzten
Abgang", und wird somit Abbild für die Menschen, die im Lebenskampf „zerhauen und zerfetzt am Leibe und kummervoll in der Seele und einsam auf dem Wege" sind (391). Das alte
Eisen wandelt sich von der Bezeichnung für den Degen unter Altwaren zum Wort für den Ort,
an dem sich alle Beteiligten zusammenfinden und einander gleich werden. „Und so spielt das
ewige Schicksal mit uns, pökelt uns hier zusammen wie arme Heringe" (446). Als sie dies als ihr
Lebensgesetz akzeptiert haben, wird das Gewölbe des alten Eisens zur „Märchen- und Wunderhöhle", wie es heißt, und hier tritt der Degen in seine ritterliche Funktion.
Immer wieder schwanken die Sinnreden hin und her zwischen der Allegorie des alten Eisens in
seiner Bedeutung als Degen und der des Lumpenkellers. Am Ende, als Wolf seinen Degen wiederbekommen hat und die Kinder im alten Eisen erschöpft schlafen, heißt es, das Schicksal
habe dem Jungen (zuvor) zwar die letzte Waffe aus der Hand geschlagen und sie zum alten
Eisen geworfen, um ihn von da zu seinen Freunden zu bringen und ihm zum Leben zu verhelfen. Sein ritterliches Dasein, das er erträumte, soll darin bestehen, ein Mann „für diese eisernen
Zeiten" zu werden. Dazu soll der geschundene Peter ihn führen. — Hier leuchtet eine weitere
Seite des Symbols vom alten Eisen auf: Mutter Cruse hat eine Weile darin verharrt und abgewartet, daß das Schicksal sie zu einer neuen Aufgabe herausholen soll. Es hat sich ihrer als
Theaterprinzipalin bedient; als solche hat die Cruse wiederum ihrem Peter Uhusen eine Rolle
zugedacht und sich des Verlaufenen bedient. In ihrer „gottergebenen Tapferkeit und Unbefangenheit, Schlauheit und Weisheit" hat sie recht damit getan. Ihr Lebensvertrauen ist im Plan der
Handlung vorgesehen, damit die Freunde erfahren, daß aus „unbekannten Winkeln, seltsamen
Wegen und Umwegen uns die Waffen, die Kräfte und der Mut zurückgegeben werden können".
Raabe setzt sich in diesem Zusammenhang mit der poetologischen Frage nach der höchsten
dichterischen Überzeugungskraft auseinander und bekennt, den Pindar und die alten Griechen könne man wohl nachahmend erreichen, hinter die „künstlerischen Geheimnisse der Tragödie in diesem ungeheuren Gedicht" sei er noch nicht gekommen. „Vom Tage zur Nacht und
von Nacht zu Tage wurden die Wendungen in diesem Buche unbegreiflicher. Je mehr Siegel
aufsprangen, desto fragmentarischer wurde das Ganze" (490). Es ist aber nicht fragmentarisch
oder nur auf den ersten Blick. Hat man die Fügung der Handlung und die Rolle des Erzählers
erkannt, wird deutlich, daß die Dialoge nicht als konkrete Reden geführt werden, sondern
Sinn-Reden sind, die die Sinnbezüge der Handlung und der Gestalten Stück für Stück entfalten, wie dies aus der Deutung der Symbole von Stock, Degen und altem Eisen ersichtlich wird.
So wird auch erkennbar, daß die reale Handlung überstiegen wird von einer zweiten, einer
irrealen Handlung voller Bedeutsamkeiten.
Dasselbe Gestaltungsmittel, der Transit von konkreter zu bedeutungsvoller zweiter Realität
gilt auch für die Lebensgestalt der beiden Haupthandelnden, für Peter Uhusen und die Mutter
Wendeline Cruse. — Wie auch in anderen Romanen, v. a. im „Abu Telfan" — ist der Held ein
Heimkehrender und damit ein Ungewöhnlicher, für den alle Maßstäbe wertlos geworden sind.
Er arbeitet sich über die Bodenlosigkeit seines Lebensleidens zu Trost und Erkenntnis hinweg.
Allegorische Bezeichnungen wie „Hetzjagd" und „Katzbalgerei" umschreiben diese Befindlichkeit. (Wir finden dieses Sinnbild des Gejagtseins in gleicher Kraßheit bei Hauptmann in der
232
„Rose Bernd".) — Das ihm am häufigsten beigefügte Epitheton ist der „Schmied von Jüterbog", der Name einer Gestalt aus dem Sagenkreis um Barbarossa. Furchtlos hat er den Teufel
in einen Birnbaum gebannt und den Tod in den Sack, und weil er Tod und Teufel nicht fürchtet,
lebt er frei zwischen Himmel und Hölle. Peter Uhusen, wegen seines Umhergetriebenseins
auch der „Verlaufene" genannt, war in seiner Jugend ein romantischer Träumer der Ritterlichkeit, die sich nicht erfüllte; in den Höhen und Tiefen seines Schauspielerdaseins suchte er die
Gerechtigkeit sich zu verwirklichen sehen, aber er hat nur des Lebens Niederträchtigkeiten
erfahren. Solange er sich auf romantische Weise verwirklichen will, wird er der „von jeglichem
Phantasiewind umhergetriebene Narr und Land- und Seehanswurst" genannt (409). Der
„Verlaufene" ist der Sucher nach Selbstverwirklichung. Komplizierter und widersprüchlicher
als der Hungerpastor, ist er ein anderer Hans Unwirrsch. Seine eingeborene Wesensart ist das
Unruhestiften. Zu seinem letzten Wegstück bricht dieser „Lebensveteran und tapfere Mann"
auf, als ihm am Morgen der Handlung vor dem alten Eisen das alte Eisen, der Degen des Leutmants, in die Hände gespielt wird. Er erkennt sofort, daß es ihm „heute etwas will und bedeutet". — Die tiefste Verzweiflung trug ihm außer der Pulververletzung, die ihm Hand und Auge
Versehrte, der Tod seiner Frau ein. Er nennt dies Elend größer als Dantes Inferno. Keine Beatrice führt ihn durch die Abgründe, sondern er bahnt sich seinen Weg selbst hinaus mit seinem
Wanderstock aus der lübischen Heimat. Statt des Dante wählt er sich Till Eulenspiegel aus
Mölln zum Lebensberater, und der rät zu Gegenwarts- statt zu Vergangenheitsbetrachtung,
weil weder Jugendträume noch Lebensverdienste etwas einbringen. Er fühlt sich „am Fuße der
Leiter", zwischen den Theaterkulissen stehend und besser als die Zuschauer um das böse Ende
wissend. — Am besten verstehen sich beide, Peter und die Cruse, in dem Sinnbild vom Theaterkarren des Lebens. Shakespearesche Tragödienluft weht um diese Akteure einer einstigen
Wanderbühne. Sie meinen die Schmiere mit ihrer täglichen Ausgesetztheit ins Nichts, nicht die
Hofbühne. Die Heimatlosigkeit dieser Theaterwelt und unversehrte Jugendheimat an der lübischen Bucht vor Travemünde stehen in scheinbar unüberwindlichem Gegensatz zueinander.
„Hergotts-Tragikomödie" nennen sie beide in bärbeißiger Wut ihr Leben; man lernt „das
Welttheater zu beherrschen und hält sich kühl in des Daseins Hitze und des Lebens Frösten"
(377), sagt die Cruse. Alle auf der Bühne gespielten Rollen waren Vorgeprägtheiten ihres eignen Schicksals bis auf die letzte Lebenssituation im alten Eisen. „Wie gut er seine Rolle
begreift", lobt die Cruse ihren Ziehsohn Peter. Das bedeutet: hier gibt es kein Ausweichen, hier
muß alle vordergründige menschliche Geltung abgelegt werden, hier muß sich die tiefe Einheit
von Lebensernst und Theaterernst herstellen. Die wahre Lebenssituation bezeichnet das Stehen in der Kulisse in dem Augenblick, da man um seine Identität ringt. Diese Vollendung hat
ihnen die Bühne bisher nicht gebracht, sondern sie vollzieht sich nun im alten Eisen, wo der
„letzte Altwarenhändler" die Probe abnimmt. Und so bleibt während der Wiederbegegnung in
Berlin die Cruse Peters Theaterprinzipalin und Theatermutter: sie strahlt in ihrer unbedingten
Wahrheitssuche die tiefste Güte aus; ihr Lebensverständnis hat ihr unverwüstliche Lebenskraft
gegeben. Sie zeigt sich dem „Lebenskomödiantengesindel" gewachsen. Der Preis dieses kindlich-ernsten Theaterspiels ist freilich scheinbare Narrheit und Armut, ist die völlige soziale Verachtung im alten Eisen. Aber hier sieht man die Welt in ihrem wahren Licht und schämt sich
ihres schäbigen Scheins nicht.
Mit dem Heimfinden ins alte Eisen hat der zweite, der übergeordnete Erzählvorgang seinen
Höhepunkt erreicht: in dem abseitigen gesellschaftlichen Ort ist die Lebensgestaltung erfüllt.
Der Erzähler hat befördert, was das Schicksal ihm vorgezeichnet hat, er hat im richtigen
Augenblick die „Menschen auf einen Haufen gekehrt". Der schicksalhafte Augenblick hat
Peter Uhusen mit seiner verstümmelten Hand und dem halben Gesicht und die abgetretene
233
Theatermutter zum Elternpaar der verlassenen Kinder gemacht. In ihrer Obhut dürfen sie, die
sie Todesgrauen und menschliche Erbarmungslosigkeit durchgestanden haben, vergessen und
daraus neuen Lebensmut gewinnen.
Was bedeutet Berlin für den Sinngehalt?
Der einzige konkrete Hinweis auf den Schauplatz ist der „Kreuzberg" als Ort des Friedhofes;
aber das ist sowenig faßbar wie die Adresse „Schulzenstraße 8" für die Mietskaserne. Beide
Lokalitäten kann man sich genauso gut in einer der nördlichen Vorstädte der 70er oder 80er
Jahre vorstellen; es sind nur verfremdete Hinweise. Raabes Lokalangaben sind nicht wie bei
Fontane Orte der „richtigen Adresse" für die jeweilige soziale Schicht, und die Wege, die die
Handlungen durch die Stadt nehmen, sind nicht Spiegelungen der inneren Vorgänge. Es ist
nicht wichtig, wo sich das Geschehen begibt. Stolte verweist, das Berlinische umschreibend, auf
die geistige Luft der bedingungslosen Wahrheitssuche und auf das tapfere Durchstehen der
Unzulänglichkeit des Daseins. Fragen wir besser, in welcher Weise Raabe soziale Kritik
übt!
Während das Handeln Peter Uhusens und der Cruse in finsterer Diktion erzählt wird, wird die
Welt des gebildeten und reichen Bürgertums ironisch eingeführt. Im Zusammenhang mit Albin
Brokenkorb erscheint das Schöngeistige als das Gewollte und Verstiegene. Albin Brokenkorb
wird von Anfang an zwar bewundert und angeschwärmt, er ist aber ein lächelnd arrogant
geduldeter Außenseiter, der schnell zur komischen Figur wird. Der Erzähler weist ihm die
Außenseiterposition zu, weil das Schicksal ihn aus Bosheit ausgespart hat, wie er ausdrücklich
bemerkt; er gehört nicht zu den Auserwählten wie Peter und die Cruse; dazu dürfte er erst zählen, wenn er eine Läuterung erfahren hat. Sie deutet sich wohl an, als er sich vom Stock angegriffen fühlt, und zwar in seiner Selbsterkenntnis, daß seine Vorträge eigentlich Redensarten
seien. „Was zählst du als deinen wirklichen, wahrhaftigen Menschengewinn in dieser Nacht mit
diesem Stock in der Hand für dich zusammen?" Statt der Mittelmäßigkeit bedarf es der „Wahrheit aus reinem Herzen"; er hat in seinen Reden „nie das geringste von der Menschen Wesen
auf Erden" hineingetragen. Nun soll er es im Hause Schulzenstraße 8 in seinem ganzen Ausmaß erfahren und soll seine Gelehrtenlaufbahn als Hofrat eines Duodezfürsten als „Tagesliebedienerei" abtun.
Brokenkorbs Wohnung befindet sich in einem reichen Geschäftshaus, und die Hörer seiner
Reden, hervorgebracht aus „sorgender Eitelkeit", sind die oberflächlichen Reichen, von denen
sich der Erzähler Raabe ironisch distanziert. Seine herzliche Anteilnahme — und dies ist als
seine soziale Kritik anzusehen — gehört den Menschen, die in den „Gassen" leben und wohnen. Die oft zitierte Maxime „Sieh auf zu den Sternen, hab acht auf die Gassen!" ist hier zu
interpretieren als Inbegriff des sozialen Lebenskampfes in der modernen Großstadt. Unter den
Bewohnern der Gassen sind viele im Lebenskampf Besiegte. Daß sie unterlagen, ist nicht ihre
Schuld, sondern gehört zur Niedertracht des Schicksals. Wie Leutnant Hegewisch und sein
Enkel Wolf Wermuth sind sie Besiegte „nicht bloß in jenen winzigen Schlachten, sondern in
einem grimmigen Kampfe, dem um des Menschen Dasein auf Erden überhaupt" (400). — So
ist soziales Verhalten Suche nach rechter Daseinsbewältigung. Vom Sternenlicht ist im alten
Eisen kaum die Rede. Aber in einem zornigen Gespräch mit Albin Brokenkorb weist Peter auf
den Christus der Evangelienberichte und schält den armen Mann in Galiläa heraus. Er
bekennt, er begegne ihm in den Winternächten der Städte, in Sturm und Kälte und Regen, die
man in den Dachstuben erträgt und „unter der Lumpengenossenschaft . . . Man trifft vornehme Leute an dergleichen Tafeln!" Eine dieser Vornehmen ist die Theatermutter Cruse im
Lumpenkeller des alten Eisens. Peter Uhusen bezeichnet sie als „eine der ersten Damen der
Erde". Sie hat die Aufgabe, Brokenkorb die Augen zu öffnen, als das Schicksal ihn anficht; sie
234
tritt wieder in ihre Rolle als Prinzipalin und erzieht sich ihren tragischen Komödianten zu echtem Spiel.
Als er den verlassenen Kindern auf dem Dachboden gegenübersteht, war ihm, als sei „der
soziale feste Grund und Boden augenblicklich völlig unter den Füßen abhanden gekommen".
Nicht Schmutz, Armut, Öde und Häßlichkeit bringen ihn aus der Fassung. „Er wußte mit seiner Sinnesschärfe und geistigen Feinfühligkeit nirgends hin. Das war . . . durchaus nicht zu
ertragen bis an die Grenzen der Nervenanspannung dieses entsetzlichen Tages mit seinen
Zudringlichkeiten und Rücksichtslosigkeiten." Er nimmt seine neue Erkenntnis selbst als eine
„Katharsis dieser Tragödie" wahr, was Peter Uhusen mit grimmiger Befriedigung aufnimmt.
„Laß dich verbrauchen, wie die Welt dich gewollt hat!" — Und er nennt es Humor, daß der
geschmäcklerische Bürger Brokenkorb einmal eine solche Anwandlung hat; ihrer Dauerhaftigkeit und verändernden Kraft jedoch traut er nicht. Als sich am Ende der Geschichte die
Freunde und die Kinder zu neuer Lebensgemeinschaft zusammentun, stößt Peter Uhusen den
Jugendfreund zurück, weist ihn wieder auf seinen alten Weg und wünscht ihm ironisch: „Der
Herr erhalte dich noch recht lange zur Bildung und Verschönerung seiner Schöpfung" (475).
Und zieht das Fazit: „ Den Honigseim des Tages hat er vollgesogen und trägt ihn eben zu Stock.
Geben Sie acht, sie adeln ihn uns für das Kapital, was er aus unserem heutigen Jammer herausschlägt" (477). Statt seine Gelehrsamkeit zu kultivieren, sollte er lieber beim Straßenmädchen
Rotkäppchen in die Schule gehen, dessen „Herz so groß ist wie die weite Welt — vor verschluckten Tränen"; „Doktor, geht um Menschengefühle und Menschenkenntnis bei dem Kinde in die
Schule!"
Aus allem Geschilderten läßt sich wohl ablesen, es handle sich bei Raabes sozialer Kritik um
eine der Kollwitz vergleichbare Tiefe und Unbedingtheit des Leidens. Und um eine dem alten
Fontane vergleichbare Altersnachsicht.
Es läßt sich an der Fügung der Handlung ablesen, wie Raabe die äußeren Erscheinungen der
Struktur des Sinnfälligen unterworfen hat. Zu dieser Kunstabsicht hat er selbst geäußert, er
wollte das Bleibende aus der dunklen Tiefe hervorholen und es über die tägliche Realität
heben. Dies ist das gemeinsame Kennzeichen aller Erzähler des dichterischen Realismus. Es
aber fugenlos verwirklicht zu haben, macht den Wert der Raabeschen Erzählkunst aus. Darüber hinaus hat der leidvolle Gehalt und der Lebensmut der Gestalten durchaus viel Berlinisches und bringt Raabe in Fontanes Nähe, vor allem, wenn man bedenkt, daß der Weg von der
„Chronik der Sperlingsgasse" zum „Alten Eisen" der Weg von der Weltflucht zu bejahender
Selbstfindung ist.
Anschrift der Verfasserin:
Dr. Christiane Knop
Rüdesheimer Straße 14
13465 Berlin-Frohnau
Anmerkungen
1 s. Anm. 3, S. 13
2 s. Anm. 3, S. 31
3 Europ. Buchklub, Stuttgart — Zürich — Salzburg o. J. „Im alten Eisen" wird nach dieser Ausgabe
zitiert. Herausgeber ist Professor Heinz Stolte; er hat die Trilogie mit einer Einleitung versehen, die
sie ins Gesamtwerk einordnet.
235
Um das Wiederbeleben alter Ortsnamen
Der Schwäbische Heimatbund, mit dem der Verein für die Geschichte Berlins, gegr. 1865, im Deutschen Heimatbund zusammengeschlossen ist, hat an seine Mitglieder und die Öffentlichkeit einen
Aufruf gerichtet, im Zusammenhang mit der Einführung der neuen Postleitzahlen die bei der Kommunalreform und auch postalisch verschwundenen Namen von Gemeinden und Dörfern wieder aufleben zu lassen. Der Bitte, diesen Aufruf auch in unseren „Mitteilungen" zu publizieren, wird hier im
Auszug gern nachgekommen.
Die neuen Postleitzahlen bieten die einmalige Chance, die althergebrachten Ortsnamen wieder in die
Adressen voll aufzunehmen, denn die Bundespost liest bei der Zustellung künftig nur noch die fünfstellige Postleitzahl.
So können Sie also mit Fug und Recht hinter der neuen fünfstelligen Postleitzahl schreiben:
Weinstadt-Großheppach
anstatt bisher
Weinstadt 3
Nagold-Hochdorf
anstatt bisher
Nagold 7
Göppingen-Hohenstaufen
anstatt bisher
Göppingen 11
Rottenburg-Bad Niedernau anstatt bisher
Rottenburg 12
Sie stärken damit das Selbstbewußtsein von Gemeinwesen, die ihr politisches Eigenleben verloren
haben, und erweisen auch der Heimatgeschichte einen Dienst, wenn Sie die Orte postalisch weiterleben lassen.
Sie werden auch besser erreichbar, denn mit den neuen Postleitzahlen kann man nämlich nicht mehr
auf Anhieb sagen, in welchem Stadtteil nun die eine oder andere Straße liegt. Es ist vorgesehen, oft
mehrere Stadtteile und sogar Teile der Kernstadt einer einzigen Postleitzahl zuzuordnen. Wie sollen
Verwandte, Freunde, Kunden und Lieferanten Sie finden? Die Teilorte und Vororte sind ja ausgeschildert, aber nach der Postleitzahl kann man sein Ziel nicht suchen.
Deshalb rufen wir alle Bürger dieses Landes auf, aus dem eigenen Nutzen eine Tugend zu machen.
Verwenden Sie bei Ihrer Adresse, beim Druck Ihrer neuen Briefbögen, privat oder dienstlich, auch
künftig den Namen der Ortschaft, in der Sie wohnen oder Ihr Geschäft haben, nämlich angefügt mit
einem Bindestrich hinter der postalisch vorgegebenen Bezeichnung.
Sie tragen damit bei, das facettenreiche Bild der Besiedlung unseres Landes zu erhalten.
In diesem Zusammenhang hat sich der Schriftführer in eine Diskussion eingeschaltet, die im Organ
der Industrie- und Handelskammer zu Berlin „Die Berliner Wirtschaft" ausgetragen worden ist. Sein
am 14. Mai 1993 im „Leser-Forum" veröffentlicher Brief „Betr. Neue Postleitzahlen" sei hier nachstehend im Wortlaut wiedergegeben:
Als die Post zu erkennen gab, daß nun fünfstellige Postleitzahlen eingeführt werden, die ebenso
logisch wie „Verteiler- und zustellfreundlich" seien, haben Mitglieder unseres Vereins gefordert, nun
sollten doch die alten historischen Ortsbezeichnungen wieder aufleben (dürfen), die Namen also der
Berliner Bezirke, Stadtteile oder Vororte. Sie erhielten die Auskunft, das System der fünfstelligen
Postleitzahlen sei so verständlich und sicher, daß es gar nicht darauf ankomme, ob jemand nun 13465
Berlin schreibe oder 13465 Berlin-Frohnau, Berlin (Frohnau) oder nach alten Brauch Berlin 28. Jetzt
erfahren wir aus dem Leserbrief Hansgeorg Bottkes, Autohaus Hellmuth Butenuth KG, vom 2. April
1993, ihm habe ein Herr Heyduk vom Postdienst Berlin mitgeteilt, eine derartige Schreibweise mache
eine manuelle Nachbearbeitung erforderlich, die eine Verzögerung der Zustellung nicht ausschließe.
Jetzt fragt man sich, ob bei der Post die Linke nicht weiß, was die Rechte sagt oder empfiehlt, oder ob
auch das grandiose System der neuen Postleitzahlen zu nichts anderem dient, als das eherne Gesetz
der Post zu bekräftigen: das Produkt aus Gebühren und Leistung ist konstant.
Dr. Hans Günter Schultze-Berndt,
Verein für die Geschichte Berlins,
gegründet 1865
236
Aus dem Mitgliederkreis
Mitgliederversammlung am 5. Mai 1993
Wiederum an traditionsreicher Stätte, im Roten Rathaus Berlin, fand die satzungsgemäße ordentliche
Mitgliederversammlung 1993 statt. Sie wurde vom Vorsitzenden, Bürgermeister von Berlin und
Senator a. D. H. Oxfort, zügig geleitet, der die erforderlichen Regularien abwickelte und die Totenehrung vornahm. Der Tätigkeitsbericht des Schriftführers lag in vervielfältigter Form vor, er wird im
Jahrbuch 1993 abgedruckt werden. Kassenbericht und Voranschlag 1993 der Schatzmeisterin Ruth
Koepke wurden ebenso wie der Bibliotheksbericht des Vorstandsmitglieds Karlheinz Grave und der
Bericht der Kassenprüfer Hans-Dieter Degenhardt und Karl-Heinz Kretschmer entgegengenommen. Die Vereinsbibliothek konnte durch Eingang von 295 Bänden ihren Gesamtbestand auf 14 338
Titel erhöhen. Die gründliche Betreuung der Benutzer der Bibliothek und die korrekte Arbeit der
Bibliothekare kam aus dem Bericht der Bibliotheksprüfer zum Ausdruck, der von Manfred Funke
erstattet wurde. In der Aussprache dankte der Vorsitzende allen ehrenamtlichen Mitarbeitern und
verwies darauf, daß die Bibliotheksräume in der Berliner Straße in Wilmersdorf nur vorübergehend
zur Verfügung stehen, da im Neubau des jetzt im Bau begriffenen Jüdischen Museums neben dem
Berlin-Museum neue Räume für den Verein entstehen. Wünschenswert bleiben weiter stärkere Aktivitäten in der Mitte Berlins.
Der Vorstand wurde einmütig entlastet. Vor der Neuwahl dankte der Vorsitzende Rechtsanwalt und
Notar H. Oxfort den ausscheidenden Vorstandsmitgliedern Ruth Koepke und Dr. Gerhard Kutzsch
warmherzig und mit Nachdruck, wobei er der Hoffnung Ausdruck gab, Frau Koepke und Dr. Kutzsch
möchten auch künftig dem Verein mit Rat und Tat zur Seite stehen. Der Kandidat für das Amt des
Schatzmeisters, Karl-Heinz Kretschmer, stellte sich mit seinem Lebenslauf ebenso vor wie der als Beisitzer kandidierende Dr. Manfred Uhlitz, Sohn des langjährigen Vereinsmitglieds Staatssekretär Dr.
0 . Uhlitz.
Auf Beschluß der Mitgliederversammlung wurde die Wahl gemäß der vorliegenden Vorschlagsliste
en bloc und einstimmig vorgenommen. Der Vorstand setzt sich wie folgt zusammen:
Geschäftsführender Vorstand:
Vorsitzender:
Rechtsanwalt und Notar Hermann Oxfort
1. stellvertretender
Vorsitzender:
Hans-Werner Klünner
2. stellvertretender
Vorsitzender:
Günter Wollschlaeger
Schriftführer:
Dr. Hans Günter Schultze-Berndt
stellvertretender
Schriftführer:
Dr. Jürgen Wetzel
Schatzmeister:
Karl-Heinz Kretschmer
stellvertretender
Schatzmeister:
Dr. Sibylle Einholz
Beisitzer:
Professor Dr. Helmut Engel
Karlheinz Grave
Birgit Jochens
Dr. Christiane Knop
Dr. Winfried Löschburg
Ingeborg Schröter
Hans-Wolfgang Treppe
Dr. Manfred Uhlitz
237
Hermann Oxfort dankte für das mit der Wahl ausgesprochene Vertrauen und sicherte den Mitgliedern zu, der Vorstand werde sein Amt im Interesse des Vereins und der Stadt Berlin ausüben. Jeweils
einmütig war die Wahl der beiden Kassenprüfer Hans-Dieter Degenhardt und Frau Siddikah Eggert
sowie der Bibliotheksprüfer Manfred Funke und Frau Erika Schachinger.
Der Schriftführer verwies auf ein von Dr. Helmut Schönfeld geleitetes Projekt „Berliner Umgangssprache" der Humboldt-Universität zu Berlin und der KAI e.V., bei dem ein Fragebogen auszufüllen
ist und sich vornehmlich ältere Gesprächspartner für Tonbandgespräche zur Verfügung stellen sollen.
Im Anschluß hielt der stellvertretende Vorsitzende Hans-Werner Klünner einen Vortrag „Berlins
Weg zur staatlichen Selbständigkeit". Über das Thema des Zusammenschlusses Berlins und Brandenburgs herrscht auch im Vorstand geteilte Meinung. Diese kam auch in der Diskussion zum Ausdruck, in der die Anregung geäußert wurde, zum Thema des gemeinsamen Bundeslandes BerlinBrandenburg einen Vortrag in das Programm aufzunehmen.
SchB.
Studienfahrt vom 10. bis 12. September 1993 nach Freiberg (Sachsen)
„Wer Sachsen kennenlernen will, muß Freiberg gesehen haben!" sagt ein Sprichwort. Dies mag den
Veranstalter der diesjährigen Exkursion beflügelt haben, die Anstrengungen auf die alte Bergstadt
Freiberg zu richten und allerlei Verzögerungen und Schwierigkeiten zum Trotz an diesem Vorhaben
festzuhalten. Gut vierzig Mitglieder dankten es ihm durch Interesse, aufgeschlossenes Mitgehen und
wachsende Begeisterung über die Welt, die sich vor ihnen auftat.
Pünktlich um 11.00 Uhr, wie im Programm vorgesehen, trafen die Reisenden vor dem Freiberger
Dom ein, wo sie von Dr. Ulrich Thiel, dem Leiter des Stadt- und Bergbaumuseums, begrüßt und zur
Besichtigung des Domes geleitet wurden. Domführerin Schneider wußte die Gäste kenntnisreich und
charmant auf die vielen Schätze dieses Gotteshauses mit der leider verhüllten Tulpenkanzel und der
Goldenen Pforte als Höhepunkten hinzuweisen. Ein kleines Konzert auf der berühmten SilbermannOrgel war eine akustische Bereicherung dieses erfreulichen Auftakts.
Nach dem Mittagessen im stimmungsvollen „Schloßkeller" des Schlosses Freudenstein teilte sich die
Gruppe. Die unermüdlichen Brauereifreunde ließen sich von Dr.-Ing. Heinz-Michael Eßlinger,
Alleinvorstand der Freiberger Brauhaus AG, zu einem Rundgang durch diese Braustätte an die Hand
nehmen, die bald durch einen Neubau auf der grünen Wiese ersetzt werden wird. Dr. U. Thiel führte
die zweite Gruppe beim Besuch der Übertageanlage der „Alten Elisabeth" in die Geschichte und
Technik des Freiberger Erzbergbaus ein. Im Stadt- und Bergbaumuseum, dessen Direktor Dr. Ulrich
Thiel auch Vorsitzender des Freiberger Altertumsverein e.V., gegründet 1860, ist, hatte dieser
zunächst Probleme, dem Kaufinteresse der Besucher zu begegnen, ohne den Zeitplan zu gefährden,
wußte dann aber die Berliner Gäste für die reichen Bestände der gut gegliederten Abteilungen seines
Museums zu begeistern und vermittelte ihnen anhand eines Stadtmodells einen Überblick über das
Entstehen und Werden dieses Gemeinwesens. Im erst vor wenigen Wochen wiedereröffneten historischen Brauhof klang der Tag aus, wobei dem Freiberger Brauhaus und Dr.-Ing. H.-M. Eßlinger
manch Lob gezollt und mancher Zutrank gewidmet wurden, folgten die Teilnehmer doch einer großzügigen Einladung der so erfolgreich wirkenden örtlichen Brauerei.
Am Sonnabend, 11. September 1993, war den Gästen wieder das Glück freundlichen Sonnenscheins
hold, als sie in der Oberstadt von einem weiteren Mitglied des Freiberger Altertumsvereins, Herrn
Reuß, zu Füßen des Markgrafen Otto des Reichen und beim Plätschern seines Brunnens mit der
Stadthistorie vertraut gemacht und dann von Stadtarchivarin Dr. Ines Buschbeck im Rathaus empfangen und in das beeindruckende Stadtarchiv geführt wurden. Auch in der Petri-Kirche, deren moderne
Innengestaltung nicht unumstritten blieb, machten die Besucher mit dem Klang einer anderen Silbermann-Orgel Bekanntschaft.
238
Nach dem Mittagessen im „Letzten Dreier" übernahm Knut Neumann die Führung zu der angekündigten bergbauhistorischen Exkursion über Teile der Silberstraße, beginnend bei den über Tage liegenden Teilen des vor zwei Jahrzehnten stillgelegten ältesten unterirdischen Kavernenkraftwerks der
Welt. Etwas von dem Enthusiasmus Gernot Scheuermanns, das System der bergmännischen Wasserversorgung im Freiberger Revier mit ihren kilometerlangen Kunstgräben eines Tages wieder zur
Energieerzeugung zu nutzen, sprang auf die Besucher der Maschinenhalle auf dem Dreibrüderschacht in dem unweit Freibergs gelegenen Ort Zug über.
Nur mit gewissen Bedenken hatte der Reiseleiter von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, zur Premiere von Johann Strauß' „Eine Nacht in Venedig" am Abend im Stadttheater Freiberg für die in
Kunstdingen verwöhnten Berliner Karten zu besorgen, obwohl das wohl älteste städtische Theater
Deutschlands mit seiner 200jährigen Tradition, erst 1991 nach Umgestaltung wiedereröffnet, den
Besuch verdient hätte. Für die zwanzig zur Verfügung stehenden Eintrittskarten bewarben sich aber
alle Reiseteilnehmer, und es bedurfte salomonischen Geschicks, um hier Gerechtigkeit walten zu lassen. Die muntere Aufführung, die so gar nichts von Provinzbühnen-Enge verspüren ließ, ließ dann
aber die Herzen der Berliner höher schlagen. Und wieder lockte der „Brauhof' zu einem fröhlichen
Abtrank.
Am Sonntagvormittag, 12. September 1993, verging die Zeit wie im Fluge, als die Gruppe, wieder
zweigeteilt, sich von Museumsleiterin M. Sauter durch das Bergbau- und Heimatmuseum der Kreisstadt Brand-Erbisdorf im Huthaus an die Gegenstände der Bergleute heranführen ließ, während im
Wechsel Knut Neumann auf der Reußenhalde Erläuterungen zum Erzbergbau gab. Der Theorie
folgte dann in Oberschöna die Praxis, als alle Teilnehmer, mit Schutzhelmen bewaffnet, den Erzbergbau vor Ort kennenlernten, insbesondere die Ratsstube. Im „Erbgericht" Oberschöna stärkten sich
die Reisenden bei einem gemeinsamen Mittagessen, lernten dann die Anlage des Zisterzienserklosters Altzella, des Mutterklosters Neuzelles, bei Nossen kennen und traten die Heimreise an, die nur
durch eine späte Kaffeetafel im Schloßhotel Teupitz am Teupitzsee unterbrochen wurde. Wenn die
Rückkehr nicht um 20.00 Uhr, sondern genau eine Stunde später erfolgte, so war dies die Dauer des
auf dieser Strecke wohl üblichen Staus.
Der Teilnehmerzahl wegen in zwei Hotels untergebracht, eines davon ein umgebauter Bauernhof an
der Peripherie Freibergs, wurden die Reiseteilnehmer doch mit derlei kleinen Unbequemlichkeiten
gut fertig und erwiesen sich bei dieser ersten Studienfahrt nach Sachsen als ebenso dankbar wie begeistert.
Hans G. Schultze-Berndt
Gesprächskreis „Postfuhramt"
Unser Mitglied Dipl.-Ing. Karl-Heinz Laubner, Am Steinberg 122 a, 13086 Berlin, hat an den Vorstand die Anregung herangetragen, zu Themen der Berliner Stadtgeschichte von allgemeinerem und
vor allem aktuellem Interesse Gesprächskreise zu bilden, etwa für das Schloß oder den geplanten Bau
von Hochhäusern in der Innenstadt. Ein Problem, dem sich K.-H. Laubner schon seit Jahren widmet
und das ihm besonders am Herzen liegt, ist das Postfuhramt in der Oranienburger Straße, das wohl
älteste Postamt Berlins in seinem ursprünglichen Gebäude. Hier geht es nicht nur um die Erhaltung,
sondern auch um die künftige zweckmäßige Nutzung.
Wer Interesse verspürt, in einem solchen Gesprächskreis mitzuwirken, wird gebeten, sich unmittelbar
mit Herrn Laubner in Verbindung zu setzen (Telefon 4 23 0111, bei Neumann).
SchB.
239
Dr. Ursula Besser, Stadtälteste von Berlin und Trägerin des Großen Bundesverdienstkreuzes sowie
der Fidicin-Medaille des Vereins für die Geschichte Berlins, gegr. 1865, Ehrensenatorin der Technischen Universität Berlin und langjährige Vorsitzende des Wissenschaftsausschusses des Abgeordnetenhauses von Berlin, ist im Rahmen eines Festaktes der Chambre de Commerce et d'Industrie de
Paris die höchste Auszeichnung der Industrie- und Handelskammer Paris, der Jeton d'Or, die Goldene Ehrenmedaille, verliehen worden. Damit sollen die Verdienste Dr. Ursula Bessers um die Europäische Wirtschaftshochschule EAP gewürdigt werden, deren Gründung vor rund einem Jahrzehnt
sie mit Nachdruck unterstützt hat und deren Europäischem Beirat sie angehört.
SchB.
Nachrichten
90-Jahr-Feier des Deutschen Heimatbundes in Dresden
Der Deutsche Heimatbund, dem der Verein für die Geschichte Berlins, gegr. 1865, als Vertreter des
Landes Berlin angehört, feiert vom Freitag, 22. April 1994, bis Sonntag, 24. April 1994, in Dresden
sein neunzigjähriges Bestehen. Es ist die Möglichkeit vorgesehen, daß Mitglieder am Festakt und am
Rahmenprogramm teilnehmen. Der Festakt soll am Sonnabend, 23. April 1994,11 Uhr, auf Schloß
Albrechtsburg mit Kanzleramtsminister Friedrich Bohl (für den verhinderten Bundeskanzler) und
Ministerpräsident Professor Dr. Kurt Biedenkopf stattfinden. Für den Nachmittag ist eine Führung
durch die Stadt mit Besuch des Zwingers (Gemäldegalerie, Gobelinsaal) und sonstiger Sehenswürdigkeiten unter Leitung des Vorsitzenden des Landesvereins Sächsischer Heimatschutz, Matthias
Griebel, geplant. Es wird auch angeboten, mit dem Schiff oder Bus nach Pillnitz oder Königstein zu
fahren. Das Abendprogramm „Kulturelles Dresden" bleibt der Privatinitiative überlassen, am Sonntag ließen sich weitere Besichtigungen einplanen.
Der Vorstand bittet alle Interessenten an einer gemeinsamen oder individuellen Fahrt nach Dresden,
bis zum 31. Januar 1994 unverbindlich Wünsche beim Schriftführer anzumelden, damit dann mit dem
Deutschen Heimatbund abgestimmt werden kann, ob und wie welche Zahl von Mitgliedern in das
Programm integriert werden kann (Dr. Hans Günter Schultze-Berndt, Artuswall 48,13465 BerlinFrohnau, Telefon 4 Ol 42 40).
SchB.
240
Buchbesprechungen
„Schule in Berlin — gestern und heute", hrsg. von Benno Schmoldt unter Mitarbeit von Hagen
Gretzmacher. Mit Beiträgen verschiedener Mitarbeiter, 207 Seiten, bibliographische Hinweise in den
Anmerkungen, Colloquium Verlag, Berlin 1989.
Vor der Wende konzipiert, finden sich in dem vielschichtigen Band Vorträge einer 1987 abgehaltenen
Ringvorlesung. Die Veranstaltung war angesiedelt bei der 750-Jahr-Feier Berlins und bemühte sich
um eine Standortbestimmung der Berliner Schulbildung zwischen Tradition und Moderne; Träger
war das Zentralinstitut für Unterrichtswissenschaften und Curriculumentwicklung an der Freien Universität Berlin unter Professor Benno Schmoldt. — Als Kernpunkt ist die Entfaltung demokratischer
Bildung nach 1945 abgehandelt (Wolfg. Wittwer, Das Berliner Schulsystem im Rahmen des preuß.
Schulsystems 1918—1933). Dieses aber stützt sich im wesentlichen auf die sozialdemokratische
Reformpädagogik der Weimarer Republik, was ohne die preußische Tradition seit dem 18. Jahrhundert aber auch nicht denkbar ist. — Verschiedenartig wie die Vff. sind ihre Methoden; sie reichen von
der oral history bis zur sozialgeschichtlichen Analyse. Unter anderem ist ferner das Votum einiger
US-Bildungsoffiziere nach 1945 von Belang, speziell für den Anteil der Amerikaner an der Gründung der Freien Universität. — Der Herausgeber bemüht sich um eine Zukunftsanalyse gemäß der
Aufgabe der Buchreihe des Colloquium Verlages „Wissenschaft und Stadt".
Gewiß wäre nach der Wende manches Ergänzenswerte hinzugekommen, v. a. über die Einheitsschule
im Ostteil der Stadt. Die im einzelnen behandelten Themen werden als Gelenkstellen in der Berliner
Schulgeschichte angesehen, das Kontinuum ihrer Entwicklung hat der Leser anhand der beigegebenen Literatur selbst herzustellen. Dabei zeigt es sich, daß eine Reihe von Entwicklungsschritten noch
kein Ganzes ergibt. Wie sehr manche Phasen noch lückenhaft beleuchtet sind, zeigt der literarische
Reflex der wilhelminischen Gymnasien im ausgehenden 19. Jahrhundert auf die dichterischen Erinnerungen ; sie sind häufig verzerrt und einseitig dargestellt, was um 1900 Mode war; als Beispiele werden Thomas Mann und Döblin angeführt.
Am eingängigsten liest sich die Schulgeschichte seit der Jahrhundertwende, weil hier der Stoff von den
Reformern im Deutschen Lehrerverein schon aufbereitet worden ist. Seit sich der Lehrerstand unter
seiner Führung in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts ein fundiertes Berufsbild unter national- und
sozialliberalem Vorzeichen gegeben hat und in fortschreitendem Freiheitsstreben den Bildungsansprüchen von Bürgertum und — später — Arbeiterschaft entsprochen hat, sind seine schulpädagogischen, stofflichen und gesellschaftlichen GrundsäGe Allgemeingut geworden, wie dies hier aufgezeigt
wird. Gerade von Berlin gingen wesentliche Anstöße aus, v. a. von der preußischen Schule der Weimarer Republik („Berliner Reformpädagogik in der Weimarer Republik"). — Für alles dies ist die
Quellenlage ziemlich eindeutig.
Wer das Berlinische betont sehen will, hält sich zweckmäßigerweise an die Darstellung von Robert
Lawson („Das Berliner Schulwesen als Laborsituation 1945 bis 1965"), die beschreibt, wie aus divergierenden und teilweise noch unklaren Bildungsabsichten der Alliierten als ein Kompromiß von tradierter Schulform und sowjetischen Bildungsvorstellungen in Berlin (West) die „Berliner Schule" von
1952 hervorging. Sie war eine stark modifizierte Einheitsschule und trug den Reformabsichten aus
der Weimarer Zeit großenteils Rechung. — Der Mangel an verläßlichen und umfassenden Quellen
zeigt sich, je näher an die Gegenwart heran, desto mehr. Die Ausführungen über die Schule der NSZeit (Wippermann) und das Überwinden der geistigen Isolierung durch jugendpolitische Bestrebungen der amerikanischen Kulturoffiziere (Strang, „Deutsche Jugend zwischen Gestern und Morgen.
Berlin 1945—49"; Johnston, „Meine Rolle bei der Gründung der Freien Universität Berlin"), die
auch an der Gründung der Freien Universität mitwirkten, erscheinen ein wenig farblos und allgemein.
Das abgegebene Bild ist aus der Sicht der 70er Jahre überformt und leicht verstellt. Wie denn überhaupt Fragen des organisatorischen Aufbaus und der gesellschaftlichen Struktur im Vordergrund stehen, Inhalte, Werte und Methoden darüber zu kurz kommen.
Das gilt v. a. für die Erwägung, inwieweit die Frauenbewegung nach der Jahrhundertwende auf ihrem
ureigensten Gebiet der Lehrerinnenbildung und -tätigkeit, überhaupt der Berufsausbildung von
Mädchen kulturschaffend war (Marion Klewitz, „Lehrerinnen in Berlin"). Es wird als Vorreiterin
Helene Lange genannt, aber auch der Frauenvertreterinnen in Reichstag und preußischem Parlament
und in den Ämtern des Magistrats gedacht. Daß dies arbeitsmarktpolitische Probleme schuf, indem
241
schlechter bezahlte weibliche Lehrkräfte eine „Reservearmee" bildeten, die im Ersten Weltkrieg in
die Bresche springen mußten, von den zurückkehrenden Kollegen dann aber gebremst wurden, ist
eine neuartig beleuchtete und nur von den wenigen Betroffenen gewußte Tatsache. Vfn. stellt fest, daß
vor allem die Volksschullehrerinnen auch im Dritten Reich ihre Position zu wahren gewußt haben und
entscheidend dazu beitrugen, den Lehrberuf zu einem überwiegenden Frauenberuf zu machen. Ob
allerdings die Behauptung aufgestellt werden darf, das Gros der akademisch gebildeten Frauen habe
eine Generation später in den 50er Jahren ihre frauenkämpferische Beweglichkeit und Reformfreudigkeit eingebüßt, ist Rezensentin fraglich. Es wird dabei übersehen, daß die NS-Zeit durch die
Kriegsbelastungen die heute oft berufene Gleichstellung in praxi hergestellt hatte, so daß ihr Einfordern das Einrennen offener Türen bedeutet hätte. Das 6. und 7. Jahrzehnt war eher eine Zeit der Konsolidierung; dies muß nicht Restauration bedeuten, ist vielfach das Reifen von Früchten. — Neu ist
auch ein Streiflicht auf das Friedrichs-Werdersche Gymnasium und seine Funktion in der Spätaufklärung (H. Scholz). Hier wurden, abweichend vom Bildungsauftrag des Grauen Klosters und des Französischen Gymnasiums für die adlige Beamtenschaft, ein kulturpädagogisches Konzept für das Bildungsbürgertum entworfen und durchgeführt. — Ein besonderes Kapitel wird der ursprünglich sozialistisch konzipierten Fritz-Karsen-Schule gewidmet (G. Radde), deren Besonderheit in der Gesamtschule aufgegangen ist. Verdienstvoll ist es, sich ins Gedächtnis zu rufen (Herbert Bath, Kulturpolitik
der Länder), wie sehr die „Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik
Deutschland" (KMK) das Vakuum ausfüllte, das durch den Wegfall der Gleichschaltung der Länder
entstanden war. Sie hat die Position Berlins als Bundesland und seine zentrale Rolle gefördert, jedoch
das Föderale immer behauptet. Angesichts der aktuellen Hauptstadtdebatte ist es sicher gut zu wissen, „andererseits wurde in der KMK in der Zeit aufgeregter Bildungsreform mit sich überschlagenden Grundsatzerklärungen und Generalkonzepten auch der Ort der Besinnung, was von dem ganzen
Ideenreichtum geeignet war, in Realität umgesetzt zu werden". Ins Spektrum der Berliner Bildungsgeschichte gehört auch das Jüdische. Shimon Sachs erinnert sich an seine Zeit an der Theodor-HerzlSchule und betont das Paradoxon, daß ihr Aufblühen erst begann, als sich der Untergang des Judentums abzeichnete. Sie war eine Insel liberalen und humanen Menschentums im Meer des Antisemitismus.
Am Ende bilanziert der Herausgeber, wie vage schulgeschichtliche Analysen z. Z. noch sind, was
seine Ursache darin haben mag, daß beim Neuanfang von 1945 Lehrinhalte großenteils hinter organisatorischen Aufgaben zurücktraten. Auch was der Einschnitt von 1968 gebracht hat, ist noch offen.
Christiane Knop
Daniel Libeskind, Erweiterung des Berlin Museums mit Abteilung Jüdisches Museum. Ernst und
Sohn, Verlag für Architektur u. techn. Wissenschaften, Berlin 1992, 148 S.
Vier Autoren, dazu der Architekt Libeskind selbst, bemühen sich, dem Interessierten Gehalt und
Gestalt des provokanten Entwurfs des jüdischen Museums nahezubringen, das künftig Teil vom Ganzen des Berlin Museums sein soll. Eine Ausdeutung des Bauvorhabens ist in der Tat wünschenswert
schon für uns Gegenwärtige — ob aber in unseren Enkeln ein Besuch des Hauses jene Erkenntnisse,
Gefühle und Stimmungen freisetzen wird, die derzeit die Architekten und Museumsleute motivieren
und für die Zukunft hoffen lassen, muß als Frage offenbleiben. Es geht nicht nur um Architektur als
„Bedeutungsträger von Geschichte" (R. Bothe), von „Geschehenem", sondern auch um bleibende
Gültigkeit und künftige Wirksamkeit der Gedanken von heute. Allein die äußere Form des Erweiterungsbau-Entwurfs stellt sich ihren Betrachtern dar als „mehrfach gebrochener langgestreckter Bau",
als „zickzackförmiger Flügel", als „Riß oder Blitz, dessen Einschlag die Umrißlinien der Stadt erheben läßt", als (so Libeskind) „irrationale Matrix in Form eines Systems von rechtwinkligen Dreiecken,
die einige Ähnlichkeit mit dem Emblem eines komprimierten und verzerrten Sterns erkennen lassen
— eine Ähnlichkeit mit dem gelben Stern, der an dieser Stelle so häufig getragen worden ist". Jede
Wand, jeder Winkel des Hauses wird zu einer Chiffre, zu einem Symbol vergangener Ereignisse oder
erwarteter Entwicklung eines Verbundes nichtjüdischen und jüdischen Bürgerlebens in der Stadt,
deutscher Kultur und jüdischer Tradition.
Gerhard Kutzsch
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Bodo Kollka/Klaus Dieter Wille: „Das Berliner Stadtschloß. Geschichte und Zerstörung." 112 Seiten, viele Abbildungen, Quellenteil. — Mit einem Nachwort von Wolf Jobst Siedler. 2., erweiterte
Auflage, Haude & Spener, Berlin 1993.
Anzuzeigen ist ein weiterer Beitrag, der zur Urteilsbildung in der gegenwärtigen Debatte um einen
evtl. Wiederaufbau des Schlosses hilfreich sein kann. Es ist die zweite, erweiterte Auflage des Schloßbuches aus dem Haude & Spener Verlag, das 1987 in 1. Auflage erschien und in unseren „Mitteilungen" gewürdigt worden ist. Kapitel- und Bilderfolge sind identisch, das Vorwort der Verff. ist aktualisiert um den Hinweis, daß der Streit um das Vergangene heute nicht mehr ideologisch geführt wird,
sondern sich in die Vertreter von Traditionalismus und Modernismus in Stadtplanung und Architektur polarisiert. — Vor allem höchst lesenswert ist die Neuauflage wegen des Nachwortes von Wolf
Jobst Siedler. Er bringt die Auseinandersetzung auf den entscheidenden Punkt, daß der Schlüterbau
die (innere) Stadtmitte war („ . . . das Schloß früher da war als die Stadt"). Klärend erscheint das
Argument, es komme darauf an, ob man einer modernen Architektur zutrauen könne, die zerstörten
Städte stimmig zu reparieren. Seine angeführten Beispiele aus Moskau, Warschau, Venedig und Lissabon sprechen eher dagegen.
Beachtenswert auch seine Erörterungen über Modernität innerhalb des Historismus in der Architektur des 19. Jahrhunderts. Die Tatsache, daß die Verff. ihre 1987 vorgebrachten Statements einer Diskussion um Erhaltung oder Abriß fast unverändert übernommen haben, spricht für Überzeugungskraft ihrer historischen Argumente.
Christiane Knop
„Villen und Landhäuser in Berlin. Fotografiert von Jürgen Spohn mit Texten von Julius Posener",
130 Seiten mit 68 farbigen Fotos, Liste der Architekten und Baumeister, Literaturübersicht, Nicolaische Verlagsbuchhandlung Beuermann GmbH, Berlin 1989.
Der „Texter" Julius Posener bekennt sich im Vorwort zur Freude an seiner Aufgabe der Kommentierung so schöner Bilder, zu der ihn offenbar der Fotograf Spohn leise überlistet hat. Nachdem wohl der
Generationsunterschied beider „Autoren" in der gemeinsamen Lust am Liebenswürdigen des Landhausstils in Berlin überwunden ist, zeigt sich hier das Ergebnis einer schönen Zusammenarbeit. Die
Fotos wirken gut gesetzt, klar und zugleich poetisch und folgen den Hinweisen des Texters auf die
wichtige Funktion des Lichtes für die Villenarchitektur. Daß es, wie beabsichtigt, ein Bilderbuch statt
ein Sachbuch geworden ist, macht seinen Reiz aus.
Auf dem Spaziergang durch die Bezirke Charlottenburg mit Westend und Zehlendorf mit Schlachtensee und Nikolassee, durch Wilmersdorf mit Grunewald oder durch Lichterfelde, teilweise auch Tiergarten, Spandau und Reinickendorf zeigt sich die Entwicklung von der späten Schinkel-Schule, die,
um die Jahrhundertwende aufs Äußerste getrieben, unruhig wird, zu Messet. Danach kehrt wieder
Ruhe und Geschlossenheit ein; unter Muthesius' Einwirken geht sie in die Landhausarchitektur ein.
— Die Architekturbeschreibungen sind knapp und prägnant und weisen auf die Lebenshaltungseiner
Bewohner hin — anfangs kommen die „Treibeis" zu Wort; sie streifen das Historische ihrer Bauherren
nur kurz, aber das allgemeine Sozialgeschichtliche tritt vor das Auge des Betrachters in der Sprache
der Fenster, der Durchgliederung der Geschosse und Bauteile, auf die die kundige Hand unaufdringlich weist. Er preist mit liebenswürdiger Ironie das gänzlich Unmoderne, gibt sich der Lust an der
Erinnerung hin und vermeidet dabei die Vokabel „Nostalgie", die auch unangemessen wäre, weil es
um mehr geht. Posener meditiert über ein (Land-)Haus, das unserem heutigen Lebensstil angemessen
wäre, und sagt uns, wie anspruchsvoll schwer dies ist. „Niemand wird uns die Suche nach unseren
Häusern abnehmen, welche unserer Art zu sein und zu fühlen entsprechen . . . Aber befreien lassen
dürfen wir uns von dem Buch: Es hilft uns, Vorurteile abzutun, die unserm Genuß an diesen Häusern
so lange im Wege gestanden haben."
Man kann mit Recht Freude daran haben und selbst weitere Beispiele suchen, auch im bisher verschlossen gewesenen Umland — etwa in der Nauener und Berliner Vorstadt Potsdams, in Treptow und
Karlshorst oder Grünau. Diese Vororte „sind einzig in der Welt", sagt der Autor. Christiane Knop
243
Administrativ-Statistischer Atlas vom Preußischen Staate 1828. Neudruck mit einem Erläuterungsband. Publikationen der Historischen Kommission zu Berlin. Kartenwerk zur Preußischen
Geschichte. Lieferung 3. Kiepert Verlag, Berlin 1990.
In der Publikationsreihe der Historischen Kommission zu Berlin „Kartenwerk zur Preußischen
Geschichte" ist ein Neudruck des ersten umfassenden thematischen Kartenwerks über die preußische
Monarchie erschienen.
Im Vorwort des Erläuterungsbandes schreibt der Herausgeber Wolfgang Scharfe, daß das 1978 in
einer Berliner Sammlung aufgetauchte Exemplar des offenbar als verloren geglaubten Atlasses unter
Historikern und Kartographiehistorikern für großes Aufsehen gesorgt habe. Es sei sogleich der
Gedanke aufgetaucht, dieses Werk der Öffentlichkeit zu erschließen; denn es sei unverkennbar gewesen, daß es sich um ein bedeutendes Werk, um einen „Nationalatlas", ja um ein historisches Dokument über das Selbstverständnis des preußischen Staates handelt. Selbst wenn man gegenüber dieser
euphorischen Einschätzung etwas zurückhaltender ist, beeindruckt das Werk in der Tat durch seine
thematische Vielfalt. In der für die damalige Zeit ungewöhnlichen Präzision werden auf 22 Karten
Informationen über fast alle öffentlichen Bereiche des preußischen Staates geboten. Im einzelnen enthält der Atlas Übersichten über folgende Themenkomplexe: Territoriale Erwerbungen unter dem
Haus Hohenzollern, administrative Einteilung des Staates, militärische Anlagen und Bezirkseinteilung, Anlagen und Anstalten zur Beförderung des Verkehrs, Justiz-, Zoll-, Steuer-, Bergwerks-, Hütten- und Salinen-Verwaltung, Evangelische und Katholische Kirchenverfassung, Bevölkerungsdichte, Verhältnis der Bevölkerung zur Sprache, Religion und Konfession, Unterrichts-, Bildungs-,
Wohltätigkeits- und Strafanstalten, Königliche Schlösser, Mühlen, Banken, Fabriken, Manufakturen,
Mineralgruben, Gestüte und am Schluß schließlich eine allgemeine Übersicht der Fruchtbarkeit des
Bodens.
Diese zeitgenössischen Karten enthalten Informationen für fast alle wissenschaftlichen Disziplinen,
die sich mit den Verhältnissen im preußischen Staat in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts beschäftigen.
Der Erläuterungsband gibt zunächst eine Einführung in die Vorgeschichte des Administrativ-statistischen Atlasses. Elf Wissenschaftler bieten zu jeder Karte ausführliche Erklärungen mit den entsprechenden Literaturhinweisen.
Dem Projektleiter und Herausgeber sowie dem Kiepert Verlag gebührt großer Dank, diese einzigartige Quelle der Forschung und der interessierten Öffentlichkeit erschlossen zu haben.
Jürgen Wetze!
Wolfgang Wirth/Gerda Gränzig: Max und Moritz auf berlinisch, herausgegeben und kommentiert
von Eckhard Schulz. Schriftenreihe: VIB — Veranstaltungen in Berlin e.V., Bismarckstraße 107,1000
Berlin 12, Band 3. Berlin 1990. Broschiert, 122 Seiten.
Über Wilhelm Busch äußert sich Hugo Werner: „Seine Leiderfahrung jedoch läutert sich zur Leidüberwindung, und aus ihr wächst sein Humor, der die Bereitschaft zur Freude und die Lust am Freudemachen einschließt." In seiner Einleitung führt Eckhard Schulz an, diese Sätze über Wilhelm Busch
könnten auch als (fragwürdiges) Charakteristikum der Berliner verstanden werden. Bei der tatsächlichen Bindung zwischen dem Künstler und der Stadt sei es um so erstaunlicher, daß unter der großen
Zahl deutscher Dialektfassungen bisher kein „Max und Moritz uff berlinisch" existierte. Dies mag
daran liegen, daß rd. 70 % aller Berliner ihren Dialekt lieben (sofern sie ihn überhaupt beherrschen),
weit mehr als 80 % aber der Meinung sind, das Hochdeutsche klinge besser als das Berlinische. Zwei
Persönlichkeiten war es eine Herausforderung, den klassischen Text ins heimische Idiom zu übertragen. Recht unterschiedliche Textfassungen haben Wolfgang Wirth, Vorsitzender der in Berlin ansässigen Max-und-Moritz-Gesellschaft zur Förderung satirischer Kunst e.V., und Gerda Gränzig, Berliner
Mundart-Schriftstellerin und Mitglied der Arbeitsgruppe Kinder- und Jugend-Buch-Autoren in der
Neuen Gesellschaft für Literatur e. V, vorgelegt. E. Schulz bezeichnet die Version des Kreuzbergers
Wirth als kräftiger, deftiger und erwachsenenbezogener, diejenige der Nordberlinerin Gränzig hingegen als gemäßigter, volkstümlicher und kindgerechter.
244
i
Eine kurze Analyse von Werk, Wertung und Wirkung von Max-und Moritz-Streichen und ein Abriß
über Geschichte und Bedeutung des Berlinischen, „eine Mischung aus Zufall und Regel, Jargon und
Dialekt" leiten den Band ein. Ein abschließender Essay „Busch und Berlin" schlägt eine Brücke. Ein
Beitrag über die Bedeutung des Wilhelm-Busch-Museums in Hannover, eine Auswahl-Bibliographie
und ein Kurzporträt der Mitarbeiter an diesem Band bilden den Abschluß des Buches.
Von Max und Moritz gibt es heute annähernd 200 Übertragungen in verschiedene Sprachen in Millionenauflagen und Dialekten, allein auf dem deutschsprachigen Buchmarkt finden sich rd. 50 Fassungen. Daneben gibt es eine Fülle künstlerischer Umsetzungen des Stoffs in andere Medien, etwa Bühnenwerke, Kompositionen, Filme, Schallplatten und Fernsehfassungen. In Berlin wird der Max-undMoritz-Preis von der gleichnamigen Gesellschaft verliehen, auch Gaststätten halten die Erinnerung
an Wilhelm Busch und seine Geschöpfe wach.
Die Betrachtungen über das Berlinische, Geschichte, Grammatik und Lokalisierung einschließlich
der Frage, ob es sich um einen Dialekt oder einen Jargon handelt, sind lesenswert. Eine Standortkarte
unterrichtet über die anderen deutschen Dialektübertragungen, etwa aus den Dialektgebieten Bitburg, Eupen, Luxemburg, aus dem mennonitischen Plattdeutsch, dem Pensylvania Dutch und dem
Siebenbürger Sächsisch, auch aus dem Zimbrischen.
Zum Vergleich der beiden Berliner Fassungen sei der Schluß der Bubenstreiche hier wiedergegeben,
zunächst im Kreuzberger Dialekt W. Wirths, sodann in der modernistischeren Version G. Gränzigs.
„Selbst der jute Onkel Fritze
Saacht: ,Det kommt von doofe Witze!'
Und der olle Müllersmann
Dachte: Watt jeht mir det an!
Kurz: In janz Berlin herum
Jing een freudijet Jebrumm:
Jott sei Dank, nu is vorbei
Mit die Übeltäterei!"
„Selbst der jute Onkel Fritze,
sprach: ,Dit kommt von dumme Witze!'
Doch der kleene Bauersmann,
dachte: ,Wat jeht mir dit an!'
Kurz, im janzen Ort herum,
jing ein freudijet Jebrumm:
,Jott sei Dank! Nun isset aus!'
Der Onkel holt' den Konjak raus!"
Die Frage, ob Wilhelm Busch überhaupt den Berliner Dialekt beherrschte, wird mit einem eindeutigen Ja beantwortet. In seinem Briefwechsel zum Thema Berlin gebraucht er ihn allerdings nicht.
Freunde des Berlinischen werden an der „Schöpfungsgeschichte von einem orthodoxen Berliner"
ihre Freude haben, die kleine Autobiographie „Von mir über mich" ruft das Leben Wilhelm Buschs in
Erinnerung zurück.
Mit Interesse erfährt man, daß die in der Luisenstadt ansässige Max-und-Moritz-Gesellschaft zur
Förderung satirischer Kunst e.V. ganz im Sinne multikultureller Bestrebungen die Streiche der beiden
Lausbuben demnächst in Serbisch, Türkisch, Griechisch und in einer ägyptischen Version der arabischen Sprache vorlegen will.
Als Muster eines knappen Nachrufs stehe hier, was Gerhart Hauptmann geschrieben hat: Wilhelm
Busch ist der Klassiker deutschen Humors, und das will in gewissem Sinne auch sagen, des deutschen
Ernstes. So verehre ich ihn als eine der köstlichsten Emanationen deutschen Wesens. Er säte weltüberwindendes Lachen über groß und klein: Dank ihm! Wie viele Tränen hat er getrocknet! Und er
ist ein Weiser.
SchB.
245
Dieter H. Schubert: Berliner Köpfe. Wer lebt(e) wo? Ein touristisches Adreßbuch. Elefanten Press
Verlag GmbH, Berlin 1992. Broschiert 185 Seiten.
Daß man über Berlins Ruf streiten kann, wie der Autor in seiner Einleitung schreibt, ist nicht zu
bezweifeln, trifft aber auch auf seine Aussage zu, daß der Ruf der Berliner immer besser war als der
ihrer Stadt. Genau 50 Berliner, gebürtige wie gelernte, werden mit ihren Berliner Adressen und einer
kurzen Beschreibung ihres Erdenwandels vorgestellt. Die sehr kurze Charakterisierung der „Berliner
Köpfe" im Inhaltsverzeichnis wird dann aber in den Text nicht übernommen. Heißt es über den alphabetisch ersten Kopf, Arnim, Bettina von, „Die literarische Anwältin der Armen aus der Lindenallee",
so lautet der entsprechende Untertitel der eigentlichen Lebensbeschreibung. „Die Dichterin, die dem
preußischen König trotzte — verstorben am 20. Januar 1859 in Berlin". Bismarck, Fürst Otto von
kann sich gegen seine Kurzcharakterisierung: Deutschlands „Eiserner Kanzler" und „ Depeschen verdreher" nicht wehren.
Bemerkenswert sind die Darstellungen auf Seite 16(nicht 17) „Nikolai Bersarin. Der erste sowjetische
Stadtkommandant in Berlin — schreibt sich in sieben Wochen in die Berliner Stadtchronik ein" — im
Inhaltsverzeichnis kürzer gekennzeichnet als „sowjetischer Kommandant mit Herz für Berlins Bevölkerung". Nicht jedem Berliner dürfte geläufig sein, daß Generaloberst Bersarin am 16. Juli 1945 an
der Kreuzung Alt-Friedrichsfelde/Schloßstraße tödlich verunglückte, als die Bremsen seines Motorrades versagen und er gegen einen Militärlastwagen seiner Armee geschleudert wird. Als Pendant
kann dann Lucius D. Clay nicht fehlen, „Der Initiator und Mitorganisator der Luftbrücke — wird 1962
zum Ehrenbürger Berlins ernannt" treffender vielleicht im Inhaltsverzeichnis: Der „Luftbrückenmann" aus Georgia/USA.
Wer nach der Länge der einzelnen Beiträge urteilt, könnte den Verdacht hegen, die Gewichte seien
ungleich verteilt (beispielsweise je vier Seiten für Karl Liebknecht und Rudi Dutschke, drei Seiten für
Fontane und je zwei Seiten für Else Lasker-Schüler und Moses Mendelssohn), doch ist eine solche
Zählweise nicht bezeichnend für den Inhalt des Büchleins. Daß auch dort von Faschismus gesprochen
wird, wo der Nationalsozialismus gemeint ist, stört sicher nicht nur den Historiker, dem die gravierenden Unterschiede zwischen den Inhalten dieser beiden Begriffe geläufig sind, hätte aber sicher auch
dem Lektor auffallen müssen.
246
Im IV. Quartal 1993 haben sich folgende Damen und Herren
zur Aufnahme gemeldet.
Drope, Margot,
Halenseestraße 1 c
10711 Berlin
Tel.: 8 9286 32
Finkeinburg, Prof. Dr. Klaus, Jurist
Kurfürstendamm 24
10719 Berlin
Tel.: 88 2971 (Dr. Uhlitz)
Liers, Dr.-Ing., Dagobert, Lehrer
Rupprechtstraße 15 c
10317 Berlin
Tel.: 5 29 5196
Neitzke-Senger, Christel, Kunsthistorikerin
Seesener Straße 18
10711 Berlin
Tel.: 8 911264
Pahlitzsch, Werner, Rechtswanwalt
Leonorenstraße 34
12247 Berlin
Tel.: 7 710182 (H.-W. Treppe)
Richter, Alfred, Rentner
Haberlandweg 2
13591 Berlin
Tel.: 3 66 33 80 (Fr. Schelling)
Statzkowski, Andreas, Stadtrat
Spessartstraße 15
14197 Berlin
Tel.: 8215944 (Dr. Uhlitz)
Witt, Marianne, Verwaltungswirtin
Hohenzollerndamm 194
10717 Berlin
Tel.: 25 32-36 29 (K.-H. Kretschmer)
247
Veranstaltungen im I. Quartal 1994.
Auf Vorstandsbeschluß sind die Vortragsveranstaltungen generell von 19.30 Uhr auf 19 Uhr
vorverlegt worden, um den Hörern eine frühere Heimkehr zu ermöglichen. Beachten Sie bitte
die veränderten Anfangszeiten!
1. Sonnabend, den 5. Februar 1994,17 Uhr: Geselliges „Eisbein-Essen", auf Wunsch auch
Rinder-Roulade, in den Historischen Weinstuben im Knoblauch-Haus neben der Nikolaikirche, Berlin-Mitte, Poststraße 23. 20 DM pro Gericht. Telefonische Anmeldungen bis
zum 31. Januar 1994 unter 8 54 58 16, ab 19 Uhr. Bitte, halten Sie, wenn möglich, die
Anmeldefristen ein, um unvorhergesehene Platzprobleme zu vermeiden!
2. Sonnabend, den 19. Februar 1994,11 Uhr: Geführter Besuch der Ausstellung „Porzellan,
Kunst und Design 1889 bis 1939". Ein Überblick über die Porzellangeschichte, die für die
Entwicklung moderner Gestaltung wichtig ist. Bröhan-Museum, Charlottenburg, Schloßstraße 1 a. Gruppenpreis-Eintritt 3 DM, der von den Mitgliedern und Gästen zu entrichten ist.
3. Montag, den 7. März 1994,19 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Günter Wollschlaeger:
„Das Berliner Stadtschloß und seine Baumeister". Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg.
4. Montag, den 21. März 1994, 19 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Hans-Werner Klünner: „Die Umgebung des Stadtschlosses einstund heute". Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg.
Termin der Jahreshauptversammlung 1994 ist der 27. April 1994, 19 Uhr. Einladung mit
Tagesordnung und Vortragsthema finden Sie rechtzeitig im Heft 2/94.
Bibliothek: Berliner Straße 40, 10715 Berlin, Telefon 87 2612. Geöffnet: mittwochs 16.00 bis
19.30 Uhr.
Vorsitzender: Hermann Oxfort, Breite Straße 21, 13597 Berlin, Telefon 3 33 2408.
Geschäftsstelle: Frau Ingeborg Schröter, Brauerstraße 31, 12209 Berlin, Telefon 772 34 35.
Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Berndt, Seestraße 13, 13353 Berlin, Telefon 45 09-264.
Schatzmeister: Karl-Heinz Kretschmer, Greveweg 6, 12103 Berlin, Telefon 7 534278.
Konten des Vereins: Postbank NL Berlin (BLZ 10010010), Kto.-Nr. 433 80-102, Berlin;
Berliner Bank AG (BLZ 100 200 00), Kto.-Nr. 03 81801200.
Die Mitteilungen erscheinen vierteljährlich. Herausgeber: Verein für die Geschichte Berlins, gegr.
1865, Schriftleitung: Günter Wollschlaeger, Kufsteiner Straße 2,10825 Berlin; Dr. Christiane Knop,
Rüdesheimer Straße 14, 13465 Berlin; Beiträge sind an die Schriftleiter zu senden.
Abonnementspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag gedeckt. Bezugspreis für Nichtmitglieder: 16 DM
jährlich.
Herstellung: Westkreuz-Druckerei Ahrens KG Berlin/Bonn, 12309 Berlin.
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Schriftleitung.
248
Fethabteilung der Berliner StadtLißlio&Ä
MITTEILUNGEN
DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS
GEGRÜNDET 1865
90.Jahrgang
Heft 2
Leuchterengel (Detail), St.-Pauli-Kirche, Soest
April 1994
Altarkreuze und Leuchter aus Königlich
Preußischem Eisenguß in einem westfälischen Landkreis
Von Paul Habermann
Da heutzutage Altarschmuck aus Königlich Preußischem Eisenguß wenig bekannt ist, möchten wir im folgendem auf einige auch noch heute in Soest und der umgebenden Soester Börde
in Westfalen in sakraler Verwendung stehende Altarkreuze und Altarleuchter aufmerksam
machen, die im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts in diese Kirchen gekommen sind, wobei sich
der Anlaß und das genaue Aufstellungsdatum nur in einem Fall durch auffindbare Dokumente
sichern ließ.
Für die Wirtschaft des preußischen Königreiches spielten die Erzeugnisse der Königüchen
Eisengießereien eine bedeutende Rolle. Seit 1754 gab es die Gießerei Malapane bei Oppeln in
Oberschlesien, die bis zum Siebenjährigen Krieg vorwiegend Kanonenrohre und Kugeln für
die preußische Armee gegossen hatte und später durch den Guß von Brückenteilen besonders
bekannt wurde (12,15). Danach entstand 1794 die Eisengießerei in Gleiwitz. In Berlin erfolgte
1804 die Eröffnung der Königlichen Eisengießerei vor dem Oranienburger Tor. Nach dem
Wiener Kongreß kam 1815 auch die zuvor nassauisch gewesene Gießerei in Sayn bei Koblenz
in preußischen Besitz (8, 179).
Neben dem Guß großer Eisenteile wie Brücken, Kandelabern, Geländern, großen Grabkreuzen entwickelte sich als ein besonderer Zweig der Gießereitechnik der Guß kleinerer Teile, der
dann bald eine besondere Bedeutung erlangte. So stellte die Gleiwitzer Hütte in großer Zahl
Medaillen her (7, 98). Sie zeigten Köpfe von Feldherren, Philosophen, Dichtern der Antike,
ebenso auch viele bedeutende Personen der eigenen Zeit. Es sind Mitglieder der preußischen
Herrscherfamilie, ihre Verwandten und Freunde, Generale der Befreiungskriege. Vor allem
der Kopf des Königs Friedrich Wilhelm III. findet sich in zahlreichen Variationen dargestellt.
Aber auch der Guß rundplastischer Denkmäler wurde technisch bewältigt. Das Denkmal der
Befreiungskriege, das später dem Berliner Stadtbezirk „Kreuzberg" seinen Namen gab, ist ein
Beispiel des Eisenkunstgusses dieser Zeit.
Es entstanden auch verkleinerte Nachbildungen großer Denkmäler als Zimmerschmuck,
Schreibtischgeräte und anderer häuslicher Zierrat.
Es ist kein Zufall, daß der preußische Orden, der erstmals in gleicher Weise an Mannschaften
wie an Offiziere verliehen wurde, das „Eiserne Kreuz", aus diesen Eisengießereien hervorging.
Auskunft über die schwierige Technik des Gusses geben genaue Schilderungen zeitgenössischer Fachleute, die bei E. Hintze (7, 41) und in dem neueren, sehr ausführlichem Buch von
E. Schmidt (12, 12) angeführt werden.
Die gegossenen Stücke mußten mit einem rostschützenden und verschönernden Lack überzogen werden. Wir entnehmen einem Bericht von damals: „Der auf der Eisengießerei bei Gleiwitz zu gebrauchende Lack ist eine Composition von 1 Quart rohem Leinöhle, % Pfund Burgunder Quarz, 6 Loth Bleiglätte und % Pfund Weihrauch. Dieses alles muß in einem reinen
zugedeckten Topfe vier bis fünf Stunden lang gekocht werden, bis die Mischung eine klare
braune Flüssigkeit wird, welche, wenn sie noch lange Zeit steht, dunkelbrauner und fester
wird" (7,44). Es waren dann noch weitere umständliche Maßnahmen nötig, bis der volle Nutzen und die beste Wirkung erzielt waren. Die Sayner Hütte hielt die Zusammensetzung der
Anstreichlösung geheim (15, 189).
250
Abb.l:
Kruzifix, St. Pauli-Kirche,
Soest
.
Eine Spezialität, die sehr hohe Anforderungen an die Gußtechnik stellte, waren Schmuckstücke. Wie schon bei den größeren Gußstücken, zum Beispiel den Grabkreuzen, lieferten die
bedeutendsten Künstlers Preußens wie Schadow, Schinkel, Rauch, um einige Namen zu nennen, die Entwürfe.
Diademe, Halsketten, Ohrgehänge, Armbänder, Gürtelschnallen, Broschen waren oft Arbeiten von feinster filigraner Zierlichkeit. Die Einzelteile wurden gegossen und dann mit dünnen
Eisendrähten verlötet. Man ist überrascht über dessen Leichtigkeit, wenn man ein solches gußeisernes Schmuckstück in der Hand hält.
Da in den Befreiungskriegen viele Pretiosen aus edleren Metallen zur Deckung der Kriegskosten von der Bevölkerung in Preußen geopfert worden waren, bestand trotz des geringen Wertes des Materials ein besonders großer Bedarf für diesen zeitgemäßen und durch die hohe
Kunst seiner Herstellung kostbaren Schmuck.
So war es nicht verwunderlich, daß in Berlin zusätzlich leistungsfähige Privatbetriebe für
Eisenkunstguß entstanden, die ebenfalls kleinere Ziergeräte und Schmuck herstellten. „Berliner Eisen", „fer de Berlin", wurde in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem Begriff in
ganz Europa (10, 21).
251
Zu dem Umfange und den Leistungen der Königlichen Eisengießereien in Berlin heißt es in
dem Wegweiser durch die wichtigsten technischen Werkstätten in der Residenz von 1820: „Die
Eisengießerei stellt uns das Mächtige, Colossale, Unzerstörbare in gewaltiger Masse und in der
festesten Zusammenfügung, zugleich mit dem Niedlichsten, Feinsten, Gefälligsten in der zartesten Form und Gestaltung, auf; wobei uns der Contrast der verschiedenartigen Erzeugnisse
aus demselben rohen, harten, aber der Macht des Feuers unterliegenden, und dadurch jeder
Bildung sich fügenden Stoff, in Erstaunen und Bewunderung setzen muß. Die Productionen in
Eisenguß gehören zu jenen Aufstellungen des menschlichen Kunstfleißes unseres Zeitalters,
wodurch sich dessen überwiegende Fortschritte vor jedem anderen bewähren" (16, 3).
Während der gefällige Schmuck und die Kleinkunst aus den Königlichen Gießereien heutzutage wieder mehr Aufmerksamkeit gefunden haben und bei Auktionen hohe Preise erzielen, ist
das Interesse an den anderen Produkten weit geringer. Bei der Auflassung der Friedhöfe gingen die ursprünglich zahlreichen Grabdenkmäler meist verloren. Fanden sich zum Beispiel auf
dem Alten Garnisonfriedhof in Berlin am RosenthalerTor 1977 noch 489 Grabstellen, so sind
es heute nur noch 180 (4,24), und damit ist eine beträchtliche Zahl von Grabkreuzen mit ihren
eisernen Umzäunungen vernichtet.
Dagegen sind andere kleine Kunstwerke des Eisengusses aber noch heute an verschiedenen
Orten im Gebrauch. Es handelt sich um Altarkreuze und Altarleuchter, deren Herstellung
gleichsam ein wichtiger Zweig der Eisenkunstgußproduktion war. So konnte 1824 allein die
Gleiwitzer Gießerei 1181 Kruzifixe mit Postamenten und 1489 Leuchter verkaufen (7,98). Die
Gießereien in Gleiwitz, Berlin und Sayn tauschten teilweise ihre Gußmodelle aus, die dann mit
größeren oder geringeren Abwandlungen an den verschiedenen Orten zum Guß benutzt wurden. Es ist daher oft schwer, nachträglich festzustellen, welche Gießerei das Altarkreuz oder
den Altarleuchter jeweils geliefert hat.
Der vor etwa 170 Jahren übliche Gebrauch solcher gußeisernen Altargeräte wird in einem
Bericht Fontanes deutlich. Er schildert, wie der Feldmarschall v. d. Knesebeck als Patronatsherr des kleinen Dorfes Karwe südlich von Neuruppin in Begleitung des Königs Friedrich Wilhelm III. von Preußen und des Kaisers Alexander I. von Rußland sich 1818 in den Ausstellungsräumen der Berliner Gießerei am Oranienburger Tor für seine Kirche Kreuz und Leuchter aussuchte.
„Sagte der König zum Kaiser: Wir wollen es der Karwer Kirche gemeinschaftlich schenken!
Und so geschah's" (3,59). Gar so teuer war dieser Altarschmuck nicht. Wir wissen aus dem bei
Hintze (7, 57) veröffentlichten Gleiwitzer Preis-Courant, daß ein großes Kruzifix mit Postament sechs Reichstaler und fünfzehn Silbergroschen kostete.
Nicht nur im märkischen Karwe sind Kruzifix und Leuchter erhalten geblieben(3,625). Auch
im kirchenreichen Soest in St. Pauli wie in vier Kirchen der Soester Börde zieren sie noch heute
die Altäre.
Den alten historischen Verbindungen zwischen Brandenburg-Preußen und Soest ist es zu verdanken, daß der seinerzeit begehrte Altarschmuck den Weg in das von den preußischen Eisengießereien weit entfernte Westfalen fand.
Nach dem Aussterben des klevischen Herzoghauses im Jahre 1609 und nach langen Erbstreitigkeiten mit dem Pfalzgrafen von Pfalz-Neuburg wurde auch die alte westfälische Hansestadt
mit ihrem Umland brandenburgisch. Der Kurfürst Johann Sigismund (1572—1620) war 1613
calvinistisch geworden, wie es die Hohenzollern auch weiterhin blieben, ohne aber von ihren
überwiegend lutherischen Untertanen den Übertritt zum Calvinismus zu verlangen. In der
Gegenreformation wurde die Stadt Soest zwar wieder katholisch, doch seit 1570 ist sie wieder
evangelisch (9, 17).
252
I
Abb. 2: Saynerhütte Preis-Courant (Ausschnitt) (aus Hintze S. 122)
Im Jahre 1669 huldigten die Soester Bürger dem brandenburgischen Kurfürsten Friedrich Wilhelm, dem Großen Kurfürsten (1620—1688). Damit gehörte Soest nun endgültig zu Brandenburg und blieb es im Lauf der Geschichte, die aus dem brandenburgischen Kurfürstentum das
Königreich Preußen werden ließ (9, 20).
Zuerst soll ein Alltarkreuz gezeigt werden, das wir in Soest in der Sakristei der in der Mitte des
14. Jahrhunderts erbauten Paulikirche finden. Bei einer gesamten Höhe von 75 cm hat es einen
verhältnismäßig hohen und schmucklosen Sockel. Der Korpus ist goldbronziert, wie auch bei
fast allen anderen nachfolgend beschriebenen Kruzifixen (Abb. 1). Die Sayner Hütte gab in
den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts einen illustrierten Katalog heraus. Darin finden
wir dieses Kreuz als das größte einer zum Verkauf angebotenen Auswahl (Abb. 2).
Weiterhin ist in der Sakristei neben dem Kreuz ein aufwendig gestalteter Leuchterengel zu
sehen. Die sentimentale Darstellung des Engels mit geschlossenen Augen und mit betend
aneinander gelegten Fingerspitzen hebt sich merklich von anderen weit schlichteren Leuchterformen ab (Titel), so daß seine Entstehungszeit an das Ende der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu setzen sein wird. In dem Preis-Courant der Gleiwitzer Hütte von 1847 finden wir diesen Leuchterengel abgebildet (Abb. 3), und der Preis wird mit sechs Reichstalern angegeben.
Etwa sieben Kilometer nordwestlich von Soest, an der Straße nach der seit 1624 brandenburgi253
sehen Garnisonstadt Hamm, liegt das Dorf Borgein. Die ältesten Teile seiner Kirche, die keinen
Schutzpatron hat, stammen aus dem 12. Jahrhundert. Hier finden wir Altarkreuz und Altarleuchter noch in regelmäßigem sakralem Gebrauch.
Die Typ des Kreuzes ähnelt dem in der Soester St.-Pauli-Kirche beschriebenen. Seine Höhe
beträgt 115 cm. Das Postament ist gegenüber dem vierstufigen Fuß mit einer vergoldeten
Schmuckleiste abgesetzt; oben trägt es an der Schauseite vier goldene Sterne. Auch das untere
Ende des Kreuzstammes zeigt eine Schmuckleiste, über der sich noch ein sechszackiger Stern in
einem ovalen Kranz, beides auch vergoldet, befindet. Der Korpus ist hier aus schwarzlackiertem Eisen. Lendenschurz und Dornenkrone heben es durch ihre Vergoldung besonders hervor.
Prunkvoll sind die beiden Altarleuchter (Abb. 4). Zwischen den vier geschwungenen Füßen
hängt jeweils eine vergoldete Muschel der St.-Jakobs-Pilger, ein Schmuck, der für die Entstehung im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts und für den Gebrauch in einer protestantischen
Kirche ungewöhnlich ist.
Der spiralig gewundene Leuchterschaft entwickelt sich aus einem Blumenkelch und endet in
einem Kapitell, auf dem vasenartig ein Korb mit dem Teller für den Dorn der Kerze sitzt. Ein
ähnlicher, wenn zwar in Einzelheiten abweichender Leuchter ist im Sayner Preis-Courant
abgebildet (s. Abb. 2).
In der Dorfkirche des weitere sieben Kilometer an der Straße nach Hamm gelegenen Ortes
Dinker stehen auf dem Altar Kreuz und Leuchter aus preußischem Eisen. König Friedrich Wilhelm III. von Preußen hatte nach einer längeren Reise auf der Rückfahrt nach Potsdam am
12. Juli 1821 im Pfarrhaus zu Dinker Rast gehalten. Zum Dank für die freundliche Aufnahme
stiftete er das Altarkreuz und die Altarleuchter für die Kirche (5, 90). Doch mußte die
Gemeinde noch sieben Jahre auf das königliche Geschenk warten. Denn erst im Februar 1828
traf es aus der Königlichen Eisengießerei Saynerhütte bei Ehrenbreitstein in Dinker ein (13,5)
und hat seitdem seinen Platz in St. Othmar.
Das 77 cm hohe Kreuz wirkt schlicht. Auch der Sockel ist nicht besonders verziert (Abb. 5).
Das düstere Schwarz des Eisens scheint der Gemeinde nicht gefallen zu haben, so daß das
Kreuz und die beiden Leuchter goldbronziert wurden.
Bei den Leuchtern erhebt sich aus dem rechteckigen Fuß der vierkantige Leuchterschaft, dessen Seiten mit Blattornamenten reich versehen sind. Der Schaft verbreitert sich nach oben und
geht in einen vasenförmigen Kerzenhalter über, der als beliebtes Motiv der Zeit mit zwei um
den Vasenkörper drapierten Schärpen dekoriert ist.
Sowohl der Sayner als auch der Gleiwitzer Verkaufskatalog zeigen Muster dieses Leuchtertyps, woraus zu schließen wäre, daß dieser Leuchter sich bei den Käufern besonderer Beliebtheit erfreute. Auch die Schloßkapelle in Charlottenburg in Berlin besitzt solche Leuchter
(2, 171), die man auf Ausstellungen in den letzten Jahren sehen konnte (1, Abb. 429;
2, Abb. 359).
In Ostönnen, etwa sieben Kilometer ostwärts von Soest an der ehemaligen alten Reichsstraße
Königsberg—Aachen gelegen, gibt es ein weiteres Kreuz aus preußischem Eisenkunstguß. Es
steht nicht mehr auf dem Altar der Dorfkirche St. Andreas; es wird im Pfarrhaus aufbewahrt.
Aber bei besonderen kirchlichen Anlässen findet es auch heute noch Verwendung.
Dieses Altarkreuz ist 77 cm hoch. Die zweistufige Grundplatte ist mit eierstabähnlichen vergoldeten Schmuckleisten versehen. Die Frontseite des Sockels verzieren zwei ebenfalls vergoldete Kränze. Im Katalog „Eisen statt Gold" sehen wir ein ähnliches Kreuz abgebildet, der Herkunftsort Sayn ist aber mit einem Fragezeichen versehen (2, Abb. 245).
Schließlich gibt es auf dem Altar der Kirche St. Urbanus des sieben Kilometer nordöstlich von
Soest gelegenen Dorfes Weslarn ebenfalls ein Kreuz aus Eisenkunstguß, das bei einer Höhe
254
Abb. 3:
Gleiwitzer Preis-Courant
von 1847 (Ausschnitt)
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von 88 cm reicher geschmückt ist als die bisher vorgestellten. Der Sockel steht auf einer zweistufigen Basis. Die zweite Stufe und der Sockel sind mit einer vergoldeten Zierleiste abgesetzt.
Ein großer ovaler, vergoldeter Kranz füllt die Schauseite des Sockels aus. Vor dem Fuß des
Kreuzes sehen wir einen Totenschädel, der ebenso wie eine sich um den Kreuzfuß und den
Schädel windende Schlange vergoldet ist. Auch der Korpus und die I. N. R. I.-lnitialien leuchten golden. Das vieldeutige Symbol der Schlange wird hier als ein Zeichen des den Tod überwindenden Christus nach 4. Mose 21,9 und Johannes 3,14 zu erklären sein (6, 256).
255
Im Gleiwitzer Preis-Courant von 1847 ist ein sehr ähnliches Kreuz wiedergegeben, das aber an
der Frontseite des Postaments zwei größere ovale Kränze trägt, auch die Schmuckleisten an den
Stufen fehlen. In den Illustrationen der Gleiwitzer und der Sayner Kataloge wird deutlich, daß
in ihnen gleiche Modelle wiederkehren, die in verschiedenen Einzelheiten aber von einander
abweichen.
Vielleicht vermag unser Bericht über Altargeräte aus preußischem Eisenkunstguß, die in Soest
in der St.-Pauli-Kirche und in den umliegenden Dorfkirchen der Soester Börde in Borgein,
Dinker, Ostönnen und Weslarn noch heute vorhanden sind, die Anregung dazu geben, weiteren noch sich im sakralen Gebrauch befindenden Altarkreuzen und Altarleuchtern aus den
Königlich Preußischen Eisengießereien nachzuspüren.
Abb. 4:
Leuchter, Kirche in Borgel
256
Abb. 5:
Kruzifix, Kirche in Dinker
Literatur
1 Berlin und die Antike, Katalog, hrsg. v. W. Arenhövel; Berlin 1979
2 Eisen statt Gold, Katalog, hrsg. v.W. Arenhövel; Berlin 1982
3 Fontane, Th.: Wanderungen durch die Mark Brandenburg, Dörfer und Flecken im Lande Ruppin, hrsg. v. G. u. Th. Erler; Berlin u. Weimar 1992
4 Gottschalk, W.: Der Garnisonfriedhof und der Invalidenfriedhof zu Berlin; Berlin 1991
5 Habermann, P.: Erfrischungen ohne Festessen, Heimatkalender des Kreises Soest 1993
6 Heinz-Mohr, G.: Lexikon der Symbole; Köln 1983
7 Hintze, E.: Gleiwitzer Eisenkunstguß; Breslau 1928
8 Knaff, W.: Die Saynerhütte und ihre Gießhalle, Kruppsche Monatshefte; Essen 1922
9 Köhn, G.: Soest in der Geschichte. Ein Kalender von 5000 v. Chr. bis 1992; Soest 1992
10 Pniower, O.: Berliner Eisen, Mitteilgn. d. Vereins f. d. Geschichte Berlins; Berlin 1924
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14
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16
Sayner Eisenkunstguß: Sayner Eisenkunstguß. In: Kruppsche Monatshefte; Essen 1927
Schmidt, E.: Der Preußische Eisenkunstguß; Technik, Geschichte, Werke, Künstler; Berlin 1981
Smiezchala, A.: Der Altarschmuck von St. Othmar in Dinker, Dinker 1982
Stamm, B.: Blicke auf Berliner Eisen. Aus d. Berliner Schlössern; kl. Schriften; Berlin 1979
Thiele, A.: Der Kunstguß auf Saynerhütte, Kruppsche Monatshefte; Esssen 1927
Weber, H.: Wegweiser durch die wichtigsten technischen Werkstätten der Residenz Berlin, II.
Teil; Berlin und Leipzig 1820, Reprint Berlin 1987
17 Widerra, R.: Berliner Eisenkunstguß, Mark. Museum (Ost-)Berlin o. J.
Bildnachweis:
Alle Fotografien vom Verfasser
Anschrift des Verfassers:
Dr. med. habil. Paul Habermann, Franz-Nölken-Weg 9, 59494 Soest
Aus dem Mitgliederkreis
Professor Dr. Margarete Kühn 90 Jahre
Jetzt kann man wohl mit Fug und Recht von der „großen alten Dame" der Berliner Kunstgeschichte
und ebenso einer Kunstgeschichte in Berlin sprechen: Professor Dr. Margarete Kühn vollendete am
4. Februar 1994 ihr 90. Lebensjahr. Welch unerhörter Glücksfall für Berlin ist diese den Fachkollegen
des In- und Auslandes und erst recht den Berlinern wohlbekannte Kunsthistorikerin, die ihr Lebenswerk der Stadt, ihren bedeutendsten Gebäuden und Künstlern, wie Carl Friedrich Schinkel, widmete.
Ihre Verdienste um die Kultur Berlins, seiner Kunstgeschichtsforschung und damit zusammenhängend seiner Denkmalpflege galten einem speziellen Bereich, der heute neue, bedeutende Aktualität
gewonnen hat. Als „ungekrönte Herrscherin" des Schlosses Charlottenburg, dessen Wiederaufbau
sie beharrlich betrieb und durchsetzte, ist sie in die Annalen eingegangen. Regieren war zu allen Zeiten schwer und Finanzieren noch viel mehr — das galt für sie damals wie für uns heute.
Die gebürtige Westfalin (Dortmund-Lütgendortmund) und Tochter eines Architekten studierte
zunächst in München Naturwissenschaften, bevor sie zur Kunstgeschichte überwechselte. 1928 promovierte sie über ein Thema der italienischen Architektur des 16. Jahrhunderts. Ihr berufliches Leben
hat Margarete Kühn — eine im besten Sinne „gewordene" Berlinerin — der preußischen und Berliner
Schlösserverwaltung gewidmet. Schon 1929 trat sie in diese damals noch junge Institution ein und hat
sie eigentlich bis zu ihrer Pensionierung 40 Jahre später nicht mehr verlassen. Über die Stationen einer
Volontärin und „Wissenschaftlichen Hilfsarbeiterin" erwarb sie sich beste Sachkenntnis und sicher
auch ihre Liebe zu diesen gerade zu Museen ernannten Gesamtkunstwerken aus Architektur, Plastik,
Innenausstattung und Gärten. Konnte sie damals ahnen, daß dieses Engagement einst mit einer eigenen „Schlösserherrschaft" belohnt werden würde ? Doch welch schwerer Weg führte dorthin! Großes
Engagement forderte nach der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges zunächst der Wiederaufbau der
Berliner Schlösserverwaltung; der Kampf gegen den Abriß des Berliner und des Potsdamer Schlosses
blieb, wie wir wissen, erfolglos. Das Schloß Charlottenburg — nach 1948 Sitz der Berliner Schlösserverwaltüng — wurde von M. Kühn in seinem Wiederaufbau einer „geschichtsmüden Nachkriegsgeneration", deren Blick weit mehr auf die allgemein herrschende Not, den Geld- und Wohnungsmangel
gerichtet war, abgerungen. Die Auseinandersetzung um den Wiederaufbau des Charlottenburger
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Schlosses geriet zu einem Lehrbeispiel, das Maßstäbe setzte. Die alte Lehrmeinung, daß die Denkmalpflege nur konservieren, nicht restaurieren dürfe, hatte nach 1945 — in einigen frühzeitig kriegszerstörten deutschen Städten schon eher — in vielen Fällen zu völligem Verlust historischer Bauten
geführt, u. a. zugunsten einer „zeitgemäßen Verkehrsführung" in Altstädten. Margarete Kühn setzte
sich auf beispielhafte Weise durch: Wo exakte Rekonstruktion nicht möglich war, entschloß sie sich zu
moderner Ergänzung. Es sollte keine „Alte-Fritz-Kulisse" vorgegaukelt werden. Viele ihrer Entscheidungen haben sich als richtig, mehr noch als richtungweisend für die Denkmalpflege erwiesen.
Gilt es nicht heute, sich an diesem herausragenden Beispiel zu orientieren?
Margarete Kühn trat 1969 in den so verdienten Ruhestand. — Wirklich ? Nein! Ganz falsch! Sie trat in
den „kunsthistorischen Unruhestand"! Sie wurde gewissermaßen zur „keinesfalls Patina ansetzenden" Vertreterin der Berliner Kunstgeschichtsforschung, bekannt als Erscheinung, der man in allen
Bibliotheken, Archiven, Vorträgen, Ausstellungen begegnete. Fachkollegen erzählten von ihrer
freundlichen und spontanen Bereitschaft zu helfen, konstatierten gleichzeitig die große Bescheidenheit im Gespräch, das auch dem Anfänger nicht das Gefühl gab, ein unnützer Gesprächspartner zu
sein. Auf bemerkenswerte Weise war dieses Verhalten fördernd, ermutigend und befreiend für all das,
was uns als junge Kunstgeschichtsstudenten bewegte! Wir wußten — und fanden nun bestätigt —, wie
notwendig die Forschumg zum 19. Jahrhundert gerade hier in Berlin war. Es war nicht zuletzt Margarete Kühn, die uns den Blick schärfte. Daß sie in der Nachfolge Paul Ortwin Raves die Herausgeberin
des großen Schinkel-Werkes war, imponierte den weiblichen Studenten, sahen sie doch darin eine
„rein männliche Kunstgeschichtsforschung" abgelöst.
Margarete Kühn widmete und widmet sich der Berliner Kunstgeschichte; sie prägte damit das Bild
einer Kunstgeschichtsforschung in Berlin und setzte schon in den Jahren nach dem letzten Krieg Maßstäbe, deren wir heute in einer neuen, doch ähnlichen Situation wieder bitter bedürfen. Sie ist als Wissenschaftlerin immer aktuell geblieben, beharrlich fördernd, wo es not tat. Margarete Kühn hat es
immer abgelehnt, als Heldin gefeiert zu werden. Dem Verein für die Geschichte Berlins geruht es zur
Ehre, sie als einzige gleich zweimal mit der Fidicin-Medaille geehrt zu haben: für die Verdienste im
Verein, der langjährigen Mitarbeit im Vorstand und der Redaktion der Berlin-Bibliographie im Jahrbuch (1974) und erneut (1991) für ihren beruflichen Einsatz und ihre Forschungen zur Berliner
Kunstgeschichte, um die sie sich in hohem Maße verdient gemacht hat.
Sibylle Einholz
Aus dem Vereinsleben
Studienfahrt nach Jena?
Das Fragezeichen hinter der Überschrift deutet an, daß „unser Mann in Jena" zwar schon gefunden
worden ist und auch sehr gut klingende Vorschläge unterbreitet hat (etwa Besuch der Dormburger
Schlösser), das Programm aber noch nicht hieb- und stichfest und schon gar nicht veröffentlichungsreif ist. Dies soll dann in der Juli-Nummer der „Mitteilungen" mit den üblichen Angaben abgedruckt
werden.
Wer sich unverbindlich schon anmelden will oder grundsätzlich für diese Exkursion interessiert ist,
erhält das vollständige Programm vorab zugeschickt, wenn er seinen Wunsch an den Schriftführer Dr.
H. G. Schultze-Berndt, Artuswall 48,13465 Berlin-Frohnau,
richtet.
SchB.
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Nachrichten
Dr. Karl Voss t
Er hatte sich eine ganz spezielle Methode, Literaturgeschichte zu schreiben, zu eigen gemacht: seine
„Spaziergänge" (oder Fahrten) führen den Leser zu den Stätten, wo ein Mann oder eine Frau der
Feder gelebt und gewirkt hat, und von da aus baut er seine Kurzbiographien und Würdigungen des
jeweiligen Schaffens auf. Karl Voss' „Reiseführer für Literaturfreunde Berlin/Vom Alex bis zum
Ku'damm" verkaufte sich bestens; der vielgereiste und polyglotte Autor stellte ihm unermüdlich ein
halbes Dutzend Pendants zur Seite (Frankreich, Paris, London, Schottland, England, zu guter Letzt
noch Potsdam [ 1993]). Studien über England und Frankreich und namentlich die „Redensarten" der
französischen, englischen und italienischen Umgangssprache gingen zeitlich den Reiseführern voraus. Fünf europäische Länder haben Voss' Anteilnahme an ihrer Sprache und Kultur mit hohen Auszeichnungen gewürdigt. Nach dem Studium der Anglistik und Romanistik hatte er als Lehrer an
höheren Schulen und in der Erwachsenenbildung gearbeitet, war in den 50er Jahren am Berliner
Französischen Gymnasium tätig gewesen, um 1960 als Direktor der Europäischen Schule nach
Luxemburg zu gehen, wo er 1971 die Einrichtung und Leitung der Thomas-Mann-Bibliothek, dem
späteren Goethe-Institut, übernahm. Karl Voss hat das Seine zur Wiederherstellung des deutschen
Ansehens nach dem großen Krieg in Westeuropa beigetragen. In einem Interview mit dem „Luxemburger Wort" anläßlich seines 80. Geburtstages sagte er: „Für meine Person möchte ich nicht das
große Wort der inneren Emigration in Anspruch nehmen. Ich war auch kein Widerstandskämpfer . . .
Doch die Schuld, die Nazi-Deutschland auf sich geladen hat, soll nicht vergessen werden. Ich bin
bereit, meinen Teil an Verantwortung für diese Untaten zu tragen. Meine literarische Arbeit, ja mein
Interesse für Autoren, die unter dem Nazijoch Verfolgung und Unterdrückung erleiden mußten, ist
auch ein immer erneuertes Bitten um Vergebung . .. mit dem Hinweis darauf, daß es in jener Zeit
auch andere Deutsche gab." Karl Voss, der in seinen letzten Jahren auch ein paar kleinere Beiträge für
das Jahrbuch „Der Bär von Berlin" lieferte, starb im 87. Lebensjahr im Februar 1994 in seiner Wahlheimat Luxemburg.
Gerhard Kutzsch
Spektakulärer Fund im Kunstbesitz der Humboldt-Universität
Es begann im Jahre 1989 auf einem West-Berliner Friedhof: Im Mausoleum des Chemikers Eilhard
Mitscherlich (gest. 1863) auf dem Alten St.-Matthäus-Kirchhof in Schöneberg wurde mit der Porträtbüste Mitscherlichs ein lange verschollen geglaubtes Werk der deutsch-amerikanischen Bildhauerin
Elisabet Ney (1833 Münster — 1907 Austin/Texas) wiedergefunden. Ney hatte das Bildnis des Chemikers 1860 erstmals in einer Gipsfassung auf der Akademie-Ausstellung in Berlin ausgestellt.
Bekannt war allerdings, daß der aus dem Erbe ihres Lehrers Christian Daniel Rauch (gest. 1857) an
die Künstlerin gefallene Auftrag eine Marmorausführung zur Aufstellung in der Berliner Universität,
deren Rektor Mitscherlich vorübergehend gewesen war, einschloß. Existierte möglicherweise noch
eine Marmorfassung, vielleicht in der heutigen Humboldt-Universität? Die Unterlagen zum Kunstbesitz verneinten diese Frage: Kriegsverlust. Weitere Recherchen verdichteten aber mehr und mehr
die Annahme, daß eine „vermutlich Schadow" zugeschriebene Mitscherlich-Büste in der Landwirtschaftlichen Fakultät möglicherweise identisch mit dem gesuchten Porträt sein könnte. Schon der
erste Augenschein bestätigte dieses. Auf hoch angebrachter Konsole im Hörsaal I erschien das
gesuchte Objekt zunächst unerreichbar. Mit einer Leiter und der Hilfe eines Taschenspiegels konnte
die Signatur an der eng an die Wand gerückten und unbeweglichen Büste entziffert werden: ELIS.
NEY 1865 (3?). Schon die Entdeckung der verschollen geglaubten Gipsbüste von 1859 war eine
kleine Sensation, die sich nun, vier Jahre später, durch den Fund der Marmorbüste komplettierte.
Warum? Elisabet Ney ist die bedeutendste deutsche Bildhauerin des 19. Jahrhunderts. Als letzte
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Rauch-Schülerin ist sie der Berliner Bildhauerschule zuzuordnen, die im letzten Jahrhundert Weltrang besaß. So wundert es nicht, daß die Künstlerin, nachdem sie in die USA übergesiedelt war, dort
bedeutende öffentliche Aufträge erhielt, bis hin zu Denkmals-Entwürfen, die sie eigenhändig in Marmor umsetzte. Bei den in Deutschland entstandenen Werken sind die namhaftesten sicher das Standbild Ludwigs II. von Bayern und die Schopenhauer-Büste. Der Wiederentdeckung der von der Kunstgeschichtsschreibung fast völlig vergessenen Bildhauerin kommt eine besondere Bedeutung zu. Elisabet Ney ist nicht nur die bedeutendste deutsche Bildhauerin des 19. Jahrhunderts. Sie bewies, daß
Bildhauerei keine männliche Domäne ist. Bei den in Deutschland herrschenden Verhältnissen wäre
ihre Karriere allerdings unmöglich gewesen. Amerika bot ihr nicht nur öffentliche Aufträge, sondern
ehrt sie bis heute durch ein Personalmuseum in Austin, Texas. Während das Museum für ihren großen
Berliner Lehrer Rauch in Berliner Depots dahinsiecht, geben Neys Werke an fernem Ort Auskunft
über die Einflüsse einer großen Zeit Berliner Bildhauerei.
S. Einholz
EG fördert Instandhaltung der Karl-Marx-Allee
Im Jahre 1993 ist die Restaurierung historischer Parke und Gärten in den zwölf Mitgliedstaaten von
der EG-Kommission mit insgesamt 3,165 Mio ECU (1 ECU = 1,96 DM) gefördert worden. Insgesamt waren 600 Anträge eingegangen, von denen ein Gremium von Sachverständigen aus den Gebieten Architektur, Archäologie und Restaurierung 58 Projekte auswählte. Von diesen Förderprojekten
liegen sieben historische Park- und Gartenanlagen in Deutschland.
Aus den neuen Bundesländern wurden der Park an der Um in Weimar, der Georgegarten — Georgium
in Dessau und die Karl-Marx-Allee in Berlin finanziell gefördert.
Die im Rahmen des Wiederaufbaus der Stadt nach dem Krieg angelegte Karl-Marx-Allee ist 2,3 km
lang und gilt als das Herzstück des Ostteils Berhns. Diese breite „Prachtstraße", von Bäumen sowie
Blumenbeeten und Parkmobiliar gesäumt, wurde nur unzureichend unterhalten und befindet sich
daher in einem schlechten Zustand. Im Zuge der Instandsetzungsarbeiten ist vorgesehen, unter anderem Parkmobiliar und beschädigte Laubengänge zu erneuern, den Pflasterbelag einzuebnen, neue
Blumen zu pflanzen sowie Arbeiten an der Kanalisation und Wasserzuleitung in Angriff zu nehmen.
Die Karl-Marx-Allee soll sich dann wie eine grüne Achse durch Berlin ziehen.
SchB.
Buchbesprechungen
Thomas Stamm-Kahlmann: „König in großer Zeit. Friedrich Wilhelm III. der Melancholiker auf
dem Thron". 781 Seiten, zahlreiche Abbildungen, Quellen- und Literaturverzeichnis, Namensregister, ausführlicher Anmerkungsteil. Siedler Verlag, Berlin 1992.
Seit Friedrich Meineckes Werk ist der Jahrhundertbeginn um 1800 als „Zeitalter der Erhebung" ein
fester Bestandteil der historischen Wertung Preußens, die Wertung der Persönlichkeit Friedrich Wilhelms III. dagegen war verschiedenen Schwankungen ausgesetzt. Beim Titel, den Verf. hier seiner
Biographie gibt, ist diese Beurteilung als „große Zeit" übriggeblieben, doch inzwischen hatte die
Geschichtsschreibung diese Einschätzung kritischer gesehen, hier wird nun in einem umfangreichen
Werk eine Neueinschätzung der Rolle des Königs versucht, ohne jedoch das Alte umzustoßen, aber
der Zugang wird durch eine differenziertere Persönlichkeitsbetrachtung gebahnt. Verf. setzt sich ab
von dem, was er „Geheimratshistorie" nennt, worunter er das Ausmalen von Biographien (der Reformer) im Zeitalter bürgerlicher Geschichtsschreibung versteht. — Das Buch ist zu lesen von der ernsten
und anspruchsvollen Einleitung her, in der Verf. sein abweichendes Vorgehen vor der historischen
Wissenschaft rechtfertigt. Ihm fällt auf, daß das allgemeine geistige Bild des Reformzeitalters von
261
einem Kreis bürgerlich-liberal erforschter Einzelpersönlichkeiten der Reformer bestimmt ist, sozusagen einem Gruppenbild der Nebenpersonen, daß aber die königliche Mitte gleichsam verschleiert
erscheint. Verf. schildert, wie die verschiedenen historischen Schulen seit Ranke jede dem Bild eine
bestimmte Dimension hinzugefügt haben. Nach so viel sozialgeschichtlicher, ökonomischer und psychologischer Forschung sei es an der Zeit, nach der Person des Königs Friedrich Wilhelm, seinen
Mängeln und Schwächen im Zusammenwirken mit „tiefen Zeitströmungen" zu fragen, d. h., wieweit
sie kompensiert oder befördert wurden, indem der König bei seiner Machtausübung seinen persönlichen Eigenarten unterlag. Dies bezeichnet Verf. als den mentalitätsgeschichtlichen Ansatz. — Er
gründet sein breites Gemälde auf die These: Bei genauer Beobachtung des Regierungsapparates und
der Entscheidungsvorgänge in den diplomatischen Krisen der Jahre von 1807 bis 1830 haben die persönliche Schwäche eines an entscheidender Stelle stehenden Regenten weltgeschichtliche Bedeutung
gewonnen, in diesem Fall: „Hätte Friedrich Wilhelm III. mehr Vertrauen zu seinem Staatskanzler
Hardenberg gehabt statt zu Metternich . . . , dann hätte sich eine Konstitutionalisierung Preußens
durchsetzen lassen, ohne daß 1848 eine verspätete Revolution dazu erforderlich gewesen wäre"
(S. 10). Ausgangspunkt vieler Überlegungen ist die Beobachtung, der Trend zu Staatsreformen habe
schon der spätfriderizianischen Beamtenschaft innegewohnt, als sich zeigte, daß der altgewordene,
angestrengt arbeitende König nicht mehr „alle Dinge selber tun" konnte, wie er es noch seinem Nachfolger anempfohlen hatte. Das innovative Beamtentum seiner Verwaltung konnte sich erst entwikkeln, als der absolute König schwach geworden war und nicht mehr alle Stränge der komplizierter
gewordenen Staatsmaschinerie überblickte. Verf. hat sich damit die Aufgabe gestellt, diesen Regierungsapparat in seiner Funktion zu verfolgen. Er beobachtet ihn vom Regierungsantritt des jungen
Königs bis tief in die Restauration hinein. — Um es vorwegzunehmen: Hier klingen die tieferen Töne
auf, die geeignet sind, unsere Anteilnahme zu wecken, die wir schmerzliche Erfahrung mit der Dämonie der Macht haben. Ein heldischer Staatsmann kann nicht mehr unser Wunsch sein, und den Prinzipien einer eisernen Zeit braucht unsere Geschichtsschreibung nicht mehr zu folgen. „Dann wird
unsere Sympathie für den ahnungsvollen Pessimismus Friedrich Wilhelms III. neu geweckt. Wir Heutigen können seinen Irrtum, gegenüber dem auf die Permanenz des Sieges und der Eroberung angewiesenen Glücksritter Napoleon Buonaparte neutral bleiben und eine Insel der Seligen erhalten zu
wollen, wieder als tragisch empfinden. Wir können es bedauern, daß das Humanitätszeitalter nach
kaum einer Generation im Jahre 1806 geendet hat" (S. 12).
Der „ahnungsvolle Pessimismus" bezieht sich auf des Königs Grundangst vor der Revolution als dem
ganz Anderen, der Abgrundtiefe und Bedrohlichkeit revolutionärer Machtausübung und sozialer
Strukturen. Friedrich Wilhelm konnte sich der grundsätzlich bejahenden, sich selbst verpflichteten
Zukunftshoffnung der Neuhumanisten und Idealisten eines Humboldt, Schleiermacher, Arndt,
Fichte und Kant nicht öffnen. Verf. wirft ihm vor, aus mangelnder, halbherziger Durchsetzungskraft
Metternich und der politischen Polizei Wittgensteins das Feld überlassen zu haben und sich die
Früchte der Reformen nehmen zu lassen. Aber der König glaubte, unter den Gebildeten der patriotischen Beamtenschaft und in Teilen des Heeres den Geist der Zügellosigkeit, den verderblichen Zeitgeist der Revolution vertreten zu sehen, dem er die „vernünftige Freiheit" entgegensetzte, worunter
bescheidene Unterordnung zu verstehen war. Hierin sei die Spannung zwischen Freiheit und Gehorsam nicht durchgehalten und auf Selbstbescheidung reduziert. Insofern bedauert Verf., daß unter
Friedrich Wilhelm III. der Neuhumanismus nur bis 1806 gedauert habe. Der König habe seinem
ängstlichen, friedfertigen Naturell gemäß wenig Anteil an den Reformen gehabt und sie nicht ins
Werk gesetzt. Der neuen religiösen Sinnstiftung durch die Romantiker habe er ferngestanden und den
Geist der Freiheit durch die Pestalozzische Pädagogik weder in die Schule noch das Kantische Pathos
in die Berliner Universität dringen lassen wollen.
Zweifellos erweckt Friedrich Wilhelms Beharrungsvermögen, seine Kraft, im Leiden durchzuhalten,
unsere Achtung, daneben tritt dann wieder die halbe Entscheidungskraft, die mangelnde Durchsetzungsfähigkeit, der Drang, sich dem Ideenwettstreit und der politischen Kontroverse zu entziehen
und in der Stille für sich allein zu entscheiden. Diese Widersprüche zu lösen findet Verf. im klinischen
Bild der Melancholie und Hypochondrie ein erklärendes Phänomen, wovon er sagt, diese Begriffe des
18. Jahrhunderts seien durchaus noch im 20. faßbar und durchführbar. In der Haltung des Psychiaters
beobachtet er eine Reihe von Situationen, in denen sich „kontingente" Persönlichkeitsmerkmale wie
ein Wiederholungsmuster darstellen. Solche kritischen Augenblicke sind seine Zeit als „Herrscher im
Wartestand", seine erste Regierungszeit, die Krisen von 1805 und 1807, der Wiener Kongreß gewe262
sen. Hier wird sehr ausführlich recherchiert und geschildert. Gewiß schließt man sich dem Vorwurf
der unzureichenden Entschiedenheit an und bedauert die aus religiöser Selbsterforschung stammende tiefe Scheu vor jeder Änderung der Machtbalance, das mangelnde Selbstvertrauen und die
Furcht vor der Konfliktbereitschaft. Man wird aber betroffen, daß dafür die Friedensbereitschaft und
Sehnsucht nach Ordnung stand, weswegen er an der Neutralität festhielt—gegen jede außenpolitische
Vernunft und gegen die Bündnistreue Napoleon gegenüber. Es ist dies die „Wunschvorstellung eines
jungen Mannes gewesen, der den Staat regieren wollte, ohne schuldig zu werden. Nichts anderes ist
der tiefere Sinn der Absicht, sich aus den Händeln der Welt herauszuhalten, die so gut zur mangelnden
Bereitschaft paßt, Erfahrungen zu machen. Wer sich mit der Welt einläßt, wird schuldig, und Friedrich
Wilhelm wollte dann eben lieber nicht sich mit der Welt einlassen" (S. 120). Dies habe ihm bei allem
Schwankenden letztlich die Beharrlichkeit gegeben, und darin war er „unüberwindlich". — Diese
Darlegung ist der Sicht des Politischen verpflichtet, wie wir sie von Max Weber kennen. — Geht aber
nicht von der konsequenten Scheu, die Abgründe von Krieg und Machtmißbrauch zu entfesseln, weil
sie dann nicht mehr beherrschbar sein könnten, unsere tragische Anteilnahme aus, für die uns die Sensibilität neu geweckt worden ist?
Der so verstandene „ahnungsvolle Pessimismus" bildet das Wiederholungsmuster in allen kritischen
Phasen von Friedrich Wilhelms III. Königsherrschaft. Der Leser hat dies in der höchst stoffreichen
Darstellung zu verfolgen und damit die Grundlinien nachzuvollziehen. Im übrigen folgt der Leser den
Ausführungen, wie die frühen, in der Jugend — darunter die von seinem Rechtslehrer Svarez — übernommenen Staatsrechtsvorstellungen von der gerechten Freiheit, vom monarchischen Rechtsstaat
und der persönlichen Rechtlichkeit des Königs vorherrschend wurden und später an die Stelle des
Neuhumanismus traten. Persönliche Bescheidenheit, Gewissenhaftigkeit, nüchterner Realismus und
Realitätssinn passen, so Verf., durchaus in das Bild des Melancholikers.
So gewichtet Verf. des Königs Anteil an den Reformen als gering. Je älter er wurde und je stärker der
restaurative Einfluß der Heiligen Allianz, desto ausschlaggebender wurde seine zähe Unbeirrbarkeit.
Sie begründete schließlich — und das erweist das politische Testament, das den Sohn entscheidend
band — das Beharren auf der ungeteilten Königsmacht. — So gesehen erweist sich der Zusatz „der
Melancholiker auf dem Thron" als wesentlicher und tiefergreifend als das Epitheton „Romantiker auf
dem Thron" für Friedrich Wilhelm IV.
Es ist dem Anspruch zuzustimmen, daß sich das Buch durch den „patriotischen Schutt von 1914" wieder zu tieferer, das heißt menschlicher Sicht des Königtums Friedrich Wilhelms III. durchgearbeitet
hat. „Es ist damit auch die Reflexion verbunden, was das Königtum, diese für uns abgeschlossene und
nur noch als Thema der Wissenschaft präsente Regierungsform, überhaupt hat leisten können und leisten sollen" (S. 362). Es klingt wohl allenthalben ein Bedauern über Nichtgeleistetes hindurch, tiefer
und tragischer jedoch ist die emotionale Einstellung, die ihn zum tragischen Helden Grillparzers
zählt: „Ich bin ein schwacher, ungegabter Mann, der Dinge tiefster Kern ist mir verschlossen. Doch
ward mir Reiß und noch ein andres: Ehrfurcht für das, daß andre mächtig und ich nicht."
Christiane Knop
Gesellschaft für die Geschichte und Bibliographie des Brauwesens E.V.: Jahrbuch 1993 Gesellschaft für die Geschichte und Bibliographie des Brauwesens E.V. Redaktion: H. G. SchultzeBerndt, Seestrasse 13, D-13353 Berlin, broschiert 308 Seiten, ISSN 0072-422 X.
Die Gesellschaft für die Geschichte und Bibliographie des Brauwesens E.V. (GGB) wurde 1913 in
Berlin gegründet und hat seitdem in dieser Stadt ihren Sitz. Von 1928 bis 1941 und dann nach der
Unterbrechung durch den Krieg wieder seit 1952 erscheinen ihre Jahrbücher, die auch in der Bibliothek des Vereins für die Geschichte Berlins, gegr. 1865, ihren Standort haben. Das jüngst erschienene
Jahrbuch dieser Reihe hier anzuzeigen besteht Anlaß, weil immer wieder auf Geschehnisse aus der
Berliner Stadtgeschichte im Zusammenhang mit dem Brauwesen eingegangen wird. Übrigens hat
eine Reihe namhafter Mitstreiter der GGB wie Richard Knoblauch, Karl Bullemer und Erich Borkenhagen sich auch im Verein für die Geschichte Berlins hervorgetan.
Hasso Spode behandelt in einer Art Nachruf das Thema „Der Kreuzberg und das Bier. Geschichte
und Vorgeschichte der Schultheiss-Brauerei Abt. II". Hans Günter Schultze-Berndt steuert einen
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Rückblick auf die Hundertjahrfeier des Kriegsjahres 1943 der Schultheiss-Brauerei AG anläßlich
deren 150jährigen Bestehens bei. Vom selben Autor stammt ein Beitrag über Julius Bötzow, „HofLieferant Sr. Majestät des Königs von Preußen". Herbert Schmidt, Geschäftsführer der Berliner Bürgerbräu GmbH, veröffentlicht „Rückblicke durch fünfzig Brauerjahre".
Auch im vorangegangenen Jahrbuch 1991/92 hatte die Berliner Brauhistorie Berücksichtigung
gefunden. Ein längerer Aufsatz „So fingen wir 1945 an", der die ersten vier Jahre nach dem Krieg
umfaßt, ist den Lebenserinnerungen Heinz Pritzkows entnommen. Rosemarie Köhler erweist „Preußens Hopfenkönig Joseph Flatau" Reverenz. Auf sprachliches Gebiet begibt sich die Miszelle von
Molle und Pfiff.
SchB.
Hedwig Wegmann: „Antonie Zerwer. Ein Leben für Kinder. 75 Jahre Kinderkrankenpflege.'4
211 Seiten, viele Abbildungen und Faksimiles, Personen- und Literaturverzeichnis, Edition Hentrich,
Berlin 1992
Im Zusammenhang mit der Besinnung auf Wert und Bedeutung von 75 Jahren Pädiatirie an der Kinderklinik der Freien Universität Berlin, dem einstigen Kaiserin Auguste Victoria Haus, ist das anrührende Bild einer der führenden Kräfte dieses Hauses entworfen worden; es handelt sich um die Oberin
Antonie Zerwer; die Verfasserin ist ihre Berichterstatterin gewesen. Über die von ihr ausgebildete
vorbildliche Sozialpädagogik und ihre sozialmedizinischen Verdienste hinaus, oder ihnen voraus,
steht das Bild ihrer feinen, durchseelten Menschlichkeit, das alle ihre Tätigkeitsbereiche durchstrahlt.
Beides, das Bedeutsame wie das Liebenswerte, hat dieser Lebensbericht erfaßt, so wie es die heutige
Leitende Kinderkrankenschwester im Vorwort formuliert: Das Buch verhilft dazu, aus verblaßten
Quellen die brachliegende Geschichte eines Berufsstandes zu rekonstruieren, solange noch menschlicher Nachhall vernehmbar ist. Daraus ist auch Charlottenburger und Berliner Eigenart erkennbar.
Eingehend wird der soziale Hintergrund der Säuglingssterblichkeit in der Großstadt Berlin um die
Jahrhundertwende geschildert. Aber nicht nur menschliche Anteilnahme hat den Ausschlag zur Institutionalisierung eines heute noch eminent wichtigen medizinischen Bereiches gegeben, sondern der
Anstoß zur Gründung einer Klinik für Kinder- und Säuglingspflege kam vom militärischen Medizinalwesen, da ihm an der richtigen Ernährung und Entwicklung der jungen Generation gelegen sein
mußte. Gegen seine anfängliche Skepsis gewann die Kaiserin Auguste Victoria den damaligen Ordinarius für Kinderheilkunde, Professor Dr. Heubner, zur Gründung des Kaiserin Auguste Victoria
Hauses in Charlottenburg am heutigen Heubnerweg. Die neue Klinik als Reichsanstalt sollte in der
Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit ihren Schwerpunkt haben. „Es war mit Abstand die teuerste
Kinderklinik." Das zeigte sich auch darin, daß beste medizinische Kräfte als leitende Ärzte gewonnen
wurden. Die Anstalt war ständeübergreifend und wahrhaft sozial konzipiert und hatte von Anbeginn
ein sozialpädagogisches Programm nach neuesten Erkenntnissen und war aufs vielfältigste durchorganisiert. Ihre Erbauer waren die Architekten Ludwig Hoffmann und Alfred Messel. Vfn. berichtet
von der wertvollen Dienstkleidung der Schwestern, die man beim Kaufhaus Rudolf Hertzog bestellte,
von der Wäsche, die das Haus Grünfeld lieferte, und von den Schwesternbroschen, die der Hofjuwelier Unter den Linden herstellte.
Ausführlich wird das Bild der Antonie Zerwer gezeichnet, ihr Aufstieg über die damals übliche
Berufsausbildung als Kinder- und Hausmädchen ohne besonderes Wissen über Krankenpflege. Konstituierend waren ihr Lerneifer und Wissensdrang, ihre Gewissenhaftigkeit und persönliche Hingabe.
Der eigentliche Berufs weg begann mit dem Eintritt in den Zehlendorfer Diakonie verein, es folgte der
typische Weg einer Diakonieschwester, dann der wichtige Schritt der Berufung ins Kaiserin Auguste
Victoria Haus, ihre außerordentlich geschickte Menschenführung und Organisation des Hauses bei
strengsten Dienstvorschriften.
Aufs Allgemeine übertragen war dies bereits Frucht der ersten Mädchen- und Frauenbildung in Preußen, soweit sie mit den Namen Louise Otto-Peters, Helene Lange und dem Lette-Verein verbunden
ist. Es ist erstaunlich, wie sogleich mit der ersten beruflichen Wegfindung das Ausgreifen der Antonie
Zerwer in immer weitere Bereiche erfolgte. Alles begann mit der Abfassung einer „Säuglingspflegefibel", gerichtet an junge Mädchen, die zu jener Zeit der Berufstätigkeit ihrer Mütter als Arbeiterinnen
ihre kleinen Geschwister versorgen mußten, ohne dazu angeleitet worden zu sein. Das Buch machte
sie weltweit bekannt, denn es wurde mehrfach in fremde Sprachen übersetzt und bis 1933 in zehn Auf264
lagen in zwei Millionen Exemplaren verkauft. Abdruckausschnitte zeigen, wie reichhaltig und praktisch es angelegt war, nicht nur für Arme, sondern auch für den bürgerlichen Haushalt brauchbar.
Damit verband Antonie Zerwer Mütterschulungsabende im Hause, sorgte für weitere Schulung
durch hygienische, pädagogische und ernährungswissenschaftliche Erkenntnisse bei Vorträgen bei
Frauenverbänden wie etwa dem Vaterländischen Frauenverein, organisierte die öffentliche Säuglingsfürsorge, griff in den Unterricht der Mädchenfortbildungsschulen und der Volksschulen ein und
initiierte dort Gesundheitslehre und Säuglingspflege als Lehrfächer, verhalf zu wirtschaftlicher Haushaltsführung und ermunterte Eltern, als wichtigstes Zeit für ihre Kleinkinder zu haben, nannte Erziehung zur Mütterlichkeit als Hauptanliegen, wozu auch Männer fähig seien. Sie betrat das Feld der
Volkswirtschaftslehre, verbesserte die öffentliche Fürsorge und organisierte, heutigen Selbsthilfegruppen vergleichbar, Mütterabende mit gegenseitiger Beratung und Aussprache und Information
über soziale Ansprüche. Sie eroberte höchst modern das Feld der Medien und Öffentlichkeitsarbeit,
arbeitete an Unterrichtsbriefen, Filmen und Theaterstücken mit.
Ein weiteres Feld, das sich ergab, ist überschrieben mit „Professionalisierung von Säuglings- und
Kleinkinderpflege". Diese Phase begann mit ihrer Ernennung zur Oberin des Kaiserin Auguste Victoria Hauses. Die Liste ihrer Publikationen zwischen 1914 und 1933 ist erstaunlich umfangreich. Der
letzte Schritt war die (Mit-)Gründung des „Reichsverbandes der Säuglings- und Kleinkinderschwestern". — So hat sie das ganze Feld abgesteckt, und alle modernen Institutionen können sich auf sie
berufen.
Echte, feine Menschlichkeit hat ihr den kritischen Sinn verliehen, sich von den Bestrebungen der NSSchwesternschaft abzusetzen. „Als der Reichsverband aufgelöst wurde und man das Haus in ein Mutterhaus der NSV-Schwestern umwandelte, zog sie sich innerlich und äußerlich zurück" (162).
Die berufspolitischen Aktivitäten von Antonie Zerwer waren somit beendet. „Stets kaisertreu und als
feinfühliger Mensch kam sie mit dem groben Naturell der neuen Machthaber nicht zurecht." Nach
ihrem Ruhestand und der Rückkehr von der Flucht 1945 blieb sie noch tätig und gab den guten Geist
des Hauses an die Nachfolger weiter.
So steckt dieses warmherzige Buch voll berlinhistorischer Merkwürdigkeiten.
Christiane Knop
Karl Voss: „Potsdam-Führer für Literaturfreunde. Auf den Spuren von Männern und Frauen der
Feder in der Havelstadt." 24 Abbildungen, 201 Seiten, arani Verlag, Berlin 1993.
Verf. setzt hier die Reihe seiner immer wieder befragten Literaturführer mit einem Band über das tausendjährige Potsdam fort und spannt den räumlichen Rahmen von der Altstadt bis zum Schwielowsee
und nach Bornstedt. Und da vor der Wende, als das Buch konzipiert wurde, niemand wußte, ob sich
die Offiziellen, die ihre Stadt feiern wollten, auf das alte Klischee vom bösen „Geist von Potsdam" versteifen oder welches Bild sie zeichnen würden, hat Karl Voss sich von vornherein bemüht, in den Vorrat vielfältiger und differenzierter Ansichten zu greifen, zumal es an Menschen und Gestalten und
Geistern in der Vergangenheit der Stadt reich bestellt ist, wie sich zeigt. Er hat nicht den Geist von
Potsdam beschworen, den es kaum gibt, sondern viele Geister zu Wort kommen lassen.
Den Landschaftsraum der Havelstadt hat Scheffel als vertrauenerweckender erachtet, als es Georg
Hermann tat, und etwas vom märkischen Arkadien ins Bild gehoben; Hermann erahnte hinter der
bildschönen Aufgeräumtheit Zwiespältiges. Diese beiden Autoren heben sich ab von unzähligen
andern Besuchern als Protagonisten gegensätzlicher Ansichten. Verf. macht überall den Versuch, Ort
und Landschaft in Zusammenklang zu bringen. Die Spaziergänge, in die er den Stoff aufteilt, sind
topographisch angeordnet; wer die Spuren von „Männern und Frauen der Feder" aufsucht, legt in
seinem Geist um die Plätze wie den Alten Markt, den Bassinplatz oder das Holländische Viertel Jahresringe durch die Geistesgeschichte der Jahrhunderte. Das wird ihm helfen, daß ihm das durch Zerstörung und durch Vernachlässigung der letzten drei Jahrzehnte fremd gewordene Potsdam wieder
vertraut wird; auch mag dies eine Wechselwirkung haben, Potsdam wird sich selber finden. „Potsdam
hat es immer noch schwer. Die Suche nach der Identität dieser Stadt wird täglich aufs neue nötig sein.
Dazu mag dieses Buch einen kleinen Beitrag leisten. Machen wir es wie Georg Hermann. Lassen wir
unsere Vorurteile fahren, erfreuen wir uns an der Schönheit von Stadt und Landschaft und suchen den
Geist dort, wo er sich am klarsten artikuliert — im Gedanken, im Wort" (S. 15).
265
Ein reicher, überaus vielfältiger Chor vergangener Stimmen wird in Verf.s Zitaten hörbar. Am Alten
Markt und am Platz des Stadtschlosses begegnet man nicht nur König Friedrich IL, sondern auch seinem „Grenadier Wordelmann" Hermanns, ferner dem Geist des Marquis D Argent und de la Mettries
und Voltaires, sondern auch Bach und dem Schotten Boswell oder Alexander von Humboldt oder
dem friderizianischen Oberbaurat Meyer, überhaupt der Hofgesellschaft des 18. und 19. Jahrhunderts. Wir verfolgen Schillers Besuch, sehen Goethe mit seinem Herzog im Plögerschen Gasthof
absteigen. Mozart kommt ins Bild, die Verleger Stichnote, Suhrkamp und Fischer. Es passieren die
Humboldt-Brüder und Gabriele von Bülow, die Yorcks von Wartenburg, Winckelmann und Justi, die
Physiker Helmholtz und Haeckel, die Karschin und Reinhold Schneider, Kleist und Karl Philipp
Moritz, Härtung und Kellermann, Schultze-Delitzsch und die Kaschnitz. Kurz es ist — sorgfältig und
überaus arbeitssam recherchiert — ein so buntes Kaleidoskop, das dem Anspruch Potsdams auf Geltung als Weltkulturerbe Genüge tut.
So bleibt von dem zeitlosen Literaturführer mehr als der dünne Erfolg der Jahrtausendfeier.
Christiane Knop
Wegweiser zu den Friedhöfen an der Chaussee- und der Liesenstraße von Alfred Etzold, mit Fotos
von Wolfgang Türk: Der Dorotheenstädtische Friedhof. Die Begräbnisstätten an der Berliner
Chausseestraße (In der Reihe „Berliner Blicke", hrsg. von Heinz Knobloch), Ch. Links Verlag, 1993,
227 S., 34 DM.
Abgesehen von zahlreichen Publikationen zu den Berliner Begräbnisstätten, die vor 1945 entstanden,
sind in den letzten zwei Jahrzehnten viele — qualitativ sehr unterschiedliche — „Wegweiser" und wissenschaftliche Abhandlungen zu diesem Bereich veröffentlicht worden. Willy Wohlberedts Grabstättenverzeichnis, 1932 bis 1953 in vier Bänden herausgegeben, und die seit 1976 unter der wissenschaftlichen Leitung von Peter Bloch mit Studenten der FU erstellten kunsthistorischen FriedhofsInventare, die zwischen 1976 und 1985 als Hefte der Reihe „Berliner Forum" publiziert wurden,
haben durch ihre Fülle an wichtigen Informationen und wissenschaftlichen Ergebnissen einen Qualitätsmaßstab gesetzt, an dem sich jüngere Veröffentlichungen zu Berliner Friedhöfen messen lassen
müssen.
Alfred Etzold, als Mitautor des Buches zu den jüdischen Friedhöfen Berlins (1987) nicht unbekannt,
hat mit dem neuen Buch zu den Begräbnisplätzen an der Chaussee- und Liesenstraße ein unterhaltsames, textdurchgängiges Lesebuch verfaßt, das bedingt auch als „Wegweiser" zu den behandelten
Friedhöfen dienen kann. Ergänzt um die „Berühmtheiten" der jüngeren Geschichte, setzt Etzold vordringlich die „Wegweiser"-Tradition Wohlberedts, Curt Horns und Bernhardt Hoefts fort. Bekanntes
biographisches Material zu bekannten und unbekannten Persönlichkeiten ist zumeist auf ein lesbares
Maß gekürzt und sporadisch ergänzt worden. Lagepläne zu den einzelnen Friedhöfen und ein
Namensregister helfen dem Besucher, einzelne Grabstätten leichter zu finden. Der sozialkommunikative Charakter der Friedhöfe wird durch einige der Fotografien von Wolfgang Türk zu Recht hervorgehoben, andere Aufnahmen geraten allerdings unangemessen in das leidige Fahrwasser sogenannter „Stimmungsbilder". Sieht man von einigen unklaren Formulierungen (z. B. S. 118), falschen
Bildunterschriften (so S. 74 u. S. 182) und Namen (S. 72: H. Kaehler, S. 110: H. Sontag!), historisch
verfälschenden Adjektiven (so die „anglo-amerikanischen Bombenangriffe") und Stilblüten (so zum
Tode Heinrich Manns vor seiner Abreise aus den USA) ab, ist das Buch für den Friedhofsgänger mit
Vorliebe für historisch interessante Verstorbene jedoch recht brauchbar.
Leider bleibt der Text bei der Berücksichtigung des hier bei einem kulturhistorischen Thema unabdingbar notwendigen kunsthistorischen Aspektes — trotz einzelner lobenswerter Objektbeschreibungen — entschieden zu schwachbrüstig. Selten erfährt der interessierte Leser mehr über die schaffenden
Künstler als ihre bloßen Namen. Die zum Verständnis wichtige Grabmalsikonographie bleibt zumeist
auf der Strecke. Viele kunsthistorisch bedeutende Grabmäler bleiben, da ohne „spannende Anekdote", unberücksichtigt. Terminologisch falsche Zuordnungen und falsche Benennungen bedingen
Fehlinformationen des fachfremden Lesers. So handelt es sich z. B. bei der offenen Grabarchitektur
für die Familie Dr. M. S. Borchardt (JNKIV) nicht um ein Mausoleum, da die geschlossene Kapelle
fehlt. Die Reliefs am Grabmal der Familie J. C. Freund (Dor.FW.) — übrigens nach den Vorbildern
am von A. Canova geschaffenen Grabmal der Stuarts im Petersdom in Rom gearbeitet — zeigen nicht
266
den „doppelten" Totengott Thanatos, sondern zwei Totengenien. Ebensowenig ist der „Trauernde"
des ehem. Grabmals Peppmöller (neuer Dor.Frdh.) eine Darstellung des Thanatos. Obgleich im Text
betont wird, daß auch der denkmalpflegerische Aspekt berücksichtigt werden soll, ist es bei vielen
kunsthistorisch interessanten Grabmälern unterlassen worden, auf ihre Bedeutung hinzuweisen. So
wäre es zumindest geboten gewesen, dem Leser das wegen Baufälligkeit (!, S, 26) abgebrochene
Grabmal für J. F. Ravene (alter Franz. Frdh.), eine der bedeutendsten Grabarchitekturen mit lebensgroßem Sitzbild des Verstorbenen, durch ein Foto bekannt zu machen. Auch wird bei dem in seinem
Bestand stark gefährdeten Grabmal für E. Löffler (neuer Dor. Frdh.), das 1990 als eines der sepulkralen Hauptwerke von F. Klimsch in der Ausstellung „Ethos und Pathos. Die Berliner Bildhauerschule
1786—1914" im „Hamburger Bahnhof gezeigt wurde, auch nicht im Literaturverzeichnis auf die
umfänglich vorhandene wissenschaftliche Literatur hierzu verwiesen. Überhaupt vermißt der kunsthistorisch interessierte Leser im Literaturverzeichnis die Erwähnung des für das aktuelle Wissen über
die plastische Kunst des 19. Jahrhunderts grundlegenden Kataloges und des Beitragsbandes zu
„Ethos und Pathos". Dies bleibt um so unverständlicher, als dort, illustriert mit vielen historischen
Aufnahmen heute beschädigter oder zerstörter Grabmäler, die maßgeblichen, mit größter Sachkenntnis verfaßten Aufsätze „Was der Nachwelt bleibt — Einblicke in die Berliner Sepulkralplastik"
von Sibylle Einholz und „Bemerkungen zur Ikonographie religiöser Plastik im Berlin des 19. Jahrhunderts" von Sibylle Badstübner-Gröger publiziert sind. Ebenso unverständlich ist die unterlassene
Aufnahme des in den Jahrbüchern des Vereins für die Geschichte Berlins 1989 veröffentlichten Beitrages „Vom irdischen Ruhm und seiner Haltbarkeit. Die Begräbnisplätze in der Chausseestraße",
verfaßt von Sibylle Einholz, der mit einer Fülle von wissenschaftlichen Informationen die Bedeutung
der dortigen Friedhöfe heraus- und in den zum Verständnis der Kunstwerke nötigen Zusammenhang
mit der Berliner Bildhauerschule hineinstellt. Es fällt weiter auf, daß einzelne Ergebnisse dieser Forschungsbeiträge — z. B. die hier zum erstenmal versuchte Zuschreibung der Bronzegruppe am Grabmal für A. und L. Borsig an den Bildhauer Kullrich — bei gleichzeitigem Verschweigen der Quelle verwertet worden sind. Für einen Mangel an notwendiger Recherche spricht auch die Nichtberücksichtigung des Buches „Die Buschens — 100 Jahre Zirkus Busch — Bilder einer Zirkusdynastie" von Martin
Schaaff (1984) mit vielen Informationen zum Erbbegräbnis der Familie Paul und Constanze Busch,
sowie des biographischen Werkes zu A. Borsig von Ulla Galm (1987). Für den kunsthistorisch interessierten Leser wäre auch der Hinweis auf das 1902 bis 1910 herausgebrachte vierbändige Tafelwerk
„Grabmalskunst" von Richard Henker zu wünschen gewesen, in dem viele der heute nicht mehr vorhandenen, aber damals gefeierten Grabmalswerke auch auf den von Etzold behandelten Friedhöfen
abgebildet sind.
Vielleicht hätten Verlag und Autor sich vom Leittitel ihre Buches „Der Dorotheenstädtische Friedhof" leiten lassen und aus dem einen — unvollkommenen — Band zu allen Begräbnisplätzen an Chaussee- und Liesenstraße zwei — auch kunsthistorisch befriedigende — Bände machen sollen. Es ist
schade, feststellen zu müssen, daß der beachtenswerten Leistung Etzolds im Bereich des „Personenkultes" keine ebenso kulturgeschichtlich wichtige und in vieler Hinsicht notwendige kunsthistorischwissenschaftliche Leistung beigegeben worden ist.
Jörg A. Kuhn, M. A.
Wolfgang Haus: Geschichte der Stadt Berlin. BI-Taschenbuch-Verlag, 1992 (Meyers Forum;
Bd. 6), 128 S.
Unter dem Titel „Meyers Forum" hat nun auch das Bibliographische Institut seine Taschenbuchreihe
bekommen. Wolfgang Haus, langjähriger Leiter des Deutschen Instituts für Urbanistik, steuert ihr
sein kleines Buch über Berlins Werdegang von den Anfängen bis heute bei. In kurz gehaltenen Kapiteln und Unterabschnitten berichtet der Autor knapp und sachlich vom Geschehen, das er oft genug
verständnisfördernd vor den Hintergrund umfassenderer Ereignisse in den Ländern und im Reich
stellt: ein gut zu lesender und verläßlicher historischer „Report".
GerhardKutzsch
267
Harold Hurwitz: Demokratie und Antikommunismus in Berlin nach 1945. Verlag Wissenschaft
und Politik, Köln.
Band 1: Die politische Kultur der Bevölkerung und der Neubeginn konservativer Politik; 395 S.
Band 2: Autoritäre Tradierung und Demokratiepotential in der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung; 324 S.
Band 3: Die Eintracht der Siegermächte und die Orientierungsnot der Deutschen 1945—1946; 295 S.
Band 4: Die Anfänge des Widerstandes: Teil 1, Führungsanspruch und Isolation der Sozialdemokraten; 658 S. Teil 2, Zwischen Selbsttäuschung und Zivilcourage: Der Fusionskampf; 830 S.
Angehörige des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Freien Universität untersuchten unter Federführung des seit langem in Berlin ansässigen Amerikaners Harold Hurwitz die Situation der hiesigen
Bevölkerung in den Jahren 1945—1948. Neuen Autoritäten aus Ost und West — dann Ost oder West
— ausgeliefert, regierte bei Männern und Frauen Unsicherheit die Stunde, sahen sich Resignation und
Skepsis in Gemengelage mit Hoffnung und Bereitschaft zum Neubeginn. Mit den modernen soziologischen Methoden analysieren die Autoren so umfangreich wie tiefgreifend das Geschehen der Zeit
und das Wechselspiel ihrer vielfältigen und gegensätzlichen Kräfte. Es geht um Kollektivprozesse.
Verhalten und Einstellung aller Beteiligten (Amerikaner, Briten, Sowjets, Deutsche) ändern sich
ständig. Den verbreiteten Ohne-uns-Standpunkt aufgebend, zeichnen sich Möglichkeiten deutscher
Partizipation am Umgang mit den Alliierten ab, politisch schon interessierte Minderheiten leben
Zivilcourage vor, langsam entwickeln sich die deutschen politischen Parteien. Psychologische Sperren
bauen sich ab, ein Einstellungswandel der West-Berliner vollzieht sich mit der Vorgabe demokratischer Leitideen. Im Ostsektor der Stadt setzen andere Verhältnisse die Maßstäbe: hier herrschen
Zwänge vor, der Druck der Besatzungsmacht und deutscher Kommunisten lastet auf den Menschen.
Die Verfasser vorliegender Studie können dieses Bild nur aus westlicher Sicht beurteilen, sowjetische
Quellen der Erkenntnis waren ihnen nicht zugänglich. Die Lage im Osten und der Freiheitskampf der
SPD in der Gesamtstadt stärkten die antikommunistische Abwehrhaltung und die Zusammenarbeit
der West-Berliner mit den Westmächten. Hier wird sich der Demokratisierungsprozeß auf kollektive
Erfahrungen und Lernabläufe gründen. Die Bevölkerung wird nicht nur als Objekt des historischen
Geschehens, sondern als ein das historische Geschehen mittragendes Subjekt erfaßt. Die soziologische Analyse der Gesellschaft fordert und bietet angesichts dergestalter Aufgabenstellung Daten,
„die Historiker und Politologen allzu voreilig für irrelevant halten". Die Berlin-Studie bemüht sich
überzeugend, allen Problemen der Materie mit ihren Methoden und Möglichkeiten gerecht zu werden.
Gerhard Kutzsch
„Mendelssohn-Studien. Beiträge zur neueren deutschen Kultur- und Wirtschaftsgeschichte, Bd. 8,
Festschrift für Cecile Lowenthal-Hensel zum 3. Oktober 1993", Hrsg. für die Mendelssohn-Gesellschaft von Rudolf Elvers und Hans-Günter Klein, 276 Seiten, zahlreiche Abbildungen und Faksimiles, Personen- und Firmenregister, Duncker und Humblot, Berlin 1993.
Insidern ist die ganze Reihe der Mendelssohn-Studien bekannt, der Band 8 nun ist eine Festschrift
zum Geburtstag ihrer Initiatorin, die, in der Familientradition stehend, dieses Publikationsorgan für
die Erforschungen der Kultur- und Wirtschaftsgeschichte des ausgehenden 19. Jahrhunderts gründete, soweit sie sich um die von Moses Mendelssohn angebahnte deutsch-jüdische Synthese gruppiert. Darüber hinaus war sie als Nachfahrin der Fanny Hensel lange über das Geheime Staatsarchiv
Preußischer Kulturbesitz auch der preußisch-berlinischen Geschichte verbunden. — Der vorliegende
Band ist ein Forum, auf dem auch neue Funde aus Briefsammlungen, Familienandenken und Archiven und zufällige Entdeckungen vorgestellt werden; einige davon wenden sich im Sinne reiner
Bestandsaufnahme an den Spezialisten, andere gehen weiter. Dazu zählt die Rezensentin den Beitrag
über die „Unwirklichkeit des Negativen im 18. Jahrhundert", der zeigt, wie Moses Mendelssohn das
Gebiet der reinen Mathematik betreten hat (H. Lausch), oder das Musikalienverzeichnis von Fanny
Hensel und Felix Mendelssohn Bartholdy, den Beitrag über Felix' Klavierkonzert a-Moll (W. Dinglinger), über den Eindruck, den er auf einen Reisenden machte, und die Quellen zu Fannys Werken in
der Musikabteilung der Staatsbibliothek. Die Interpretation (durch K. Feilchenfeldt) des BrentanoGedichtes „Ich bin durch die Wüste gezogen" und ein Brief des Paul Mendelssohn Bartholdy kurz
268
nach dem Tod seines Bruders Felix beleuchten die tieferen menschlichen Belange. Auch von dem letzten erhalten gebliebenen Freundschaftsring auf Moses Mendelssohn wird erzählt.
Auf der Grenze zwischen spezifischer Vorstellung und weiter ausgreifender Betrachtung ist z. B. ein
Blick in Fannys Gedichtalbum, aus dem der Geist der Romantiker scheint. — Dem etwas ferner stehenden Leser treten als das Eindringlichste die Gestalten des Geschwisterpaares Felix und Fanny und
die des tragischen Carl Mendelssohn Bartholdy vor die Aufmerksamkeit.
Für ihn am leichtesten zugänglich und angenehm lesbar ist das Lebensbild von Carl (später nennt er
sich Karl) Mendelssohn Bartholdy, das Gisela Gantzel-Kress zeichnet. („Karl Mendelssohn Bartholdy 1838—1897".) Er ist das älteste Kind von Felix und Cecile. In einem einfühlsamen Psychogramm wird in treffender Diktion und behutsamer Erzählweise in die Kunst der Geschichtsschreibung hineingeleuchtet. Den Sinn seines Daseins hat Karl Mendelssohn Bartholdy selbst in die
schmerzliche Erkenntnis gefaßt, daß dem Leben — gemeint ist persönliches wie historisches — oft ein
dunkles Geheimnis bleibe; es ins Licht zu wenden sei die historische Kunst. Die Ambivalenz von freisinniger Lebenshaltung und tapferem Sichstellen unter die Tragik der Macht und des dunklen Schicksals macht den Leser betroffen; ist doch hier eine feinsinnige Nuance des sonst oft negativ gesehenen
Historismus gegeben. Geschichtsschreibung kann auch ganze Lebensleistung sein. Der in dieser
Kunst erreichte Tiefsinn hat von Karl Mendelssohn Bartholdy einen hohen Preis gefordert, wie uns
erzählt wird. — Sein Bild wird aufgerollt von seiner Todeskrankheit her, vermutlich Schizophrenie; sie
ist die dunkle Seite seiner angespannten Konfliktbewältigung. Seine eigentliche Lebenslast war die
Spannung zwischen den beiden Familiengruppen, den väterlichen Mendelssohns in Berlin und den
Jeanrenauds der Mutter in Frankfurt. Der Kontrast beider „Clans" wird auf die Formel vom
Erkämpften hier und dem Gelösten und Ausgewogenen dort gebracht. Es wird von der Mendelssohnschen Reizbarkeit als Tribut an die ständige Überforderung durch Leistung gesprochen. Ferner
stand das Reichsstädtische Frankfurts gegen das Preußische in Berlin. Die Trennung der Geschwister
nach dem Tod der Eltern wird als verhängnisvolle, nicht wiedergutzumachende Entscheidung
genannt. Der junge Carl erleidet die Berliner Familie des Onkels Paul Mendelssohn Bartholdy als
quälende Entfremdung; er erlebt sie als gefühlsarm und verkampft; der seelische Grund für sein
Rebellentum scheint hier gelegt worden zu sein. Doch zieht sich auch schon zu so früher Zeit sein
Zukunftsbild vom Gelehrtendasein als Historiker wie ein roter Faden durch sein Ringen um Selbstfindung. Über den Umweg als Jurist in Berlin und Heidelberg kommt er in Heidelberg zur Geschichte.
Zunächst fasziniert ihn „kämpferisches Burschenschaftsengagement"; er schlägt sich buchstäblich
gegen die eigne seelische Zartheit; man mag es auch als Ventil aufgestauter Aggressionen interpretieren. Es wird sein Aufstieg erzählt, der unter den Leitsternen seiner akademischen Lehrer Waitz, Gervinus und Treitschke steht und der etwas Genialisches an sich hat, doch wird er jäh gestört von Auseinandersetzungen mit dem Onkel um die Edition der Briefe seines Vaters Felix.
Karl Mendelssohn Bartholdy machte sich, von Gervinus darauf gebracht, einen eignen Namen durch
die Erforschung der neueren Geschichte Griechenlands, die er auf vielen Reisen buchstäblich selbst
erfuhr. Geschildert wird das Sichherausschälen der befreienden Bewegung des Philhellenismus,
anknüpfend an die Studien zur Gestalt des Grafen Kapodistrias, dem die erste Arbeit gegolten hatte.
Mendelssohn verband als Gelehrter historische Tatsachenforschung mit Sozial- und Gesellschaftsgeschichte; dahinter stand die eigne Überzeugung von revolutionärer und demokratischer Erneuerungsbedürftigkeit der deutschen Zustände. So zog er auch die Geschichte der Französischen Revolution an biographischen Studien freiheitlicher Revolutionshelden auf, in denen sich die gesellschaftlichen Widersprüche persönlich kristallisierten. Am anrührendsten erscheint seine Studie über den in
sich gespaltenen Mirabeau, in der er vorahnend die eigne Krankheit zum Tode vorwegnahm. — Seine
persönliche Lebenstragik, nachdem ihm zweimal das Glück von Ehe und Vaterschaft durch Tod versagt war, wird erzählt. — Beim Lesen der Darstellung bietet sich fast zwangsläufig die Assoziation an
den von Thomas Mann oft erzählten Konflikt von Geist und Seele an; über Anteilnahme hinaus
erweckt sie Ehrfurcht.
Diese Ehrfurcht klingt noch hinein in Karl Mendelssohn Bartholdys geistiges Erleben des Philhellenismus, dem sich Winfried Löschburg widmet (Der Philhellenismus — „die Religion der Jugend und
des Alters" — Karl Mendelssohn Bartholdys Geschichte Griechenlands und sein Briefwechsel mit
Heinrich von Treitschke). Verf. spürt auch hier das Hochgestimmte und Noble in der Haltung des
Gelehrten. Philhellenismus als liberale Gesinnung und Bewegung schied damals die Geister und galt
als „Religion" der Oppositionellen. Verf. löst diese Gesinnung aus dem Briefwechsel mit Treitschke
269
ab, dem andersdenkenden Vertreter der nationalen Bewegung im Bismarckreich. Allerdings, so
Verf., ist er mehr geeignet, die Tiefe und Bekenntnishaftigkeit der Mendelssohnschen Darstellungskraft und die Situation der Wissenschaften im 19. Jahrhundert zu beleuchten, als neue Erkenntnisse
zu vermitteln. Daß Philhellenismus als „Religion" die Geister so stark zu bewegen vermochte, war
Mendelssohns Verdienst. Er befruchtete zugleich die Methode der Historiographie. — Ins Blickfeld
der Wissenschaft und Politik trat er durch die neugriechische Geschichte mit dem Kapodistrias-Buch.
Er bereitete das geistige Feld durch seine Mischung aus Akribie und Lebendigkeit und Abgewogenheit so auf, daß es die Geneigtheit auch politisch Andersdenkender, wie Treitschke einer war, evozierte. Sie brachte beide Männer in Freundschaft zueinander.
Ähnlich lebensvoll ist auch die Spurensuche von Jürgen Wetzel („Sozialismus ohne Faszination " —
Drei Briefe Alfred Döblins im Landesarchiv Berlin), die zunächst scheinbar nichts mit dem Mendelssohn-Thema zu tun hat (außer der Tatsache, daß Khngelhöfers politische Tätigkeit im Berlin der
Nachkriegsjahre auf dem Gebiet des Wirtschaftlichen lag), bei ernsthafter Betrachtung jedoch sich
auch hier der Kunst der Geschichtsschreibung nähert, von der die Rede ist. Aus dem Briefwechsel
zweier engagierter Sozialisten bzw. seiner Erschließung durch den Verf. klingt das quälende, unabdingbare Suchen nach Erneuerung gesellschaftlicher Zustände in geschichtlich bedeutsamer Zeit hindurch. Döblin und Klingelhöfer, letzterer nur noch Älteren in seiner politischen Funktion in Berlin in
Erinnerung, kamen aus leidvoll-armer Jugenderfahrung zum kompromißlosen Ideal der Erneuerung
aus dem Geiste des Sozialismus und des Pazifismus. Verf. erzählt ihr Leben — so verschieden in ihrer
Ausprägung, so gemeinsam im starken Wollen vom Ideal her — in seinen Verästelungen; er schildert
das Hin und Her zwischen beiden Räterepubliken und der Konterrevolution in München 1918/19, in
das beide verflochten waren. Am Ende steht bei beiden die Desillusion, ist ihr Einstehen als „Sozialismus ohne Faszination" (Döblin) das bittere Eingeständnis, nachdem beide sich um philosophische
und historische und ökonomische Klärung der Wahrheit, um Aufschluß über die Stellung des Ichs
bemüht haben, und dies nur auf sich selbst gestellt taten, was beide mit Moses Mendelssohn verbinden
mag.
Christiane Knop
Berichtigungen
Im Jahrbuch 1993 bitten wir, in dem Simplicissimus-Aufsatz S. 77, 6. Zeile von unten ein
„hier" vor den Bindestrich zu setzen; im Heft 1/1994 der „Mitteilungen"/Buchbesprechungen muß es auf S. 242, 7. Zeile von unten richtig heißen: erbeben (nicht: erheben).
Tagesordnung der Ordentlichen Mitgliederversammlung:
Verleihung der Fidicin-Medaille an Herrn Professor Dr. Peter Bloch.
Entgegennahme des Tätigkeitsberichtes, des Kassenberichtes und des Bibliotheksberichtes.
Bericht der Kassenprüfer und der Bibliotheksprüfer.
Aussprache.
Entlastung des Vorstandes.
Verschiedenes.
Anträge sind bis zum 13. April der Geschäftsstelle zuzuleiten.
Der Schatzmeister bittet herzlich um die Überweisung der Mitgliedsbeiträge.
270
Es haben sich folgende Damen und Herren zur Aufnahme gemeldet
Fehlberg, Hauke, Dipl.-Ing.
Bernstrasse 38 A, CH-4562 Biberist
Tel. (004165) 32 2126 (G. Wollschlaeger)
Fußangel, Ingrid, Vorschullehrerin
Barnetstraße 71, 12305 Berlin
Tel. 7 46 19 48
(K.-H. Kretschmer)
Fußangel, Klaus, Pensionär
Barnetstraße 71, 12305 Berlin
Tel. 7 46 19 48
(K.-H. Kretschmer)
Götzelt, Klaus Th., Konrektor a. D.
Lichterfelder Ring 92, 12279 Berlin
Tel. 71169 60
Kuckartz, Helga, Bibl.-Angest.
Prierosser Straße 23 b, 12357 Berlin-Rudow
Tel. 6 618135
Rheinländer, Achim, Geschäftsführer
Hauptstraße 137, 10827 Berlin
Tel 7 82 7810
(A. Gleitze)
Rheinländer, Lieselotte, Ruheständlerin
Hauptstraße 137, 10827 Berlin
Tel. 7 82 7810
(A. Gleitze)
Schlempp, Christian, Dipl.-Ing. Architekt
Meisenstraße 4, 63263 Neu-Isenburg
Tel.(06102)5 3135
Schlempp, Julia, Bankkauffrau
Scharnweberstraße 126, 13405 Berlin
Tel. 41234 79
Wehr, Dr. Gregor, Dipl.-Chemiker
Sprungschanzenweg 80 c, 14169 Berlin
Tel. 81316 63
Welz, Dr. Joachim,
Vizepräsident des Bundesgesundheitsamtes
Ulmenallee 15, 14050 Berlin
Tel. 3 02 44 73
(Dr. M. Uhlitz)
271
Veranstaltungen im II. Quartal 1994
1. Mittwoch, 27. April 1994,19 Uhr: Ordentliche Mitgliederversammlung im Berliner Rathaus, Ferdinand-Friedensburg-Saal, Raum 338, 3. Geschoß. Haupteingang Rathausstraße. Tagesordnung siehe Seite 270 Anschließend ein Lichtbildervortrag von Herrn Professor Dr. Peter Bloch: „Denkmäler und ihr Sinneswandel. Vom Brandenburger Tor zur
Schloßfreiheit".
2. Donnerstag, 5. Mai 1994, 16.30 Uhr: Führung durch die Ausstellung des Landesarchivs
„Begrenzung und Wachstum Berliner Stadtentwicklung im Spiegel von Karten". Leitung:
Herr Andreas Matschenz. Treffpunkt in der Halle des Landesarchivs Berlin, Kalckreuthstraße 1/2.
3. Donnerstag, 19. Mai 1994,17 Uhr: Führung durch den Berliner Dom. Anschließend um
18 Uhr Andacht. Führungsgebühr pro Person 4 DM, Senioren 2 DM. Die Teilnahme an
der Andacht ist nicht Teil der Veranstaltung. Treffpunkt am Haupteinang Lustgartenseite.
4. Sonntag, 19. Juni 1994,10 Uhr: Führung zu den Überresten der Garnisonstadt Potsdam.
Leitung: Herr Hans-Werner Klünner. Treffpunkt vor dem Haupteingang der Nikolaikirche am Alten Markt in Potsdam.
5. Freitag, 24. Juni 1994, 14 Uhr: „Vom Spandauer Tor zum Postfuhramt". Führungsleitung: Herr Dipl.-Ing. Karl-Heinz Laubner. Treffpunkt: S-Bahnhof Hackescher Markt,
Ausgang Straße „Am Zwirngraben".
v
Bibliothek: Berliner Straße 40, 10715 Berlin, Telefon 87 2612. Geöffnet: mittwochs 16.00 bis
19.30 Uhr.
Vorsitzender: Hermann Oxfort, Breite Straße 21, 13597 Berlin, Telefon 3 33 2408.
Geschäftsstelle: Frau Ingeborg Schröter, Brauerstraße 31, 12209 Berlin, Telefon 772 34 35.
Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Berndt, Seestraße 13, 13353 Berlin, Telefon 45 09-264.
Schatzmeister: Karl-Heinz Kretschmer, Greveweg 6, 12103 Berlin, Telefon 7 534278.
Konten des Vereins: Postgiroamt Berlin (BLZ 100 100 10), Kto.-Nr. 433 80-102, 1000 Berlin 21;
Berliner Bank AG (BLZ 100 20000), Kto.-Nr. 03 81801 200.
Die Mitteilungen erscheinen vierteljährlich. Herausgeber: Verein für die Geschichte Berlins, gegr.
1865, Schriftleitung: Günter Wollschlaeger, Kufsteiner Straße 2,10825 Berlin; Dr. Christiane Knop,
Rüdesheimer Straße 14, 13465 Berlin; Beiträge sind an die Schriftleiter zu senden.
Abonnementspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag gedeckt. Bezugspreis für Nichtmitglieder: 16 DM
jährlich.
Herstellung: Westkreuz-Druckerei Ahrens KG Berlin/Bonn, 12309 Berlin.
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Schriftleitung.
272
Berliner
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Pflichtexemplar
A 1015 F
MITTEILUNGEN
DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS
GEGRÜNDET 1865
91. Jahrgang
• \-ct u ck
April 1995
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iluvig
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Wappen der „Königlichen Haupt- und Residenzstadt Berlin" von 1709
Berlin-Brandenburg
Beitrag des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Eberhard Diepgen,
für den Verein für die Geschichte Berlins, gegr. 1865
Europa ist unsere Zukunft, Deutschland unser Vaterland und Berlin-Brandenburg unsere Heimat. Ohne ein starkes gemeinsames Bundesland werden wir in Europa der Regionen keine
Zukunft haben. Nur mit vereinter Kraft wird es gelingen, für die Berliner und Brandenburger
das notwendige Wirtschaftswachstum und zukunftssichere Arbeitsplätze zu schaffen und zu
erhalten.
Viele Gründe sprechen für die Fusion. Sie sind so überzeugend, daß sich in seltener Eintracht
Gewerkschafter und Unternehmer, zahlreiche Vereine und Verbände bereits zusammengeschlossen haben und auch eine schnelle Fusion der beiden Bundesländer fordern. Der Staat
hinkt wieder einmal einer Entwicklung hinterher, die private Institutionen längst vollzogen
haben.
Trotzdem lohnt es sich, die guten Argumente für einen Zusammenschluß der beiden Länder
noch einmal zusammenzufassen:
1. Zwei kleine Länder, die zusammen nur die Einwohnerzahl von Hessen erreichen, machen
sich unnötige Konkurrenz. Ein Land schafft Wachstumsimpulse für die Wirtschaft, verhindert ein kostenträchtiges Abwerben von Unternehmen und sichert eine vernünftige Entsorgung und Versorgung.
2. In einem gemeinsamen Land ist es ungleich leichter, durch solch eine flächendeckende Verkehrs- und Regionalplanung allen Regionen zu ihrem Recht zu verhelfen, dem peripheren
Bereich, dem sogenannten Speckgürtel, und Berlin selbst. Der notwendige Interessenausgleich zwischen diesen drei Bereichen ist in einem gemeinsamen Bundesland ungleich leichter. Vor kurzem ist der Versuch gescheitert, eine gemeinsame Landesplanung durch Staatsverträge zu regeln. Viele Fusionsgegner haben immer wieder behauptet, durch Staatsverträge ließen sich alle notwendigen, beide Seiten interessierenden Fragen genausogut oder
besser beantworten. Das Scheitern der Landesplanungsverträge hat uns hier klüger
gemacht.
3. Manche behaupten, daß nach der deutschen Wiedervereinigung und insbesondere nach
dem Fall der Mauer in Berlin und dem Aufbau einer gemeinsamen Stadtverwaltung die
Menschen der Region „vereinigungsmüde" seien und einen dritten Zusammenschluß jetzt
nicht auch noch verkraften könnten. Aber alle drei Dinge gehören zusammen: das dritte
ergibt sich aus dem zweiten und das zweite aus dem ersten. Wenn wir nicht umgehend fusionieren, sind viele Mißstände, die wir durch eine Fusion meiden wollen, längst eingetreten,
beispielsweise bei der Raumordnung oder durch die Verfestigung der Bürokratie. Wer die
Verwaltung kennt, der weiß: nur weiche Strukturen lassen sich noch verändern.
4. Und natürlich wollen wir durch ein gemeinsames Land auch Kosten sparen. Es ist zwar nicht
das einzige, aber ein wichtiger Grund für die Verwaltungsreform. Brandenburg hat seine
Kreisgebietsreform bereits durchgeführt, in Berlin steht die Bezirksgebietsreform noch aus,
aber die Verwaltungsreform, die mehr Effizienz, Eigenverantwortung und Bürgernähe
bringen soll, hat bereits begonnen. Wir wollen den Zusammenschluß unserer beiden Länder nutzen, um überlebte Strukturen aufzubrechen und durch effizientere, kostengünstigere
zu ersetzen. Durch einen Zusammenschluß unserer Länder ersparen wir keineswegs nur
Landtagsabgeordnete und Minister, sondern für viele Investoren und einfache Bürger doppelte Wege und Kosten.
370
Eberhard Diepgen,
Regierender Bürgermeister
von Berlin,
Mitglied des Vereins für die
Geschichte Berüns —
gegr. 1865.
5. Abschließend möchte ich noch auf zwei Bereiche eingehen, die immer wieder strittig diskutiert werden und die sich tatsächlich in den zur Zeit laufenden abschließenden Verhandlungen zwischen dem Berliner Senat und der brandenburgischen Landesregierung als besonders schwierig erwiesen haben. Das ist zum einen die Frage des Personals. Beide Seiten sind
sich einig, daß es keine fusionsbedingten Kündigungen geben darf und wird. Vielmehr sind
beide Seiten überzeugt, daß durch die wirtschaftlichen Impulse neue und zusätzliche
Arbeitsplätze entstehen werden. Richtig ist freilich auch, daß bei einem gemeinsamen Bundesland die Verwaltung kräftig abgespeckt werden kann, aber sozialverträglich. Viele Aufgaben werden dann nicht mehr bei der Hauptverwaltung, sondern bei den Bezirken und
Gemeinden oder bei privaten Dienstleistern zu finden sein. Dort werden dann neue
Arbeitsplätze entstehen. In diesem Zusammenhang verwundert es nicht, wenn die Frage
einer starren Obergrenze für Landesbedienstete zwischen Berlin und Brandenburg noch
nach wie vor strittig ist. Wir können die Mehrheit der Menschen nur in die Fusion mitnehmen, wenn sie keine Angst davor haben, insbesondere keine Angst um ihren Arbeitsplatz.
6. Schwierig ist auch die Finanzfrage. Zur Zeit genießt Berlin wie Hamburg oder Bremen auch
noch das sogenannte Stadtstaatenprivileg, einen Sonderstatus im Länderfinanzenausgleich. Dieser entfällt zwar in einem gemeinsamen Bundesland, doch haben Berlin und
Brandenburg in zähen, erfolgreichen Verhandlungen erreicht, daß dieses Stadtstaatenprivileg bis 2013, also 15 Jahre nach dem geplanten Fusionstermin, erhalten bleibt. Zwar muß
danach dann das gemeinsame Bundesland ohne dieses Geld auskommen, aber ob dann das
371
Stadtstaatenprivileg überhaupt noch in der heutigen Form existiert, darf bezweifelt werden.
Diese Fragen, die weit in das nächste Jahrhundert hineinreichen, lassen sich nicht mit hundertprozentiger Sicherheit berechnen.
Wir dürfen nie vergessen, daß ein Zusammenschluß unserer Länder nicht nur eine Sache des
Verstandes und der Vernunft, sondern auch des Herzens ist. Seit der Zeit der Kurfürsten,
Könige und Kaiser sind Berlin und Brandenburg eine Einheit, das Kernland Preußens, mit gleicher Geschichte und Kultur, eine ideale gegenseitige Ergänzung. Die Landesgrenze zwischen
Berlin und Brandenburg ist lediglich eine Folge des Krieges und der Teilung. Berlin und Brandenburg gehören einfach zusammen.
ß-^fa
Vom „Raketenflugplatz Berlin" zur Zukunft im All
Von Jesco v. Puttkamer
Am späten Nachmittag des 20. Juli vergangenen Jahres haben viele Menschen in den USA,
aber auch rund um die kleingewordene Welt, einen Moment pausiert und sich überlegt, wo sie
25 Jahre zuvor waren und was sie gerade taten, als vom fernen Mond die Worte kamen: „Houston, Tranquility Base here, the Eagle has landed!"
Ich hatte das Glück, an der Realisierung dieser Landung des „Adlers" unmittelbar beteiligt zu
sein (die ursprünglich von Wernher von Braun im April 1961 dem Weißen Haus vorgeschlagen
wurde), und die kaum beschreibbare Erleichterung, Befriedigung und Freude über eine glücklich vollbrachte Aufgabe zu erleben, die die Worte von Apollo 11 für uns bedeuteten. Neil
Armstrong und Buzz Aldrin waren als erste Menschen auf dem Mond gelandet, während Mike
Collins ihn im Mutterschiff Columbia in einer Parkbahn umkreiste und wie wir um ihre ebenso
glückliche Rückkehr bangte.
Viel von unseren damaligen Gefühlen drückt der berühmte Ausspruch Goethes nach der
Kanonade von Valmy aus: „Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte an,
und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen!" Der Historiker Arthur Schlesinger schrieb später
über jene Ereignisse: „Das 20. Jahrhundert wird, wenn alles andere vergessen worden ist, als
das Jahrhundert fortleben, in dem der Mensch seine irdischen Fesseln sprengte."
Wer seine Augen nicht verschließt, erkennt mit Schlesinger den deutlichen Trend der Raumfahrt seit Apollo: Trotz seiner Erdgebundenheit ist der Mensch auf dem Weg ins All. Die Russen haben bereits die siebte bemannte Station im All, Mir, und bei der NASA haben wir zusammen mit Rußland und 15 anderen Nationen den Bau der großen internationalen Raumstation
Alpha begonnen. Wenn sich die Zahl der Astronauten und Kosmonauten in jenem Juli 1969
gerade mal auf 55 belief, so sind mittlerweile (bis Ende März 1995) weltweit auf 181 Missionen
635 Menschen ins All geflogen, davon 454 allein bei der NASA. Mit dem Space Shuttle donnerten inzwischen 337 Männer und 47 Frauen in den Erdorbit (Mehrfacheinsätze mitgerechnet). Die für Juni geplante Mission STS—71, bei der die Raumfähre Atlantis an Mir andockt,
wird der 69. Flug des Raumtransporters und der 100. der bemannten US-Raumfahrt sein.
372
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'JKüketi'M'ltuu'lali Berlin
Flugblatt 1930/31. Archiv des Verfassers.
373
Ich möchte dieses Silberjubiläum zum Anlaß nehmen, um dreier Männer aus Deutschland zu
gedenken, deren Visionsstärke, Schöpfergeist und Schaffenskraft die Verwirklichung des uralten Menschheitstraums vom Flug zum Mond zutiefst beeinflußt haben — dreier Männer, die
auch die Anstöße gaben für unsere weiteren Schritte im All seit jenen Tagen, in denen wir „die
irdischen Fesseln sprengten". Diese Männer sind Hermann Oberth, Rudolf Nebel und Wernher von Braun. Oberth und Nebel wären letztes Jahr beide 100 Jahre alt geworden — Nebel im
März, Oberth im Juni. Weraher von Braun war 18 Jahre jünger (er wäre diesen März 83 geworden), und er durfte als Amerikas „Mr. Space" das vollenden, was die beiden anderen begonnen
hatten.
Zunächst zu Hermann Oberth, dem „Vater der Weltraumfahrt".
Geboren wurde er am 25. Juni 1894 in Hermannstadt in Siebenbürgen. Er war gerade 12 Jahre
alt, als ihm der Zukunftsroman „Von der Erde zum Mond" von Jules Verne in die Hand geriet,
und damit war's schon geschehen. Er las ihn in einem Zug, und die Idee vom Mondflug ließ ihn
von da an sein Leben lang nicht wieder los. Die ständige Grübelei, wie das denn technisch möglich sein könnte — denn daß es per Kanonenschuß ä la Verne nicht geht, konnte er sehr schnell
beweisen —, führte 1923 zur Entstehung einer Schrift namens „Die Rakete zu den Planetenräumen", die der 28jährige dem Verlag Oldenbourg in München anbot. Es handelte sich um seine
Doktorarbeit, die allerdings aus Mangel eines fachlich qualifizierten „Doktorvaters" abgelehnt
worden war, und er lieferte darin einen unumstößlichen Beweis für die Möglichkeit der Weltraumfahrt mittels Raketen. Nur ein anderer hatte bisher an diese Lösung gedacht: Konstantin
Ziolkowsky in Rußland. Das Buch erschien in mehreren Auflagen, wurde von Oberth erweitert
und hieß schließlich „Wege zur Raumschiffahrt". Bis in die heutige Zeit gilt es als die „Bibel der
Raketenleute". Man kann in aller Nüchternheit sagen, daß Oberth damit eine neue Epoche
angebahnt hat.
Er entwickelte nämlich das gesamte theoretische Fundament der Raketentechnik, des Fluges
im Weltraum und der Landung und Fortbewegung auf anderen Himmelskörpern. Er untersuchte Konzepte wie Satelliten, Raumstationen (der Terminus „Station" erscheint in seinem
Buch zum ersten Mal), Sonnenspiegel im All, Raumanzüge, Lebenserhaltungssysteme, die
Verwendung von Flüssigsauerstoff und Flüssigwasserstoff als Raketentreibstoffe, wie es im
Space Shuttle realisiert ist, und vieles andere mehr. Seine Ideen waren grundlegend bei der
Entwicklung der Inertialsteuerung, die dann vor allem durch das v.-Braun-Team in Huntsville
perfektioniert wurde und heute nicht nur das Space Shuttle navigiert, sondern auch die großen
Jumbo-Jets der Luftlinien. Mit seinen vordenkerischen Arbeiten rückte er vormals Phantastisches in den Bereich des Möglich-Erscheinenden und befruchtete damit unzählige junge
Leute, die es später in der Raumfahrt selbst zu Rang und Namen brachten. Seine Stärke war die
Theorie — so sehr, daß jemand mal im Scherz von ihm sagte: „Wenn Oberth ein Loch bohren
will, erfindet er zuerst die Bohrmaschine."
1929 veranlaßte sein Buch die Ufa-Filmstudios, ihn als wissenschaftlichen Berater bei der Verfilmung eines Buches der Schriftstellerin Thea von Harbou einzustellen. Der Regisseur war ihr
Ehemann Fritz Lang, berühmt geworden durch „Metropolis", und der Film hieß „Frau im
Mond". Wir werden gleich noch einmal auf Oberths Gastspiel in Neubabelsberg zurückkommen, das sich für die Raumfahrt als so schicksalhaft erweisen sollte. (Doch sei schon hier die
Marginalie gestattet, daß der Konnex zwischen Filmemachern und Raumfahrttechnikern ein
öfter wiederkehrendes Phänomen war und ist. In den 50er Jahren wirkte Wernher von Braun
als wissenschaftlicher Berater bei Walt Disney in Hollywood und ich selbst Ende der 70er Jahre
bei Paramount in Hollywood an „Star Trek" bzw. „Raumschiff Enterprise".)
374
Ende der 50er Jahre arbeitete Hermann Oberth bei Wernher von Braun in der Army Ballistic Missile
Agency (ABMA) in Huntsvüle, Alabama.
Foto: NASA
Dank Oberth hatte die Welt, hatte das Denken der Menschen eine Erweiterung erfahren, deren
Grenzen unabsehbar erscheinen. Einen solchen Einfluß nahm er auch auf Rudolf Nebel, den
zweiten in dieser schicksalhaften Troika. Nebel war typisch für die Raketenleute jener Jahre,
die entweder krasse Theoretiker waren oder leidenschaftliche Enthusiasten und Bastler oder
nüchterne Feuerwerker, die recht gut mit Pulverraketen umgehen konnten.
Geboren wurde Nebel am 21. März 1894 in Weißenburg in Bayern. Schon als kleiner Junge am
Riegen begeistert, baute er als 18jähriger eine „Libelle", einen Eindecker, mit dem er sich sein
Pilotenzeugnis erflog. Zwei Jahre später zog er in den Ersten Weltkrieg und verbrachte ihn als
Jagdflieger in einem Fokker-Eindecker. 1919 erwarb er das Ingenieur-Diplom, arbeitete vier
Jahre bei Siemens und war einige Zeit Teilhaber einer Feuerwerksfabrik in Sachsen. Seine
eigentliche Beschäftigung mit der Raumfahrt begann, als ihn Hermann Oberth als Mitarbeiter
bei dem bereits erwähnten Filmprojekt „Frau im Mond" anheuerte.
Ein enthusiastischer Publizist des 1927 in Breslau von einer Fan-Gruppe gegründeten „Vereins für Raumschiffahrt" (VfR), der damals 22jährige Willy Ley, hatte der Ufa vorgeschlagen,
sie solle zur Reklame des Films eine richtige Rakete für flüssige Treibstoffe bauen lassen. Als
sich Fritz Lang bereit erklärte, die Hälfte der Kosten zu übernehmen, gab die Firma das
'Go-ahead'. Oberth, der Wissenschaftsberater, krempelte die Ärmel auf und begann; an
Geldern hatte er nun 35 000 RM. Mit einer kleinen Anzeige suchte er nach Mitarbeitern, und
als ersten gewann der 34jährige den gleichaltrigen Diplom-Ingenieur Rudolf Nebel.
375
Bei diesen Arbeiten erfand Oberth mit Nebels Hilfe einen kleinen Raketenmotor für Benzin
und Flüssigsauerstoff, den er „Kegeldüse" nannte. Als erster von zahlreichen Vorgängern
überstand das Motörchen alle Versuche ohne Explosion. Die Aufgabe, eine flugfertige Rakete
zu bauen, die man bei der Filmpremiere mit gewaltigem Trara starten konnte, wurde zum Wettlauf mit der Zeit, und die Zeit gewann ihn haushoch. Die Uraufführung am 15. Oktober 1929
mußte ohne Raketenstart stattfinden, und die Ufa-Werbeleitung erklärte den peinlichen Flop
damit, die Jahreszeit sei zu weit fortgeschritten.
Um die Entwicklungsarbeiten trotzdem fortzuführen, suchten Oberth und Nebel bei Instituten
und Vereinen um Stiftungen nach. Der „Verein für Raumschiffahrt" unterstützte sie. Am
23. Juli 1930 führten sie die Kegeldüse in der Chemisch-Technischen Reichsanstalt in Plötzensee vor. Der Versuch war erfolgreich, und Nebel konnte den Direktor der Anstalt, einen Dr.
Ritter, dazu bringen, der Flüssigkeitsrakete ein positives Gutachten auszustellen. Das war
natürlich für die Rakete die wissenschaftliche Rehabilitation in Deutschland, wo sie in früheren
Zeiten nur negative Gutachten eingeheimst hatte, ein wichtiges Verdienst, das den späteren
Entwicklungen großen Vorschub leistete.
Oberth kehrte 1930 nach Mediasch in Siebenbürgen zurück und blieb dort fast zehn Jahre lang.
Nebel experimentierte auf einem Bauernhof im sächsischen Bernstadt zäh weiter; sein Plan
war, zuerst einmal kleine, handliche Raketentriebwerke herzustellen, an denen sich lernen ließ.
So entstand die sogenannte „Minimumrakete", abgekürzt „Mirak", bei deren Konstruktion er
sich an das Vorbild alter Congrevescher Schwarzpulverraketen hielt: Neben der Kegeldüse
hatte sie einen Richtstab, der gleichzeitig Benzintank war, und der Sauerstoffbehälter saß vorn
im Kopf des 30 cm langen Geräts.
Durch seine Bastelei mit einem Kollegen namens Klaus Riedel entwickelte er sich zum Selfmade-Raketenfachmann. Als die Mirak wie die meisten jener Frühentwicklungen bei einem
Versuch in Fetzen flog, kehrten die beiden nach Berlin zurück, wieder um ein Quentchen klüger geworden. Nebel suchte nach einem geeigneten Platz, um die Arbeit fortzusetzen. Im
Nordwesten der Stadt, in Reinickendorf östlich von Tegel, fand er einen unbenutzten alten
Schießplatz, der der Stadt gehörte. Er bekam ihn für eine symbolische Jahresmiete von zehn
Reichsmark, und am 27. September 1930 empfing er von dem zuständigen Beamten den
Schlüssel. Nebel, der zu einem äußerst betriebsamen und geschäftstüchtigen Trommler geworden war, prägte dafür den Namen „Raketenflugplatz", und zwar in einem Telegramm an den
amerikanischen Autokönig Henry Ford anläßlich dessen Deutschlandbesuchs. Darin stand:
„Anbiete erste Flüssigkeitsrakete für Fordmuseum Stop Einlade zur Besichtigung des ersten
Raketenflugplatzes in Berlin-Reinickendorf."
Ford hat nie darauf geantwortet. Er wollte die Oberth-Rakete gar nicht haben, aber er veranlaßte eine bekannte Journalistin, Lady Drummont-Hay, nach Berlin zu fahren und sich den
gottverlassenen Platz in Reinickendorf anzuschauen. Aufs äußerste beeindruckt und
erschreckt von einem erfolgreichen Prüfstandtest, schrieb sie später unter anderem: „Als ich
diesen Raketenflugplatz Berlin wieder verließ, da wußte ich, daß diesejungen Enthusiasten die
Waffen vorbereiten, mit denen sie uns in Amerika eines Tages über den Atlantik hinweg treffen
werden." Das war Ende 1930, und ihre Prophezeiung war gar nicht so abwegig, denn 14 Jahre
später gab es in Peenemünde Pläne für die zweistufige A10, die sogenannte „AmerikaRakete".
Rudolf Nebel gelang es immer wieder, freundliche Spenden und bescheidene Geschenke aufzutreiben. Und die Zahl der jungen Helfer in Reinickendorf vermehrte sich. Einer der neuen
Fans war ein 18jähriger Student namens Wernher von Braun, der sich in Berlin nach einem
Praktikum bei Borsig an der Technischen Hochschule eingeschrieben hatte. Ihre Raketenstarts
376
Wernher von Braun, ca. 1959,
bei der Army Ballistic Missile
Agency (ABMA), dann
Direktor des NASA MarshallRaumflugzeugzentrums in
Huntsville, Alabama.
Foto: NASA
erregten Aufmerksamkeit beim Berliner Publikum, so sehr, daß die Ufa im September 1931
einen ihrer Probeflüge für die Wochenschau filmte und den Streifen betitelte „Die Narren von
Tegel"; 41 Jahre später (1972) — drei Jahre nach Apollo 11 — wählte Nebel diese Bezeichnung
als Titel für seine Memoiren.
Auf der Suche nach stärkeren Antrieben begannen sich Nebel und Riedel für Alkohol anstatt
Benzin zu interessieren. Bei seiner Verbrennung mit flüssigem Sauerstoff entstanden allerdings
Temperaturen, bei denen die Brennkammern wegschmolzen. Mischte man dem Alkohol aber
Wasser bei, so wirkte dieses kühlend . . . doch wieviel davon konnte man ihm beigeben, ohne
seine Entflammung zu verhindern? Der Vater von Willy Ley, der ein Likörfabrikant in Ostpreußen war, sagte es ihnen: „Die Mindestmenge Alkohol in einem Likör, der brennen soll, ist
40 Prozent. Bereits bei 38 Prozent brennt er nicht mehr." Man versuchte hin und her und fand,
daß die Brennkammern bei 60 bis 70 Prozent gerade noch intakt blieben. Daran hielt man dann
fest. So entdeckten die Himmelsstürmer von Reinickendorf den Brennstoff der späteren V2!
Eine zweite wichtige Neuerung Nebels war die sogenannte regenerative Mantelkühlung, bei
der das Alkohol-Wasser-Gemisch vor der Einspritzung durch die doppelte Wandung des
Raketenofens geschickt wird. Auf diesem Prinzip beruhen heute alle Flüssigkeitsraketentriebwerke, auch die des Space Shuttles. Bei dem mächtigen 25-Tonnen-Motor der V2 kam übrigens neben der Mantelkühlung auch Oberths Idee der sogenannten Schleierkühlung zur
Anwendung.
Bis 1932 ging soweit alles ganz gut, doch 1933 wurde das schwärzeste Jahr für die privaten
Raketenbastler in Deutschland. Willy Ley etwa mußte nach Amerika emigrieren — ein Glück,
377
denn er entwickelte sich dort zum führenden Publizisten und Chronisten der Raumfahrt. Die
Rakete sollte in Deutschland von nun an den „Interessen der Landesverteidigung" dienen. Das
Heereswaffenamt suchte seit langem nach Waffenentwicklungen, die nicht berührt wurden
vom Versailler Vertrag, der der Artillerie-Entwicklung in puncto Herstellung und Kaliber
starke Beschränkungen auferlegte. Diese trafen auf die neue Flüssigkeitsrakete nicht zu. Der
führende Kopf für ihre militärische Entwicklung war Dipl.-Ing. Walter Dornberger unter
Oberst (später General) Becker.
Im Sommer 1932 gelang es Rudolf Nebel und seinen Helfern, diesen Militärs auf ihrem Schießplatz in Kummersdorf eine Flüssigkeitsrakete im Flug vorzuführen. Dornberger war vor allem
von dem jungen Wernher von Braun beeindruckt und lud ihn ein, in seine Kummersdorfer Versuchsgruppe zu kommen, also als Zivilist in den Militärdienst zu treten. Braun und andere Mitarbeiter des Raketenflugplatzes nahmen das Angebot an, weil es ihnen sonnenklar war, daß es
mit der privaten Raketenforschung für friedliche Zwecke nun Schluß sein würde. Rudolf Nebel
hing ihr freilich weiterhin an. Er wollte auch die mühsam errichteten Verbindungen zu internationalen Raketengruppen im Ausland aufrechterhalten; ja, auf Anregung von Albert Einstein
gründete er sogar mit anderen Persönlichkeiten eine internationale Forschungsgruppe namens
„Panterra", die sofort als „jüdisch" verdächtigt wurde. So kam Nebel ins Abseits, blieb aber auf
freiem Fuß. Wernher von Braun setzte sich später für ihn ein, und 1937 wurde er für seine
Patente mit 75 000 RM abgefunden.
Nach dem Krieg engagierte sich Rudolf Nebel passioniert für die Popularisierung des Raumfahrtgedankens unter der Devise „Weltraumfahrt ist eine nationale Lebensfrage". In zahlreichen Vorträgen warb er für sie, ferner für die friedliche Verwendung der Atomenergie, für
Robotik und Automation, Kraftwerke für alternative Energiequellen und andere Projekte, die
heute noch an Aktualität gewonnen haben. Er starb am 18. September 1978 im Alter von
84 Jahren.
Oberth überlebte ihn um mehr als zehn Jahre; er verschied 1989 im Alter von 95 Jahren. Wenigen Menschen ist es je vergönnt, wie er schon so frühzeitig im Leben eine Saat höchster Keimkraft zu säen und dann 60 Jahre lang zu erleben, wie die Keimlinge Wurzeln schlagen, wie sie
wachsen, blühen und Früchte bringen in einem Ausmaß, das die ursprünglichen Träume weit
übertrifft. Was ich immer so an ihm bewundert habe, waren sein kühner Glaube an die Weltraumfahrt, die Klarheit seiner Beweisführung, die zwingende Logik und Überzeugungskraft
seiner Argumente und seine geschickte Zurückweisung unzähliger armseliger Kritiker und
Ewig-besserwisser ohne den geringsten Schimmer, die es auch heute noch in Hülle und Fülle
gibt.
Und nun noch ein paar Sätze zu Freiherrn von Braun, dem Dritten im Bund. Geboren wurde er
am 23. März 1912 in Wirsitz in der damaligen Provinz Posen. Wie er später sagte, überzeugte
ihn im Alter von 14 Jahren Oberths wegweisendes Buch davon, daß die Reise von Menschen
zum Mond und manchen Planeten mittels Raketen möglich ist und daß er vielleicht selbst zu
diesen Unternehmen beitragen könnte, wenn er nur hart genug arbeitete und genügend Willenskraft aufbrachte. Die Schule besuchte er im Landeserziehungsheim Ettersburg bei Weimar,
dann im Internat der Hermann-Lietz-Schule auf der Insel Spiekeroog. Nachdem er in der
Untertertia wegen ungenügender Leistungen in Mathematik sitzengeblieben war, riß er sich
gewaltig am Riemen, und zwar so sehr, daß er das Abitur später bereits als Unterprimaner
machte, bevor er nach Berlin zog.
Wie es weiterging, ist bekannt. Unter seiner technischen Leitung entstand in Peenemünde auf
Usedom die Großrakete A4 (Aggregat 4), von Goebbels später in V2 (Vergeltungswaffe 2)
umgetauft. In den USA wurde sie nach Kriegsende die Stammutter der Familie der Saturn378
Trägerraketen, mit denen wir bei der NASA in Huntsville unter Wernhers Leitung seinen bzw.
unseren Jugendtraum der friedlichen bemannten Weltraumfahrt realisieren konnten. Nach
dem Wechsel vom Heer zur zivilen NASA startete sein Raketenentwicklungsteam insgesamt
zehn Saturn-I-Träger, neun Maschinen des verstärkten Typs Saturn-IB und 13 Stück der
Mondrakete Saturn-V. Bereits die dritte Saturn-V trug Apollo 8 zur zehnfachen Mondumkreisung an Weihnacht 1968, und mit der sechsten erfüllte sich der lange, mühsame Werdegang:
An jenem 16. Juli vor fast 26 Jahren donnerte in Cape Kennedy Apollo 11 von der Startrampe,
und auf der Ehrentribüne am Startplatz saßen Hermann Oberth und Rudolf Nebel, beide
75jährig. Welch schicksalhafter Weg lag hinter ihnen! Und welcher heutige Traum, von welchen heute lebenden „unpraktischen Träumern" geträumt, wird dereinst ebensolche Wirklichkeit werden?
Meine eigene Mitgliedschaft in dem Team, das ihren Traum verwirklichte, verdanke ich u. a.
Oberths überzeugenden Schriften und dann natürlich von Braun, meinem späteren Chef. Vor
bald 35 Jahren elektrisierte er mich mit einem Telegramm, in dem stand: „Komm nach Amerika — wir gehen zum Mond!" Die Raumfahrt wurde für uns zum Schicksal. Wernhers innerer
Motor war die auf höchstes Konzentrat gebrachte Quintessenz all dessen, was seine hellwache
Auffassungsgabe von seinen Lehrmeistern Oberth und Nebel und anderen mitbekommen
hatte. Diese Triebkraft, verbunden mit seinem technischen Können, passionierten Optimismus
und umfassenden Erfahrungsschatz, seinem Organisationsgeschick und nicht zuletzt seiner
starken persönlichen Ausstrahlung, wurde zum größten menschlichen Element hinter den
Erfolgen der US-Raketentechnik jener Jahre, in denen Amerika ihn als „Mr. Space" bezeichnete. Als er am 16. Juni 1977 im Alter von 65 Jahren in Alexandria, Virginia, starb, hatte er
Millionen inspiriert.
Anschrift des Verfassers: Professor Dipl.-Ing. Jesco Frhr. v. Puttkamer,
1108 Westmoreland Road, Alexandria, Virginia 22308, USA
Der Autor ist Raumfahrtwissenschaftler und Programm-Manager in der Abteilung Raumfahrt (Office
of Space Flight) der US-Raumfahrtbehörde NASA in Washington, D.C.
Das Columbia-Haus — aus den Augen, aber nicht aus dem Sinn
Von Kurt Schilde
In Berlin befand sich von 1933 bis nach den Olympischen Spielen 1936 auf dem Tempelhofer
Feld ein berüchtigtes Gefängnis und Konzentrationslager. Bis heute ist nur wenigen Menschen
bekannt, was damals hinter den Mauern des Columbia-Hauses passierte.1 Mit diesem Beitrag
zur Geschichte Berlins in der Zeit des Nationalsozialismus soll an das einzige in Berlin
bestehende und vom Erdboden verschwundene Konzentrationslager erinnert werden. Die
Ausführungen basieren auf dem vom Verfasser gemeinsam mit Johannes Tuchel erarbeiteten
Buch über das Columbia-Haus 2 , dem weiterführende Quellennachweise entnommen werden
können.
379
Das Gefängnis auf dem Tempelhofer Feld
Die Geschichte des Konzentrationslagers „Columbia" oder — wie es offiziell und inoffiziell oft
genannt wurde — „Columbia-Hauses" beginnt vor der Jahrhundertwende mit der überfüllten
Militärarrestanstalt in der Lindenstraße, für die zwei Ersatzgebäude erforderlich geworden
waren. Um 1896 war die auf dem Tempelhofer Feld angesiedelte südliche Militärarrestanstalt
fertiggestellt.3 Sie bestand aus einem Arrestgebäude mit 156 Zellen, einem Gerichtsgebäude —
das mit jenem durch einen gedeckten Gang verbunden war — und einem Beamtenwohngebäude sowie einigen Nebenanlagen. Die noch heute auf der gegenüberliegenden Seite der
damaligen Prinz-August-von-Württemberg-Straße — heute Columbiadamm — befindlichen
Kasernen wurden gleichzeitig in ähnlicher äußerlicher Gestaltung errichtet. Bis 1918 soll die
Anlage als Militärarrestanstalt fungiert haben, danach wurde sie als „Gefängnis der Gerichtsinspektion I" unter der Bezeichnung „Gefängnis Tempelhofer Feld" genutzt. Am Ende der
zwanziger Jahre gehörte dieses als „Tempelhofer Feld-Gefängnis" zum Strafvollzugsamt Berlin. Eine spätere Bezeichnung war „Strafgefängnis Tempelhofer Feld".
Das Gestapo-Gefängnis 1933/34
Über die konkrete Nutzung des Gefängnisses in den ersten Monaten des Jahres 1933 liegen
keinerlei Informationen vor, es ist nach allen vorhandenen Hinweisen erst seit Juli 1933 als
Haftort für politische Häftlinge genutzt worden. Die Belegung der ehemaligen Militärarrestanstalt an der Columbiastraße im Sommer 1933 mit politischen Häftlingen durch die Gestapo lag
zum einen an der Tatsache, daß der Haftraum im Hausgefängnis des seit Mai 1933 in der PrinzAlbrecht-Straße 8 etablierten Geheimen Staatspolizeiamtes4 unzureichend und ständig überfüllt war, zum anderen darin, daß die „Schutzhäftlinge" im Gefängnis Spandau, wo viele bis
zum Sommer 1933 untergebracht waren, aus der Sicht der Gestapo zu gut behandelt wurden:
Der Häftling Kurt Hiller bezeichnete Spandau sogar als das „Paradies der Schutzhäftlinge".
Dabei waren in Spandau und Plötzensee die Unterbringung und Verpflegung genauso schlecht
und unzureichend wie in der Prinz-Albrecht-Straße oder dem Columbia-Haus, aber es gab
einen entscheidenden Unterschied: In Spandau und Plötzensee gab es noch Aufseher, die sich
an der preußischen Gefängnisordnung und nicht am nationalsozialistischen „Volksempfinden" orientierten.
Die ersten Häftlinge kamen vermutlich Ende Juni/Anfang Juli 1933. In dem ersten bis heute
vorliegenden Häftlingsbericht aus dem Columbia-Haus hat Kurt Hiller beschrieben, wie er am
14. Juli 1933 von der Prinz-Albrecht-Straße zum Columbia-Haus gebracht und hier mit der
Gefangenennummer 231 in der Zelle 78 inhaftiert wurde. Ein weiterer Häftling, Paul W. Massing, wurde am 17. Juli 1933 festgenommen, in der Prinz-Albrecht-Straße verhört und danach
in das Columbia-Haus gebracht und dort ebenso von der SS geprügelt und gequält wie Kurt
Hiller. In seinem 1935 in Paris unter dem Pseudonym Karl Billinger erschienenen Roman
„Schutzhäftling 880" berichtete Massing über einen Gefangenen, der bereits seit Mitte April
1933 im Columbia-Haus inhaftiert gewesen sein soll. Für diese Darstellung, die möglicherweise auf einem Fehler in der mündlichen Überlieferung beruht, haben sich jedoch keinerlei
andere Hinweise finden lassen.5 Die Zahl der Häftlinge wuchs rasch. Aus 80 Häftlingen im Juli
1933 wurden — so Hiller — bereits im September 400; ein Luftschutzbericht vom 28. Februar
1934 nennt „durchschnittlich 450 Gefangene". Damit waren die 156 Einzelzellen des Columbia-Hauses ständig überfüllt. Die Lebensbedingungen für die Häftlinge wurden immer uner380
316, Berlin.
Kaserne d. Garde -Kürassier -Regte.
Militär-Arest-Geb.
Kaserne des Garde-Kürassier-Regiments mit der Militär-Arrest-Anstalt (rechts). Postkarte von
1905. Archiv von Hans-Ulrich Schulz.
träglicher. Im Columbia-Haus wurden die Häftlinge von der SS bei der Einlieferung gequält,
erniedrigt, gefoltert. Niemand bot der Tortur Einhalt. Im Sommer und Herbst 1933 war es ein
Ort völliger Rechtlosigkeit — dies aber geduldet und gewollt von einer sich rechtsstaatlich
gebenden Geheimen Staatspolizei.
Im Januar 1934 hieß es im zweiten Geschäftsverteilungsplan des Geheimen Staatspolizeiamtes
über das Personal: „SS-Kommando Gestapa: SS-Brigadeführer Henze; Kommandohaus:
Berlin SW 29, Columbiastr. 1/3." Über dieses SS-Kommando besitzen wir lediglich bruchstückhafte Informationen, da die Geschichte der Berliner SS bisher nur sehr unzureichend aufgearbeitet worden ist. Kurt Hiller beschrieb die SS-Männer, denen er im Herbst 1933 im
Columbia-Haus ausgesetzt war: „Meine Statistik am Material von sechzig bis siebzig SS-Männern aller hier vertretenen Chargen hat ergeben, daß etwa fünfzehn Prozent dieser Leute
anständige Menschen waren, etwa fünfundfünfzig Prozent sittlich gesinnungsloser Durchschnitt, der sich anpaßt und mitmacht, etwa dreißig Prozent ausgemachte Sadisten . . . Unter
den einfachen, unbesternten SS-Männern, die über mich zu verfügen hatten, benahm sich am
anständigsten einer, der, wie er mir verriet, erwerbsloser Straßenfeger war".
Wie viele der jeweils zwischen 300 und 400 Häftlinge im Herbst und Winter 1933/34 im
Columbia-Haus ermordet wurden oder dort so gefoltert wurden, daß sie an den Folgen starben, läßt sich nicht mit Sicherheit sagen. Drei Fälle aus dem November 1933 stehen daher vermutlich für viele andere: Am 20. November 1933 mordete die SS im Columbia-Haus Michael
Kirzmierczik aus Leipzig und versuchte seinen Tod als Selbstmord zu tarnen. Die Witwe mußte
im Berliner Leichenschauhaus den verstümmelten Leichnam identifizieren und dann die persönlichen Dinge des Ermordeten im Columbia-Haus abholen. Am 24. November 1933 wurde
Erich Thornseifer von der SS mit Rohrstock und Reitpeitsche so gefoltert, daß er noch am glei381
chen Tag ins Staatskrankenhaus gebracht wurde, wo er am 26. November 1933 starb. Am
27. November 1933 ermordete die SS den Monteur Karl Vesper aus Mahlsdorf, der am
8. November 1933 verhaftet worden war.
Im Winter 1933/34 waren auch die vier kommunistischen Spitzenfunktionäre John Schehr,
Rudolf Schwarz, Erich Steinfurth und Eugen Schönhaar im Columbia-Haus inhaftiert. Sie
wurden mehrfach tagsüber zu Vernehmungen und Folterungen in die Prinz-Albrecht-Straße 8
gebracht. Am Abend des 1. Februar 1934 wurden sie während eines Transports, der sie angeblich von der Prinz-Albrecht-Straße in das Columbia-Haus bringen sollte, am Kilometerberg in
Berlin-Wannsee ermordet.
Für die zu dieser Zeit rund 400 Häftlinge im Columbia-Haus hatte sich auch nach einem Wechsel der Wachmannschaften wenig geändert. Ihre Lebenssituation blieb in den Sommermonaten
1934 weiterhin von Hunger und Quälereien bestimmt. Dies führte schließlich dazu, daß im
September 1934 „Schikanen" und „Quälereien" im Columbia-Haus ausdrücklich verboten
wurden — ein in der Geschichte der Konzentrationslager wohl einzigartiger Vorgang. Offensichtlich sollte die Berliner Bevölkerung in dieser Konsolidierungsphase des Nationalsozialismus nicht unnötig durch Gerüchte beunruhigt werden. Der Leiter der Abteilung III (Abwehrpolizei) des Geheimen Staatspolizeiamtes, Dr. Günter Patschowsky, schrieb am 5. September
1934: „Auf Befehl des Reichsführers SS mache ich sämtliche Beamte und Angestellte des
Geheimen Staatspolizeiamtes darauf aufmerksam, daß es eines Angehörigen des Geheimen
Staatspolizeiamtes unwürdig ist, Schutzhäftlinge zu beschimpfen oder unnötig grob zu behandeln. Den Schutzhaftgefangenen ist, falls es erforderlich ist, mit der nötigen Strenge, aber niemals mit Schikanen und unnötigen Quälereien zu begegnen. Verstöße gegen diesen Befehl
werde ich unnachsichtlich (!) mit den schärfsten Mitteln verfolgen." Ob die „schärfsten Mittel"
jemals zur Anwendung kamen, muß Vermutung bleiben. Sicher ist, daß die unmittelbare
Unterstellung des Columbia-Hauses unter das Geheime Staatspolizeiamt im Dezember 1934
endete.
Das KZ Columbia im System der Konzentrationslager
Die Einbeziehung des Columbia-Hauses in die Verantwortung der „Inspektion der Konzentrationslager"6 im Dezember 1934 war eine Folge des Versuchs, alle Haftstätten und Konzentrationslager nach dem gleichen — dem Dachauer — Muster zu führen. Am 27. Dezember 1934
taucht die Bezeichnung „Konzentrationslager Columbia" das erste Mal in einem Erlaß des
Geheimen Staatspolizeiamtes auf. Die Tatsache der Umbenennung von „Polizeigefängnis in
der Columbiastraße" in „Konzentrationslager Columbia" war aber mehr als ein Namenswechsel. Sie markierte den Übergang vom schrankenlosen und brutalen Terror, der in den Händen
der Gestapo und der Berliner SS gelegen hatte, in ein System der Gewalt, das bis ins kleinste
festgelegt werden sollte. Das Konzentrationslager Columbia unterschied sich im Frühjahr 1935
in einem Punkt grundlegend von allen anderen Lagern: In Dachau, Esterwegen, Sachsenburg
und Lichtenburg waren vor allem Häftlinge inhaftiert, die längere Zeit in „Schutzhaft" bleiben
sollten und deren Haftzeit „automatisch" vom Geheimen Staatspolizeiamt alle drei Monate
verlängert wurde. Das KZ Columbia aber nutzte das Geheime Staatspolizeiamt vor allem für
Häftlinge, deren Verhöre noch nicht abgeschlossen waren und die daher noch nicht in andere
Lager überführt werden sollten. Es war also eine Art Nebenstelle des „Hausgefängnisses" des
Geheimen Staatspolizeiamtes in der Prinz-Albrecht-Straße 8. Schon bald richtete das Gestapa
einen regelmäßigen Transportverkehr zwischen diesem Ort und dem KZ Columbia ein. In der
382
Aufnahme vom Neubau des Flughafens Tempelhof mit dem noch stehenden Columbia-Haus im
Hintergrund (Mitte), 1938. Archiv der Berliner Flughafengesellschaft.
Prinz-Albrecht-Straße mußten die Häftlinge dann ihre Vernehmung in einem Teil des im Keller gelegenen „Hausgefängnisses" abwarten oder wurden abends wieder in das ColumbiaHaus zurückgebracht.
Zusätzlich nutzte die Gestapo das KZ Columbia aber auch für die Unterbringung der Häftlinge, die bei einer der Razzien im Frühjahr 1935 in Berlin festgenommen wurden. Dabei handelte es sich nicht nur um politische Häftlinge, sondern gerade zu dieser Zeit oftmals um
Homosexuelle, die nach der „Entdeckung" der Homosexualität in Kreisen der SA-Führung
jetzt besonders scharf verfolgt wurden. Dies gehört auch in den Kontext der Verschärfung des
§ 175 des Strafgesetzbuches, die 1935 erfolgte.
Im Frühjahr 1935 erschossen SS-Leute zwei Häftlinge, nach deren Tod die Berliner Justiz
Ermittlungen einleitete. Die Einlieferung in das KZ Columbia sollte der am 14. März 1935 verhaftete Heinz Hoppe nur um wenige Tage überleben. Weil er angeblich die Wachmannschaften
beschimpfte, die Scheiben seiner Zelle zerschlug und das Zelleninventar beschädigte, wurde er
ständig gefesselt, so auch am Tag vor seinem Tod. Den weiteren Ablauf kann man so zusammenfassen: Ein gefesselter Häftling stürzt sich angeblich auf den stellvertretenden Kommandanten, dieser verletzt ihn „lebensgefährlich, aber nicht absolut tödlich". Der so Verwundete
stellt sich angeblich vier Stunden später gegen einen SS-Sanitäter, der ihn mit einem gezielten
Herzschuß tötet. Diese derartig unglaubwürdige Darstellung löste dann auch Ermittlungen der
Staatsanwaltschaft aus. Nicht zuletzt, weil wenige Tage später, am 6. April 1935, Kurt Wirtz im
KZ Columbia ermordet wurde, der hier auch als angeblicher Homosexueller inhaftiert war.
Die Darstellung der Umstände seines Todes sind genauso unglaubwürdig wie bei Heinz
Hoppe. Danach soll Kurt Wirtz mit einem Schemel die Füllung der Zellentür herausgeschlagen
383
haben und anschließend in eine Dunkelzelle verlegt worden sein. Hier soll er nach einem
„Bericht" auf den SS-Mann losgegangen sein, „der ihn zur Ruhe mahnen" wollte: „Es hat den
Anschein, als wolle er ihm [dem SS-Mann, d. V.] an den Hals springen. SS-Mann schießt zweimal auf ihn. Nach 1. Schuß torkelt W., 2. Schuß tödlich." Es gab Ermittlungsverfahren, die
allerdings in beiden Mordfällen eingestellt wurden.
Die Auflösung des KZ Columbia
Das Konzentrationslager Columbia war ein Ort, auf den Gestapo und SS ein besonderes
Augenmerk hatten. Wer sich hier im nationalsozialistischen Sinne „bewährte", konnte einer
Karriere in der perversen Welt der Konzentrationslager sicher sein. Karl Koch, Arthur Liebehenschel, Max Koegel, Albert Sauer, Richard Baer — für sie alle war das KZ Columbia eine
wichtige Zwischenstation ihrer terroristischen Karriere. Hier waren sie Vertreter jener Ideologien, deren menschen verachtendes Denken sich weit vor dem Beginn des Zweiten Weltkrieges
zeigt. Die menschliche Würde galt nichts mehr. Dies wird nicht nur an den Morden des Frühjahrs 1935 sichtbar, sondern auch in der scheinbaren Beruhigung der Verhältnisse im Lager in
der Zeit danach.
Stärker als das Bedürfnis der Gestapo, in Berlin ein großes zentrales Gefängnis für die Gefangenen des Geheimen Staatspolizeiamtes zu haben, war der Wille der nationalsozialistischen
Führung, Großprojekte zu errichten, die nicht nur die angebliche Stärke des neuen Deutschlands demonstrieren sollten, sondern die zugleich der Vorbereitung des Angriffskrieges dienen
konnten. Zu diesen Großprojekten gehört auch der Ausbau des Flughafens Tempelhof. So verwundert es nicht, daß der Inspekteur der Konzentrationslager, Theodor Eicke, in einem Brief
an das Preußische Forstamt Sachsenhausen am 18. Juni 1936 über den Geländebedarf für das
neue KZ Sachsenhausen als Begründung mitteilte:
,,c) Das Konzentrationslager ,Columbia', Berlin, wird am 1. Oktober 1936 gleichfalls aufgelöst.
Die Baulichkeiten gehen zu diesem Zeitpunkt an das Reichsluftfahrtministerium über. Die
Insassen des K.L. Columbia werden zum genannten Zeitpunkt ebenfalls im neuen KL Sachsenhausen untergebracht.
d) Die Militärbehörde ist mit dem Ersuchen an mich herangetreten, im A-Falle [Kriegsbeginn
durch einen deutschen Angriff, d.V] einige Hundert staatsgefährliche Elemente in einem Konzentrationslager in der Nähe Berlins unterzubringen. Ich habe hierfür das neue Konzentrationslager Sachsenhausen vorgesehen."
Die Baupläne für das KZ Sachsenhausen wurden nach einem Bericht von Werner Peuke im
Häftlingsbüro des KZ Columbia projektiert; von hier aus wurden die Häftlinge nach Sachsenhausen gebracht, um dort unter „Bächen von Schweiß und Strömen von Blut" — so Werner
Peuke — zusammen mit Häftlingen aus dem KZ Esterwegen das Lager Sachsenhausen aus dem
Nichts zu errichten.
Zu den letzten Häftlingen des KZ Columbia kann der Absender einer Postkarte gelten: Werner Pischke hatte die laufende Nummer 7806. Es ist ein weiterer Brief dieses Häftlings erhalten
geblieben, der kurz darauf aus dem KZ Sachsenhausen geschrieben wurde. Werner Pischke
hatte die niedrige Zugangsnummer 739. Damit wird auch dokumentiert, daß Sachsenhausen
eine direkte Nachfolgeeinrichtung des KZ Columbia war.7
Am 16. November 1936 setzte ein Fernschreiben des Geheimen Staatspolizeiamtes den
Schlußpunkt unter die Geschichte des KZ Columbia. Lapidar hieß es dort: „Das Konzentrationslager Columbia in Berlin-Tempelhof ist mit 5. November 1936 aufgelöst worden."
384
Nach dem 1936 erfolgten „ersten Spatenstich" fand das Richtfest auf dem Berliner Zentralflughafen Tempelhof am 4. Dezember 1937 statt. Wie eine offensichtlich im Zusammenhang
mit dem Weiterbau entstandene Foto-Dokumentation8 zeigt, bestand der Gebäudekomplex
zumindest bis zum 3. März 1938. Auf derein halbes Jahr später am 15. August 1938 gemachten
Aufnahme ist das Columbia-Haus nicht mehr zu sehen. In der Zwischenzeit ist der Abriß der
Gebäude des KZ Columbia erfolgt, in denen in vier Jahren vermutlich zehntausend Häftlinge
inhaftiert, gefoltert und gequält wurden sowie der Willkür ihrer Bewacher ausgesetzt waren.
Häftlinge
Es kann angenommen werden, daß im Columbia-Haus insgesamt etwa 8000 bis 10 000 Häftlinge gefangen gehalten worden sind, von denen bis 1989 für die gemeinsam mit Johannes
Tuchel verfaßte Publikation mehr als 450 Namen ermittelt werden konnten. Nach der Wiedervereinigung sind durch die nunmehr zugänglich gewordenen Archive viele weitere Namen
bekannt geworden, so daß derzeit fast 700 Häftlinge namentlich erfaßt sind.
Informationen über einige Häftlinge gab es schon sehr früh, z. B. durch die Publikation von
Berthold Jacob („Warum schweigt die Welt"), Karl Billinger („Schutzhäftling 231") oder Werner Hirsch („Hinter Stacheldraht und Gitter"). Nicht zu vergessen sind die Sopade-Berichte.^
Weitere Hinweise auf einzelne Häftlinge fanden sich in Archiven wie Schriftstücken der Polizei- und Justizverwaltung usw. Dazu gehört z. B. die Häftlingskladde der Prinz-AlbrechtStraße 8, die jetzt als Kopie in der Ausstellung „Topographie des Terrors" eingesehen werden
kann.
Die Liste der namentlich identifizierten Häftlinge umfaßt viele, von denen wenig mehr als der
Name bekannt ist, aber auch eine Reihe prominenter Häftlinge. Zu ihnen gehören neben den
bereits genannten: Leo Baeck, Theodor Duesterberg, Hermann Duncker, Werner Finck, Walter Gross, Theodor Haubach, Ernst Heilmann, Erich Honecker, Robert M. W Kempner, Franz
Neumann, Werner Seelenbinder und Ernst Engelberg.
Geschichte eines Denkmals
Im Rahmen der vom Bezirksamt Tempelhof veranlaßten Forschungsarbeiten für das
„Gedenkbuch für die Opfer des Nationalsozialismus aus dem Bezirk Tempelhof" • ist mit der
seit 1987 im Heimatmuseum Tempelhof gezeigten Dauerausstellung wieder die Erinnerung an
das „Columbia-Haus" geweckt worden. Um an das historische Geschehen zu erinnern, hat am
15. Juni 1988 die Tempelhofer Bezirksverordnetenversammlung dem Antrag der SPD-Fraktion zugestimmt, an der Stelle des früheren Columbia-Hauses eine Gedenktafel bzw. ein
Mahnmal für die Verfolgten der nationalsozialistischen Diktatur zu errichten. Nach einer
begrenzten Ausschreibung des Bezirksamtes Tempelhof fand die Idee von Georg Seibert die
Zustimmung der Jury, ein „Haus" aufzustellen. Bedingt durch die Beschaffenheit des Ortes,
hatte er ein Mahnmal konzipiert, das zur Straßenseite hin abgeschirmt ist und sich zur beruhigten Seite hin öffnet. Mit plastischen Zitaten für Teilstücke eines Hauses — Außenwand, Trennwände, Giebelwand und Dach — wird assoziativ auf ein nicht mehr vorhandenes Haus hingewiesen. Enggestellte Trennwände verweisen auf Zellen des Gefängnisses und damit auf
„Gewaltstrukturen in diesem Haus". Durch eine Inschrift in der inneren Giebelwand wird auf
die Geschichte des Columbia-Hauses hingewiesen.11 Nach einer Ortsbegehung mit den zu
385
beteiligenden Behörden wurde aber aufgrund der geäußerten „verkehrstechnischen" Bedenken die Aufstellung des Denkmals hinausgeschoben. Schließlich wurde es auf der gegenüberliegenden Seite des Columbiadamms - Ecke Golßener Straße - aufgestellt und am 3. Dezember 1994 enthüllt.
Anschrift des Verfassers: Dr. Kurt Schilde,
Karlsgartenstraße 16, 12049 Berlin
Anmerkungen
1 Vgl. Kurt Schilde, Vom Columbia-Haus zum Schulenburgring. Dokumentation mit Lebensgeschichten von Opfern des Widerstandes und der Verfolgung von 1933 bis 1945 aus dem Bezirk
Tempelhof. Mit einem Geleitwort von Klaus Wowereit. Herausgegeben vom Bezirksamt Tempelhof von Berlin. Berlin 1987; ders.: „Fragen Sie nach dem Columbia-Haus!", in: Die Mahnung
Nr. 5/1988. (Nachdruck unter dem Titel „Das Columbia-Haus in Berlin war ein gefürchtetes
KZ", in: Aufbau vom 17. Juni 1988, S. 24).
2 Kurt Schilde und Johannes Tuchel, Columbia-Haus. Berliner Konzentrationslager 1933—1936.
Mit einem Geleitwort von Klaus Wowereit. Herausgegeben vom Bezirksamt Tempelhof von Berlin. Berlin 1990.
3 Architekten-Verein zu Berlin und Vereinigung Berliner Architekten (Hrsg.): Berlin und seine
Bauten. Band II und III (Der Hochbau). Berlin 1896, S. 388 und 400.
4 Vgl. Johannes Tuchel und Reinold Schattenfroh, Zentrale des Terrors. Prinz-Albrecht-Straße 8.
Das Hauptquartier der Gestapo. Berlin 1987.
5 Karl Billinger (d. i. Paul W. Massing), Schutzhäftling Nr. 880. Aus einem deutschen Konzentrationslager. Roman. München 1978.
6 Vgl. Johannes Tuchel, Konzentrationslager. Organisationsgeschichte und Funktion der „Inspektion der Konzentrationslager 1934-1938". Boppard 1990.
7 Vgl. Schilde, Vom Columbia-Haus zum Schulenburgring. Berlin 1987, S. 65 f.
8 Archiv der Berliner Flughafengesellschaft.
9 Berthold Jacob, Warum schweigt die Welt? Paris 1936; Karl Billinger (d. i. Paul W. Massing),
Schutzhäftling Nr. 880. Aus einem Konzentrationslager. Roman. München 1978. Werner Hirsen,
Hinter Stacheldraht und Gitter. Erlebnisse und Erfahrungen in den Konzentrationslagern und
Gefängnissen Hitlerdeutschlands. Zürich, Paris 1934.
10 Kurt Schilde, Gedenkbuch für die Opfer des Nationalsozialismus aus dem Bezirk Tempelhof.
Herausgegeben vom Bezirksamt Tempelhof von Berlin. Berlin 1987 (1. Auflage), 1988
(1. Ergänzung), 1989 (2. Ergänzung).
11 Kurt Schilde: „Ausschreibung Columbia-Haus. Begrenzte Ausschreibung für die Errichtung
eines Mahnmals am früheren Standort des wiederentdeckten Konzentrationslagers Coloumbia",
in: Kunst am Bau. Informationsdienst des BBK Berlins Nr. 32 (Mai) 1990, S. 10-14.
Deutsch-russisches „Museum Berlin-Karlshorst"
Von Gabriele Camphausen
In der Nacht vom 8. auf den 9. Mai 1945 wurde in dem ehemaligen Offizierskasino in BerlinKarlshorst die bedingungslose Kapitulation der Deutschen Wehrmacht unterzeichnet. Am
8. Mai 1995, zum 50. Jahrestag der Kapitulation, wird in eben diesem Gebäude das Museum
Berlin-Karlshorst neu eröffnet. Thema des Museums ist die Geschichte der deutsch-sowjetischen Beziehungen, die in entscheidendem Maße von dem Krieg 1941 bis 1945 geprägt ist.
386
Außenansicht des ehemaligen Offizierskasinos der Festungspionierschule, nunmehr Hauptquartier
der 5. sowjetischen Stoßarmee am 8. Mai 1945, vor der Unterzeichnung der Kapitulation.
Foto: Melnik, Privatbesitz.
Bereits von November 1967 bis Mai 1994 beherbergte das Gebäude ein Museum. Es handelte
sich um eine Einrichtung der sowjetischen Streitkräfte, nämlich um das „Museum der bedingungslosen Kapitulation des faschistischen Deutschlands im Krieg 1941 bis 1945". Dieses
Museum richtete sich an die Soldaten der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland, darüber
hinaus aber auch an Besucher aus der DDR, an Touristen aus dem Ausland und nicht zuletzt an
die Angehörigen der westalliierten Truppen. Im Mittelpunkt der musealen Darstellung stand
der Kampf der sowjetischen Armee gegen das nationalsozialistische Deutschland bis zur
Eroberung der damaligen Reichshauptstadt Berlin. Ziel der Präsentation war es, ein festgefügtes Bild vom heldenhaften Kampf und glorreichen Sieg der Sowjetunion zu vermitteln, hinter
das alle Verluste zurücktraten.
Die politischen Umwälzungen des Jahres 1990 — der Abschluß des 2+4-Vertrages und des
Vertrages über den Abzug der sowjetischen Truppen — zeitigten auch für das bisherige Militärmuseum in Berlin-Karlshorst notwendige Veränderungen. Verhandlungen zwischen der deutschen und der sowjetischen Seite, das Museum in Karlshorst auf der Grundlage einer neuen
Konzeption in eine deutsch-sowjetische Gemeinschaftsinstitution umzuwandeln, führten zu
einem positiven Ergebnis. Eine paritätisch besetzte Expertenkommission entwickelte bis Ende
1991 eine neue Rahmenkonzeption, ein daraufhin eingesetzter Arbeitsstab realisierte die konkrete Detailarbeit, und im Mai 1994 schließlich wurde als Träger des künftigen Museums der
(nach dem Ende der UdSSR nunmehr) deutsch-russische Verein „Museum Berlin-Karlshorst
e.V." gegründet. Neben dem Betrieb des Museums hat der Verein die Aufgabe, Wechselausstellungen, Seminare und andere Veranstaltungen zu organisieren.
387
Die Vertreter der Alliierten (Tedder, Shukow, Spaatz, Lattre de Tassigny) im sog. Kapitulationssaal
am Abend der Unterzeichnung.
Foto: Melnik, Privatbesitz
Der Versuch, mit der Gründung eines gemeinsamen deutsch-russischen Museums neue Wege
zu beschreiten, traf keineswegs nur auf positive Reaktionen — die Neukonzipierung des Karlshorster Museums rief vielmehr auch Bedenken und Kritik hervor. So wurde die Befürchtung
laut, hier werde eine nachträgliche Geschichtsbereinigung vorgenommen, und man forderte
statt dessen, das frühere sowjetische Militärmuseum als Zeitzeugnis, gleichsam als ,Museum
eines Museums', zu bewahren. Die Erarbeitung einer neuen Konzeption für das Museum Berlin-Karlshorst, die von der deutschen wie von der sowjetischen bzw. russischen Seite für unabdingbar erachtet wurde, beruhte hingegen auf den folgenden Überlegungen. Zum einen
erkannte man die Gefahr, daß künftige Besucher die Form und den Inhalt eines konservierten
sowjetischen Museums nicht mehr einzuordnen wüßten und lediglich als unzugängliches Exotikum wahrnähmen. Des weiteren aber sah man die einzigartige Chance, mit diesem neuen
Museum der Geschichte der deutsch-sowjetischen Beziehungen und insbesondere der Auseinandersetzungen mit dem Krieg, seinen Ursachen und weitreichenden Folgen einen eigenen Ort
widmen zu können.
Das künftige Museum Berlin-Karlshorst wird Bisheriges und Neues miteinander zu verbinden
suchen. So werden Objekte und Passagen aus der früheren Ausstellung gezeigt und der historische Kapitulationssaal, das Büro von Shukow und das Diorama „Sturm auf den Reichstag"
bewahrt. Eine Erneuerung wird stattfinden durch die Erweiterung des thematischen Rahmens
und die Hinzunahme wichtiger Aspekte, die bislang dem Diktat der klassischen militär- und
siegzentrierten Perspektive zum Opfer gefallen waren. Außerdem wird die neue Ausstellung in
bewußt nüchtern-distanziertem Ton gehalten, um den Besuchern eine selbständige Verarbeitung und Urteilsfindung zu ermöglichen.
388
Zu den erwähnten wichtigen, bislang jedoch vernachlässigten Themen zählen beispielsweise
die ideologischen Voraussetzungen und Ziele der deutschen Kriegspolitik gegenüber der
Sowjetunion. Das Konglomerat aus rassistischen, antikommunistischen, kolonialen und ökonomischen Motiven vermochte die unterschiedlichsten Gruppierungen in Deutschland anzusprechen und somit einen weitreichenden Konsens über die Rechtmäßigkeit des Krieges gegen
die UdSSR herbeizuführen. Besondere Aufmerksamkeit in der künftigen Ausstellung gebührt
jedoch den Betroffenen und Opfern der deutschen Ausbeutungs- und Vernichtungspolitik:
der jüdischen und nichtjüdischen sowjetischen Zivilbevölkerung in den besetzten Gebieten,
den sowjetischen Kriegsgefangenen und den Zwangsarbeitern. Eine eigens für das neue
Museum zusammengestellte EDV-Installation wird zum ersten Mal einen Überblick über die
Internierungs- und Arbeitslager sowie die Orte der Vernichtung in den von den Deutschen
besetzten Gebieten der UdSSR vermitteln und die Dimensionen der damals praktizierten
Selektions- und Dezimierungspolitik erkennbar machen. Als ein Fallbeispiel deutscher Kriegführung gegenüber den sowjetischen Siedlungszentren wird die Belagerung Leningrads aufgezeigt. Weitere Themen, die nunmehr einbezogen werden, sind der Kriegsalltag der Soldaten
beider Seiten jenseits jeglicher heroischer Stilisierung, das Leben der sowjetischen Zivilbevölkerung im sogenannten Hinterland, die Frage der Kollaboration sowjetischer Bürger mit der
deutschen Besatzungsmacht und nicht zuletzt das Leiden der deutschen Zivilbevölkerung
angesichts der Exzesse am Ende des Krieges. Neu ist auch die Berücksichtigung der Vorgeschichte und der Konsequenzen des Krieges, d. h. die Darstellung der deutsch-sowjetischen
Beziehungen in den Jahren 1917 bis 1941 sowie der Nachkriegsbeziehungen zwischen der
DDR und der UdSSR einerseits und der Bundesrepublik Deutschland und der UdSSR andererseits. Große Bedeutung besitzt hierbei der Faktor Wirtschaft.
Die deutsch-sowjetischen Beziehungen weisen eine äußerst wechselvolle Geschichtsbilanz auf,
mit historisch-politischen Belastungen und Schulden, deren Verarbeitung sich bis in unsere
Gegenwart hineinzieht. Die Schaffung eines gemeinsamen Museums zur Auseinandersetzung
mit gerade dieser Vergangenheit vermag im Sinne einer positiven Normalisierung der beiderseitigen Beziehungen ein wichtiges Signal zu setzen.
Anschrift der Verfasserin: Dr. Gabriele Camphausen,
Museum Berlin-Karlshorst,
z. Hd. Deutsches Historisches Museum, Windscheidstraße 18, 10627 Berlin
Rezensionen
Wolfram Adolphi, Profile aus dem Norden Berlins — Bürger unserer Zeit — Zwischen Tegel und
Oranienburg, Bd. I., Berlin 1994, 402 Seiten.
Das Buch ist als Kontaktmöglichkeit für Geschäftsleute in den früher getrennten Bereichen von Berlin
(West) und dem brandenburgischen Umland in der einstigen DDR gedacht und unternimmt etwas
Neues: die Reihe will das persönliche und kulturelle Gesicht einer Region widerspiegeln, wie der Verfasser im Vorwort angibt. In 200 Kurzporträts werden Mitbürger vorgestellt, denen ein allgemeines
Engagement nachgesagt wird und die durch ihr Tun die nachgezogenen Profillinien vertiefen. Der
geographische Viertelkreis der Oberhavellandschaft zwischen Tegeler See und dem Rhinluch eignet
sich zu einem solchen Brückenschlag zwischen Ost und West. Hier wird geschildert, wie die Porträtier389
ten zu dem wurden, was sie jetzt sind. Daraus entsteht ein Bild einstiger und gegenwärtiger Zustände
aus Kultur und Wirtschaft, Handel und Handwerk und kommunaler bzw. sozialer Tätigkeit. Dieser
Bogenschlag erfolgte vom Osten her. Der Porträtist geht unvoreingenommen und unkompliziert auf
Menschen und Dinge zu, man merkt ihm die Freude an seinen Neuentdeckungen an. Jeder Mensch
bietet ihm das ganze Leben in seiner Vielfalt.
So wie alte Handwerkerstrukturen noch immer sichtbar sind, werden auch die alten Industrieorte
Hennigsdorf, Veiten, Oranienburg und Tegel/Borsigwalde als alte Zentren bewußt. — Bürger aus
dem einstigen Osten sind in der Überzahl, ihre alten Handwerksbetriebe — die DDR-Wirtschaft überlebend — sind am stärksten vertreten. Vielfach lassen sich die Übergänge von den LPGs und PGHs zu
Privatbetrieben nachvollziehen, und hinter den Biographien ihrer Inhaber treten ganze Familiengeschichten über zwei bis drei Generationen ins Bild. Sichtbar wird auch die andere Art der Berufsfindung und -ausübung, wie sie in der alten DDR üblich war. Ferner tritt das Sichdurchschlagen im Alltag hervor. Die Bürgermeister von Reinickendorf, von Veiten und Hennigsdorf, von Marwitz und Birkenwerder, der Landrat von Oranienburg wurden befragt. Lehrer und Pfarrer und Gemeindekräfte
spielen eine bedeutende Rolle mit neuen pädagogischen und sozialen Konzepten; überall ist der
Wunsch spürbar, viel Altes ins Neue einzubringen. In die Lebenswege hinein spielen die großen
Ereignisse wie die Zerstörung Oranienburgs durch Bomben, das Kriegsende und die Wende.
Der Verfasser hat jeden der Dargestellten intensiv befragt und in der Kürze das Persönliche und
Wesentliche formuliert. So ist hier das Zusammenwachsen von Ost und West beispielhaft dargestellt:
Berlin und sein Hinterland sind wieder eine Region geworden. Das Handwerk ist mit zumeist mittelständischen Betrieben vertreten: Kraftfahr- und Transportwesen, Autotechnik und -reparatur, Landmaschinen und neue Schweiß- und Gußtechnik, Schmiedemeister und die Kunstgewerbe der Keramik. Ein Marktmeister kommt zu Wort, ferner ein Buchantiquar, ein Holzrestaurator, der Bäckereibetrieb für Spezialbrot und der Chef einer Nobelgastronomie. Eine Neuentdeckung für Berliner ist,
wie stark das alte Gewerbe der Kachel- und Ofenherstellung in Veiten wiederbelebbar ist. Alte Strukturen sind noch vorhanden, sei es in der Herstellung wie im Transport auf der Ruppiner Chaussee, wo
es in Schulzendorf noch den alten Ausspann für den Pferdewechsel der Kachelwagen gibt.
Jedem hat der Verfasser höchst Interessantes abgewonnen. Manche haben ihr Anliegen nach langer
Zeit darstellen können — wie der Lehrer, der in Bergfelde im Todesstreifen wohnte und zu einem
seiner Geburtstage seine Schüler auf der Straße empfangen mußte, da sie ihn dort nicht besuchen
durften.
So ist das Buch voller Anregungen für die Heimatgeschichte. Da es im Handel nicht erhältlich ist, hat
der Autor Dr. Adolphi dem Verein für die Geschichte Berlins, gegr. 1865, ein Exemplar übereignet,
wofür ihm Dank gesagt sei.
Christiane Knop
Heike Naumann, Der Friedrichshain — Geschichte einer Berliner Parkanlage, Berlin: Heimatmuseum Friedrichshain 1994, 47 Seiten, 8 DM.
Das Büchlein der rührigen Leiterin des Friedrichshainer Heimatmuseums informiert ausführlich über
die Geschichte und das Schicksal dieses Berliner Volksparks. Wir lernen, daß er mehr als nur eine
grüne Oase für seine Anwohner ist: Einhundertfünfzig Jahre Stadtgeschichte spiegeln sich in ihm
wider und sind beim Spaziergang erlebbar. Lennes 1840 vorgelegter Plan für „Schmuck- und Grenzzüge von Berlin mit nächster Umgegend" sah vor, die Stadt mit einem grünen Gürtel zu umgeben.
1848 konnte die von dessen Schüler und Mitarbeiter Gustav Meyer einem englischen Landschaftspark nachempfundene, zu Ehren Friedrichs des Großen so benannte Parkanlage als ein Teil dieses
Konzeptes fertiggestellt werden. Der Friedrichshain war das östliche Gegenstück zum Tiergarten.
War er ursprünglich als Ort vornehmen Spazierengehens gedacht, zeigte sich bald, daß — entsprechend der sich in den Gründerjahren verändernden Zusammensetzung der Stadtbevölkerung — auch
andere Bedürfnisse zu befriedigen waren: Die Parkbesucher wollten Sport treiben, mit ihren Kindern
spielen, auf dem Rasen liegen, in Gaststätten sitzen, durch musikalische sowie künstlerische Darbietungen unterhalten werden und sich in Pflanzengärten botanisch fortbilden. Diese unterschiedlichsten Bedürfnisse führten schon in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts zu Umgestaltungen
durch den nunmehr als Berliner Gartendirektor wirkenden Schöpfer der Anlage. Die bedeutendste
Ausschmückung des Parks ist der von Baustadtrat Ludwig Hoffmann entworfene Märchenbrunnen
(1913). Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß sich der Kaiser höchstpersönlich um diesen
Brunnen kümmerte. Er sorgte durch seinen fürsorglichen Einspruch dafür, daß die Märchenfiguren
390
im Gegensatz zur ursprünglichen Planung in kindlicher Reichweite aufgestellt wurden! Wir werden
weiterhin ausführlich über das Krankenhaus Friedrichshain, den sehenswerten Friedhof der Märzgefallenen von 1848 und den Bau und die Funktion der beiden großen Bunker während des Zweiten
Weltkriegs informiert, deren überwachsene Trümmer diesen Park heute als citynahes Wintersportgebiet erscheinen lassen. Das alles — einschließlich einiger aufdringlicher Denkmäler aus der DDR-Zeit
— gehört zur Geschichte dieses Volksparks im echten Sinne des Wortes. Die Gartendenkmalpflege
wird das bei eventuellen Bemühungen um ein ,Facelifting' zu berücksichtigen haben.
Die Autorin wird uns am 8. April sachkundig durch den Park führen (vgl. Veranstaltungsprogramm).
Manfred Uhlitz
Aus den Berliner Museen
Abgußsammlung antiker Plastik (FU): „Standorte". Diese von Studenten des Seminars für Klassische Archäologie der Freien Universität unter der Leitung des Kustos der Abgußsammlung, Klaus
Stemmer, gestaltete Schau beschäftigt sich mit der Frage, wo und wozu Statuen in der Antike aufgestellt wurden. Man wandelt durch einen unübersichtlichen Skulpturenwald, wie er an manchen Orten
der Antike vorhanden gewesen sein mag. Öffentliche Plätze, Nekropolen oder Heiligtümer waren die
beliebtesten Aufstellungsorte für plastische Werke. Schloßstraße 69 b (Charlottenburg). Noch bis
28. April. Do-So 14-17 Uhr.
Altes Museum: „Munch und Deutschland". Mit dieser Ausstellung stellt die Nationalgalerie eines
der faszinierendsten Kapitel der Kunstgeschichte im Wilhelminischen Kaiserreich vor. Der Ort der
Ausstellung — das Alte Museum — liegt zudem in unmittelbarer Nähe des ursprünglichen Ortes des
Geschehens, wenn wir den skandalumwitterten Aufstieg der Munch-Malerei aus historischer Sicht
nachvollziehen. Noch bis zum 24. April 1995.
Edvard Munchs Malerei war zuerst als französisch und undeutsch verschrien, dann war es die unprätentiöse und unmittelbare Darstellung seiner Themata, die zu Anfeindungen führte. Diese Bilder zu
Liebe, Leidenschaft, Angst, Eifersucht und Tod, die gleichsam kahl, ohne jede allegorische Verkleidung daherkamen, wurden als formlos, brutal, roh und gemein beschrieben. Als „Lebensfries" von
Munch selber immer wieder anders und neu zusammengeordnet, bilden sie, heute so aktuell wie je,
das Zentrum seines malerischen CEuvres und den ersten großen Höhepunkt dieser Ausstellung. Es
folgen, nun bereits als Fries konzipiert, die Gemälde zur Ausschmückung der Kammerspiele Max
Reinhardts und die ursprünglich für das Kinderzimmer im Hause des Lübecker Augenarztes Dr. Max
Linde in Auftrag gegebenen Bilder. Ein weiterer Akzent dieser Ausstellung liegt in den Bildnissen, die
Munch von seinen Freunden und Förderern gemalt hat. Neben dem bereits erwähnten Dr. Max Linde
und seinen Kindern sind hier August Strindberg, Julius Meier-Graefe und der Pole Stanislaw Przybyszewski, die sich gern im Weinhaus „Zum Schwarzen Ferkel" trafen, sowie die monumentalen Porträts von Harry Graf Kessler und Walter Rathenau zu nennen. Zudem zeigt die Ausstellung Stadtansichten und Landschaftsbilder aus Thüringen, Berlin und Warnemünde.
Die Ausstellung wäre allerdings unvollständig, stellte sie nicht auch das künstlerische Umfeld dar, in
dem Munch gearbeitet hat. Am Anfang können wir die für Munch entscheidenden Werke des deutschen Symbolismus, Bilder und Graphiken von Max Klinger, Arnold Böcklin, Hans von Marees,
Ludwig von Hofmann und Walter Leistikow, am Ende hingegen die Kunst des Expressionismus, Bilder und Graphiken von Ernst Ludwig Kirchner, Erich Heckel, Karl Schmidt-Rottluff sehen.
Anne Lemke-Junker
Am gleichen Ort, im Obergeschoß, ist noch bis 25. Juni 1995 die Ausstellung „Kleinplastiken des
19. Jahrhunderts aus der Nationalgalerie" zu sehen.
Die hier gezeigten Kleinplastiken sind im 19. Jahrhundert und in den ersten beiden Jahrzehnten unseres Jahrhunderts entstanden. Die Ausstellung gewährt einen Einblick in einen im allgemeinen nicht
ausgestellten Sammlungsbestand der Nationalgalerie. Gezeigt werden mehr als siebzig Werke, die
zumeist in Bronze ausgeführt sind. Sie vermitteln einen Überblick über die Entwicklung der Skulptur
von etwa 1790 bis zur Zeit des Ersten Weltkrieges.
391
Am Beginn der chronologisch aufgebauten Ausstellung stehen kleine Werkkomplexe des deutschen
Klassizismus, insbesondere Werke von Johann Gottfried Schadow und Christian Daniel Rauch.
Durch diese zwei Meister, die mit ihrem reichen Schaffen als maßgebliche Bildhauer des Klassizismus
über Deutschlands Grenzen hinweg ausstrahlten, gewann die deutsche Skulptur europäischen Rang.
Der Bogen spannt sich von hier über die realistische Plastik der Jahrhundertmitte bis hin zu den
Künstlern des Neubarocks, wie etwa zu dem Berliner Reinhold Begas. Die realistische Kunst ist durch
den französischen Hauptmeister der Tierplastik, Antoine-Louis Barye, vertreten. Ihm folgten in
Deutschland Künstler wie Wilhelm Wolff und Theodor Kaüde mit bewegten Kompositionen und
neuartigen, mitunter dramatischeren Sujets, während ihre Zeitgenossen — etwa die Brüder Carl und
Gustav Blaeser — in der Tradition des Klassizismus qualitativ hochwertige Bildnisse modellierten.
Ihnen allen eignet eine geradezu perfekte technische Ausbildung, die sich an den hier gezeigten Stükken gut erkennen läßt.
Gleiches läßt sich an den grandiosen Schöpfungen und Entwürfen der neubarocken Bildhauer (Reinhold Begas, Gustav Eberlein) erkennen; und noch die sezessionistischen Künstler der Jahrhundertwende wie August Kraus und August Gaul zehren von dieser Tradition.
Die Ausstellung zeigt neben einigen konventionellen Bildhauern, wie Stephan Sinding, vor allem die
bis heute anregenden internationalen Wurzeln der Moderne, die mit Künstlern wie Constantin Meunier, George Minne, Aristide Maillol, mit Bildwerken der impressionistischen Maler Edgar Degas
und Auguste Renoir gut dokumentiert sind.
Neben diesen berühmten Namen finden sich einige Wiederentdeckungen. So waren Jules Dalou,
Alexandre Falguiere, Stephan Sinding und Hermann Ernst Freund einst weithin bekannte Bildhauer.
Manche ihrer in der Nationalgalerie bewahrten Werke gelangen mit dieser Ausstellung nach Jahrzehnten wieder oder gar überhaupt erstmals an die Öffentlichkeit.
In der Ausstellung sind die wichtigsten Bereiche der Kleinplastik vertreten: Porträt, Statuette, Denkmalreduktion, Tierplastik. Das Spektrum reicht von der Sammlerbronze bis zu Nachgüssen von
Wachsmodellen. An diesen Arbeiten läßt sich die Vielfalt künstlerischer Aufgaben und bildhauerischer Handschriften erkennen. Die Intimität des kleinen Formates bietet auch dem Laien einen leichten Zugang zur Skulptur jenes Jahrhunderts, das die kunstgeschichtlichen Entwicklungen der
Moderne vorbereitete.
Die Ausstellung wurde bereits an verschiedenen Orten in Deutschland gezeigt. Doch gegenüber allen
vorangegangenen Stationen unterscheidet sich die Berliner Präsentation insofern, als hier erstmals
auch einige Gemälde hinzugefügt wurden, die das Wechselverhältnis zwischen Skulptur und Malerei
exemplarisch belegen können. Zudem wurden, abweichend vom Katalog, auch Arbeiten in Gips einbezogen, die insofern als ganz besonders authentisch gelten dürfen, als sie den Arbeitsprozeß des
Künstlers, der im Atelier mit solchen Gipsmodellen Alternativen ausprobierte, genau dokumentieren.
Anne Lemke-Junker
Am Lustgarten in Berlin-Mitte.
Noch bis zum 5. Juni 1995 zeigen das Alte Museum und das Kunstforum in der Grundkreditbank
eine sehr sehenswerte Schau von Museumsgegenständen, die seit 1975 aus Mitteln der Stiftung Deutsche Klassenlotterie erworben wurden.
Bauhausmuseum: Vor vier Jahren zeigte das Deutsche Architektur-Museum Frankfurt am Main die
geistigen Höhenflüge von siebzehn Architektenbüros zur Gestaltung der Berliner Mitte. In den vergangenen Jahren vollzog sich der Wandel zur konkreten Ausführung der Pläne in vertrauten Bauformen und innerhalb gewohnter Straßenführungen. Eine neuerliche Ausstellung des gleichen Museums
beschäftigte sich mit dem Thema, wie der ursprüngliche Ideen-Sprudel innerhalb eines Gerüstes von
Rahmenbedingungen zu greifbarem Bauen wurde. Diese Schau ist nun in das Berliner Bauhaus
gelangt. 28. April bis 30. Juli 1995. Mi-Mo 10-17 Uhr.
Berliner Dorfmuseum: „Von Holzwürmern, Zimmerochsen und anderen Gewerken", traditionelle
Holzberufe stellen sich vor. Von Ende Mai 1995 bis Frühjahr 1996. Alt Marzahn 31. Di-So 10-18
Uhr. Zur Zeit befinden sich in diesem Museumsgebäude auch das Friseurmuseum und das Handwerksmuseum mit Sonderausstellungen.
392
Berlin Museum:
Schloß Friedrichsfelde: „Kunst des 17. und 18. Jahrhunderts", Bestände des Berlin Museums für das
künftige Stadtmuseum Berlin. Etwa 200 Möbel, Fayencen und Porzellane, Gläser und Silberschmiedewerke sowie Gemälde und Skulpturen. Verlängert bis 31. Dezember 1995. Am Tierpark 125.
Di-So, Uhrzeit: Anfrage 5 13 8141.
Ephraim-Palais: „Berliner Malerei von Blechen bis Hofer", 130 Gemälde des künftigen Stadtmuseums. Verlängert bis 31. Dezember 1995.
„Vom Hacksilber zur DM", Münzentwicklung im brandenburgisch-berlinischen Raum — von den
Anfängen bis zum gemeinsamen Prägebuchstaben ,A'. Bis Mitte Mai Poststraße 16. Di—So 10—18
Uhr.
Jüdisches Museum, z. Z. im Martin-Gropius-Bau: „Jacob Steinhardt — der Prophet", Gemälde,
Druckgraphik, Zeichnungen. Noch bis 30. April 1995. Stresemannstraße 110. Di—So 10—20 Uhr.
Erweiterungsbau des Berliner Museums in der Lindenstraße: „Überleben in Sarajevo — Wie eine Jüdische Gemeinde ihrer Stadt half, Fotografien von Edward Serotta. 2. Mai bis 4. Juni 1995. Di—So
10-18 Uhr.
Museum Berliner Arbeiterleben: „Manöver Schneeflocke", Brigadetagebücher 1960 bis 1990. Husemannstraße 12. Di-So 10-18 Uhr.
Knoblauchhaus: „Möbel und Gemälde der Biedermeierzeit", aus den Sammlungen des Berlin Museums und des Märkischen Museums. Verlängert bis August 1995. Poststraße 23. Di—So 10—18 Uhr.
Bezirkschronik Hellersdorf: Aus Anlaß des 650-Jahr-Jubiläums von Mahlsdorf (s. Beitrag „650
Jahre Mahlsdorf" im nächsten Heft) hat der dortige Heimatverein einen hübschen kleinen Postkartenkalender zum Preis von DM 7,50 herausgebracht (Bestellung: Herr Schmidt, Neue Grottkauer
Straße Nr. 16, 12619 Berlin, Telefon 5 6172 25).
8. April 1995, 16 Uhr: Eröffnung der Ausstellung „Ich habe keinen Frühling so genossen . . . " , im
Heimatmuseum Hellersdorf, Hellersdorfer Straße 173.
Voraussichtlich am 25. August 1995, 17 Uhr: Eröffnung der Ausstellung „650 Jahre Mahlsdorf" im
Heimatmuseum Hellersdorf, Hellersdorfer Straße 173, Telefon 99 20-4170.
Deutsches Historisches Museum: „Bilder und Zeugnisse der Deutschen Geschichte". Seit der Gründung 1987 hat das DHM weltweit nach wertvollen, seltenen und originellen Zeugnissen unserer
Geschichte gefahndet und diese systematisch erworben. Aus einem Fundus von etwa zehntausend
Objekten ist die genannte Leistungsschau siebenjähriger Aufbauarbeit geschöpft. Mit 2200 Ausstellungsstücken aus sechs Jahrhunderten handelt es sich um die bisher größte Schau des DHM. Die Ausstellung läuft noch bis zum Ende des Jahres. Zeughaus. Täglich außer Mi 10—18 Uhr.
Gipsformerei: Die Gipsformerei veranstaltet an jedem ersten Mittwoch im Monat um jeweils
10 Uhr kostenlose Führungen. Gezeigt werden die Werkstätten der Former und Maler, die Modellhalle und das Formenlager in dem hundertjährigen Gebäude der 175 Jahre alten Gipsformerei. Die
nächsten Termine sind: 5. April, 3. Mai, 7. Juni.
Heimatmuseum Charlottenburg: „Eier, Hasen, Eierbecher. Eine OsteraussteUung". Noch bis
23. April 1995.
„Charlottenburg: Ein Ort für Frauen. Zu Leben und Werk von Hedwig Heyl, Adele Schreiber-Krieger, Else Ury und Jeanne Mammen." Noch bis 30. April 1995.
„Sophie Charlotte zugeeignet. Eine Kunstinstallation anläßlich des 300jährigen Jubiläums vom
Schloß Charlottenburg von Niklas Trüstedt." 12. Mai bis 30. Juni 1995. Schloßstraße 69. Di-Fr
10-17 Uhr, So 11-17 Uhr.
Heimatmuseum Friedrichshain: „Ausgangspunkt Chaos — Friedrichshains Neubeginn". Ausstellungseröffnung am 7. Mai 1995.
Anläßlich des 50. Jahrestages der Beendigung des Zweiten Weltkrieges zeigt auch das Heimatmuseum Friedrichshain 1995 eine Ausstellung, die an die schweren Bedingungen erinnert, unter denen
neu begonnen wurde. Friedrichshain gehörte zu den am stärksten von den Zerstörungen betroffenen
Berliner Bezirken. Anhand von Dokumenten wird diese schwere Zeit des Neubeginns veranschaulicht. Sie geben wieder, wie versucht wurde, das Leben zu normalisieren, es in Gang zu setzen. Die
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Weisungen der sowjetischen Kommandantur sowie die darauf aufbauenden Anordnungen der sich
bildenden Stadtbezirksverwaltung Friedrichshain lassen darüber hinaus generelle Rückschlüsse auf
die sowjetische Berlin-Politik in den ersten Wochen nach der bedingungslosen Kapitulation vom
8. Mai 1945 zu. Diese Dokumente sprechen für sich. Sie sind nach Sachgebieten gruppiert und werden
durch einen Einleitungstext mit verallgemeinernden Angaben begleitet. Ergänzt wird dieses Material
durch Aussagen von Zeitzeugen, die ihre persönliche Situation beschreiben.
Heike Naumann
Soeben erschienen: „Historische Ansichten aus Friedrichshain — Bildpostkarten von 1840 bis 1940",
im Heimatmuseum zum Preis von 20 DM erhältlich. Lichtenberger Straße 41. Öffnungszeiten erfragen: Telefon 2 79 68 75.
Heimatmuseum Neukölln: „Inventur — Neuköllner Nachkriegsgeschichte: 1945—1995". Noch bis
Mai 1995. Ganghoferstraße 3-5. Mi 12-20 Uhr, Do-So 11-17 Uhr.
Heimatmuseum Reinickendorf: „Ludwig Lesser (1869—1957)". Erster freischaffender Gartenarchitekt in Berlin und seine Werke im Bezirk Reinickendorf. 10. Mai bis 13. August 1995. AltHermsdorf 35. Mi-So 10-18 Uhr.
Heimatmuseum Tiergarten: Dr. Kurt Schilde, der den Beitrag über das Columbia-Haus in diesem
Heft schrieb, ist Mitautor eines kommentierten Straßenplanes des Bezirks mit dem Titel: „Dem Naziterror in Tiergarten entkommen". Dieser Plan ist für einen geringen Betrag im Heimatmuseum,
Zwinglistraße 2, erhältlich.
Heimatmuseum Zehlendorf: „Planquadrat Gustav-Gustav. Zehlendorf im April 1945", Ausstellung. Eröffnung 24. April 1995, 16 Uhr. Clayallee 355. Mo, Do 16-19 Uhr.
27. April 1995, 14 Uhr: Führung durch Zehlendorfer Privatgärten. Leitung Gartendenkmalpfleger
Dipl.-Ing. Klaus von Krosigk. Anmeldung: Heimatverein Zehlendorf, Telefon 8 02 2441.
Käthe-Kollwitz-Museum: „Schmerz und Schuld. Eine motivgeschichtliche Betrachtung", Ausstellung vom 23. April bis zum 6. Juni 1995.
Das Jahr 1995 wartet mit zwei bedeutsamen Anlässen auf, die dem Käthe-Kollwitz-Museum Berlin
ein doppelter Beweggrund waren, ihrer mit einer Ausstellung zu gedenken — zumal sie zeitüch nicht
nur nahe beieinander liegen, sondern sich auch, wenn man so will, inhaltlich aufeinander beziehen lassen: Der 50. Todestag von Käthe Kollwitz am 22. April 1995 zum einen und zum anderen die
50. Wiederkehr des Endes des Zweiten Weltkrieges, das die alte Künstlerin herbeigesehnt, aber nicht
mehr erlebt hat. Thematisch bewegt sich die Ausstellung auf den Spuren von (Bild-)Motiven, die
Schmerz und Schuld zum Ausdruck bringen. Damit sind aber Aussichten nur sehr ungenau beschrieben, die sich demjenigen bieten, der sich mit auf diese Fährte begibt. Denn was auf dem Wege einer
motivgeschichtlichen Betrachtung versucht werden soll, ist eine Entdeckungsreise zu Orten, an denen
sich das Panorama kunsthistorischer Knotenpunkte entfaltet, d. h., es werden Plätze aufgesucht, wo
die zwischen den Werken stattfindende Kommunikation von Künstlern untereinander — lebenden
wie toten, gegenwärtigen und abwesenden — vermittelt durch die auf uns gekommenen Arbeiten ins
Werk gesetzt wird.
Ausgangspunkt dieser Expedition ist der künstlerische Ausdruck von Verlusterfahrungen bei Käthe
Kollwitz. Die Formulierungen, zu denen die Künstlerin dabei fand, tauchen in ihrem (Euvre mit
erstaunlicher Kontinuität immer wieder auf, unterliegen Abwandlungen, um schließlich nicht selten
an gänzlich unvermuteter Stelle erneut zutage zu treten. Schon das Verfolgen dieser werkinternen
Entwicklungslinien offenbart eine überraschende Bandbreite von Bedeutungen, die sich unter
Umständen in einer einzigen Gebärde konzentrieren. Weiterführend wurde dann die Frage gestellt,
an welchen Punkten jene Motive mit der kunstgeschichtlichen Umwelt der Künstlerin zusammenhängen könnten. Der Leitgedanke war, daß die Kunst von Käthe Kollwitz, wie jede gute Kunst, Vielfältiges in sich aufgenommen und verdichtet hat, so daß sie in ihrem Ringen um formale Fassung sowohl
dem künstlerischen Ausdruck ihrer Zeit als auch dem der Zeiten davor in der neuen Gestaltung ein
lebendiges Gedächtnis bewahrt.
Für Käthe Kollwitz war, wie für jeden visuell Bildenden, Gesehenes besonders wichtig, wobei sie
natürlich nur das „auflesen" konnte, was ihr selbst nahelag. Einen Teil dieser „Lektüre" zu rekonstruieren ist eines der Anliegen dieser Unternehmung, ein anderes besteht darin, die Art und Weise unter
394
die Lupe zu nehmen, in der die Künstlerin sie sich zu eigen machte, d. h., wie sie die ihr ureigne Formbildung vorantrieb und ihrerseits zum künstlerischen Austausch beitrug. Als (verkürztes) Beispiel für
die Prozesse von Inspiration und charakteristischer Umbildung und -deutung, die diese Ausstellung
darzustellen versucht, kann die abgebildete Pietä von Franz von Stuck betrachtet werden, die 1893/
94 auf der Großen Berliner Kunstausstellung gezeigt worden war, und die Zeichnung „Aus vielen
Wunden blutest Du o Volk" von Käthe Kollwitz, die 1896 entstanden ist. Die mutwillige Stucksche
Anordnung der Figuren in Kreuzform (wobei der liegende .Christus' seinerseits von Holbeins Baseler
Tafel Der Leichnam Christi im Grabe angeregt wurde) kehrt auf dem Blatt von Käthe Kollwitz wieder
— allerdings mit bezeichnenden Änderungen. Der die Auferstehung und das (ewige) Leben bedeutende vertikale „Kreuzesbalken", der bei Stuck in der Gestalt der .Maria' verkörpert wird, wird bei der
Künstlerin von einer Figur eingenommen, die hinter den Leichnam getreten ist, womit zunächst auch
die Augenfälligkeit der Kreuz-Komposition zurücktritt. Erneut aufgerufen wird dieser Bildgedanke
bei Käthe Kollwitz mit dem senkrecht aufgestellten Schwert, das eine plausible Erklärung gewinnt vor
dem Hintergrund, daß es sich bei dem abgebildeten Blatt um eine zeichnerische Vorarbeit zu einem
geplanten (aber nach seiner Ausführung als gleichnamige Radierung wieder verworfenen) Schlußblatt für ihren bekannten ersten grafischen Zyklus Ein Weberaufstand (1893—98) handelt. Der mit
den Passionsmalen Christi gezeichnete Liegende geht unter diesem Blickwinkel eine Verbindung ein
mit Leiden und Tod der Weber, die der staatlichen Reaktion auf ihre Revolte zum ,Opfer' gefallen
sind. Die Weber erscheinen in direkter Nachfolge Christi, indem sie stellvertretend für das ganze (in
der Inschrift genannte) Volk ihr Kreuz auf sich genommen, um das Heil der Menschheit zu erstreiten.
Die Künstlerin „korrigiert" die Pietä-Fassung von Stuck aber auch noch in anderer Hinsicht. Bei ihr
nimmt die in ihrer Identität schwer zu bestimmende Figur hinter dem christusähnlichen Leichnam
tastenden Kontakt zu dem Versehrten auf. Sie ist ihm (im doppelten Wortsinn) zugeneigt und fühlt
seine Wunde nach. Das im Raum zur Elipse deformierte Rund eines Heiligenscheins schwebt über
ihrem Scheitel (er verschwindet dann in der radierten Version des gleichen Jahres) — wer ist dieses
Wesen, das auf der Zeichnung von Käthe Kollwitz die Heilperspektive vor Augen führt: Rächer oder
Gerechtigkeit?
Diese Frage wird von der Ausstellung Schmerz und Schuld ebenso offengelassen und den weiteren
Überlegungen der Besucher anheimgegeben wie noch manche andere. Nicht Antworten sind das Ziel
dieser Unternehmungen, sondern Fragen, die aus dem vermeintlich Selbstverständlichen ins Freie
führen sollen, wo die Aktivität eines jeden Betrachters aufs neue gefordert ist.
Eine Entdeckungsfahrt, die solche Aussichten erstrebt, muß natürlich auch in der Wahl der Objekte
über die Grenzen des Werks von Käthe Kollwitz hinausgehen und sich in der großen weiten Kunstgeschichte umtun. Dabei sind Künstler mit allseits bekannten Namen aufgesucht worden und auch solche, deren Ruf nicht jeden erreicht hat. Altehrwürdige Meister waren darunter, deren Werke für den
Besucher der Ausstellung — auch aus Respekt vor ihrem (Altertums-)Wert — nur aus gehörigem
Abstand in Abbildungen zu betrachten sind. Im Original kommen in der Ausstellung vor allem Werke
von Zeitgenossen der Künstlerin ins Spiel und zu Wort oder vielmehr zu Bild. Darunter sind geachtete
Kollegen und bewunderte Vorgänger, wie Ernst Barlach, Max Klinger, Georg Kolbe, Wilhelm Lehmbruck, Auguste Rodin und Franz von Stuck. Fasanenstraße 24. Mi—Mo 11—18 Uhr.
Martin Fritsch, Museumsleiter
Der Verein für die Geschichte Berlins, gegr. 1865, wird die Ausstellung am 28. April 1995 besichtigen
(vgl. Veranstaltungspogramm).
Kreuzberg-Museum: „3. Februar 1945 — Die Zerstörung Kreuzbergs aus der Luft", eine Werkstattausstellung. Ein sonniger Wintermonat vor 50 Jahren: Kurz nach elf Uhr werfen 937 Bomber der
8. USA-Airforce 2264 Tonnen Sprengkörper über Berlin ab. Eine Stunde später herrscht stockfinstere Nacht: Das Exportviertel Ritterstraße brennt und liegt in Trümmern, 2600 Menschen sind tot,
Zehntausende obdachlos. Das Kreuzberg-Museum zeigt Dokumente der Zerstörung: Luftbilder und
Landkarten der Alliierten, Fotos der ausgebrannten Straßenzüge, eine Zusammenstellung internationaler Presseberichte. Zeitzeugen schildern ihre erschütternden Erlebnisse. Die Ausstellung liefert
Aufschluß, warum gerade das nördliche Kreuzberg zur Zielscheibe der alliierten Luftangriffe wurde.
Adalbertstraße 95/96. Noch bis zum 30. April. Mi-So 14-18 Uhr.
27. April, 18 Uhr: „Die letzten Kriegstage in Kreuzberg", kommentierte Lesung eines Zeitzeugenberichts, Vortrag Lothar Uebel.
395
Landesbildstelle Berlin: „Berlin im Film", eine Filmreihe. Seit dem 28. Februar werden im Kinosaal
des Neubaus der Landesbildstelle, Wikingerufer 7,10555 Berlin, an jedem Dienstag von 18 bis etwa
20 Uhr insgesamt fast 200 dokumentarische Berlin-Filme aus dem Archiv der Landesbildstelle
gezeigt. Das Programm reicht bis zum 6. Februar 1996! Dies ist der Beitrag dieser Institution zum in
aller Welt in diesem Jahr gefeierten hundertjährigen Film-/Kino-Jubiläum. Das Programm kann hier
nicht im einzelnen wiedergegeben werden, zumal an den meisten Abenden mehrere Filme hintereinander gezeigt werden. Es ist bei der Landesbildstelle erhältlich. Bis zur Sommerpause werden jeweils
mehrere Abende zu folgenden Themen veranstaltet: „Bühnen in Berlin", „Maler in Berlin", „Bau
und Fall der Mauer", „Berliner Bauwerke und ihre Geschichte(n), I". Telefonische Informationen
erhält man unter der Nummer: 3 90 92-2 20/1.
Märkisches Museum: „Archäologischer Fundplatz Berlin-Köpenick — Bodenfunde aus der Sammlung des Märkischen Museums".
Das Märkische Museum stellt in einer Situation des inneren Umbaus und der äußeren Neugestaltung
in einer notgedrungen kleinen Sonderausstellung neue archäologische Funde aus der Altstadt Köpenicks, der östlichsten der vier mittelalterlichen Städte auf heutigem Berliner Gebiet, vor. Es handelt
sich dabei um Funde, die das tüchtige Archäologenteam des Märkischen Museums in den vergangenen beiden Jahren ausgegraben hat. In die Ausstellung wurden aber auch einige bemerkenswerte Altfunde einbezogen, die zeigen, daß Köpenick und seine Umgebung seit mehr als 10 000 Jahren die
Menschen reizte, sich in dieser mit Wald und Wasser bis heute übrigens überaus reich ausgestatteten
Gegend niederzulassen. Ob an Spree oder Dahme, am Müggelsee oder Seddinsee, überall hat der urund frühgeschichtliche Mensch seine Spuren hinterlassen. Teilweise reihen sich die Fundstellen an
den Uferterrassen wie Perlen an einer Schnur auf. Bislang konnten im Bezirk mehr als 100 Fundorte
registriert werden. Bekanntlich sind derartige Bodenfunde die einzige Quelle, die über diese Jahrtausende zurückliegenden Epochen der Berliner Geschichte Auskunft geben und zu uns sprechen können. Selbst für die Anfänge der im Mittelalter entstehenden Orte sind die Bodenaltertümer unverzichtbar, weil die Schriftquellen allein für die Darstellung der Historie nicht ausreichen, über das tägliche Leben sogar fast nichts auszusagen vermögen.
Archäologie, Bodendenkmäler im Märkischen Museum? Schon seit dessen Gründung im Jahre 1874
durch Stadtrat Ernst Friedel und den noch bekannteren Berliner Stadtverordneten, Pathologen und
Anthropologen Professor Rudolf Virchow werden hier archäologische Funde gesammelt, ausgestellt
und der Forschung zugänglich gemacht. Bestimmten zunächst Schenkungen und Käufe Art und
Umfang der Sammlung, so trat mit der Berufung des ausgebildeten Archäologen Albert Kiekebusch
im Jahre 1907 eine deutliche Änderung ein. Von nun an begann nämlich die vorgeschichtliche Abteilung systematisch mit archäologischer Feldforschung, nach dem Ersten Weltkrieg erlangte sie auch
amtlich die Zuständigkeit für die Bodendenkmalpflege in Berlin. Ergrabene große geschlossene
Fundkomplexe bereicherten nicht nur die wissenschaftliche Forschung, sondern ließen die Bestände
der Sammlung auch wesentlich wachsen. Anerkennung erwarb sich das Märkische Museum in ganz
Deutschland vor allem in der Siedlungsforschung.
Bis zum heutigen Tag wurde die Tradition der planmäßigen Ausgrabung auf Wohnplätzen beibehalten, wobei in den letzten drei Jahrzehnten der Schwerpunkt bei germanischen Siedlungen lag. Daneben galt die unverminderte Aufmerksamkeit der Untersuchung auf Gräberfeldern der ur- und frühgeschichtlichen Zeit. Dank der Ausgrabungen auf dem bronzezeitlichen Urnenfeld bei Rahnsdorf,
gleichfalls im Bezirk Köpenick, bei denen mehr als 230 Bestattungen freigelegt werden konnten,
gelangte sogar ein recht umfangreicher Fundkomplex in die Sammlung. Ein Teil davon ist in der Sonderausstellung zu sehen, ein interessanter Ausschnitt des Urnenfeldes kann aber auch in der Dauerausstellung besichtigt werden. Diese Untersuchung bei Rahnsdorf ist insofern ein Markstein in der
Geschichte des Märkischen Museums, als es sich um die erste große Ausgrabung handelt, nachdem
1965 dem Museum wieder die alleinige Verantwortung für die Bodendenkmalpflege in den Stadtbezirken der „Hauptstadt der DDR" übertragen worden war.
Die neuen Ausgrabungen in der Altstadt und im Kiez von Köpenick bescherten der archäologischen
Sammlung nicht nur eine Reihe bemerkenswerter Ausstellungsstücke, sondern werfen auch ein neues
Licht auf die Anfänge des Ortes Köpenick. Als dieser im Jahre 1209 erstmals urkundlich erwähnt
wurde, geschah dies in einer Urkunde, die Konrad IL, Markgraf von Meißen, hier ausstellte. Die
Archäologen stießen nun auf eine Siedlungsgeschichte, die dendochronologisch auf 1181 + 10 festge396
legt wurde, das erlaubt den Schluß, daß die Wettiner bald nach 1180 im Spreegau Fuß fassen und diesen in ihren Machtbereich einbeziehen konnten. Eine hier angeschnittene mittelalterliche Fundschicht besagt, daß der Kiez bereits um 1200 angelegt worden ist und nicht erst 1245, als die askanischen Markgrafen die neuen Herren der Burg Köpenick und des ganzen Landes geworden waren.
Bereits die wettinischen Markgrafen müssen also mit der Umsetzung der slawischen Bewohner von
der Burg auf der Schloßinsel zum Kiez begonnen haben. Bislang galt die Anlage der Kieze in der Mark
Brandenburg als alleinige Leistung der Askanier.
Wer weiß, wie schwer es ist, Bodenfunde zu machen und zu deuten, darf die Ergebnisse der Köpenikker Grabungen als eine kleine Sensation bezeichnen. Noch bis Ende April 1995. Am Köllnischen
Park 5. Di-So 10-18 Uhr.
Hans GünterSchultze-Berndt
Weitere Ausstellungen im Haupthaus im 2. Quartal 1995:
„Berliner Malerei und Plastik vom Mittelalter bis zum Klassizismus", voraussichtlich von Ende Juni
an.
„Uhren, Zunftpokale und Pretiosen — Eröffnung eines wiederhergestellten Rundgangs", von Ende
Juni 1995 an.
„ . . . und neues Leben blüht aus den Ruinen . . . " , aus dem Berliner Alltagsleben der ersten Nachkriegsjahre. 22. April bis Juni 1995.
Museum für Verkehr und Technik: „Ich diente der Technik". Acht Karrieren zwischen 1940 und
1950. Seit 5. April 1995. „Typen für Dich und mich. Ausstellung zur Geschichte und Wirkung unserer
Schrift". Noch bis zum 30. April 1995. Di-Fr 9-17.30 Uhr, Sa, So 10-18 Uhr.
6. April 1995, 17 Uhr: „Die pädagogische Bedeutung des Schreibens", Vortrag Professor Jürgen
Liepe.
27. April 1995,17 Uhr: Podiumsdiskussion zur Bedeutung unserer Schrift mit Fachleuten aus Kultur,
Wissenschaft und Technik.
29. April 1995, 13—17.30 Uhr: 5. Dampfmaschinenparty. Dampfmaschinen-Modellbauer und
Freunde alter Technik treffen sich und präsentieren ihre teilweise funktionsfähigen Schätze.
Museum im Wasserwerk: „Ingenieurkunst, Architektur und Landschaft", Bilder vom Bau des Wasserwerks Müggelsee und des Zwischenpumpwerks Lichtenberg, fotografiert von Rückwardt und
Schwartz 1890—1906/1910. Ständige Ausstellung: „Berlin und sein Trinkwasser", Querschnitt
durch die Geschichte der Berliner Wasserversorgung und Stadtentwässeung (1856—1950). Eröffnung beider Ausstellungen voraussichtlich im Mai 1995. Derzeit ist das Museum wegen umfangreicher Bauarbeiten geschlossen. Das Gebäude wird annähernd in den ursprünglichen Zustand von
1893 wieder zurückversetzt. Mitteilung erfolgt über die Tagespresse. Müggelseedamm 307.
Das Wasserwerk Müggelsee (später Friedrichshagen) wurde 1893 in Betrieb genommen. Es war von
seinen Erbauern Henry Gill und Eduard Beer und dem Berliner Stadtbaumeister Richard Schultze
geschickt in das Umfeld am Großen Müggelsee und die märkische Kiefernwaldlandschaft eingeordnet worden. Unter Nutzung des alten Baumbestandes und durch Neupflanzungen, Anlage von
Wegen, eines Rondells und großer Zierrasenflächen erhielt das Werksgelände besonders an der Uferseite des Müggelsees einen attraktiven Charakter. Das Wasserwerk wurde im Zweiten Weltkrieg
beschädigt. Es kam nur zu einer kurzzeitigen Unterbrechung der Trinkwasserversorgung. Bereits am
2. Mai 1945 wurde wieder Trinkwasser ins Rohrnetz gefördert. Nach 1976 erfolgte eine Rekonstruktion und Erweiterung des Wasserwerks Friedrichshagen. Die alten Anlagen auf der Schöpfmaschinenseite sind 1979 stillgelegt und die Gebäude unter Denkmalschutz gestellt worden. In einem
Schöpfmaschinenhaus am Müggelsee wurde das Museum im Wasserwerk eingerichtet und 1987
eröffnet. Es zeigt dem Besucher die Entwicklung der Wasserversorgung und Abwasserentsorgung
Berlins. Fotos, Zeichnungen und andere Dokumente informieren über die Errichtung der Berliner
Wasserwerke Stralauer Tor, Tegel, Müggelsee und Wuhlheide. Sie geben Auskunft über die Entwicklung der Charlottenburger Wasser- und Industriewerke AG und stellen Wasserwerke der Vorortgemeinden Berlins vor der Gründung der neuen Stadtgemeinde Berlin im Jahre 1920 vor. Eine Besonderheit stellen drei Dampfkolbenpumpen der Finnen Schwartzkopff und Borsig aus dem Jahre 1893
dar, von denen eine vorgeführt werden kann. Die Errichtung der Kanalisation in Berlin wird ebenso
gezeigt wie die Einrichtung von Rieselfeldern und der Bau von Klärwerken. Im Freigelände können
nicht nur ein im ursprünglichen Zustand restauriertes Schöpfmaschinenhaus aus dem Jahre 1898 und
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ein Sammelbrunnen aus dem Jahre 1904 besichtigt werden, sondern auch Pumpen, Maschinen,
Rohrleitungen und Armaturen aus der Zeit vor und nach der Jahrhundertwende. Monika Kayser
Der Verein für die Geschichte Berlins, gegr. 1865, wird sich zu einem gegebenen Zeitpunkt um eine
Gruppenführung bemühen.
Musikinstrumenten-Museum: Das Musikinstrumenten-Museum lädt zu folgenden Konzerten ein:
Sonntag, 9. April 1995, 11 Uhr: Italienische Kammermusik, Eintritt 12 DM;
Sonntag, 7. Mai 1995,11 Uhr: Barockmusik im italienischen Stil, Eintritt 12 DM. Im Anschluß an das
Konzert findet ein Gespräch mit den Musikern und dem zuständigen Restaurator des Musikinstrumenten-Museums statt. Im Mittelpunkt stehen dabei diverse Blockflöten aus dem Bestand des
Museums, die präsentiert werden.
Sonntag, 14. Mai 1995, 11 Uhr: Das Clavichord. Werke von Sebastian Bach, Carl Philipp Emanuel
Bach, Daniel Gottlob Türk und Johann Wilhelm Hässler.
Neue Nationalgalerie: „George Grosz: Berlin—New York". Die Nationalgalerie Berlin und das
Kupferstichkabinett Berlin zeigen in Verbindung mit der Stiftung Archiv der Akademie der Künste
die bisher größte Retrospektive zum Werk von George Grosz. Erstmals wird der ,ganze Grosz', die
Meisterwerke der Berliner Jahre und das Spätwerk — seine Arbeiten im amerikanischen Exil von
1933 bis 1958 — ausgestellt. Die Ausstellung umfaßt fünfhundert Werke von Grosz (Gemälde, Aquarelle, Zeichnungen, Collagen, Graphik, Skizzenbücher) und sechzig Werke aus dem künstlerischen
Umfeld von Grosz in Berlin und New York (u. a. Werke von Beckmann, Hopper, Boccioni, Delauny,
Dix, Kirchner, Stuart Davis, Ben Shan, John Stella, Schlichter, Schad und Meidner). Noch bis
17. April 1995. Potsdamer Straße 50. Di-Fr 9-17 Uhr, Sa, So 10-17 Uhr. Anne Lemke-Junker
Panke-Museum (Heimatmuseum Pankow):
24. April 1995,14.30 Uhr und 25. April, 19 Uhr: „Der Bezirk Pankow und seine Parkanlagen", Vortrag von Dietrich Vigaß.
18. Mai 1995,14.30 Uhr und 30. Mai, 19 Uhr: „Bald 100 Jahre Krankenanstalt Buch", Vortrag von
Arwed Steinhausen.
20. Juni 1995, 15—18 Uhr: Sommerfest im Panke-Museum unter dem Motto: „100 Jahre Kino in
Pankow". Heynstraße 8.
Werkbund-Archiv im Martin-Gropius-Bau: „Moderne Baukunst 1900 bis 1914. Die Photosammlung des Deutschen Museums für Kunst in Handel und Gewerbe." Noch bis 23. April 1995. Stresemannstraße 110. Di-So 10-20 Uhr.
Mitgliederversammlung am 27. April 1994
Es hat sich eingebürgert und als vorteilhaft erwiesen, die Mitgliederversammlung im Roten Rathaus
Berlin abzuhalten. Der Vorsitzende Rechtsanwalt und Notar H. Oxfort, Bürgermeister von Berlin
und Senator a. D., hatte die Tagesordnung gut im Griff, konnte die Regularien straff erledigen und
stellte die Totenehrung an den Anfang der Versammlung. Der Tätigkeitsbericht des Schriftführers lag
wieder in vervielfältigter Form vor, er wurde auch im Jahrbuch 1994 abgedruckt. Der Schriftführer
verlas einen Brief des Ehrenvorsitzenden Professor Dr. Dr. Walter Hoffmann-Axthelm aus Freiburg
(Breisgau) und ließ eine Unterschriftenliste umgehen, auf der für die Rückbenennung der Clara-Zetkin-Straße in den verpflichtenden Namen Dorotheenstraße plädiert wird. Frau Dr. Sybille Einholz
verlas in ihrer Eigenschaft als stellvertretende Schatzmeisterin den Bericht des wegen einer Auslandsreise abwesenden Schatzmeisters Karl-Heinz Kretschmer, dessen Kassenbericht ebenso wie der Voranschlag 1994 den Mitgliedern zur Verfügung stand. Aus dem Bibliotheksbericht des Vorstandsmitglieds Karlheinz Grave ging hervor, daß sich der Gesamtbestand der Vereinsbibliothek um 259 Bände
auf 14 597 Titel erhöhte. Herzlichen Dank galt den Bibliotheksbetreuern, den Damen Hentschel und
Meyer-Luiken und den Herren Doege und Mende sowie dem Vereinsarchivar Siewert. Kassenprüfer
Hans-Dieter Degenhardt erstattete den Bericht zugleich für Frau Siddikah Eggert. Manfred Funke als
Bibliotheksprüfer teilte zugleich für Frau Dr. Erika Schachinger mit, daß im Januar 1994 eine
398
Gesamtrevision des Buchbestandes in Angriff genommen worden ist. In der Aussprache dankte der
Vorsitzende allen ehrenamtlich tätigen Mitgliedern. Auf Antrag von Ff.-D. Degenhardt wurde der
Vorstand einmütig entlastet. Ebenso einstimmig war die Bestätigung der beiden Kassenprüfer HansDieter Degenhardt und Frau Siddikah Eggen sowie der Bibliotheksprüfer Manfred Funke und Frau
Dr. Erika Schachinger in ihrem Amt. Zum Punkt „Verschiedenes" nahm der Schriftführer zu einigen
Fragen Stellung, sonst wurde das Wort nicht weiter gewünscht, Anträge waren nicht gestellt worden.
Anschließend wurde Professor Dr. Peter Bloch die Fidicin-Medaille verliehen. Die Urkunde des Vereins für die Geschichte Berlins, gegründet 1865, über die Verleihung der Fidicin-Medaille an Herrn
Professor Dr. Peter Bloch hat den folgenden Wortlaut:
„Der Verein für die Geschichte Berlins, gegründet 1865, würdigt das Wirken des Kunsthistorikers,
Hochschullehrers und langjährigen Direktors der Skulpturengalerie der Staatlichen Museen Preußischer Kulturbesitz, der sich hartnäckig für die Erforschung und Neubewertung eines Bereiches der
Berliner Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts einsetzte. Hiermit ist ein Engagement für die Werke
der Berliner Bildhauerschule gemeint, nicht nur für den Sammlungsbereich des von ihm geleiteten
Museums, sondern sein gezieltes Eintreten für die Werke in Außenaufstellung, an den Straßen, auf
den Plätzen und insbesondere auf den historischen Friedhöfen unserer Stadt. Sein steter Hinweis auf
deren außerordentliche kunsthistorische Bedeutung für Berlin und über die Grenzen Berlins hinaus
hat ein Umdenken bewirkt. Damit hat sich Professor Dr. Peter Bloch im Sinne unserer Vereinsziele
um die Erforschung der Berliner Geschichte und den Erhalt der historischen Zeugnisse in besonderer
und fruchtbarer Weise verdient gemacht.
Berlin, am 27. April 1994
Vorsitzender
Schriftführer
(Hermann Oxfort)
(Dr. H. G. Schultze-Berndt)
Mit bewegten Worten dankte Professor Bloch für die ihm erwiesene Ehre. In seiner Tätigkeit sah er
sich in der glücklichen Doppelrolle, seine Funktion als Museumsdirektor mit den Möglichkeiten eines
Hochschullehrers am Kunsthistorischen Institut verbinden zu können. Sein anschließender Vortrag
„Denkmäler und ihr Sinneswandel" wurde mit herzlichem Applaus aufgenommen.
SchB.
Dr. Gerhard Zimmermann t
Unser langjähriges Vereins- und zeitweiliges Vorstandsmitglied, Archivdirektor Dr. Gerhard
Zimmermann, verstarb im Dezember vorigen Jahres im 87. Lebensjahr. Er entstammte einer
alteingesessenen schlesischen Familie, empfing eine humanistische Schulausbildung in Neisse
und bezog die Breslauer Friedrich-Wilhelms-Universität zum Studium der Geschichte und
Germanistik. Schon damals wurden die Weichen gestellt, die seine Lebensbahn in die Richtung
der Archivarbeit wiesen: Unter der Ägide seines Lehrers, des bekannten Mediävisten Leo Santifaller, der die Arbeit an den primären Quellen historischer Erkenntnis, den Urkundenbüchera, zu der seinen gemacht hatte, wurde auch Gerhard Zimmermann mit Forschungen auf
diesem Terrain betraut. Er wirkte mit am Schlesischen Urkundenbuch und reichte 1935/36
seine Dissertation über „Das Breslauer Domkapitel im Zeitalter der Reformation und Gegenreformation (1500—1600)" ein. Im Auftrag der Schlesischen Historischen Kommission wurden mehrmonatige Reisen zu mährischen und polnischen Archiven unternommen, um
deutschsprachige Materialien aufzuspüren. Die strengen preußischen Ausbildungsvorschriften für Archivare verlangten vor dem zweijährigen Fachausbildungskurs die Staatsprüfung für
das Lehramt an höheren Schulen, und erst jetzt mit den vielen erforderlichen Weihen wohl versehen, konnte sich der junge Berufseinsteiger seiner ersten Anstellung im Staatsarchiv Stettin
erfreuen (19*39/40). Der Krieg griff dann erbarmungslos in aller Deutschen Leben ein: Gerhard Zimmermann kämpfte im Ostheer, schwer verwundet, gehörte er zu den Letzten, die aus
dem Kessel von Stalingrad ausgeflogen wurden.
399
Im ehemaligen Preußischen Geheimen Staatsarchiv begann schon im Juli 1945 der Neuaufbau,
wenngleich die Rückführung der verlagerten — so wertvollen wie umfangreichen — Bestände
aus Merseburg (DDR) noch nahezu ein halbes Jahrhundert auf sich warten lassen sollte. Pionierarbeit wurde aber in Dahlem geleistet, um die teilzerstörten Magazinräume wieder aufzurichten und die ausgedünnten Bestände an Akten, Urkunden und Büchern wieder der Forschung dienstbar zu machen. Gerhard Zimmermann wurde 1954 Direktor des Instituts, dessen
Benutzer von Jahr zu Jahr mehr wurden. Sie und viele Freunde werden sich des liebenswürdigen und verbindlichen, stets hilfsbereiten Wesens des Chefs freundlich erinnern.
Gerhard Kutzsch
Aus dem Mitgliederkreis
Dr. Richard von Weizsäcker, unserem einzigen Ehrenmitglied, ist am 5. März 1995 in Würdigung seines Eintretens für den Dialog zwischen Christen und Juden die Buber-Rosenzweig-Medaille verliehen worden.
SchB.
Unser jetzt im 70. Lebensjahr stehendes Mitglied Heinz Knobloch, Schriftsteller und Journalist, ist
mit dem Berliner Moses-Mendelssohn-Preis zur Förderung der Toleranz ausgezeichnet worden.
Damit wird eine Brücke geschlagen zu dem 1977 im Buchverlag Der Morgen erschienenen Buch
„Herr Moses in Berlin. Auf den Spuren eines Menschenfreundes". Wir freuen uns über diese Würdigung und gratulieren herzlich!
SchB.
Am 1. November 1994 ist unser Vorstandsmitglied Dr. Jürgen Wetzel, der bereits seit 1991 das Landesarchiv kommissarisch geleitet hatte, zum Leitenden Archivdirektor der Institution und damit zum
ersten Direktor des Gesamtberliner Landesarchivs ernannt worden. Wir freuen uns darüber und wünschen dem neuen Herrn der Dokumente eine glückliche Hand!
U.
Mitteilungen
Unser Ehrenmitglied Alt-Bundespräsident Richard von Weizsäcker übermittelte dem Verein anläßlich seines 130. Gründungsjubiläums die herzlichsten Grüße und Glückwünsche. Wegen der tags
zuvor erfolgten Rückkehr aus dem Winterurlaub konnte es Herr von Weizsäcker terminlich nicht einrichten, an unserer Festveranstaltung vom 12. Januar 1995 teilzunehmen. Er ließ den Schriftleiter der
MITTEILUNGEN jedoch wissen, daß er die Arbeit des ältesten und traditionsreichsten Berliner
Geschichtsvereins mit außerordentlichem Interesse verfolge, und beauftragte ihn, die Mitglieder des
Vereins für die Geschichte Berlins, gegr. 1865, auf das allerherzlichste zu grüßen!
U.
Unser in Meerbusch wohnendes Mitglied Martin Scholz hat die in den langen Jahren seiner Mitgliedschaft gesammelten Jahrbücher unseres Vereins sowie die „Mitteilungen" aus Altersgründen einem
jungen Mitglied zur Verfügung gestellt. Unserer Bibliothek stiftete Herr Scholz einige willkommene
Berlin-Bücher. Für diese liebenswürdige Spende wurde Herrn Scholz der Dank des Vorstandes ausgesprochen.
U.
Auf der ersten diesjährigen Vorstandssitzung am 11. Januar 1995 wurde angeregt, die Öffentlichkeitsarbeit unseres Vereins zu intensivieren. Mitglieder, die hierbei mitarbeiten oder Anregungen und
Vorschläge machen möchten, werden gebeten, dies dem Vorstand mitzuteilen.
U.
Der Schatzmeister bittet alle Mitglieder, die versehentlich noch nicht den Jahresmitgliedsbeitrag
überwiesen haben, um gelegentliche Erledigung (Mindestbeitrag 60 DM; Konten auf der Rückseite
dieses Heftes).
400
Studienfahrt nach Görlitz
Nach alter Tradition wird die Jahresexkursion des Vereins auf das zweite Wochenende im September
gelegt. In diesem Jahr führt die Studienreise vom 8. bis 10. September nach Görlitz. Im Programm
sind Rundgänge durch die niederschlesische Stadt Görlitz selbst und Fahrten in das Umland vorgesehen, zum Auftakt ein Besuch der Waggonbau Görlitz GmbH mit einem Abtrank in der LandskronBrauerei. Der Heimweg soll im Naturschutzzentrum Schloß Niederspree in Quolsdorf unterbrochen
werden. Das genaue Programm erscheint im Heft 3/1995. Die Teilnehmerzahl ist auf 49 begrenzt.
Die Unterbringung aller Teilnehmer im Hotel „Zum Grafen Zeppelin" ist fest gebucht, die Unterkunft kostet für das Einzelzimmer 108 DM und für das Doppelzimmer 68 DM/Person je Nacht. Der
Teilnehmerbeitrag, der die Busfahrt, alle Eintrittsgelder, Führungen, Honorare usw. einschließt,
dürfte etwa in Vorjahreshöhe liegen (DM 146). Unverbindliche Voranmeldungen können jetzt schon
gerichtet werden an den Schriftführer Dr. Hans Günter Schultze-Berndt, Artuswall 48,13465 BerlinFrohnau. Diese Interessenten erhalten dann das Programm vorab, wenn es endgültig abgestimmt
worden ist.
SchB.
Wir begrüßen folgende neue Vereinsmitglieder:
Bayer, Gertrad, Kauffrau
Gluckweg 4, 12247 Berlin
Tel. 7 7136 74 (Frau Rita Schelling)
Behrend, Martina, Dipl.-Historikerin
Wilhelmstraße 47, 10117 Berlin
Tel. 2294415
Biegel, Gerd, Ltd. Museumsdirektor
Löwenwall 8, 38100 Braunschweig
Tel.(05 31)4 96 29
Böttger, Wolfgang, Kaufmann
Paulsborner Straße 2, 10709 Berlin,
Tel. 8900 3115
Cronenberg, Barbara
Romanshorner Weg 73, 13407 Berlin,
Tel. 495 3268
Doerr, Fritz, Chemiekaufmann
Heydenstraße 10, 14198 Berlin
Tel. 8 23 6151 (Dr. M. Uhlitz)
Fleckenstein, Dietrich, Dipl.-Bauingenieur
Maximilianstraße 42, 13187 Berlin
Tel. 47235 40
Godefroid, Annette, Historikerin
Von-Luck-Straße 8, 14129 Berlin
Tel. 8 03 76 25 (Dr. Wetzel)
Holtz, Wolfgang, Lehrer
Spindelmühler Weg 5, 12205 Berlin
Tel. 8 12 23 38 (Dr. M. Uhlitz)
Horowski, Dr. Reinhard,
Wissenschaftler
Sigismundkorso 52, 13465 Berlin
Tel. 40170 70 (Dr. S. Einholz)
Jaehnert, Roger, Architekt
Ringstraße 34, 12205 Berlin
Tel. 8 33 4481 (Dr. M. Uhlitz)
Keller, Reiner O., Rechtsanwalt
Fürstenwalder Damm 426, 12587 Berlin
Kühn, Werner, kfm. Angestellter
Marmaraweg 25, 12109 Berlin
Tel. 703 6319
von Lübtow, Heidemargret, Senatsangestellte
Kilstetter Straße 55, 14167 Berlin
Tel. 8111914
Müller, Reinhard, Dipl.-Ing. Architekt
Buhrowstraße 19, 12167 Berlin
Tel. 7 96 5001 (Dipl.-Ing. Jürgen Rieger)
Paulssen, Winfried, Kaufm./Pensionär
Oldesweg 14, 22393 Hamburg
Tel.(040)60143 57
Thoran, Dr. Barbara
Prausestraße 20, 12203 Berlin
Tel. 8 33 69 70
Uhlitz, Roswitha, Lehrerin
Brixplatz 4, 14052 Berlin
Tel. 3 05 96 00 (Dr. M. Uhlitz)
Waetzoldt, Professor Dr. Stephan,
Kunsthistoriker,
Generaldirektor a. D.
Wasgenstraße 37, 14129 Berlin
Tel. 8 0186 59 (Dr. M. Uhlitz)
Weiss, Anna, Unternehmerin
Hermannstraße 5, 14163 Berlin
Tel. 813 38 38 (Frau Lipp)
Wernicke, Dr. Ingolf, Museumsleiter
Dernburgstraße 37, 14057 Berlin
Tel. 3 228107
Will, Rositta, Pensionärin
Kommandantenstraße 9, 12205 Berlin
Tel. 81108 39 (Frau Münchmeier)
401
Berlin vor 50 Jahren
Tauentzienstraße mit der Ruine der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche; aus: Krammer, Berlin, 1956.
Ordentliche Mitgliederversammlung
am Mittwoch, 10. Mai 1995, 18.30 Uhr im Berliner Rathaus,
Ferdinand-Friedensburg-Saal, Raum 338, 3. Geschoß.
Haupteingang Rathausstraße
Tagesordnung
1. Entgegennahme
a) des Tätigkeitsberichts
b) des Kassenberichts
c) des Bibliotheksberichts
2. Bericht
a) der Kassenprüfer
b) der Bibliotheksprüfer
3. Aussprache
4. Entlastung des Vorstands
5. Wahl des Vorstands
6. Verschiedenes
Anschließend Lichtbildervortrag
Anträge sind der Geschäftsstelle bis spätestens 30. April 1995 einzureichen.
402
Veranstaltungen im II. Quartal 1995
1. Sonnabend, 8. April 1995, 10 Uhr: „Der Friedrichshain", Park-Führung durch Heike
Naumann, Leiterin des Heimatmuseums Friedrichshain und Verfasserin eines informativen Büchleins über die Parkanlage, das während der Führung für 8 DM erhältlich sein
wird (vgl. die Rezension in diesem Heft). Treffpunkt: Haupteingang Märchenbrunnen
am Königstor. U2, 5, 8 und S-Bahn Alexanderplatz und Bus 100; 142, 157, 257;
Tram: 2, 3, 4.
2. Donnerstag, 20. April 1995,19 Uhr: „Auf den Spuren der Königin Luise, Teil I", kurzweiliger Lichtbildervortrag des Heimatforschers Erhard Mayer. Ort: Rathaus Charlottenburg, Saal 3 (1. Etage links, rechts von der Gedenkstätte durch die Glastür). U7
(Richard-Wagner-Platz), Bus: X9, 145. (Wir bemühen uns bei unseren Veranstaltungen um eine entspannte Atmosphäre, bringen Sie sich ruhig ein Gläschen Wein
mit!)
3. Sonntag, 23. April 1995, 9 Uhr: ..Frühjahrs« anderuns; des Vereins für die Geschichte
Berlins" unter der sachkundigen Leitung unseres Mitgliedes Wolfgang Stapp. Treffpunkt: Glienicker Brücke, Potsdam-Seite. Route: Neuer Garten — Marmorpalais —
Gotische Bibliothek — Orangerie — Cecilienhof — Pumpwerk — Pfingstberg — Alexandrowka — ehem. Kasernen — Ruinenberg — Sanssouci — Mühle — Belvedere — Drachenhaus — ,Kinderburg' — Neues Palais — Communes — Hippodrom — Charlottenhof —
Chinesisches Haus — Knobelsdorff-Haus — Marlygarten. Streckenlänge: ca. 12 km
(Wanderschuhe erforderlich). Während der Mittagspause besteht die Möglichkeit zur
Einkehr. Ende: ca. 16 Uhr an der Friedenskirche. Von dort fährt die Straßenbahn 93
zurück zum Ausgangspunkt. Bus 116 vom S-Bhf. Wannsee.
4. Donnerstag, 27. April 1995, 19 Uhr: „Auf den Spuren der Königin Luise, Teil II",
sonst wie 20. April 1995.
5. Freitag, 28. April 1995, 15.30 Uhr: „Schmerz und Schuld", Führung durch die vor
wenigen Tagen neueröffnete Ausstellung des Käthe-Kollwitz-Museums, Fasanenstraße
Nr. 24, von Regina Caspers, Museumspädagogin des Kollwitz-Museums. Vgl. den Beitrag von Museumsleiter Fritsch unter der Rubrik „Aus den Berliner Museen" in diesem
Heft. U9, 15 (Kurfürstendamm), Bus 109, 119, 129, S-Bahn Zoo.
6. Sonnabend, 6. Mai 1995,14 bis 18 Uhr: „Die Wiederherstellung bedeutender Gartendenkmale im Zentrum Berlins", Busrundfahrt mit unserem Mitglied Dipl.-Ing. Klaus
von Krosigk, Berüner Gartendenkmalpfleger und stellv. Landeskonservator. Teilnahme
kostenlos. Beginn und Ende der Fahrt: Eingang Zoologischer Garten, Hardenbergplatz.
Anmeldung: schriftlich beim SchrLt. Bitte adressierten und frankierten Briefumschlag
für die Antwort beilegen.
7. Mittwoch, 10. Mai 1995,18.30 bis 19.30 Uhr: Jahreshauptversammlung. Ort: Berliner
Rathaus, Ferdinand-Friedensburg-Saal/Raum 338. Tagesordnung nebenstehend
Anschließend um 19.30 Uhr: „Berliner Landseen — Entstehung und Geschichte in
Vergangenheit und Gegenwart", naturwissenschaftlich-historischer Lichtbildervortrag
unseres Mitglieds Klaus-Dieter Wille, in dem gleichzeitig auf aktuelle Themen
(Umweltschutz, Renaturalisierungsmaßnahmen u. a.) eingegangen wird.
8. Sonnabend, 13. Mai 1995, 11 Uhr: „Altstadt-Führung durch Köpenick", von ClausDieter Sprink, Leiter des Heimatmuseums Köpenick. Herr Sprink, dem wir einem Beitrag über das Rathaus Köpenick im vergangenen Heft unserer MITTEILUNGEN verdanken, führt uns ca. zwei Stunden durch eines der faszinierendsten Berliner Sanierungsgebiete. (Bis Ende April ist im Märkischen Museum eine interessante Ausstellung über
archäologische Bodenfunde in Köpenick zu sehen; vgl. den Beitrag unseres Schriftführers in der Rubrik „Aus den Berliner Museen" in diesem Heft.) Treffpunkt: Dampferanlegestelle Luisenhain vor dem Rathaus Köpenick. Ende am Schloß, so daß man nach der
Führung dort einen Rundgang anschließen kann.
403
9. Mittwoch, 31. Mai 1995, 17 Uhr: „Bibliothek des Vereins für die Geschichte Berlins,
gegr. 1865", (Ein-)Führung durch unser Vorstandsmitglied Karlheinz Grave in Anwesenheit zahlreicher Vorstandsmitglieder. Verschaffen Sie sich einen Überblick über die
Bestände unserer Bibliothek und die in den vergangenen 130 Jahren gesammelten
Schätze. Wir würden uns freuen, wenn insbesondere die neueren Mitglieder von dieser
Möglichkeit des gegenseitigen Kennenlernens Gebrauch machen würden! Ort: Bibliothek des Vereins für die Geschichte Berlins, gegr. 1865. Anschrift siehe Fußnote.
10. Sonntag, 25. Juni 1995, 20 Uhr: „Sommernachtsbowle auf dem Glockenturm mit dem
Berliner Philharmonischen Orchester", erleben Sie einen unvergeßlichen Abend auf
diesem nur für uns reservierten einzigartigen Aussichtsturm über den Dächern Berlins,
und lauschen Sie den aus der Waldbühne emporsteigenden Klängen eines der besten
Orchester der Welt! Eintritt: 1 Rasche Lutter & Wegener—für die Bowle. Da die Veranstaltung im Freien und in luftiger Höhe stattfindet, wird empfohlen, an wärmere Bekleidung zu denken. Ort: Glockenturm am Olympia-Stadion, Berlin-Charlottenburg. U2
(Olympia-Stadion) mit Sonderbus zur Waldbühne; Bus 149 mit 700 m Fußweg. Achtung
Autofahrer: Im weiteren Umkreis stehen an diesem Abend kaum Parkplätze zur Verfügung; Schwerbeschädigte sollten versuchen, durch alle Absperrungen zum Platz Am
Glockenturm zu gelangen. Da vermutlich nicht ausreichend Sitzplätze zur Verfügung stehen, wird das Mitbringen eines Klappstuhles empfohlen.
11. Erste Veranstaltung nach der Sommerpause:
Sonnabend, 19. August 1995, 7.30 Uhr: Busfahrt in einem bequemen Luxusbus nach
Jerichow, Klein- und Großwulkow, Melkow, Wust und Tangermünde mit umfangreichem Besichtigungsprogramm. Nach einem erlebnisreichen Tag kehren wir — müde —
um 21 Uhr nach Berlin zurück. Kosten: ca. 50 DM pro Person. Anmeldung: schriftlich
beim SchrLt. Bitte adressierten und frankierten Briefumschlag für die Antwort beilegen.
Treffpunkt: Haupteingang Zoo, Bhf. Zoo, Hardenbergplatz.
Familienmitglieder und weitere Gäste sind bei unseren Veranstaltungen stets willkommen!
Bitte informieren Sie Ihre Freunde und Bekannten jedoch über die Möglichkeit, unserem
Verein beizutreten. Für Familienmitglieder bietet sich die preiswerte Möglichkeit, unserem
Verein zum halben Jahresbeitrag anzugehören — ohne Bezug des Jahrbuchs.
Bibliothek: Berliner Straße 40,10715 Berlin-Wilmersdorf, Telefon (0 30)8 73 26 12. Geöffnet: mittwochs 16.00 bis 19.30 Uhr. U 7 (Blissestraße), Bus 101, 104, 204, 249.
Vorsitzender: Senator und Bürgermeister von Berlin a. D. Hermann Oxfort, Breite Straße 21,13597
Berlin-Spandau, Telefon 3 33 2408.
Geschäftsstelle: Ingeborg Schröter, Brauerstraße 31, 12209 Berlin-Lichterfelde/Ost, Telefon
7 72 34 35.
Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Berndt, Artuswall 48,13353 Berlin-Frohnau,Telefon 45 0 9 - 2 64.
Schatzmeister: Karl-Heinz Kretschmer, Greveweg 6, 12103 Berlin-Tempelhof, Telefon 7 53 42 78.
Konten des Vereins: Postbank Berlin (BLZ 100 10010), Kto.-Nr. 433 80-102,10559 Berlin; Berliner Bank AG (BLZ 100 200 00), Kto.-Nr. 03 81801200.
Die MITTEILUNGEN erscheinen vierteljährlich zum Quartalsanfang. Herausgeber: Verein für die
Geschichte Berlins, gegr. 1865, Schriftleitung und Veranstaltungsorganisation: Dr. Manfred Uhlitz,
Brixplatz 4, 14052 Berlin-Charlottenburg, Telefon 3 05 96 00 und 01715 2012 Ol, Fax 3 05 38 88;
Dr. Christiane Knop, Rüdesheimer Straße 14, 13465 Berlin-Frohnau, Telefon 4 0143 07; Beiträge
bitte an die Schriftleiter senden. Redaktionsschluß: 1. März, 1. Juni, 1. September, 15. November.
Abonnementspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag gedeckt. Bezugspreis für Nichtmitglieder: 24 DM
jährlich. Neumitglieder sind herzlich willkommen! Jahresmitgliedsbeitrag z. Zt. DM 60,— inkl. Bezug
der MITTEILUNGEN und des Jahrbuchs. Beitrittserklärungen bitte formlos an die Geschäftsstelle.
Herstellung: Westkreuz-Druckerei Ahrens KG Berlin/Bonn, 12309 Berlin.
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Schriftleitung.
404
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Ratsbibliothek
MITTEIttFN6EN
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DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS
GEGRÜNDET 1865
91.Jahrgang
Heft 3
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Juli 1995
Gottfried Schadow und sein Sohn Wilhelm
Von Helmut Börsch-Supan
Das Verhältnis Gottfried Schadows zu seinem Sohn Wilhelm, seit 1826 Direktor der Düsseldorfer Akademie, würde man sich gern so unkompliziert vorstellen, wie es Theodor Fontane in
einer Anekdote seines Schadow-Kapitels der „Wanderungen" beleuchtet. „Als die Friedensklasse des pour le merite gestiftet wurde, war es selbstverständlich, daß Schadow den Orden
erhielt. Der König selbst begab sich in die Wohnung des Alten in der jetzigen Schadow-Straße.
,Lieber Schadow, ich bring Ihnen hier den pour le merite.' ,Ach Majestät, was soll ich alter
Mann mit'n Orden?' ,Aber lieber Schadow . . . ' ,Jut, jut, ich nehm ihn. Aber eine Bedingung,
Majestät: wenn ich dod bin, muß ihn mein Wilhelm kriegen.'"
Wilhelm bekam ihn nicht, aber dafür wurde er drei Jahre später, 1845, von Friedrich Wilhelm
IV. in den Adelsstand erhoben und hieß seitdem Wilhelm von Godenhaus, eine in Preußen seltene Auszeichnung eines Malers, die zu dem alten Schadow nicht gepaßt hätte.
Vater und Sohn vertraten nicht nur zwei Kunstepochen, sie waren auch im Wesen sehr verschieden. Es war für Wilhelm nicht leicht, sich aus dem Schatten des Vaters zur Selbständigkeit herauszuarbeiten, eine Aufgabe, mit der auch andere Nazarener konfrontiert waren. Philipp Veit
war der Sohn von Dorothea Veit. Sein Stiefvater war Friedrich Schlegel, und Moses Mendelssohn war sein Großvater. Friedrich Overbecks Vater, Christian Adolf Overbeck, war ein angesehener Lübecker Dichter, einst Mitglied des Göttinger Hainbundes, und auch als Senator und
Bürgermeister der Hansestadt geehrt. Die Väter von Franz Pforr und Julius Schnorr von
Carolsfeld hatten als Maler einen Namen. Die Jungen traten als Neuerer auf, die das verachtete
achtzehnte Jahrhundert überwinden wollten, aber durch ihre Eltern blieben sie ihm verpflichtet. Der Pionier der klassizistischen Bildhauerkunst in Berlin war der alte Schadow. Er, der
Sohn eines Schneiders, besaß den Schwung eines Aufsteigers, der allein durch sein Genie, seine
Tüchtigkeit und seine Vitalität nach oben getragen wurde, freilich in einem geistigen Klima und
in einer Zeit, die offen für eine Überwindung gesellschaftlicher Konventionen war. Die Französische Revolution lockerte auch in Preußen manches.
Als nach dem Ende der Freiheitskriege die Restauration einsetzte, war die frische, Vernünftigkeit und Empfindung verbindende Menschlichkeit Gottfried Schadows nicht mehr opportun.
Die Standesunterschiede wurden wieder stärker betont, und wer als Künstler Erfolg haben
wollte, tat gut daran, sein Verhalten dem anzupassen. Christian Daniel Rauch, der Kammerlakai der Königin Luise gewesen war, ehe er sich 1804 ganz der Bildhauerei zuwandte, hatte
gelernt, seine einfache Abkunft zu verbergen und die höfischen Konventionen zu beachten.
Das kam seiner Karriere zugute, aber es beengte seine Entfaltung als Mensch und Künstler.
Weder als Zeichner, noch als souveräner Meister des Wortes vermag er so zu beeindrucken wie
Gottfried Schadow, bei dem alle Äußerungen naturhaft und ungefiltert, gleichwohl diszipliniert aus dem Inneren kommen. Was bei ihm als Einheit von Kunst und Menschlichkeit erfahren wird, ist bei den Jüngeren, bei Wilhelm Schadow wie bei Rauch, gebrochen. Ihnen fehlt
daher auch der Humor als Mittel einer Versöhnung.
Wie der alte Schadow hat auch der Sohn geschrieben, theoretisch die Kunstgeschichte reflektierend und autobiographisch. Auch hier treten die Unterschiede deutlich zutage. „KunstWerke und Kunst-Ansichten" hat Gottfried Schadow seine Chronik der Berliner Kunst seiner
Zeit genannt. Sie ist 1849 erschienen. Es ist ein nobles Buch, frei von Selbstheroisierung und
Bitterkeit, zu der er Ursache gehabt hätte, sachlich und doch ganz persönlich. Überall spürt
man Entschiedenheit des Urteils, manchmal begegnet auch ein kurzer, beinahe vernichtender
406
Hieb, aber dominierend bleibt der verständnisvolle Blick für den Wandel der Kunstanschauungen und die Sympathie für die Jüngeren. Eine väterliche Güte und Toleranz durchzieht das
Werk.
Darum bemüht sich auch Wilhelm Schadow in dem nur vier Jahre später erschienenen
„Modernen Vasari", in dem er, novellistisch eingekleidet, die Entwicklung der neueren Kunst
seit Anton Raffael Mengs Revue passieren läßt. Wie der Vater war der Sohn im Alter durch ein
Augenleiden in seiner künstlerischen Tätigkeit behindert. Während jener es souverän verarbeitet, ist es bei diesem zwischen den Zeilen als der Klageton der Düsseldorfer Schule zu vernehmen. Das verleiht dieser Darstellung eines künstlerischen Aufbruches die widersprüchliche
Gedämpftheit einer resignierenden Spätzeit. Der Autor vergleicht sich mit Vasari und sieht sich
so schon als historische Persönlichkeit. Solche Stilisierung wäre bei Gottfried Schadow
undenkbar gewesen.
Dieser erwähnt in seinen Memoiren nicht ohne Stolz die Leistungen seines Sohnes, aber nicht
ausführlicher als die der anderen Künstler. Man spürt bei der Erwähnung des Weggangs von
Wilhelm Schadow nach Düsseldorf und der damit verbundenen Gründung der Düsseldorfer
Malerschule die betonte Zurückhaltung: „Die Übersiedlung des Malers Wilhelm Schadow
nach Düsseldorf kann man heute als nicht unbedeutend ansehen." Er ist um Gerechtigkeit
bemüht und meldet an einer Stelle auch vorsichtig Kritik an. Bei der Besprechung einer auf der
Berliner Ausstellung von 1844 gezeigten „Himmelfahrt der Maria" bemerkt er: „Von demselben Künstler war ein nach unserer Meinung verdienstvolleres Bild, ein Kniestück, St. Hedwig,
Schutz-Patronin von Schlesien vorstellend, zu sehen."
Umgekehrt erhält Gottfried Schadow im „Modernen Vasari" einen ihm gebührenden Platz
nach Anton Raffael Mengs, Asmus Jakob Carstens, John Flaxman und Antonio Canova. Der
Sohn weiß, was er dem Vater verdankt, nämlich die Erziehung zu gewissenhaftem Naturstudium einschließlich exakter Messung der Körper, auch die frühzeitige Einführung in die
Gesellschaft gebildeter Menschen, die im Hause des alten Schadow verkehrten. Als Wilhelm
1819 nach Berlin zurückgerufen wurde, um Schinkel bei der Ausstattung des Schauspielhauses
zu unterstützen, war es der Vater, der ihm den Weg für eine Anerkennung in den höchsten
Kreisen ebnete. Aber was nach Wilhelms Überzeugung den Kern seines Künstlertums ausmacht, die christliche Gesinnung und missionarische Motivation, stammt nicht aus dieser
Quelle. Das Porträt des Vaters bleibt skizzenhaft, oberflächlich und unpersönlich.
Deutlicher noch wird der nur überbrückte, aber nicht zugeschüttete Graben zwischen den
Generationen in den postum 1891 in der Kölnischen Zeitung erschienenen „Jugend-Erinnerungen" des Malers, die aus seiner spätesten Lebenszeit stammen müssen, denn das Gedächtnis hat ihn an vielen Stellen im Stich gelassen. Hier schildert er die Berliner Kultur des ausgehenden 18. Jahrhunderts als dekadent und liederlich. Der Haß der katholisch gefärbten
Romantik auf die Aufklärung kommt ungezügelt zum Ausbruch, und hier muß nun der Schreiber die Gestalt des Vaters aus diesem Ambiente als die Erscheinung eines Reformators herauslösen. Er negiert dessen Zusammenhang mit der Berliner Aufklärung.
Als Maler hat Wilhelm dem Vater gegenüber seine Dankbarkeit in einem Porträt zum Ausdruck gebracht, das noch in Privatbesitz, allerdings in schlechtem Zustand, vorhanden ist.
Gottfried Schadow hat es 1849 als Reproduktionsstich einem Tafelband mit seinen Hauptwerken und einigen seines Sohnes Ridolfo vorangestellt (s. Titelabbildung). Das Bildnis charakterisiert den Sechsundfünfzigjährigen als den klar denkenden, treffsicher gestaltenden und nüchtern in die Zukunft blickenden Geist. Im knappen Ausschnitt ist viel vom Wesen des Künstlers
erfaßt, aber man hätte vom Sohn auch Wärme in der Schilderung des Vaters erwarten können.
Sie fehlt.
407
Als Wilhelm Schadow Ende 1810 Berlin als durchaus schon anerkannter Maler verließ, um
seine Ausbildung in Italien fortzusetzen, geriet er in eine Lebenskrise, die auch seine Gesundheit angriff. Er rettete sich durch den Anschluß an die Lukas-Brüder, vor allem an Overbeck,
und schließlich 1814 durch den Übertritt zum Katholizismus. Erst danach wurde Schadow produktiv. Ein Brief von Henriette Herz an die Malerin Louise Seidler aus Rom vom Februar 1818
deutet den Bruch an: „Den jüngsten Schadow sah ich beim Abschiede von Berlin als einen zierlichen jungen Weltmann und eleganten Porträtmaler, der durch einige ähnliche Porträts vornehmer Personen schon eine Art von Ruf hatte, der ihn über die Gebühr eitel machte.. . Schadow war ein Porträtmaler geworden, der jedes Porträt zum Tableau erhöhte, so wie in seinen
Kompositionen sich stilles frommes Gemüt ausspricht, und zwar auf die lieblichste Weise durch
Form und Farbe." Das war der Schadow am Ende seines italienischen Aufenthaltes.
Bis auf ein Bild sind alle uns bekannten Gemälde der römischen Zeit einschließlich der beiden
Fresken in der Casa Bartholdy „Jakob empfängt den blutigen Rock Josephs" und „Joseph als
Traumdeuter im Gefängnis" nach 1815 gemalt. Zwischen 1810 und diesem Datum scheint den
Maler eine Lähmung befallen zu haben. Das einzige erhaltene Bild aus dieser Periode, eine frühere Fassung des „Joseph als Traumdeuter", heute in den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen in München, scheint auf diese Lebenskrise anzuspielen und somit auch einen Bezug auf
den Vater zu enthalten. Es ist 1812 entstanden und war 1814 auf der Berliner Akademieausstellung zu sehen (Nr. 99) als vereinzelter Rechenschaftsbericht über die Tätigkeit des Malers
in Rom. Die Vermutung liegt nahe, Wilhelm Schadow habe sich mit Joseph identifiziert und
dessen Läuterung in Ägypten mit seiner eigenen in Italien verglichen. Joseph wird infolge seiner Überheblichkeit von seinem Vaterhaus entfernt, aber seine Tugend ist es, durch die er ins
Gefängnis gerät. Entscheidend bei der Stilisierung Wilhelm Schadows als Joseph ist jedoch die
missionarische, ja heilsgeschichtliche Aufgabe, die er sich als Künstler stellt. Das war ganz im
Sinne der Lukas-Brüder gedacht.
Da diese Komposition später für die Fresken der Casa Bartholdy verwendet wurde, könnte es
Wilhelm Schadow gewesen sein, der Jakob Salomon Bartholdy, seit 1815 preußischer Generalkonsul in Italien, das Thema der Josephsgeschichte für seinen Auftrag an die Lukas-Brüder
vorgeschlagen hat. Bartholdy und Schadow waren beide Berliner und konnten, Philipp Veit
ausgenommen, der auch Berliner war, ein engeres Verhältnis zueinander haben als Bartholdy
zu dem Rheinländer Peter Cornelius und dem Lübecker Friedrich Overbeck.
Gottfried Schadow sah damals, wie aus einem Brief an Goethe hervorgeht, das Treiben der
Lukas-Brüder wie überhaupt der Romantiker mit Mißbehagen. Er spricht von der „gotischen
Bande", zu der auch sein Sohn gehöre. Dieser stellt sich in Rom angesichts des Gegensatzes von
Canova und Thorwaldsen demonstrativ an die Seite des letzteren, während der Vater seinem
Freund Canova die Treue hält. In „Kunst-Werke und Kunst-Ansichten" erinnert sich der alte
Schadow nur ungenau der Ausstellung von 1814: „Gegen Ende der Ausstellung kamen aus
Rom zwei gemalte Skizzen zu zwei Fresko-Gemälden aus der Villa Bartholdy daselbst, nämlich: „Josephs Traum", von Wilhelm Schadow, und die zweite Skizze von Veit." 1814 waren die
Fresken noch nicht projektiert, und von „Herr Veit, in Rom" war laut Katalog nur „Der heilige
Michael, nach Pietro Perugino" ausgestellt. „Herr Veit" ist aber nicht Philipp Veit, sondern sein
Bruder Johannes.
Die Anerkennung, die Wilhelm Schadow nach seiner Rückkehr aus Italien zuteil wurde, hat
des Vaters Skepsis beruhigt, und es hat ihn offenbar mit Genugtuung erfüllt, daß sein Sohn zu
einem der einflußreichsten deutschen Maler aufstieg, während er selber als Bildhauer immer
mehr in den Hintergrund gedrängt wurde.
Anschrift des Verfassers:
Professor Dr. Helmut Börsch-Supan, Lindenallee 7, 14050 Berlin-Charlottenburg
408
I
Dr. Manfred Stolpe
Ministerpräsident des
Landes Brandenburg
Vereinigungsängste, roter Faden unserer Regionalgeschichte?
Beitrag des Ministerpräsidenten des Landes Brandenburg, Dr. Manfred Stolpe,
für den Verein für die Geschichte Berlins, gegr. 1865
„Vor vierhundert und auch noch vor zweihundert Jahren war Berlin eine märkische Stadt und
stand unter dem Einfluß märkischen Lebens, jetzt ist das Berlinertum eine selbständige, von
dem ursprünglichen Märkischen durchaus losgelöste Macht geworden, die nun ihrerseits auf
dem Punkte steht, zu vielem anderem auch die nur hier und da noch Widerstand leistende
Mark zu erobern und die Märker nolens volens früher oder später zu Berlinern zu machen."
Wer jetzt allerdings meint, dieses Zitat sei der jetzigen Diskussion um die Gründung des Bundeslandes Berlin-Brandenburg entnommen, der irrt. Das schrieb Theodor Fontane 1889.'
Der Regierende Bürgermeister hat in der letzten Ausgabe dieser Zeitschrift Diskussionsstand
und Perspektive des gemeinsamen Bundeslandes Berlin-Brandenburg dargestellt. Ich möchte
ergänzend dazu einen Blick in die Vergangenheit tun.
Es war ein Zufall, daß der Neugliederungsstaatsvertrag zwischen den Ländern Berlin und
Brandenburg am 27. April unterschrieben wurde, also jenem Tag, an dem vor 75 Jahren die
verfassunggebende Preußische Landesversammlung das Gesetz über die Bildung einer neuen
Stadtgemeinde Berlin verabschiedete. Die Struktur der Stadt, ihre Einbeziehung und Integration in ihr Umland war bis zu diesem Tag in ständiger Diskussion.
409
Es verging kein Jahrzehnt, in dem nicht neu nachgedacht und umorganisiert worden wäre. So
zeigt uns ein Spaziergang durch die Geschichte überall am Wege, daß die Themen und Probleme, die wir heute haben, gar nicht so neu sind, wie wir immer vorgeben. Da ging es um
Finanzen, um Aufgabenverteilung, um Regierungssitz, um Majorisierungsängste.
Wir planen nicht die erste Vereinigung in dieser Region, Vereinigungsängste sind so etwas wie
der rote Faden unserer Regionalgeschichte. Wir sind schließlich auch nicht die ersten, die etwas
Neues gründen wollen: Im 13. Jahrhundert entwickelten sich bei der nahen Nachbarschaft der
Städte Berlin und Colin mannigfache Beziehungen, zunächst zwischen den Kaufleuten, die
schon früh, vielleicht von Anfang an, eine gemeinschaftliche Kaufmannsgilde bildeten.2 Wie
heute ging wohl damals die Wirtschaft der Politik einen Schritt voraus. 1307 vereinigten sich
dann Colin und Berlin. Sie errichteten als äußerlich sichtbares Zeichen — zu den bereits vorhandenen — ein gemeinsames Rathaus auf der langen Brücke über der Spree. Der erste Neubau
als Symbol der gemeinsamen Zukunft, so wie Potsdam ein Parlament für das gemeinsame Land
bauen wird? Die Vereinbarungen sahen damals die Selbständigkeit von Berlin und Colin vor,
soweit sie nützlich sei, daß aber in den Fällen, wo einheitliches Vorgehen ratsam erscheint,
gemeinsam aufgetreten werden solle. Noch verfügte auch künftig jede Stadt über einen eigenen
Haushalt und eigenes Vermögen.
Sie hätten „sich oft genug feindlich gegenüber gestanden und die gegenseitige Eifersucht
machte die Vereinigung nicht leicht", so sagt die Geschichtsschreibung, „sie wäre auch nicht so
bald zustande gekommen, hätte nicht der äußere Drang, die Nothwendigkeit gegen die von
dem räuberischen Adel drohenden Gefahren fest zusammenzustehen, sie endlich erzwungen.
Die Vereinigung der Schwesterstädte zu einer gemeinschaftlichen Verwaltung trug sofort ihre
deutungsreichen Früchte."3 Schon damals gab es Majorisierungsängste und komplizierte vertragliche Vereinbarungen, die dem entgegen wirken sollten. Doch letztlich wußte „der Rath
von Berlin und Colin jeden Regierungswechsel, jede Verlegenheit des Fürsten klug zur Erweiterung der Stadtrechte auszubeuten, hierdurch bildeten sich dann nach und nach die Schwesterstädte zu kleinen Republiken, welche zwar noch bestimmte Abgaben an den Landesherren
zu entrichten hatten, in ihrer Selbstregierung aber völlig unabhängig waren ... Solche Rechte,
solche Macht erzeugte in den Bürgern jener Zeit ein Vollbewußtsein ihrer Kraft, welches sie oft
genug zu Überschreitungen ihrer Rechte hinriß, die sie mitunter schwer büßen mußten. Die
Berliner waren stets ein leicht aufgeregtes Völkchen, schnell mit dem Worte da, wie heute noch,
aber damals auch schnell mit der That bei der Hand, wie heute wohl nicht mehr." 4 Ein Trost für
die Brandenburger von heute?
1432 wurden dann Berlin und Colin richtig zu einer Stadt vereinigt. Das Vermögen beider
Städte, alle Einrichtungen, das Gericht und die gesamte Verwaltung sollten gemeinsam sein.
Nur die Innungen blieben getrennt, offenbar deshalb, weil die regierenden Herren glaubten,
auf diese Weise die Handwerker besser im Zaume halten zu können.5
Doch die Residenz wuchs. 1707 befahl König Friedrich I. dem Geheimen Rat von Ilgen Verhandlungen mit den Räthen der fünf Städte aufzunehmen, in die die Residenz jetzt aufgeteilt
war. „Wie sehr es auch in die Augen springen mußte, daß die Durchführung des Königlichen
Plans zum Vorteil der Stadt gereichen würde, so fand derselbe doch bei den einzelnen Magistraten vielfachen Widerstand; freilich nur bei den Magistraten nicht bei dem Volk, denn die
Bürgerschaft wünschte selbst eine Vereinigung, die Magistratsmitglieder aber widerstreben
derselben, weil ihr persönlicher Vortheil und ihr persönliches Ansehen in den einzelnen Städten schwinden mußte, wenn eine allgemeine Behörde eingesetzt wurde."6 Im Januar 1709
hatte der König das Hin und Her satt und vereinigte durch ein Dekret dann kurzentschlossen
die fünf Städte zu einer Stadt. Der König regierte heftig weiter hinein: Im Februar 1747 erließ
410
König Friedrich II. ein neues rathäusliches Reglement. Er begründet den Zweck der Veränderung, daß „fortan der Zustand der Stadt in einer der Wohlfahrt des Publikums und dem Interesse des Königs entsprechenden Weise geordnet werde."7
Den nächsten großen Einschnitt brachten die Stein-Hardenbergschen Reformen mit der Trennung von staatlichen und städtischen Behörden und der neuen Städteordnung von 1808.1809
wurde die königliche Regierung nach Potsdam verlegt. Streit um den Sitz der Regierung gab es
schon damals. Der gebürtige Westfale Ludwig von Vincke lehnte als Präsident auch persönlich
Berlin als Sitz seiner Regionalverwaltung ab: „Die ganze Lebensweise wirkt dort dahin, die
Beamten von den Geschäften abzuführen, sie träge schlaff, selbstsüchtig zu machen; bei so
mancherlei Anlaß zu Zerstreuungen wird die Arbeit sehr leicht Nebensache."8 Eine Argumentation, die allerdings schon einmal so ähnlich gegen die Errichtung einer Universität in Berlin
vorgebracht worden war.9 Die städtische Selbstverwaltung für Berlin löste eine Diskussion
über Finanzierung, Schuldentilgung, Aufgabenaufteilung zwischen Stadt und Land und Kompetenzen innerhalb der Stadt aus, Themen, die mir aus den Verhandlungen über den Neugliederungsvertrag mehr als geläufig sind.
Für 1810 schreibt Streckfuß: „... als die Stellung der Stadtbehörde gerade damals durchaus
keine leichte war. Durch den Krieg, die Contributionen, die herrschende Armuth befanden
sich die Stadtkassen in dem traurigsten Zustande. Berlin war mit Schulden überbürdet, und das
Geld diese zu bezahlen oder auch nur die drängendsten Bedürfnisse des Stadthaushaltes zu
befriedigen, fehlte. Schon bald nach ihrer Wahl, am 17. Juni 1809, mußten sich die Stadtverordneten an die bemittelten Einwohner wenden, um von diesen Vorschüsse für die Stadtkasse zu
erbitten, damit nur die notwendigsten Zahlungen geleistet werden konnten."in Die Schuld
betrug am 1. Januar 1817 noch rund 4 243 000 Taler." Auch die Personalkosten waren schon
damals nicht ohne Bedeutung: 1819 hatten sich die Ausgaben für die Beamten durch deren
Vermehrung so sehr erhöht, daß die Kämmerei eines Zuschusses aus der Stadtkasse von
32 500 Talern bedurfte.12 Für die Tilgung der Stadtschulden wurde erst 1828 mit der Kabinettsorder vom 24. Juni ein systematischer Tilgungsplan genehmigt. Bis 1861 sollte die Tilgung
beendet sein und die Regierung in Potsdam die Einhaltung der Bestimmungen überwachen,
eine Maßregel, die man von 1838 an fallen ließ.a 1838 war es nämlich nach 30 (!) Jahren gelungen, Aufgaben und Ausgaben auf der Basis der Arbeit einer „Ausgleichskommission" zwischen Stadt und Land eindeutig zu regeln. Für den dann „durch die Kabinettsorder vom
31. Dezember geschaffenen Ausgleich sprachen Magistrat und Stadtverordnete in einer
Adresse dem König ihren Dank aus".14 Worum es damals ging: z. B. um die Anlegung, Pflasterung und Beleuchtung der Straßen und ihre Reinhaltung, um Kosten der Wohlfahrt, um die
Unterhaltung der Stadtvogtei und der Gerichts- und Polizeigefangenen. Die Besoldung der
Polizeibeamten war nach dem Gesetz vom 30. Mai 1820 der Stadt abgenommen, ebenso die
der Richter und Justizbeamten.
Seit 1881 erhielt Berlin wieder eine Sonderstellung als eigner Verwaltungsbezirk im Verhältnis
zur Provinz Brandenburg. Damit war aber der Plan des Berliner Oberbürgermeisters Arthur
Hobrecht zur Bildung einer Provinz Berlin gescheitert. Er wollte Berlin und Charlottenburg als
Stadtkreise mit den umliegenden Gemeinden als Landkreis zu einer Provinz vereinigen, um
überörtliche Aufgaben wie Verkehrspolitik, Wasser- und Gasversorgung, Kanalisation einheitlich regeln zu können. Das scheiterte auch am Widerstand des Landrates des Kreises
Teltow, der steuerstarke Gemeinden wie Schöneberg und Tempelhof nicht an eine Provinz
Berlin verlieren wollte.15 Der Kreis Niederbarnim wollte sich bei Umstrukturierungen am
liebsten gleich solcher finanzschwacher Arbeitergemeinden wie Boxhagen und Rummelsburg
entledigen.16
411
Das Stoßgebet eines Spandauers bei der Grundsteinlegung zum Rathaus 1910 „Mög' schützen
uns des Kaisers Hand vor Groß-Berlin und Zweckverband" wurde nicht erhört: Am 1. April
1911 wurde der Zweckverband Groß-Berlin gegründet, der von den Geschichtsschreibern als
unglückseliges Unterfangen bezeichnet wird, das schon von seiner Konstruktion her zum
Scheitern verurteilt war. Es war der verzweifelte Versuch, die notwendige Zusammenarbeit
durch ein Vertragswerk statt mit einer Vereinigung zu erreichen. Allen Apologeten der Staatsvertragslehren empfehle ich, diesen Irrweg sorgfältig zu studieren.
Am 20. April 1920 setzten dann mit nur 16 Stimmen Mehrheit USPD und SPD — dank der
Enthaltung des Zentrums — gegen den Widerstand der meisten Abgeordneten der übrigen
bürgerlichen Parteien das Berlin-Gesetz durch. Welche Ängste waren damals vorhanden? Die
Furcht vor dem roten Berlin einte Potsdamer und Zehlendorfer. Kommunalpolitiker witterten
die Gefahr, die finanziellen Mittel würden jetzt hauptsächlich in die Arbeiterbezirke des Ostens
fließen. Komplizierte Konfliktregulierungsmechanismen waren der Kern des Gesetzes. Dieses
komplizierte Zusammenfügen so vieler verschiedener Strukturen schien die Konflikte zu programmieren.
Wieder eine Parallele zu heute? Vielleicht in der Hoffnung, die wir damit verbinden, denn wir
erlebten nach 1920 einen Aufschwung für Berlin und Brandenburg, dem erst der Nationalsozialismus ein Ende setzte.
Wir wollen ein neues Land gründen mit langer Geschichte zum Vorteile aller, eine neue Ebene
schaffen, eine neue Qualität der Zusammenarbeit, die in der Regel keinen Schiedsrichter benötigt. Es geht eben auch nicht nur um das Verhältnis einer großen Stadt zu ihrem Umland wie
1920. Wieder haben wir Ängste, wieder besteht die Gefahr, daß die Sorgen die Möglichkeiten
verbauen könnten. Denn die Möglichkeiten eines gemeinsamen Landes sind wirklich keine
Träume, sind keine Illusionen, sondern unbestreitbare Tatsachen. Ziehen wir die richtigen
Lehren aus der Geschichte!
Anmerkungen
1 Theodor Fontane: Die Märker und die Berliner und wie sich das Berlinertum entwickelte, aus:
Sämtliche Werke, Band XIX (Politik und Geschichte), München 1969, S. 755
2 Paul Goldschmidt: Berlin in Geschichte und Gegenwart, Berlin 1910, S. 11
3 Adolf Streckfuß: 500 Jahre Berliner Geschichte, Berlin 1886, Band 1, S. 8
4 Streckfuß, a.a.O., S.9
5 Paul Goldschmidt, a. a. O, S. 21
6 Streckfuß, a.a.O., S. 274
7 Streckfuß, a.a.O., S.445
8 Paul Goldschmidt, a.a.O., S. 194
9 Streckfuß, a.a.O., S.656
10 Streckfuß, a. a. O., S. 629
11 Paul Claußwitz: Die Städteordnung von 1808 und die Stadt Berlin, Festschrift zur hundertjährigen Gedenkfeier der Einführung der Städteordnung, Berlin 1908, S. 139
12 Claußwitz, a.a.O.
13 Claußwitz, a.a.O., S. 141
14 Claußwitz, a.a.O., S. 163
15 Hans Herzfeld: Berlin und die Provinz Brandenburg im 19. und 20. Jahrhundert, Berlin 1968,
S.253
12 Herzfeld, a.a.O., S. 256f.
412
4
Abbl: Berlin-Mahlsdorf,
Alte Pfarrkirche aus dem 13. Jh.
Foto: Monika Uelze (1994)
650 Jahre Mahlsdorf
Von Harald Kintscher und Dieter Winkler
Es mag gegen Ende des Jahres 1344 oder zu Beginn des Jahres 1345 gewesen sein, daß der Ritter Thyle Ryteling den Ort Malterstorp auf dem Barnim an den Ritter Otto von Kethelitz verkauft hat. Jedenfalls am 25. Januar 1345 bestätigte der damalige Markgraf Ludwig d. Ä. diesen
Handel in einem Schriftstück und übertrug den Ort mit allen Rechten und Pflichten an Otto
von Kethelitz. Dies ist der erste überlieferte urkundliche Nachweis von der Existenz unseres
heutigen östlichsten Berliner Ortsteils Mahlsdorf. Gegründet wurde der Ort jedoch zumindest
einhundert Jahre zuvor im Zuge der Eroberung und Besiedlung des Barnims durch die Askanier bzw. Wettiner, die im Jahre 1209 im nahen Köpenick nachgewiesen sind. Zeugnis von der
früheren Ortsgründung gibt heute noch die alte Pfarrkirche in der jetzigen Hönower Straße,
deren Kirchenschiff um die Mitte des 13. Jahrhunderts errichtet sein muß. In einem späteren
Dokument, dem Landbuch Karls IV. aus dem Jahre 1375, wurden Otto und Rüdiger von Falkenberg „seit Alters" als Herren von Malsterstorf, wie es hier bezeichnet wurde, genannt.
413
Mahlsdorf war damals ein Dorf mit 50 Hufen Land, von denen fünf zum Hof der Falkenbergs
gehörten und vier dem Pfarrer. Außerdem wurden ein Krug und 19 Kossäten erwähnt. Von 20
Hufen gingen Pacht und Zins an den Gutsherrn von Dahlwitz, Johann Belitz, von den Falkenbergs noch Gefälle an eine Berliner Bürgerin namens Katharina Frankfurts.
Angelegt war Mahlsdorf, wie viele Dörfer in den neuen Ostgebieten, als Straßendorf. Der heutige Straßenzug Hönower Straße—Hultschiner Damm, begrenzt im Norden von der Pestalozziund im Süden von der Elsenstraße, dürfte auf die ursprüngliche Dorfstraße zurückgehen.
Gleichzeitig führte die alte Verbindungsstraße zwischen Berlin und Frankfurt/Oder über
einen Teil der alten Dorfstraße. Zu Beginn des 15. Jahrhunderts hatten sich im Ort zwei
Gutswirtschaften herausgebildet, deren Eigentümer durch Kauf und Verkauf aber mehrfach
wechselten. Nach der Vereinigung der beiden Gutswirtschaften unter der Familie Grieben
(an Gertrud Grieben erinnert ein Grabstein aus dem Jahre 1579 in der alten Mahlsdorfer Kirche) erwarb 1573 zunächst „wiederverkäuflich", 1575 „erblich" und schließlich 1583 lehnsrechtlich verbrieft der kurbrandenburgische Kanzler Lampert Distelmeier (gelegentlich auch
Distelmeyer geschrieben) das Gut. Aus der Zeit seines Sohnes und Nachfolgers als Gutsherr
stammt noch ein Epitaph im Altarraum der alten Pfarrkirche in Mahlsdorf mit dem Familienwappen.
Im Dreißigjährigen Krieg wurde Mahlsdorf, wie viele seiner Nachbarorte, mehrfach heimgesucht und verwüstet. Der für den ganzen Barnim und die Mark Brandenburg verzeichnete
Bevölkerungsrückgang traf auch Mahlsdorf. Anstelle von 12 besetzten Bauern- und 14 Kossätenstellen im Jahre 1624 fanden sich 1852 nur drei Bauern und drei Kossäten. Zwischenzeitlich
soll Mahlsdorf sogar völlig wüst gewesen sein. In der Phase des Landesausbaus nach dem Dreißigjährigen Krieg ging das Gut 1676 in kurfürstlichen Besitz über und wurde ein Vorwerk des
Amtes Köpenick bzw. später des Amtes Mühlenhof. 1696 gab es in Mahlsdorf zehn Bauern
und vier Kossäten.
1753 wurde unter Friedrich II. am Südostzipfel der Mahlsdorfer Feldmark die Kolonie Kiekemal gegründet. Einwanderer aus Württemberg siedelten sich dort an. Allerdings blieb diese
Einwandererkolonie mit nie mehr als sechs Feuerstellen und 55 Einwohnern vergleichsweise
klein. Bis 1911 gehörte sie zum Gut Dahlwitz und wurde erst im Zuge der Parzellierung und
Besiedlung der südlichen Mahlsdorfer Feldmark nach Mahlsdorf eingemeindet.
Im Ergebnis der preußischen Reformen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam es zur
Verpachtung und 1821 zum Verkauf des königlichen Vorwerks an den Kaufmann und Fabrikanten Johann Friedrich Kaapke. Aus dem Vorwerk wurde ein selbständiges Rittergut. Nachdem im Jahre 1816 bereits die Separation der zum Vorwerk gehörenden Flächen durchgesetzt
worden war, erfolgte reichlich zehn Jahre später die Separation des Grund und Bodens für die
Mahlsdorfer Bauern. Mit der gleichzeitig vollzogenen Ablösung der Bauern von den Feudallasten entstanden somit unabhängig voneinander wirtschaftende landwirtschaftliche Betriebe,
was zugleich mit einer stärkeren sozialen Differenzierung im Dorf verbunden war. 1891
erfolgte schließlich die Wahl der ersten Gemeindevertretung.
Das Gut nahm eine für viele ostelbische Rittergüter typische Entwicklung, vergrößerte seinen
Landbesitz, betrieb bald mit zwanzig Tagelöhnerfamilien eine umfangreiche Pflanzenproduktion, intensive Milchwirtschaft und ausgedehnte Schafhaltung, die allerdings im Jahre 1908
eingestellt wurde, sowie eine gutseigene Spiritusbrennerei. Unter den Rittergutsbesitzern zu
nennen ist vor allem der jüdische Kaufmann Hermann Lachmann, der das Gut 1869 erwarb,
das bereits um 1780 errichtete Gutshaus rekonstruieren und im Stil der Zeit modernisieren
sowie einen Gutsgarten anlegen ließ. 1880 kaufte Hermann Schrobsdorff das Gut und ließ den
Gutsgarten zu einem repräsentativen Park umgestalten. Die nach seinem Tod das Rittergut
414
I
Abb. 2: Mahldorfer Gutshaus, Aufnahme von 1908
Fotosammlung Landesarchiv Berlin
weiterführende Witwe Renate Schrobsdorff, eine Nichte des Dichters Friedrich Rückert, förderte die Entwicklung des Ortes, stellte u. a. Land und finanzielle Zuschüsse für die Errichtung
eines Haltepunktes an der Königlichen Ostbahn zur Verfügung, die seit 1867 die Mahlsdorfer
Flur durchquerte, und setzte sich für die Schaffung einer Straßenbahnverbindung zwischen den
Vorortbahnhöfen Köpenick und Mahlsdorf ein. Nach ihrem Tod im Jahre 1908 wurde 1912 der
bisher selbständige Gutsbezirk in die Landgemeinde Mahlsdorf überführt.
Seit Mitte der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts geriet Mahlsdorf immer stärker unter den Einfluß der sich nach der Reichsgründung 1871 weit in das Umland ausdehnenden Reichshauptstadt Berlin. Die 1895 erfolgte Eröffnung des Haltepunktes Mahlsdorf an der Ostbahn sowie
die Einweihung der Straßenbahnlinie (1907) beförderten diesen Prozeß ungemein. Zwischen
1895 und 1900 stieg die Einwohnerzahl von 850 auf 1054, bis 1905 auf 2107 und bis 1910 auf
3891. Mit der Parzellierung vieler landwirtschaftlicher Flächen ging eine rege Bau- und Siedlungstätigkeit einher. Im Norden und Osten des alten Dorfkeras, insbesondere in der Bahnhofsgegend entstand ein neues vorstädtisches Wohn- und Geschäftsviertel und damit ein neues
Ortszentrum. Die ersten Wohn- und Siedlungshäuser, ja auch einige Villen entstanden ebenso
in den Weiten der Mahlsdorfer Feldmark, insbesondere an der Grenze zur Köpenicker Gemarkung. Vielfach neu entstehende Gaststätten orientierten sich zugleich auf Berliner Ausflügler.
Mehr als 40 Gartenbaubetriebe versorgten den Berliner Osten mit Gemüse, Obst und Blumen.
1905 entstand auch eine Nutzgeflügelmastanstalt. Aus einem reinen Guts- und Bauerndorf
entwickelte sich Mahlsdorf in historisch kurzer Zeit zu einem Wohn- und Siedlungsvorort Berlins und bemerkenswerten Gewerbestandort, der allerdings noch längere Zeit, wenn auch mit
abnehmender Tendenz, von der Landwirtschaft mitgeprägt wurde.
415
Seit dem 31. Juli 1907 war Mahlsdorf wieder eine eigenständige Kirchengemeinde. 1904/05
wurde für die rasant gewachsene Schülerzahl ein neues modernes Schulgebäude errichtet, das
im Jahre 1909 bereits erweitert werden mußte, und 1910/11 erbaute sich die aufstrebende Gemeinde ein repräsentatives Rathaus, das leider im Zweiten Weltkrieg zerstört worden ist. Vereine wie der 1898 gegründete Haus- und Grundbesitzerverein Mahlsdorf-Süd, der Sportverein
„Eintracht", der Männerchor „Eintracht", beide bestehen heute noch, sowie der Theaterverein
„Königstal" beförderten die Urbanisierung des ehemaligen Dorfes und formten das Bild regen
gesellschaftlichen Lebens. 1905 folgte die Bildung eines sozialdemokratischen Wahlvereins und
1906 eines liberalen Bürgervereins als erste kommunalpolitische Organisationen.
Bei der Schaffung von Groß-Berlin 1920 wurde Mahldorf — es hatte mittlerweile (1919) 6118
Einwohner — Teil des Verwaltungsbezirks 17, Berlin-Lichtenberg. Nach der Inflation nahm die
Bau- und Siedlungstätigkeit einen neuen Aufschwung. Hier ist insbesondere die 1920 gegründete Siedlungsgenossenschaft „Lichtenberger Gartenheim" zu nennen, die auf dem 1919 von
der Stadt Lichtenberg erworbenen Rittergut 720 Parzellen in Mahlsdorf-Nord und 190 Parzellen in Mahlsdorf-Mitte schuf. Unter maßgeblicher Betreuung durch den bekannten Architekten Bruno Taut und den späteren Stadtbaurat von Berlin, Martin Wagner, entstand seit 1924
eine größere Anzahl von Doppel- und Einzelhäusern, die vorwiegend Arbeiter- und Kriegsteilnehmerfamilien ein eigenes Heim ermöglichten. Weitere Siedlungen — Eichenhof in Mahlsdorf-Süd seit 1928/29 und Elsengrund seit 1933/34 — entstanden auf den vom Wasserwerk
im Kaulsdorfer Busch trockengelegten ehemals feuchten Mahlsdorfer Wiesen südlich der Barnimkante. Mit der Errichtung eines neuen Bahnhofsgebäudes (1929—1931) und der Aufnahme des elektrischen Stadtbahnverkehrs (1930) konnte die Anbindung an das Berliner
Stadtzentrum sowie an die anderen Berliner Bezirke wesentlich verbessert werden.
Auf Fotos aus der NS-Zeit drängen sich auch in diesem Teil des vormaligen „roten Ostens" von
Berlin die Symbole und Erkennungszeichen des Regimes recht häufig ins Bild. In Vereinen und
(nicht verbotenen) Organisationen wurden die Leitungsfunktionen zumeist durch NS-Aktivisten oder durch Mitläufer besetzt. Gleichzeitig gab es aber auch in Mahlsdorf zumindest bis
Mitte der 30er Jahre einen nicht unbeträchtlichen Widerstand, insbesondere von Seiten der
Kommunisten. Aber auch noch später wurden Dokumente versteckt, Verfolgte verborgen.
Gleichzeitig wuchs die Wohnbevölkerung in Mahlsdorf auf 16 613 im Jahre 1933 und 19 744
im Jahre 1938. Das erforderte u. a. die Errichtung zweier Schulen, einer im nördlichen
(1935—1937) und einer im südlichen Siedlungsgebiet (1937), der zwei Kirchenbauten, die
Kreuzkirche 1936 in Mahlsdorf-Nord und das Theodor-Fliedner-Heim 1937 in MahlsdorfSüd, folgten.
Nach zahlreichen Zerstörungen durch den Bombenkrieg besetzte am 22. April 1945 die
Sowjetarmee den Ort kampflos. In den Jahren der DDR niemals ein „Zentrum des sozialistischen Aufbaus", blieb Mahlsdorf in den Jahren 1949 bis 1989 peripheres Wohn- und Siedlungsgebiet, und es fanden nur geringfügige strukturelle Verbesserungen statt: Neubau einer
Schule, Ergänzungsbau einer weiteren, Errichtung einer Kinder- und Säuglingsstätte, zweier
Kaufhallen, die jedoch die Auswirkungen langjähriger Mangel- und Kommandowirtschaft, der
Behinderung privatwirtschaftlicher Initiativen kaum ausgleichen konnten. Fehlende Baumaterialien hemmten dazu notwendige Erhaltungsmaßnahmen an Wohn- und Geschäftshäusern
sowie ebenfalls an öffentlichen Gebäuden. Der Initiative und dem über Jahrzehnte nicht erlahmenden Einsatz von Lothar Berfelde bzw. Charlotte von Mahlsdorf ist es jedoch zu verdanken,
daß das Mahlsdorfer Gutshaus bewahrt und in diesem Gebäude eine mittlerweile international
bekannte Gründerzeitsammlung errichtet wurde. Die Einwohnerzahl Mahlsdorfs hatte sich
seit Kriegsende wieder vermindert und belief sich im August 1990 auf 13 450.
416
Abb. 3: Mahldorfer Schule, Aufnahme um 1911
Heimatmuseum Hellersdorf
Nach der Wende im Herbst 1989 und dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland
1990 wurde Mahlsdorf—seit 1986 Ortsteil des Bezirks Hellersdorf—in den Prozeß der Veränderungen einbezogen. Ein Teil der Umstrukturierungen trägt allerdings einen ambivalenten
Charakter. Einerseits gingen bestehende Betriebe wie BAU OST in den Konkurs, andererseits
entsteht an der B15 ein 13 Hektar großer Gewerbepark, in dem einmal 1200 bis 1500 Menschen Arbeit finden sollen. Auf 12 Hektar errichtet die Firma Holz-Possüng einen Groß- und
Einzelhandelsmarkt. Kleinere private Geschäfte, die in der DDR unter einer gegenüber den
Staatshandelsläden schlechteren Warenbelieferung zu leiden hatten, sind derzeit infolge mangelhafter Kapitalausstattung und Arbeitsproduktivität gegenüber großen, aus den alten Bundesländern stammenden Handelsketten kaum mehr konkurrenzfähig.
Infolge der beträchtlich gestiegenen Immobilienpreise hat erneut eine rege Bautätigkeit eingesetzt, die aber nicht nur eine weitere Verdichtung der Bausubstanz und ein spürbares zusätzliches Bevölkerungswachstum mit sich bringt, sondern auch — gelegentlich entstellende — Veränderungen an historischen Gebäuden und einen beginnenden Bevölkerungsaustausch zur
Folge hat. So sollte das Mahlsdorfer Jubiläum u. E. nicht nur Jubelfest sein, sondern auch
Anlaß zu einer alle gesellschaftlichen Felder erfassenden Bestandsaufnahme. Die neu errungene Demokratie und der danach eingeführte Rechtsstaat machen das möglich.
Anschrift der Autoren:
Harald Kintscher, Mirower Straße 125, 12623 Berlin-Mahlsdorf/Süd
Dieter Winkler, Leiter des Heimatmuseums Hellersdorf,
Jenaer Straße 11, 12627 Berlin-Hellersdorf
417
„Widersprüchliches Ensemble von harmonischer Vielfalt" —
die Berliner Museumsinsel
Von Wolfgang Branoner
Auf der deutschen Auswahlliste für das Weltkulturerbe steht die Museumsinsel mit an oberster
Stelle. Im Dezember 1995 wird die Weltkulturerbe-Kommission deshalb in der deutschen
Hauptstadt tagen und dabei auch das einzigartige Denkmalensemble der Museumsbauten auf
der Spreeinsel aus eigener Anschauung kennenlernen. Nichts könnte den herausragenden kulturhistorischen Rang dieser Berliner Museen und Sammlungen besser illustrieren als ihre Aufnahme in das Schutzgut der weltweit bedeutendsten Monumente der Menschheit.
Die Erhaltung und Stärkung der Museumsinsel bildet für Berlin und die Bundesrepublik
Deutschland eine besondere Verpflichtung. Dies gilt sicher im besonderen Maße für die Berliner Denkmalpflege, liegt aber nicht zuletzt auch in der Verantwortung der Hauptstadtplanung
und der Kulturförderung durch Land und Bund. „Die Einmaligkeit der Berliner Museumsinsel", so schrieb einmal ein bekannter Berliner Kunsthistoriker, „liegt in der Qualität ihrer
Kunstwerke und in ihrem widersprüchlichen Ensemble von harmonischer Vielfalt." Dabei soll
es auch bleiben.
„Kulturforum" des 19. Jahrhunderts
Vor anderen Museumskomplexen in Europa zeichnet sich die Berliner Museumsinsel zunächst
durch ihre unvergleichliche Lage aus. Auf der nördlichen Inselspitze zwischen Spree und Kupfergraben gelegen und mitten in der Stadt im unmittelbaren topographischen Kontext des
gesprengten Schlosses entstanden und entwickelt, ist die Museumsinsel durch eine unverwechselbare naturräumliche und stadträumliche Einbindung geprägt. Insbesondere das antikisierende Alte Museum mit seiner kolossalen Säulenhalle und dem vorgelagerten Lustgarten
reflektiert — zusammen mit dem barocken Zeughaus und dem neubarocken Berliner Dom —
noch das durch den Palast der Republik unvollkommen ersetzte Berliner Stadtschloß. Vor
allem aber repräsentieren die zwischen 1824 und 1930 entstandenen fünf historischen
Museumsbauten und ihre Sammlungen ein Jahrhundert europäischer Museums- und Architekturgeschichte. Von dem klassizistischen Alten Museum (1824—28) Karl-Friedrich Schinkels bis zum neoklassizistischen Pergamonmuseum (1909—30) Alfred Messeis und Ludwig
Hoffmanns stehen die Solitärbauten der Insel für Hauptvarianten des Historismus in der
Museumsarchitektur des 19. Jahrhunderts.
Der räumliche Zusammenhang, die gemeinsame Insellage, einige Verknüpfungen durch Brükkenbauwerke und die teilerhaltenen Einfassungen durch umlaufende Kolonnaden erinnern an
den Friedrich August Stülers gemeinsam mit König Friedrich Wilhelm IV. entworfenen
„Masterplan" für den Ausbau der Insel zur „Freistätte für Kunst und Wissenschaft" (1841), der
eine Art Berliner „Kulturforum" des 19. Jahrhunderts entstehen ließ. Der Bau des Neuen
Museums (1843—55) und der denkmalhaft auf hohem Sockel mit Freitreppe erhabenen Nationalgalerie (1866—76) zeigen beide noch die Handschrift Friedrich August Stülers und des
königlichen Idealplans. Die Überquerung des Kupfergrabens und der Spree durch die Stadtbahn (1883) kreuzte auch die Museumsinsel und rückte das wilhelminische Kaiser-FriedrichMuseum (1897—1904, Ernst von Ihne) auf der Nordspitze etwas aus dem engeren Museumsverbund. Die monumentale Dreiflügelanlage des Pergamonmuseums schloß in unserem Jahr418
Die Berliner Museumsinsel heute. Archiv des Verfassers.
hundert die verbliebene „Baulücke" auf der Museumsinsel und orientierte sich mit ihrem riesigen Ehrenhof auf eine unrealisiert gebliebene Durchbruchachse in Richtung Universität. Den
im Lauf von rund 100 Jahren gewandelten städtebaulichen und architektonischen Leitbildern
verleihen die Solitärbauten der Museumsinsel sinnfällig Ausdruck. Zugleich aber wahren sie in
Gestaltung und Funktion den Zusammenhang der schon Generationen früher entworfenen
„Freistätte" auf der Museumsinsel.
„Italienischer Rationalismus und preußischer Klassizismus" —
der Entwurf zum Neuen Museum
Zum sichtbaren Zeichen, ja zum Wahrzeichen der nach dem Fall der Mauer aufgenommenen
Anstrengungen zur denkmalgerechten Erhaltung und Entwicklung des Museumskomplexes
sollten der geplante Wiederaufbau und der Erweiterungsbau des seit dem Krieg teilzerstörten
Neuen Museums von August Stüler werden. Zugleich stehen Programm und Ergebnis der
Wettbewerbsausschreibung aber auch für das denkmalpflegerische Anliegen, unserer Zukunft
eine Vergangenheit zu sichern. Ging es doch mit dem Entwurf zur Arrondierung des Denkmalensembles durch einen sechsten Museumsneubau immer auch um die ergänzende Schließung
der letzten Kriegsruine auf der Museumsinsel, also um einrichtigverstandenes Wiederaufbaukonzept für das seit zwei Generationen fragmentierte Neue Museum.
419
Das Wettbewerbsergebnis kann sich sehen lassen. Das eindeutige Votum für den ersten Preisträger, Giorgio Grassi aus Mailand, ist ein Gewinn, für die Denkmalpflege ebenso wie für die
Staatlichen Museen. Aber auch aus städtebaulicher Sicht zeigt der siegreiche Entwurf richtige
Entwicklungsperspektiven für die Berliner Mitte auf. „Italienischer Rationalismus und preußischer Klassizismus", so der Juryvorsitzende, Professor Max Bäcker aus Darmstadt, „vertragen
sich nicht schlecht an diesem Ort und ergänzen einander gut. Die disziplinierte Haltung in
Grassis Projekt wird verstanden. Gerade sie hatte einmal eine gute Tradition in Berlin. Der
zurückhaltend spröde Entwurf birgt aber weit mehr, als es auf Anhieb erkennen läßt. Es geht
nicht um die äußere Form, sondern um eine Geisteshaltung." Die intelligent und sensibel vom
Denkmalbestand abgesetzte Reparatur des Neuen Museums und sein vorgelagerter Erweiterungsbau am Kupfergraben wahren die Tradition der Museumsinsel und schreiben sie mit Mitteln einer zeitgenössischen Architektur in das kommende Jahrhundert fort.
Anschrift des Verfassers: Staatssekretär Wolfgang Branoner
Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umweltschutz
Lindenstraße 20, 10969 Berlin-Kreuzberg
Gartenarchitekt Ludwig Lesser (1869-1957)
Von Ingolf Wernicke
Ludwig Lesser war der erste freischaffende, ausschließlich planerisch tätige Gartenarchitekt in
Deutschland. Zu seinen größten städtebaulichen Projekten in Berlin und Umgebung gehörten
die Gestaltung der Plätze und Grünanlagen der Villenkolonien „Gartenstadt Frohnau", Zehlendorf-Grunewald, Zehlendorf-West, der Landhaussiedlung Saarow-Pieskow, der Gartenstädte Staaken und Falkenberg, der Weißen Stadt in Reinickendorf sowie der Bahnhofvorplätze von Hermsdorf und Wittenau. Er entwarf zahlreiche Heilstättenparks in der Mark Brandenburg, in Thüringen, Pommern, im Harz und im Riesengebirge, ferner Sportplätze, Friedhöfe und Familiengrabstätten, Ausstellungsanlagen sowie Hotel- und Restaurationsgärten. Bis
1933 gestaltete Ludwig Lesser ca. 700 Privatgärten im Inland und im Ausland. Am eindrucksvollsten lassen sich die Spuren seiner Arbeit heute noch in Berlin-Frohnau verfolgen.
Das Grünsystem Frohnaus
Im Jahre 1907 kaufte Guido Graf Henckel Fürst von Donnersmarck von Baron Werner von
Veitheim-Schönfließ 3000 Morgen Wald der Stolper Heide und überließ den Grundbesitz der
ihm unterstehenden Berliner Terrain-Centrale GmbH in der Absicht, eine Gartenstadt zu
errichten. Nach der Ausschreibung eines Wettbewerbs zur städtebaulichen Planung im Jahre
1908 wurde die Anlage der Gartenstadt Frohnau (= „Frohe Aue") von den Gewinnern, den
Charlottenburger Architekten Joseph Brix und Felix Genzmer, verwirklicht. Das gesamte
Grünsystem, die gartenarchitektonische Anlage der Plätze und die Bepflanzung der Straßen
und Alleen, wurde von Ludwig Lesser konzipiert, der 1908 zum Gartendirektor der Berliner
Terrain-Centrale GmbH ernannt worden war.
420
Porträt Ludwig Lesser
(um 1930).
Archiv Heimatmuseum
Reinickendorf
Das Zentrum der Gartenstadt wird durch den Ludolfingerplatz und Zeltinger Platz (ehemals
Bahnhofs- und Cecilienplatz) gebildet. Über die bis zur Einweihung der Gartenstadt im Jahre
1910 fertiggestellten Anlagen schrieb Ludwig Lesser: „Beide Plätze fügen sich nach außen hin
in das zukünftige Stadtbild und in das Straßennetz organisch ein. Sie bieten fernerhin dem eiligen vom Bahnhof kommenden Fußgänger einen möglichst direkten Weg in die Kolonie hinein.
Andererseits soll ihre innere Aufteilung, trotz dieser unbedingt notwendigen Zugeständnisse an
den Verkehr, möglichst zusammenhängende, ruhige Flächen bilden. Aus diesem Grunde wurde
auch der Fuhrwerksverkehr für beide Plätze außen herumgelegt."
(Ludwig Lesser, Die Platzanlagen in Frohnau. In: Die Bauwelt 1910, Nr. 28, S. 13)
Weitere Arbeiten Lessers in Frohnau sind der in seiner Grundform architektonisch gestaltete
Rosenanger, der Poloplatz, der als Teil eines großen Sport- und Erholungsparks konzipiert war
und von einer vierreihigen Roßkastanienallee umsäumt wird, sowie der Waldfriedhof in der
Hainbuchenstraße. Als repräsentative Grünanlage am Eingang der Villenkolonie schuf Ludwig Lesser den Edelhofdamm (damals Kaiserpark). Ein bis heute erhaltener mit Ziegeln
gedeckter Unterstand, Blumenrabatten und Kübel mit geschnittenen Eiben empfingen die
Besucher, die vom Oraniendamm her nach Frohnau hineinfuhren, und vermittelten bereits am
Eingang der Siedlung den Eindruck einer „Stadt im Grünen".
421
Gartenstadt Frohnau
Die Grünanlagen des Ludolfingerplatzes (ehemals Bahnhofsplatz)
Archiv Heimatmuseum Reinickendorf
Die Alleen der Gartenstadt, die sich von Anfang an zu einer Villenkolonie für Bessergestellte
entwickelte, bepflanzte Ludwig Lesser zwischen 1908 und 1910 mit 10 000 aus Holland importierten Bäumen, jede Straße mit einer anderen Art. Dadurch ergaben sich unterschiedliche
Stimmungsbilder, die bis heute den Charakter Frohnaus ausmachen.
Biographie und Hauptschaffensperiode Ludwig Lessers
Ludwig Lesser wurde 1869 in der Nähe des Potsdamer Platzes geboren und wuchs im Herzen
der sich entwickelnden Metropole Berlin auf. Sein gleichnamiger Großvater war ein bekannter
Theaterkritiker, Hymnendichter und Poet der Berliner Gesellschaft in der Mitte des 19. Jahrhunderts Er unterzeichnete mit 30 weiteren Personen 1845 einen Aufruf, der zur Gründung
der Jüdischen Reformgemeinde zu Berlin führte.
Als junger Mann sammelte Ludwig Lesser von 1883 bis 1893 bei zahlreichen Gärtnereien,
Samenhandlungen, Hoflieferanten und Blumenversandbetrieben im Inland und Ausland
seine beruflichen Erfahrungen. 1890/91 absolvierte er seine Militärausbildung beim Gardeschützenbataillon Lichterfelde. Nach seiner Tätigkeit als Landschaftsgärtner in einer eigenen
Gärtnerei in Freiburg im Breisgau von 1893 bis 1902 kehrte er wieder nach Berlin zurück. Seit
1908 arbeitete Ludwig Lesser nur noch als entwerfender Gartenarchitekt und unterhielt ein
eigenes Planungsbüro in seinem Haus in der Humboldtstr. 8 (heute Seierweg) in BerlinSteglitz. Seine Hauptschaffensperiode erstreckte sich von 1902 bis 1933.
422
Gartenstadt Frohnau
Zeltinger Platz (ehemals Cecilienplatz) mit Pergola
Archiv Heimatmuseum Reinickendorf
„Gebt Gärten" lautete der programmatische Titel eines von Ludwig Lesser 1920 verfaßten
Gedichtes, das sein soziales Engagement widerspiegelt, das er noch deutlicher in seinem Werk
„Volksparke heute und morgen" (1927) zum Ausdruck bringt. Aus seiner Jugendzeit in Berlin
kannte Ludwig Lesser die Lebensverhältnisse in den Hinterhöfen der Mietskasernen. Er wollte
zur Verbesserung der Situation der Menschen beitragen und propagierte öffentlich die Volksparkidee. Während die Stadtparks und Plätze der wilhelminischen Zeit auf dekorativen Wirkungen bedacht und zum „Spazierengehen" eingerichtet waren, forderte Ludwig Lesser 1910
auf dem 33. Brandenburgischen Städtetag in Landsberg a. W. die Anlage öffentlicher Volksparks für jede Stadt und jede Gemeinde. Sie sollten als öffentliche Parkanlagen mit schattigen
Alleen, sonnigen Spielwiesen, Wasserflächen, Trinkbrunnen, Unterkunftshallen, Abortanlagen, einem Musiktempel, Turnplätzen, Tiergehegen u. a. ausgestattet sein.
Während der Weimarer Republik arbeitete er als Dozent bei verschiedenen Institutionen wie
z. B. einige Jahre lang am Deutschen Archiv für Siedlungswesen. Von 1925 bis 1933 leitete
Ludwig Lesser die Abteilung Landwirtschaft und Gartenbau bei der Funkstunde A.G. Berlin.
Er erhielt zahlreiche Ehrenpreise und Auszeichnungen und gehörte verschiedenen Gesellschaften und Fachverbänden, zum Teil auch als Ehrenmitglied, an. Von 1923 bis 1933 war er
Präsident der Deutschen Gartenbau-Gesellschaft, die 1822 als Verein zur Beförderung des
423
Gartenbaus im Preußischen Staat gegründet und 1909 in DGG umbenannt wurde und in deren
Mitgliederlisten man Namen wie Alexander und Wilhelm von Humboldt, Dr. Carl Bolle, Peter
Joseph Lenne, die Familien Borsig, von Siemens, von Hardenberg u. a. wiederfindet.
Verfolgung, Emigration, Exil
Die Machtübernahme Hitlers 1933 beendete schlagartig die berufliche Karriere Ludwig Lessers. Da seine Großeltern Juden waren, wurde er seiner Ämter und beruflichen Tätigkeiten
enthoben und mußte sein Planungsbüro auflösen. Er mußte 1933 als Präsident der Deutschen
Gartenbau-Gesellschaft zurücktreten und wurde aufgrund der Bestimmungen des Gesetzes
zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums am 31. Mai 1933 als langjähriger Dozent der
Humboldt-Hochschule (Freie Volkshochschule in der Königin-Augusta-Straße 15 in Berlin
W 9) entlassen.
Als Verfolgter des NS-Regimes wurde er von einem Tag zum anderen aus dem beruflichen und
öffentlichen Leben ausgeschlossen, was für ihn auch den Wegfall jedweder finanzieller Einnahmen bedeutete. Nach den NS-Rassegesetzen galt der christlich getaufte und konfirmierte Ludwig Lesser als „Volljude" und mußte 1939 den zusätzlichen Namen „Israel" annehmen. Mit
Hilfe seines Sohnes Rudolf konnte er im gleichen Jahr nach Schweden emigrieren, was ihn vor
weiteren Verfolgungen in Deutschland bewahrte. Am 25. November 1941 wurde ihm die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt.
In Schweden erhielten er und seine Frau Anna 1948 die schwedische Mitbürgerschaft,
wodurch ihnen automatisch eine kleine Staatsrente gewährt wurde, die ihren Lebensunterhalt
sicherte. Ludwig Lesser widmete sich noch im hohen Alter gartenbautechnischen und gartenwissenschaftlichen Studien. Er publizierte Aufsätze in skandinavischen, aber auch in deutschen Fachzeitschriften wie der „Neuen Berliner Gärtnerbörse". Er wurde 1949 Ehrenmitglied der „Deutschen Gesellschaft für Gartenkunst und Landschaftspflege" und 1955 der
„Stockholmer Gärtnergesellschaft". Bis zu seinem Tod im Jahre 1957 lebte er auf einem Bauernhof bei Vallentuna, 30 km nördlich von Stockholm, ohne daß er Deutschland jemals wieder
besuchte. Ein bis zuletzt gehegter Wunsch Ludwig Lessers, als langjähriger Präsident der Deutschen Gartenbau-Gesellschaft Ehrenmitglied der sich 1955 neu konstituierenden Gesellschaft
zu werden, erfüllte sich nicht mehr.
1958 wurde in Frohnau anläßlich seines 1. Todestages der Sport- und Erholungpark in „Ludwig-Lesser-Park" umbenannt.
Das Heimatmuseum Reinickendorf würdigt in einer Ausstellung, die bis zum 13. August 1995
gezeigt wird und in Zusammenarbeit mit der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und
Umweltschutz produziert wurde, das Leben und Werk Ludwig Lessers. Unter dem Titel „ Ludwig Lesser (1869—1957). ErsterfreischaffenderGartenarchitekt und seine Werke in BerlinReinickendorf" ist eine Publikation erschienen, die als Projekt des Referats Gartendenkmalpflege dieser Senatsverwaltung gefördert und finanziert wurde. Die von der Urenkelin Ludwig
Lessers, Frau Katrin Lesser-Sayrac, verfaßte Broschüre enthält ein umfassendes Werk- und
Publikationsverzeichnis mit einer Auflistung aller entworfenen Gartenanlagen Ludwig Lessers.
Anschrift des Verfassers: Dr. Ingolf Wernicke, Leiter des Heimatmuseums Reinickendorf,
Alt-Hermsdorf 35, 13467 Berlin-Hermsdorf
424
Abb. 1: Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche, Luftaufnahme um 1940 mit dem 1. (unten links) und
dem 2. (oben rechts) Romanischen Haus. Postkarte.
Heimatarchiv Charlottenburg
Ein vergessener Brunnen
an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche
Von Gisela Scholtze
Fast alle Berliner und die meisten Berlinbesucher kennen den offiziell „Weltkugelbrunnen"
heißenden, vom Volkswitz „Wasserklops" genannten Brunnen vor dem Europa-Center. Sehr
viel weniger Menschen können sich noch aus eigener Anschauung daran erinnern, wie es rund
um die Kirche vor dem Zweiten Weltkrieg aussah, als der Platz noch nach der Kaiserin Auguste
Viktoria benannt war und dort, wo heute das Europa-Center die Kirchturmruine überragt, das
zweite Romanische Haus mit seinem berühmten Cafe stand und genau gegenüber sein Pendant
mit dem „Gloria-Palast" und dem Cafe Trumpf. Aber kaum jemand weiß heute noch, daß es
genau dort, also vor dem ersten Romanischen Haus, zwischen Kurfürstendamm und Kantstraße auch einmal einen Brunnen gegeben hat. Das ist allerdings schon sehr lange her.
Was war das für ein Brunnen? Wer hatte ihn geschaffen? Wo ist er geblieben?
Seine Geschichte ist so eng verknüpft mit der des ersten Romanischen Hauses und mit der
Gestaltung des Platzes, der 1947 nach Rudolf Breitscheid benannt wurde, daß dies alles mit
einbezogen werden muß. Franz Schwechten (1841 bis 1924), der Erbauer der 1895 feierlich im
Beisein des Kaiserpaares eingeweihten Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche (dem Andenken
Kaiser Wilhelms 1. gewidmet), berichtet in seiner Lebensbeschreibung, er habe, um der Kirche
eine geeignete Umgebung zu verschaffen, auf Anregung des Kaisers zunächst 1893 bis 1896
425
Abb. 2 : 1 . Romanisches Haus mit Rolandsbrunnen um 1900. Foto: Heimatarchiv Charlottenburg
gegenüber dem Hauptportal der Kirche das erste Romanische Haus erbaut, dem später auf der
gegenüberliegenden Seite das zweite gefolgt sei. Das Schicksal dieser Gebäude ist hinlänglich
bekannt. Beide hatten über die Stadtgrenzen hinaus Berühmtheit erlangt, das eine durch das
„Romanische Cafe", das andere durch das Filmtheater „Gloria-Palast". Beide wurden wie die
Kirche im Zweiten Weltkrieg schwer beschädigt, ihre Ruinen nach Kriegsende abgetragen.
Bei der Errichtung des ersten Romanischen Hauses hatte Schwechten, um die Kirche ausreichend zur Geltung zu bringen, sehr viel Platz „verschenkt", indem er zirka sieben Meter hinter
der zulässigen Baufluchtlinie zurückblieb. Dies und die sehr aufwendig gestaltete Fassade
machten das Gebäude zu einem sehr teuren Objekt. Die Baukosten beliefen sich auf die für
damalige Zeiten immense Summe von annähernd 1600 000 Mark. Entsprechend hoch waren
die Mieten der sehr großen Wohnungen. Eine Quelle berichtet von Jahresmieten um 25 000
Mark, eine andere von Monatsmieten um 7000 Mark. Eigentümer von Haus und Grundstück
war seit 1894 der Landschaftsmaler Bodenstein, der schließlich in Finanzierungsnöte geriet
und den Besitz 1910 an einen Interessenten verkaufte, der mit Schwechten auf dem Nachbargrundstück in der Kantstraße den Bau eines Romanischen Hotels plante. Bei dieser Gelegenheit wurde das Erdgeschoß des Romanischen Hauses zu einem Restaurant ausgebaut. Der seinerzeit von Schwechten „verschenkte" Baugrund gehörte selbstverständlich als sogenannter
Vorgarten zu dem Grundstück und war von einem schmiedeeisernen Zaun umschlossen.
Innerhalb dieser Umfriedung hatte um 1900 ein Brunnen Aufstellung gefunden.
426
Abb. 3: Riesenburg (Westpr.), Markt mit Rolandsbrunnen. Aus: Erinnerungen an Riesenburg.
Abb 4- Der Rolandsbrunnen in Prabuty (Riesenburg) - heute seines Rolands beraubt. Postkarte.
Privatbesitz
427
Abb. 5: 1. Romanisches Haus, 1942, mit Gloria-Palast und Cafe Trumpf. Auguste-Viktoria-Platz,
Kurfürstendamm.
Heimatarchiv Charlottenburg
Auf der Gewerbeausstellung 1896 hatte Schwechten seinen Entwurf zu diesem Brunnen vorgestellt: Inmitten einer großen Brunnenschale erhob sich ein von vier Löwen umgebenes
Podest mit drei weiteren übereinander angeordneten Schalen jeweils kleineren Umfangs, von
denen die oberste eine Rolandsfigur trug. Schwechten hatte offenbar eine große Vorliebe für
Symbolik, darum also ein Roland, der im Mittelalter Sinnbild für den Königsfrieden, das
Marktrecht und die Gerichtsbarkeit war. (Aus dem Mittelalter stammen ja die an manchen
Orten erhalten gebliebenen Rolandsfiguren.) Schwechtens Rolandbrunnen war es also, der in
dem von dem Eigentümer des Restaurants „Regina-Palast" genutzten Vorgarten stand. Die
Gäste konnten in unmittelbarer Nähe des Brunnens ihre Mahlzeiten einnehmen. Doch nur
rund 30 Jahre blieb der Brunnen dort. 1928 verschwand er wieder. Warum und wohin? Dazu
muß man sich in Erinnerung rufen, daß die Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche ursprünglich
auf einer Verkehrsinsel stand, um die herum sich der gesamte Straßenverkehr bewegte, Straßenbahnen inbegriffen. Schon 1894 wurden, wie aus einem in der Akte des Tiefbauamtes
befindlichen Briefwechsel hervorgeht, Bedenken laut, ob die Straßen breit genug seien, den
Verkehr aufzunehmen. Damals wurden diese Bedenken zerstreut. 1928 war das anders. Zweifellos hatte sich in den verflossenen drei Jahrzehnten der Straßenverkehr deutlich vermehrt.
Jedenfalls ging man nun daran, die die Kirche umgebenden Straßen zu verbreitern. In einem
ebenfalls in der Akte des Tiefbauamtes befindlichem Schriftstück wird von einer Sitzung des
Haushaltsausschusses berichtet, in der über die Kosten beraten wurde, die der Erwerb des Vorgartengeländes und die Beseitigung des Brunnens verursachen würden. Die Dringlichkeit der
428
Straßenverbreiterung werde zwar anerkannt, heißt es da, aber man wolle die benötigten Mittel
erst bewilligen, wenn diese Fragen geklärt seien. Für den Verbleib des Brunnens hatte sich eine
Lösung gefunden. Er wurde nämlich 1928 an die Stadt Riesenburg in Westpreußen verkauft.
Auch im Romanischen Haus gab es in diesen Jahren mancherlei Veränderungen. 1930 etablierte sich in den Räumen des 1. und 2. Obergeschosses, die bis dahin die Firma J. C. Pfaff
innegehabt hatte, das Filmtheater „Gloria-Palast", das als Uraufführungskino bald von sich
reden machte. Im Erdgeschoß nahm das Cafe Trumpf die Räume des Restaurants ein und
baute auf dem Rest des alten Vorgartens eine Schankveranda. Nichts davon steht mehr.
Und der Brunnen? Er hat als einziger die Zeiten überdauert. Er steht — zwar etwas ramponiert
— noch immer an seinem Platz in der Stadt Riesenburg, die inzwischen ihren Namen geändert
hat. Sie heißt heute Prabuty.
Anschrift der Verfasserin:
Gisela Scholtze, Leiterin des Heimatarchivs Charlottenburg
Otto-Suhr-Allee 100, Zimmer 426 f, 10585 Berlin
Rezensionen
Von Moskau nach Berlin. Bilder des russischen Fotografen Jewgeni Chaldej, hrsg. von Ernst Volland
und Heinz Krimmer, Berlin: Nicolaische Verlagsbuchhandlung 1994, 138 Seiten.
Aus der Kriegs- wie Nachkriegsfotografie sind die Bilder des russischen Fotoreporters Jewgeni Chaldej nicht fortzudenken. Viele Menschen haben seine Bilder beeindruckt, allerdings ist bei der Veröffentlichung nicht immer sein Name genannt worden. Die wohl am meisten bekannt gewordene Aufnahme des Militärberichterstatters stammt vom 2. Mai 1945, als er am frühen Morgen dieses Tages
einen Rotarmisten mit einer roten Fahne auf dem Dach des Reichstages fotografierte. Chaldej hat
dort einen ganzen Film verknipst und ist unmittelbar danach in Richtung Moskau geflogen, wo das
berühmt gewordene Bild sofort veröffentlicht wurde. Es ging um die Welt und ist bis heute für viele
das symbolische Bild für das Ende des Zweiten Weltkrieges und damit des nationalsozialistischen
Regimes.
Bereits in seiner Kindheit mußte der 1917 geborene Junge die Erfahrung machen, daß es Pogrome
gegen die jüdische Bevölkerung in Rußland gab. Seine jüdische Mutter wurde bei einem dieser Judenpogrome ermordet. Sie hatte ihn auf dem Arm, als sie von einer Kugel durchbohrt wurde, die ihn noch
streifte. Sein Vater und drei Schwestern sind nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf die
Sowjetunion 1941 umgebracht worden.
Mit 13 Jahren bekam er seine erste Kamera, eine russische Leica. Seit 1936 war er Fotoreporter bei der
sowjetischen Nachrichtenagentur TASS, für die er den Zweiten Weltkrieg seit dem 22. Juni 1941, als
das nationalsozialistische Deutschland sein Heimatland überfiel, dokumentierte. Er war als Soldat ein
Teil der Truppe und mit der Kamera Zeuge vieler Schlachten, so auch der „Schlacht um Berlin". Das
erste Bild mit einem Motiv aus Berlin stammt vom 30. April 1945 und zeigt sowjetische Panzer in der
Kreuzberger Yorckstraße. Einen Tag darauf war er bei der Verhandlung über die Kapitulation der
Berliner Garnison im Haus Schulenburgring 2 in Neu-Tempelhof dabei. Zwei Bilder zeigen den
Generalstabschef Krebs vor dem Haus. Vermutlich ist er der einzige noch lebende Zeitzeuge dieses für
das Kriegsende in Berlin wichtigen Ereignisses.
Chaldej hat im Berlin des Jahres 1945 viele weitere Aufnahmen gemacht, so z. B. eines vor dem Flughafen Tempelhof, auf dem zu sehen ist, wie ein totes Pferd „ausgeschlachtet" wird. Bereits im April
1945 entstand eine weitere Aufnahme, die direkt mit dem Flughafen zu tun hat: Der Fotograf hißte
eine rote Fahne am Reichsadler, der damals noch die Eingangshalle des Flughafens „zierte". (Der
heute auf dem Platz der Luftbrücke aufgestellte Adlerkopf ist ein Fragment dieser Skulptur.)
Chaldej war auch Berichterstatter der Potsdamer Konferenz sowie des Nürnberger Prozesses. Der
heute in Moskau lebende Mann arbeitete mit Unterbrechungen bis in die siebziger Jahre für die TASS
und die „Prawda".
Jewgeni Chaldej ist ein Künstler für den „zum Stillstand gebrachten Augenblick", der sich noch heute
an die Entstehungsbedingungen seiner Bilder erinnern kann.
Dr. Kurt Schilde
429
Regina Müller. Das Berliner Zeughaus. Die Baugeschichte. Hg. vom Deutschen Historischen
Museum, Berlin: Brandenburgisches Verlagshaus 1994, 344 S., 292 Abb., 128 DM.
Rechtzeitig, noch vor dem 300. Jahrestag des Baubeginns am Berliner Zeughaus (1695), liegt ein
repräsentiver Band vor, der — wie der Untertitel aussagt — der Baugeschichte, der Darstellung der
Architektur und der Bauplastik dieses für Norddeutschland einmaligen Barockbaus gewidmet ist.
Zugleich hat die Autorin, eine ehemalige Mitarbeiterin des Museums für Deutsche Geschichte, parallel dazu eine fast gleichwertige „Nutzungsgeschichte" gegeben, einen instruktiven Überblick über die
wechselvolle Bestimmung dieses „Prachtgebäudes" (Heinrich Heine) in Berlins Mitte, von den
Anfängen bis in die Gegenwart.
Die Arbeit basiert auf einer gründlichen Auswertung der umfänglichen Literatur (Verzeichnis
S. 317—327) und vor allem auch archivalischer Quellen (vgl. S. 328), die sich überwiegend im Zeughausarchiv befinden. Dadurch gelingt es, der im allgemeinen wie im Detail bekannten Geschichte des
Hauses weitere Erkenntnisse hinzuzufügen und für das 20. Jahrhundert auch völlig neue Kapitel zu
formulieren.
Der Inhalt ist übersichtlich in drei Hauptabschnitte gegliedert. Die Bau- und Nutzungsgeschichte für
den Zeitraum von 1695 bis 1876 nimmt zu Recht etwa die Hälfte der Darstellungen ein. Ausgehend
von der Idee zum Bau, die Kurfürst Friedrich Wilhelm bereits 1667 entwickelte (S. 17), werden die
ersten Bauherren, Kurfürst (König) Friedrich und König Friedrich Wilhelm, sowie die ersten großen
Baumeister, J. A. Nering, M. Grünberg, A. Schlüter, J. de Bodt, mit ihren jeweiligen Anteilen am
Weiden des Baus und die Leistungen unter der Militärverwaltung gewürdigt. Architektur und insbesondere die weltbekannte Bauplastik sind eingehend beschrieben und dokumentiert. Die „Nutzung"
wandelte sich vom reinen Waffenarsenal des Soldatenkönigs (1732) über die Königliche Waffen- und
Modellsammlung und dem Intervall Gewerbeausstellung (1844) zum Museum und Denkmalsbau
(1876).
Die wichtigsten äußeren Ereignisse, die Plünderungen von 1760 und 1806, der Zeughaussturm im
Juni 1848 finden ebenso angemessen Berücksichtigung wie die Restaurierungsarbeiten nach 1815.
Der zweite Abschnitt (1877—1945) behandelt die Ein- und Umbauten (G. F. Hitzig) mit der „Ruhmeshalle der brandenburgisch-preußischen Armee", ihrer Bild- und Skulpturenausstattung, vor
allem aber die spezifische Rolle des Königlichen, nach 1918 Staatlichen Zeughauses, schließlich des
„Heeresmuseums der Wehrmacht" vor und während beider Weltkriege. Es konnte kaum überraschen, daß die Alliierte Kommandantur von Berlin am 18. Oktober 1945 beschloß, das „Kriegsmuseum, Zeughaus in Berlin, das ein Symbol des deutschen Militarismus und eine Sammlung von
Kriegstrophäen, die durch Raub und Plünderung erworben wurden, darstellt, zu liquidieren"
(S. 250).
Wie das Gebäude dessenungeachtet und trotz des ruinösen Zustandes überlebte, wiederaufgebaut
und 1952 bis 1990 einer neuerlichen, wie auch immer inhaltlich neu konzipierten Bestimmung als
„Museum für Deutsche Geschichte" zugeführt wurde, erfährt der Leser im dritten Abschnitt. Hier
werden das Wirken von Politikern wie F. Friedensburg und P. Wandel ebenso geschildert wie die Leistungen der Architekten und Baumeister (W. Harting, O. Haesler, K. Völker, P. Neumayr u. a., R.
Hörn für die Wiederherstellung der Bauplastik) und die beteiligten Betriebe: „eine denkmalpflegerische Leistung unter den Bedingungen der Nachkriegszeit" (S. 285).
Ebenso ausgewogen und treffend weiß die Verfasserin die Arbeit des Museums für Deutsche
Geschichte zu bewerten (S. 288—291).
So bleiben dem Rezensenten wenige kritische Anmerkungen: es ist nicht immer verständlich, warum
zuweilen aus zweiter Hand zitiert wird. Das Wort „Zeitabschnitt" bei den Lebensdaten A. Meusels
(S. 288) ist überflüssig. Da sonst kaum Druckfehler vorkommen: Ehrenmahl (S. 244) ist peinlich, und
Lea Grundig ist geb. Langer (S. 315—340).
Der gut lesbare, ansprechend formulierte Text wird in allen Abschnitten durch sorgfältig ausgewählte
Abbildungen (Verzeichnis S. 329—337), die durchweg qualitätsvoll reproduziert und plaziert sind,
ergänzt, so daß ein rundum anschauliches, dem Gegenstand angemessenes Bild des Jubiläumsbaus
vor uns hegt. Dafür ist vor allem der Verfasserin zu danken, deren Erstling das Brandenburgische Verlagshaus mit einer ansprechenden editorischen Leistung auf den Weg gebracht hat. Gleichzeitig
erschien im Verlag der gleichgewichtige Band von Heinrich Müller: Vom Arsenal zum Museum.
Professor Dr. Ingo Materna
430
Klaus-Dietrich Gandert, „Vom Prinzenpalais zur Humboldt-Universität. Die historische Entwicklung des Universitätsgebäudes in Berlin mit seinen Gartenanlagen und Denkmälern", 123 Abbildungen, Skizzen und Bauzeichnungen, Anmerkungen, Personen- und Literaturverzeichnis, Übersicht über Denkmäler, Gedenktafeln und Gipsabgüsse, Berlin: Hentschelverlag/Kunst und Gesellschaft 1989, 200 Seiten.
In zweiter Auflage ist die Geschichte der Berliner Universität erschienen, die 1985 erstmals publiziert
wurde. In Inhalt und Abfolge ist sie bis auf geringfügige Abweichungen in der Formulierung gleichgeblieben. — Beide Male wird die Wiederaufbauleistung — wie nicht anders zu erwarten — als eine
außerordentliche im DDR-Staat bezeichnet: die Humboldt-Universität stehe auf der Höhe geistigen
Lebens! — In der 2. Auflage fehlt die Abbildung der Glasfenster von Womacka in der Aula, auf der
triptychonartig der Sieg der Wissenschaften, gestützt auf Partei, Arbeiter- und Bauernschaft, gefeiert
wird; dafür stehen Büsten von Hegel, Einstein und Thaer und Brugsch. Auch der Senatssaal hat sich
geringfügig verändert. Die Darstellung hat sich bewußt auf die Baugeschichte beschränkt, die
Geschichte ihrer Gelehrten und Studenten bleibt bis auf wenige Namen außen vor. Gemäß der Titelformulierung ist es ein Sichauswachsen vom königlichen Palais, einst großartig konzipiert und doch
dürftiger ausgeführt, zur Lehrstätte mit ihren Neu- und Anbauten, ihren Ergänzungsperioden. Sie
stand lange — bis um die Jahrhundertwende — unter dem Gesetz der Dürftigkeit und des Sich-Behelfen-Müssens. Diese Glanzzeit war nur kurz. Fotos vom zerstörten Gebäude zeigen dies erschütternd.
Bisher weniger bekannt ist die Geschichte des Grundstücks und die der Einzelheiten, wie das Prinzenpalais planerisch in das Ensemble des Friedrichsforums eingebettet wurde. Ausführlich werden die
60er Jahre gewürdigt; es blieb das Prinzip erhalten, die Fassadenarchitektur als ein Teil des Ganzen zu
bewahren. Der Gartenhof wird in seiner wechselnden Gestalt und Nutzung beschrieben, desgleichen
die Vorgärten mit ihren Denkmälern und der bauplastische Schmuck. Somit wird Vollständigkeit
erreicht; der ideologische Bezug ist zurückhaltend.
Christiane Knop
Aus den Berliner Museen
Akademie der Künste: „1945. Krieg — Zerstörung — Aufbau. Architektur und Stadtplanung
1940—1960". Die städtebauliche Ausstellung stellt in dem teilzerstörten Gebäude der ehemaligen
Preußischen Akademie der Künste, nach 1937 Sitz der Generalbauinspektion Albert Speers, dessen
Planungen für die „Zeit nach dem Kriege" sowie die wirklichen Nachkriegsplanungen im Westen und
Osten gegenüber. Dabei werden im Zeitraum 1940—1960 Positionen und Konflikte deutlich, deren
Auswirkungen bis heute reichen. Noch bis 13. August. Pariser Platz 4. Berlin-Mitte. Täglich 10 bis 19
(Mo ab 13) Uhr.
Am 3. Juni stellte die Akademie der Künste den Künstlerhof Buch im Bezirk Pankow der Öffentlichkeit vor. Der 270 Jahre alte Gutshof beherbergte von 1979 bis 1990 das „Büro für architekturbezogene Kunst der DDR" und ist zwischenzeitlich vom Bund Bildender Künstler (BBK) genutzt worden.
Seit Anfang 1995 befindet sich der Hof in der Trägerschaft der Akademie der Künste. Deren Ziel ist
es, den Künstlerhof Buch in den kommenden Jahren als interdisziplinäres Arbeits- und Veranstaltungszentrum für Künstler der verschiedensten Sparten auszubauen.
U.
Alte Nationalgalerie: „Johann Gottfried Schadow und die Kunst seiner Zeit". Bei der Besprechung
des aus unserer Sicht bedeutendsten Ausstellungsereignisses dieses Jahres können wir uns kürzer fassen, als es dem Anlaß angemessen wäre. Es zeigt sich hier nämlich ein weiteres Mal die hohe wissenschaftliche Qualität unserer MITTEILUNGEN: Wir blättern einfach zurück und rufen uns das an
dieser Stelle über Schadow bereits Gesagte in die Erinnerung. Gleich im zweiten und dritten Heft der
neuen Folge (1965) griff unser langjähriges Mitglied Professor Dr. Irmgard Wirth zur Feder, um ihre
anläßlich eines am 23. Februar 1965 vor unserem Verein gehaltenen Vortrages geäußerten Erkenntnisse über diesen bedeutendsten Bildhauer des deutschen Klassizismus niederzuschreiben. Seinerzeit
fand die letzte große Einzelausstellung über Schadow aus Anlaß der 200. Wiederkehr seines Geburtstags am selben Ort statt. Irmgard Wirth resümierte, daß Schadows Ruhm schon früh von einem Jüngeren, Christian Daniel Rauch, in den Schatten gestellt wurde. Die Vortragende bezeichnete Rauch, der
ein Jahr lang Schadows Schüler gewesen war, in diesem Zusammenhang als „aufgehenden Stern am
431
Berliner Kunsthimmel", der in seiner idealistischen Kunstauffassung dem Architekten Schinkel und
damit dem König im Grunde besser entsprochen habe als der realistischere Schadow, der als Weggenosse Erdmannsdorffs und Langhans' vom spätbarocken Klassizismus ausgehend näher zur schlichten Wiedergabe der Natur gefunden hatte. Gleichwohl müsse man Schadow nach Schlüter als stärksten Eckpfeiler der berlinischen Bildhauerkunst bezeichnen. Schließlich habe er mit Langhans und
Gilly entscheidend am Beginn des preußischen Klassizismus gestanden. Die damaligen Ausführungen sind unverändert zutreffend. Viele der bis in die Gründerzeit arbeitenden Bildhauer gingen durch
die strenge Schule Schadows, der 1788 nach Tassaerts Tod Leiter der Berliner Hofbildhauerwerkstatt,
1805 Rektor und 1815 Direktor der Akademie wurde. Auch wenn sich einige Schüler später von seinem der Naturtreue verpflichteten Werk distanzierten, hatten sie doch das handwerkliche Rüstzeug
und entscheidende Anregungen von ihm erhalten. Schadows Werk erscheint weniger zeitgebunden
als das seines späteren Rivalen Rauch, der sich vollständig der Klassik hingab. Dabei hatte Schadow
während eines fast dreijährigen Rom-Aufenthalts durchaus die Kunst Canovas schätzen gelernt. Sie
blieb allerdings für ihn nur Maßstab, kein sklavisch nachzueiferndes Vorbild.
In der westlichen Hälfte unseres einst geteilten Landes konnte das Werk Schadows meist nur anhand
von Abbildungen studiert werden, da sich die bedeutendsten Arbeiten jenseits des von seiner Quadriga bekrönten Brandenburger Tores befanden. Der Wunsch nach einer neuerlichen, umfassenden
Ausstellung über Schadow war nach der Wiedervereinigung schnell entstanden. Das Ergebnis ist
diese von jungen Kunsthistorikern in der Kunsthalle Düsseldorf betreute, rund 180 Werke umfassende Schau, die nach einem Zwischenstopp in Nürnberg nun endlich in Berlin angelangt ist. Ein über
300 Seiten langer Katalog (49 DM) versucht, ein Charakterbild dieses großen Künstlers zu vermitteln. Das 13 Seiten lange Literaturverzeichnis ist ausführlich, unterschlägt leider den genannten Aufsatz von Irmgard Wirth, erwähnt allerdings die intensive Beschäftigung unseres Vereins mit dem
Münzfries (vgl. die Aufsätze meines Vaters Dr. Otto Uhlitz in den Jahrbüchern 1978 und 1979), die
schließlich zur Rettung dieses heute im Sockel des Kreuzberg-Denkmals untergebrachten bedeutenden Kunstwerks führte. Dem normalen Besucher ist allerdings mit derart seitenfüllenden Auflistungen nicht geholfen. Eine kommentierende Wertung der Schadow-Literatur, die auch Rückschlüsse
auf das Schadow-Bild früherer Generationen zuließe, wäre wünschenswert.
Die der Nationalgalerie gehörende lebensgroße Marmorgruppe der Prinzessinnen Luise und Friederike wurde naheliegenderweise nicht zu den beiden vorhergehenden Ausstellungsorten geschafft, so
daß diese wichtigste Skulptur des preußischen Frühklassizimus dort nur in Repliken vertreten war.
Frei von Pathos und Distanzformeln stehen uns die natürlichen und ungezwungenen Mädchen gegenüber — eben eine Gruppe, kein Denkmal. Ein Bronzeguß von 1906 zeigt Schadows Entwurf für das
Grabmal der Königin Luise als Schlummernde in natürlicher Beinhaltung. Man kann nachvollziehen,
daß es die schmerzvollste Niederlage dieses in seinen letzten beiden Lebensjahrzehnten bereits als
veraltet geltenden Künstlers gewesen sein muß, als Rauchs Entwurf vorgezogen wurde. Schadows
individualistischer Stil war doch zu sehr dem Menschenbild des 18. Jahrhunderts verpflichtet, als daß
man ihn in den Dienst des aufsteigenden Preußen mit seinem Verlangen nach repräsentativer staatlicher Plastik hätte stellen können. Schadow kommentierte diese Grabmalentscheidung mit seinem
geistreichen, allseits bekannten Ausspruch, daß sein Ruhm nunmehr „in Rauch aufgegangen" sei.
Auch das Grabmal des Grafen von der Mark, Schadows erster großer Auftrag, zeugte bereits von seiner nüchternen, unaufdringlichen und natürlichen Gestaltungsweise. Er unterwarf sich nie einer
Kunsttheorie, sondern fühlte sich dem Menschlich-Persönlichen verpflichtet. Man kann dies nicht
besser als Fontane beschreiben, der ein Jahrzehnt nach dem Tod Schadows, über diesen in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsenen Künstler niederschrieb: „Griechentum und Märkertum hielten
sich das Gleichgewicht oder verbanden sich zu einem wunderbar humoristischen Gemisch." Die
wirklichkeitsnahe Darstellungsweise ist anhand fast aller ausgestellten Büsten nachvollziehbar. Tatentschlossen, tatbereit, doch bedacht abwägend wurde Zieten — nach ursprünglichem Entwurf mit
herrisch weggestrecktem Feldherrnstab — schließlich dargestellt: Ohne das einem Feldherrn zustehende Pferd steht er nahezu grübelnd, in eine zeitgenössische Uniform gekleidet, mit übereinandergeschlagenen Beinen und den Bück ins Leere gerichtet vor uns. Schadow stellte den Menschen, nicht
den Feldherrn dar. Friedrich der Große, um ein weiteres Beispiel zu nennen, begegnet uns in der Form
einer ohne Auftrag entstandenen Statuette beim fast privaten Spaziergang mit seinen Windspielen!
Das hier in aller Kürze Erwähnte ist gerade auch anhand der ausgestellten Zeichnungen nachvollziehbar. Sie bieten einen schönen Querschnitt aus einem Gesamtbestand von über zweitausend Blättern.
432
Das Grabmal des Grafen von der Mark zeichnete der junge Schadow 1788 so, wie es dann auch ohne
größere Veränderungen ausgeführt wurde. Welchen schöneren und für jedermann verständlichen
Beweis seines zeichnerischen Talents könnte es geben? Schadows Abneigung gegen alles „Grandiose" machte ihn zu einem bürgerlich-realistischen Demokraten, der keine Scheu vor seinen höfischen Auftraggebern hatte und ihnen gleichberechtigt gegenübertrat. 14. Juli bis 24. September,
Bodestraße 1—3, Berlin-Mitte. Öffnungszeiten bitte erfragen.
U.
Arbeitskreis Berliner Regionalmuseen und Berliner Forum für Geschichte und Gegenwart e.V.:
„ . . . und eben war noch Krieg". Über die Ausstellungen und Veranstaltungen der Berliner Heimatmuseen aus Anlaß des 50. Jahrestages des Endes des Zweiten Weltkrieges informiert eine übersichtliche, 26 Seiten umfassende Broschüre des ABR. Ansprechpartnerin ist unser Vorstandsmitglied Frau
Birgit Jochens, Leiterin des Charlottenburger Heimatmuseums und Vorsitzende des ABR, Telefon
34 30 3202. Hier eine Übersicht:
HM Charlottenburg: „Worüber kaum gesprochen wurde: Frauen und alliierte Soldaten" ,3. September bis 15. Oktober, Schloßstraße 69. Di bis Fr 10 bis 17, So 11 bis 17 Uhr. Vgl. auch unten.
HM Friedrichshain: „Ausgangspunkt Chaos — Neubeginn in Friedrichshain", Lichtenberger Straße
41, Di, Do 11 bis 18, Sa 13 bis 18 Uhr.
HM Hellersdorf: „Ich habe keinen Frühling so genossen . . . " , noch bis zum 30. September, Jenaer
Straße 11, Mi bis So 14 bis 18 Uhr.
HM Hohenschönhausen: „Als die Befreier kamen — Hohenschönhausen vor 50 Jahren", noch bis
zum 31. Dezember, Lindenweg 7, Di, Do 9 bis 12, 14 bis 17, So 11 bis 16 Uhr.
HM Köpenick: „Köpenick in der Stunde Null", noch bis zum 24. September, Alter Markt 1, tägl. 9 bis
18 Uhr.
HM Kreuzberg: „Trecks nach Westen. Flucht und Vertreibung aus und nach Schlesien", 5. November
bis 31. Dezember, Adalbertstraße 95, Mi bis So 11 bis 18 Uhr.
HM Lichtenberg: „100 Jahre Karlshorst — von der Festungs-Pionierschule zum Kapitulationsmuseum", noch bis 30. September, Parkaue 4, Öffnungszeiten erfragen: Telefon 55 04 27 22.
HM Marzahn: „Ende oder Anfang? — Die Jahre 1945 /46 in Marzahn und Biesdorf', 29. August bis
21. Dezember, Alt-Marzahn 23, Di, Do 10 bis 16, So 13 bis 17 Uhr.
HM Mitte: „Kultur auf Ruinen", September bis Februar 1996, Sophienstraße 23, Mo bis Do 10 bis 12,
13 bis 17, So 13 bis 18 Uhr.
HM Neukölln: „Inventur. Neuköllner Nachkriegszeiten", noch bis März 1996, Ganghoferstraße
3 - 5 , Mi 12 bis 20, Do bis So 11 bis 17 Uhr.
HM Prenzlauer Berg: „Jüdische Lebenswege in Prenzlauer Berg", ab Frühjahr 1996, Dimitroffstraße
101, Öffnungszeiten erfragen: Telefon 42401097.
HM Reinickendorf: „Reinickendorf 1945/46 — Die erste Nachkriegszeit", 28. September bis
November, Alt-Hermsdorf 35, Mi bis So 10 bis 18 Uhr. Vgl. auch unten.
HM Schöneberg: „Das war meine schönste Zeit", September bis November, Hauptstraße 40—42,
Öffnungszeiten erfragen: Telefon 7 83-2234/2177.
HM Spandau: „Sperrgebiet Zitadelle", noch bis 30. September, Am Juliusturm, Di bis Fr 9 bis 17,
Sa/So 10 bis 17 Uhr.
HM Tiergarten: „Tiergarten Mai '45 — Zusammenbruch, Befreiung, Wiederaufbau", noch bis
29. Dezember, Turmstraße 75, So bis Fr 10 bis 17 Uhr.
HM Treptow: „Mai 1945 — Kriegsende in Johannisthai", 11. August bis 28. Februar 1996, Sterndamm 102, Do bis So 14 bis 18 Uhr.
HM Wedding: „Kriegsende in Wedding: Der Bunker im Humboldthain", Oktober bis Sommer 1996,
Pankstraße 47, Di, Do 12 bis 18, Mi 10 bis 16, So 11 bis 17 Uhr.
HM Weissensee: „Vorbei der Feuerbrand. Weissensee 1945 — Kriegsende und Neubeginn", noch bis
zum 31. August, Pistoriusstraße 8, Di, Do, So 14 bis 18 Uhr.
U.
Brücke-Museum: „Aquarelle der Brücke". Die diesjährige Sonderausstellung des Brücke-Museums
ist dem Thema „Aquarelle der Brücke" gewidmet. Ebenso wie der Holzschnitt von der „Brücke"
revolutioniert wurde, ging man auch mit dem Aquarell innovativ um: verfließende Farben, heftige
Pinselstriche sowie das Agieren mit ausgesparten Flächen sind Kennzeichen des neuen Stüs, der sich
vom eher illustrativen Einsatz der Aquarellmalerei des 19. Jahrhunderts stark unterscheidet. Die
433
Ausstellung zeigt hauptsächlich Leihgaben aus privaten Sammlungen des Inlands und des Auslands,
ergänzt um exemplarische Beispiele aus Museumsbesitz. 14. September 1995 bis 7. Januar 1996. Bussardsteig 9, Berlin-Dahlem. Mi bis Mo 11 bis 17 Uhr.
U.
Deutsches Historisches Museum: „Ende und Anfang", Fotografen in Deutschland um 1945. Die
Ausstellung zeigt das Kriegsende in Deutschland aus unterschiedlichen Perspektiven: Mit den Siegern kamen Berufsfotografen nach Deutschland, um die Überreste der Naziherrschaft zu dokumentieren. Auch auf der Seite der Besiegten hielten deutsche Fotografen ihre Eindrücke in den zerstörten
Städten fest. Private Fotos und Schnappschüsse ergänzen diese Blickwinkel um die Sicht deutscher
Amateurfotografen im Jahr 1945. So werden brennpunktartig Möglichkeiten und Grenzen des Mediums Fotografie vor Augen geführt. Noch bis 29. August. Unter den Linden 2, Berlin-Mitte.
U.
Domäne Dahlem: „Bauern — Genossen — Ökonomen. Wendezeiten in der Landwirtschaft", Fotoausstellung von Studenten der HdK. Dem agrarhistorischen Museum Domäne Dahlem steht die Integration in die Stiftung „Stadtmuseum Berlin. Landesmuseum für Kultur und Geschichte Berlins"
bevor. Die Aufarbeitung der Landwirtschaftsgeschichte und -politik in der alten Bundesrepublik
sowie in der DDR ist der Domäne daher ein zentrales Anliegen. Aus reichem Dokumentationsbestand wurden für die Ausstellung fast 200 Fotos ausgewählt. Noch bis 31. Juli. Königin-Luise-Straße
49. Mi bis Mo 10 bis 18 Uhr.
U.
Heimatmuseum Charlottenburg: Neben der o.g. Ausstellung über „Frauen und alliierte Soldaten"
(siehe .Arbeitskreis Berliner Regionalmuseen') zeigt das Heimatmuseum vom 8. September bis zum
15. Oktober eine Foto-Ausstellung mit dem Titel: „Leben mit Denkmälern. Berliner Denkmäler aus
der Sicht der Bewohner dieser Stadt". Es handelt sich dabei um die Ergebnisse eines Wettbewerbs.
Am 16. September lädt das Heimatmuseum von 14 bis 22 Uhr zu einem Museumsfest der Charlottenburger Museen in den Hof des Ägyptischen Museums ein. Theater- und Musikdarbietungen werden
die Gäste unterhalten. Die Museen werden sich durch Informationsstände und Sonderveranstaltungen darstellen. Die Mitglieder unseres Vereins sind durch unser Vorstandsmitglied Birgit Jochens,
Leiterin des Charlottenburger Heimatmuseums, besonders herzlich eingeladen!
U.
Heimatmuseum Reinickendorf: Ebenso herzlich lädt unser neues Mitglied Museumsleiter Dr. Ingolf
Wernicke die Damen und Herren des Vereins für die Geschichte Berlins zur Eröffnung der Ausstellung „Reinickendorf 1945/46 — Die erste Nachkriegszeit" für den 27. September um 19 Uhr in das
Heimatmuseum, Alt-Hermsdorf 35, ein!
U.
Museum für Verkehr und Technik: Am 23. August 1995, 11 Uhr, legt unser Mitglied Eberhard
Diepgen, Regierender Bürgermeister von Berlin, den Grundstein für einen großen Neubau. An der
Ecke Trebbiner Straße/Tempelhofer Ufer entsteht für Luftfahrt und Schiffahrt, Archiv und Bibliothek einer der bedeutendsten, weitgehend nach ökologischen Gesichtspunkten orientierten
Museumsbauten, der auch einen wichtigen städtebaulichen Akzent setzen wird.
Besuchen Sie gelegentlich einmal den Museumspark des MVT und erleben Sie ein 6 ha großes Naturparadies im Stadtzentrum! Dort faszinieren historische Bahnanlagen, funktionsfähige Wind- und
Wassermühlen und eine Hammerschmiede inmitten von Spontanvegetation mit Biotopen.
U.
Museumsdorf Düppel: Der Verein für die Geschichte Berlins, gegr. 1865, gratuliert dem Museumsdorf zum 20jährigen Jubiläum! Im Krieg, 1940, wurden auf dem Gelände des heutigen Museumsdorfes bereits Tonscherben gefunden, die auf eine Siedlung aus dem 13. Jahrhundert schließen ließen.
1967 wurde systematisch ausgegraben und die Idee geboren, die Funde in der Art eines Museums zu
präsentieren. Pfingsten 1975 wurde der Verein „Museumsdorf Düppel" gegründet. Inzwischen ist ein
in Europa einzigartiges Museum auf dem zwölf Hektar großen Gelände entstanden. Aber sehen Sie
selbst...
Sonntag, 23. Juli, 10 bis 16 Uhr: Honigschleudern im Museumsdorf.
Sonntag, 27. August, 10 bis 16 Uhr: Tag der Holzteergewinnung.
Sonntag, 17. September, 11 Uhr: Botanische Führung durch das Museumsdorf.
Sonntag, 24. September und 1. Oktober, 10 bis 16 Uhr: Markt und Erntefest im Museumsdorf. Clauertstraße 11, Berlin-Zehlendorf.
U.
434
„Wrangelschlößchen" — Gutshaus Steglitz: „Eröffnungsausstellung". Es werden Pläne und Ansichten zur Geschichte des am 19. Juni 1995 eröffneten Hauses gezeigt sowie Tafeln zum denkmalpflegerischen Konzept. Auf diese Weise soll das um 1800 nach einem Entwurf von David Gilly errichtete
und wahrscheinlich 1803/04 von Heinrich Gentz umgebaute Gutshaus einer breiten Öffentlichkeit
vorgestellt werden. Nach vierjährigen Bemühungen wurde eines der letzten erhaltenen Bauzeugnisse
des preußischen Frühklassizismus vor dem Verfall gerettet. Anläßlich der 750-Jahr-Feier Berlins
1987 wurde die denkmalpflegerische Wiederherstellung entschieden und nach umfangreichen Bauforschungen in den Jahren 1992 bis 1995 ausgeführt. Die Ergebnisse führten zu dem Konzept der
Rekonstruktion des klassizistischen Ursprungsbaus in seiner räumlichen Disposition und der Restaurierung des ursprünglichen Zustands einschließlich der Raumfassungen in Teilbereichen des Gebäudes. Noch bis zum 6. August, Schloßstraße, Berlin-Steglitz. Di bis So 10 bis 14 und 15 bis 19 Uhr. U.
Stiftung Neue Synagoge Berlin — Centrum Judaicum: „Tuet auf die Pforten — Die Neue Synagoge
1866 bis 1995". Die neueröffnete ständige Ausstellung zeigt Geschichte und Architektur der 1866
eingeweihten Synagoge der jüdischen Gemeinde in der Oranienburger Straße bis zu ihrer zwangsweisen Schließung im Jahre 1940 sowie die Entwicklung nach dem Ende des Krieges und den Wiederaufbau der erhalten gebliebenen Gebäudeteile. Oranienburger Straße 28—30, Berlin-Mitte, So bis Do 10
bis 18, Fr 10 bis 14 Uhr.
U.
Zitadelle Spandau: „Hans Zank — Willi Gericke". Der 1889 in Berlin zur Welt gekommene Hans
Zank und Willi Gericke, der am 9. Juni vor hundert Jahren in Spandau geboren wurde, waren ein
unzertrennliches Künstlerduo, das als Malergemeinschaft Zank-Gericke bekannt wurde. Anfänglich
ging jeder seinen eigenen Weg, aber bald hatten sie ein gemeinsames Atelier in Berlin-Spandau. Sie
waren nicht nur begeisterte und vorzügliche Zeichner, Kupferstecher und Lithographen, sondern
auch als Aquarellisten und Ölmaler haben sie ausdrucksstarke und hochqualifizierte Werke geschaffen : Die Ostsee, die märkische Landschaft, Städte und Dörfer an der Havel und die besonderen
Schönheiten von Spandau und seines Umfeldes, wie Picheisdorf, Gatow, Kladow und Groß-Glienicke waren ein Leben lang für die beiden Maler Anregung zu einem reichhaltigen Bilderschaffen.
Eine lebhafte, wohlgesetzte und abgestimmte Farbigkeit und eine wohlproportionierte Komposition
zeichnen die Gemälde aus und belegen, daß sie von der Natur gemalt sind. Die Ausstellung zeigt etwa
150 Gemälde der beiden spätimpressionistischen Künstler. Noch bis zum 30. Juli. Ausstellungssaal
des Palas der Zitadelle Spandau. Di bis Fr 9 bis 17 Uhr, Sa/So 10 bis 17 Uhr. Unserem Mitglied Ilse
Feddersen-Bollensdorf verdankt unsere Bibliothek die Spende einer umfassenden Abhandlung über
die beiden Künstler aus dem Jahre 1986: „Hans Zank und Willi Gericke — Zwei bedeutsame Berliner
Maler in einer bewegten Zeit der Welt- und Kunstgeschichte".
U.
435
Es stellt sich vor: Die Schadow Gesellschaft
1993 gründeten Berliner Bürger aus Ost und West die Schadow Gesellschaft als gemeinnützigen Verein, der in Mitverantwortung für Kultur und Kunst in der Stadt einen Beitrag leisten will
„zur Pflege des Berlin-Brandenburgischen Kulturgutes unter besonderer Berücksichtigung der
Bewahrung des hinterlassenen Werkes von Johann Gottfried Schadow". Ein nicht unbedeutender Teil der Hinterlassenschaft des berühmten Berliner Bildhauers ist sein ehemaliges
Wohn- und Atelierhaus in der Schadowstraße 10/11 in Berlin-Mitte, das 1805 fertiggestellt
und 1851 erweitert wurde. Es ist das einzige in der Stadt verbliebene Künstlerhaus des deutschen und europäischen Klassizismus. Die Dokumentation und Chronik des Lebens und Wirkens im Schadow-Haus kann aus vielen Gründen als interessantes Beispiel der Berliner Kunstund Kulturgeschichte dienen. Das Schicksal des Hauses war wechselhaft und hinterließ seine
Spuren. Zuletzt diente das Gebäude und ein Teil seiner Wohnungen konspirativen Zwecken
der Staatssicherheit und der Observierung der Amerikanischen Botschaft.
Schon seit langem steht das Schadow-Haus unter Denkmalschutz. Restaurierungen und
Instandsetzungen nach dem Zweiten Weltkrieg haben leider nicht zu einem dauerhaft guten
Erhaltungszustand geführt. Verwahrlosung hat im Inneren um sich gegriffen. Die Fassade mit
den für die Berliner Kunstgeschichte bemerkenswerten Supraportenreliefs bedarf einer dringenden Sicherung und Restaurierung. Die „verschwundenen" Reliefs des Hausflures sollten
ersetzt werden, um den ursprünglichen Eindruck wieder herzustellen. Der alte Innenhof
bewahrte viel von der Atmosphäre des ehemaligen Künstlerhauses, doch fehlt die kontinuierliche Pflege. Von besonderer Bedeutung ist ein Gemälde in der Wohnung der ersten Etage. Das
Fresko im „Berliner Zimmer", eine Arbeit des Schwiegersohnes von Schadow, Eduard Bendemann, zeigt auf einem typisch romantischen Gemälde von 1837 Mitglieder und Freunde der
Familien Schadow und Bendemann, die als Personifikationen der Künste um „den Brunnen
der Poesie" versammelt sind. Erste Erfolge erzielte die Schadow Gesellschaft durch die
Instandsetzung einiger Räume im Schadow-Haus. Ein äußerer Anlaß bot die Möglichkeit, auf
den schlechten Zustand der Fassadenreliefs aufmerksam zu machen. Deren Sicherung und
Restaurierung steht nun unmittelbar bevor. Die Restaurierung des Freskos ist bereits durch die
Denkmalpflege in die Wege geleitet. Es gilt — nach einer Sanierung der ersten Etage — dieses
bedeutende Werk der Berliner romantischen Malerei ständig der Öffentlichkeit zugänglich zu
machen.
Die Mitglieder der Schadow Gesellschaft vereint gemeinsam praktizierter Bürgersinn. Bei der
Bewahrung des kulturellen Erbes der Stadt ist die Gemeinschaft auf aktive Mithilfe und Identifikation mit der „res publica" angewiesen, auf Bürgersinn und Bürgertugenden. Die Berliner
und ihre Besucher wollen sich an den historischen Kunstzeugnissen der Stadt freuen; die in
Berlin und seiner Umgebung hinterlassenen künstlerischen Werke Schadows zählen zu deren
wertvollsten Beispielen.
Die Schadow Gesellschaft, deren Ehrenmitglied der Ende 1994 verstorbene Berliner Kunsthistoriker Professor Dr. Peter Bloch war, hat ihren Sitz im Schadow-Haus. Der Vorstand wird
durch ein Kuratorium ergänzt und fachlich beraten. Mittelfristige Ziele sind ständige und temporäre Ausstellungen zu Johann Gottfried Schadow, sein Leben und Wirken im SchadowHaus und die von ihm begründete Berliner Bildhauerschule sowie Aspekte der europäischen
Kunst zu Schadows Zeiten. Über die zeitkritischen Arbeiten des Künstlers soll zudem eine
Brücke zur aktuellen Kunst geschlagen werden. Langfristig möchte die Schadow Gesellschaft
im Schadow-Haus ein Museum und eine Dokumentation zum Leben und Schaffen des
436
berühmten Berliner Bildhauers verwirklichen. Als kultureller Veranstaltungsort in unmittelbarer Nähe zum Brandenburger Tor soll das Schadow-Haus dem Verständnis von Kunst und
Künstlern in Ost und West dienen.
Vorstand: Dr. Andor Koritz, Professor Johannes Grützke, Wolf-Rainer Hermel, Heidi Dürr,
Karoline Müller; Schadowstraße 10/11, 10117 Berlin-Mitte.
Der Verein für die Geschichte Berlins, gegr. 1865, besucht des Schadow-Haus am 25. August
1995 um 16 Uhr.
Studienfahrt nach Görlitz vom 8. bis 10. September 1995
In den „Mitteilungen" Nr. 2/1995 war die Vorankündigung für die diesjährige Exkursion in die niederschlesische Stadt Görlitz veröffentlicht worden. Daraufhin haben sich bislang 43 Mitglieder
unverbindlich angemeldet, der Reisebus faßt 49 Personen. Hier folgt nun das Programm, das in seinen
Grundzügen in dieser Form zum Tragen kommt. Einzelheiten — etwa über die Mahlzeiten — werden
den Teilnehmern später mitgeteilt.
Freitag, 8. September 1995
7.30 Uhr Abfahrt von der TU Berlin, Straße des 17. Juni
Nach dem Beziehen der Zimmer im Hotel „Zum Grafen Zeppelin"
12.30 Uhr Mittagessen in der Kantine der Waggonbau Görlitz GmbH, Brunnenstraße 11,
anschließend Betriebsrundgang, Führung: Georg Garbe
15.00 Uhr Abtrunk im „Bräustübl", der Traditionsgaststätte in der Landskron-Brauerei Görlitz
GmbH, An der Landskronenbrauerei 116.
Begrüßung: Dipl.-Br.-Ing. Edgar B. Scheller. Vortrag zur
Geschichte der Stadt Görlitz von Dipl.-lng. Andreas Bednarek, Kunstwissenschaftler
abends
Besuch einer Aufführung der Europera, Musiktheater Görlitz (Intendant Professor
Wolf-Dieter Ludwig) — angefragt. Fakultativ in Abhängigkeit vom Programm ggf. am
folgenden Abend
Sonnabend, 9. September 1995
9.00 Uhr Stadtrundgang, Leitung: Dipl.-lng. A. Bednarek
11.00 Uhr Kaffeepause im Cafe Waschow an der Peterstraße
13.00 Uhr Mittagessen in der Gaststätte „Vierradenmühle" am Neißewehr
14.00 Uhr Busrundfahrt durch die Viertel des 19. Jahrhunderts und anderer Stadtteile
von Görlitz
15.30 Uhr Besuch des Heiligen Grabes
16.15 Uhr Fahrt zur Landskrone und Aufstieg (ca. 45 min bequemer Fußweg)
18.00 Uhr Abendessen auf der Landskrone und Ausklang
20.00 Uhr Rückkehr ins Hotel
Sonntag, 10. September 1995
8.00 Uhr Abfahrt vom Hotel
8.30 Uhr Spaziergang zum polnischen Teil der Stadt Görlitz (heute Zgorzelec),
Führung: Dipl.-lng. A. Bednarek
10.00 Uhr Abfahrt von Görlitz
10.45 Uhr Naturschutz-Zentrum Schloß Niederspree, Quolsdorf.
Information über das Naturschutzseminar mit Besichtigung
11.00 Uhr Farblichtbildervortrag über die Naturräume der Oberlausitz aus historischer wie
ökologischer Sicht von Dr. Hans-Dieter Engelmann, Geschäftsführer der Gesellschaft
zur Förderung des Naturschutz-Zentrums Schloß Niederspree e.V.
12.00 Uhr Gemeinsames Mittagessen (15 DM)
13.00 Uhr (Verdauungs-)Spaziergang an die Teiche
13.30 Uhr Aufbruch, Kaffeepause unterwegs
20.00 Uhr Heimkehr (angestrebt)
Änderungen vorbehalten.
437
Die Unterbringung aller Teilnehmer ist im Hotel „Zum Grafen Zeppelin", Jauernicker Straße 15/16,
02826 Görlitz, Telefon (0 28 26) 40 35 74, gesichert. Das Einzelzimmer kostet je Person und Nacht
108 DM, das Doppelzimmer 68 DM.
Der Teilnehmerbeitrag beläuft sich auf 148 DM. Er schließt die Busfahrt sowie alle Führungen,
Honorare, Eintrittsgelder usw. ein. Er sollte spätestens bis zum Antritt der Reise überwiesen werden
auf das Konto des Schriftführers Dr. H. G. Schultze-Berndt bei der Postbank Berlin, Nr. 400 75-106
(BLZ 10010000).
Die Interessenten werden mit einem Antwortbogen über ihre Anmeldung verständigt. Diese müßten
zur Bestätigung bis zum 3. August 1995 an Dr. Hans Günter Schultze-Berndt, Artuswall 48,13465
Berlin-Frohnau, Telefon/Fax 4 0142 40, zurückgereicht werden. In gleicher Weise können weitere
Anmeldungen an diese Anschrift gerichtet werden.
Nicht weniger als 3500 Häuser aus allen Epochen deutscher Kulturgeschichte stehen in der vom Krieg
weitgehend verschonten Stadt Görlitz unter Denkmalschutz. Daß diese östlichste Stadt Deutschlands
dennoch kein Architekturmuseum, sondern ein höchst lebendiges Gemeinwesen ist, soll auf unserer
Studienfahrt erkundet und bewiesen werden.
SchB.
Aus dem Mitgliederkreis
Unser Vorstandsmitglied Dr. Sibylle Einholz, stellv. Schatzmeisterin und Mitherausgeberin des Jahrbuchs, hat zum Sommersemester 1995 den Ruf auf eine Professur für Museumskunde an der Fachhochschule für Technik und Wirtschaft (FHTW) Berlin, angenommen. Wir gratulieren und wünschen
viel Erfolg bei der neuen verantwortungsvollen Tätigkeit!
U.
Unserem Mitglied Alexander Langenheld wurde am 3. Mai 1995 das vom Bundespräsidenten verliehene Bundesverdienstkreuz am Bande aus der Hand des Kreuzberger Bezirksbürgermeisters Peter
Strieder überreicht. Die Ordensverleihung wurde an historisch bedeutsamer Stelle, im Sockel des
Nationaldenkmals auf dem Kreuzberg, vorgenommen. Alexander Langenheld, langjähriger Bezirksverordneter und zeitweise Vorsteher der Kreuzberger Bezirksverordnetenversammlung, hat sich
besonders um die Erhaltung der historischen Kirchhöfe Berlins verdient gemacht. Wir gratulieren zu
dieser Auszeichnung auf das herzlichste!
U.
Mitteilung der Redaktion
Unser Vorstandsmitglied Dr. Christiane Knop, Schriftleiterin der MITTEILUNGEN, hat sich aufgrund des regnerischen und windigen Wetters während unseres Altstadt-Spaziergangs in Köpenick
am 13. Mai 1995 eine so schwere Mittelohrentzündung zugezogen, daß eine stationäre Behandlung
erforderlich wurde. Zu alledem soll sie — nach Aussage der Ärzte — einen bleibenden Hörschaden
zurückbehalten. Sehr verehrte, liebe Frau Knop, die Mitglieder des Vereins für die Geschichte Berlins, gegr. 1865, sind erschüttert und tief betroffen, daß Sie in Ausübung Ihrer Vorstandsfunktion für
unseren Verein derartiges Ungemach erleiden müssen. Gleichzeitig nehmen wir es bewundernd zur
Kenntnis, daß Sie sich wenige Stunden nach der Entlassung aus dem Krankenhaus wieder an die
Arbeit für unsere MITTEILUNGEN machten. Wir alle wünschen Ihnen von Herzen eine möglichst
weitgehende Genesung!
Manfred Uhlitz
Mitteilung
Einige Damen und Herren, die ihren Jahresbeitrag im Einzugsverfahren von ihrem Konto abbuchen
lassen, haben das im Januar-Heft beigelegte Überweisungsformular benutzt, um einen gleichen
Betrag nochmals auf diesem Wege dem Verein zukommen zu lassen. Der Schatzmeister nimmt an,
daß es sich in keinem Fall um ein Versehen handelt und dankt den hochherzigen Spendern im Namen
des Vorstandes.
Karl-Heinz Kretschmer
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Wir begrüßen folgende neue Vereinsmitglieder (11/1995):
Bekiers, Dr. Andreas, Kunsthistoriker
Mindener Straße 25,
10589 Berlin-Charlottenburg
Tel. 3 44 38 92 (Dr. M. Uhlitz)
Droysen-Reber, Professor Dr. Dagmar,
Direktorin des Staatl. Instituts
f. Musikforschung i. R.
Schinkelstraße 4,
14193 Berlin-Grunewald
Tel. 8 9155 05 (Dr. M. Uhlitz)
Haase, Edith Anna, Dipl.-Ing.,
Dipl.-Slawistin
Viktoria-Luise-Platz 5,
10777 Berlin-Schöneberg
Tel. 217 63 20 (Dr. M. Uhlitz)
Heinrich, Wolfgang, Rentner
(Bau- u. Möbeltischler)
Angerburger Allee 59,
14055 Berlin-Charlottenburg
Tel. 3 04 88 48 (Dr. M. Uhlitz)
Holwede, Petra von,
kfm. Angestellte
Bornstraße 14,
12163 Berlin-Friedenau
Tel. 8 526157 (Dr. M. Uhlitz)
Jellici, Christian,
Künstler und Gästeführer
Courbierestraße 5,
10787 Berlin-Schöneberg
Tel. 213 4170 (Dr. M. Uhütz)
Kieseritzky, Wolther von,
Historiker
Pankstraße 55,
13357 Berlin-Wedding
Tel. 4 6217 29 (Dr. M. Uhlitz)
Klingelbiel, Klaus, Studienrat
Bahnhofstraße 43,
12207 Berlin-Lichterfelde (Ost)
Tel. 7 7248 57 (Dr. M. Uhlitz)
Lambertsen-Gandolf, Irmtraud, Stadtführerin,
Stud. Kunstgeschichte und Geschichte
Droysenstraße 5,
10629 Berlin-Charlottenburg
Tel. 3 23 54 84 (Dr. M. Uhütz)
Müller-Tenckhoff, Markus, Fremdenführer
Torfstraße 19, 13353 Berlin-Wedding
Tel. 4 53 14 22 (Dr. M. Uhlitz)
Rüttgers, Achim, Kaufmann
Maybachufer 39, 12047 Berlin-Neukölln
Tel. 6 23 98 57 (Dr. M. Uhlitz)
Schilde, Dr. Kurt, Historiker
Karlsgartenstraße 16,
12049 Berlin-Neukölln
Tel. 6 22 24 07 (Dr. M. Uhlitz)
Schulmuseum Berlin
z. Hd. Herrn Dr. Rudi Schulz
Wallstraße 32, 10179 Berlin-Mitte
Tel. 2 75 03 83 (Dr. M. Uhlitz)
Spillmann, Irene, Lehrerin/Stadtführerin
Monumentenstraße 24,
10965 Berlin-Schöneberg
Tel. 7 86 79 09 (Dr. M. Uhlitz)
Schwanz, Thea, Rentnerin
Edelhofdamm 48
13465 Berlin-Frohnau
Tel. 4 016103 (Dr. Chr. Knop)
Tischendorf, Eva-Maria, Touristikfachkraft
Helene-Weigel-Platz 6,
12681 Berlin-Marzahn
Tel. 5 40 56 31 (Dr. M. Uhlitz)
Veranstaltungen im III, Quartal 1995
1. Sonnabend, 19. August 1995,7.30 Uhr: „Auf den Spuren Kaiser Karls vom Kloster Jerichow zur Hansestadt Tangermünde", Busfahrt in einem bequemen Luxusbus nach Jerichow, Klein- und Großwulkow (Mittagessen in der Familiengaststätte Gericke), Melkow,
Wust und Tangermünde. Dort führt uns unser Mitglied Dipl.-Bibiiothekar Hans-Peter
Freytag. Mit Konzertbesuch in der Stephanskirche! Es sind noch Plätze frei! Teilnehmerpreis: 50 DM. Anmeldung: Tel. 305 9600. Treffpunkt: Haupteingang Zoo, Bhf. Zoo,
Hardenbergplatz, Bus der Fa. ,Pivotti VIP Bus Service'.
2. Freitag, 25. August 1995, 16 Uhr: „Besuch bei Schadow", Führung unserer Mitglieder
Dr. Erika Schachinger und Professor Dr. Sibylle Einholz, Vorstandsmitglied, durch
Schadows Wohnhaus. Schadowstraße 10/11, Berlin-Mitte. Bus: 100, 147, 257, 348; Sund U-Bahnhof Friedrichstraße.
3. Sonnabend, 2. September 1995: „Sommer-Exkursion des Vereins für die Geschichte
Berlins, gegr. 1865", Wanderung von Groß Kreutz über Deetz und die Götzer Berge nach
Götz mit unserem Mitglied Dieter Klatt. Wanderstrecke ca. 15 km. Begrenzte Teilnehmerzahl. Auskünfte und Anmeldungen unter der Telefonnummer 3 05 35 15.
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4. Freitag, 8. September 1995 (bis 10. September): .Jahres-Exkursion des Vereins für die
Geschichte Berlins, gegr. 1865", nach Görlitz mit unserem Schriftführer Dr. Hans
Günter Schultze-Bemdt. Weitere Informationen S. 437 f.
5. Sonnabend, 16. September 1995,14 Uhr: Aufvielfachen Wunsch wiederholen und erweitern wir unseren „Altstadt-Rundgang durch Köpenick" mit Claus-Dieter Sprink, Leiter
des Heimatmuseums Köpenick. Sehen und erleben Sie die restauratorischen Fortschritte
in dem z. Z. interessantesten und sehenswertesten Berliner Sanierungsgebiet! Treffpunkt:
Dampferanlegestelle Luisenhain vor dem Rathaus Köpenick. Ende am Schloß, so daß
man nach der Führung dort einen Rundgang anschließen kann.
6. Sonntag, 24. September 1995,10 Uhr: „Spaziergang durch die historische .DorotheenStadf" mit unserem l.stellv. Vorsitzenden Hans-Werner Klünner. Treffpunkt: Friedrichstraße/Ecke Georgenstraße am Stadtbahnbogen. S- und U-Bahn Friedrichstraße.
(Achtung: Winterzeit!)
7. Sonntag, 1. Oktober 1995, 9.30 Uhr: „Herbst-Wanderung des Vereins für die
Geschichte Berlins, gegr. 1865" mit unserem Mitglied Wolfgang Stapp. Treffpunkt: Eingang Jagdschloß Klein-Glienicke. Route: Glienicker Brücke — Park und Schloß Babelsberg — Telegraphenberg — Einsteinturm — Potsdam — großer und kleiner Ravensberg —
Saarmunder Endmoräne — Mühle Langerwisch — Wilhelmshorst. Von dort Rückkehr
nach Wannsee um ca. 16 Uhr. Streckenlänge: 15 km (Wanderschuhe erforderlich). Verpflegung bitte mitbringen. Keine Einkehr!
8. Sonnabend, 7. Oktober 1995,14 bis 18 Uhr: „Die Wiederherstellung bedeutender Gartendenkmale im Zentrum Berlins", gartenhistorische Busrundfahrt mit unserem Mitglied Dipl.-Ing. Klaus von Krosigk, Leiter des Referats Gartendenkmalpflege und stellv.
Landeskonservator. Teilnahme kostenlos. Die Rundfahrt sollte bereits am 6. Mai stattfinden, mußte dann leider wegen Erkrankung unseres Referenten kurzfristig abgesagt werden. Die bisherigen Anmeldungen behalten Gültigkeit, sind aber bitte nochmals telefonisch zu bestätigen. Es sind noch Plätze frei! Anmeldung bitte schriftlich mit Freiumschlag
für die Zusendung der Teilnahmekarte(n): SchrLt Dr. Uhlitz, Brixplatz 4, 14052 Berlin,
Tel. 3 05 96 00. Teilnahmekarten verpflichten zur Teilnahme, wenn sie nicht rechtzeitig
zurückgegeben werden! Abfahrtsort: vor unserer Vereinsbibliothek, Berliner Straße 40,
U 7 (Blissestraße).
Bibliothek: Berliner Straße 40,10715 Berlin-Wilmersdorf, Telefon (0 30) 8 73 26 12. Geöffnet: mittwochs 16.00 bis 19.30 Uhr. U 7 (Blissestraße), Bus 101, 104, 204, 249.
Vorsitzender: Senator und Bürgermeister von Berlin a. D. Hermann Oxfort, Breite Straße 21,13597
Berlin-Spandau, Telefon 3 33 24 08.
Geschäftsstelle: Ingeborg Schröter, Brauerstraße 31, 12209 Berlin-Lichterfelde/Ost, Telefon
7 7234 35.
Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Berndt, Artuswall 48, 13465 Berlin-Frohnau, Telefon 4 0142 40.
Schatzmeister: Karl-Heinz Kretschmer, Greveweg 6, 12103 Berlin-Tempelhof, Telefon 7 53 42 78.
Konten des Vereins: Postbank Berlin (BLZ 10010010), Kto.-Nr. 433 80-102,10559 Berlin; Berliner Bank AG (BLZ 100 200 00), Kto.-Nr. 03 81801200.
Die MITTEILUNGEN erscheinen vierteljährlich zum Quartalsanfang. Herausgeber: Verein für die
Geschichte Berlins, gegr. 1865, Schriftleitung und Veranstaltungsorganisation: Dr. Manfred Uhlitz,
Brixplatz 4, 14052 Berlin-Charlottenburg, Telefon 3 05 96 00 und 01715 2012 01, Fax 3 05 38 88;
Dr. Christiane Knop, Rüdesheimer Straße 14, 13465 Berlin-Frohnau, Telefon 4014307; Beiträge
bitte an die Schriftleiter senden. Redaktionsschluß: l.März, l.Juni, 1. September, 15. November.
Abonnementspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag gedeckt. Bezugspreis für Nichtmitglieder: 24 DM
jährlich. Neumitglieder sind herzlich willkommen! Jahresmitgliedsbeitrag z. Zt. 60 DM inkl. Bezug
der MITTEILUNGEN und des Jahrbuchs. Beitrittserklärungen bitte formlos an die Geschäftsstelle.
Herstellung: Westkreuz-Druckerei Ahrens KG Berlin/Bonn, 12309 Berlin.
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Schriftleitung.
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DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS
GEGRÜNDET 1865
91.Jahrgang
Heft 4
Oktober 1995
Der Herkulesbrunnen am Lützowplatz von Otto Lessing. Architektur: Ludwig Hoffmann;
aus: H. Müller-Bohn, Die Denkmäler Berlins, Berlin 1905
Der Herkulesbrunnen auf dem Lützowplatz in Berlin
Von Jörg Kuhn
1903 wurde die vom Magistrat der Stadt Berlin betriebene Verschönerung des Lützowplatzes
im Tiergarten durch die Realisierung eines gewaltigen Brunnenprojektes abgeschlossen. Der
von Stadtbaurat Ludwig Hoffmann und dem Bildhauer Otto Lessing geschaffene Herkulesbrunnen gehörte bis zu seiner Beschädigung im Zweiten Weltkrieg und seiner Abräumung in
der Nachkriegszeit zu den markantesten Kunstwerken Berlins im öffentlichen Raum. Die 1967
nach Plänen von Eberhard Fink ausgeführte Neugestaltung des Platzes und die 1988 vorläufig
abgeschlossene Neubebaung der Platzränder hat jeden Hinweis auf den 1950 beseitigten Brunnen verwischt.1 Allein die Aufstellung eines Neugusses der 1899/1900 von Louis Tuaillon
geschaffenen Bronzegruppe „Herkules bändigt den erymäischen Eber" erinnert noch an die
Herkulesthematik des ursprünglichen Platzschmucks.2 Der folgende Beitrag soll dazu beitragen, den alten Lützowplatz und den Herkulesbrunnen wieder in Erinnerung zu rufen.
Geschichte des Lützowplatzes nach 1870
Der Lützowplatz am südlichen Rand des Tiergartens, ein ca. 180 x 160 m großer Blockplatz,
entwickelte sich seit den 1870er Jahren zu einem bevorzugten Wohnquartier des „Neuen
Westens", um dessen Ausbau sich Architekten wie Richard Lucae (1832—1877)3, Adolf Heyden (1838-1902)4 und die Ateliergemeinschaft von Hermann Ende (1829-1907) & Wilhelm
Böckmann (1832—1902)5 bemühten. Villenartige Mietwohnhäuser im Stil des Spätklassizismus entstanden zuerst an der östlichen Platzseite, die anderen Platzseiten wurden in der Folge
bis in die 1890er Jahre bebaut.6 Das Centralblatt der Bauverwaltung konnte 1901 melden:
„Der Lützowplatz ist seit 10 Jahren einer der vornehmsten und architektonisch mit den
abwechslungsreichsten Gebäuden ausgestattete Platz."7 Durch die zunehmende Bebauung des
„Neuen Westens" erhielt der Platz zudem eine zentrale Vermittlerfunktion zwischen Nordund Südberlin und auch zwischen dem alten Villenviertel im Tiergarten und den neuen Schöneberger und Charlottenburger Quartieren entlang der Ringstraßen. 1889—91 erfolgte zur Aufwertung des Platzes gemäß seiner Funktion zunächst ein repräsentativer Neubau der alten
Albrechtshofbrücke durch Otto Stahn (1859—1930). Die massive Sandsteinbrücke, nun Herkulesbrücke benannt, wurde nach ihrer Fertigstellung mit den beiden sandsteinernen Herkulesgruppen und den vier Sphingen geschmückt, die Johann Gottfried Schadow und Conrad
Boy 1791 für die 1890 abgebrochene Herkulesbrücke über den Königsgraben geschaffen hatten.8 Lessing bemühte sich vergeblich um den Auftrag zur Restaurierung der barocken Skulpturen.9
Das Brunnenprojekt
Im Lauf der Planungen des Gartenbaudirektors Hermann Mächtig (1837—1909), den vorher
als Kohlen- und Holzlager10 genutzten Lützowplatz zu einem Schmuckplatz umzugestalten,
wurde 1894 von den Stadtverordneten Wohlgemuth und Seile die Errichtung eines Brunnens
angeregt.11 Daraufhin entstanden, ohne Auftrag, erste Entwürfe. So skizzierte der Bildhauer
Ernst Heiler (1846—1917)12 einen Brunnen, der die großen deutschen Kulturepochen veran442
schaulichen sollte.13 Bestimmt durch die Nähe zur neuen Herkulesbrücke wurde jedoch vom
Magistrat der Stadt Berlin ein Thema aus der Herkulessage gewünscht.14
Es kam jedoch erst unter dem 1896 eingesetzten Stadtbaurat Ludwig Hoffmann (1852—1932)
zum Beschluß über einen Brunnen für den Lützowplatz. Ein Konkurrenzausschreiben fand
nicht statt. Hoffmann, der sich zur gleichen Zeit mit dem geplanten „Märchenbrunnen" für den
Friedrichshain beschäftigte, fertigte zunächst selbst die Skizze eines Brunnens, überließ im
Sommer 1898 dann „aber die Gestaltung des Werkes Herrn Prof. Otto Lessing, der nun wieder
eine eigene Komposition geschaffen hat."15 Der Bildhauer Otto Lessing (1846—1912)16 hatte
1872/73 ein Atelier für dekorative Bauplastik gegründet und konnte sich bald den Ruf als
erfahrenster Bauplastiker Berlins erwerben.17 Hoffmann hatte den vielbeschäftigten Künstler
bereits 1879 während seiner Bauführerzeit an der Berliner Bauakademie kennengelernt. In
Lessings Atelier entstand von 1888 an der bauplastische Schmuck für das von Ludwig Hoffmann und Peter Dybwad entworfene Reichsgerichtgebäude in Leipzig und nach 1896/97 auch
der Fassadenschmuck für viele von Hoffmanns Berliner Kommunalbauten.
Für die Formulierung des Herkulesbrunnens griffen Hoffmann und Lessing, beides gute Italienkenner, auf das Vorbild des Neptunbrunnens von F. A. Giongo in Trient zurück, der
Anfang des 17. Jahrhunderts auf der Piazza Cesare Battisti (Domplatz) errichtet worden war.ls
Das bedeutende Werk Giongos wurde mit der — in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
erfolgten — Wiederentdeckung der italienischen Spätrenaissance zu einem der wichtigsten
Vorbilder deutscher Bildhauer und Architekten.19 Offensichtlich fand dieser — am italienischen Vorbild orientierte — Entwurf zum Herkulesbrunnen die Zustimmung der städtischen
Ausschmückungskommission, denn die Realisierung der Modelle wurde sofort „von Prof.
Otto Lessing in Angriff genommen".20
Da sich Hoffmann aber die Entscheidung über die Gestaltung im einzelnen vorbehalten hatte,
war Lessing genötigt, seine Arbeit häufiger zu unterbrechen. Die Realisierung verzögerte sich
durch Hoffmanns ständige Überlastung mit anderen Bauaufgaben, wie aus einem Brief Lessings an den Architekten vom 27. Juli 1898 hervorgeht: „Geehrter Baurath! Ich sende Ihnen
diesen Verzweiflungsschrei: ich brauche Arbeit! Auch meine Leute stehen umher, da steht die
schöne Arbeit des Brunnen vor einem, macht mir den Mund wässrig u. ich kann nicht 'ran.
Können Sie morgen früh nicht vorbeikommen? 5 Minuten genügen ja. Ich habe schon die Profile aufnehmen lassen die seitlichen 2 Längsschnitte u. die nöthigen Querschnitte."21 Neben
Hoffmann kontrollierte auch die städtische Kunstdeputation durch Besuche in Lessings Grunewalder Atelier den Fortgang der Arbeiten.22 Bei einer dieser Visitationen fiel auch die Entscheidung, den Brunnen nicht, wie ebenfalls erwogen, in Marmor, sondern in schlesischem
Sandstein ausführen zu lassen.23 Die Modelle Lessings waren im Frühjahr 1899 vollendet. Im
September 1900 erhielt Lessing für das fertiggestellte Hilfsmodell zur Ausführung 45 000
Mark.24 1901 wurden das Hauptmodell und verschiedene Detailmodelle innerhalb einer großen Gesamtpräsentation von Werken, die Hoffmann für die Stadt Berlin entworfen hatte, auf
der Großen Berliner Kunstausstellung am Lehrter Bahnhof gezeigt.25 In den Ausstellungsbesprechungen erschienen darauf die ersten öffentlichen Kritiken zum Brunnen, die offensichtlich zu Auseinandersetzungen zwischen den beiden Künstlern führten. So schrieb der Börsenkurier am 23. Juli 1901: „Schwieriger" als mit den Bildhauern August Vogel, Heinrich Giesecke, Ernst Westphal und Max Widemann ist für Hoffmann „schon der Verkehr mit Lessing.
Sein für den Lützowplatz bestimmter Brunnen bedarf noch starker Umarbeitungen, ehe er in
Linie und Figur annehmbar ist. Bei solchen Denkmälern zeigen sich die Unzulänglichkeiten
unserer Bildhauer am deutlichsten." Als Replik daraufschrieb A. Lembach am 1. August 1901
in der Zeitschrift Highlife: „Prof. Lessing und noch eine Anzahl anderer Bildhauer haben sich
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mit Glück und gutem Gelingen als vortreffliche Mitarbeiter an den Hoffmann'schen Werken
erwiesen." Julius Norden empfand das Brunnenmodell „ganz und gar wie der porzellanene
Fruchtaufsatz auf einer kleinbürgerlichen Hochzeitstafel"26. Allen Anfeindungen zum Trotz
begann nach der Ausstellung die Ausführung. Nachdem die Architektur errichtet worden war,
brachte man die vier Meter hohe Herkulesfigur am 27. Februar 1903 zum Lützowplatz. Im
Lauf des Spätsommers folgten die Figurengruppen des unteren Beckens. Am 11. November
1903 wurde der fünfzehn Meter hohe Brunnen, dessen unterste Schale einen Durchmesser von
vierzehn Meter hatte, ohne größere Zeremonie enthüllt. Die Gesamtkosten beliefen sich auf
ca. 192 000 Mark und waren damit bedeutend niedriger als die Kosten für den 1891 enthüllten,
von Reinhold Begas geschaffenen „Neptunbrunnen" auf dem Schloßplatz, der die Stadt
550 000 Mark gekostet hatte. Der vollendete Brunnen übertraf „in Größe und dekorativem
Reichtum alle bestehenden Berliner Fontainen."27 Das direkte Umfeld des Brunnens wurde
mit Steinpflaster mosaikartig belegt.
Beschreibung des Brunnens
Über vier Treppenstufen erreichte man die untere Brunnenschale mit ihrem barock geschwungenem Rand. In ihr waren über naturalistisch gestalteten Felsblöcken vier jeweils aus einem
Tritonen (Wasserkentauren mit Schwimmflossen) und Nereiden bestehende Figurengruppen
angeordnet. Sie symbolisierten die Bedeutung und den Nutzen des Wassers für die Menschen.
Die südwestliche Gruppe zeigte das Wasser als Träger von Lasten für Handel und Schiffahrt.
Einem bärtigen Tritonen wurde von Nereiden mit Gurten ein Sack auf dem breiten Rücken
festgezurrt. Die südöstliche der Gruppen stellte das Wasser als nahrungs- und auch als freudenspendendes Element dar. Diese auch mit „Tanz und Spiel" benannte Gruppe zeigte einen jungen Tritonen mit Fischen in der Hand, der von drei Nereiden mit Muscheln und Wasserblumen
bekränzt wurde. Verschiedene Attribute und Symbole wie eine Panflöte und das Kerykeion des
Hermes lagen hier verstreut auf dem felsigen Grund. Die nordöstliche Gruppe symbolisierte
die Bändigung des Wassers zum Gebrauch. Nereiden fesselten hier einen stämmigen Tritonen
mit festen Stricken. Die nordwestliche der Gruppen illustrierte sinnbildlich die Geburt des
Wassers aus der Quelle: Quellnymphen versuchen einen mit drei Nereiden davonschwimmenden Tritonen festzuhalten.
In der Mitte, zu Füßen der Brunnensäule, war auf einem Sockel ein kleineres, viergeteiltes Bekken. Die Säule war in ihrem oberen Teil als ein sich verjüngender, kannelurenartig geriffelter
Pfeiler ausgebildet, der zwei weitere Becken trug, wobei das obere einem Blütenkelch nachgebildet war. Das untere dieser Becken hatte am Rand einen mehrteiligen Aufbau. Auf vier über
Delphinköpfen hervorragenden Ecken ritten geflügelte kleine Wasserwesen auf großen Voluten. Die auf allen vier Seiten eingezogenen Ränder des Aufbaus waren mit einem überlappenden Wasserornament verziert. Der Pfeilerschaft war auf dieser Höhe mit girlandenumrahmten
Wappenkartuschen und darüber angeordneten Stadt-Kronen geschmückt. Der Brunnenpfeiler wurde unter dem obersten Becken mit einem aus vier durch Festons verbundenen Löwenköpfen gebildeten Fries abgeschlossen, der wie ein Kapitell ausgebildet war. Das oberste Brunnenbecken hatte in der Mitte einen Rundsockel, auf dem die Figur des Herkules stand. Durch
die Herkules beigegebenen Attribute, Pfeil, Bogen und Löwenfell, läßt sich der zwischen den
Füßen des nackten Heroen liegende erlegte Adler auf eine bestimmte Geschichte innerhalb der
Herkulessage beziehen: Herkules hatte den aus Rache der Götter an den Kaukasus geschmiedeten Prometheus von dem ihn peinigenden Adler befreit, indem er das Tier mit einem Pfeil
tötete.
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Abb. 2: Der Lützowplatz mit dem Herkulesbrunnen von der Friedrich-Wilhelm-Straße, 1904.
Landesbildstelle Berlin
Der Brunnen in der zeitgenössischen Kritik
Der Brunnen, dessen Architektur vor der offiziellen Einweihung „schon längst unverhüllt in
die Luft (ragte) (...) forderte die Berliner zur Kritik heraus, die nicht gerade überwiegend
wohlwollend ausfiel", schrieb Ludwig Pietsch (1825—1911) am Tag der Enthüllung in der Vossischen Zeitung. Bereits nach Bekanntgabe der Pläne wurden die Stellung innerhalb des Platzes und die Maßverhältnisse kritisiert, wobei der Brunnen insgesamt als zu mächtig, die Herkulesfigur jedoch als „viel zu klein und <nuttig>" bemängelt wurden.2" Da der Brunnen einerseits
als aus der Nähe zu betrachtender Schmuckbrunnen auf einem Gartenplatz am Stadtrand wirken, andererseits aber als Point de vue für die auf ihn zuführenden Straßen dienen sollte, entstand für Lessing ein kaum lösbares künstlerisches Problem. Um die symbolischen Gruppen im
Verhältnis zum hochaufragenden Mittelpfeiler gleichwertig zu gestalten, mußten diese kolossal ausgebildet werden. Um aber gleichzeitig dem vor dem Brunnen stehenden Betrachter
genügend optische Reize bieten zu können, wurden die vielfigurigen Gruppen im unteren Bekken mit kleinteiligem, narrativem Beiwerk versehen. Die üppige Ausstattung war dann auch
Gegenstand vieler Kritiken. So wurde die in der symbolischen Verschlüsselung unklare Bedeutung der Gruppen in der Zeitschrift „Ulk" aufgegriffen, die einen fingierten Vortrag eines
Friedrich Wilhelm Zippel, Vorstandsmitglied des Vereins „Nach Neune", publizierte, der mit
einer karikierenden Beschreibung des Brunnens beginnt: „Was Sie hier ins Auge springt, is ein
Brunnen von Sandstein und Lessing, den man deshalb auch den Herkulessing nennt. Auch der
Stadtbaurat Hoffmann is der Beihilfe dringend verdächtig." Fortfahrend findet Zippel „noch
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ein kurzes Wort über die vier Fijuren unten am Bassäng. Ich sage mit Schiller: ich weiß nich, was
soll es bedeuten. Es soll des Wasser in seine verschiedene Tätigkeiten sein. Möchlich! Oder is es
die Kanalvorlage? In die Jruppe janz rechts wird ein Minister doch janz deutlich vor'n Bauch
gestoßen. Oder auch der Kampf der Alten mit die Jungen bei die Socies. Hinjegen die Jruppe
hier janz vorn, des scheint mir nu wieder die Seekrankheit darzustellen, indem der olle Herr
sich überjiebt, weil er sich übernommen hat mit des massenhafte Wasser."29 Eine boshafte
Karikatur illustriert „Die dreizehnte Tat des Herakles, verübt an dem neuen Brunnen auf dem
Lützowplatz". Herkules schwingt seinen Köcher keulengleich über den oberen Beckenrand
und schlägt die auf den Voluten sitzenden Putten des Beckens herunter.30 Ein Beitrag in der
Volkszeitung kritisierte wiederum die gezwungene, überdimensionierte Größe der Anlage:
Der Aufbau sei zwar kühn „und die ihn bekrönende Herkulesgestalt läßt an Freiheit der Haltung und kräftiger Herausarbeitung des Muskelreliefs kaum etwas zu wünschen übrig. Doch ist
dem Sohn des Zeus zu viel unter die Füße gerückt worden." Auch finden die Figuren des zweiten Beckens keine Gnade: „Hier lugen von den Zacken Putten blöde in die Welt."31 Kritisiert
wurde auch die Kolossalität der Gruppen, die das eigentlich durch sie symbolisierte „lebenssprühende und lebenspendende Element (Wasser)" mit ihrer Masse gewalttätig erdrückt habe.
Weiter heißt es: „Das große Becken zu ebener Erde aber wird von vier Kolossalgruppen überragt, zu denen vermutlich Böcklin's <Spiel der Wellen> dem Bildhauer die Anregung gegeben
hat. Was aber in Böcklin's farbensatten Gemälde sich wie ein heiter-neckisches Spiel ausnimmt,
erscheint in den Bildwerken als Vergewaltigung. Vier Nickelmänner scheinen mit üppigen
Frauengestalten zu ringen und ihre Gesichtszüge lassen nicht auf lautere Absichten schließen."32 Doch wurde lobend erwähnt: „daß ein so hervorragender Künstler wie Otto Lessing
die teils mit faunischem Lächeln, teils mit leidenschaftlich-erregten Mienen die nackten Schönen umfassenden Wassermänner so formsicher gestaltet hat wie ihre widerstrebende Beute,
bedarf wohl kaum der Versicherung"33. Entgegen der Behauptung Pietschs, daß der Brunnen
bei „den Berlinern" kritisch bewertet werde, fand das Werk mit seiner scherzhaft „Her(r)
Kules" getauften Sagenfigur gerade bei der Bevölkerung eine positive Aufnahme.34 Zustimmung finde der Herkules auch bei den jungen Damen, die zum ersten Mal mit eigenen Augen
sehen könnten, „wie ein richtiger Mann auszusehen habe,"35 berichtete Lessings Neffe Hans
Koberstein (1864—1945) ironisch. Der Architekt Albert Hofmann beschrieb die Anlage des
Brunnens als „glückliche(s) Ergebnis" und hob die „prächtige Figur des Herkules" ebenso hervor wie die in der Komposition zu erkennende „sorgfältige Erwägung der Wirkungen des Wassers in seinen vielfältigen Erscheinungsformen". Aus der vielfältigen Reaktion auf den Brunnen schloß er „auf eine wärmere Anteilnahme der Künstlerkreise wie des Volkes. Und diese
wärmere Anteilnahme verdient der Brunnen, denn mag man auch Einzellösungen gegenüber
eine abweichende Kunstanschauung zur Geltung bringen, als Ganzes ist er ein Werk vornehmen und reifen Kunstgeschmacks, eine dekorative Komposition von reicher Wirkung."36 Auch
er empfand, daß die aus dem „Zwiespalt seiner Bestimmung" heraus gewählten Größenverhältnisse problematisch seien, durch die der Brunnen als von der Nähe zu betrachtender
Schmuckbrunnen wie auch als weithin sichtbares Gestaltungselement innerhalb des Straßengefüges zu wirken habe. Lobende Worte fand der Verfasser von Lessings Nachruf 1912 in der
Bauwelt: „Eine seiner gelungensten und wirksamsten Schöpfungen ist der allmählich aufstrebende, in seinen Details malerisch-komponierte Herkulesbrunnen am Lützowplatz", und
repräsentiert damit die Meinung der fachfernen Bevölkerung. Ludwig Pietsch, der in der Vossischen Zeitung den Brunnen anläßlich der Enthüllung mit viel Lob bedachte, wies 1904 zwar
auf die immensen Kosten des Wasserverbrauchs hin, die pro Sommer 40 500 Mark betrugen,
stellte aber fest, „wo das Wasser die Brunnenteile und Figuren unmittelbar umspült, sind diese
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durch Algen so vollständig vergrünt, daß sie patiniertem Kupfer gleichen, was übrigens gar
nicht übel aussieht".
Eine nachwirkende Kritik schrieb Berthold Daun in seinem 1909 veröffentlichten Buch über
die Kunst des 19. Jahrhunderts: „Das Lessing-Denkmal in Berlin kann als tüchtigste Leistung
Otto Lessings genannt werden, während sein Herkulesbrunnen auf dem Lützowplatze in Berlin als bedenkliche Ausartung barocker Kunst bezeichnet werden muß." 37 Insgesamt aber fand
der im kleinen Modell überladen wirkende, daher stark kritisierte Brunnen nach seiner Realisation eine günstigere Beurteilung. Auffällig ist, daß Hoffmann und Lessing sich bewußt von
Begas' Neptunbrunnen absetzen wollten. Lessing öffnete sich in der Gestaltung seiner barock
anmutenden Gruppen den Tendenzen des Jungendstils und reagierte so kongenial auf Hoffmanns florale Brunnenarchitektur. Bedingt durch die lange Zeit zwischen Modellierung und
Ausführung, war aber diese 1898 sicherlich „modernere" Stilauffassung bereits überholt. Der
Brunnen, der auch ohne Wasserbetrieb als kunstvolles Denkmal wirken sollte, mußte — entstanden in der letzten Phase des Denkmalkultes — bald schon als unzeitgemäß erscheinen.
Interessant ist hier der Vergleich mit der Planungsgeschichte des Märchenbrunnens im Friedrichshain. Die ersten Entwürfe Hoffmanns von 1898 waren stilistisch ganz dem konventionellen, zierlich-spielerischen Neubarock verpflichtet und hatten mit dem erst 1907—13 ausgeführten Brunnen nichts gemein.38 Die Gestaltung des Herkulesbrunnen war gegenüber den ersten
Entwürfen für den Märchenbrunnen von beachtlicher Modernität und Originalität.
Der ersatzlose Abbruch des beschädigten Kunstwerks nach dem Zweiten Weltkrieg kann als
späte Folge der bereits nach der Jahrhundertwende einsetzenden Ablehnung der wilhelminischen Kunst gewertet werden. In seinem 1889 in Wien veröffentlichten Buch „Der Städtebau
nach seinen künstlerischen Grundsätzen" schrieb Camillo Sitte über das zentrale Problem zeitgenössischer Brunnen: „Wir können es nicht ändern, daß den öffentlichen Brunnen nur mehr
dekorativer Wert zukommt, während die bunte belebte Volksmenge ihm fernbleibt, da die
modernen Wasserleitungen viel bequemer das Wasser unmittelbar in Haus und Küche stellen."39 Wer den im Krieg stark beschädigten und um 1950 abgeräumten 40 Herkulesbrunnen in
seiner ganzen Schönheit eindrucksvoll dargestellt sehen möchte, sollte sich unbedingt Leo de
Laforgues 1938/41 entstandenen Dokumentarfilm „Berlin, wie es war" ansehen, der den
Brunnen durch einige malerisch inszenierte Kameraeinstellungen würdigt.
Anmerkungen
1 Berlin und seine Bauten, Teil X (Gartenwesen), Berlin 1972, S. 161 u. 286.
2 Gerd-Dieter Ulferts, Louis Tuaillon (1862-1919), Berlin 1993, S. 180.
3 Der Bruder Lucaes, der Ohrenarzt Professor August Lucae (1835—1911), wohnte im Haus Lützowplatz 9.
4 Der Architekt und Kunstgewerbler Adolph (von) Heyden wohnte im Haus Lützowplatz 13 (beigesetzt auf dem Luisengemeinde-Kirchhof III. in Charlottenburg).
5 Irmgard Wirth/Paul Ortwin Rave, Die Bauwerke und Kunstdenkmäler von Berlin, Bd. 1, Berlin
1955, s.v. „Lützowplatz"; Berlin und seine Bauten, Berlin 1877, S.441 f.
6 Berlin Handbuch. Lexikon der Bundeshauptstadt Berlin, Hrsg. vom Presse- und Informationsamt des Landes Berlin, Berlin 1992, S. 778 f.
7 Centralblatt der Bauverwaltung, 21, 1901, S. 269.
8 Berlin und seine Bauten, 1896, Bd. I., S. 166 f.
9 Frdl. Mitteilung v