Skript zur Vorlesung „Klinische Psychologie I“ (Prof. Dr. Alexander L

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Skript zur Vorlesung „Klinische Psychologie I“ (Prof. Dr. Alexander L
Weder die Autorin noch der Fachschaftsrat Psychologie übernimmt
Irgendwelche Verantwortung für dieses Skript.
Das Skript soll nicht die Lektüre der Prüfungsliteratur ersetzen.
Verbesserungen und Korrekturen bitte an [email protected] mailen.
Die Fachschaft dankt der Autorin im Namen aller Studierenden!
Version 1.0 (2011)
Skript zur Vorlesung „Klinische Psychologie I“
(Prof. Dr. Alexander L. Gerlach)
Sommersemester 2011
verfasst von
Kim K.
1
1. Vorlesung: Grundlagen
Was ist Klinische Psychologie?
-
Definition: Klinische Psychologie ist diejenige Teildisziplin der Psychologie, die sich mit psychischen
Störungen & den psychischen Aspekten somatischer Störungen/Krankheiten befasst
Dazu gehören u.a. die Themen:
- Ätiologie/Bedingungsanalyse
- Klassifikation
- Diagnostik
- Epidemiologie
- Intervention (Prävention, Psychotherapie, Rehabilitation, Gesundheitsversorgung, Evaluation)
Klinische Psychologie & „Nachbargebiete“
- Psychiatrie
- Medizinische Psychologie
- Psychosomatische Medizin
- Verhaltensmedizin
- (Klinische) Neuropsychologie
- Gesundheitspsychologie
Psychiatrie
- Teildisziplin der Medizin, die sich mit psychischen Krankheiten befasst.
- Dazu gehören u. a. die Themen Ätiologie/Bedingungsanalyse, Klassifikation, Diagnostik, Epidemiologie,
Intervention (Prävention, Psychotherapie, Rehabilitation, Gesundheitsversorgung, Evaluation).
- Mit der modernen Interpretation der Klinischen Psychologie fast deckungsgleich!
- Oft mit Schwerpunkt auf biologischen Erklärungsansätzen & Interventionen (aber z.B. „Sozialpsychiatrie“)
- Psychiater = „Facharzt für Psychiatrie & Psychotherapie“
Medizinische Psychologie
- Phänomene Gesundheit & Krankheit aus psychologischer Perspektive
- Krankheitsentstehung & Krankheitsbewältigung, psychologische Therapie & Interaktion mit
Gesundheitsberufen (v.a. Arzt-Patient-Beziehung) & anderen Gruppen
- Im weiteren Sinne auch Krankheitsvorbeugung (Prävention) & Gesundheitsförderung
Verhaltensmedizin
- Definition nach Ehlert (2002): interdisziplinäres Arbeitsfeld, in dem
- Gesundheits- & Krankheitsmechanismen unter Berücksichtung psychosozialer,
verhaltensbezogener & biomedizinischer Wissenschaften erforscht werden &
- die empirisch geprüften Erkenntnisse & Methoden in der Prävention, Diagnostik, Behandlung &
Rehabilitation eingesetzt werden
- Also: Medizin im Sinne einer Betonung von versch. Aspekten der Behandlung
- Nähe zu Verhaltenstherapie
(Klinische) Neuropsychologie
- Behandlung hirngeschädigter Patienten unter Einbezug ihrer familiären & beruflichen Situation
- diagnostische Beurteilung der kognitiven Funktionen, des Erlebens & Verhaltens & der
Persönlichkeit des Patienten unter Berücksichtigung neurologischer, neuroradiologischer &
neurophysiologischer Befunde
- Planung, Durchführung & Evaluation geeigneter neuropsychologischer Behandlungen
einschließlich der Beratung & der therapeutischen Unterstützung bei der Krankheitsverarbeitung
& unter co-therapeutischer Einbeziehung des sozialen Umfelds des Patienten
- Unterstützung von Maßnahmen zur schulischen oder beruflichen Reintegration
- Erstellung neuropsychologischer Gutachten
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Zertifikat „Klinische/r Neuropsychologe/in GNP“
- Voraussetzungen für den Abschluss eines Hochschulstudiums in Psychologie (Diplompsychologe, Master
in Psychologie, Master in Klinischer Psychologie oder Master in verwandten Spezialisierungen)
- 3-jährige (für PP/KJP 2jährige) Tätigkeit an einer anerkannten Weiterbildungseinrichtung/-stelle GNP im
Umfang einer Ganztagsstelle
- 400 Stunden theoretische Weiterbildung, davon 200 Std. in externen Kursen und 200 Std. innerhalb der
praktischen Tätigkeit
- 100 Stunden fallbezogene Supervision durch anerkannte „Supervisoren GNP“
- 5 Falldarstellungen: 3 Kasuistiken, 2 Gutachten
- Teilnahme an einer mündlichen Prüfung (30 Minuten)
Was sind psychische Störungen?
Perspektiven der Gesundheit: Gesundheit – Gesundsein – Rolle des „Gesunden“
- Gesundheit ist…
- Jahoda, 1958, WHO: der „Zustand vollkommenen körperlichen, seelischen & sozialen Wohlbefindens.“
- Parsons, 1967: der Zustand optimaler Leistungsfähigkeit eines Individuums für die wirksame
Erfüllung der Rollen und Aufgaben, für die sie sozialisiert worden ist.“
- Becker, 1995: Gesund ist die leistungsfähige Person,
- die ihren normalen Rollenerwartungen optimal nachkommt
- die die Alltagsanforderungen zu bewältigen vermag
- der nicht die besondere Rolle des Kranken zugeschrieben werden muss
Krankheit ist die Normalität – nicht Gesundheit
- Ergebnisse des bundesweiten Gesundheitssurveys 1998 (N = 7.221 (18-65))
-
Körperliche Erkrankungen: ohne Bagatellerkrankungen (z.B. Erkältung)
Psychische: einschl. Schlafstörungen (>4 Wochen) und Nikotinabhängigkeit
Beispiele: Nikotinabhängigkeit & Kardiovaskuläre Erkrankung oder Diabetes, Hypertonus + Major
Depression)
Fazit: Gesundheit ist offensichtlich ein idealtypischer Begriff, der sich einer befriedigenden
Gesamtdefinition entzieht
Sinnvoll ist wissenschaftlich allenfalls, bestimmte wohl definierte funktionale Aspekte zu unterscheiden:
- z.B. subjektives Wohlbefinden
- Funktionieren in Rollenbereichen, etc
- Ausmaß erfolgreichen Coping
- Lebensqualität
Der Begriff Krankheit ist auch problematisch!
- Krankheitsbegriffe werden unterschiedlich benutzt:
- Krankheit = etwas unnormales was einer Erklärung bedarf (z.B. normal: Muskelkater; traurig sein:
Trauer nach Tod)
- Perspektive des Betroffenen (Kranksein = was man fühlt; versus Krankheit = was man hat)
- Krankenrolle
- D.h. je nach Perspektive kann Krankheit etwas anderes bedeuten:
- 1) Ein biologisch veränderter Zustand des Körpers (z.B. Krebs)
- 2) Das Erleben von Unwohlsein oder Beeinträchtigung
- 3) Eine zugeschriebene Krankenrolle mit Ansprüchen und Privilegien (z.B. Frühberentung)
- 4) Das, was Behandler diagnostizieren (Diagnose)
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Der Begriff Krankheit in der Medizin: das traditionelle medizinische Modell
- Beschwerden, Abweichungen körperliche Funktionen & Verhaltensauffälligkeiten (das Kranksein) sind
auf eine primäre Störung im Sinne eines spezifizierbaren „Defekts/Störung“ zurückzuführen (der
möglicherweise noch nicht bekannt ist)
- Dieser Defekt ist in der Person gelegen und bildet die eigentliche Krankheit
- Der Defekt ist zurückzuführen auf eine eindeutige Ursache (kausal) bzw. ein immer wiederkehrendes
Muster von Ursachen
- Nach dem klassischen biomedizinischen Krankheitsmodell ist dieser Defekt (nicht unbedingt die
Ursache) also grundsätzlich körperlicher Art (Substrat)
(1) Traditionelles medizinisches Modell: Anwendung auf psychische Störungen
(2) Dies geht ähnlich „naiv“ auch für psychologische Störungsmodelle
(1)
(2)
Aber ist das so einfach?
- Gibt es wirklich eindeutige „natürliche“ Grenzen, die gesund und krank trennen?
- Was ist eigentlich die Norm? Krank sein oder gesund sein?
- Passt dies auf alle (auch auf psychische) Krankheiten?
- Lassen sich Defekte und Substrate wirklich so eindeutig identifizieren?
Dimensionale Störungskonzepte
- Annahme der Kontinuität von normal zu unnormal
- Englischer Begriff für Klinische sychologie: „Abnormal Psychology”
- Demnach sind Psychische Störungen extreme Abweichungen normaler (psychischer) Prozesse
Der dimensionale Charakter psychischer Störungen
- Nicht nur für die meisten körperlichen Erkrankungen (Hypertonus, Diabetes, Stoffwechsel),
- sondern auch für die meisten psychischen Erkrankungen gibt es oft keine eindeutigen „natürlichen“
Grenzen, die gesund und krank klar trennen
- Dennoch lassen sich dimensionale Konstrukte durchaus sinnvoll und statistisch begründet in kategoriale
Modelle überführen.
- Die generelle Gültigkeit der weiteren Annahmen des traditionellen Krankheitsmodells sind allerdings
dadurch in Frage gestellt. (Es gibt eine klare Ursache die …)
- Für die Definition von Krankheiten sind zudem meist Konventionen und Zusatzannahmen notwendig!
Verteilung depressiver Beschwerden in der Bevölkerung (N=4.200) in %
- Depression Screening Questionnaire (DSQ)
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Störung als Abweichung von der Norm
- 1. Beobachtung einer Abweichung (ggfls.intraindividuell über die Zeit)
- 2. Bewertung anhand von Normen:
- 1. statistische Norm
- 2. funktionale Norm
- 3. Idealnorm
- 4. soziale Norm
- 5. subjektive Norm
- 3. Bewertung bzgl. der Änderungsbedürftigkeit: z.B. Symptome die berufliche Leistungsfähigkeit, die
üblichen sozialen Aktivitäten oder Beziehungen beinträchtigen bzw. ausgeprägtes Leiden verursachen
Klassifikation psychischer Störungen: Prinzipien von DSM-IV & ICD-10
-
Einordnung der kategorialen Diagnostik in den diagnostischen Kontext
Die kategoriale Diagnose stellt in der Regel einen Teilschritt im klinisch diagnostischen Prozess dar
Schritte des diagnostischen Vorgehens (u. a.)
- Beziehungsaufbau und allgemeiner Eindruck
- klassifikatorische / kategoriale Diagnose
- Somatische Diagnostik
- Analyse des Interaktionsverhaltens
- Analyse des Problemverhaltens
- Biographische Anamnese
- weitere diagnostische Maßnahmen vor und während der Therapie
Historischer Rückblick (Auszüge)
- Sumerische/ägyptische Literatur: 1. Beschreibung verschiedener Störungsbilder, z.B. Melancholie, Hysterie
- Griechenland: Bekannte Kategorien waren z.B. Senilität, Alkoholismus, Manie, Melancholie, Paranoia.
- Mittelalter: Klassifikation versch. Dämonen, die für das Auftreten psychischer Krankheiten
verantwortlich gemacht wurden
- Philippe Pinel (1745-1826): Beginn der formalen Klassifikation psychischer Störungen nach dem Vorbild
der Biologie
- Emil Kraepelin (1856-1926): Versuch der Rückführung psychischer Störungen auf somatische Ursachen;
Klassifikation der Störungen erfolgt anhand der Symptome
Frühere klassifikatorische Diagnostik bei psychischen Störungen
- Relativ breiter Interpretationsspielraum in der Terminologie
- wenige explizite Definitionen
- Enthielten viele ungeprüfter theoretischer Annahmen (Neurose vs. Psychose, endogen vs. reaktiv)
- Folge: unzählige „Schulen“, die die Störungen unterschiedlich diagnostizierten
- Beispielbeschreibung in den „alten“ Diagnosesystemen (ICD-8)
- Angstneurose (300.0): Verschiedene Formen von andauernd ängstlicher Stimmung. Multiple
Phobien & ängstlich depressive Zustände gehörten hierher!
- Zugehörige Begriffe: vegetative Dystonie, Herzneurose
- Die Folgen waren:
- Unzuverlässigkeit (geringe Reliabilität)
- Keine / geringe Validität
- Keine Übereinstimmung zwischen „Schulen“ und Ländern
- Hohe Stigmatisierungsgefahr
- Keine sinnvolle Sprache für alle an der Versorgung beteiligte Berufsgruppen
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Ursachen für mangelnde Reliabilität und Validität der DSM-III Vorläufer
- mangelnde/fehlende Operationalisierungen der diagnostischen Kategorien
- Ungenaue oder fehlende Beschreibung der Dauer, Schwere & anderer assoziierter Verhaltensmerkmale
von Syndromen
- Fehlen zuverlässiger Zuordnungsregeln auf der Syndromebene
- Auftreten von Überschneidungen bei den diagnostischen Kriterien
- Vermischung verschiedener Klassifikationsgesichtspunkte in unzulässiger Weise
- unsystematische Verwendung verschiedener theoretischer Begriffe aus verschiedenen theoretischen
Orientierungen
- fehlende Anwendungsregeln für das Gesamtsystem
Ziele des DSM-III & seiner Nachfolger
- 1. Brauchbarkeit für Therapie und Administration unter verschiedenen klinischen Bedingungen
- 2. Hinreichende Reliabilität
- 3. Annehmbarkeit für Praktiker und Forscher verschiedener theoretischer Orientierungen
- 4. Verzicht auf unbewiesene theoretische Annahmen
- 5. Konsens über zuvor widersprüchlich verwendete Begriffe
- 6. Verzicht auf überlebte Begriffe (z.B. Neurose)
- 7. Übereinstimmung mit Forschungsergebnissen zur Validität diagnostischer Kategorien
- 8. Brauchbarkeit für die Kennzeichnung von Probanden in Forschungsstudien
Merkmale des DSM-III & seiner Nachfolger
- 1. Deskriptiver Ansatz (weitgehend atheoretisch): Störungsdefinition durch klinische Merkmale
- 2. Darstellung klinischer Merkmale auf möglichst niedrigem Niveau von Schlussfolgerungen
- 3. Gliederung von Störungen ohne bekannte Ätiologie aufgrund gemeinsamer klinischer Merkmale
- 4. Moderne Konzept psychischer „Störungen“ (keine Diskontinuität)
- 5. Klassifikation von Störungen, nicht von Individuen
- 6. Einführung spezifischer inhaltlicher und zeitlicher Diagnosekriterien (Operationalisierung)
- 7. Betonung offen erfassbarer Verhaltensweisen
- 8. Detaillierte und systematische Beschreibung der einzelnen diagnostischen Kategorien
- 9. Konzept multipler Diagnosen statt Störungshierarchie (Komorbidität zugelassen)
- 10. Konzept der Multiaxialität
Der klassifikatorisch-diagnostische Prozess:
Wie werden psychische Störungen derzeit klassifiziert?
- Es gibt aktuell 2 international gebräuchliche Klassifikations-Systeme:
- 1. Das DSM-IV (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) und
- 2. Die ICD-10 (International Classification of Diseases)
- Sie unterscheiden sich hinsichtlich der Diagnosenbezeichnungen nur geringfügig (jedoch z. T.
Unterschiede in den Inhalten!)
- DSM-IV ist homogener, konsistenter, expliziter und ausführlicher als ICD-10
- ICD-10 ist ein internationales Kompromiss-Produkt (Link im Internet googlen mit: „DIMDI ICD 10 online“)
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ICD (International Classification of Diseases – Revisionen ICD-1 bis 10)
- Herausgeber: World Health Organisation (WHO)
- Ein Kapitel für psychische Störungen (F)
- Jede als klinisch bedeutsame Krankheit und Störung wird mit einer Nummer versehen.
- Die Aktualisierung erfolgt alle 10-15 Jahre in einem langjährigen Expertenkonsensus-Prozess in dem alle
Länder mitwirken und alle Länder sich einverstanden erklären müssen
DSM (Diagnostisches und statistisches Manual Psychischer Störungen)
- Aktuell: DSM-IV-TR (TR=Textrevision)
- Hrsg.: American Psychiatric Association (APA)
- Multiaxionale Klassifikation des DSM-IV
- Achse I: Klinische Störungen u. andere relevante Probleme
- Notierung aller klinischen Syndrome & Störungen einschließlich der spezifischen
Entwicklungsstörungen
- Achse II: Persönlichkeitsstörungen u. geistige Behinderungen
- Betrachtung der langfristigen Störungen, die evtl. von Störungen auf Achse I verdeckt
werden
- Achse III: Körperliche Störungen u. Zustände
- Notierung aller bestehenden körperlichen Störungen oder Zustände, die für das Verständnis
oder die Behandlung des Patienten/der Patientin wichtig sind.
- Achse IV: Psychosoziale u. umgebungsbedingte Probleme
- Erfassung aller psychosozialen und Umweltprobleme, die für die Diagnose, Behandlung und
Prognose psychischer Störungen von Bedeutung sein können.
- Achse V: Globale Erfassung des Funktionsniveaus
- Soziale Anpassung soll hinsichtlich der 3 Bereiche „soziale Beziehungen“, „Leistung im
Beruf“ & „Nutzung der Freizeit“ auf einem hypothetischen Kontinuum von psychischer
Gesundheit - Krankheit eingeschätzt werden („Global Assessment of Functioning“-Skala)
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Gegenüberstellung am Beispiel der Angststörungen
Generalisierte Angststörung (GAS): DSM IV
- Übermäßige Angst und Sorge bezüglich mehrerer zukünftiger Ereignisse oder Tätigkeiten für mindestens
6 Monate an der Mehrzahl der Tage
- Schwierigkeiten die Sorgen zu kontrollieren
- 3 von 6 folgenden Symptomen begleiten die Angst und Sorgen:
- Ruhelosigkeit oder ständiges „auf dem Sprung sein“
- leichte Ermüdbarkeit
- Konzentrationsschwierigkeiten oder Leere im Kopf
- Reizbarkeit
- Muskelspannung
- Schlafstörungen
- Sorgen führen zu klinisch bedeutsamem Leiden
Generalisierte Angststörung (GAS): ICD 10
- Die Angst ist generalisiert und anhaltend. Sie ist nicht auf bestimmte Umgebungsbedingungen
beschränkt, oder auch nur besonders betont in solchen Situationen, sie ist vielmehr "frei flottierend"
- Die wesentlichen Symptome sind variabel
- Beschwerden wie ständige Nervosität, Zittern, Muskelspannung, Schwitzen, Benommenheit,
Herzklopfen, Schwindelgefühle oder Oberbauchbeschwerden
- Häufig wird die Befürchtung geäußert, der Patient selbst oder ein Angehöriger könnten demnächst
erkranken oder einen Unfall haben
ICD 10 GAS ≠ DSM-IV GAS
- Nur DSM IV Diagnose positiv:
- Fehlende autonome Symptome (ICD 10)
- Komorbide Panikstörung (± Agoraphobie), Soziale Angststörung oder Zwangsstörung möglich
- Nur ICD 10 Diagnose positiv:
- Sorgen liegen nicht übermäßig vor
- Sorgen führen nicht zu klinisch bedeutsamem Leiden oder einer deutlichen Einschränkungen in
der Lebensführung der betroffenen Person
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Was ist eine psychische Störung (Klassifikatorisch)?
- Eine Reihe von miteinander korrelierten Symptomen
- Die über eine bestimmte Zeit auftreten
- Zu Beinträchtigung und Leid führen
- Symptome treten auf verschiedenen Ebenen auf
- Physiologisch
- Kognitiv (Veränderung der Informationsverarbeitung + und der Inhalte)
- Im Verhalten
Für und Wider moderner kategorialer Diagnostik
Weiterer kritischer Aspekt
- Klassifikatorische Diagnostik & ihre in den Klassifikationssystemen kodifizierten Regeln sind beeinflusst
von wissenschaftlichen (Grundlagenforschung und klinische Forschung) und politischen Entscheidungen
(Versicherung, Berufe)
- Deshalb ändern sie sich auch mehr oder weniger in den Revisionen, die ca. alle 10 Jahre erfolgen 
work in progress: www.dsm5.org
- Sie sind also keine absolut feststehenden Konstrukte, sondern vorübergehende Konstruktionen
- Es gibt Grenzen: Alle akuten schweren Störungen, die eine geordnete Kommunikation unmöglich
machen (akute Psychosen, Demenz etc.)
- Merke die Regel 1: Diagnosen sind Konstrukte! Menschen HABEN nicht eine psychische Störung, sondern
sie erfüllen die Kriterien einer psychischen Störung!
Anmerkung: Kategoriale vs. dimensionale Klassifikation
- Kategoriale Klassifikation
- Gruppierung der interessierenden Merkmale & Einordnung dieser in ein System von Kategorien
- Verwendete Kriterien:
- Es muss sich um sinnvolle Gruppierungen handeln
- Zwischen den Kategorien müssen hinreichend qualitative Unterschiede bestehen
- Es dürfen keine Überlappungen auftreten
- Dimensionale Klassifikation
- Störungen werden auf zu Grunde liegenden Dimensionen eingetragen; es werden dabei v.a.
quantitative Unterschiede festgehalten, da sich qualitative Unterschiede in der Wahl der
Dimension ausdrücken
- Bei einer Diagnose wird die Ausprägung des Merkmals auf einer oder mehreren Dimensionen
festgestellt (für klinische Zwecke schwer handzuhaben)
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2. Vorlesung: Epidemiologie & Ätiologische Modelle
Aufgaben der Epidemiologie
- Feststellung der Krankheitsverteilung über Raum & Zeit in Abhängigkeit von Umwelt, Persönlichkeit &
Organismus
- Untersuchung von Entstehung, Verlauf & Ausgang von Erkrankungen
- Ermittlung von individuellen Krankheitsrisiken, Prüfung von Hypothesen über kausale Beziehungen
zwischen Umweltfaktoren & Krankheit
Basis epidemiologischer Kennwerte
- Populationsbezogenheit
- Falldefinition (Diagnostische Kategorie, Syndromebene, Symptomebene)
- Zeitlicher Bezugsrahmen (spezifischer Zeitpunkt, Zeitperiode, Lebenszeit)
Epidemiologische Messvariablen
- Prävalenz: Gesamtzahl aller Krankheitsfälle, die in einer definierten Population zu einem bestimmten
Zeitpunkt (Punktprävalenz) oder während einer Zeitperiode (Periodenprävalenz) vorhanden sind
- Lebenszeitprävalenz: Gesamtzahl der Fälle, die in ihrem Leben mind. 1 Episode zumindest einer
bestimmten psychischen Störung hatten
- Inzidenz: Haufigkeit des Neuauftretens einer Krankheit innerhalb eines bestimmten Zeitraumes (z.B.
eines Jahres) unabhängig davon, ob die Erkrankung zum Ende der Zeitperiode noch besteht oder nicht
- Odds ratio:
- Das „Odds“ (Chance) ist der Quotient aus p/1-p aus dem Risiko (für das Auftreten einer Störung)
& der Gegenwahrscheinlichkeit (das nicht-Auftreten einer Störung) ([…])
- Odds ratio ist der Quotient aus den Odds in 2 Gruppen (z.B. Männer vs. Frauen)
- Wird häufiger eingesetzt: wichtigerer Kennwert mit besseren statistischen Eigenschaften
- Odds ratio = 1  Frauen & Männer sind gleich häufig betroffen
- Odds ratio (Frauen/Männer) > 1  Frauen sind häufiger betroffen
- Risk ratio: Verhältnis der Krankheitshäufigkeit in einer Bevölkerung mit einem Risikofaktor im
Vergleich zu einer Bevölkerung ohne Risikofaktor
Unabhängige Variablen
- Gebietsmerkmale: z.B. Gebiete mit hohem Anteil v. Personen mit niedrigem sozioökonomischen Status
- Soziodemographische Variablen: z.B. Alter, Geschlecht, Familienstand, soziale Schicht
- (schichtspezifische) weitere Merkmale: soziale Stressoren (z.B. Arbeitslosigkeit), soziale Ressourcen
(z.B. Art der gesundheitlichen Versorgung), Risikoverhalten
Komorbidität
- Komorbidität = das Auftreten von mehr als einer spezifisch diagnostizierbaren psychischen Störung bei
einer Person in einem definierten Zeitintervall (Wittchen & Vossen, 1995)
Tacos Studie
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Bella-Studie
(Ravers-Siebert,
2008)
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Zusammenfassung:
- Häufigkeit psychischer Störungen bei Erwachsenen (Mental Health Survey):
- 20% mind. eine im letzten Monat
- 31% eine oder mehr im vergangenen Jahr
- 43% im bisherigen Leben
Sind die Prävalenzschätzungen für psychische Störungen zu hoch angesetzt?
- Pro:
- Frühere Studien kamen zu niedrigeren Prävalenzen
- Diagnose wurden mit vollstrukturierten Interviews durchgeführt  Beeinträchtigungskriterium
möglicherweise nicht optimal erfasst
- „Es kann doch nicht angehen, dass jeder 2. im Laufe seines Lebens unter einer psychischen
Störung leidet!“
- Contra:
- Frühere Studien andere Methodik & andere diagnostische Breite (z.B. kleinere Zeitfenster, viel
weniger Störungen einbezogen)
- Operationalisierte psychische Diagnosen sind eindeutig mit negativem Outcome assoziiert (d.h.
Validität gegeben durch negative Folgen als Außenkriterium) & evtl. immer noch unterschätzt
- „Warum sollten Gehirn & NS seltener betroffen sein als andere, weniger komplexe Organbereiche?
Die Suche nach den Ursachen psychischer Störungen
Kernfragen
- Gibt es überhaupt Ursachen im eigentlichen Sinne (Kausalität)?
- Wie komplex/einfach müssen Modelle ausfallen, um nützlich zu sein?
- Welche Chancen & Grenzen bieten verschiedene Ansätze?
- Womit muss sich ein klinischer Psychologe überhaupt auseinandersetzen?
Unterschiedliche ätiologische Ansatzpunkte (Auswahl)
- Biologische Faktoren (z.B. Verhaltensgenetik, Neuroanatomie, Psychoneuroendokrinologie)
- Psychologische Faktoren (z.B. Lernen, veränderte Informationsverarbeitung, Lebensereignisse, soziale
Unterstützung)
- Soziokulturelle Faktoren (z.B. Schichtzugehörigkeit, kultureller Hintergrund)
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Genetische Faktoren
- Nachweis genetischer Faktoren
- Familienstudien
- Adoptionsstudien
- Zwillingsuntersuchungen
- Identifikation genetischer Faktoren
- Kopplungsstudien
- Assoziationsstudien
Konzept des Endophänotyps
- Psychische Störungen weisen nicht nur neurobiologische Korrelate auf, diese bedingen auch
neurobiologisch einen Teil der Symptomatik
- Folglich wird versucht, für bestimmte biologische Mechanismen einen engeren pathophysiologischen
Zusammenhang mit der Störung herzustellen
- Der Endophänotyp bildet also einen Teilaspekt der heterogenen Pathophysiologie der Erkrankung ab
-  Damit verrinert sich die Bedeutung der klassifikatorischen Zuordnung eines Symptoms deutlich
-  Bsp. Schizophrenie: Störungen des Arbeitsgedächtnis assoziiert mit bestimmten Genorten
Neuroanatomie
- Konzept: Spezifische Regionen bzw. verschaltete Regionen sind für psychische & physische Funktionen
verantwortlich
- Bekanntestes Beispiel: Motorische & sensorische Areale im Kortex
- Relevant z.B. bei Phantomschmerz
„Phantom“‐Glieder(schmerzen)
- 90-95% der Personen, die ein Gliedmaß verlieren, berichten von Empfindungen oder sogar Schmerzen
in dem Gliedmaß unmittelbar nach Verlust
- Bei 70% verschwindet dieser Eindruck nach einigen Wochen, 30% behalten die Empfindung für
Jahrzehnte
- Es konnte eine Ausweitung der kortikalen Repräsentation der mit dem Schmerzreiz in Beziehung
stehenden sensorischen Areale nachgewiesen werden
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Neurotransmittersysteme
- Neurotransmission (Informationsweiterleitung) über chemische Synapsen
- Schlüssel-Schlossprinzip von Neurotransmittern & Rezeptoren
- Wirkung an prä- & postsynaptischen Rezeptoren
- Spezifische Wirkungen durch verschiedene Rezeptoren
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Psychoneuroendokrinologie
- Bsp. Alarmreaktion:
- Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrindenachse
- Hauptreaktionssystem des Körpers bei Belastungen
- Relevant bei vielen psychischen Störungen (Posttraumatische Belastungsstörung,
Angststörungen, Affektive Störungen)
Psychologische Faktoren
Exkurs: Grundbegriffe der Lerntheorien
- Klassische Konditionierung:
- UCS: Unkonditionierter Stimulus (z.B. ein Hundebiss)
- UCR: Schmerzreaktion
- CS: Konditionierter Stimulus (z.B. Anblick eines Hundes)
- CR: Konditionierte Reaktion (Angst beim Anblick eines Hundes)
- Operantes Konditionieren:
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Krebsbehandlung mit Zytostatika
- Zu den unangenehmsten Nebenwirkungen von Zytostatika gehört Übelkeit & Erbrechen (Stockhorst,
2002)
- Akute Übelkeit & Erbrechen
- Verzögerte Übelkeit & Erbrechen
- Antizipatorische Übelkeit & Erbrechen (~33%)
- Erklärung für antizipatorische Übelkeit & Erbrechen: Klassische Konditionierung
- Belege:
- Antizipatorische Übelkeit & Erbrechen tritt v.a. bei Zytostatika auf, die starke
posttherapeutische Übelkeit & Erbrechen auslösen
- V.a. bei Patienten, die darunter leiden
- Setzt meist erst ein, wenn die Patienten in der Klinikumgebung sind
- Behandlung:
- Methode der „Überschattung“ in Kombination mit „Belongingness“
- Damit die Klinikreize alleine nicht mehr als CS ausreichen, wird zusätzlich ein starker Extrareiz
kurz vor der Infusion gesetzt (wechselndes Getränk, z.B. Holundersaft, Sandorn-Hagebuttensaft)
- Die allgemeinen Reize der Klinik werden so nicht mehr zum CS, nur in Kombination mit dem
jeweiligen Getränk
Skoliose
Biofeedback
Bsp. Lernen bei Angststörungen
- Lernen am Modell: Furcht der Mutter erzeugt in Kleinkindern Furcht vor vorher angstfreien
Gegenständen (Gerull, F.C., & Rabee, R.M., 2002)
- Informationsvermittlung: 23% der Tierphobiker führen Informationen über die Gefährlichkeit der Tiere
als Ursache ihrer Phobie an (Merckelbach et al. 1991)
- Nicht spezifische aversive Lernerfahrungen in kritischen Lebensabschnitten: frühkindliche
Erfahrungen, wichtige Aspekte der Umwelt kontrollieren zu können, fördert Neugierverhalten (Hamm,
2006)
Informationsverarbeitung (Beispiel Angststörungen)
- Wahrnehmung: Panikpatienten nehmen ihren Herzschlag besser wahr als Kontrollpersonen (Van der
Does et al.; 2000).
- Aufmerksamkeit: Sozialphobiker zeigen mehr Aufmerksamkeit für sozial-relevante Begriffe als
Gesunde (Hope et. al.; 1990).
- Interpretation von Reizen: Harmlose körperliche Veränderungen (Herzratenanstieg beim
Treppensteigen) werden von Panikpatienten als Zeichen einer drohenden Herzattacke fehlgedeutet
(Harvey et. al, 1993)
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Stressvolle Lebensereignisse (Social Readjustment Rating Scale, Holmes & Rahe)
 Grenzwert 300 gilt als hohes Risiko
Strukturelle Merkmale sozialer Beziehungen:
- Anzahl
- Dichte
- Erreichbarkeit
Soziale Unterstutzung (Fazetten):
- Konstruktkomponenten: z.B. wahrgenommener Support, real
erhaltender Support, Verfügbarkeit
- Unterstützungsinhalte (psychologische vs. instrumentelle)
- Situationsbezug bei Alltags- & kritischen Lebensereignissen
- Besonderheiten des Netzwerks psychisch Kranker:
- Kleinere soziale Netzwerke
- Größerer Anteil familiärer Bezugspersonen
- Einschätzung der Beziehungen als asymmetrischer, aversiver getönt & weniger unterstützend.
Aufgrund korrelativer Querschnittsstudien ist keine Aussage über die Kausalität von
Netzwerkmerkmalen möglich!
Soziokulturelle Einflüsse
Soziologische Modelle:
- Die Schicht-Hypothese (Hollingshead & Redlich, 1956): „Schichten/Klassen“ (Bildung, Einkommen,
Prestige) bedingen systematisch Unterschiede im Gesundheits-/Krankheitsstatus
- Das Anomie-Konzept (Durckheim, 1970): Bestimmte Bevölkerungsschichten sind durch ein hohes
Ausmaß an Desintegration gekennzeichnet. Die mangelnde Einbindung in soziale Beziehungen
(Anomie) spielt dabei eine entscheidende Rolle
Ist die Anomie-Erklärung stichhaltig?
- Weder Schicht noch Anomie sind an sich mächtige Risikofaktoren, bestenfalls sind sie Moderatoren
oder Folgen
- Personen mit sehr niedrigem SES
- sind stärkeren Belastungen ausgesetzt (z.B. Arbeitslosigkeit, Arbeitsunsicherheit)
- haben geringere soziale (Netzwerk, Freizeit) & kognitive Ressourcen (Information, Wissen über Risiken)
- haben schlechtere Gesundheitsverhalten (Rauchen, Alkohol, Bewegung)
- haben geringere persönliche Ressourcen (effiziente Coping-Strategien finden sich eher in höheren Schichten)
- Henne oder Ei? Die meiste Varianz wird wohl dadurch erklärt, dass Personen mit psychischen
Störungen eine schlechtere Sozialisation (schulisch, sozial, beruflich) haben & deshalb sind sie häufiger
in unteren SES zu finden („social drift“-Hypothese)
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Kulturelle Einflüsse
- Beispiel: Körperzufriedenheit
- Schwarze weibliche Jugendliche sind durchgängig mit ihrem Körper zufriedener als weiße weibliche
Jugendliche, auch wenn sie übergewichtig sind
-  liegt das an kulturellen Einflüssen?
-  racial socialization: Soziale Vergleichsprozesse finden v.a. innerhalb der eigenen Ethnie statt
(Schwarzamerikanerinnen sind durchschnittlich schwerer & das Gewicht variiert stärker als in allen
anderen Ethnien (Neumark-Sztainer et al., 2002).
Womit sollte sich ein klinischer Psychologe auskennen?
- Jeder Ansatz trägt zumindest teilweise zum Verständnis psychischer Störungen bei – alle diese
Faktoren sowie deren Interaktion sind also relevant
- Nach heutigem Erkenntnisstand lassen sich psychische Störungen am besten im Rahmen breiter
Vulnerabilitäts- & Risikomodelle verstehen
- Alle Ebenen (Motorik, Kognition, Affekt, Physiologie & Neurobiologie, Soziale Umwelt, Kultur) sollten
dabei über die Lebensspanne betrachtet werden
- Die Betonung von einzelnen (v.a. psychologisierende) Ansätze, ist für das Verständnis psychischer
Störungen immer ein Rückschritt
- CAVE: einfache Ansätze können im Rahmen von Interventionen durchaus hilfreich sein
Sind allgemeingültige Modelle hilfreich?
- Diagnosespezifische Konzepte erlauben eine deutlich differenziertere Darstellung des vorhandenen
Wissens
- Aber: Modelle sind nur Modelle
- Auch wenn sich effektive Behandlungsansätze ableiten lassen, ist davon auszugehen, dass der
heuristische Wert von Modellen durch neue Erkenntnisse alle paar Jahre erhöht werden kann (Also:
offen bleiben!)
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3. Vorlesung: Generalisierte Angststörung (GAS)
Definition „Sorgen“
- Eine Sorge (oder auch Befürchtung) muss vom Prozess des Sorgens unterschieden werden
- Der Prozess des Sorgens wird initial durch eine Sorge (Befürchtungen) angestoßen
- Befürchtungen können als Motor des Sich-Sorgens verstanden werden
Kennzeichen des Sorgenprozesses
- hauptsächlich verbal, wenig bildhaft
- wird als unkontrollierbar erlebt
- gekoppelt mit negativem Affekt
- auf die Zukunft ausgerichtet
- Inhaltlich oft Problemlösung & Selbstberuhigung
Normales Sorgen vs. Pathologisches Sorgen
- Ausmaß subjektiver Unkontrollierbarkeit
- Seltener durch aktuellen Anlass ausgelöst
- Häufiger und länger andauernd (GAS Patienten: M = ~6 Stunden pro Tag!)
- Inhalte unterscheiden sich kaum (Finanzen, Gesundheit, Soziale Beziehungen, Familie)
Sorgeninhalte
- Forschung mit dem „Worry Domain Questionnaire“
- Entscheidender Unterschied von GAS-Patienten & Kontrollen: 91% der Patienten sorgen sich um
Alltagsprobleme (z. B. Pünktlichkeit, TÜV, etc. – vs. 32% bei anderen Angststörungen)
- Also weniger realistische bzw. „angemessene“ Sorgeninhalte (Alltäglichkeiten)
- Weitere Sorgenthemen: Familie, Gesundheit, Arbeit, Finanzen
Verlauf
- Unbehandelt meist chronischer Verlauf
- Häufig fluktuierende Symptomatik (in Abhängigkeit von Belastungssituationen bzw. Lebensumständen)
Diagnostik nach DSM IV
- Übermäßige Angst & Sorge bzgl. mehrerer zukünftiger Ereignisse oder Tätigkeiten für mind. 6 Monate
an der Mehrzahl der Tage
- Schwierigkeiten die Sorgen zu kontrollieren
- 3 von 6 folgenden Symptomen begleiten die Angst & Sorgen:
- Ruhelosigkeit oder ständiges „auf dem Sprung sein“
- leichte Ermüdbarkeit
- Konzentrationsschwierigkeiten oder Leere im Kopf
- Reizbarkeit
- Muskelspannung
- Schlafstörungen
- Sorgen führen zu klinisch bedeutsamem Leiden
Epidemiologie: GAS ist häufig!
- TACOS Studie (Lebenszeitprävalenz):
- Ca. 0.8% Generalisierte Angststörung
- Ca. 10% Major Depression
- Bundesgesundheitssurvey 1998/99 – Zusatzsurvey „Psychische Störungen“ (12 Monats-Prävalenz)
- Gesamt: 1.5% (SE 0.2)
- Männer: 1.0% (SE 0.2)
- Frauen: 2.1 (SE 0.3)
- Nur 6.4% der GAS Patienten gaben an, ausschließlich an GAS zu leiden
- Major Depression: 10.7 (SE 0.5)
19
Komorbidität
- Komorbidität ist die Regel, nicht die Ausnahme (Lebenszeit-Komorbidität: 90,5%)
- Häufigste komorbide Störungen:
- Angststörungen: Spezifische- oder Soziale Phobie
- Panikstörung
- Major Depression oder Dysthymie
- Substanzmissbrauch
- Achse II Störungen (30% - 60%)
- Sehr häufig tritt die GAS auch als komorbide Störung auf
„Kosten“ von GAS
- GAS Patienten sind stark in ihrer Lebensqualität eingeschränkt (ähnlich hoch wie bei Depression)
- Krankheitstage wegen GAS sind häufig (v.a. bei komorbider Depression)
- Prävalenz in der Hausarztpraxis deutlich höher als in der Allgemeinbevölkerung  hohe Kosten in der
Primärversorgung
- ABER: GAS kann gut & effektiv behandelt werden
Begleitende körperliche Symptomatik
- Patienten berichten eine Reihe von Sorgen-begleitenden vegetativen Symptomen wie z. B. Herzrasen,
Schwitzen, Unruhe, Schlafstörungen  Dies wird von Patienten beim Erstkontakt (v.a. beim Hausarzt)
oft in den Vordergrund gestellt!)
- Psychophysiologische Studien zeigen:
- erhöhten Muskeltonus (Anspannung)
- keine allgemein erhöhte vegetative Erregung
- Vergleich GAS & KG
Vergleich Soziale Angststörung & KG
Upatel & Gerlach, in press
Gerlach et al., 2004
Ist die GAS eine Angststörung?
- GAS Patienten scheinen keine auffällige vegetative Aktivierung zu zeigen
- In genetischen Studien gelang es bisher nicht, GAS & Major Depression zu unterscheiden
- Diagnostisch besonders schwierig, GAS von Major Depression abzugrenzen
- Watson (2005): GAS sollte den Belastungsstörungen zugeordnet werden, nicht den Angststörungen
Variabilitätshypothese (Hoehn-Saric, 1998)
- Physiologische Veränderungen werden besser wahrgenommen als tonische Zustände (Pennebaker, 1981)
- GAS-Patienten erleben stärkere körperliche Sensationen aufgrund vermehrter Wahrnehmung
phasischer physiologischer Veränderungen.
-  Werden phasische (vorübergehende) Veränderungen der physiologischen Aktivierung von GASPatienten besser wahrgenommen als von Gesunden?
Exkurs: Hautleitfähigkeit
- Exosomatische Messung (Stromfluß durch die Haut)
- Gemessen wird entsprechend: Hautleitfähigkeit (μSiemens)
- Entscheidende Einflußgröße: Schweißdrüsenaktivität gesteuert durch das
sympathische NS
- Eine Form der phasischen Aktivierung: Elektrodermale Spontanfluktuationen
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Fragestellung Experiment 1
- Werden phasische Veränderungen der körperlichen Aktivierung (hier: elektrodermale
Spontanfluktuationen) von GAS-Patienten besser wahrgenommen als von Gesunden?
- Signalentdeckungsaufgabe  Hautleitfähigkeit als Indikator sympathischer Aktivierung
-
Vergleich KG & GAS: Wahrnehmungssensitivität
Vergleich KG & GAS: Antwortneigung
Wahrnehmungsexperiment: Fazit
- GAS-Patienten & Gesunde zeigen keine physiologischen Unterschiede
- GAS-Patienten schätzen dennoch ihren körperlichen Zustand als erregter ein
- Sie verfügen über eine bessere Wahrnehmung phasischer physiologischer Aktivierung
Ein kognitives Modell der GAS (Wells, 1995)
- Um GAS verstehen zu können, muss man die Bewertung & Bedeutung der Sorgen für die Betroffenen
berücksichtigen
- 2 Arten von Sorgen:
- Typ 1: Bewertung von Ereignissen & körperlichen Symptomen
- Typ 2: Bewertung der Typ 1 Sorgen bzw. von Kognitionen allgemein
Beispiele für Typ 2 Sorgen (Meta-Kognitions-Fragebogen)
- Positiv:
- Ohne mich zu sorgen, würde ich oberflächlich, eingebildet & rücksichtslos werden.
- Sich-Sorgen hilft mir bei der Problemlösung.
- Geschieht etwas Schlimmes, über das ich mich vorher nicht gesorgt habe, fühle ich mich
verantwortlich.
- Negativ:
- Ohne Kontrolle über meine Gedanken würde ich verrückt werden.
- Meine Gedanken stören meine Konzentration.
- Ich wäre eine stärkere Persönlichkeit, wenn ich mich weniger sorgte.
Kognitives Modell der GAS (Wells, 1997)
21
-
-
Zentraler Aspekt des Modells: Metakognitive Überzeugungen
- Positive Metakognitionen
- Negative Metakognitionen
Wells argumentiert, dass Sorgenhäufigkeit v.a. mit Metakognitionen zusammenhängt
Erst mit negativen Metakognitionen entsteht die Psychopathologie der GAS
Fragestellung Experiment 2
- Führt die Wahrnehmung körperlicher Aktivierung (die Überzeugung, körperlich aktiviert zu sein)
tatsächlich zu mehr Sorgen & v.a. zu mehr Metasorgen?
- (Falsches) Feedbackexperiment:
-
Welchen Effekt hat das Feedback in der Entspannungsphase…
…auf das Auftreten von Sorgen?
…auf die negativen Metaüberzeugungen?
Feedbackexperiment: Fazit
- Rückmeldung physiologischer Aktivierung führt zur Aufrechterhaltung von Sorgen & erlebter
Belastung sowie eine Zunahme von Metasorgen
- entscheidend ist die Wahrnehmung physiologischer Aktivierung & die daraus folgende Interpretation
als (unerwünschte) Erregung!
Generalisierte Angststörung (des Kindesalters) nach ICD 10 (F93.80) / DSM IV
- Intensive Ängste & Sorgen über einen Zeitraum von mind. 6 Monaten an mind. der Hälfte der Tage
- Betroffene haben Schwierigkeiten, Sorgen zu kontrollieren  impliziert „Nachdenken über das Denken“!
- Die Ängste & Sorgen sind mit mind. 3 der folgenden Symptome verbunden:
- Ruhelosigkeit, Gefühl überdreht zu sein, nervös zu sein
- Gefühl von Müdigkeit, Erschöpfung oder einfach Anstrengung durch die Ängste & Sorgen
- Konzentrationsschwierigkeiten oder Gefühl, der Kopf sei leer
- Reizbarkeit
- Muskelverspannung
- Schlafstörungen
- Weitere Kriterien (Beeinträchtigung plus Ausschlusskriterien)
Bisheriger Stand
- Englische Version des Metakognitionsfragebogens (MKF) für Jugendliche (Cartwright-Hatton & Wells,
2004) mit zufriedenstellenden (?) psychometrischen Eigenschaften
- Fragestellung: Hängen auch bereits im Alter von 8-12 Jahren Metakognitionen bzgl. des Sorgens mit
Sorgenhäufigkeit zusammen?
- Methode:
- Evaluation einer deutschen Version des MKF für Jugendliche (12-17 Jahre)
- Entwicklung einer Kinderversion (8-11 Jahre)
- Psychometrische Evaluation der Kinderversion
22
KF der MKF-Skala für Jugendliche (MPlus für ordinale Daten)
- 5-Faktoren Lösung (Cartwright-Hatton et al. 2004)
- Positive Metakognitionen
- Kontrollverlust & Gefahr
- Vertrauen in das eigene Gedächtnis
- Aberglaube, Verantwortlichkeit, Schuld
- Kognitive Selbstaufmerksamkeit
- Konfirmatorische Faktorenanalyse
- Chi-Square Test of Model Fit: 995.7; DF: 154 (CMIN/DF = 6.5)
- CFI 0.82; TLI 0.89; RMSEA 0.083
EF der MKF-Skala für Jugendliche (MPlus für ordinale Daten)
- 4-Faktorenlösung (nach Screeplot)
- Eine Itemselektion erfolgte nach Faktorenladungen & -mustern. Bevorzugt wurden auf einem Faktor
hoch ladende Items. Items, die auf mehr als einem Faktor hoch laden, wurden eliminiert
- Zusätzlich wurde Schwierigkeit & Trennschärfe analysiert
- Positive Metakognitionen (6 Items): z. B. Item 10: „Sorgen hilft mir, meine Gedanken zu ordnen“
- Kontrollverlust und Gefahr (7 Items): z. B. Item 4: „Ich könnte mich durch Sorgen krank machen“
- Vertrauen in das eigene Gedächtnis (5 Items): z. B. Item 8: „Ich habe wenig Vertrauen in mein
Gedächtnis für Wörter & Namen“
- Kognitive Selbstaufmerksamkeit (4 Items): z. B. Item 12: „Ich überwache meine Gedanken.“
- Es fehlt: „Aberglaube, Verantwortlichkeit, Schuld“
Metakognitionsfragebogen - Kinderversion
- Kindgerechter Instruktionstext
- Optische Unterstützung der Likert-Skalen
- Vereinfachung des Wortschatzes, weniger Nominalkonstruktionen, möglichst kurze Sätze, kein
Konjunktiv
- Optisch interessante Gestaltung des Bogens
- Möglichst große Inhaltsnähe der einzelnen Items zur Jugendlichenversion (Ratings der
Inhaltsäquivalenz durch 10 Institutsangehörige, danach Revision der Items)
-
Jugendlichenversion: 1. Sorgen hilft mir, Probleme in der Zukunft zu vermeiden
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KF der MKF-Skala für Kinder (MPlus für ordinale Daten)
- 4-Faktoren Lösung
- Positive Metakognitionen (6 Items)
- Kontrollverlust & Gefahr (7 Items)
- Vertrauen in das eigene Gedächtnis (5 Items)
- Kognitive Selbstaufmerksamkeit (4 Items)
- Konfirmatorische Faktorenanalyse
- Chi-Square Test of Model Fit: 444.0; DF: 103 (CMIN/DF = 4.3)
- CFI 0.92; TLI 0.94; RMSEA 0.058
Vorhersage Sorgenaktivität durch Metakognitionen bzgl. des Sorgens (Jugendliche R2=.57, p < 0.01; N = 799)
Vorhersage Sorgenaktivität durch Metakognitionen bzgl. des Sorgens (Kinder: R2=.48, p < 0.01; N = 970)
Korrelation MKF Gefahr - PSWQ: r = .67 (Gesamtes Sample, 8-12-Jährige)
Korrelation MKF-K Gefahr - PSWQ: r = .50 (nur 8-jährige Kinder)
Zusammenfassung
- MKF-J: 4 der ursprünglich 5 Faktoren konnten repliziert werden
- Positive sowie auf Gefahr & Unkontrollierbarkeit bezogene Metakognitionen korrelieren hoch mit
Sorgenaktivität bei 12-17 Jährigen
- MKF-K: Die 4-Faktoren-Struktur konnte auch in der Kinderversion nachgewiesen werden
- Zusätzlich zu positiven sowie auf Gefahr & Unkontrollierbarkeit bezogene Metakognitionen korreliert
auch Zweifel an der Zuverlässigkeit des Gedächtnisses hoch mit Sorgenaktivität bei 8-11-Jährigen
- Bereits ab 8 Jahren (6?) können Metakognitionen bzgl. des Sorgens erfasst werden
24
Ätiologie
Warum sorgen sich GAS-Patienten?
- Sorgen wird von den Patienten meist als unangenehm beschrieben
- Bei anderen Angststörungen steht Vermeidung oft im Vordergrund der Erkrankung
- Warum vermeiden GAS-Patienten Sorgen nicht?
Sorgen als Problemlöseverhalten
- Sorgen stellen ein Problemlöseversuch dar (Barlow)
- Sich sorgen: aktiv als Strategie zur Bewältigung befürchteter Gefahren & Bedrohungen eingesetzt (Wells)
- „Mein sich sorgen hilft mir mit Befürchtungen zurechtzukommen“
- „Sich sorgen schützt mich“
- „Wenn ich mich sorge, bin ich auf das Unheil vorbereitet“
Sorgen als Vermeidung der Befürchtung
- Beim Sorgen zeigen GAS Patienten weniger physiologische Aktivierung als wenn sie sich mögliche
negative Zukunftsereignisse vorstellen
- Sorgen reduziert Aktivierung (im Vergleich zur Vorstellung einer Befürchtung)  Negative Verstärkung
des Sorgenprozesses (Borkovec)
Sorgen als Vermeidung von „Unsicherheit“ (Intolerance of Uncertainty, IoU)
- „IoU is a cognitive bias that affects how a person perceives, interprets, and responds to uncertain
situations on a cognitive, emotional & behavioral level“ (Dugas et al., 2005)
- Ursprung im „Modell der Bewältigungsmodi“ (Krohne, 1993: ein kognitivmotivationales Modell der
Angstbewältigung)
- „Furcht vor Gefahr“ (Intoleranz von Unsicherheit) vs. „Furcht vor der Furcht“ (Erregungsintoleranz)
Ambivalenz vs. Unsicherheit
- Krohne unterscheidet zwischen:
- Ambivalenz (Eigenschaften eines Reizes: nicht interpretierbar/ potentieller Hinweis auf Gefahr)
- Unsicherheit (Emotionale Reaktion auf einen ambivalenten Reiz, eine ambivalente Situation)
- Unsicherheit führt zu Wachsamkeit (Vigilanz), eine Strategie zur Minimierung der Wahrscheinlichkeit,
bedrohliche Situationen zu übersehen
Intolerance of uncertainty (IoU): Fortentwicklung des Konzepts
- Geringe IoU zeigt sich nach Dugas in:
- Erhöhter Wachsamkeit (auf zukünftige Ereignisse ausgerichtet), um notfalls reagieren zu können
- Befürchtung, dass zukünftige Ereignisse negativ ausfallen & deshalb vermieden werden sollten
- Tendenz, unsichere zukünftige Situationen als belastend zu erleben
- Tendenz sich zu sorgen
ICD-10: Vermeidend-Selbstunsichere Persönlichkeitsstörung (F60.6)
- Eine Persönlichkeitsstörung, die durch Gefühle von Anspannung & Besorgtheit, Unsicherheit &
Minderwertigkeit gekennzeichnet ist. Es besteht eine andauernde Sehnsucht nach Zuneigung &
Akzeptiert werden, eine Überempfindlichkeit gegenüber Zurückweisung & Kritik mit eingeschränkter
Beziehungsfähigkeit.
- Die betreffende Person neigt zur Überbetonung potentieller Gefahren oder Risiken alltäglicher
Situationen bis zur Vermeidung bestimmter Aktivitäten.
Reliabilität der IOU-18 Subskalen
- Cronbachs alpha:
Retest-Reliabilität (N = 80; 3-6 Monate)
- Skala A: .84 (N= 682); .85 (N=540)
Skala A: r = .52
- Skala B: .80 (N= 682); .80 (N=540)
Skala B: r = .59
- Skala C: .80 (N= 682); .80 (N=540)
Skala C: r = .59
- IOU-tot: r = .66 (Dugas et al; 1997: .78, 5-Wochen)
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IOU-18; Subskala A: „Unsicherheit behindert die Handlungsfähigkeit“
- Wenn ich unsicher bin, funktioniere ich nicht gut.
- Wenn ich unsicher bin, kann ich den nächsten Schritt nicht tun.
- Unsicherheit bedeutet, dass es mir an Selbstvertrauen mangelt.
- Unsicher zu sein bedeutet, dass ich nicht erstklassig bin.
- Unsicherheit lähmt mich, wenn es Zeit ist, zu handeln.
- Der geringste Zweifel kann mich vom Handeln abhalten.
-  Geringe Selbstwirksamkeitserwartung bei Unsicherheitserleben
IOU-18; Subskala B: „Unsicherheit ist belastend“
- Unsicherheit hält mich davon ab, gut zu schlafen.
- Unsicherheit bereitet mir Unbehagen, Angst oder Stress.
- Ich kann mich nicht entspannen, wenn ich nicht weiß, was morgen passieren wird.
- Unvorhergesehene Ereignisse nehmen mich sehr mit.
- Unklarheiten im Leben belasten mich.
- Ich kann es nicht ertragen, unentschlossen über meine Zukunft zu sein.
-  Tendenz, unsichere zukünftige Situationen als belastend zu erleben
IOU-18; Subskala C: „Unsicherheit sollte vermieden werden“
- Man sollte immer vorausschauen, so dass man Überraschungen vermeidet.
- Ich will immer wissen, was die Zukunft für mich bereit hält.
- Ich sollte in der Lage sein, alles im Voraus zu organisieren.
- Ich kann es nicht ertragen, überrascht zu werden.
- Es frustriert mich, nicht alle Informationen zu haben, die ich brauche.
- Ein kleines unvorhergesehenes Ereignis kann alles verderben, trotz bester Planung.
- Überzeugung, dass zukünftige Ereignisse negativ ausfallen werden & deshalb vermieden werden
sollten
Bisherige Befunde
- Intolerance of Uncertainty ist korreliert mit Sorgenhäufigkeit (PSWQ), auch nachdem Angst &
Depressivität kontrolliert sind (Dugas et al, 1997; Freeston et al., 1997)
- Intolerance of Uncertainty ist korreliert mit Sorgenhäufigkeit (PSWQ), auch wenn gleichzeitig positive
Sorgenüberzeugungen, ungünstige Problemorientierung & kognitive Vermeidung kontrolliert werden
- Experimentell erhöhte „Intolerance of Uncertainty“ führt zu mehr Sorgen (Ladouceur, Gosselin &
Dugas, 2000)
- Intolerance of uncertainty ist korreliert mit der Tendenz, ambivalente Situationen als bedrohlich
einzuschätzen (Dugas et al. 2005)
Metakognitionsfragebogen (MKF)
- Cartwright-Hatton & Wells, 1997 (Deutsch: Hoyer, 2003)
- 5 Subskalen:
- Positive Überzeugungen („Worrying helps me cope“)
- Unkontrollierbarkeit & Gefahr (“When I start, I cannot stop worrying”)
- Kognitives Vertrauen (“I have a poor memory”)
- Aberglaube, Bestrafung, Verantwortlichkeit (“not being able to control my thoughts is a sign of
weakness”)
- Kognitive Selbstaufmerksamkeit (“I pay close attention to the way my mind works”)
Fragestellung
- Kann der IoU über die Metakognitionen bzgl. Sorgens hinaus Sorgenhäufigkeit vorhersagen?
- Welche Subskalen des IoU hängen mit Sorgenhäufigkeit zusammen?
- Lineare Regression (PSWQ als AV)
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Lineare Regression (Einschluss): Vorhersage Sorgenhäufigkeit (PSWQ) (R2=0.49, p < .001; N=682)
Zusammenfassung
- Die “Intolerance of Uncertainty”-Skala hat 3 reliable Unterskalen:
- Unsicherheit behindert die Handlungsfähigkeit (A)
- Unsicherheit ist belastend (B)
- Unsicherheit sollte vermieden werden (C)
- Die erlebte Belastung durch Unsicherheit erlaubt die Vorhersage der Sorgenhäufigkeit
- Dies gilt auch nach Kontrolle von Depressivität (BDI) & Metakognitionen (MKF) bezogen auf das
Sorgen
Ätiologie: Allgemeine Faktoren
- Selektive Informationsverarbeitung
- Mehr Aufmerksamkeit auf bedrohliche Informationen
- Situationen werden schneller als bedrohlich interpretiert
- Geringeres Vertrauen in die Fähigkeit zum eigenem Handeln & Kontrolle über Situationen
- Lerngeschichte (Umgang der Eltern mit Ängsten & Sorgen)
- „Traumatische Ereignisse“, die vermitteln, dass die Welt gefährlich ist (z.B. Bekannter stirbt jung an
Herzinfarkt)  Das Schicksal ist ungerecht, die Welt gefährlich – Frühe Erfahrungen mit
Kontrollverlust (Tatsächlich berichten GAS Patienten mehr „traumatische Ereignisse“ als Gesunde;
Römer et al., 1997)
- Art der sozialen Beziehungen (Trost & Rückhalt vs. Belastung)
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Behandlung der Generalisierten Angststörung
Verhaltenstherapeutisches Vorgehen
Vorgehen nach Wells (1997): Hinterfragen der Typ-2 Sorgen
- Unkontrollierbarkeit hinterfragen
- Faktoren erarbeiten, die Sorgen beeinflussen (z.B. Ablenkung)
- Erfragen, wodurch Sorgen geendet hat
- Informationen vermitteln
- Sorgen sind alltäglich (79% aller Menschen sorgen sich täglich – sind alle verrückt?)
- Befragung von Kollegen/Freunden anregen (sorgen diese sich?)
- Verhaltensexperiment
- Aktiv versuchen die Kontrolle zu verlieren (Versuchen Sie sich so stark wie möglich zu sorgen...)
- Sorgenstuhl (Sorgen verschieben)
„Sorgenkonfrontation“ (besser: Befürchtungskonfrontation)
- Hintergrund: Vermeidungstheorie des Sorgens
- Während des Sorgenprozesses ist der relative Anteil von Vorstellungen (gegenüber Kognitionen)
reduziert
- Konkrete Vorstellungen lösen emotionale & somatische Angstreaktionen leichter aus als Kognitionen
- Habituation an die Angst kann nur erfolgen, wenn die vollständige Angstreaktion ausgelöst wird
- Die Reduktion aversiver Angstreaktionen wirkt als negative Verstärkung des Sorgens & fördert positive
Annahmen über das Sorgen
- Nicht zu habituieren, bestätigt negative Annahmen über die Befürchtungen. Diese fördern
kontraproduktive Kontrollversuche
- Sorgenkonfrontation in sensu: Vorgehen im Überblick
- Liste von Befürchtungen erstellen
- Sorgen in Reihenfolge bringen (Ausmaß an Angst)
- Mit Patienten Befürchtungsskript entwickeln:
- Konkret
- alle Sinne ansprechend
- Ich-bezogen
- Angeleitete Konfrontation mit dem Skript
- Nachbesprechung
- Hausaufgaben (Selbstkonfrontation)
Ausarbeitung eines Befürchtungsszenarios
- Beispiel: (nach allgemeiner Entspannungsanleitung)...
- Gut, dann fangen wir mit der Vorstellung an. Sie halten den Brief von der Bank in den Händen. Sie
merken, wie ihre Hände zittern, der Schweiß steht ihnen auf der Stirn. Die Bank will jetzt wirklich das
Darlehen, dass ihr Stiefvater auf ihren Namen aufgenommen hat, von ihnen zurück. Sie sind sich
sicher, dass ihre Freundin das nicht mehr mitmachen wird. Bei der Vorstellung, dass sie ihrer Freundin
jetzt von ihrer Situation erzählen müssen, merken sie, wie das Herzstechen wieder anfängt. Sie haben
28
keine Ahnung, wie sie das Geld zurückzahlen sollen. Sie wissen, dass sie keine Rücklagen haben. Sie
denken weiter, was das jetzt bedeutet. Ihr (leiblicher) Vater wird sie nicht mehr unterstützen wollen,
vielleicht können sie das Referendariat jetzt nicht antreten, da sie Geld verdienen müssen. Bei dem
Gedanken, was das für ihre Zukunft bedeutet, bleibt Ihnen die Luft weg. Sie spüren eine Kloss im Hals,
ihre Brust fühlt sich an wie in einem Korsett. Ihr Herz hämmert wie wild. Achten Sie darauf wie sie sich
fühlen, wie sie auf den Brief starren. Stellen Sie sich die Situation ganz genau vor.
Änderung des Umgangs mit Unsicherheitsintoleranz
- 2 mögliche Reaktionen auf Unsicherheitsintoleranz:
- Sicherheit erhöhen
- Toleranz erhöhen
- Therapieziel ist es, Toleranz zu erhöhen!
- Königsweg: Verhaltensexperimente
(Unsicherheitstoleranzexperimente)
- Verhalten / Entscheidungen auf Wahrscheinlichkeiten, nicht
Sicherheit basieren (ist etwas nicht wahrscheinlich, sollte es
nicht beachtet werden)
- Unsicherheitstoleranzexperimente: Prinzipien
- Experiment dokumentieren
- Vorhersage: Was wird passieren? Wie werde ich reagieren?
- Was ist tatsächlich passiert?
- Eher langsam/einfach anfangen
- Patienten auf Angst & Unwohlsein vorbereiten
- Motivation kommt nicht vor dem Verhalten, sondern nachher (mit der neuen Erfahrung)!
- Vermeidungs- & Sicherheitsverhalten ablegen
- Konfrontationsübungen (als Realitätstests): Aktivitäten, die abgelegt wurden, wieder aufnehmen
- Sicherheitsverhalten ablegen & bewusst „Risiken“ eingehen
- Lebensrisiko diskutieren (Für fast alle Situationen bleibt ein Restrisiko)
- Wie viel Aufwand will ich treiben, um dieses Restrisiko möglichst klein zu halten?
- Welche Strategien sind dafür angemessen?
- Risiken für spezifische Situationen schätzen lassen & mit „harten Daten“ vergleichen
Wirksamkeitsstudien: Metaanalyse (Mitte, 2005)
Pharmakotherapie
- auch effektiv
- Bsp.: SSRIs, Antiepileptika
29
4. Vorlesung: Angststörungen
Funktion von Emotionen
- Emotionen (& damit Angst) wurden im Laufe der Evolution parallel zu kognitiven Fähigkeiten entwickelt
- Emotion & Kognition sind „Partner“ & nicht „Gegenspieler“
- Emotionen dienen (v.a. in Extremsituationen) zur Sicherstellung einer angemessenen Verhaltensantwort
- Emotionen dienen somit v.a. der Verhaltenssteuerung
Angststörungen – Was läuft schief?
- ZNS beinhaltet adaptive Systeme (Verhalten-hemmendes System, Verhalten-aktivierendes System), die
Reaktionstendenzen vorbereiten
- Bsp.: Reflexe (z.B. Schreckreflex) sind in ihrer Stärke durch die emotionale Gestimmtheit veränderbar
- Dieses System muss jedoch an die situativen/funktionellen Erfordernisse angepasst werden
- Bei einer Angststörung misslingt diese adaptive Leistung  Angst tritt auch in ungefährlichen
Situationen auf
- Diese Fehlsteuerungen sind wesentlich auf maladaptive Lernprozesse (sowie auf spezifische
Dispositionen) zurückzuführen
Aufrechterhaltung: Begünstigende Faktoren (Auswahl)
- Wahrnehmung: Panikpatienten nehmen ihren Herzschlag besser wahr als Gesunde
- Aufmerksamkeit: Sozialphobiker zeigen mehr Aufmerksamkeit für sozial-relevante Begriffe als Gesunde
- Interpretation von Reizen: Harmlose körperliche Veränderungen (Herzratenanstieg beim
Treppensteigen) werden von Panikpatienten als Zeichen einer drohenden Herzattacke fehlgedeutet
Entstehungsbedingungen: Begünstigende Faktoren (Auswahl)
- Genetische Vulnerabilität: 30-40% Varianzaufklärung durch genetische Einflusse bei der Panikstörung
- Lernerfahrungen:
- Direkte Konditionierung (Hundephobien nach Hundeattacke ~26%)
- Lernen am Modell (Furcht der Mutter erzeugt in Kleinkindern Furcht vor vorher angstfreien
Gegenständen; z.B. Gummischlangen)
- Informationsvermittlung (23% der Tierphobiker führen Informationen über die Gefährlichkeit der
Tiere als Ursache ihrer Phobie an)
- Nicht spezifische aversive Lernerfahrungen in kritischen Lebensabschnitten (Frühkindliche
Erfahrungen, wichtige Aspekte der Umwelt kontrollieren zu können, fördert Neugierverhalten)
Angststörungen
- Spezifische Phobien
- Soziale Angststörung
- Panikstörung (mit & ohne Agoraphobie)
- Generalisierte Angststörung
- Zwangsstörung
- Posttraumatische Belastungsstörung & Akute Belastungsstörung
Einteilung spezifischer Phobien
- Tier-Typus:
- Spinnen, Schlangen, Vögel, Ratten, Hunde, Würmer,…
- Stark sympathikoton dominierte Furchtreaktion
- Blut-/Spritzen-/Verletzungs-Typus:
- Anblick von Blut, invasive medizinische Prozeduren, Dentalphobie
- Biphasisches vegetatives Muster der Furchtreaktion
- Situativer Typis:
- Klaustrophobische Symptome (Fahrstuhl, Tunnel), Flugangst,…
- Umwelt-Typus (Höhen, Wasser, Dunkelheit, Sturm, Gewitter,…)
- Anderer Typus (Schwindel, Übelkeit, Ersticken)
30
Neuronale Grundlage der Angstreaktion
- Davis (2000):
-
Le Doux (1996):
Hormonelle Grundlagen der Angstreaktion
Hypothalamisch-hypophysäres System:
- Schnittstelle zwischen ZNS & den peripheren Hormondrüsen
- Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse
- Kontrolle der Freisetzung von Glukokortikoiden (zirkadine Rhythmik)
- Hauptreaktionssystem des Körpers bei Stress
- Hypothalamus-Hypophysen-Schilddrüsen-Achse
- Regulation der Schilddrüsenhormone
- Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden-Achse
- Kontrolliert Funktion der Gonaden & ist damit für Reproduktion wichtig
- Auch Denken & Handeln wird durch Sexualhormone beeinflusst
- Hypothalamisch-hypophysäres-somatotropes System
- Verantwortlich für Wachstum
- Hypothalamisch-hypophysäres-prolaktinerges System
- Steuerung der Brustentwicklung & Vorbereitung von Milchfluss
- Über den Hypophysenhinterlappen (Neurohypophyse) wird Vasopressin (Blutdruck, Wasserhaushalt) &
Oxytocin (Bindungsverhalten) direkt in den Blutkreislauf abgegeben
Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse
- Corticotropin-Releasing-Hormon (CRH) wird in Pfortadersystem (Verbindung zw. Hypothalamus &
Hypophysenvorderlappen) ausgeschüttet & kontrolliert so die Synthese & Ausschüttung von
Adrenokortikotropin (ACTH), Propiomelanokortin-Derivaten (POMC-) & beta-Endorphin
- Von dort erreicht ACTH die Nebennierenrinde & regt die Ausschüttung von Glukokortikoiden (z.B.
Cortisol) an
- Glukokortikoide wiederum hemmen die Ausschüttung von CRH & ACTH über den Weg des Hippocampus
- ACTH erreicht auch das Nebennierenmark (Ausschüttung von Adrenalin & Noradrenalin in den
Blutkreislauf)
- Glukokortikoide führen (u.a.) zu Gluconeogenese (Erhöhung des Blutzuckerspiegels),
Immunsuppression, Entzündungshemmung & wirken als Antiallergene
31
Effekte von Glukokortikoiden (z.B. Cortisol)
- Stimulation der Glukoneogenese & der Glykogensynthese
- Erhöhung der Konzentration von Glukose, Aminosäuren, freien
Fettsäuren im Blut
- Suppression d. zellvermittelten Immunität
- Antiproliferative & antiinflammatorische Wirkung
- Wirkungen auf Hämatopoese, Muskel-, Wasser-, Elektrolyt- &
Proteinstoffwechsel
Typische physiologische Reaktion
Herzrate nach unten (parasympathisch):
Orientierungsreaktion bei
unbekanntem/neuem/anderem Reiz
???
Beispiel Klaustrophobie
- Vorkommen/Häufigkeit:
Erwerb einer spezifischen Phobie: 3 (4) Pfade
- Eigene aversive Lernerfahrungen (Konditionierungsprozesse)
- Beobachten von ängstlichen Modellen
- Vermittlung gefahrenbezogener Informationen (semantisches Lernen)
- Fehlende Bewältigung frühkindlicher Furchtdispositionen (nicht-assoziativer Weg)
Erfragte Erwerbsarten spezifischer Phobien (Hamm, 2006)
32
Nicht-assoziative Erklärung von spezifischen Phobien
- Poulton & Menzies (Zusammenfassung: 2002)
- Bezieht sich auf situative Phobien (Höhen, Dunkelheit, Wasser)
- Prospektive Studie (Dunedin-Studie):
- Ernsthafte Stürze sagten Höhenangst negativ vorher
- Personen mit Höhenangst (im Alter von 11-18) hatten weniger Erfahrung mit Höhen gemacht
(seltener auf Bäume geklettert, etc.)
- Keine Person mit einer Höhenphobie mit 18 hatte einen ernsthaften Sturz in den ersten 9
Lebensjahren
- Interpretation: angeborene Furchtdispositionen müssen durch Lernerfahrungen bewältigt werden
Notwendige Kriterien zum Beleg eines nicht-assoziativen Phobieerwerbs
- 1) eine plausible evolutionäre Begründung
- 2) Retrospektive Studien: Fallidentifizierungen, bei denen ein nicht-assoziativer Erwerb plausibel ist
- 3) Prospektive Studien di zeigen, dass assoziatives Lernen nicht notwendig ist
- 4) Andere Primaten/Spezies zeigen ähnliche Ängste (& die evolutionäre Begründung ist ebenso plausibel)
- 5) eine substantielle genetische Mitverursachung kann belegt werden
- Für Höhenphobie gelten die ersten 4 Kriterien als belegt
Beispiel Blut-/Verletzungs-/Spritzen-Phobie
Epidemiologie
- 13-19% aller Jugendlichen berichten Ohnmacht bei Konfrontation mit BVS-Stimuli
- Ohnmachtsneigung bei Blutspende:
- Junge Blut-Erstspender (Highschool): 9,4% werden ohnmächtig
- Erstspender allgemein: ~4% werden ohnmächtig
- Lebenszeitprävalenz für Blut- & Spritzenphobie ~3,5%
- Beginn im Alter von ~5,5 Jahren
- 50% mit Ohnmachtsneigung
Emotionale Ohnmacht (Vasovagale/Neurokardiogene Synkope)
- Mögliche Auslöser: „Emotionaler Stress“ (u.a. Anblick von Blut, Verletzung, Injektionen), orthostatische
Belastungen, Micturation, etc.
- Diphasischer Verlauf:
- Initialer Blutdruckanstieg & Herzratenerhöhung
- Sekundärer Blutdruckabfall durch Vasodilatation in der Skelettmuskulatur & Verlangsamung der
Herzrate & evtl. flache schnelle Atmung
- Begleitet von: Schwindelgefühlen, Desorientierung, Übelkeit, gastrointestinale Beschwerden, Gähnen,
Schwitzen, Verlust des Bewusstseins
- Nach einer Ohnmacht langsame Erholung, die betroffene Person fühlt sich schwach; Blutdruck & Herzrate
erholen sich langsam
- Ergebnisse von Kipptisch-Untersuchungen: Ursachen der Mangeldurchblutung des Gehirns
- Bradykardie (erklärt nur unzureichend die Ohnmacht):
- Herzschrittmacher als Therapie nicht ausreichend
- Atropingabe als Therapie nicht ausreichend
- Vasodilatation:
- Passive Vasodilatation (Abnahme sympathetischer Aktivierung)
- Aktive Vasodilatation (auf Muskulatur beschränkt): Blockierungsexperimente zeigen: es muss
weitere, bisher unbekannte pharmakologische Wirksubstanzen geben
- Acetylcholinerg-neurale aktive Vasodilatation
- Stickoxid-vermittelte-neurale aktive Vasodilatation
männlich, 29 Jahre
33
Panikstörung mit & ohne Agoraphobie
- Plötzlich auftretende Angstanfälle
- Gekennzeichnet durch:
- Eine Reihe von körperlichen Symptomen wie Palpitationen, Schwindel, Schwitzen, Zittern, etc. UND
- Furcht zu sterben und/oder
- Furcht verrückt zu werden und/oder
- Furcht die Kontrolle zu verlieren
- Diese Attacken treten unvermittelt oder situationsbezogen ( Agoraphobie) auf
- Agoraphobie = Furcht vor Situationen, in denen eine Flucht schwierig oder peinlich sein könnte
Störungsmodell der Panikstörung (mod. Nach Ehlers & Margraf)
Auslöser der ersten Panikattacke
- Meist Kombination von:
- Psychophysiologischer Belastung
- Niedriger Blutdruck, Allergie, Genesungsphase nach einer Krankheit (z.B. plötzliches Aufstehen
nach Grippe), prämenstruelle Phase, Schwangerschaft, Schlafmangel, zu viel oder Entzug von
Kaffee, Nikotin, Alkohol; Unterzuckerung, schwüles Wetter, stressreiche Lebensführung
(Zeitdruck, Überlastung), Medikamentennebenwirkungen, etc.
- Psychosozialer Belastung
- Lebensereignisse, familiäre Belastungen, heftige Emotionen, Zukunftsängste, stellvertretende
Erfahrungen, etc.
- Das Stressmodell:
Integratives Lerntheoretisches Modell (Bouton, Mineka & Barlow, 2001)
- Biologische Vulnerabilität (unspezifisch): genetisch vermittelte Trait-Angst erhöht bei Stressbelastung die
WS von Panikattacken
- Psychologische Vulnerabilität (unspezifisch): z.B. Überbehütung; frühe Erfahrung von
Unkontrollierbarkeit/Unvorhersagbarkeit
- Lernerfahrungen (spezifisch):
- Direkte aversive Erfahrung, Modell-Lernen, Instruktionslernen
- Initiale Panikattacke wird mit internalen Reizen (Körperreaktionen) assoziiert (implizites Lernen!)
- Danach: frühe Anzeichen von panikartigen Körpersymptomen triggern die Panikattacke
- Begünstigung zukünftiger Panikattacken durch antizipatorische Angst (Angstsystem triggert Furchtsystem)
34
Gerlach (2005)
Sozialphobie
- Furcht, in sozialen Situationen zu versagen oder etwas Peinliches zu tun
- Furcht vor negativer Bewertung
- In sozialen Situationen tritt Angst & damit einhergehend körperliche Symptome auf
- V.a. körperliche Symptome, die wahrgenommen werden können (Erröten, Schwitzen, Zittern), führen zu
zusätzlicher Angst
Kognitive Therapie der Sozialphobie
- Grundproblem: Patienten fürchten die negative Bewertung durch andere. Diese Situation ist als geplante
Expositionsübung nur schlecht realisierbar bzw. in deren Lebenswelt nicht wünschenswert
- Patienten tolerieren Angstsymptome nicht, weil diese zu negativer Bewertung führen könnten, nicht
wegen der Symptome an & für sich
- Patienten müssen folglich davon überzeugt werden, dass…
- Sie in der Lage sind, soziale Situationen zu meistern, ohne negativ bewertet zu werden
- Bzw. die Folgen einer negativen Bewertung bzw. der Entdeckung persönlicher Mängel nicht
schwerwiegend sind
- Bzw. die Standards der Gesellschaft anders sind als von den Patienten vermutet wird
Kernannahme zur Entstehung von sozialer Angst
- Jeder Mensch versucht ein bestimmtes Bild von sich zu vermitteln
- Soziale Angst entsteht, wenn ein Mensch glaubt, dazu nicht in der Lage zu sein
Körperliche Symptome
- Patienten mit einer sozialen Phobie zeigen eine ganze Reihe von physiologischen Veränderungen in
Situationen, in denen sie soziale Angst erleben: HR, Atmung, Erröten, Schwitzen, Zittern
- Sichtbare körperliche Symptome häufig zentrale Angst
- 3 Bestimmungsstücke:
- Körperliche Reagibilität in sozialen Situationen
- Wahrnehmung dieser körperlichen Reagibilität bzw. Symptomatik
- Interpretation der körperlichen Symptomatik & deren Wirkung auf die Umwelt
- Andere nehmen die Symptome ebenso gut wahr wie man selbst
- Andere bewerten sie deswegen negativ
35
Vulnerabilitätsfaktoren
- Bindungstheorie (besonders bei generalisierter SP)
- Ängstlich-protektives oder ablehnendes Erziehungsverhalten führt zu selbstunsicher-vermeidendem
Bindungsmuster
- Eltern von sozialphobischen Kindern hatten überbehütenden oder gleichgültigen Erziehungsstil
- Verhaltenshemmung & Schüchternheit
- „behavioral inhibition“ (Kagan, 1988): biologisches Emotionssystem (im septohippokampalen
System) reagiert auf neue Reize sowie auf Bestrafungsreize mit Verhaltenshemmung
- Schüchternheit  Temperamentsfaktor
- Limbisches System & Gesichtserkennung
- Wahrnehmung von ärgerlichen Gesichtern führt bei SP zur stärkeren Aktivierung der Amygdala
(Tillfors, 2001)  verringerte Erregungsschwelle neuronaler Angstschaltkreise bzgl. sozialer Reize
(durch starke Konditionierbarkeit)
- Evolutionsbiologischer Sinn: sich als unterlegenes Gruppenmitglied wechselnden
Dominanzhierarchien besser anpassen
Beitragende Lebenserfahrungen
- Soziale „Traumata“:
- Hänseleien oder Auslachen wegen Aussehen (Übergewicht, Akne, Ohren,…), ungewöhnlichem
Namen, Akzent
- Öffentliche Abwertung durch Lehrer
- Barsche Abfuhr beim ersten Flirt
- Versagen, Panik oder körperliche Symptome beim Reden, Essen, Trinken, Schreiben vor anderen
- Lebensereignisse:
- Häufige Umzüge in Jugend, Schulwechsel, Schul-/Studienabschluss, Stellenwechsel, (anstehende)
Beförderung, Trennung/Scheidung der Eltern
- Lebensbedingungen
- Übermäßig harte Kritik von Eltern/Lehrern
- Desinteresse von Bezugspersonen für eigene Leistungen
- Geringe Möglichkeiten/Ermutigung zu sozialen Kontakten
- Soziale Überforderung
- Kulturelle/soziale Isolation (z.B. bei Migranten)
- Überbewertung der Meinung anderer durch Eltern; soziale Ängste der Eltern
- Außenseiter durch Krankheit
Wichtige Faktoren der Aufrechterhaltung
- Kognitive Repräsentation des Selbst
- Pat. konstruieren eine Vorstellung von sich selbst, wie andere sie sehen, die negativ verzerrt ist
- Imaging – lebhafte Vorstellung der eigenen Außenwirkung, z.B. knallrote Birne
- Erhöhte Selbstaufmerksamkeit durch Erwartung negativer Bewertung
- Häufig Fehlattribution von Angstsymptomen als Beweis für neg. Bewertung durch andere
- Internale Hypervigilanz führt zu intensiverer Wahrnehmung von Angstanzeichen & behindert
Verarbeitung der aktuellen Situation – was ist angezeigt, wie reagiert meine Umwelt?
- Sicherheitsverhalten
- Verhindert die Widerlegung unrealistischer Bewertungen oder führt zu gefürchteten Konsequenzen
- Antizipatorisch: übermäßige Vorbereitung auf eine Situation oder Versuch der Reduktion von Angst
(z.B. durch Alkohol)
- Versuche, das Auftreten der befürchteten Körpersymptome zu verhindern (z.B. Kühlen gegen
Schwitzen)
- Versuche, die befürchteten Symptome zu verstecken (z.B. Make-up gegen Erröten)
- Versuche, negativer Bewertung vorzubeugen (z.B. Schwitzen durch Hitze entschuldigen)
- Versuche, das eigene Verhalten oder die eigene Wirkung auf andere zu kontrollieren (z.B. erhöhte
Selbstaufmerksamkeit)
36
-
-
-
-
Typischer Angstteufelskreis
- Katastrophale Bewertung von Körpersymptomen führt zu verstärkter Angst führt zu verstärkter
Aktivierung des symp. NS; dies führt zu stärkeren Körpersymptomen
Antizipatorische Verarbeitung
- Erwartungsangst (Überzeugung sich zu blamieren) führt (neben Vermeidungs- oder
Sicherheitsverhalten) zu starker Fokussierung auf sich selbst & auf Anzeichen negativer Bewertung
 subjektive Evidenz sich zu blamieren = 100%
Nachträgliche Verarbeitung (post-event processing oder „post-mortem“)
- Nachverarbeitung einer sozialen Situation durch negative automatische Gedanken
- Da die meisten sozialen Interaktionen keine eindeutigen Hinweise auf die Bewertung des sozialen
Erscheinungsbildes liefern, greift der Patient auf die „Eindrücke“ (Gefühle, Körperempfindungen,
Vorstellungen) zurück, die intensiv im Gedächtnis haften geblieben sind. Rekonstruktion der
Situation wird durch subjektive Wahrnehmung negativ nachträglich verzerrt  das eigene Schema
wird bestätigt
Vorannahmen über soziale Situation: Umwelt erwartet Perfektionismus
37
5. Vorlesung: Affektive Störungen (Schwerpunkt: Bipolare Störung & Suizidalität)
Klassifikation affektiver Störungen im DSM-IV
Depressive Symptome nach dem DSM-IV
- Depressive Verstimmung (z.B. sich traurig oder leer fühlen)
- Deutlich vermindertes Interesse oder verringerte Freude an fast allen Aktivitäten
- Deutlicher Gewichtsverlust oder –zunahme (ohne Diät) bzw. verminderter oder erhöhter Appetit
- Schlaflosigkeit oder vermehrter Schlaf
- Psychomotorische Unruhe oder Verlangsamung
- Müdigkeit oder Energieverlust
- Gefühle von Wertlosigkeit oder unangemessene Schuldgefühle
- Verminderte Fähigkeit zu denken oder sich zu konzentrieren oder verringerte Entscheidungsfähigkeit
- Wiederkehrende Gedanken an den Tod, wiederkehrende Suizidvorstellungen oder genaue
Suizidplanung oder tatsächlicher Suizidversuch
Manische/Hypomane Symptome nach dem DSM-IV
- Euphorische oder reizbare Stimmung
- Übertriebenes Selbstbewusstsein, Größenideen
- Gesteigertes Aktivitätsniveau
- Psychomotorische Unruhe
- Geringes bis fehlendes Schlafbedürfnis
- Rededrang
- Ideenflucht
- Erhöhte Ablenkbarkeit
- Evtl. ungezügeltes Einkaufen, finanzieller Ruin, schädliche geschäftliche Entscheidungen, gesteigertes
sexuelles Interesse
Klassifikation affektiver Störungen
- Man unterteilt nach:
- Affektiven Episoden
- Affektiven Störungen
Affektive Episoden
- Episode einer Major Depression
- Manische Episode
- Hypomane Episode
- Gemischte Episode
Affektive Störungen
- Depressive Störungen (Major Depression, Dysthyme Störung)
- Bipolare Störungen (Bipolar I & Bipolar II, Zyklothyme Störung)
- Ätiologie-orientierte Störungen (Affektive Störungen aufgrund eines medizinischen Krankheitsfaktors
oder Substanzinduzierte affektive Störung)
38
Erscheinungsformen der Depression
- Major Depression (MDE), rez. Depressive Störung
- Post-partale Depression
- Altersdepression (veraltet: Involutionsdepression)
- Saisonale Depression
- „Double Depression“
- „Minor Depression“ (veraltet)
- Atypische Depression (Aufhellbarkeit der Stimmung sowie vermehrter Appetit oder
Gewichtszunahme, Hypersomie, „bleierne Schwere“ des Körpers & eine lang anhaltende
Überempfindlichkeit gegenüber subjektiv empfundenen persönlichen Zurückweisungen
- Rezidivierende kurz depressive Störung
- Bipolar I & II
- Zyklothymie
Häufigkeits- & Geschlechterverteilung affektiver Störungen
- Unipolare Depression: 65%; Frauen : Männer = 2 : 1
- Bipolare Störungen: 30%; Frauen : Männer = 1 : 1
- Rein Manisch: 5%
Rückfall & depressive Episoden
- Wahrscheinlichkeit rezidivierender Episoden (MIT Behandlung):
- Nach 1 Episode: 50%
- Nach 2 Episoden: 80%
- Nach 3 Episoden: 90%
Bipolare Störungen – ein Überblick
- Die bipolaren Störungen umfassen unterschiedliche Krankheitsepisoden, die als manisch,
hypomanisch, depressiv, gemischt oder euthym beschrieben werden
- Die Symptome sind Überzeichnungen normaler Stimmungszustände wie z. B. Traurigkeit, Freude,
Reizbarkeit, Wut & Kreativität
- Depressiver Zustände sind mit Abstand am häufigsten
- Trotz nachgewiesen wirksamer Therapiemöglichkeiten sind nur 30% der Erkrankten in Behandlung
- Einer von 4-5 unbehandelten Patienten stirbt durch Suizid
Bipolare Patienten leiden fast die Hälfte ihrer Lebenszeit an den Symptomen der Erkrankung
Symptome der Manie/Hypomanie
- Gehobene Stimmung/Reizbarkeit/Aggresivität
- Unerhöhtes Selbstwertgefühl/Grandiosität
- Verringerter Schlafbedarf
- Rededrang
- Gedankenrasen
- gesteigerte Ablenkbarkeit
- Überaktivität/Agitiertheit
- Bevorzugung angenehmer Aktivitäten
- ≥ 3 Symptome, ≥ 1Wo = „Bipolar-I-Störung, manische Episode“ nach DSM-IV
39
Unterschiede zwischen Hypomanie & Manie
Hypomanie
Leicht ausgeprägte Symptome
Geringfügige - leichte Beeinträchtigung
Geringfügig - leicht beeinträchtigte Urteilfähigkeit
Spricht gewöhnlich auf die ambulante Behandlung an
Schlafregulierung und/oder Benzodiazepine können die
Episode manchmal beenden
Manie
Schwer ausgeprägte Symptome
Schwere Beeinträchtigung
Schwer beeinträchtigte Urteilsfähigkeit
Psychotische Symptome
Erfordert häufig eine stationäre Behandlung
Erfordert Akuttherapie mit Stimmungsstabilisierer und/oder Antipsychotikum
Bipolare Störung: Unerkannt & zu selten diagnostiziert
-
Noch schlimmer: Fehldiagnose nach korrekter Diagnosestellung:
17,5% der Bipolar I Patienten einer SP mit fast 8000 Patienten wurden innerhalb eines Jahres nach
dieser Diagnose mit unipolarer Major Depression fehldiagnostiziert
Ätiologie der Bipolaren Störung
Neuropsychologische Störungen bei Bipolarer Störung
- Kognitive Defizite (auch in euthymen Phasen)
- Störung der Aufmerksamkeit (-Aktivierung, -Lenkung & -Wechsel)
- Störung von Gedächtnis (semantisch & episodisch/autobiographisch) & Lernen
- Störung der exekutiven Funktionen (Beeinträchtigung von Antizipation, Planung,
Handlungsorientiertheit, kognitiver Flexibilität, Koordinierung von Prozessen, Sequenzierung &
Handlungskontrolle & -überwachung)
- Mehrzahl der Patienten erreicht nicht mehr ihr volles prämorbides Funktionsniveau
- Zusätzliche Defiziten in manischen Phasen:
- Stärkere Beeinträchtigung der verbalen Gedächtnisleistung
- Zusätzliche Defizite in depressiven Phasen:
- Reduzierte Wortflüssigkeit
- Reduzierte Psychomotorik
Beteiligte Gehirnsysteme
- Neuroanatomie:
- Präfrontaler Kortex Exekutive Funktionen
- Basalganglien (Nucleus caudatus, Putamen, Pallidum  Belohnungssystem)
- Amygdala: Vergrössertes Volumen
- Neurotransmittersysteme:
- Dopaminerges System (Dopaminagonisten & L-Dopa-Gabe lösen manische Episoden bei
Bipolaren Patienten aus)
Genetische Faktoren
- Familienstudien: 8-9% der direkten Verwandten einer Person mit Bipolarer Störung erkranken
ebenfalls
- Auch das Risiko für eine Unipolare Depression ist erhöht
- Zwillingsstudien: Konkordanzraten
- MZ: ca. 70% (Bipolare & unipolare Depression 3 : 2)
- DZ: ca.19% (Bipolare & unipolare Depression)
40
-
Bipolare Störung ist damit eine der am stärksten durch genetische Faktoren mitbestimmte
psychischen Erkrankungen
Bisher gibt es aber keine überzeugenden Ergebnisse bzgl. eines konkreten Erbganges
Eine psychodynamische Perspektive
- Grandiosität & Manie soll das Ergebnis der Abwehr von sebstabwertenden Gedanken darstellen
- Beleg:
- Im Selbstbericht finden sich wie erwartet Ergebnisse, die auf einen hohen Selbstwert in
manischen & einen geringen in Depressiven Episoden hinweisen
- In einem emotionalen Stroop zeigten die manischen Patienten eine stärkere Interferenz für
negative & nicht für positive Wörter
- Sie erinnerten auch mehr negative als positive Wörter, nach einer Selbstreferenzaufgabe (in der
wie Gesunde mehr positive Wörter sich selbst zugeschrieben hatten)
- Diese Ergebnisse entsprechen eher denen von Depressiven als denen von Gesunden
Lebensereignisse (Johnson et al., 2008)
- Prospektive Studie
- 125 Bipolare Patienten wurden über 2 Jahre monatlich interviewed
- 2 Arten von Lebensereignissen wurden erfasst:
- negative Lebensereignisse
- positive Lebensereignisse (Zielerreichung, z.B. ein Karrieresprung)
- Ergebnisse:
- negative Ereignisse haben keinen Erklärwert für manische Episode, aber für depressive
- positive Ereignisse haben Erklärwert für manische Episoden
- Schlussfolgerung: wenige solcher Lebensereignisse = gesund  „Gewöhne dich an ein langweiliges
Leben“
Exkurs unipolare Depression
- Je mehr depressive Episoden, desto geringer die Bedeutung von „stressfull life events“
- Mit zunehmender Episodenzahl:
- steigt das Risiko weiterer Episoden
- nimmt die Assoziation des Episodenbeginns mit belastenden
Ereignissen ab
41
Soziale Zeitgeberhypothese
- Lebensereignisse verändern soziale Zeitgeber (Mahlzeiten, Bettgehzeiten, Freizeit etc.)
- Die Unterbrechung dieser Sozialen Rhythmen beeinflusst biologische Rhythmen
- Diese sind dann verantwortlich für die Auslösung von affektiven
Episoden (z.B. einer Manie)
Prospektive Studie (Shy et al. 2008)
- Verglichen wurden bipolare Patienten mit hohem (n=109) vs. geringem
(n=109) regulärem (sozialem) Tagesablauf
- Personen mit geregeltem Tagesablauf hatten geringere
Wahrscheinlichkeit für Episode
Suizidalität
Definition:
- Suizidideen: z.B. Nachdenken über den Tod im Allgemeinen; Über den eigenen Tod; direkte
Vorstellung über Suizidhandlungen (ich möchte mich umbringen – wie stelle ich das an?)
- Suizidversuche: Verhalten mit suizidaler Absicht. Die Handlung wird im Glauben durchgeführt, dass sie
zum Tod führt (Bsp.: Tabak in Wasser auflösen & trinken; funktioniert nicht, aber der Patient hat daran
geglaubt)
- Suizid : Ein zum Tode führender Suizidversuch
- Parasuizid: nicht tödliche Handlung eines Menschen, die absichtlich selbstverletzend durchgeführt
wird (& möglicherweise für das Umfeld wie ein Suizidversuch aussehen soll). Bsp.: Überdosierung von
Medikamenten oder Suchtmitteln zum Zwecke der Selbstschädigung. Allgemeiner: Selbstschädigendes
Verhalten
Art des Suizids bzw. Suizidversuchs (Daten aus USA)
- Tabletten/Medikamente: 51%
- Alkoholintoxikation: 16%
- Erhängen/Strangulation: 16%
- Pulsadereröffnung: 15%
- Drogen/BTM: 5%
- Sprung von Bauwerk: 4%
- sonstige Intoxikation: 3%
- Schusswaffen: 3%
- KFZ-Abgase: 2%
- Stromschlag: 1%
- Unbekannt: 1%
Gestorbene: Deutschland, Jahre, Todesursachen, Geschlecht (Todesursachenstatistik)
42
Todesursachen im Vergleich: BRD 2001
Sterblichkeit durch vorsätzliche Selbstbeschädigung, je 100.000 Einwohner & Jahr
Suizide bei Älteren
- Suizidrate 4x höher als in der Jugend
- Demonstratives Verhalten seltener
- Wichtig: bei suizidalen Älteren in 80% Mitbeteiligung von Depression
- stille Suizidalität (eingeschränkte Nahrungsaufnahme, nicht-Compliance mit notwendiger Mediaktion)
- (Zahlen nicht lernen, aber Verhältnisse)
Suizid- Suizidversuche
- Suizid : Suizidversuche  1: 10-20
- Männer : Frauen (Suizid)  2 : 1
- Männer : Frauen (Suizidversuche)  1 : 2-3
Suizidversuche – Deutschland
- Im Gegensatz zu Suizid werden Suizidversuche aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht mehr erfasst
- Angaben über Häufigkeit sind daher Schätzungen aus wissenschaftlichen Studien
- Suizidversuche werden häufiger von Frauen als von Männern durchgeführt
- 1996: 122/100.000 Männer; 147/100.000 Frauen
- Auf jeden Suizid eines Mannes entfallen 5,5 Suizidversuche, auf jeden Suizid einer Frau 18
Suizidversuche
- Insgesamt (pro Jahr): 48.600 Suizidversuche Männer; 61.600 Suizidversuche Frauen
Suizide & Suizidversuche bei psychischen Störungen
43
Genetik -Adoptionsuntersuchungen
-
Fazit: durchaus genetische Komponenten
Risikofaktoren
- Geschlecht: Männer > Frauen
- Alter: älter als 50 Jahre > jünger als 50 Jahre
- Familienstand: Geschiedene > Verwitwet > Ledige > Verheiratet
- Soziale Schicht: Unterschicht überrepräsentiert
- Arbeitsstand: Arbeitslose > mit Arbeitsplatz
- Jahreszeit: Sommer & Frühling < Winter & Herbst (trifft auch auf Depressionen zu)
- Stadt / Land: Stadt > Land (in Ländern der ehemaligen Sowjetunion umgekehrt)
- Religionszugehörigkeit: protestantisch > katholisch
Verläufe - Risikofaktoren:
- Ca. 50% der Patienten, die wegen eines Suizidversuchs (SV) in eine Klinik aufgenommen werden,
haben schon mind. 1 SV in der Vorgeschichte
- Zwischen 12 & 35% der Suizidenten begehen in den nächsten 2 Jahren erneut einen SV
- Nach 5-10 Jahren suizidieren sich zwischen 6 & 10% der Patienten mit einem SV, nach 10-30 Jahren
10-13%
Psychopathologische Faktoren, die das Suizidrisiko erhöhen
- Hoffnungslosigkeit
- Niedriges Selbstwertgefühl
- Depressiver Wahn (nihilistisch, Schuld, Selbstbestrafung)
- Imperative Stimmen mit Aufforderung zum Suizid
- Paranoide Beziehungsideen (Bedrohtheit, Verfolgung, etc.)
- Innere Unruhe, Betriebenheit
- Angst vor Kontrollverlust über eigene Suizidimpulse
Stadien der suizidalen Entwicklung (Pöldinger)
- Erwägung:
- Suggestive Momente (Fernsehen, Literatur, Bekannte, Chatforen im Internet)
- Nach innen gerichtete Aggression
- Ambivalenz:
- Interventionen möglich
- Hilferufe, Ankündigungen
- Appelle müssen ernst genommen werden, explizit erfragt werden
- Entschluss:
- Höchstens indirekte Suizid-Ankündigung, oft scheinbar ruhig, gelassen ( sieht nach Besserung des
Zustandes aus!!!)
Mögliche Funktionen
- Appell Funktion / Hilferuf
- Wunsch nach (befristeter oder endgültiger) Ruhe
- Autoaggressivität – Selbstbestrafung
- Rachemotiv – Fremdbestrafung
- (Beziehungs-) Manipulation
44
Fragen zur Suizidalität
- Geht es Ihnen manchmal so schlecht, dass Sie auch daran denken, das Leben habe keinen Sinn mehr?
- Haben Sie sich jemals so niedergeschlagen gefühlt, dass Sie daran dachten, Selbstmord zu begehen?
- Oder hatten Sie über mehr als 2 Wochen den Wunsch zu sterben?
- Haben Sie jemals konkrete Pläne gemacht, wie Sie Selbstmord begehen könnten?
- Haben Sie jemals versucht, Suizid zu begehen?
- Halten Sie Ihre Situation für aussichtslos?
- Denken Sie ständig nur an Ihre Probleme?
- Haben Sie noch Interesse an Ihrem Beruf? Ihren Hobbies?
- Haben Sie Vorstellungen, wie Sie dies tun würden?
- Haben Sie Vorbereitungen getroffen?
- Haben Sie mit jemandem über Ihre Absicht gesprochen?
- Fühlen Sie sich einer religiösen/moralischen Gemeinschaft verpflichtet?
Einschätzung der Suizidgefahr
- Hinweise aus:
- Vorgeschichte
- Umwelt
- Aktuelle Lebenslage
- Verbalen oder non-verbalen Andeutungen
- Wahrnehmung der eigenen Empfindungen des Beraters
- Suizidgedanken/äußerung
- Seit wann?
- Wer weiss davon?
- Art der Suizidgedanken? Überlegt oder sich aufdrängend?
- Bedeutung der der Suizidgedanken für den Klienten?
- Stadium der suizidalen Einengung
- Vorbereitungen getroffen?
- Bestehende Ressourcen des Klienten
- Kontakt/Beziehung zum Berater
Kriterien zur Einschätzung des Suizidrisikos: Erhöht wenn…
- Bisherige Suizidversuche eine Tendenz zu immer härteren Methoden aufweisen
- Selbsttötungsabsichten nur gegenüber Dritten (nicht dem Partner) geäußert werden
- der Patient mehr Gründe für das Sterben als für das Leben nennt
- Suizidgedanken länger andauern (über mehrere Minuten hinweg)
- eine depressive Phase begonnen hat oder im Abklingen ist
- der Patient starke Schuldgefühle berichtet
- keine Hindernisse wie religiöse Einstellungen oder Kinder vorhanden sind
- die Methode gut durchdacht ist
- der Patient im Besitz einer Anleitung zur Selbsttötung ist
- Vorbereitungen getroffen sind
- eine geringe Wahrscheinlichkeit besteht, dass Sozialpartner einschreiten können
- nach anfänglich ernst zu nehmenden Suiziddrohungen eine ungewöhnliche Ruhe entsteht
Hinweise auf latent vorhandene Selbsttötungsabsichten
- Rücksichtsloses Autofahren
- Trunkenheit am Steuer
- Anfangen von Hobbies mit hohem Risiko
- Häufige Unfälle in der neueren Lebensgeschichte
- Berichte von lebensgefährlichen Erlebnissen ohne angemessene emotionale Beteiligung
- Diabetiker ohne Selbstdisziplin
- Häufig wechselnde Geschlechtspartner ohne Berücksichtigung von Safer-Sex-Praktiken
- Exzessiver Konsum von Drogen (auch Nikotin und Alkohol)
45
Grundzüge einer Intervention
- Suizidgefahr ansprechen! (sehr unwahrscheinlich, dass das zu einer erhöhten Suizidgefahr führt)
- Suizidgefahr explorieren!
- Entscheidungen treffen – ambulante oder stationäre Krisenintervention?
- Zeit gewinnen!
- Gute Suizidprävention kann nur machen, wer Suizid nicht für eine Alternative hält!
Typische „Fehler“ im Umgang mit Suizidalität
- Latente suizidale Reaktionen übersehen (Suizid tabu?)
- Bagatellisierung akzeptieren (Ruhe vor dem Sturm)
- Zu schnelle Orientierung auf positive Veränderungen (Kann ich Ratlosigkeit aushalten?)
- Konventionelle Klischees (Verlegenheitsäußerungen unter Zeitdruck)
- Abgenützte Beschwörungsformeln („Sie sind noch so jung“)
- Provokationen („Ich kann Ihnen gerne ein Geschäft nennen, wo sie einen Strick finden)
- Gründe für das Weiterleben aufzählen (eigene – führt zu Distanz)
- Unangemessene Therapieziele (Überforderung des Patienten; besonders zeitliche Perspektive)
46
6. Vorlesung: Substanzinduzierte & Substanzassoziierte Störungen I
Diagnosen der verschiedenen Substanzklassen nach DSM IV
DSM IV: Phencyclidin (PCP)
- Die Phencyclidine oder phencyclidinähnliche Substanzen umfassen Phencyclidin (PCP, Sernylan) &
ähnlich wirkende Stoffe wie Ketamin (Ketalar, Ketaject) & die Thiophenanaloge des Phencyclidin (TCP)
- Wurden zunächst als dissoziative Anästhetika in 50ern entwickelt & in 60ern zu Straßendrogen
- Die Stoffe können oral oder intravenös zugeführt oder inhaliert werden
- Innerhalb dieser Substanzklasse ist Phencyclidin die am meisten gebrauchte Substanz
- Illegal verkauft unter verschiedenen Namen wie PCP, Hog, Tranq, Angel-Dust & PeaCe Pill
DSM IV: Störungen im Zusammenhang mit Phencyclidin(oder Phencyclidinähnlichen Substanzen)
- Störungen durch Phencyclidinkonsum:
- Phencyclidinabhängigkeit
- Phencyclidinmissbrauch
- Phencyclidininduzierte Störungen:
- Phencyclidinintoxikation. Bestimme, ob: Mit Wahrnehmungsstörungen
- Phencyclidinintoxikationsdelir
- Phencyclidininduzierte Psychotische Störung, Mit Wahn. Mit Beginn/während Intoxikation
- Phencyclidininduzierte Psychotische Störung, Mit Halluzinationen. Mit Beginn/während Intoxikation
- Phencyclidininduzierte Affektive Störung. Bestimme, ob: Mit Beginn/Während der Intoxikation
- Phencyclidininduzierte Angststörung. Bestimme, ob: Mit Beginn/Während der Intoxikation
- Nicht Näher Bezeichnete Störung im Zusammenhang mit Phencyclidin
Koffeinismus: Eine valide Diagnose… steht aber nicht im DSM! (Sjaastad & Bakketeig, 2004)
- Bei regelmäßiger & v.a. höher dosierter Anwendung ist die Entwicklung einer Toleranz die Regel
- Auch Abhängigkeit tritt auf („Koffeinismus“) (allerdings selten)
- Im Entzug treten dabei besonders Kopfschmerzen auf, die sich durch erneuten Koffeinkonsum rasch
verbessern (bei etwa 0,4 % der Bevölkerung)
- Erschöpfung, Energieverlust, verminderte Wachsamkeit, Schläfrigkeit, herabgesetzte Zufriedenheit,
depressive Stimmung, Konzentrationsstörungen, Reizbarkeit &das Gefühl, keine klaren Gedanken
fassen zu können, grippeähnliche Symptome, Muskelschmerzen/-steifheit, Übelkeit & Erbrechen
- Der mittlere Kaffeekonsum der untersuchten Betroffenen betrug (nur) 4,7 Tassen/Tag!
ICD 10:
-
.0 Akute Intoxikation [akuter Rausch]
.1 Schädlicher Gebrauch
.2 Abhängigkeitssyndrom
.3 Entzugssyndrom
.4 Entzugssyndrom mit Delir
.5 Psychotische Störung
.6 Amnestisches Syndrom
.7 Restzustand und verzögert auftretende psychotische Störung
.8 Sonstige psychische und Verhaltensstörungen
.9 Nicht näher bezeichnete psychische & Verhaltensstörung
47
ICD 10 – Gelistete Substanzen
- F10: Alkohol
- F11: Opioide
- F12: Cannabinoide
- F13: Sedativa oder Hypnotika
- F14: Kokain
- F15: andere Stimulanzien, einschließlich Koffein
- F16: Halluzinogene
- F17: Tabak
- F18: flüchtige Lösungsmittel
- F19: multipler Substanzgebrauch & Konsum anderer psychotroper Substanzen
- F55: Missbrauch von nichtabhängigkeitserzeugenden Substanzen
Substanzmissbrauch (DSM IV)
- A. Mindestens 1 der folgenden Kriterien innerhalb desselben 12-Monats-Zeitraums:
- 1. Wiederholter Substanzgebrauch führt zu Versagen bei der Erfüllung wichtiger Verpflichtungen
bei der Arbeit, in der Schule oder zu Hause
- 2. Wiederholter Substanzgebrauch in Situationen, in denen es aufgrund des Konsums zu einer
körperlichen Gefährdung kommen kann
- 3. Wiederkehrende Probleme mit dem Gesetz im Zusammenhang mit dem Substanzgebrauch
- 4. Fortgesetzter Substanzgebrauch trotz ständiger oder wiederholter sozialer oder
zwischenmenschlicher Probleme
- B. Es lag nie eine Substanzabhängigkeit vor.
Cave: ICD 10: „schädlicher Gebrauch“ entspricht nicht „Missbrauch“!
- Konsum psychotroper Substanzen, der zu Gesundheitsschädigung führt. Diese kann als körperliche
Störung auftreten, etwa in Form einer Hepatitis nach Selbstinjektion der Substanz oder als psychische
Störung, z.B. als depressive Episode durch massiven Alkoholkonsum
- Gebrauchsmuster besteht mind. seit 1 Monat oder trat wiederholt in den letzten 12 Monaten auf
Abhängigkeit nach DSM-IV & ICD-10
DSM-IV
Mind. 3 der folgenden Kriterien treffen zu:
Toleranz (weniger Wirkung oder Dosissteigerung)
Entzugssymptome (Entzugssyndrom, oder Einnahme
der Substanz zur Bekämpfung von
Entzugssymptomen)
Konsum häufig in größeren Mengen oder länger als
beabsichtigt
Wunsch/erfolglose Versuche zur Abstinenz/Kontrolle
der Substanz
Viel Zeit für Aktivitäten, um die Substanz zu
beschaffen, sie zu sich zu nehmen oder sich von
ihren Wirkungen zu erholen
Einschränkung sozialer, beruflicher oder
Freizeitaktivitäten aufgrund des Substanzkonsums
Fortgesetzter Konsum trotz Kenntnis der
Folgeprobleme
Auftreten der Symptome über einen Zeitraum von
12 Monaten
ICD 10
Mind. 3 der folgenden Kriterien trifft zu:
Toleranz
Körperliches Entzugssyndrom
Substanzgebrauch mit dem Ziel,
Entzugssymptome zu mildern
Verminderte Kontrollfähigkeit bzgl. des Beginns,
der Beendigung & der Menge des Konsums
Starker Wunsch, bestimmte Substanzen zu
konsumieren
Eingeengtes Verhaltensmuster im Umgang mit
psychoaktiven Substanzen
Fortschreitende Vernachlässigung anderer
Vergnügen oder Interessen
Anhaltender Substanzkonsum trotz eindeutiger
körperlicher & psychischer Folgen
Auftreten der Symptome in den letzten 12
Monaten
48
Ätiologie
3 wesentliche Faktoren
- Droge
- Individuum
- Umfeld
Toleranz: Definitionen
- Akute Toleranz: Entsteht während der Wirkungszeit einer einzelnen Drogeneinnahme
- Chronische Toleranz: Wirkung wird über wiederholte Einnahmen hin vermindert
- Kreuztoleranz: Toleranz gegenüber einer Droge bedingt Toleranz gegenüber einer anderen Droge
derselben Substanzklasse
- Alkohol
wenn man schon alkoholanhängig ist (GABA- Benzodiazepine
Rezeptoren), haben Benzodiazepine &
- Barbiturate
Barbiturate nicht mehr eine so starke Wirkung
Akute Toleranz
- Person gewöhnt sich an Alkohol
- Bodysway bei .4 Promille:
Pro Stunde ca. 0,1 Promille
weniger (linear)
-
Hin & Her Schwanken im absteigenden & ansteigenden Ast unterschiedlich, obwohl Blutalkohol gleich
 Gewöhnung
Chronische Toleranz
- Verminderte Reaktion auf eine Droge mit wiederholter Applikation
- 3 Typen:
- metabolisch (Leberenzyme)
- zellulär (Rezeptor down-regulation)
- Gelernt (Klassische & operante Konditionierung)
Konditionierte Toleranz
- Crowell et al. (1981): Wirkung von Alkohol auf Körpertemperatur
-
-
T1 = 1. hypotherme Reaktion auf Alkoholinjektion
T2 = Hypotherme Reaktion auf Alkoholinjektion nach 20 Durchgängen
Durch Alkohol wird die Körpertemperatur abgesenkt. Mehrmals Alkohol injiziert. Körpertemperatur
sinkt nicht mehr nach einigen Malen. Funktioniert aber nur in dem Raum, in dem die Injektionen
verabreicht wurden  neuer Raum – Körpertemperatur sinkt wieder
Fazit: Konditionierte Toleranz ist Kontextabhängig
Siehe „Goldener Schuss“ /„Bier am Morgen“ (macht betrunkener, weil unkonditionierte Bewegung)
49
Toleranz: Bedeutung
- Warum ist Toleranz wichtig?
- Bsp. Alkohol:
- Eine der Determinanten für gesteigerten Alkoholkonsum
- Hält Abhängigkeit aufrecht, oder verstärkt sie
- Erhöht das Risiko für organische Folgeerkrankungen
- Kreuztoleranz gegenüber anderen sedierenden Substanzen fördert deren Abhängigkeitsrisiko
- Genetische Determinanten vorhanden
- Initiale Toleranz Risiko für spätere Alkoholprobleme
Sensitisierung
- Zunahme der Reaktion auf eine Droge mit wiederholter Applikation
- Relevant zu Beginn der Entwicklung einer Abhängigkeit
- Tierversuch: Motilitätserhöhung (verstärkte Bewegung) bei wiederholter Gabe z.B. von Amphetaminen
- Warum ist Sensitisierung möglicherweise wichtig?
- Möglicherweise Teil des “Suchtgedächtnis”: Sensitisierung setzt schnell ein & hält lange an
- Problem: Im Tiermodell zeigen sich bei später süchtigen vs. nicht süchtigen Tieren keine Unterschiede
in der Sensitisierung
Die neurophysiologische Wirkung von Opiaten, THC & Kokain
Belohnungssystem: Effektoren
- „natürliche Verstärker“: Essen, Wasser, Sex
- Belohnungssystem wird sowohl durch natürliche als auch durch
abhängigkeitserzeugende Substanzen aktiviert
- Durch Beobachtung der Effekte direkter Injektion in das System kann dieses genauer untersucht
werden
- Belohnungssystem: Tegmentum (VTA) Nucleus Accumbens  Präfrontaler Cortex
Kokain
-
Kokain konzentriert sich v.a. im Belohnungssystem
Zusätzlich: Nucleus caudatus (Teil der Basalganglien: Stereotypes Verhalten)
Das Belohnungssystem wird durch Kokain entsprechend überaktiviert
Bei chronischem Gebrauch verlieren natürlich Verstärker ihre Wirkung
PET-Scan (3. Bild) Links: ein normales Gehirn, Rechts: Gehirn eines
Kokainabhängigen auf Kokain; Rot zeigt Glukoseverbrauch an – unter Kokain
nimmt die Fähigkeit des Gehirns zur Metabolisierung von Glukose deutlich ab
– dies führt zu vielfältigen Dysfunktionen
50
Opiate
- Opiate fördern die Ausschüttung von Dopamin durch Hemmung GABAerger
Aktivität über den Umweg von Opiatrezeptoren (endogene Opiate:
Enkephaline bzw. Endorphine)
- Weitere Wirkung z.B. am Thalamus: Schmerzreduktion durch reduzierte
Schmerzsignalweiterleitung zum Kortex
- Das Belohnungssystem wird durch Opiate entsprechend überaktiviert
- Bei chronischem Gebrauch verlieren natürlich Verstärker ihre Wirkung
THC (Cannabis)
- Wirkorte: v.a. Tegmentum, Nucleus caudatus, Hippocampus, Kleinhirn
- THC fördert wahrscheinlich ebenfalls die Ausschüttung von Dopamin durch
Hemmung GABAerger Aktivität über den Umweg von Cannabinoidrezeptoren:
Dies ist bisher aber noch nicht gesichert
Natürliche Verstärker erhöhen Dopamin
-
Wirkung von Drogen auf Dopamin
Baseline 100
Essen: 150
Sex: 200
Amphetamin: Dopaminausstoß im Accumbens (1000)
Kokain: Dopaminausstoß im Accumbens (>300)
Nicotin: Dopaminausstoß im Accumbens & im Caudate (150)
Morphium: Dopamin im Accumbens, immer mehr je größer die Dosis
51
Dopamin D2 Rezeptor Reduktion & Methamphetamin-Abhängigkeit:
Neuropsychologische Effekte
- Timed Gait: Schnelles geradeaus gehen (Grobmotorik)
- Grooved Pegboard: Stifte in schräg gebohrte Löcher stecken (Feinmotorik)
- AVLT: Gedächtnistest
- a) Erinnerungsleistung nach interferierendem Lernen
- b) Erinnerungsleistung nach 20 Minuten Pause
-  Je stärker die Reduktion, desto schlechtere neuropsychologische Werte
Zusammenfassung der Mechanismen von Drogen an der Synapse  Erhöhung der Verfügbarkeit von
Dopamin
- Kokain: Dopamin-Wiederaufnahmehemmung
- Amphetamine: Dopamin-Wiederaufnahmehemmung; direkte Erhöhung der Dopaminausschüttung
- THC (Marihuana): Blockierung von GABA  Erhöhung von Dopaminausschüttung
- Opiate: Blockierung von GABA  Erhöhung von Dopaminausschüttung
Dopaminausschüttung im Nucleus accumbens bei verschiedenen Verstärkern
+
++
0
-
Anstieg
verstärkter Anstieg
keine Veränderung
Abfall
Abhängigkeitspotential
- Risk for meeting drug-specific DSM-III-R criteria for dependence on marijuana, cocaine & alcohol,
based upon users of each drug (National Comorbidity Survey, 1990–92)
Verstärkungswert von Drogen in der Selbstapplikation (Tiermodell):
- Ja: Amphetamin, Methylenidat, Kokaine, Khat, Nicotin, Alkohol, Diazepam, Midazolam, Heroin, Codein
(Opiat), Methadon, THC
- Nein: LSD
52
Ethanoleinnahme im freien Wahlversuch
- Beispielhafte Darstellung des Flüssigkeitsverbrauchs einer Ratte in 2 Wochen
- TFI = gesamter Flüssigkeitsverbrauch
- ETOH = Gesamtdosis Alkohol
- Mäuse trinken, wenn sie einsam sind. Werden süchtig.
- Einfluss situativer (Isolation) & individueller (Dominanz) Faktoren
Retest auf Suchtverlangen (vergällte Trinkflüssigkeit)
- Es ist nicht die Substanz alleine, sondern auch die Frage, ob ich gezwungen
werde oder die Wahl habe ( Konditionierungseffekte)
- Wichtig: kein reiner Substanzeffekt  Abstinenzmodell
- Spricht für ein Abhängigkeitsgedächtnis
- Vorerfahrungen mit freiwilliger & zwangsweiser Einnahme
- Etonitazen = Opiat
Alkoholeffekte auf die lokomotorische Aktivität von Ratten
Zusammenfassung Tiermodell
- Zumindest bei Ratten gibt es einen „Point of no Return“
- Diese Veränderungen bilden sich im Rattenleben nicht mehr zurück
- Diese Veränderungen sind kein reiner Substanzeffekt! (Freiwilligkeit der Einnahme ist entscheidend)
- Dies legt ein Abstinenzmodell der Behandlung nahe
53
Risikofaktoren
- 1) Dispositionen
- 2) Missbrauchsverhalten in der Familie
- 3) Erziehungsstile
- 4) Frühe psychische Störung (Komorbidität)
- 5) Frühes deviantes & delinquentes Verhalten
- 6) Einfluss der Peer Gruppe
- 7) Verfügbarkeit von psychoaktiven Substanzen
- 8) Substanz- & Einnahmecharakteristika
- 9) Internale Kontrollüberzeugung
- 10) Selbstwirksamkeitserwartung
- 11) Risikowahrnehmung
- 12) Stressbewältigung / Widerstandsfähigkeit
- 13) Optimismus
- 14) Kommunikationsfertigkeiten
- 15) Verhaltenskompetenzen im Umgang mit psychoaktiven Substanzen
- 16) Soziale Unterstützung
Hintergrund
- Persönlichkeitseigenschaften
- Sensation Seeking
- SSS-V: Sensation Seeking Scale (Zuckerman, 2003): 40 dichotome
Fragen, die sich bzgl. sozialer Erwünschtheit kaum unterscheiden
- Novelty Seeking
- Streben nach neuen, abwechslungsreichen & intensiven Erfahrungen
- Bereitschaft Risiken dafür einzugehen
-  erhöhtes Risiko für Substanzmissbrauch
Graff Low & Gendaszek (2002)
- 74 weibliche, 76 männliche Studenten
- Genannte Gründe:
- ‘to improve intellectual performance’ (23.3%)
- ‘to be more efficient on academic assignments’ (22.0%)
‘use in combination with alcohol’ (19.3%)
Physiologische Reaktivität – Bedeutung einer positiven Familienanamnese
- Forschung mit Söhnen Alkoholabhängiger Väter (& Großväter)
- Die Söhne sind selber noch nicht alkoholabhängig!
54
Reaktivität auf Elektroschocks: Dämpfende Wirkung von Alkohol
Verfügbarkeit (epidemiologische Forschung)
Konsumverhalten der Bevölkerung & dessen Auswirkung auf Substanzprobleme
- Wie wirkt sich Verfügbarkeit aus?
- Bsp. Alkohol: Prohibition (USA): 50% weniger Tote durch Leberzhirrose
Verhältnisprävention: materielle Verfügbarkeit
- Alkohol:
- 1. Pro-Kopf-Verbrauch variiert um bis zu 100 %
- a) zwischen Ländern: Deutschland ca. 12 l (Reinalkohol/Jahr); Finnland ca. 6 l
- b) zeitlich: In Deutschland Verdoppelung seit 1950
- 2. Synchron variieren Indikatoren für alkoholassoziierte Störungen:
- Mortalität in Zusammenhang mit Leberzirrhosen
- Häufigkeit von Delirium Tremens (D. T.)
- Verkehrsunfälle unter Alkohol
- Aufnahmen mit Diagnose Alkoholabhängigkeit
Reduktion des Angebots
- 1. Preisgestaltung, Besteuerung
- 2. Zugangsbeschränkungen
- Regulierungen (Prohibition, Monopole, Rationierung, Versorgungsdichte, Verfügbarkeit,
Regulierung nach dem Risiko (z.B. hochprozentige Getränke), Öffnungszeiten
- Personale Regelungen (Jugendschutz, Verkaufspersonal)
- 3. Kontrolle öffentlicher Sicherheit (Verkehr, Großveranstaltungen)
„Ist (war) die Tabaksteuererhöhung ein Anlass für Sie, Ihr Rauchen zu ändern?“
55
7. Vorlesung: Substanzabhängigkeit II: Cannabis
Epidemiologie
Befragung von Erstsemestern der WWU Münster 2004
- Probanden:
- zwischen 18 & 24 Jahren
- N = 663 in der Auswertung
- 61, 7% weiblich
- Alter: Mittelwert 20, 4, Modalwert 20 Jahre
- Nationalität: deutsche Staatsangehörigkeit (97,7%)
- Familienstand: ledig 99,4%
- Bildungsgrad: 98,8% Abitur, 0,9% Fachabitur, 0,2% Berufsausbildung
- mittlere (Fach-) Abiturnote: 2,25, Modalwert: 2,1
- Cannabiskonsum:
- Lebenszeitprävalenz 44,1%
- Jahresprävalenz 13%
- Von diesen :
- Einmal im Monat oder seltener: 67%
- 2-4 im Monat: 14%
- 2-3 in der Woche & häufiger: 18%
- Geschlechtsspezifische Unterschiede nicht signifikant
- Konsumfrequenz:
- 1-5 mal (Probierkonsum): 18,3%
- 6-99 mal (Gelegenheitskonsum): 17,7%
- >100 mal (Gewohnheitskonsum): 8,1%
- Weitere erhebliche, aber ab 21 abflachende Zunahme des Konsums (Gesamtinzidenz bis 29: 49%)
Zubereitung & Applikation
-
-
-
Marihuana
- Getrocknete Blatt-, Blüten- & Stengelteile
- Joint: Zigarette; 6-8% THC (ca. 20-30mg)
Haschisch
- Harz der Blütenstände, mit Teilen der Blüten & Blätter
- Platten, Bricks, Cakes: 5-10% THC (bis zu 35%)
Haschisch-Öl
- Extraktion durch organische Lösungsmittel, z.B. Alkohol
- Dickflüssiges, teerartiges Konzentrat: 15-30% THC (manchmal bis >60%)
Konsumformen und Wirkungen
- Rauchen / Inhalieren (Vaporisierer):
- Schnelle Anflutung, Wirkung nach wenigen Minuten; Maximum zwischen 15 & 40 Minuten
- Raucher erreichen höhere THC Konzentration
- Wirkdauer subjektiv bis zu 2-6 Stunden
56
-
Essen / Trinken:
- Langsame Resorption; Amplitude & Verlauf der Wirkung schlecht vorhersehbar; Risiko der
Überdosierung
- Langanhaltende & stärkere Wirkung auf ZNS, in Abhängigkeit von der Steuerung der Resorption
durch die verwendeten Nahrungsmittel
- Plasmakonzentration geringer & langsam ansteigend
- Flacher Wirkungsverlauf, erst nach ca. 2-3 Stunden Beginn maximaler Wirkung
- Dauer der subjektiven Wirkung auf bis zu 8 Stunden verlängert
Pharmakodynamik
Natürliche Cannabinoide
- Delta-9-Tetrahydrocannabinol (THC)
- Hauptverantwortlich für psychologische & physiologischen Effekte
- Delta-8-Tetrahydrocannabinol
- Weniger potent als Delta-9-THC, nur kleine Mengen in Pflanze
- Cannabinol
- Weniger potent
- Cannabidiol
- Keine Interaktion mir Cannabinoid-Rezeptoren, antikonvulsiv, kann unerwünschte
psychologische Effekte von THC vermindern
- Insgesamt 400 verschiedene Komponenten, über 60 Cannabinoide in Cannabis sativa
Rezeptoren
- Spezifische endogene Cannabinoid-Rezeprtoren:
- CB1 (zentraler C-Rezeptor): Cortex, limbisches System (Hippocampus, Amygdala), Basalganglien,
Cerebellum; wenig im Thalamus & Hirnstamm
- CB2 (peripherer C-Rezeptor): Makrophagen der Milz, andere Immunzellen
Endogene Liganden für Cannabinoid-Rezeptoren
- Anandamide (ananda = Glückseligkeit in Sanskrit)
- Derivat der Arachnidonsäure, verwandt mit Prostaglandin
- Bis heute 3 verschiedene Anandamide isoliert
- Wirkung kann durch Naloxon aufgehoben werden (Link zum Opoidsystem)
Bedeutung der Cannabinoid-Rezeptoren
- Über die funktionelle Bedeutung des Endocannabinoid-Systems ist bisher nur wenig bekannt
- Die Verteilung der Rezeptoren deutet jedoch auf eine Reihe möglicher Funktionen hin
- Regulation bzw. Modulation des Immunsystems
- Beeinflussung von Lern- und Bewegungsprozessen
- Weitere physiologische Prozesse, bei denen sie von Bedeutung sein könnten, sind u.a.:
- Schmerzzustände
- Schlafinduktion
- Appetit- & Motilitätssteuerung
- Temperatursteuerung
- Neuroprotektion
Physiologische & psychologische Wirkung
Herz-Kreislauf Effekte
- Dosis abhängige Tachykardie (bis 160/min)
- Toleranzentwicklung bei chronischem Konsum
- Vasodilatation – Rötung der Augen
- Orthostatische Hypotension
- Selten: schwere Herzprobleme (Infarkt, Rhythmusstörung)
57
Stimmung
- Sedierende & stimulierende Effekte
- Einfluss auf Stimmung
- „High“ (bereits bei 2,5mg THC):
- Verminderung von Angst/Wachheit/Depression/Anspannung/Schüchternheit
- Innerhalb von Minuten, 2h oder länger andauernd
- Dysphorische Reaktion:
- Angst/Panik/Paranoia/Psychose
- Dosisabhängig
- Häufiger bei Erstkonsum, ängstliche Personen, psychologisch vulnerablen Personen
Wahrnehmung
- Farben intensiver
- Musik lebendiger
- Emotionen eindrücklicher & bedeutungsvoller
- Räumliche Wahrnehmung verzerrt
- Wahrnehmung der Zeit verändert
- Halluzinationen (bei hohen Dosen)
Aufmerksamkeit, Denken, Psychomotorik
- Kognition & Psychomotorik:
- Zunahme der Reaktionszeit
- Koordinationsprobleme
- Abnahme des Kurzzeitgedächtnis
- Abnahme der Konzentration
- Beeinträchtigung bei komplexen Aufgaben, die geteilte Aufmerksamkeit erfordern
- Durch gleichzeitigen Konsum von Alkohol & BZD verstärkt
Toleranzbildung & Entzugssymptomatik
Toleranz & Entzugseffekte
- Toleranzentwicklung mehrfach beschrieben
- Entzugseffekte:
- Unruhe / Schlaflosigkeit / Ängstlichkeit / vermehrte Reizbarkeit / Inappetenz / Muskelzittern /
Symptome des autonomen NS
- Bereits Konsum von 180mg THC über 11-12 Tage kann zu Entzugssymptomatik führen
- Beginn nach ca. 10h Abstinenz
- Maximum nach ca. 48h
- Zeitlicher Verlauf von Entzugssymptomen bei Cannabis
THC wird in Fettzellen
eingelagert  lang anhaltende,
flach verlaufende Kurve
Konsumenten wurden an Tag 0 auf Entzug gesetzt
 Entzugssymptomatik
Haben früher konsumiert, aber Entzug schon
abgeschlossen
Baseline-Mittelwert
58
Initiale Wirkung als Risikofaktor
Reaktionen auf Cannabis & Abhängigkeit
- Fragestellung: Gibt es einen Zusammenhang zwischen initial berichteten Reaktionen auf Cannabis &
späterer Abhängigkeit?
- SP: Teilstichprobe aus „Christchurch Health & Development Study“  Längsschnittstudie an einer
Alterskohorte (N = 1265), geboren Mitte 1977 in Neuseeland
- 198 (101 w, 97 m) Jugendliche mit ersten Konsumerfahrungen vor dem Alter von 16
- Methode:
-
Ergebnisse
-
Fazit: Wahrscheinlichkeit für Abhängigkeit ist größer, wenn man positive Erfahrungen gemacht hat;
negative Erfahrungen haben keinerlei Einfluss (auch keine Schutzfunktion!!!)
Langzeiteffekte bei Hochkonsum
Langzeiteffekte bei chronischem Konsum
- Leistung eingeschränkt, auch wenn nicht akut intoxiziert:
- Verminderte Aufmerksamkeit
- Gedächtnisprobleme
- Eingeschränkte Verarbeitung komplexer Informationen
-  „Amotivaionales Syndrom“
- Kann Wochen, Monate bis Jahre nach Cannabis-Stopp persistieren
Cannabis als Medikation
Mögliche Anwendungsgebiete in der Medizin
- Appetitssteigerung
- Hemmung von Übelkeit & Erbrechen (bei Chemotherapie)
- Reduzierung muskulärer Krämpfe & Spastiken (Spastik nach
Schlaganfall)
- Behandlung chronischer & therapiresistenter Schmerzen
(Fibromyalgie, Morbus Crohn)
- Stimmungsaufhellung (Antidepressive Wirkung)
- Asthma bronchiale
- Therapie des akuten Migräneanfalls
- Gilles de la Tourette-Syndrom
- Senkung des Augeninnendrucks (Glaukom)
59
Cannabis als Risikofaktor für Psychosen
Psychotische Störungen
- Akuter Konsum hoher THC-Dosen induziert eine toxische oder organische Psychose mit Verwirrtheit &
Halluzinationen, die bei Abstinenz remittiert
- THC-Konsum führt zu einer akuten funktionellen Psychose vergleichbar mit schizophreniformer Störung
- THC-Konsum führt zu einer chronischen Psychose, die auch nach Abstinenz persistiert
- Chronischer THC-Konsum führt zu einer organischen Psychose, die nach Abstinenz nur teilweise
remittiert (vergleichbar mit Alkohol Schäden)
- THC-Konsum als Risikofaktor für die Auslösung schwerer psychischer Störungen wie z. B. Schizophrenie
THC-induzierte toxische Psychose
- Induktion einer Psychose bei Konsum hoher Dosen bei Personen ohne psychiatrische Vorgeschichte
- Typische Symptomatik:
- Leichte Bewusstseinseinschränkung
- Wahrnehmung der Zeit verändert
- Traumartige Euphorie
- Ideenflucht
- Halluzination
- Abklingen innerhalb einer Woche Abstinenz
- Genetsiche Assoziation:
- Cannabis-Positive haben signifikant größeres familiäres Risiko für Schizophrenie als Kontrollen:
7,1 % vs. 0,7%
- Akute Psychose im Kontext von Cannabis-Abusus assoziiert mit genetischer Prädisposition für
Schizophrenie
Cannabis: Risikofaktoren für Schizophrenie?
- 2,4 faches Risiko für gelegentliche THC-Konsumenten
- 6,0 faches Risiko für regelmäßige THC-Konsumenten
- 25 fach für THC-Konsumenten mit Psychoserisiko & Hochkonsum
- THC-Konsum als „life-event-stressor“ für Individuen, die Vulnerabilität für Schizophrenie zeigen
- Nach Fllow-up von 27 Jahren erneute Analysen mit gleichem Resultat, auch wenn man nur die
Patienten berücksichtigt, die erst 5 Jahre nach Studienschluss Schizophrenie entwickelten
60
8. Vorlesung: Schizophrenie
Psychotische Störungen
- Psychotische Störungen umfassen eine Vielzahl von Störungen
- Allgemeines Merkmal ist das Auftreten von psychotischen Symptomen („Positivsymptomatik“) –
insbesondere Wahn & Halluzination
- Eine besonders bekannte & gut untersuchte psychotische Störung ist die Schizophrenie
Klassifikation psychotischer Störungen nach ICD 10 & DSM-IV
Begriffsentwicklung
- Emil Kraeplin:
- Dementia praecox: Hebephrener / katatoner / paranoider Typ
- Alle Typen können ineinander übergehen und münden in
„eigenartige Schwächezustände“  dauernde & kennzeichnende
Grundstörung
- Diese „Schwächezustände“ können auch allein (ohne vorherige hebephrene / katatone /
paranoide Überlagerungen) auftreten: einfache Dementia praecox
- Eugen Bleuer: Schizophrenie
- „Wesensgehalt des Krankheitsbildes“: zerrissene Assoziation
- 4 As:
- Assoziationsstörung
- Affektivitätsstörung
- Autismus
- Ambivalenz
- Positiv-Symptome:
- Symptome während akuter psychotischer Krankheitsepisode
- Übermaß/Verzerrung von normalen psychischen Funktionen
- dem gesunden Erleben wird „etwas Neues“ hinzugefügt
- Bsp.: Halluzinationen, Wahn, Zerfall der Assoziationen, Denkzerfahrenheit, bizarres
Ausdrucksverhalten
- Negativsymptome:
- Verminderung/Verlust normaler Funktionen
- Defizit von Verhalten & Erleben
- Bsp.: Emotionale Verflachung oder Affektverarmung; Asozialität, Kontaktmangel; Apathie, Einbuße
an Initiative; Aktivitätsminderung; Verlangsamung kognitiver Prozesse, Sprachverarmung
61
-
Beachte: keine sich wechselseitig ausschließende Dichotomie: Jedes Syndrom besteht aus eher
unabhängigen Dimensionen, die auch gemeinsam beobachtbar sind
Diagnose hauptsächlich durch positive Symptome begründet
Kurt Schneider: Symptome ersten & zweiten Ranges
- Symptome ersten Ranges:
- Akustische Halluzination
- Dialogische/kommentierende/imperative Stimmen
- Gedankenlautwerden
- Leibhalluzinationen
- Gedankeneingebung
- Gedankenentzug
- Wahnwahrnehmung
- Symptome zweiten Ranges:
- sonstige Halluzinationen
- einfache Eigenbeziehung
Charakteristische Symptome für Schizophrenie
Symptomanzahl, Zeitdauer & Differentialdiagnose
62
Symptomatik: Formale Denkstörung
- Lockerung der Assoziation: Gedanken wechseln, ohne logische
Struktur
- Zerfahrenheit: unverständliche Sprachäußerung
- Verarmung der Inhalte: vage, übermäßig abstrakt/konkret
- Inhaltsleere
- Bsp. für Zerfahrenheit:
Symptomatik: Inhaltliche Denkstörung
- Definition: Eine falsche persönliche Überzeugung , die auf einem inkorrekten Urteil über die äußere
Realität beruht & beharrlich aufrecht erhalten wird, ungeachtet dessen, was nahezu alle anderen Leute
glauben & ungeachtet unbestreitbarer & offensichtlicher Beweise für das Gegenteil
- Verfolgungswahn
- Beziehungswahn
- Gedankenausbreitung, -entzug oder -kontrolle
- Gedankeneingebung (auch „Ich-Störung“ genannt)
Symptomatik: Wahrnehmungsstörungen - Halluzinationen
- Definition: Eine sensorische Wahrnehmung, die sich mit dem Wirklichkeitscharakter einer echten
Wahrnehmung aufdrängt, jedoch ohne äußere Stimulation des betroffenen Sinnesorgans erfolgt
- Akustische Halluzination (Stimmenhören)
- Taktile Halluzinationen
- Optische Halluzinationen
- Olphaktorische Halluzinationen
Symptomatik: Affektstörung
- Flacher Affekt = kein Ausdruck affektiver Beteiligung
- Anhedonie = kein Gefühl mehr zu besitzen
- Inadäquater Affekt = deutlicher Widerspruch der Gefühlsäußerungen zum Inhalt (Lachen, wenn vom Tod
des eigenen Kindes berichtet wird)
Symptomatik: Psychomotorische Störung
- Verminderung der Spontanbewegungen (nicht medikamentenbedingt!)
- Katatoner Stupor (Fehlen aller psychomotorischen Äußerungen; kardiovaskuläre Überbelastung 
lebensbedrohlich!  Elektrokrampftherapie / Neuroleptika)
- Katatone Erregung (erregte ziellose Bewegungen ohne Auslöser)
Verlaufsmuster der Schizophrenie
-
Prodromal-Phase: Symptome werden oft als Depressionen fehldiagnostiziert (nur negative Symptome,
kein Wahn/Halluzinationen, eher: Leistung sinkt, nicht waschen, sich zurückziehen)
Floride (Akut)-Phase: Symptome können auch isoliert auftreten (Bsp.: nur Wahn); hört von alleine auf,
wird durch Medikation gestoppt
63
Schizophrene Psychosen: Häufigkeit & Verlauf
- Lebenszeitprävalenz: 1%
- Relativ kulturunabhängig, überall ähnlich häufig
Erfassung der Symptomatik
- Beispiele für Selbst- (S) & Fremdbeurteilungsverfahren (F)
Faktorenstruktur schizophrener Symptome
Alter bei Ersterkrankung an einer Schizophrenie
Gipfel:
Frauen: 20-24 & 45-49 (nach Menopause)
Männer: 20-24
64
Risikofaktoren
- Hoch-Risiko-Gruppen für schizophrene Störungen
-
Erkrankungsrisiko in Abhängigkeit vom Verwandtschaftsgrad
Bezogen auf Schizophrenen Patienten
(Wenn Patient schizophren, haben Kinder
vom Patienten 13% Erkrankungsrisiko)
Genetische Prädisposition?
- Untersuchung von Adoptivkindern
- Schizophrenierate höher bei biologischen Verwandten des schizophrenen Kindes
- Mehr Kinder schizophrener Mütter entwickeln Störungen des schizophrenen Spektrums
- Korrelation zwischen Verwandtschaftsgrad & Auftreten der Krankheit
-  genetische Prädisposition
-  Aber: Interaktion zwischen genetischer Prädisposition und Umwelt (Milieu) (siehe unten)
Exkurs: Adoptionsstudie von Tienari
- Hintergrund & Fragestellung:
- frühe Adoptivstudien belegen einen genetischen Effekt auf die WS an Schizophrenie zu erkranken
- Einfluss der Pflegefamilien wurde aber bisher vernachlässigt
- Moderiert ein genetisches Risiko für eine schizophrene Erkrankung den Einfluss der
Pflegefamilien?
- Berücksichtigte Erkrankungen des Schizophrenie Spektrums:
- Schizophrenie
- andere nonaffektive psychotische Störung
- affektive Psychose
- schizotype Persönlichkeitsstörung
- schizoide Persönlichkeitsstörung
- paranoide Persönlichkeitsstörung
- vermeidende Persönlcihkeitstörung
- Versuchspersonen:
- 303 Adoptivkinder und deren Pflegefamilie
- high risk: 145 Kinder einer biologischen Mutter mit einer Schizophrenie-Spektrum-Störung
- low risk: 158 mit biologischer Mutter, die keine oder keine Schizophrenie-Spektrum-Diagnose hat
65
-
-
-
Abhängige Variable:
- Lebenszeitdiagnose der Adoptivkinder anhand der Kriterien des DSM-III-R
- Kriterien wurden von erfahrenen Diagnostikern nach einem semistrukturierten Interview erhoben
- Kinder wurden im Alter von 23, 35, 44 Jahren untersucht
Anfangsuntersuchung:
- Pflegefamilien: gematched nach demographischen Kriterien; Oulu Family Rating Scale von
Verhaltensbeobachtungen & Interviews
-  3 Skalen:
- critical / conflictual
- constricted
- boundary problems (Grenzen werden nicht eingehalten)
- Einteilung in 2 Gruppen
- gesunde Familien
- gestörte Familien
Ergebnisse:
- Gestörte Familien: signifikante Assoziation zwischen gestörter Erziehung & einer Diagnose aus
dem Spektrum
- Gesunde Familie: kein Zusammenhang
- signifikante Unterschiede zwischen gesunden & gestörten Familien
Erkrankungsrisiko bei Adoptierten
-
Diskussion:
- Haupteffekte des genetischen & umweltbedingten Risikos erklären Ergebnisse nicht hinreichend
- Genetisches Risiko wirkt als Moderator für umweltbedingtes Risiko
- Bei vorhandenem genetischem Risiko wirkt sich das umweltbedingte Risiko überadditiv aus
Störungen der Informationsverarbeitung
Elektrodermale Reaktionen bei Schizophrenen & Gesunden
Wisconsin-Card-Sorting-Test
- Zielbereich des Tests sind Funktionen des Frontalhirns (Exekutive Funktionen)
- Strategisches Planen
- organisierte Suchtprozesse
- Zielgerichtetes Verhalten
- Impulskontrolle bei konkurrierenden Antwortmöglichkeiten
- Durchführung:
- 160 Karten sollen zu 4 Zielkarten nach einer bestimmten Regel (Dimensionen: Farbe, Form, Anzahl
der Symbole) zugeordnet werden
- Nach 10 aufeinanderfolgenden richtigen Zuordnungen wird die Regel gewechselt
- Proband wird instruiert, jeweils 1 Karte einer der 4 vorgegebenen so zuzuordnen, „dass es passt“
- Sortier-Regel & auch der Wechsel der Regeln sollen vom Probanden erfasst & umgesetzt werden
66
-
-
Auswertung (verschiedene Varianten):
- Anzahl der Durchgänge bis zum fehlerlosen Sortieren nach einer Dimension
- perservative Fehler beim Wechsel der Zuordnungsregel
Erkenntnis: Personen mit Schizophrenie brauchen länger beim Wisconsin-Card-Sorting-Test, um
umzudenken
Metaanalyse des Störungsgrades in neurologischen Funktionen
Zur 1. Tabelle: Es gibt immer noch 25%,
die nicht unter dem Median liegen, also
keine allgemeine Aussage!
Modellvorstellungen zur Ätiologie
Die Ätiologie der Schizophrenie
- Unendlich viele Mythen, Vermutungen, Spekulationen & ungeprüfter Unsinn
- Schizophrenogene Mutter
- Double Bind Konstrukt
- Viruserkrankungen, jahreszeitliche Bindung, perinatale Schäden etc.
- Naiv psychologisierende Spekulationen & Konzepte
- Nur wenig gesicherte Erkenntnisse
Double-Bind-Theorie
- Doppelbindungskommunikation in der Familie sollten „schizophrenigen“ sein: z.B. Inhalte & begleitende
nonverbale Kommunikation sind nicht kongruent
- Kinder, die häufig solche Botschaften erhalten, sollten lernen, nur noch auf die nonverbalen Anteile zu
achten das soll zu paranoider Schizophrenie führen
- Problematisch: Kaum Studien. Die wenigen Studien die es gibt, widerlegen eher die Theorie: Analyse von
Briefen von Eltern an ihre Kinder (schizophren oder nicht schizophren): Anteil von Doppelbindungskommunikation war vergleichbar
Vulnerabilitätsmodell-Stress (Zubin & Spring , 1977; modifiziert nach Brenner, 1989)
67
Fülle von Stoffwechsel- & neurobiologischen Substratauffälligkeiten
- Gestörte dopaminerge Transmitter-Mechanismen
- Minderdurchblutung des dorsalen Präfrontalkortex
- Morphometrische Hirnveränderungen (z.B. vergrößerte Seitenventrikel, reduziertes Volumen limbischer
Strukturen)
Biochemische Befunde
- Dopaminhypothese = führende neurobiochemische / pathophysiologische Erklärung  regionale
Hyperaktivität dopaminerger Neurone  Plussymptome der Schizophrenie
- Weil:
- antipsychotische Medikamente, die eine Blockade der postsynaptischen Dopaminrezeptoren
hervorrufen, wirksam sind
- Stimulantien mit verstärkter Dopaminübertragung (z.B. Amphetamine) schizophrene Symptome
auslösen oder steigern können
- die antipsychotische Wirkung der Medikamente mit Dopaminrezeptorblockade in PETUntersuchungen korreliert (je stärker die Dopaminrezeptoren besetzt sind (radioaktive Marker),
desto stärker nehmen die positiven Merkmale ab)
- Mitverantwortlich auch andere Neurotransmittersysteme, die mehr oder weniger mit dem
dopaminergen System zusammenwirken, z.B.:
- Glutamathypothese
- GABA-System
- Serotonin-System
- Adenosin-System
Fülle von psychophysiologischen & experimentellen Auffälligkeiten, die auf grundlegende neuronale
Dysfunktionen schließen lassen
- Psychophysiologsich:
- Elektrodermale Aktivität: Hyper- oder Hyporesponsivität auf akustische Reize
- EEG: z.B. erhöhte frontale Theta/delta Aktivität, evozierte Potentiale mit flacherer P300 Welle als
Hinweis auf gestörte Aufmerksamkeits- & Informations-Verarbeitungsprozesse
- Experimentalpsychologie:
- Störungen der kontinuierlichen Informationsverarbeitung (CPT)
- Frontale Hinrfunktionen (Wisconsin Card Sorting Test)
Familienklima: Rückfallrisiko & expressed emotions
- Familienstudien: hohe Emotionalität (expressed emotions) in Familie macht Rückfall wahrscheinlicher
(positiv & negativ!)
- Wenn weniger Zeit in Familie verbracht (<35h), wirkte sich dies positiv auf Rückfall-WS aus
- Medikation ist in Abhängigkeit vom Familienklima auch relevant
68
Camberwell Family Interview (CFI)
- Durchführung: Semi-strukturiertes Interview mit einem Familienangehörigen; Tonbandaufnahme
- Ziele:
- Erfassung von Patientenvariable & Lebensereignissen 3 Monate vor stationärer Aufnahme
- Verhaltensbeobachtung des Angehörigen
- Dauer: 1-2 h
- Inhalt:
- Psychiatrische Geschichte, klinische Symptome des Patienten
- Reizbarkeit des Patienten
- Verhalten bei Konflikten
- Beziehung zum Patienten
- Haushaltsführung
- Medikamenteneinnahme
- Angehörigen-Interview:
- Erhebung der psychiatrischen Vorgeschichte: „Wann fanden Sie ihn/sie erstmals verändert“ „Wie
verhielt er/sie sich?“
- Jetzige Krankheitsepisode: „Welche Symptome traten auf“ „Wie reagierten Sie darauf“
- Symptome, Spezifische Auffälligkeiten (Schlaf, Appetit, Körperklagen, verminderte Aktivität,
Hyperaktivität, Gewalttätigkeit, Rückzug, Befürchtungen, quälende Gedanken, Depression,
zwanghafte Handlungen, Körperpflege, Wahnideen, Halluzinationen, Trinken)
- Krankenhausaufnahme bei jetziger Episode: „Wie kam es dazu?“ „Gab es Schwierigkeiten?“ „Wie
stehen Sie zur Aufnahme?“
- Zeitplan der Familie: „Wie verbringt er/sie den Tag?“
- Reizbarkeit (Schimpfen, Streit suchen, Nörgeln, zänkisch sein): „Wird er/sie überhaupt ärgerlich?“
„Verliert er/sie die Kontrolle?“ „Wie werden Sie mit der Reizbarkeit fertig?“; „Streiten Sie sich?“
„Fallen dabei Schimpfwörter, schreien sie sich an?“ „ Hat er/sie beim Streit geschlagen?“ „Wie
lange hält die Missstimmung an?“ „ Wie fühlen Sie sich dabei?“; „Über welche Dinge klagen Sie?“
- Ziele: „Was möchten Sie in Ihrer Familie ändern“ „Welche Ziele haben Sie?“
- Datenauswertung (Rating des Tonbandinterviews):
- Hoch EE: >6 kritische Äußerungen und/oder Wert von ≥3 auf EOI-Skala
Expressed Emotions
- Wichtig: Es bleibt unklar, ob es sich um eine Änderung des Familienklimas handelt, aufgrund der
Erkrankung
- Wird nicht mehr als ursächlicher Faktor für Schizophrenie angenommen!
69
9. Vorlesung: Somatoforme Störungen
Was sind somatoforme Störungen?
- suggerieren zunächst eine somatische Krankheit (deshalb auch der Begriff somatoform)
- umfassen verschiedene Formen von Störungen, deren Hauptmerkmale einzelne oder vielfältige
körperliche Symptome sind
- Gemeinsames Merkmal somatoformer Störungen: Vorhandensein körperlicher Beschwerden, die nicht
vollständig durch einen körperlichen Befund, eine Substanzeinwirkung oder durch eine andere
psychische Störung erklärt werden können.
- gehen mit deutlichen Beeinträchtigungen in unterschiedlichen Lebensbereichen einher
- im Gegensatz zur vorgetäuschten Störung & zur Simulation sind die körperlichen Symptome nicht
absichtlich erzeugt
Häufige Symptome
-
1) N = 484; 2) N = 2050
Organische Ursache bei durchschnittlich 16% der Beschwerden
Prognostisch günstige Variablen:
- Organische Ursache
- Symptomdauer unter 4 Monaten
- Anamnestisch 2 oder weniger Symptome
Diagnostische Unterteilung nach DSM-IV-TR
- Somatisierungsstörung (F45.0): polysymptomatische Störung, Kombination von Schmerz,
gastrointestinalen, sexuellen & pseudoneurologischen Symptomen
- Undifferenzierte somatoforme Störung (F45.1): nicht erklärbare körperliche Beschwerden, liegen
unterhalb der Schwelle für die Diagnose einer Somatisierungsstörung
- Konversionsstörung (F44.xx): nicht erklärbare Symptome/Ausfälle der willkürlichen motorischen &
sensorischen Funktionen
- Schmerzstörung (F45.4): Schmerzen stehen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit
- Hypochondrie (F45.2): Überzeugung ernsthafte Krankheit zu haben, beruht auf Fehlinterpretation
körperlicher Symptome
- Körperdysmorphe Störung (F45.2): eingebildeter/überbewerteter Mangel/Entstellung des eigenen
Aussehens
- Nicht näher bezeichnete somatoforme Störung (F45.9)
Somatisierungsstörung nach dem DSM-IV
- A. Vorgeschichte mit vielen körperlichen Beschwerden, die vor dem 30. Lebensjahr begannen, über
mehrere Jahre auftraten & zu Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen & anderen wichtigen
Funktionsbereichen führten.
- B. Jedes der folgenden Kriterien muss erfüllt gewesen sein:
- 1) 4 Schmerzsymptome (z.B. Kopf, Rücken, Brust, Gelenke, während des Wasserlassens)
- 2) 2 gastrointestinale Symptome (z.B. Übelkeit, Völlegefühl, Durchfall)
- 3) 1 sexuelles Symptom (z.B. sexuelle Gleichgültigkeit, unregelmäßige Menstruation, Erektionsoder Ejakulationsstörungen)
- 4) 1 pseudoneurologisches Symptom (z.B. Gleichgewichtsstörung, Muskelschwäche, Aphonie,
Taubheit)
70
-
-
C. Entweder 1) oder 2)
- 1) nach adäquater Untersuchung kein bekannter medizinischer Krankheitsfaktor
- 2) falls Symptom auf medizinischen Krankheitsfaktor zurück geführt werden kann, gehen
körperliche Beschwerden & Konsequenzen darüber hinaus
D. Symptome sind nicht absichtlich erzeugt oder vorgetäuscht
Undifferenzierte Somatoforme Störung nach dem DSM-IV
- A. Eine oder mehrere körperliche Beschwerden (z.B. Müdigkeit, Appetitlosigkeit, urologische Beschwerden)
- B. Entweder 1) oder 2)
- 1) nach adäquater Untersuchung kein bekannter medizinischer Krankheitsfaktor
- 2) falls Symptom auf medizinischen Krankheitsfaktor zurück geführt werden kann, gehen
körperliche Beschwerden & Konsequenzen darüber hinaus
- C. Symptome verursachen in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen,
beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen
- D. Dauer: mindestens 6 Monate
- E. Störungsbild wird nicht durch andere psychische Störung besser erklärt
- F. Symptom wird nicht absichtlich erzeugt oder vorgetäuscht
Schmerzstörung nach dem DSM-IV
- A. Schmerzen in einer oder mehreren anatomischen Region(en)
- B. Schmerz verursacht in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen,
beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen
- C. Psychische Faktoren = wichtige Rolle für Beginn, Schweregrad, Exazerbation oder Aufrechterhaltung
der Schmerzen
- D. Symptom/Ausfall wird nicht absichtlich erzeugt oder vorgetäuscht
- E. Schmerz kann nicht besser durch eine affektive, Angst- oder Psychotische Störung erklärt werden &
erfüllt nicht die Kriterien für Dyspareunie
- Unterschied:
- Schmerzstörung in Verbindung mit psychischen Faktoren
- Schmerzstörung in Verbindung mit sowohl psychischen Faktoren wie einem medizinischen
Krankheitsfaktor
- Akut: < 6 Monate
- Chronisch: > 6 Monate
Hypochondrie nach dem DSM-IV
- A. Übermäßige Beschäftigung mit Angst / Überzeugung, eine ernsthafte Krankheit zu haben, was auf
Fehlinterpretation körperlicher Symptome durch betroffene Person beruht
- B. Beschäftigung mit Krankheitsängsten bleibt trotz angemessener medizinischer Abklärung bestehen
- C. Überzeugung unter Kriterium A ist nicht von wahnhaftem Ausmaß & nicht auf eine umschriebene
Sorge über äußere Erscheinung beschränkt
- D. Beschäftigung mit Krankheitsängsten verursacht in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder
Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen
- E. Dauer: mind. 6 Monate
- F. Beschäftigung mit Krankheitsängsten kann nicht besser durch generalisierte Angststörung,
Zwangsstörung, Panikstörung etc. erklärt werden
- mit geringer Einsicht: betroffene Person erkennt die meiste Zeit nicht, dass Befürchtung
übertrieben/unbegründet ist
Körperdysmorphe Störung nach dem DSM-IV
- A. Übermäßige Beschäftigung mit eingebildetem Mangel/Entstellung in der äußeren Erscheinung. Wenn
leichte körperliche Anomalie vorliegt, so ist die Besorgnis der betroffenen Person stark übertrieben
- B. Übermäßige Beschäftigung verursacht in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigungen
in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen
- C. Übermäßige Beschäftigung wird nicht durch andere psychische Störung besser erklärt
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Nicht näher bezeichnete somatoforme Störung nach dem DSM-IV
- Kategorie umfasst Störungen mit somatoformen Symptomen, die nicht die Kriterien für eine spezifische
somatoforme Störung erfüllen
- Beispiele:
- 1. Scheinschwangerschaft
- 2. Störung mit nichtpsychotischen hypochondrischen Symptomen von weniger als 6 Monaten
Dauer
- 3. Störung mit nicht erklärbaren körperlichen Beschwerden (z.B. Müdigkeit) von weniger als 6
Monaten Dauer, die nicht auf eine andere psychische Störung zurückzuführen sind
Konversionsstörung nach dem DSM-IV
- A. Ein oder mehrere Symptome oder Ausfälle der willkürlichen motorischen oder sensorischen
Funktionen, die neurologischen oder sonstigen medizinischen Krankheitsfaktor nahelegen
- B. Zusammenhang zwischen psychischen Faktoren & dem Symptom wird angenommen, da Konflikte
oder andere Belastungsfaktoren dem Beginn vorausgehen
- C. Symptom / Ausfall wird nicht absichtlich erzeugt oder vorgetäuscht
- D. Symptom / Ausfall kann nach adäquater Untersuchung nicht vollständig durch medizinischen
Krankheitsfaktor oder direkte Wirkung einer Substanz erklärt werden
- E. Symptom / Ausfall verursacht in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigungen in
sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen oder rechtfertigt medizinische
Abklärung
- F. Symptom / Ausfall ist nicht auf Schmerz oder sexuelle Störung begrenzt, tritt nicht ausschließlich im
Verlauf einer Somatisierungsstörung auf & kann nicht besser durch andere psychische Störung erklärt
werden
- Typus:
- mit motorischen Symptomen oder Ausfällen
- mit sensorischen Symptomen oder Ausfällen
- mit Anfällen oder Krämpfen
- mit gemischtem Erscheinungsbild
Hysterische Anästhesien können von anderen neurologischen Dysfunktionen unterschieden werden
- Auf der linken Seite sind die Bereiche neuraler Innervationen eingezeichnet. Auf der rechten Seite sind
die typischen Bereiche hysterischer Anästhesien eingetragen. Die hysterischen Anästhesien entbehren
einer anatomischen Grundlage
Logik der Diagnostik: Zählen von Symptomen
- Der zentrale Ansatz zur Klassifikation der Somatisierungsstörung als Prototyp der Störungskategorie ist
das Auszählen von Symptomen einer vorgegebenen Symptomliste
- Die Symptomlisten & die notwendige Anzahl der Symptome unterscheiden sich je nach verwendetem
Klassifikationssystem
Klassifikationskriterien in unterschiedlichen Systemen
72
Epidemiologie
- Lebenszeitprävalenz der Somatoformen Störungen
- Gesamt: 12,9%; Männer: 8,8%; Frauen: 17,1%
- Am häufigsten: Schmerzstörung (12,2%; 8,1%; 16,5%)
Somatoforme Störungen: Prävalenz
Somatoforme Störungen: Geschlechtsverteilung
Folgen der Somatisierungsstörung
- Die Kosten für das Gesundheitssystem sind 9 mal so hoch wie die durchschnittlichen Pro-Kopf-Ausgaben
- Zusätzlich sind hohe gesellschaftliche Kosten durch Arbeitsausfälle zu verzeichnen
- Erkrankung neigt in hohem Masse zur Chronifizierung (mittlere Erkrankungsdauer z.B. über 20/30 Jahre
- Es besteht hohe Komorbidität mit affektiven Störungen, aber auch mit Angststörungen & anderen
psychischen Erkrankungen
- Bereits Kinder von Somatisierungspatienten zeigen kognitive & Verhaltensmerkmale von erhöhtem
Krankheitsverhalten
Verhaltensmerkmale der Somatisierung
- Doctor shopping; Veranlassung von zahlreichen medizinischen Untersuchungen; inadäquater Einsatz von
Medikamenten; Drängen auf Interventionen
- Beeinträchtigungen am Arbeitsplatz & in der Freizeit
- Vermeidung körperlicher Belastung; Schonverhalten
- Suche nach Rückversicherung über die Gutartigkeit der Beschwerden
- Checking von Körperteilen
Ätiologie: Allgemeine Faktoren relevant für somatoforme Störungen
- Genetische Risikofaktoren:
- Familiäre Belastung mit Alkoholismus
- Soziopathie
- Ggf. auch affektive Krankheiten & somatoforme Störungen
73
-
-
-
-
Epidemiologische Risikofaktoren:
- Weiblich
- Niedriger sozialer Status
- Lateinamerikanischer Kulturkreis
Psychologische Risikofaktoren:
- Familiäre Krankheitsmodelle
- Sexuelle Übergriffe
- Organmedizinisch orientierter Gesundheitsbegriff
Auslösende Faktoren:
- Kritische Lebensereignisse
- Organische Erkrankung
- Psychische Dauerbelastung (z.B. Ehepartner ist Alkoholiker)
- Tägliche Belastungen (daily hassles)
Aufrechterhaltende Bedingungen:
- Inadäquate Coping-Strategien
- Familiäre Interaktion & Verstärkungsbedingungen
- Soziale Vorteile durch Krankheit
- Fehlendes soziales Stützsystem
Spezifische biologische Aspekte der Somatisierung
- Erhöhte psychophysiologische Erregung (z.B. Herzrate)
- weitere körperliche Stressmerkmale (z.B. verändertes Atmungsmuster)
- Kortikale & psychoneuroimmunologische Auffälligkeiten (z.B. veränderter Cortisolspiegel)
- Muskuläre & vaskuläre Veränderungen über Symptomregionen
Spezifisch kognitiv-perzeptuelle Aspekte der Somatisierung
- Somatisches Krankheitsmodell
- Zu enger Begriff von Gesundsein
- Selektive Aufmerksamkeit auf Körperprozesse; Scanning
- Wahrnehmung zahlreicher, normalerweise unbedeutender Körperempfindungen
- Fragebogen zu Körper & Gesundheit (siehe unten):
- Katastrophisierende Bewertung
- Intoleranz von körperlichen Beschwerden
- Körperliche Schwäche
- Vegetative Missempfindungen
- Gesundheitsverhalten
Katastrophisierende Interpretation von Körpersymptomen
- Beispiele für die 20 Items:
- Übelkeit ist meist ein Zeichen für eine Magengeschwür
- Rote Hautflecken sind ein Zeichen für Hautkrebs
- Körpersymptome sind immer ein Zeichen für eine Erkrankung
Intoleranz körperlicher Beschwerden
- Beispiele:
- Ich konsultiere eine Arzt so schnell wie möglich, wenn ich körperliche Beschwerden habe
- Wenn mit meinen Körperempfindungen etwas nicht stimmt, regt mich das sofort auf
Körperliche Schwäche
- Beispiele 9 Items:
- Ich bin körperlich ziemlich schwach & empfindlich
- Invers kodiert: Mein Körper kann eine Menge Belastungen aushalten
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Einflüsse auf Entstehung & Aufrechterhaltung somatoformer Störungen
Entstehung & Auslösung
- Veränderungen der HPA-Achse
- Psychophysiologische Übererregung
- Modelle für Krankheitsverhalten in der Kindheit
- Sozialisationserfahrungen, Entbehrungen
- Traumatische Erfahrungen
- körperliche Erkrankungen, Unfälle
- Partner mit Alkoholproblemen
Aufrechterhaltung
- Aufmerksamkeitsfokussierung auf körperliche Beschwerden
- Verstärkung eines organmedizinischen Krankheitsverständnisses
- Symptome erhalten „Funktion“ (z.B. in Familie, bei der Arbeit, etc.)
- Schon- & Vermeidungsverhalten
- Verstärkung der Krankenrolle
- Psychophysiologische Veränderungen
- Ängste, depressive Verstimmung
- überhöhter Gesundheitsbegriff
„Competition of Cues“ Hypothese (Pennebaker, 1981)
- Interozeptive Reize stehen in Konkurrenz mit Exterozeptiven Reizen
- Wahrnehmung interozeptiver & exterozeptiver Reize unterliegen den gleichen Gesetzmäßigkeiten
- Je stärker ein Reiz, desto leichter wird er wahrgenommen
- Je stärker die Aufmerksamkeit auf den Reiz fokussier ist, desto leichter wird er wahrgenommen
- Symptome werden nur wahrgenommen, wenn
- der Reiz deutlich
- nur geringe Ablenkung von Außen gegeben ist
Experimentelle Überprüfung I: Laufbandstudie
- 3 Gruppen liefen auf einem Laufband & hörten
- Ihre Atemgeräusche (Kopfhörer)
- Straßenlärm (Kopfhörer)
- Nichts (Ohrstopfen)
- Alle 3 Bedingungen führten physiologisch zu gleich starker Belastung (HR, BP)
- In der Atemgeräuschebedingung
- Mehr Selbstbericht von Müdigkeit, Kopfschmerz, Schwitzen, Herzrasen etc.
-  Vorhersage der „Competition of Cues“ Hypothese bestätigt!
Experimentelle Überprüfung II: Hustenstudie
- 330 Studenten sahen einen 17-minütigen Film
- Der Film war vorher in 30 Sekundensegmente nach Spannung geratet worden
- Alle 30 Sekunden wurde erfasst, wie viele Personen gehustet hatten
- Ergebnis: Spannung & Hustenfrequenz korrelieren zu -.57!
-  Vorhersage der „Competition of Cues” Hypothese bestätigt!
Determinanten der Symptomwahrnehmung
- Unspezifische Aktivierung (Arousal)
- Richtung der Aufmerksamkeit
- Intensität der Aufmerksamkeit
- Schemageleitete Suche (Art & Bedeutung)
75
(Idiopathische?) Umwelt-Intoleranzen
- Gesundheitsstörungen & Erkrankungen, die nach Auffassung einzelner Ärzte und/oder der Betroffenen
durch »alltägliche« stoffliche Expositionen in Verbindung mit einer besonderen Empfindlichkeit
(Suszeptibilität) der betroffenen Personen bedingt sind.
- Den Expositionsfaktoren wird teils eine initiierende & »sensibilisierende« Funktion, teils eine sekundär
auslösende (symptomtriggernde) Funktion zugeschrieben.
- Es handelt sich nicht um nachvollziehbare Gesundheitsbeeinträchtigungen aufgrund erhöhter
Schadstoffexposition oder aufgrund von diagnostizierbaren allergischen Reaktionen.
Falldefinition
- Chronische Störung, die durch multiple Symptome in mehreren Organsystemen & deren vermutete
Auslösung durch verschiedene chemische Substanzen in der Umwelt charakterisiert ist.
- Hauptmerkmal ist die selbst wahrgenommene chemische Hypersensitivität, d.h. die Betroffenen
berichten über multiple Intoleranzreaktionen gegenüber einer Vielzahl von - chemisch nicht verwandten
- Umweltstoffen, die von der Mehrheit der Bevölkerung ohne Beschwerden toleriert werden.
- Die Betroffenen leiden infolge der MCS (IEI) unter sozialen oder beruflichen
Funktionsbeeinträchtigungen bzw. haben ihre bisherigen Lebensgewohnheiten verändert (z.B. in Form
von Diäten, Vermeidung von potenziellen Auslösern, Schutzmaßnahmen)
- MCS = multiple chemische Sensibilisierung
- IEI = ideopathische Umwelt-Intoleranz
Hintergrundinformationen
- Prävalenz (Schätzung): 0.2 - 4% MCS/IEI im eigentlichen Sinne
- ~15% berichten unter „Chemischen Sensitivitäten“ zu leiden
- Altersgipfel: 40 Jahre
- Frauen : Männer ~ 3:1
- Betroffene mit MCS/IEI sind stark beeinträchtigt, zeigen deutliches Vermeidungsverhalten
Symptomatik des MCS/IEI
Als Auslöser der Symptomatik verdächtigte Substanzen
76
Erklärungsansätze für MCS/IEI
- 1) MCS/IEI ist eine ausschließlich biologische/physiologische Reaktion auf chemische Expositionen im
Niedrigdosisbereich, deren Mechanismen im Einzelnen noch nicht erforscht sind
- 2) MCS/IEI Symptome werden durch eine Attribution von Stresssymptomen auf Umweltexpositionen
ausgelöst (Konditionierungshypothese)
- 3) MCS/IEI ist eine Fehldiagnose: chemische Expositionen sind nicht die Ursache. Symptome beruhen auf
einer nicht diagnostizierten körperlichen oder psychiatrischen Krankheit
- 4) Biopsychosoziales Modell (?)
Zu 1)
Beispiel Amalgam
- Vergleich selbstidentifizierte Amalgamsensitive mit nicht-Amalgamsensitiven
- Kein Unterschied in Quecksilberbelastung, Zahl der Amalgamfüllungen oder der Amalgamoberfläche
- Deutlich erhöhte Zahl (50% vs. 4.7%) mit Somatisierungssyndrom in der Gruppe der Amalgamsensitiven
- Doppelblinde Provokationsstudie
- selbstidentifizierter Amalgamsensitiver
- Inhalation von Quecksilberdampf oder Luft
- Keine mit Quecksilberdampf assoziierte Zunahme von Symptomen feststellbar
Immunologische Reaktion?
- Kontrollierte Studien zeigen keine bedeutsamen immunologischen Veränderungen in MCS/IEI
Populationen
- Aber: Eine Reihe von Studien zeigen eine Häufung von entzündlichen Prozessen im Nasen- &
Rachenraum von MCS/IEI Patienten
Zu 2)
Symptomlernen mit Gerüchen
- Methode
- Gerüche:
- Angenehm: Niaouli (65% Eukalyptus Öl)
- Unangenehm Ammoniak (0.085% NH3 Lösung)
- Bedingungen:
- Gruppe 1 : CS + = Ammoniak / CS - = Niaouli
- Gruppe 2 : CS + = Niaouli / CS - = Ammoniak
-  Differentielles Konditionierungsparadigma
- Symptombericht (nur Gerüche)
-
Lerneffekt = Selektiv : Nur wenn der CS+ Geruch negativ valent ist
Weitere Einflussfaktoren
- Negative Affektivität
- Vorwissen (Informationen durch Medien)
77
Zu 3)
-
75% der 264 Patienten aus den Umweltambulanzen erfüllten die Kriterien für mindestens eine
psychische Störung
Bessere alternative Erklärung zu IUI aus Sicht der Behandler:
39% psychische Störung
23% somatische Grunderkrankung (meist schon vordiagnostiziert aber vom Patienten angezweifelt)
19% Kombination aus psychischer & somatischer Erkrankung
14% keine Erklärung (weder psychisch, somatisch noch toxikologisch)
Nur bei 5 Patienten wurde eine Toxikologische Ursache als wahrscheinlich angenommen
Modell der somatoformen Störungen
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10. Vorlesung: Essstörungen
Einführung (Infos unabhängig vom eigentlichen Gewicht)
- 25% aller 7-10jährigen Mädchen haben Diäterfahrungen, 40% aller 11-19-Jährigen
- schon 50% der 11-13jährigen Mädchen halten sich für zu dick
- 90% der weiblichen Teenager wollen abnehmen
- 73% der Frauen finden ein Gewicht unterhalb des Normalen am attraktivsten
- 8% der 6-17jährigen Kinder & Jugendlichen haben Untergewicht (15% haben Übergewicht)
- Etwa 1-3% der weiblichen Jugendlichen erkranken an Anorexia oder Bulemia nervosa
- In Europa sind 50 % der Bevölkerung leicht übergewichtig, 20% sind stark übergewichtig
- 15% der Jugendlichen sind übergewichtig oder adipös (1,9 Millionen, Tendenz steigend)
- andererseits: aktuelles Schönheitsideal ist ein gesunder, muskulöser, straffer & praktisch fettfreier
Körperbau!
- heutiges Schönheitsideal diametral entgegengesetzt (?)
Jede dritte Schülerin leidet an Essproblemen (Studie)
- 736 Personen im Alter von 12-32 Jahren wurden auf Frühsymptome einer Essstörung untersucht
- 29% der Frauen & 13% der Männer zeigen Frühsymptome
- Schülerinnen: 35% zeigen Vorformen einer Essstörung, bei 14% sehr hohes Risiko
- 43% der Frauen & 21% der Männer hatten in den letzten 12 Monaten eine Diät absolviert
- 42% der Schülerinnen schätzten sich als übergewichtig ein (8% waren es tatsächlich)
- 33% waren untergewichtig (nur 6% schätzen sich auch so ein)
Jedes 10. Mädchen & jeder 50. Junge zeigt bulimische Verhaltens- & Denkweisen (6,4%)
- 2361 Schülerinnen in Halle (10. Klasse): 1287 (54,51%) Mädchen, 1068 (45,27%) Jungen
- Kriterium: 3 Skalen des EDI mit cut off
- 150 Personen (6,4%) nach diesem Kriterium Bulimie-erkrankt oder Bulimie-gefährdet
- 10,03% der Mädchen und 2,02% der Jungen
- 42,3% der Gesamtstichprobe waren untergewichtig, 44,61% normalgewichtig, 11,53% übergewichtig
- 1,4% der Schülerinnen litten unter Anorexie bzw. trugen das Risiko, an einer Anorexie zu erkranken
Formen der Essstörung
- Bulimia nervosa (“Fress-Brech-Sucht”)
- Purging-Typus (mit Erbrechen um Gewicht zu vermindern)
- Non-Purging-Typus (Bsp.: Sport & Fressanfälle; aber kein Erbrechen oder Abführmittel)
- Anorexia Nervosa (Magersucht)
- Restriktiver Typus
- Binge-eating-/Purging-Typus
- Binge-eating-Störung (Essanfallstörung  keine Korrektur)
- eigentlich 4; “nicht genauer bestimmt” wird am häufigsten diagnostiziert
Bulimia nervosa nach dem DSM-IV
- A. Wiederholte Episoden von Fressanfällen
- (1) Innerhalb einer bestimmten Zeitspanne wird eine Nahrungsmenge aufgenommen, die
deutlich größer ist als das, was die meisten Menschen unter ähnlichen Umständen zu sich
nehmen würden
- (2) Kontrollverlust während des Essanfalls
- B. Wiederholte unangemessene Gegenmaßnahmen zur Verhinderung der befürchteten
Gewichtszunahme
- Absichtliches Erbrechen, Abführmittel- oder Diuretikamissbrauch, strenges Diätieren, Fasten,
übermäßige körperliche Beätigung
- C. Durchschnittlich mind. 2 Fressanfälle mit Gegenmaßnahmen pro Woche über mind. 3 Monate
- D. Die Selbsteinschätzung ist übermäßig vom Körpergewicht/-form beeinflusst
- Typen:
- Purging-Typus: selbstinduziertes Erbrechen oder Laxantien/Diuretika-Abusus
- Non-Purging-Typus: Fasten, Diätieren, übermäßiger Sport (kein Erbrechen oder Abführmittel)
79
Symptomtik der Bulimie
- Heißhungerattacken & Essanfälle:
- mehrmals wöchentlich oder mehrfach täglich
- kohlenhydrat- & fettreiche Nahrungsmittel
- Gefühl des Kontrollverlustes
- Oft vorausgehend: negative Gefühle, Stress, Konflikte, Übertreten der Diätregeln
- beendet durch Völlegefühl, Schmerzen
- Kompensatorisches Verhalten:
- selbstinduziertes Erbrechen
- Abführmittelmissbrauch (20% regelmäßig)
- Entwässerungstabletten oder Appetitzügler (seltener)
- sportliche Betätigung
- Fasten
- Essverhalten:
- gezügelt
- Vermeidung von Fett, Zucker, ggf. Kohlenhydrate
- Setzen von Kalorienlimits
- Ausfallenlassen von Mahlzeiten
- starke kognitive Kontrolle
- übermäßige Beschäftigung mit der Figur
- Körperschemastörung
- Medizinische Folgeprobleme:
- Störung des Mineralhaushalts
- Störung des Säure-Basen Haushalts
- in Folge Herzrhythmusstörungen, Nierenschäden
- Zahnschäden, Entzündungen der Speiseröhre, Schwellungen der Speicheldrüsen (typisch)
- Schwächegefühl, Kopfschmerzen
- Psychische Veränderungen:
- depressive Stimmung oder Reizbarkeit
- sozialer Rückzug
- Konzentrationsstörungen
- abnehmende Stresstoleranz & Problemlösefertigkeiten
Anorexia nervosa nach dem DSM-IV
- A. Untergewicht: Weigerung, das Körpergewicht über einem der Körpergröße oder dem Alter
entsprechenden Minimum zu halten (BMI <17,5 kg/m2 bei Erwachsenen)
- B. Trotz Untergewicht starke Angst vor der Gewichtszunahme
- C. Körperwahrnehmungsstörung (Gewicht, Form, Größe)
- D. Bei Frauen: Amenorrhoe ( Ausbleiben der Menstruation oder bei Mädchen verzögerter Eintritt)
- Typen:
- Restriktiver Typus: keine Heißhungerattacken oder Gegenmaßnahmen
- Binge-eating/purging-Typus: Heißhungerattacken oder Gegenmaßnahmen
- Unterscheidung Anorexie & Bulimie eigentlich nur: Untergewicht vs. Normalgewicht
Gewichtsberechnung: Body Mass Index (BMI)
- BMI = kg/m2
- Normalwerte des BMI: siehe Tabelle
- Bei Kindern & Jugendlichen: Berechnung der
Altersperzentile
80
Symptomatik der Anorexie
- Untergewicht:
- Ständig sinkende persönliche Gewichtsgrenze
- Angst vor dem dick sein
- Essverhalten:
- Starke Kontrolle, Einschränkung der Nahrungsvielfalt
- Vermeidung von Fett, Zucker & häufig auch Kohlenhydraten (teilweise panikartige Angst)
- Aussparen ganzer Mahlzeiten
- Einschränkung der Flüssigkeitszufuhr
- „Vernünftige“ Ausreden bei gemeinsamen Mahlzeiten
- Bulimisches Verhalten:
- Erbrechen normaler Mahlzeiten, seltener Essanfälle
- Ständige Beschäftigung mit dem Essen:
- Hobby Lebensmittelkunde
- Kochen für Familie oder Freunde
- Genaue Planung der Nahrungsaufnahme, ständiges Nachrechnen
- Wahrnehmung für Hunger und Sättigung ist gestört
- Körperschemastörung
- Wahrnehmungsverzerrung (auf Grund von gestörter Wahrnehmung muss in der Therapie
„Essen“ bzw. der Magen trainiert werden)
- Unzufriedenheit mit dem Körper (bis zu Ekel & Hass)
- Selbstbild und emotionale Veränderungen
- Abhängigkeit des Selbstwertes von Gewicht & Figur
- Emotionen werden weniger wahrgenommen
- Disziplin & Kontrolle werden bedeutsamer
- Bagatellisierung & Verleugnung (auch bei den Bezugspersonen)
- Schulleistungen
- Häufig ungestört trotz Konzentrationsstörungen
- oft sogar noch bessere Noten als früher! (Disziplinäres Verhalten, dass man für
Essverhaltentrainiert „zahlt“ sich in anderen Bereichen aus)
- Sozialer Rückzug
- Sichtbare der berichtete körperliche Veränderungen
- Untergewicht
- Wachstumsstillstand bei präpuvertären Patientinnen
- Verzögerung oder Ausbleiben der sexuellen Reifung
- Menstruation bleibt aus, Osteoporose mit erhöhtem Frakturrisiko (Skoliose ist häufig)
- Blutdruck sehr niedrig, reduzierte Herzfrequenz
- Frieren
- Trockene Haut
- Herzrhythmusstörung/-infarkt + Nierenfunktionsstörung  2 Hauptgründe für Todesfälle im
Zuge der Anorexie
- Somatische & psychologische Entwicklung wird unterbrochen
81
Anorexia Nervosa
Psychopathologie BMI < 17,5 (unter 85% des Normalgewichts
Gewichtsreduktion meist durch
Nahrungsrestriktion und/oder exzessiven
Sport
Essanfälle & Erbrechen können dabei
vorkommen
Körperschemastörung & Angst vor
Gewichtszunahme trotz Untergewichts
Prävalenz
0,5 - 1% junger Frauen
95% weiblich
Verlauf
Beginn meist frühe Jugend/Pubertät
Langzeitverlauf:
30% Remission
35% leichte Besserung, Stabilisierung
25% Chronifizierung
10% Mortalität
Bulimia Nervosa
Meist Normalgewicht
Essanfälle mit Kontrollverlust, gefolgt von
Gegenmaßnahmen (Erbrechen, Sport,
Abführmittel, Diät)
Körperschemastörung & Angst vor
Gewichtszunahme (z.B. durch Essanfälle)
1 - 3% junger Frauen
80 - 85% weiblich
Beginn meist Jugend/junges EW-Alter
Langzeitverlauf:
Wenig bekannt, vermutlich ähnlicher Verlauf
wie bei Anorexie, Mortalität aber deutlich
geringer
Essanfallstörung - Binge eating disorder (BED): Forschungskriterien nach dem DSM-IV
- Wiederholte Episoden von Essanfällen mit dem Gefühl von Kontrollverlust
- Im Essanfall mindestens 3 der folgenden Symptome
- Wesentlich schneller essen als normal
- Essen bis zu Völlegefühl
- Essen großer Nahrungsmengen, ohne hungrig zu sein
- Alleine essen aus Verlegenheit über große Essensmengen
- Ekelgefühle über sich selbst
- Deprimiertheit oder große Schuldgefühle nach dem Essen
- Deutliches Leiden wegen der Essanfälle
- Essanfälle ohne regelmäßigen Einsatz von unangemessenen kompensatorischen Verhaltensweisen
- Häufig aber nicht Kriterium: Übergewicht, Adipositas (Fettleibigkeit)
Geringe Effektivität von Diätprogrammen
Gewichtsschwankungen sind ungesund!
- Framingham Heart Study: Anstieg allgemeiner Mortalität & solcher an koronarer Herzerkrankung bei
Frauen & Männern mit hoher Gewichtsvariabilität; ebenso Erhöhung der Morbidität
- 3130 VP über 14 Jahre begleitet, Daten über 32 Jahre
- Adipositas & 5 kardivaskuläre Risikofaktoren konfundierten nicht
- ABER: Grad an Übergewicht zu Beginn der Studie war unabhängig Prädiktor für
Koronarerkrankungen & Tod dadurch
- Das relative Risiko durch Gewichtsfluktuation ist genauso hoch wie das durch Adipositas!
- Harvard Alumni Studie: Ausmaß an Gewichtsschwankungen (Zu- oder Abnahme) erhöhen die
Mortalität (allgemein & an Koronarerkrankung)
- 11703 Pbn, Männer bei guter Gesundheit, 11 Jahre Follow-up
- Ergebnisse werde nicht erklärt durch Rauchen, BMI, körperliche Bewegung
- Diabetiker & Herzkranke wurden ausgeschlossen
82
-
Blair: 10590 Männer mit koronaren Risikofaktoren. Erhöhte Gewichtsschwankungen waren mit 50% 60% Erhöhung der allgemeinen Mortalität & der an koronarer Herzerkrankung verbunden
weitere Studien zeigen ähnliche Ergebnisse
Störungsmodelle Essstörung
- Die Folgen von Hungern (Minnesota-Studie; Keys et al., 1950):
- Ziel: Welche Folgen hat Nahrungseinschränkung?
- Pbn: 36 junge körperlich & psychisch gesunde Männer
- 12 Wochen Baseline, 24 Wochen Hungerphase, 12 Wochen Rehabilitationsphase
- individuelle Halbierung der Kalorienzahl in der Hungerphase
- Ergebnisse:
- Gewichtsabnahme von (lediglich) 25% (aber: Knochen, Muskeln, etc.)
- Reduktion des Grundumsatzes um 40% (damit Reduktion des allgemeinen Aktivitätsniveaus;
Person bewegt sich weniger; niedrigere Temperatur)
- starke Veränderung der Essgewohnheiten
- gesteigerte gedankliche Beschäftigung mit dem Thema „Essen“ (wurden zum zentralen
Lebensinhalt)
- noch nach Abschluss der Restriktion: Heißhungerattacken, Schwierigkeiten Mahlzeiten zu
beenden, abgeschwächte und verzögerte Sättigungswahrnehmung
- Veränderungen in anderen Bereichen: Konzentrationsstörungen, verminderte Vigilanz
(Beweglichkeit), sozialer Rückzug, Verlust sexuellen Interesses, Stimmungsschwankungen,
Depressionen
- Schlussfolgerung:
- Das Körpergewicht lässt sich nicht beliebig manipulieren
- physiologische & psychologische Gegenregulationsmechanismen zur Erhaltung der
Überlebensfähigkeit
- Nahrungsrestriktion führt zu für Ess-Störung typische Symptome ( z.B. Essanfälle)
Set-Point Theorie
- „Set Point“ = individuelles, physiologisch optimales Körpergewicht
- biologisch (in erster Linie: genetisch) determiniert
- Verlassen des Set-Points durch diätetische Maßnahmen führt zu physiologischen
Gegenregulationen & metabolischen Veränderungen
- Verlassen des Set-Points führt auch zu psychischen Symptomen:
- veränderte Wahrnehmung von Hunger- und/oder Sättigungssignalen
- Konzentrationsschwierigkeiten, emotionale Probleme (z.B. Depressivität)
- Bedeutung im Rahmen von Essstörungen
- restriktives Essverhalten führt zu Heißhungerattacken
- restriktives Essverhalten ist ein maßgeblicher Faktor für die Auslösung und Aufrechterhaltung
von Essstörung
Schönheitsideal?!
- Vor 40 Jahren: Modell wog im Durchschnitt 8% weniger als eine Durchschnittsfrau. Heute: 23%
- Selbst die Schaufensterpuppen haben heute 10cm weniger Hüftumfang & 5cm dünnere Oberschenkel
als in den 20er Jahren
Symptomatik Körperbildstörung
- Definition Körperbild: „… the picture we have in our minds of the size, shape and form of our bodies;
and our feelings concerning these characteristics and our constituent body parts.“
Vier Ebenen eines gestörten Körperbildes
- Perzeptive Ebene
- Kognitive Ebene
- Affektive Ebene (Empfindungen & emotionale Reaktion auf eigenen Körper)
- Behaviorale Ebene (z.B. Bodybuiliding; Steroid-Missbrauch, etc.)
83
Körperbildstörungen
- Körperdysmorphe Störung
- Wahnhafte Störung (Körperbezogener Wahn)
- Anorexia nervosa
- Bulimia nervosa
- Binge eating disorder
- Adipositas
- Geschlechtsidentitätsstörung
- Entstellung
Risikofaktoren
- Genetische Prädispositionen
- Selbstwertprobleme, soziale Ängste
- Emotionale Labilität
- Perfektionismus, Ängstlichkeit, Introversion (Anorexie)
- Diätierende oder adipöse Angehörige
- Hohe Erwartungen der Eltern
- Überfürsorge
- Fehlende Privatsphäre; „Haus der offenen Tür“ (Anorexie)
- Frühe Menarche
- Sexueller Missbrauch
Auslösebedingungen der Essstörung
- Pubertät mit ihren Entwicklungsaufgaben
- Ablösung von den Eltern, Erlangung von Autonomie
- Sexualität
- Verantwortungsübernahme für die eigene Zukunft
- Unzufriedenheit mit der Figur/Schlankheitsdruck
- „Richtige“ Figur als Eintrittskarte in die „In-Group“
- Hänseleien in der Familie (mütterlicher/gesellschaftlicher Schlankheitsdruck)
- Leistungssport (insbesondere Sportarten mit Gewichtsklassen & Sportarten, in denen ein
geringes Gewicht bessere Leistung verspricht)
- Ablehnung des weiblichen Körpers
- z.B. Traumatisierung
- Wunsch nach androgynem Körperbau
- Emotionale Labilität
- Sonstige Belastungen
- Direkt (z.B. drohende Trennung der Eltern, Leistungsdruck)
- Indirekt (z.B. drohender Bankrott der elterlichen Firma)
84
Zwei Faktoren-Modell (Connors, 1996)
Bio-Psycho-Soziales Modell
Weitere aufrechterhaltende Faktoren/Funktion der Ess-Störung
- Dem Schönheitsideal entsprechen (Eintrittskarte in die In-Group)
- Kontrolle erlangen
- Erfolgsergebnisse durch (erfolgreiches) Hungern; Selbstwerterhöhung
- Ess-Störung als Ablenkung von anderen Problemen
- Macht in Familie oder Partnerschaft erlangen
- Form von Selbstbestrafung, Selbstschädigung
- Essanfälle als inadäquate Bewältigung unangenehmer Emotionen (Wut, Trauer, Langeweile…)
- Essanfälle zur Vermeidung unangenehmer Zustände (Realität wird ausgeblendet)
- Essanfall als eine Möglichkeit „sich etwas zu gönnen“
Prävention
- Prävention für wen?
- Mädchen & Jungen in oder kurz vor der Pubertät
- Eltern
- Lehrer, Ausbilder, Trainer
- Zielvariablen sind die Risikofaktoren
- Diätieren
- Analyse & Hinterfragung des gesellschaftlichen Körperideals und der Botschaft der Medien
- Soziale Kompetenz
- Selbstwert
- Elternverhalten
- Präventive Maßnahmen können wirken
- Bsp.: O’Dea & Abraham (1999): Stärkung des Selbstwertgefühls, um Körperbild, Einstellung zum
Essen & Essverhalten zu verbessern
- Zufriedener mit Körper und Aussehen
- Mehr Distanz zum Urteil der Peers
- Weniger Diätieren & Gewichtsverlust
- Einbettung der Maßnahmen in soziale Strukturen: Schulen, Ausbildungsstätten, Sportvereine,
Freizeitangebote
85
Zusatzkapitel depressive Störungen: Major Depression & Dysthymie
Was sind depressive Störungen?
- Jeder Mensch zeigt vereinzelt depressive Symptome
-  depressive Störung abhängig von Zeitdauer & Intensität
- Major Depression: 2 Wochen anhaltende negative Stimmungslage
- Depressives Syndrom: negative Stimmungslage + Vielzahl weiterer Symptome (Gewichtsverlust,
Schlafstörung etc.)
- Depression kann sich sehr unterschiedlich darstellen
-  keine ausgeprägte Traurigkeit, sondern eine Störung des gesamten Organismus
Symptome:
Emotionale Symptome:
- Gefühle von Traurigkeit
- Niedergeschlagenheit
- Ängstlichkeit
- Verzweiflung
- Schuld
- Schwermut
- Reizbarkeit
- Leere
- Gefühllosigkeit
Kognitive Symptome:
- Grübeln
- Pessimismus
- Negative Gedanken
- Einstellungen & Zweifel gegenüber sich selbst („Ich bin ein Versager“), den eigenen Fähigkeiten, seinem
Äußeren, der Umgebung, der Zukunft
- Suizidgedanken
- Konzentrations- & Gedächtnisschwierigkeiten
- Schwerfälliges Denken
- Übermäßige Besorgnis um die körperliche Gesundheit
Physiologisch-vegetative Symptome:
- Energielosigkeit
- Müdigkeit
- Antriebslosigkeit
- Weinen
- Schlafstörungen
- Morgentief
- Appetitlosigkeit
- Gewichtsverlust
- Libidoverlust
- Innere Unruhe
- Spannung
- Reizbarkeit
- Wetterfühligkeit
- Allgemeine vegetative Beschwerden (u.a. Magenbeschwerden & Kopfdruck)
Behaviorale/Motorische Symptome:
- Verlangsamte Sprache & Motorik
- Geringe Aktivitätsrate
- Vermeidung von Blickkontakt
- Suizidhandlungen
- Kraftlose, gebeugte, spannungslose Körperhaltung oder nervöse, zappelige Unruhe
- Starre, maskenhafte, traurige Mimik
- Weinerlich besorgter Gesichtsausdruck
86
Klassifikation & Diagnostik
Klassifikation
- Im DSM-IV unter der diagnostischen Hauptgruppe „affektive Störungen“
- Beinhalten: Major Depression, dysthyme Störung, nicht näher bezeichnete depressive Störung
- Neben der Depressiven (mono-/unipolaren-) Störung fallen auch die bipolaren Störungen (Bipolar I & II;
zyklothyme Störung) unter die affektiven Störungen
- Außerdem: affektive Syndrome, deren Beginn & Verlauf entweder auf einen medizinischen
Krankheitsfaktor oder den Einfluss einer psychotrop wirksamen Substanz eindeutig zurückgeführt
werden kann
- Diagnostische Zusatzkodierungen:
- Aktueller Schweregrad (Anzahl & Ausprägungsgrad der Symptome: leicht, mittel, schwer)
- Auftreten weiterer psychopathologischer Symptome (z.B. Vorliegen psychotischer Symptome)
- Krankheitsverlauf (z.B. einzelne oder wiederkehrende Episoden, chronische Symptomatik)
- Bipolare Störungen werden den depressiven Störungsdiagnosen übergeordnet, d.h. wann immer
manische Episoden irgendwann im Störungsverlauf aufgetreten sind ist die Diagnose „bipolare Störung“
– ungeachtet der Form der aktuellen Symptomatik – zu stellen. Daran wird deutlich, dass für die
Differenzialdiagnose affektiver Störungen immer eine lebenszeitbezogene Erfassung der Beschwerden
des Patienten unerlässlich ist
Diagnostisches Vorgehen
- 1. Schritt: Beurteilung des Vorliegens affektiver Episoden
- Episode einer Major Depression
- Hypomane Episode
- Manische Episode
- Gemischte Episode
- affektive Episoden stellen selbst keine kodierbare Störung dar
- erst ihre typische Kombination mit weiteren Merkmalen des
Verlaufs sowie differenzialdiagnostische Abgrenzungen unter
Beachtung des bisherigen Lebensverlaufs erlauben die
Diagnosestellung
Major Depression
- Eine oder mehrere Episoden einer MD, d.h. einer depressiven Verstimmung oder dem Verlust des
Interesses bzw. der Freude an fast allen Aktivitäten über einen Zeitraum von mind. 2 Wochen. + mind. 4
der folgenden Symptome:
- Gewichtsveränderungen
- Schlafstörungen
- Unruhe oder Verlangsamung
- Müdigkeit oder Energieverlust
- Gefühle der Wertlosigkeit oder Schuldgefühle
- Konzentrations-/Entscheidungsschwierigkeiten
- Suizidgedanken/-pläne/-versuche
- In Abhängigkeit der Anzahl von im bisherigen Lebensverlauf aufgetretenen Episoden einer MD wird
zwischen einer einzelnen & einer rezidivierenden MD unterschieden
- Weitere diagnostische Differenzierungen:
- Schweregrad (leicht, mittel, schwer)
- Vorliegen weiterer kritischer Symptome (z.B. psychotische oder melancholische Merkmale)
- bestimmte vermeintliche Ursachen (z.B. post-partum-Beginn)
87
Dysthyme Störung
- Kernmerkmal: über mind. 2 Jahre an der Mehrzahl der Tage auftretende depressive Verstimmung, ohne
dass die vollen Kriterien einer Episode einer MD erfüllt sind
- Symptome oft weniger persistierend & können stärker flukturieren
- zusätzlich mind. 2 der folgenden Symptome:
- Appetitveränderungen
- Schlafstörungen
- Energiemangel
- geringes Selbstwertgefühl
- Konzentrationsschwierigkeiten
- Gefühle der Hoffnungslosigkeit
- Symptomatik erscheint im Querschnitt weniger akut schwer ausgeprägt als bei MD, besteht aber
langjährig
- Tritt nach 2 Jahren dysthymer Symptomatik eine Episode einer MD auf  Double Depression
Nicht näher bezeichnete depressive Störung
- alle Störungen, die depressive Merkmale aufweisen, die aber nicht in die Kriterien einer MD, dysthymen
Störung, Anpassungsstörung (mit depressiver Verstimmung oder mit gemischter Angst & depressiven
Symptomen) erfüllen; u.a.:
- prämenstruelle dysphorische Störung
- leichte depressive Störungen (2 Wochen Dauer, aber weniger als 5 der definierten Kriterien)
- rezidivierende kurze depressive Störung
- Zusatzkodierungen im DSM-IV: sollen die diagnostische Genauigkeit erhöhen, Prognose & Wahl der
Behandlungsmethode erleichtern
- Aktuelle bzw. letzte depressive Episode kann charakterisiert werden über:
- klinischen Zustand (leicht, mittel-schwer, schwer mit oder ohne psychotische Merkmale,
teilremittiert, vollremittiert)
- anderer Merkmale (chronisch, mit katatonen, melancholischen oder atypischen Merkmalen, mit
postpartalem Beginn)
- Bei rezidivierender depressiver Episode: zusätzlich Langzeitverlauf (mit oder ohne Vollremission im
Intervall, mit saisonalem Muster)
88
Diagnostische Kriterien depressiver Störungen nach DSM-IV
Schlüsselsyndrom: Episode einer Major Depression
A. Mindestens 5 der folgenden Symptome sind über 2
Wochen aufgetreten & mind. eines ist
(1) depressive Verstimmung oder
(2) Verlust an Interesse oder Freude
1. Depressive Verstimmung an fast allen Tagen, für
die meiste Zeit des Tages
2. Deutliche vermindertes Interesse oder Freude an
(fast) allen Aktivitäten, an fast allen Tagen
3. Deutlicher Gewichts-/Appetitsverlust oder
Gewichtszunahme/Appetitsteigerung
4. Schlaflosigkeit/vermehrter Schlaf
5. Psychomotorische Unruhe/Verlangsamung an fast
allen Tagen
6. Müdigkeit/Energieverlust an fast allen Tagen
7. Gefühle von Wertlosigkeit/Schuld an fast allen
Tagen
8. Konzentrations- & Entscheidungsprobleme
B. Die Symptome erfüllen nicht die Kriterien der
gemischten Episode
C. Die Symptome verursachen in klinisch bedeutsamer
Weise Leiden oder Einschränkungen
D. Die Symptome gehen nicht auf die direkte körperliche
Wirkung von Substanzen oder medizinische Faktoren
zurück
E. Symptome sind nicht besser durch einfache Trauer
erklärbar (d.h. nach Verlust einer geliebten Person
dauern Symptome länger als 2 Monate an oder sie sind
durch deutliche Funktionsbeeinträchtigungen,
krankhafte Wertlosigkeitsvorstellungen,
Suizidgedanken, psychotische Symptome oder
psychomotorische Verlangsamung charakterisiert)
Kodierbare Diagnose: Major Depression, einzelne Episode (ICD-10: F32.x)
A. Vorhandensein einer einzelnen Episode einer MD
B. Episode kann nicht besser durch eine schizoaffektive
Störung erklärt werden & überlagert nicht eine
Schizophrenie, schizophreniforme, wahnhafte oder
psychotische Störung
C. Es trat niemals eine manische, eine gemischte Episode
eine hypomane Episode auf.
Beachte: Dieser Ausschluss gilt nicht, wenn alle einer manischen, gemischten oder hypomanen Episode ähnlichen
Symptombilder substanz- oder behandlungsinduziert oder die direkte Folge eines medizinischen Krankheitsfaktors
waren.
Kodierbare Diagnose: Major Depression, rezidivierend (ICD-10. F33.x)
A. Vorhandensein von 2 oder mehreren Episoden einer
MD (Episoden werden als getrennt gewertet, wenn in
einem mind. 2-monatigen Intervall die Kriterien für
eine Episode einer MD nicht erfüllt sind)
B. Episode kann nicht besser durch eine schizoaffektive
Störung erklärt werden & überlagert nicht eine
Schizophrenie, schizophreniforme, wahnhafte oder
nicht näher bezeichnete psychotische Störung
C. In der Anamnese gab es niemals eine manische, eine
gemischte oder eine hypomane Episode
Beachte: Dieser Ausschluss gilt nicht, wenn alle einer manischen, gemischten, oder hypomanen Episode ähnlichen
Symptombilder substanz- oder behandlungsinduzierter oder die direkte Folge eines medizinischen
Krankheitsfaktors waren.
89
Kodierbare Diagnose: Dysthyme Störung (ICD-10 F34.x)
A. Depressive Verstimmung, die die meiste Zeit des Tages
an mehr als der Hälfte aller Tage über einen 2-jährigen
Zeitraum andauert.
B. Dabei treten mind. 2 der folgenden Symptome auf
1. Appetitlosigkeit od. übermäßiges Bedürfnis zu
essen
2. Schlaflosigkeit od. übermäßiges Schlafbedürfnis
3. Energiemangel oder Erschöpfung
4. Geringes Selbstwertgefühl
5. Konzentrationsstörungen od.
Entscheidungserschwernis
6. Gefühl der Hoffnungslosigkeit
C. In der betreffenden 2-Jahres-Periode gab es keinen
Zeitraum von mehr als 2 Monaten ohne Symptome
D. In den ersten 2 Jahren der Störung bestand keine
Episode einer Major Depression, das heißt das
Störungsbild wird nicht besser durch eine chronische
oder teilremittierte Major Depression erklärt.
Beachte: Episode einer MD kann vor dysthymer Störung aufgetreten sein, vorausgesetzt, dass eine vollständige
Remission erfolgt ist (d.h. für mind. 2 Monate keine bedeutsamen Symptome). Nach den ersten 2 Jahren einer
dysthymen Störung können sich Episoden einer MD & dysthymen Störung überlagern („Double Depression“)
E. Zu keinem Zeitraum ist eine manische, gemischte oder
hypomane Episode aufgetreten, die Kriterien für eine
zyklothyme Störung waren niemals erfüllt
F. Tritt nicht ausschließlich im Verlauf einer chronischen
psychotischen Störung auf
G. Die Symptome gehen nicht auf die direkte körperliche
Wirkung von Substanzen oder medizinischen Faktoren
zurück
H. Symptome verursachen in klinisch bedeutsamer Weise
Leiden & Einschränkungen
Diagnostik
- erfordert zuverlässige & valide Erfassung der entsprechenden Symptome inkl. ihrer zeitlichen
Auftretensmuster & Intensität
- dimensionale Depressionsskalen (z.B. BDI, HAM-D) allein kein geeignetes Mittel (bilden lediglich den
aktuellen Schweregrad der Depression ab)
- Besser: strukturierte (z.B. SKID) oder standardisierte (z.B. DIA-X) diagnostische Interviews
-  Diese erlauben es auch, umfassend die zahleichen differenzialdiagnostischen Erwägungen sowohl auf
der Symptom- als auch auf der Diagnoseebene adäquat abzubilden.
- Bsp.: Ausschluss, ob es sich bei einer MD um eine pathophysiologische Folgen von somatischen
Erkrankungen oder medizinischen Krankheitsfaktoren (Hyperthyreose, Schlaganfall, multiple Sklerose)
bzw. von Substanzen (Alkohol, Drogen), Medikamenten (Stereoide) oder Toxinen handelt
- Diagnosestellung einer depressiven Störung nur durch Anwendung einer umfassenden Fragestruktur
nach Symptomen, deren Ausprägung & zeitlichem Auftretensmuster & unter Berücksichtigung von Ein& Ausschlusskriterien sowie differenzialdiagnostischen Aspekten möglich ist
Epidemiologie
Prävalenz
- Depressionen im Sinne einer MD und/oder Dysthymie gehören weltweit zu den häufigsten psychischen
Erkrankungen
- Lebenszeitrisiko für Depression nach neueren Studien bei Erwachsenen: nahezu 20%
- Erkrankungsrisiko in den vergangenen Jahrzehnten stetig angestiegen (insbesondere jüngere
Geburtskohorten haben substanziell höheres Risiko, früher & häufiger als ältere Geburtskohorten eine
Depression zu entwickeln)
90
-
-
-
In jedem Jahr sind ca. 6-8% der Durchschnittsbevölkerung von einer depressiven Störung betroffen
MD: Lebenszeitprävalenz: 15%, Punktprä valenz: 3,5%
Dysthyme Störung: Lebenszeitprävalenz: 4,5%
In einigen Fällen tritt vor Beginn einer MD bereits eine dysthyme Störung auf (in ca. 10% der Fälle mit
MD  Double Depression)
bei „Double Depression“ ist WS für weitere Episoden einer MD erhöht
MD ist meist eine episodische Erkrankung
- auch ohne professionelle Behandlung klingen bei erstmals Erkrankten die Symptome nach 8–12
Wochen spontan ab
- neuerliche Episoden  Episodendauer & Chronizitätsrisiko steigen deutlich an
- Bei ca. 1/3 aller MD-Betroffenen tritt nur einmal 1 Episode im Lebensverlauf auf
- Bei ca. 1/3 finden sich rezidivierende Episoden
- Bei ca. 1/3 kann die Depression auch bei Therapie in eine chronische Erkrankung einmünden
Depressive Störungen sind nahezu immer mit ausgeprägten akuten Einschränkungen der sozialen &
beruflichen Rollenaufgaben & mit gravierenden Belastungen für das unmittelbare familiäre &
Beziehungsnetzwerk verbunden
psychosoziale Einschränkungen persistieren häufig über das Abklingen einer akuten depressiven Phase
hinaus & können einen Rückfallfaktor für neue Episoden darstellen
ca. 15% der an einer schweren MD Erkrankten sterben durch Suizid
ca. 11% der deutschen Hausarztpatienten erfüllte an einem Stichtag die Kriterien einer MD (Studie
„Depression 2000“)
Allerdings wurde durch die Ärzte nur bei knapp jedem 2. Patienten die Depression auch erkannt
 Großteil der Patienten mit Depressionen wird nicht diagnostiziert, was zwangsläufig mit einer
schlechten oder ausbleibenden Therapiezuweisung verbunden ist
Prävalenz in der EU
- MD ist mit Median von 6,9% in der erwachsenen Allgemeinbevölkerung (18–65 Jahre) im vergangenen
Jahr die häufigste der untersuchten psychischen Störungen
- Schätzungen für die 12-Monats-Prävalenz: zwischen 3,1 & 10,1%
- keine Hinweise für ausgeprägte regionale & kulturelle Unterschiede der Prävalenz (Interquartilsrange
4,8–8,0% bemerkenswert eng  hohe Konvergenz)
- ca. 18,4 Mio. Menschen litten in der EU in den vergangenen 12 Monaten an einer MD
- 2/3 bleiben unbehandelt & unerkannt
- 38% erhalten rein medikamentöse, zumeist durch den Hausarzt durchgeführte Therapie (38%)
- 14% erhalten psychologische Psychotherapie
- 33% erhalten kombinierte pharmakologische & psychologische Behandlung
- 15% der Personen mit Depression blieben unbehandelt, obwohl sie aufgrund psychischer Beschweren
Hilfe aufsuchten
Trauerreaktionen
- Auch im Zuge von schwersten Trauerreaktionen wird im klinischen Kontext idR nicht gleich von einer MD
gesprochen, selbst dann nicht, wenn die trauernde Person aufgrund der Symptome professionelle Hilfe
aufsucht
- Diagnose erst ca. 2 Monate nach dem Verlust einer geliebten Person
- Erst danach sollte von einer MD im Sinne einer komplizierten Trauerreaktion ausgegangen & eine
depressionsspezifische Behandlung erwogen werden
- Diese besonderen diagnostischen Regeln sollen sicherstellen, dass man nicht voreilig den gesellschaftlich
normierten, normalen Trauerprozess & die normale Trauerarbeit einer Person „pathologisiert“ &
möglicherweise durch nicht zwingend indizierte therapeutische Maßnahmen unterbricht
- Ausnahmen hiervon sind Trauerreaktionen, die mit Suizidalität, mit psychotischen Merkmalen oder
ausgeprägter psychomotorischer Verlangsamung sowie gravierenden Beeinträchtigungen des
Funktionsniveaus einhergehen, die unmittelbar klinische Aufmerksamkeit erfordern
91
Epidemiologische Risikofaktoren
Alter
-
Ersterkrankungsrisiko depressiver Störungen ist in der Kindheit bis zur Mitte der Adoleszenz gering &
steigt dann relativ stetig bis ins hohe Erwachsenenalter an
- Mittleres Ersterkrankungsalter liegt zwischen dem 25. & 35. Lebensjahr
- Querschnittsprävalenz ist im Erwachsenenalter über alle Altersgruppen hinweg relativ stabil mit 12Monats-Prävalenzen von 6-8%
Geschlecht
- Frauen : Männer  2 : 1
- Bundesgesundheitssurvey: Lebenszeitprävalenz 25% bei Frauen, 12,3% bei Männern
- Interessanterweise differenziert sich erhöhtes Erkrankungsrisiko für Frauen erst ab Pubertät heraus
- Mögliche Erklärungen für die Geschlechtsunterschiede ab der Adoleszenz: u. a. hormonelle
Unterschiede, Persönlichkeitsfaktoren, soziale bzw. Umweltfaktoren & die Erfahrung von
Lebensereignissen sowie die Interaktion dieser Faktoren
Familienstand
- Depressive Störungen besonders häufig bei geschiedenen, getrennt lebenden oder verwitweten
Personen
- Interaktionen mit dem Geschlecht sind zu beachten (z.B. haben verheiratete im Vergleich zu
alleinstehenden Frauen höhere Depressionsraten, insbesondere wenn sie jung sind & kleine Kinder
haben)
- Assoziation zwischen Trennung/Scheidung & Depression bei Männern stärker ausgeprägt als bei Frauen
Sozioökonomischer Status
- Geringer sozioökonomischer Status: erhöhte Raten an depressiven Störungen
- Allerdings ist noch nicht ausreichend geklärt, ob ein geringerer sozioökonomischer Status ein
Risikofaktor für depressive Störungen ist oder eine Konsequenz oder ob beide Bedingungen durch
andere Faktoren verursacht werden
- Es gibt jedoch erste Hinweise darauf, dass bereits ein geringerer sozioökonomischer Status der Familie
in der Kindheit mit einem erhöhten Depressionsrisiko im Erwachsenenalter einhergeht
Geographische Region: Stadt vs. Land
- gemischte Ergebnisse
- nur in einigen Studien: Prävalenz in städtischen Regionen höher als in ländlichen Gebieten
- Mögliche Erklärung für diese Unterschiede: Faktoren wie Gewalt, Verfügbarkeit von Drogen,
Arbeitslosigkeit, mangelnde soziale Unterstützung, stressreiche Lebensereignisse
Psychosoziale Stressoren & Lebensereignisse (Life Events)
- Episoden einer MD werden häufig mit psychosozialen Belastungsfaktoren & Stressoren (Tod einer
geliebten Person, Scheidung, Trennung & andere „Verlustereignisse“) in Verbindung gebracht
- insbesondere dann, wenn sie in Verbindung mit weiteren chronischen Belastungsfaktoren (finanzielle
Probleme, Arbeitslosigkeit, Isolation) zusammen auftreten
- spielen u.U. bei Auslösung einer 1. depressiven Episode größere Rolle als bei späteren Episoden
- Einige Studien: bereits durch sehr früh im Leben auftretende adverse Lebensereignisse & -bedingungen
wird eine Vulnerabilität für spätere Entwicklung von Depressionen im Erwachsenenalter herausgebildet
Komorbidität
- Ausgeprägte Komorbidität mit anderen psychischen Störungen & körperlichen Erkrankungen
- Diese können sowohl als vorausgehende Bedingungen das Risiko für die Entwicklung einer Depression
erhöhen, aber auch als Begleiterscheinung oder Konsequenz der depressiven Störung auftreten
- Vorliegen von komorbiden Störungen oder Erkrankungen geht mit größeren Beeinträchtigungen &
Einschränkungen sowie einer ungünstigeren Prognose (Schweregrad, Persistenz, Rückfälle) einher,
sowohl in Bezug auf die depressive Störung als auch in Bezug auf die komorbid auftretenden Störungen
bzw. Erkrankungen
- Ca. 3 von 4 Personen weisen über Lebensspanne hinweg noch weitere psychische Störungen auf
- Höchste Komorbiditätsraten:
- Angststörungen (beginnen meist zeitlich primär & erhöhen Risiko für Depression)
- Substanzstörungen
92
-
- somatoforme Störungen
Bei Kindern & Heranwachsenden zeigen sich häufig auch sozial störendes Verhalten,
Aufmerksamkeitsdefizitstörungen & Essstörungen
Personen mit MD: höhere Raten an körperlichen Beschwerden & Krankheiten
Personen mit bestimmten medizinischen Krankheitsfaktoren (z.B. Diabetes, Myokardinfarkt) entwickeln
im Verlauf dieser Erkrankung gehäuft eine MD
Außerdem konnte für verschiedene körperliche Erkrankungen ein ungünstiger Verlauf bei Vorliegen
einer komorbiden Depression nachgewiesen werden
Assoziierte Merkmale
Beeinträchtigungen und Einschränkungen der sozialen & beruflichen Rolle
- Eheprobleme
- berufliche Probleme
- Probleme in der Ausbildung
-  Probleme können Verlauf der Erkrankung zusätzlich aggravieren
Suizidalität
- versuchter Suizid im Rahmen einer schweren Episode einer MD  20-60%
- vollendeter Suizid (15%)
- wiederkehrende Suizidvorstellung (40-80%)
- Hinweise auf eine ernsthafte Suizidgefährdung: genaue Planung des Suizids (Festlegung von Ort, Zeit &
Art des Suizides; Beschaffung der notwendigen Materialien)
- Erhöhtes Suizidrisiko:
- Betroffene mit psychotischen Merkmalen
- Betroffene mit gleichzeitigem Substanzgebrauch
- vergangene Suizidversuche
- Suizide in der Familie
- ältere Menschen
- männliches Geschlecht (aber: Suizidversuche überwiegen bei Frauen)
- Suizidmotiv besteht bei MD-Betroffenen häufig darin, den schmerzhaften, als endlos andauernd
wahrgenommenen Gefühlszustand zu beenden oder aufgrund unüberwindbar erscheinender
Hindernisse aufzugeben
Verlauf
Episodenverlauf
- Episode einer MD
- Symptomentwicklung idR über einige Tage oder sogar Wochen
- Bevor MD voll ausgeprägt ist, d.h. das depressive Syndrom nahezu täglich & die meiste Zeit des Tages
vorhanden ist, können über Wochen bis Monate vereinzelte, leichtere depressive & ängstliche
Symptome auftreten  Prodromalphase
- Dauer kann über den in den diagnostischen Kriterien festgelegten 2-Wochen-Zeitraum hinaus sehr
variabel sein
- Unbehandelte Episode: unabhängig vom Ersterkrankungsalter idR Dauer von ca. 3-4 Monaten;
anschließend vollständige Remission
- nur teilweise Remission der depressiven Symptomatik bei 20-30% der Fälle (depressive
Restsymptomatik über Monate oder sogar Jahre; prämorbide Ausgangsniveau wird nicht wieder
vollständig erreicht
- Treten erneut vollständige depressive Episoden auf, zeigt sich bei diesen Betroffenen häufig wiederum
nur eine Teilremission
- 5-10% der Personen mit einer Episode einer MD erfüllen die Störungskriterien kontinuierlich über 2
Jahre & länger  Zusatzkodierung „chronisch“
- Dysthyme Störung
- Symptome treten im Vergleich zur MD in geringerem Schweregrad, aber über einen längeren Zeitraum
(mind. 2 Jahre) über mehr als die Hälfte der Zeit auf
93
-
Bei einigen Betroffenen hat sich die Symptomatik so in ihr alltägliches Erleben eingeschlichen („So bin
ich eben“), dass sie kaum eine affektive Veränderung von ihrer ursprünglichen „normalen“ Verfassung
erkennen können
Störungsverlauf
- Major Depression
- Erstauftreten
- 1. Episode einer Major Depression kann in jedem Lebensalter auftreten
- Mittleres Erstauftretensalter liegt bei 25-35 Jahren
- In den letzten Jahrzehnten hat sich mittleres Alter bei Auftreten der 1. Episode nach vorn verlagert
- Häufig gehen psychosoziale Belastungsfaktoren (z.B. Tod einer geliebten Person oder Scheidung) einer
Episode einer MD voraus (v.a. der 1. oder 2. Phase), aber auch medizinische Krankheitsfaktoren, Angstoder Substanzstörungen können zum Beginn einer MD beitragen
- Weiterer Verlauf
- MD ist eine episodische, phasenhaft verlaufende Störung
- 1/3 nur eine einzige Episode
- 1/3 rezidivierender Verlauf mit vollständigen Remissionen im Intervall
- 1/3 chronischer, langjähriger Verlauf ohne oder mit nur teilweisen Remissionen (schlechte
Prognose, die spezielle Behandlungsstrategien erfordert)
- Mit zunehmender Anzahl bereits aufgetretener Episoden einer MD steigt die WS für weitere Episoden
- 60% bei 1 abgelaufenen Episode
- 70% bei 2 abgelaufenen Episoden
- 90% bei 3 abgelaufenen Episoden
- Rezidivierender Störungsverlauf kann über Lebensspanne betrachtet ganz unterschiedlich sein
- bei einigen Betroffenen treten die Episoden gehäuft in relativ kurzer Zeit auf
- bei anderen nur vereinzelt Episoden & zwischenzeitlich jahrelange symptomfreie Intervalle
- Häufig ist zu beobachten, dass mit höherem Alter & mit zunehmender Episodenanzahl die
Episodenschwere größer wird sowie die Episodendichte bei kürzer werdenden symptomfreien
Intervallen zunimmt
- Als Bedingungsfaktoren für einen ungünstigen Verlauf einer MD in Bezug auf Episodendauer &
Rezidivneigung:
- frühes Erstauftretensalter
- größerer Schweregrad depressiver Episoden
- nur teilweise Remissionen zwischen den Episoden
- eine vorausgehende dysthyme Störung (Double Depression)
- eine familiär bedingte Prädisposition zu depressiven Störungen
- komorbide Angststörungen, Substanzstörungen & medizinische Krankheitsfaktoren
- Schwer vorherzusagen, ob sich nach einer MD-Episode eine manische, hypomane oder gemischte
Episode zeigt (ca. 5-10% der Betroffenen  Diagnosenwechsel zu einer bipolaren Störung)
- Erhöhtes Risiko hierfür bei jüngeren Menschen mit einer akut einsetzenden schweren MD-Episode, v.a.
wenn dabei psychotische oder psychomotorische Verlangsamung auftreten & keine präpubertären
psychopathologischen Auffälligkeiten bekannt sind
- Dysthyme Störung
- Erstauftreten
- Häufig früher Beginn in der Kindheit, der Adoleszenz oder im jungen Erwachsenenalter
- Dysthyme Symptomatik:
- Vor dem 21. Lebensjahr  Zusatzkodierung „früher Beginn“
- Nach dem 21. Lebensjahr  Zusatzkodierung „später Beginn“
- Weiterer Verlauf
- verläuft zumeist chronisch & langjährig
- Spontanremissionen bei unbehandelter dysthymer Störung nur in ca. 10% der Fälle pro Jahr
- Betroffene haben ein erhöhtes Risiko, im weiteren Störungsverlauf eine MD zu entwickeln (in
Patientenstichproben bis zu 75% innerhalb von 5 Jahren)
- WS für spontane Vollremissionen zwischen späteren Episoden einer MD ist dann geringer & WS für eine
höhere Frequenz nachfolgender Episoden erhöht
94
-
Früher Beginn der dysthymen Symptomatik: höhere WS für Eintreten einer Double Depression
Typische Verläufe affektiver Störungen über den Lebensverlauf
Ätiologie & Entstehungsbedingungen
-
-
-
Heterogenität der Erscheinungsformen, des Ersterkrankungsalters & des Verlaufs depressiver Störungen
 bisher keine einheitliche Störungstheorie der Depression
Entwicklungsbezogene Perspektive: Entstehen einer Depression lässt sich am besten im Rahmen von
Vulnerabilitäts-Stress-Modellen beschreiben
 prädisponierende konstitutionelle Faktoren genetischer bzw. familiengenetischer Art & frühe adverse
soziale & umweltbezogene Ereignisse & Bedingungen tragen zur Ausbildung einer erhöhten
Vulnerabilität bei, die sich über entwicklungsbiologische, psychologische & soziale Prozesse weiter
akzentuieren oder abschwächen kann
Ausbruch einer depressiven Episode wird vor Hintergrund dieser Vulnerabilitätskonstellationen meist
über auslösende kritische (meist stressreiche) Lebensereignisse bzw. deren Kombination mit weiteren
passenden proximalen Belastungskonstellationen erklärt
Diese ätiologischen Faktoren wirken über biochemische & psychologische Prozesse bei der Ausbildung
des depressiven Syndroms zusammen
Für weiteren Verlauf & die Schwere der Depression werden z.T. ähnliche, z.T. andere aufrechterhaltende
& ausgestaltende Faktoren verantwortlich gemacht
Modell (s.u.) durch Vielzahl von Untersuchungen in Teilkomponenten gut belegt, auch wenn sich die
Vielgestaltigkeit der Faktoren & ihre Interaktion einer vollständigen Aufklärung entziehen
Ungeklärt, inwieweit es sich um depressionsspezifische Vulnerabilitäten & Risikofaktoren handelt
95
Konzeptuelles Ätiologiemodell der Depression:
Distale Faktoren (früh im Lebenslauf auftretend)
Familiäre Belastung & Genetik
- Kinder depressiver Eltern weisen erhöhtes Depressionserkrankungsrisiko auf
- Übertragungsweg ist noch unzureichend geklärt, aber zweifellos spielen genetisch verankerte
Risikokomponenten neben familiären & Umweltkomponenten eine Rolle, deren absolute Beiträge
bislang noch nicht bestimmt werden können
- Zwillingsstudien belegen eine moderate Heritabilität, die nur bei bipolar verlaufenden Depressionen
ausgeprägt erscheinen
- Der genetische Übertragungsmodus ist unsicher, aber es ist wahrscheinlich, dass genetische Effekte über
verschiedene, meist indirekte Mechanismen, zum Tragen kommen
- Dabei scheinen genetische Faktoren ihre pathogene Bedeutung sowohl
- a) über passive Gen-Umwelt-Interaktionen durch die Vermittlung erhöhter Vulnerabilität bei
Konfrontation mit nicht kontrollierbaren adversen Lebensereignissen zu entfalten, wie auch
- b) über die Vermittlung einer erhöhten allgemeinen Anfälligkeit für die Herbeiführung
depressionskritischer Lebensereignisse (z.B. Trennung von Partner, Schul- & Ausbildungsabbruch)
im Sinne einer aktiven Gen-Umwelt-Interaktion
- Familiäre Belastung & Depression
- bis zum 28. Lebensjahr haben Kinder depressiver Eltern ein nahezu 3-mal so hohes Risiko, auch eine
depressive Episode zu entwickeln wie Kinder von Eltern ohne eine Depression in der Vorgeschichte
- Familiäre Depressionen manifestieren sich erstmals früher & nehmen gehäuft eine ähnliche
Symptomgestalt & einen ähnlichen Verlauf an wie die Depression der Eltern
- Dieses Übertragungsrisiko ist aber nur teilweise depressionsspezifisch, denn Kinder depressiver Eltern
hatten auch erhöhte Risiken für bestimmte Angststörungen & Suchterkrankungen
- umgekehrt erwies sich, dass elterliche Sucht- & Angststörungen das Depressionsrisiko erhöhen können
Trauma & frühe adverse Ereignisse
- Depressionen sind mit erhöhter WS assoziiert, frühe Traumata & adverse Entwicklungsbedingungen in
der Kindheit zu erleben
- Bündel sehr heterogener Bedingungen (Deprivation, Vernachlässigung, Trennungs- & Verlusterlebnisse,
schwerwiegende Krankheitserfahrungen) von der perinatalen bis Kindheitsphase
- Modellperspektiven:
- Bowlbys Bindungstheorie: phänomenologische Implikationen gestörter Mutter-Kind-Bindungsstrukturen
für eine gestörte psychologische Weiterentwicklung des Kindes
- Stressbiologische Tier- & Humanuntersuchungen: neurobiologische Prozesse, die dieser
Störungsdynamik unterliegen
96
-
-
-
Frühe traumatische & adverse Ereignisse  persistierende Entwicklungsstörung der Funktionsweise der
Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (HPA), die im späteren Leben zu einer
veränderten & dysfunktionalen Stressregulation führen
Derart dauerhaft erhöhte HPA-Achsen-Aktivität ist nicht nur mit erhöhten autonomen & endokrinen
Antworten auf Stressreize, sondern auch mit vielfältigen Folgen für die kognitive Weiterentwicklung &
einer erhöhten Krankheitsanfälligkeit verbunden
Adaptation an diese Traumen im Sinne eines biologischen „Priming“ ist mit neurobiologischen & v.a.
Transmitterveränderungen assoziiert, die das Individuum dauerhaft anfällig gegenüber Stress sowie
möglicherweise auch depressionsspezifischen Auslöserkonstellationen machen können
Temperament & Persönlichkeit
- Familiengenetische & traumatische Ereignisse können auch depressionsförderlich durch die Effekte
werden, die sie auf die Ausformung von Temperament & Persönlichkeit inkl. des kognitiven Stils haben
- Frühe kognitive & verhaltensbezogene Dispositionsstile wie Verhaltenshemmung & Affektlabilität in der
Kindheit sind als signifikante Risikofaktoren für eine Depressionsentwicklung gut etabliert
- Weniger gut ist der Status von Persönlichkeitseigenschaften als eindeutig der Erkrankung
vorausgehender Risikofaktor etabliert, da sich mit den üblichen Skalen nicht hinreichend sichern lässt,
inwieweit z B. eine neurotische Disposition eindeutig dem Erkrankungsbeginn vorausgeht
Proximale Faktoren (initial auslösend)
Lebensereignisse & chronische Belastungen
- 80er: Konzept der „stressful life events“ als wichtigste Erklärung für das Auftreten von Depressionen
- Heute: Betonung der Rolle von Vulnerabilitätsfaktoren
- Zweifellos gehen dem Ausbruch einer Depression gehäuft stressreiche Lebensereignisse – oft in
Kombination mit chronisch belastenden Lebensbedingungen – voraus
- Jedoch haben epidemiologische Studien gezeigt, dass selbst schwerwiegendste Ereignisse (z.B.
Trennung, Tod eines Elternteils) nur bei einer Minderzahl der Betroffenen auch zum Ausbruch einer
psychischen Störung führen
- Umgekehrt finden sich bei ca. 1/3 aller Depressionen überhaupt keine kritischen Lebensereignisse
- V.a. vulnerable Personen mit einem bestimmten Serotonintransportergenotyp & traumatischen bzw.
adversen Ereignissen in der Kindheit weisen ein erhöhtes Risiko für Depression auf
- Genotyp war trotz kritischer Lebensereignisse irrelevant, wenn die Kinder in einer behüteten &
ungestörten familiären Umgebung aufwuchsen
Soziale & psychologische Faktoren
- Nichtsdestotrotz gehen Verlustereignisse mit einem erhöhten Risiko für depressive Störungen einher
- Entscheidend für Intensität & Dauer der depressiven Reaktion ist offensichtlich die Effizienz der sozialen
& kognitiv-affektiven Bewältigung von stressreichen Ereignissen
- Wenn keine ausreichenden Bewältigungsstrategien (z.B. Verdrängen, Umdeuten, Habituation,
Reattribuierung) gelingen, können sich später dysfunktionale Erwartungshaltungen entwickeln, die bei
zukünftigen Erlebnissen eine erfolgreiche Bewältigung unwahrscheinlicher werden lassen
- Übergreifende sozialpsychologische Risikokonstellationen:
- a) äußere Umstände, die Betroffenen wenig/keine Kontrolle bzw. Kontrollwahrnehmung
ermöglichen (langfristige Arbeitslosigkeit, schlechte Lebensbedingungen, begrenzte
Handlungsspielräume) &
- b) starre & unflexible Kognitions- & Handlungsmuster (z.B.
hohes Anspruchsniveau, Abhängigkeit von anderen)
Psychopathologische Faktoren
- Mehrzahl depressiver Störungen entwickeln sich erstmals sekundär
nach anderen psychischen Störungen
- Am häufigsten gehen Depressionen Angsterkrankungen unterschiedlicher Form & Intensität voraus
- Angststörung vor 14. LJ: Risiko für Entwicklung einer Depression ab 14. LJ deutlich erhöht
97
-
Ausprägung der Risikokonstellation ist abhängig von der Schwere der Angsterkrankung, der Anzahl der
Angsterkrankungen sowie dem Auftreten von Panikattacken
Hypothese: langjährige Angsterkrankungen können zu einer depressionskritischen neurobiologischen & kognitiven Sensitivierung führen
Diskussion, inwieweit sekundäre Depressionen eine Demoralisationskomplikation durch Anhäufung von
depressionskritischen Risikofaktoren sein könnten
Psychologische Depressionstheorien
-
-
Genuin psychologische Depressionstheorien beziehen sich idR ebenfalls auf die bereits diskutierten
Vulnerabilitäts- & Risikofaktoren, betonen dabei aber die besondere Relevanz von verhaltensbezogenen
sowie kognitiv-affektiven Faktoren & Prozessen
Sie sind insgesamt als Theorien der Aufrechterhaltung & weniger des ätiologischen Bedingungsgefüges
bei der Erstmanifestation depressiver Störungen zu verstehen
Nichtsdestotrotz sind sie aber v.a. für psychotherapeutische Behandlungsansätze besonders relevant
Verstärker-Verlust-Theorie nach Lewinsohn
- lernpsychologisch-verstärkungstheoretisches Erklärungsmodell für Depressionen
- Beobachtung, dass die depressive Symptomatik mit einer geringen Rate verhaltenskontingenter
positiver Umweltverstärkung, v.a. bzgl. sozialer Interaktionen, assoziiert ist
- geringe Rate reaktionskontingenter positiver Verstärkung wirkt als unkonditionierter Stimulus für das
Auftreten der depressiven Symptomatik & darüber hinaus als Löschungsbedingung  zunehmende
Herabsetzung von Verhaltenshäufigkeiten (z.B. Rückzug, Passivität)
- Niedrige Gesamtrate potenzieller Verstärker kann durch verschiedene Aspekte zustande kommen:
- 1. geringe Anzahl & Qualität potenziell verstärkender Ereignisse & Aktivitäten (beeinflusst durch
eigene Merkmale wie z.B. Alter)
- 2. mangelnde Erreichbarkeit bzw. Verfügbarkeit von Verstärkern (beeinflusst durch verschiedene
situative & temporäre Merkmale, z.B. dem Eintreten von Lebensereignissen)
- 3. ein defizitäres instrumentelles Verhaltensrepertoire, das mit einer niedrigen Verstärkungsrate
assoziiert ist (z.B. mangelnde soziale Kompetenz)
- Depressives Verhalten (z.B. Klagen, Inaktivität) wird kurzfristig durch soziale Verstärkung aus der
Umgebung (z.B. Aufmerksamkeit, Empathie, Hilfestellung durch Angehörige) aufrechterhalten
- Langfristig werden jedoch depressive Personen durch andere eher gemieden, was mit einem weiteren
Verstärkungsverlust verbunden ist & die Depression verstärkt
- Ein von Depression Betroffener ist also lang anhaltenden Löschungsbedingungen ausgesetzt & befindet
sich in einer abwärts gerichteten Depressionsspirale
- Es gilt als bestätigt, dass Menschen mit Depressionen Defizite im Sozialverhalten zeigen, die auch mit
negativen Reaktionen auf Seiten der sozialen Umwelt verbunden sind  Aufrechterhaltung der
Depression durch weiteren Verstärkerverlust gut erklärt
- Aber: es mangelt an empirischen Befunden aus längsschnittlich angelegten Untersuchungen, die
mangelnde soziale Fertigkeiten auch mit der Entstehung depressiver Störungen in Verbindung bringen
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Modell der dysfunktionalen Kognitionen & Schemata nach Beck
- Basis depressiver Störungen: dysfunktionale kognitive Schemata (stabile kognitive Muster &
Denkstrukturen, z.B. die Grundannahme: »Ich muss perfekt sein«)  negative Verzerrung der
Wahrnehmung & Interpretation der Realität
- bestehen in negativen, pessimistischen Einstellungen depressiver Personen zu sich selbst, zu ihrer
Umwelt & zu ihrer Zukunft  „kognitive/negative Triade“
- wurden durch ungünstige frühe Erfahrungen & Lernprozesse (z.B. frühe Verlusterlebnisse,
Zurückweisungen) erworben
- können in der weiteren Lebensgeschichte durch Situationen, die der Entstehungssituation ähneln,
aktiviert werden
- Diese automatischen Gedanken zeigen sich dann in absolutistischen, verallgemeinernden, verzerrten,
unlogischen oder unangemessenen Fehlschlüssen, die wiederum die negativen Schemata verstärken &
zu dauerhaften persönlichen Überzeugungen & Ansprüchen werden
- Zentrale Themen: Hoffnungslosigkeit, Selbstkritik oder geringe Selbstachtung
- diese sind aber durch die Betroffenen nur sehr schwer explizit wahrnehmbar
- Nach Beck ist diese kognitive Störung für die depressive Symptomatik verantwortlich
- Reihe von Untersuchungen konnte zeigen, dass dysfunktionale Denkweisen & Depression assoziiert sind
- Nicht gezeigt werden konnte, dass die negativen & unlogischen Denkmuster der Depression
vorausgehen & diese auch verursachen
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Kognitive Fehler
Voreilige
Schlüsse
Gedankenlesen
Katastrophieren
Selektive
Abstraktion
Übergeneralisierung
Über- &
Untertreibung
Alles-odernichts-Denken
Tunnelblick
Geistiger Filter
Abwehr des
Positiven
Emotionale
Beweisführung
Imperative
Etikettierungen
Personalisierung
Obwohl gegebene Tatsachen dagegen sprechen,
werden negative Interpretationen bzw.
Schlussfolgerungen vorgenommen
Überzeugung zu wissen, was andere (Negatives)
denken
Ich kann mich einfach nicht aufraffen
zu der Party zu gehen. Außerdem will
mich dort niemand sehen.
Warum soll ich mich anstrengen?
Schließlich denkt er, ich kann das
ohnehin nicht.
Überzeugung, dass eigene Entwicklung negativ
Ich werde immer der Fußabtreter
verlaufen wird. Positive Aspekte/Ereignisse werden vom Chef sein und nie etwas auf der
nicht beachtet
Arbeit erreichen.
Schlüsse, die nur auf der Grundlage eines Elements Unser Referat wurde so schlecht
von vielen in einer bestimmten Situation gezogen
bewertet, weil ich viel zu schnell
werden
gesprochen habe.
Durch das Erleben eines einzelnen negativen
Bei einer so leichten Prüfung bin ich
Erlebnisses werden auch alle anderen Ereignisse als durchgefallen. Ich werde mit
negativ verallgemeinert
Sicherheit keine mehr bestehen
Leistungen & Situationen werden über- oder
Untertreibung: Ich wurde zum neuen
unterschätzt. Bei einer Untertreibung werden die
Abteilungsleiter ernannt, obwohl mir
negativen Aspekte „vergrößert“, positive werden
jegliche Fähigkeiten dafür fehlen.
„verkleinert“. Übertreibt man, werden die
Übertreibung: Ich habe meine
negativen Aspekte „verkleinert“ & die positiven
Freundin verletzt. Bestimmt will sie
„vergrößert“.
nichts mehr mit mir zu tun haben.
Man sieht Situationen nicht mehr als Kontinuum,
Wenn ich meinen Mann nicht so
sondern nur in 2 Kategorien – schwarz & weiß.
verwöhne, wie er es verdient hat, bin
ich eine sehr schlechte Ehefrau.
Man betrachtet nur noch die negativen Seiten eines Ich habe keine Lust mit dir essen zu
Ereignisses oder einer Situation
gehen. Am Ende streiten wir uns
wieder & der ganze Abend ist
ruiniert.
Es wird nicht das Gesamtbild einer Situation
Unser erstes Date lief wirklich
betrachtet, sondern nur ein negativer Teil
schlecht. Stell dir vor, ich habe aus
herausgesucht. Dadurch wird die Realität verzerrt
Versehen auf meine Bluse gekleckert!
wahrgenommen.
Das negative Grundbild wird aufrechterhalten,
Dass ich den Job bekommen habe,
indem positive Erfahrungen, Taten & Eigenwar wirklich Glück. An meinen
schaften nicht wertgeschätzt werden. Sie zählen
schlechten Fähigkeiten kann es
nicht.
jedenfalls nicht gelegen haben.
Obwohl es entkräftende Beweise gibt, glaubt man,
Ich weiß, ich kümmere mich viel um
die negativen Gefühle drücken das aus, was
meine Kinder, aber ich habe
wirklich passiert.
trotzdem das Gefühl, ich
vernachlässige sie enorm.
Bestimmte Vorstellung davon, wie man sich selbst
Eine halbe Stunde Pause ist zu lang.
& wie sich andere verhalten sollten. Deshalb
Ich sollte viel mehr lernen und mich
versucht man sich mit Aussagen wie „sollte“ oder
weniger ausruhen.
„müsste“ zu motivieren. Dadurch entsteht Druck 
Teilnahmslosigkeit
Übertriebene Form der Verallgemeinerung. Man
Ich werde immer zu blöd dazu sein.
gibt sich selbst, aber auch anderen, aufgrund von
Er taugt nichts.
einem negativen Ereignis globale „Etiketten“.
Jemand/etwas wird mit einer ungenaueren &
emotionalen Sprache beschrieben.
Man attribuiert bei negativen Ereignissen auf sich,
Mein Chef war heute sehr schlecht
obwohl man in Wirklichkeit nichts damit zu tun hat. gelaunt. Wahrscheinlich habe ich
irgendetwas falsche gemacht.
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Modell der erlernten Hilflosigkeit nach Seligman
- Depressionen als erlerntes Verhalten
- basierend auf tierexperimentellen Untersuchungen
- Wiederholte Erfahrung mangelnder Kontrolle über wichtige, insbesondere aversive Umweltaspekte
zieht eine generalisierte Erwartung von Unkontrollierbarkeit & schließlich depressive Reaktionsmuster
nach sich
- Später revidiert, da sich zeigte, dass es ohne kognitive Zusatzannahmen nicht auf die Mehrzahl der
Menschen übertragbar ist bzw. nur Teilaspekte der Depression erklärte
-  Kausalattribution, d.h. Ursachenzuschreibung für ein bestimmtes negatives Ereignis, ergänzt
- Depressive Menschen weisen einen pessimistischen Attributionsstil auf, der dadurch gekennzeichnet ist,
dass negative Ereignisse auf internale, globale & stabile Ursachen zurückgeführt werden
-  Depression entsteht, wenn man glaubt, keine Kontrolle über bestimmte Ereignisse zu haben, & wenn
man sich global, stabil & internal für die mangelhafte Kontrolle verantwortlich macht, d.h. eine negative
Erwartungshaltung bzgl. der eigenen Hilflosigkeit entwickelt
- Weitere Spezifizierung für „Hoffnungslosigkeitsdepression“ Zentrale Rolle von negativen
Kognitionsmustern zukunftsbezogener Art
- Wenn Personen davon ausgehen, dass unerwünschte Ereignisse auftreten bzw. erwünschte
Ereignisse nicht eintreten werden & sie nicht die Möglichkeit sehen, diese Situation zu verändern,
so befinden sie sich im Zustand der Hoffnungslosigkeit, der eine Depression zur Folge hat
Sind kognitiv-behaviorale Theorien der Hilflosigkeit & Hoffnungslosigkeit valide Depressionsmodelle?
- Trotz des heuristischen Werts dieser Modelle bleiben für die Therapie viele Fragezeichen
- Problematische Aspekte:
- Meisten Studien wurden an gesunden oder depressiven Probanden, aber nicht an einer
depressiven Patientenpopulation durchgeführt
- Modelle erklären dimensionale Verschiebungen der Depressivitätsschwere, nicht aber den Beginn
einer Depression
- Ein internaler, stabiler & globaler Attributionsstil ist zwar mit Depressivitätsveränderungen sowohl
aktueller wie auch zukünftiger depressiver Manifestationen korreliert. Belege dafür, dass
Hilflosigkeit & Hoffnungslosigkeit zeitlich einem Depressionsbeginn vorausgehen & diesen
prospektiv vorhersagen, fehlen aber bislang
- Erlernte Hilflosigkeit ist zwar signifikant mit erhöhten Kortisolwerten assoziiert, jedoch vermag
dies nicht zu erklären, warum dies eine Depression verursacht. Eher ist die Annahme
angemessener, dass diese erhöhten Kortisolwerte neuropsychologische Funktionen beeinflussen
& damit indirekt Einfluss auf eine Verstärkung anderer depressionsspezifischer
Vulnerabilitätsfaktoren nehmen
- Ungeklärt bleibt auch, ob ein negativer, dysfunktionaler Attributionsstil ein State- oder TraitMarker für Depression ist
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