Trans-Atlantik

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Trans-Atlantik
Palma de Mallorca
Hostal La Minosa, 16. Oktober 2007. Palma beim nächtlichen Landeanflug ist durchaus sehenswert, bei Tage erscheint es
mir eher langweilig und nicht viel anders als die anderen Städte im spanischen Universum. Majestätisch erhebt sich die
hell angestrahlte Kathedrale über der langen Küstenlinie mit ihren gelben Straßenlampen. Wenig später rausche ich im Bus
No.1 darauf entlang. Der Busfahrer erfreut seine Fahrgäste mit klassischer Musik. Ein Bariton im Duett mit einer zarten
Frauenstimme, einfach zauberhaft.
Trotz intensivem vorangegangenem Studium der Busfahrpläne gelingt es mir nicht auf Anhieb, mein Hotel zu finden.
Dreimal bin ich daran vorüber gefahren, ebenso oft vorbeigelaufen mit meinen 22,5 kg. Die Haltestellen heißen anders als
auf dem Plan und das Seitensträßchen anders als auf meiner Reservierungsnotiz. Völlig erschöpft und geschwitzt komme
ich 2 ½ Stunden nach der Landung in der schlichten Unterkunft an, die doch für lange Zeit die beste gewesen sein wird, in
der ich nächtigen durfte. Das Haus steht unter schwedisch-britischem Regiment, Ingrid und Victor haben ihre Freude
daran, ihre Gäste in vielen Sprachen in Gespräche zu verwickeln.
Palma ist ein langweiliges Rentnerparadies. Kurz behost, überernährt oder auch hager, kernig oder mit Raucherhusten
fristen die Herrschaften aus Deutschland oder England hier ihren Lebensabend.
Immer wieder überprüfe ich meine Lebensplanung, aber klar ist für mich: Spanien ist keine Alternative für den dritten
Lebensabschnitt, zu wenig Action und außerdem unterscheiden sich die Lebenshaltungskosten auch nicht von denen
zuhause.
Das Managerpaar des Hotels hat die alte Mutter mit hierher gebracht. Ein Muster des Lebensabends, wie sie hier in ihrem
Polstersessel ruht, eine Decke über den Beinen, neben sich den Leuchter und mit dem Rotweinglas in der Hand schaut sie
still dem Geschehen von Rezeption und Bar zu.
(Anderntags)
Die Marinas Palmas schlafen den Schlaf der Nebensaison, die Yachten ruhen unter den Persenningen, kein Mensch ist dort
zu sehen, schon gar nicht beim Segeln. Ich habe mich doch wohl nicht im Termin geirrt? Wassersport findet eher in der
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Stadt selber statt. Heute hat wieder ein heftiger Wolkenbruch die Straßen unter Wasser gesetzt, das von der Kanalisation
nicht mehr aufgenommen werden kann. Sind erst einmal einige PKW mit ausgefallenen Zündanlagen liegen geblieben,
wird die Straße gesperrt und das Verkehrschaos zur rush-hour ist perfekt. Tief sind die Rinnsale und bis zu den
Busscheiben hoch spritzt das Wasser. Längst teilt sich Palmas U-Bahn das Schicksal mit der Titanic. Heute ertrank eine
Frau in der Innenstadt.
Sollér
Ich kenne nicht besonders viel von Mallorca, habe um diese Ferieninsel jahrzehntelang einen Bogen gemacht. Das
Ballermann-Image ist für einen Traveller abstoßend. Trotzdem hat Mallorca natürlich seine guten Seiten, besonders
außerhalb von Àrenal. Eines dieser Glanzstücke kenne ich bereits, Sollér, habe dort schon einmal ein paar Tage verbracht
und weil ich genügend Zeit habe, plane ich einen Tag für eine Fahrt dorthin ein.
Alles dort ist noch beim Alten. Wirklich sehr schön gelegener Ort, wunderbare Bucht, man muss sich nur die Touristen
wegdenken. Kein Reiseführer erwähnt, dass man hier in den Herbstferien auf gar keinen Fall hinfahren sollte. Zum Glück
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sind ja die meisten von denen in einem Mietwagen unterwegs und verpassen damit das Beste, die Fahrt mit der
Schmalspurbahn über die atemraubende Bergstrecke.
Auch die urige Straßenbahn ist noch immer nicht aus ihren wackligen Schienen gefallen und die Aussicht aufs Mittelmeer
von der hinteren Ecke des Hafens aus, dort, wo der Leuchtturm steht, ist wirklich klasse.
Hat Mallorca noch etwas Schöneres zu bieten als diesen Nostalgietrip?
Palma de Mallorca
Der Computerladen macht gerade zu, als ich ihn endlich gefunden hatte. Dieser Trip fängt ganz schlecht an. Versagt doch
mein kleines Notebook bereits am ersten Tag seinen Dienst und kann nicht so schnell wieder instand gesetzt werden.
Wochenlang werde ich die untote Leiche jetzt mit mir umherschleppen.
Wunderbar, oder? Das ist Fortschritt. Man kann die 10er Busfahrkarte auch am Automaten aufladen! Allerdings ist die
Fahrt dann teurer als mit einem Einzelfahrschein, den man beim Fahrer kauft.
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1° Ost
23. Oktober 2007. Die Welle hebt das 15 Tonnen schwere Boot an, es schiebt sich über den Kamm und laut donnernd fällt
das Vorschiff ins Wellental, so laut, dass man unter Deck meinen könnte, das GFK müsse bald zerreißen. In den
Vorschiffkojen ist es nur schlecht auszuhalten. Wir fahren unter Motor, weil der Wind fehlt, schon den dritten Tag heute.
Zunächst Richtung Sonnenuntergang, nach Westen, später dem Mond entgegen. Die Dünung ist trotz wenig Wind hoch,
bleiern glänzen die Wellenberge im schräg einfallenden Licht.
Mein Programm heißt Plan B.
Jahrelang habe ich mich mit einem Kreis ähnlich gesinnter Segelfreunde und Ausstiegswilliger getroffen, um ein großes
Ereignis vorzubereiten: Den Ausstieg aus dem Berufsleben im Jahr 2007, den Erwerb oder den Bau eines eigenen großen
Schiffes oder einer kleinen Flottille und eine gemeinsame Reise rund um den Globus in mehreren Jahren.
Dieses Projekt „P-07“ ließ sich zunächst gut an, Euphorie und Tatendrang waren groß, es gab zahlreiche Treffen an
wechselnden Orten in Deutschland, unzählige Telefonate und Emails sowie einige gemeinsame Segeltörns. Es hat große
Freude bereitet, mit einem großen Ziel vor Augen gemeinsam an solch einer ausgefallenen Idee zu feilen.
Aber es kam, wie es kommen musste und es war gut, dass es rechtzeitig kam. Viele von uns, die meisten Männer in
meinem Alter, befanden sich gerade an Wendepunkten in ihrem Leben, empfänglich für allerlei Herausforderungen, die
das Leben so bietet. Wir sind alle zu sehr Individualisten, um uns auf die Bedingungen gemeinsamen Lebens auf einem
Boot einigen zu können. Außenstehende wussten das natürlich schon viel früher.
Geblieben bei mir ist der Termin für den Berufsausstieg, 2007, sowie der Wunsch, jetzt noch intensiver fremde Länder zu
bereisen.
So fahre ich jetzt auf einer Bavaria 50, das ist so etwas wie ein riesiger Yoghurtbecher, in den man neben etlichen Kojen
und Kabinen für 8 Leute drei Nasszellen eingebaut hat, eine Pantry, drei GPS, UKW-Funk, Satellitentelefon, 3 Rechner,
Radar, Autopilot. Wir verfügen außerdem über Rollsegel, Bugstrahlruder, Dingi mit Außenborder, Rettungsinsel,
elektrische Ankerwinsch und überreichlich Proviant, Wasser und Diesel.
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Abbildung 1: die SY "Guanayo"
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Eine Koje auf einem Chartertörn zu buchen, bedeutet, sich für etliche Zeit mit zunächst völlig Unbekannten einzulassen.
Das ist ein gewisses Risiko, wenn auch ein überschaubares, weil man es häufig mit gestandenen Persönlichkeiten zu tun
hat, die ebenfalls wissen, worauf es ankommt. Meistens ist so etwas auch eine Bereicherung, weil man auf diese Weise
Menschen sehr intensiv kennen lernt, denen man nie begegnet wäre, hätte man den eigenen Dunstkreis nicht auch einmal
verlassen.
Bald wird deutlich, dass auf der „Guanajo“ einiges anders verläuft als auf anderen Yachten. Harmlos ist ja eher, dass bei
Fahrten durch die Häfen der Anker in Wartestellung heraushängt. Ein Bordtagebuch wird in einer Art dreifacher
Buchhaltung angelegt. Eher ungewöhnlich ist auch, dass die Bordzeit in UTC angegeben wird, was in den folgenden
Tagen dazu führt, dass niemand mehr genau die Ortszeit angeben kann. Immerhin Anlass zu ausgedehnten Diskussionen
über Zeitzonen, Breitengrade, Erdrotation, Sommerzeit, Greenwich, Datumsgrenze etc.
Alkoholgenuss an Bord ist bereits ab 08:00h (UTC) gestattet, wird aber bereits am dritten Morgen nicht mehr so eng
gesehen (07:48h UTC). Ohnehin werden später nach und nach Regeln und Vorsätze über Bord geworfen.
Positiv vermerkt werden muss, dass Versuche, das Gesprächsthema auf „Fußball“ oder „Formel 1“ zu lenken, kläglich
scheitern. Die Anwesenheit von Frauen in der Crew verhindert (anfangs) auch allzu derbe Männerwitze. Die
Gesprächsthemen bleiben also im für Charteryachten üblichen Rahmen, man zeigt den anderen, was man doch für ein
toller Kerl ist, welche Super-Reviere man kennt und welch außergewöhnliche Situationen man schon beim Segeln erlebt
hat. Wie man Landstrom online bekommt oder mit elektromagnetischem Anker vor Reede liegen kann.
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Trotz ¾-Mond und Sternen ist es bei 22° auf dem Wasser leicht dunstig. Nur selten zeigt unser Radar andere Schiffe in gut
15 Sm Umkreis an. Wir fahren weiter unter Motor. Delfine springen ganz dicht neben dem Boot aus dem Wasser und
grüßen die Wachgebliebenen, wenig später ist das klare Wasser mit Unmengen von Quallen erfüllt, die von unserer
Schraube geschreddert werden. Um 03:30 h bei 36°57´N 03°30´W hat die Schraube plötzlich eine enorme Unwucht. Einen
Kontrolltauchgang lehnt bei diesen Mengen an Quallen jeder ab. An eine Weiterfahrt bis Motril ist aber so nicht zu
denken, mit langsamer Drehzahl setzen wir Kurs auf San José an, welches wir morgens um 08:25 h erreichen. Das so
genannte skandinavische (stumme) Anlegemanöver verläuft etwas unsauber, da Bernd das Winken und Warnen der an
Bug befindlichen Crewmitgliedern ignoriert und somit erst an der Betonpier zum Stehen kommt. Gerd nimmt sich sofort
die unschöne Stelle am Rumpf vor und schon nach kürzester Zeit ist durch kräftiges Polieren nichts mehr zu sehen.
Anschließend macht Bernd drei heldenhafte Tauchgänge unter das Boot, bis er die Schraube wieder befreien kann. Es war
ein recht großes Stück Fischernetz, welches sich in der Klappschraube verfangen hat und abgeschnitten werden musste.
25. Oktober 2007. Vor der Costa del Sol beim Auslaufen aus Aguadulce. Es ist 9:50h, ein schöner Morgen, fantasievolle
Wolkenbilder stehen über dem ruhigen Meer, die Morgensonne scheint warm auf die Häuserfront an der Küste, darüber
liegen, von Wolken umgeben, die Berge.
Die Bekanntschaft mit Aguadulce ergab sich eher zufällig. Gestern zog eine Regenfront durch, wir hatten Segel gesetzt,
mussten aber bald reffen und uns bei 25 kn Wind durch hohe Welle kämpfen. Wenn der Wind genau aus der Richtung
weht, in die man eigentlich segeln möchte, macht die ganze Mühe keinen Sinn. Schließlich liefen wir das nette und sehr
saubere Aguadulce an, wo wir die Nacht verbrachten.
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Jetzt herrscht die Ruhe nach dem Sturm und bei der Musik von Heino, Hans Albers und Vicco Torriani motoren wir
wieder hinaus.
Die Mannschaft: Der Skipper, ein ehemals kosmopolitischer Flugzeugtechniker, weiterhin ein gemütlicher Altfreak, der
früher Grasbahnrennen fuhr, eine badische Weinbäuerin mit Sonne im Herzen, eine rheinische Frohnatur mit Frau, welche
uns täglich wundervolle Gerichte auf den Tisch zaubert. Und einen, für den Freizeitgestaltung eine sehr ernste
Angelegenheit ist (die Beschreibung der Personen erfolgt hier nur knapp und ohne Namensnennung, weil es auch noch ein
anderes, persönlicheres Bordtagebuch gibt). Mit 55 bin ich der einzige an Bord, der noch arbeitet. Die anderen sind
Musterbeispiele aktiver Rentner: Golf, Bergsteigen, Ballonfahren, Segeln, Segelfliegen, Ehrenämter, Motorrad, Fernreisen,
Radtouren, Wellness ... Die Stimmung an Bord ist ganz gut, ich werde es wohl die drei Wochen aushalten, wenn auch die
Wellenlängen an Bord nicht so genau zueinander passen. Aber das ist auch wieder das Bereichernde bei Chartertörns, dass
man nämlich mit Menschen zusammenkommt, denen man im Alltag nie begegnet wäre, und das auf intensivste Weise.
Wer nächtelang zusammen Ruderwache schiebt, lernt sich vielleicht besser kennen als zwei Menschen, der ein halbes
Leben gemeinsam die gleiche Arbeitsstätte besuchen.
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Beim Segeln selber stellt sich bald eine gewisse Hierarchie her, die sich aus der Erfahrung ergibt. Da muss ich mich im
Mittelfeld einordnen, es fällt manchmal schwer sich zurückzuhalten, obwohl auch schlimme Fehler gemacht werden.
3° West
Heute ist Bilderbuch-Segelwetter. Viel Sonne, wenig Welle und genügend Wind. Ich werde wohl braun, hatte am frühen
Nachmittag Dienst und habe mir erlaubt, Pink Floyd aufzulegen.
5° West
27. Oktober. Ich komme nicht viel zum Schreiben. Der Tagesablauf an Bord hat seine Zwänge, denen nicht zu entkommen
ist. Wachdienst, Mahlzeiten, die vielen Gespräche. Im Hafen kommen dann die Anlegemanöver, Einkäufe und
Besichtigungen hinzu. An das Lesen von Büchern ist nicht zu denken und wenn sich mal eine freie Stunde ergibt, nutze ich
sie gern für ein Schäfchen in der Koje.
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Gestern
Früh aufstehen, um den Stadtbus zu erwischen, der schon um 7 Uhr zum Busbahnhof fährt, dort ein knappes Frühstück,
weiter mit dem bequemen Reisebus nach Granada. Wegen Dunkelheit und Schläfrigkeit bekamen einige von der Strecke
wenig mit, obwohl es viel zu sehen gab: Eine tolle Szenerie der Landschaft mit Canyons, Brücken und Stauseen. Mit dem
Stadtbus geht es zur Alhambra, astreine Organisation ermöglicht sofortigen Eintritt in die Gärten des Generalife, später in
die eigentliche Burg mit ihren Gebäuden aus rund zehn Jahrhunderten. Unbeschreibliche Pracht, schönes
Fotografierwetter. Mittagessen gibt es in einem Straßenrestaurant in Granada. Nach einem letzten Blick zurück auf die in
der Sonne liegenden schneebedeckten Gipfel der Sierra Nevada, sind sich alle einig, es war ein wunderschöner Tag.
Am Abend heißt es noch „Leinen los“. Auslaufen mit Seemannsliedern von Franzdy, Hans Albers und Vicco Torriani
Richtung Gibraltar. Die Witze an Bord werden derber. Im Laufe der Nacht überholt uns der Vollmond von Osten her bei
klarem Himmel und sehr ruhiger See, leider fahren wir wieder unter Motor, nur kurzzeitig mit Genuaunterstützung.
Wir liegen vor Gibraltar, einer merkwürdigen Stadt, die vielfältigen Einflüssen ausgesetzt ist. Hier mischt sich das
englische Königreich mit spanischen und maghrebinischen Einflüssen. Einige orthodoxe Juden habe ich gesehen.
Die Landebahn für Jets liegt direkt neben unserem Steg. Dahinter entstehen Wohnungen in Hochhäusern, es gibt eine
Fußgängerzone und eine altertümliche Seilbahn führt auf den Affenfelsen, von dem man eine hervorragende Aussicht auf
die gesamte Bucht hat, auch bis nach Afrika herüber. Afrika beginnt also gleich hinter diesem Felsen und endet auch
wieder mit einem, überlege ich mir. Erst 3 Monate zuvor stand ich auf dem Tafelberg bei Kapstadt und freute mich über
eine ähnlich grandiose Aussicht
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Abbildung 2: Gibraltar, Hafen, Flugplatz, Spanien
Abbildung 3: Besorgungen in Gibraltar
Abbildung 5: Affenfelsen
Abbildung 4: Der Jet im Yachthafen
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Abbildung 6: Ende des Kontinents
Abbildung 8: Glück gehabt, die Delfine begleiten
uns durch die Meeresenge zwischen den Kontinenten
Abbildung 7: Pech gehabt
8° West
Atlantik. Neunter Tag auf See. Heute ist Montag, es ist Ende Oktober und ich sitze barfuß mit Sonnenschutz und
Fleecejacke im Cockpit. Zwei Mitsegler spielen mit dem Sextanten, aber das vertiefte Verständnis fehlt. Ich halte mich an
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das GPS und das spricht eine klare Sprache: Speed bis 8,5 kn, das Etmal des vergangenen Tags 145 sm! Seit der Ausfahrt
aus Gibraltar haben wir beständigen Wind mit 15 – 20 kn aus 320° - ideale Bedingungen also. Nachts war der Himmel
sternenklar, jetzt scheint die Sonne satt. Fast unglaublich, mit welcher Gewalt der Wind das fette Schiff durch das Wasser
drückt. Liegt man in der Koje, rauscht es neben einem, als befände man sich in einem schnellen Schlafwagenzug. Beide
Segel sind nur zu etwa 50 % ausgefahren, trotzdem ist die Krängung so stark, dass man sich unter Deck kaum bewegen
kann. Mit gespreizten Beinen, die Füße in den Ecken verankert, den Hintern fest an die Wand gepresst, bleibt noch eine
Hand übrig, um gleichzeitig Reißverschluss und Klodeckel zu halten und auch noch dieses Teil, auf das es schließlich
ankommt und welches man in der Bavaria dank eines tiefangebrachten Spiegels dann auch von vorn betrachten kann.
Heute morgen bei der nächtlichen Wache war trotz Leesegel wenig an Schlaf zu denken. Es ist ungemütlich in der Koje,
viel zu eng, dunkel, immer unaufgeräumt. Gischt kam rein, ich fühlte mich unwohl, auch wegen de unregelmäßigen
Wachrhythmus, der mich rädert. Erst eine gute Woche vorbei und schon ertappe ich mich beim Gedanken, diesen
Gewalttrip abzubrechen.
Jetzt, um 14 Uhr, stellt sich die Frage nicht mehr. Bei sommerlichem Wetter sitze ich allein im Cockpit, der Rest hält
Mittagsschlaf. Um mich herum ist nichts als der Atlantik. Gestern Abend war zum letzten Mal Afrika zu sehen und
küstennaher Schiffsverkehr, jetzt gibt es nur noch Wasser.
12° West
Schon seit Mitternacht haben wir sehr hohe Welle, das Fahren ist sehr ungemütlich und mir ist ständig unwohl. Letzte
Nacht hatte ich zweimal Wache, der Skipper und ich haben viel gerefft, trotzdem schaukelt sie Kiste mit bis zu 9 kn durch
die Wellenberge, die längst höher sind als Augenhöhe.
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Abbildung 9: Die Welle kommt jetzt höher
Abbildung 10: Trotzdem alles im Lot
Den Sternenhimmel und die Sternbilder habe ich mir heute noch mal am Bordrechner angesehen und außerdem bin ich in
die Bugkabine umgezogen. Dort ist es hell und geräumig. Backbordbug ist viel besser auszuhalten als in meiner alten
Steuerbordkoje, in der ich mich trotz Leesegels während des Schlafens festhalten musste. Mein Umzug zu der einzigen
Singlefrau an Bord sorgt für willkommenen neuen Gesprächsstoff an Bord. Geredet wird vor allem übers Segeln und über
Segelreviere, Türken und Ossis waren auch mal kurz dran. Zu meinem Glück kommen die Themen Fußball, Formel 1 oder
Autos überhaupt nicht auf, es lässt sich aushalten. Allzu frauenfeindliche Gespräche werden durch die Anwesenheit von
zwei Bordfrauen verhindert.
15° West
Heute ist ein ruhiger Tag, das heißt wenig Segelwechsel. Beständig bläst der Wind um 15 kn und wir machen ordentlich
Fahrt, das letzte Etmal über 172 kn! Die Welle kommt nicht so brutal, dennoch sehr hoch und wir surfen in gigantische
Wellentäler hinunter. Die Sonne scheint die meiste Zeit und man trifft sich bevorzugt im Cockpit. Ich spüle mit Seewasser,
wasche Wäsche, reinige das Bad, döse, lese über Alexander von Humboldt, der ja auch hier unterwegs war, vor 208
Jahren. In der Nacht beobachte ich die Sternbilder. Nur gelegentlich noch treffen wir mal auf ein Schiff. Der Skipper ist
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dann völlig aufgeregt, diskutiert Beleuchtung, Fahrtrichtung, rennt zwischen Plotter, Radar und Steuerstand hin und her.
Ich sehe das alles viel gelassener, was zu einer tiefen Kluft zwischen den beiden Wachhabenden führt.
Madeira
Madeira. Heute nacht sind wir über die Spitze des Seine Seamount gefahren, eine Bergspitze, die aus rund 4300 m Tiefe
auf 86 m unter Seelevel aufragt (wäre aber zu umständlich gewesen, sich in das Gipfelbuch einzutragen). Danach sind wir
Porto Santo, die nördlichste der portugiesischen Madeira-Inseln angefahren. Ab 1 Uhr morgens waren bereits das
Leuchtfeuer, später die gelb beleuchteten Uferstraßen auszumachen.. Um 4 Uhr morgens legen wir an, wieder klappt das
Hafenmanöver nur mit Hängen, Würgen und Kratzen. Dann schlafen wir erst mal, um uns am Morgen in dem
puppenstubenhaften Städtchen umzusehen.
Befremdlich irgendwie, nach 4 Tagen und 4 Nächten abseits der afrikanischen Westküste im Nirgendwo des Atlantiks
dann doch wieder auf Europa zu treffen, auf kleine friedliche Inseln, die immerzu Frühling haben.
Wir genießen den weltbesten Espresso, besuchen das ehemalige Wohnhaus eines anderen Atlantikseglers. Jedenfalls von
außen, es ist der 1. November, also Feiertag. Kolumbus hat hier geheiratet und lange gewohnt, schade dass wir jetzt nicht
in die Ausstellung hereindürfen.
13° West, 29° Nord
Sonntag, 4. November 2007. Nach Porto Santo laufen wir in den netten Hafen von Canical, Quinta do Lorde. Hier ist ein
Disneyland-schönes Areal am Entstehen, amerikanisches Kapital fließt hierher, sichtlich eine Investitionsruine. Für uns ein
Glücksfall, denn die Einrichtungen dieser kleinen Marina haben den Standard von Hotel Adlon. Allein das Essen im
Restaurant! Gehobene Gastronomie bedeutet für mich ja in erster Linie affektiertes Kellnerverhalten und hohe
Rechnungen. Hier aber kam ein ganz vorzüglicher Kabeljau auf den Teller. Herausragend! Jeden Cent war es wert.
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Auf zur Madeira-Hauptinsel! Funchal ist eine große Stadt, deren gelbe Lichter sich malerisch vor dem hohen Berg
abzeichnen, auf die wir dann mit der Kabinenseilbahn aus Österreich fahren. Hier oben gibt es einen botanischen Garten,
der schon von außen Lust auf einen Besuch macht, leider reicht die Zeit nicht dafür. Funchal ist eine blitzsaubere Stadt.
Mit ihren cremeweißen Fassaden und den dunklen Steinen erinnert es manchmal an Bern. Leider gibt es keinen mp3Player zu kaufen. 24° C im Schatten herrschen hier Anfang November und machen das Umherlaufen zu einer Freude.
Extrem preiswert für unsere Verhältnisse sind Schuhe und Klamotten und besonders natürlich Fisch.
Abbildung 11: Traurige Blicke in Funchals
Markthalle
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Abbildung 12: Vor Funchal
Die Markthalle ist ein Erlebnis, auch wenn man schon viele Märkte und Markthallen gesehen hat wie ich. Eine Symphonie
von Farben, ein appetitanregendes Angebot von Fisch aller Art, vom Tiefseemonster mit Riesenaugen über Barracudas bis
hin zum Riesentunfisch auf dem Hubwagen. Bis 1981 wurde auf Madeira außerdem noch Walfang getrieben.
Seit zwei Tagen und Nächten sind wir wieder auf See.
Gerade ist Sonntagmorgen. Einige schneiden Zucchini, Boney M. geben ihre Hits zum Besten und der Skipper begann
schon um 9:20 h mit Barcadi Rum, bevor er weitere ähnlich labile Charaktere mit hinzu ziehen konnte. Menschlich ist
dieser Törn, wie abzusehen war, eine Gratwanderung. Nach über zwei Wochen Saufen, Wurstessen und flachen Sprüchen
an Bord freue ich mich jetzt darauf, dass bald etwas anderes kommt.
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Gerade gingen die Vorräte an Dosenbier zu Ende und der Skipper war nachts auf Entzug, stand deshalb unter Strom und
machte die gemeinsame Nachtwache zu einem Alptraum mit seiner Unruhe. Mit den anderen Crewmitgliedern ist es aber
weitgehend angenehm.
Abbildung 13: Nach dem Regen
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Wir fahren einen Südostkurs auf Lanzarote. Kurze Hosen, barfuß, flache Sprüche, flache Welle, kein Wind, also Motor.
Gestern Abend besuchte uns ein verirrtes Vögelchen, eine Seeschwalbe. Dann umflogen eine Handvoll Libellen unser
Hecklicht, immerhin 80 km von der nächsten Insel entfernt. Punktförmig fluoreszieren irgendwelche Meerestiere, wenn sie
von Bug- oder Heckwelle aufgeworfen werden. Hell leuchten Orion, Mars und Procyon am Osthimmel, später gesellt sich
die schmale Mondsichel hinzu, wie eine Waagschale liegt sie orange leuchtend über dem Osthorizont.
Heute morgen verfing sich eine Möwe in der seit zwei Wochen vergeblich nachgeschleppten Angelschnur, immerhin ein
erster Fang. Das arme Tier hatte sich mit einem Flügel darin verfangen und konnte von uns befreit werden.
Abbildung 14: Nachts im Cockpit ...
Abbildung 15: ... oder am Navigationstisch
„Serious Drinking Team with a Sailing Problem (sehr gelungener T-shirt-Aufdruck).
Gelegentlich begegnen uns Schiffe, die wir zur Kollisionsvermeidung mit Fernglas und Radar unter Beobachtung halten.
Hinsichtlich der Aufgeregtheit angesichts solcher Lichtpunkte in bis zu 12 sm Entfernung gibt es deutliche Unterschiede in
der Crew, die das Wohlbefinden trüben. Schade, denn das ist eigentlich ein cooler Turn ohne Komplikationen, mit sehr
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gutem Material, mit hervorragendem Wetter, mit dem weltbesten Essen an Bord. Aber die Verbissenheit der einen passt
nicht recht zu der Lebensfreude der anderen.
Der Skipper brauchte eine volle Stunde im Hafen von Funchal, bis er mit der Anbringung von Fendern, Vor- und
Achterleine und den Springs zufrieden war. Niemand durchschaute so recht seine Absichten und Absichtsänderungen beim
Anlegen, das Resultat ist dann eine leicht gereizte Stimmung. Auch alle anderen haben schließlich Segelerfahrung und
Segelpatente, wir sind allesamt keine Anfänger. Klar dass dann die Meinungen auch auseinandergehen. Aber nur einer
kann schließlich Kapitän sein.
Immerhin geht es nicht nur flachgeistig und alkoholtrunken an Bord zu. Nach dem Anlegen auf Graziosa heute servierte
unser Alleinunterhalter den „Anleger“ stilsicher im Kellnerjackett mit Fliege.
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Graciosa und Lanzarote
18. Tag auf See, Mittwoch, 7. November 2007. Graciosa ist ein Inselchen, das nördlichste des kanarischen Archipels, den
wir jetzt erreicht haben. Letzter Vorposten Europas vor dem amerikanischen Kontinent. Deutlich macht sich die Wärme
des Südens bemerkbar und auch die Nähe des NO-Passats mit beständigen Winden aus östlichen bis nördlichen
Richtungen. Bei der Durchfahrt durch die Meerenge vor Lanzarote sitze ich mit kurzen Hosen im Bugkorb und genieße die
Aussicht und die Wärme.
Auf Graziosa gibt es Fels, ein wenig Sand und eine kleine Ansiedlung mit weißen kubischen Ferienwohnungen. Ein paar
winzige Restaurants, Post, Supermarkt. Was tun die 600 Leute hier den ganzen Tag, die hier Ferien machen?
Abbildung 16: Vor La Graziosa
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Von Graziosa nach Lanzarote ist es ein kurzer Sprung. Lanzarote ist völlig karg, einige weiße Häuser tauchen gelegentlich
am Strand auf. Bei herrlichem Sonntagssegelwetter gleiten wir mit der Welle gemächlich an der Südostküste der Insel
vorbei. Stark kontrastiert die hellweiße Architektur mit den dunkelgrauen Vulkanen. Ab Arrecife kommt noch Grün hinzu.
Wir setzen Schmetterling, Roland montiert den Bootshaken als Genuabaum, wir shiften mal und brauchen auch
Motorunterstützung, es gibt aber sonst nicht viel zu tun und wir fühlen uns, als seinen wir im Urlaub. Der Alkohol des
Vortags zeigt seine Folgen: Der Skipper übergibt das Kommando an den neuen Vize, die Gesprächsrunden werden leiser
und wortkarger. Gisela kann eine Meeresschildkröte sichten. Heute gibt es gutbürgerliche Verköstigung aus Erikas Pantry.
In Puerto Calero legen wir an und bleiben zwei Nächte. Schon beim Tankstopp merken wir, dass diese Marina eine absolut
erste Adresse ist. In diesem Hafen klappen die Anlegemanöver übrigens völlig reibungslos, was ja auch mal erwähnt
werden darf.
Mit zwei Mietwagen, sehr günstig im wunderbar designten ****-Hotel „Costa Calero“ gebucht, geht es zunächst zu den
Montagnas del Fuego Nationalpark und UNESCO-Biosphärenreservat.
Ich komme aus dem Staunen nicht heraus. Solch eine unwirkliche und unwirtliche Mondlandschaft! Schroffe
Basalttufffelder, glatte Vulkankegel, erstarrte Lavaströme in rötlichen und bräunlichen Farben, vor allem aber in Schwarz.
Nur gelegentlich das helle Grün der Macchia oder von Flechten. Kaum beschreiblich das alles. Oben auf dem höchsten
Vulkankegel ergeben sich unmittelbare Einblicke in die Hölle. Über den Schloten lässt sich Fleisch grillen. Man kann auch
Wasser hereinschütten, welches unmittelbar darauf als hohe Dampffontaine zurückkommt.
Die Architektur des Restaurants von César Manrique mit schwarzem Basalttuff. Eine Augenweide.
Der Höhepunkt aber, ich kann gar nicht so schnell schauen, fotografieren und filmen, wie dieses Spektakel an mir
vorüberzieht, ist die Fahrt in dem Rundfahrtbus des Parks durch diese atemberaubende Fantasielandschaft. Wir sitzen vorn
im Bus und halten den Atem an, wie er sich seinen Weg durch enge schroffe Passagen entlang steiler Abhänge bahnt.
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Abbildung 17: Montagnas del Fuego
Dazu Erläuterungen aus dem Bordlautsprecher und gut choreographierte Einlagen von buddhistischer Meditationsmusik
bis hin zu „Also sprach Zaratustra“ - unsere Erde im Urzustand als Fest für alle Sinne. Lanzarote, welche Überraschung,
hier möchte ich noch einmal her. Ich war auf die Kanarischen Inseln nicht vorbereitet, umso mehr bin ich positiv
überrascht von dieser Vulkaninsel und es geht mir nicht allein so.
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Unsere weitere Fahrt durch die schwarze Landschaft mit den hellweißen Häuserkuben und den ummauerten Rebstöcken ist
unvergleichlich. Wir besichtigen noch ein Weinmuseum sowie das Geburtshaus César Manriques, ein Traum, der in
verschiedenen Asphaltblasen Realität wurde: rote Blase, weiße Blase, Lava, die zum Fenster hereinzuströmen scheint.
Helle Räume mit viel Kunst, unter- und überirdisch mit Ausblick auf schwarze Eruptionsfelder, sehr eindrucksvoll.
Abbildung 18: Zu Hause bei Manrique
Jetzt nehmen wir Kurs auf Teneriffa, der letzten Destination dieses Törnabschnitts. Rund 1500 sm liegen bereits hinter
uns, 2800 km sind das, die Entfernung entspricht der Luftlinie zwischen den Faröern und Sizilien! Fast das Doppelte
davon liegt noch einmal vor mir. Santa Lucia ist noch weit. Zum Meeresgrund hinunter sind es dagegen nur 3,6 km, das
nur nebenbei. Da möchten wir jetzt auf gar keinen Fall hin.
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Sta. Cruz de Tenerife
Fährterminal Naviera Armas, Sonntagmorgen 11.11.2007.
Da wir dem „Tentative Timetable“ (so heißt das hier an Bord) voraussegeln, bleibt viel Zeit für Teneriffa. Ich hatte
gehofft, dass es für die Besteigung des Teide reichen würde und so kam es auch. Im Mietwagen fahren wir vom
Meeresspiegel schnell auf über 2000 m Höhe, durch Eukalyptus-, Weiden und später auch Pinienwälder hindurch. In der
baumfreien Zone darüber ergeben sich immer wieder neue Perspektiven auf den Teide, seinen Nebengipfel und in seine 16
x 10 km große Caldera.
Der nächste Ausbruch des Teide ist nach fast 200 Jahren Ruhe statistisch längst überfällig, aber wir kommen nochmal
darum herum.
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Mit 3718m ist der Teide genauso hoch wie der Fuji und, anders als Humbold, fahren wir gemeinsam mit der europäischen
Adipositas in der Gondel rasch bis unterhalb des Gipfels. Eine Genehmigung zur Besteigung der allerletzten Meter wäre
erforderlich gewesen, war auch beantragt, kam aber nicht rechtzeitig vom Umweltministerium.
So laufen wir dann wieder abwärts, rutschen auf der grauen, braunen, gelben, roten Lapilli, freuen uns am glitzernden
Obsisian und an den gestauten Passatwolken über dem Meer tief unter uns. Es ist grandios. Die Erhabenheit und Schönheit
dieser Natur führt dazu, dass wir immer wieder stehen bleiben und die Speicherkarten füllen. Es gibt hoch aufragende
schroffe Zinnen, Türme und Kugeln, die sich wie Schneebälle aus den Lavaströmen herausgelöst haben und jetzt auf der
Ebene herumliegen. Es gibt wunderbare Farbenspiele der Sedimente aus Asche, denen die Erosion weiche Formen
hinzugefügt hat. Bläulich, kalt und fern liegt der Gipfel beim Verlassen der Caldera, hellweiß strahlt das Observatorium
auf dem Vulkankrater vor dem tiefblauen Himmel.
Die Wege der Mitsegler trennen sich hier, die meisten von ihnen werde ich wohl nie wieder sehen. Einer macht jetzt noch
weiter Urlaub, die meisten fliegen wieder nach Hause. Der Skipper übergibt das Schiff dem Chartervertreter.
Für mich aber geht es jetzt erst wirklich los. Die eigentliche Überquerung des Atlantik steht jetzt bevor. Ich wechsle die
Insel, das Schiff und die Crew. Wie wird es werden?
Abbildung 19: auf der Fähre Teneriffa - Gran Canaria
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Puerto de Mogán, Gran Canaria
Montag, 12.11.2007. Von Teneriffa nach Gran Canaria ist es eine vergleichsweise kurze Distanz. Mühselig ist der
Ortswechsel dennoch, wenn man mit Seglergepäck einschließlich übrig gebliebener Reste an Backmischung, Schokolade,
Salatzubereitung und dergleichen unterwegs ist. Mit schätzungsweise 30 kg im Seesack ohne Rollen geht es vom
Bootssteg zum Taxi, zum Fährterminal, zur Fähre, zum Gepäck-LKW, von der Fähre zum Stadtbus, von seiner
Bushaltestelle zum Busbahnhof, fast 1 km bei 30°C. Umsteigen im nächsten Busbahnhof, danach 2 Stunden unter
arktischer Klimatisierung und schließlich wieder ein Taxi an der Endstation, Puerto Mogán. Die Casa Lila liegt wieder
bergauf, ich schleppe wie ein Lastesel, obwohl ich einen Tag früher als gebucht ankommend, nicht einmal weiß, ob ich
dort heute schon Unterkunft finden werde. Aber die alte Lila freut sich über meine Ankunft und bietet sich auch sofort an,
mir die Wäsche zu waschen.
Nach den zwei Stunden Fahrt abseits der Autobahn entlang der Ostküste habe ich bereits genug gesehen von Gran Canaria:
die Heerscharen deutscher Rentner und ihre Bettenburgen von Maspalomas und am Playa des Inglés, die von hohen
Felswänden eingerahmten Buchten, vollgestapelt bis zum Gehtnichtmehr mit Ferienappartements, von den Vororten Las
Palmas ganz zu schweigen, die auch nicht schöner sind als die von Paris oder als Eschborn.
Puerto Mogán immerhin, am Ende der Uferstraße gelegen, ist kleiner, ruhiger, hat viele verwinkelte Gassen am Hang und
beschauliche Ecken mit bepflanzten Postkartenmotiven. Sicher lässt es sich nett leben in diesen freundlichen
Ferienwohnungen, wie ich jetzt eine habe mit Raum, Licht und Aussicht vom Balkon. Wohltuend der Kontrast zum Boot,
wo wir uns zu siebt mit der Hälfte des Raums bescheiden mussten und ab übermorgen auch wieder müssen.
Schon nach wenigen Minuten bin ich der Freund des Syrien-stämmigen Amar, bei dem ich prima Fisch, Salat und Wein
bekomme, romantische Aussichten auf Beach & Bucht & Sonnenuntergang hinter den Segelbooten inklusive.
Puerto de Mogán ist ein Rentnerparadies fest in deutscher Hand. Zwar treten auch andere Sprachen in Erscheinung,
bleiben aber eher in der Minderzahl. Italiener sind besonders selten, Skandinavier fallen auf und die beiden Alpenvölker
sind ja sowieso überall mit dabei.
Was unterscheidet Spanien eigentlich von Deutschland? Mir will scheinen, dass gerade solch urteutonische Tugenden wie
Fleiß, Sauberkeit und Ordnung hier eher zu Hause sind als im eigenen Land, das sich, kulturhistorisch betrachtet, doch an
der Schwelle zum Niedergang befindet. Wohin man schaut, wird – auf den Kanaren wie auf dem Festland – gebaut,
umgebaut, gebaggert, schwenken Kräne und fahren Baustellenlaster. Nirgends sonst auf der Erde bin ich solch gepflegten
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Straßen begegnet, so liebevoll gepflegten Kreiseln und Begleitgrün, so sauberen Städten ohne Schmutz und Graffiti. Die
Menschen verhalten sich korrekt und unaffektiert und sind stilvoll gekleidet. Keine Jugendlichen oder Arbeitslosen oder
sonstige Outlaws lungern herum. Sicher spielt auch eine Rolle, dass Spanien viel weniger Einwanderung zulässt als
Deutschland und die Gesellschaft so insgesamt homogener bleibt. Selbst bei jeder Einfahrt einer innerkanarischen Fähre in
einen Hafen ist der Küstenschutz mit Booten präsent, um Illegale an der heimlichen Einreise zu hindern. Das ist uns –
nebenbei bemerkt – auch erspart geblieben: es hätte ja durchaus passieren können, dass auf unserer Passage zwischen
Afrika und Schengen Bootsflüchtlinge um Fluchthilfe gebeten hätten.
Dritter Tag in Puerto de Mogán. Es gibt nicht wirklich viel zu tun, ich treffe gemächlich noch ein paar Vorbereitungen für
die drei Wochen, die vielleicht die anstrengendsten des Jahres werden. Andererseits herrscht hier so heißes und windarmes
Hochsommerwetter, dass ich eher an langweilige Flautentage denken mag. Ich sehe dem zweiten Teil des Törns jetzt also
eher gelassen entgegen und bin eher gespannt auf das Management von Wasser, Elektrizität, Abfall, Kochen und
Ruderwache.
Deutsche Rentner/-innen exponieren ihre wabbeligen Massen der Sonne, sofern sie sich nicht gerade Apfelstrudel und
Tschibokaffee, Schnitzel oder BILD-Zeitung zuführen.
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Zugegeben, dieser Ort ist eine schnuckelige Idylle ganz nach deutschem Geschmack. Wer weiß, vielleicht wohne ich mit
70 auch in solch einem netten Appartement mit Balkon, auf dem man an jedem Tag des Jahres frühstücken kann? Nach
meiner Definition ist ein Tag ja dann erst ein schöner, wenn man bereits zum Frühstück draußen sitzen kann und solche
Tage gibt es zu Hause vielleicht nur drei oder fünf im Jahr.
Donnerstag, 15.11.2007, 20:30h auf der SY „Arcadi“
Gestern wurde ich aus meinem netten Appartement förmlich ausquartiert. Um 9 erfuhr ich beim Frühstück, dass um 10
bereits Auschecken sei. So stand ich frühmorgens bereits mit Sack und Pack in diesem Touristennest, ohne zu wissen wie
es weitergeht, denn die Yacht und die neue Crew hatte ich noch nicht gefunden. Die Hafenverwaltung sagte am Vortag,
das Schiff sei nicht da und überhaupt erst für zwei Tage später gemeldet. Nach einem Anruf in Hamburg kannte ich dann
den Unterschied zwischen „Arkadi“ und „Arcadia“, nicht sehr originell, zwei Schwesterschiffe so zu benennen. Ich
bekomme noch einen Lift zum Hafen herunter und darf das Gepäck im Ladengeschäft von Lila zwischenlagern und mache
mich auf zu den 15 Metern, auf denen ich die nächsten Wochen verbringen werde. Sie liegen an der Außenmole und der
Skipper ist bereits darauf beschäftigt.
Franz ist vielleicht 10 Jahre jünger als ich, ein muskulöser großer Mensch mit langen Haaren. Die anderen kommen später,
ein Pärchen, ebenfalls jünger, ein sehr ruhiger einzelner Herr, ein Ehepaar aus München und eine Power-Oma, die im
Leben bisher nichts ausgelassen hat. Abendlicher Restaurantbesuch, mein erster Eindruck: wird wohl klappen. Zwei
Hardcore-Raucher, keine Alkoholiker.
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Nach dem Frühstück setzen wir uns zusammen und stellten sehr demokratisch und wohlüberlegt den Bedarf für 200
Menschtage zusammen. Der Plan besteht darin, dass für jede Mahlzeit der nächsten Zeit ein Crewmitglied verantwortlich
zeichnet, nachdem sich niemand als begeisterter Koch geoutet hatte und in dieser Richtung hauptverantwortlich zeichnen
wollte. Die Speisekarte für 24 Tage steht also von Beginn an fest, jeder wird dreimal dran sein und entsprechend wird
eingekauft. Dann geht’s zum Supermarkt, wo wir unsere Listen abarbeiten, bis wir mit 7 gut gefüllten Einkaufswagen vor
der Kasse stehen. Hinzu kommen noch 400 Liter Trinkwasser in Flaschen. Das Personal steht staunend um uns herum und
nimmt Anteil, fragt nach dem Ziel der Reise und gewährt ungefragt Rabatte: 4 Flaschen Wein und 12 kanarische Zigarren!
Der Kassenzettel ist fast 2 m lang, der Rechnungsbetrag vierstellig. Dann das Bunkern im Schiff. Unglaublich, was in die
diversen Bilgenkammern und Schapps alles passt, aber wir müssen auch eines der Klos für die Wasservorräte verwenden.
Über dem Salontisch spannt sich ein großes Netz, eine Art Hängematte, die mit Obst und Gemüse gefüllt ist und
gleichzeitig die Krängung anzeigt.
Besonders erwähnenswert erscheint mir nach dem Abenteuer auf der „Guanajo“, dass wir keine einzige Dose Bier, keinen
Gin oder Wodka an Bord nehmen. Hätten wir nicht noch die vier Flaschen geschenkt bekommen, hätte jeder von uns mit
einem halben Gläslein Wein pro Tag auskommen müssen, Sonntags auch mal mit zweien.
Vor dem Auslaufen liegen wir noch eine Nacht vor dem Hafen von Mogán auf Reede, was uns Gelegenheit gibt, noch
einmal über das Eingekaufte nachzudenken und schließlich mit dem Dinghi abends in einer Art Panikaktion doch noch ein
letztes Mal an Land zu fahren um nachzukaufen. Wir alle sind uns unsicher wegen der erforderlichen Menge an Proviant,
ich glaube aber, wir haben eher zu viel an Bord.
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Abbildung 20: Vorschiffkoje
Abbildung 21: Im Salon der Gib Sea
18° West
Sonntag 13 Uhr, SY „Arkadi“. Über 24 Stunden sind wir jetzt mit der Arkadi auf See. Der Wind ist mäßig, immer unter 10
kn und wir kommen gemächlich voran. Gestern hatten wir die Umrisse des Teide noch schemenhaft querab unseres Schiffs
und weit oberhalb der Wolken erkennen können. Abends passieren wir noch La Gomera, dessen Lichter nur ganz schwach
am Horizont zu ahnen sind. Damit nehmen wir Abschied von der Alten Welt, historisch bedeutsam. Alle kamen sie hier
lang. Kolumbus natürlich, Cortéz, Vespucci, Darwin, von Humboldt, Koch-Grünberg und die Leute von der ARC1 (Der
ARC haben wir uns nicht angeschlossen, zu viel Rummel, hohes Startgeld. Wir segeln denen voraus).
1
Atlantic Rallye for Cruizers. Jährlicher Event, bei dem Hunderte von Booten von den Kanaren aus gemeinsam über den großen Teich schippern.
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Unsere Gib Sea ist nicht mehr so ganz brandneu wie die Bavaria des ersten Törnabschnitts. Bereits am Anfang werden
erste technische Mängel sichtbar: der Motor des Dinghys springt nicht an und muss von uns repariert werden. Der Diesel
springt auch erst einmal nicht an, das Kabel zum Magnetschalter war abgefallen. Eine Kontermutter am Unterwant fehlt,
der Autopilot schaltet sich auch mal von selbst ab, die Klospülung arbeitet bereits bei geringer Krängung nicht mehr und
so fort.
Es wird spannend werden. Jetzt sind wir auf uns gestellt, keiner wird uns helfen, wenn sich eine Panne ergibt. Aber die
spannendste Frage vor dem Törn war ja, welche Sorte Mensch sich auf dem Boot zusammenfinden würde, denn
schließlich können es ja nur Verrückte sein, die sich freiwillig solch einer Extremsituation aussetzen.
Der Skipper ist ein gelassener Mensch, der nicht ständig eingreift und uns z.B. Ess-, Wach- und Zuständigkeitspläne
selbstständig aufstellen lässt. Auch eher angenehm ruhig ist Gunnar, ein eben in Ruhestand gegangener Leiter eines PKWMotorenwerks. Astrid, die Jüngste an Bord ist sehr sympathisch, hilfsbereit, gut aussehend und wirkt weitere 10 Jahre
jünger als sie wirklich ist, Oberschwester. Ihr Mann Walther, ein schlanker riesiger Sportlehrer und Segellehrer, ist der
aktivste hier an Bord. Beide sind wie ich Aussteiger für ein Jahr, sind auch in Richtung Pazifik unterwegs und leben
ansonsten in ihrem Mercedes Lieferwagen. Herbert ist unser Ältester, Ex-Chirurg, raucht eine Gauloise nach der anderen
und ist in praktischen Dingen dagegen eher unbeholfen. Steif wie Nosferatu steht er im Kragenhemd am Steuer, auch seine
Frau Ursula ist kettenrauchende Ärztin, eher dem trockenen Humor zugewandt und sonst ohne Befund. Schließlich die
ebenfalls promovierte Dame, Magda, 67, die zwischen Spitzbergen und Equador schon alles gesehen hat. Hat mit 50 noch
den Führerschein gemacht, später den Motorradführerschein, aber leider reichen ihre kurzen Beine bei der Enduro nicht
auf den Boden, sagt sie. Ihre Motorsäge würde sie nicht mal ihrem Mann ausleihen. Jetzt fängt sie an, Gerätetauchen zu
lernen. Sie hat trotz Segelscheinen keinen Durchblick, aber zu jedem Satz der anderen etwas hinzuzufügen. Nervt.
Insgesamt eine besonnene, abgeklärte, gebildete und ruhige Crew. Ich selber verspüre keine Neigung, mich wochenlang
den Vorurteilen über Lehrer auszusetzen und stelle mich als jemand vor, der nach dem Studium der Künste Oldtimer
restauriert hat. Das geht die nächsten Wochen auch glatt durch.
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19° West
Der Wind ist ungünstig. Nach Südwest wollen wir und aus Südwest kommt er, das bedeutet, dass wir eher zu viel nach
West fahren, gegenan fahren, viel Höhe kneifen, bei mangelndem Wind den Motor anwerfen und ständig die Segelstellung
wechseln. Anfangs ist es sommerlich warm und wir sitzen oft gemütlich im Cockpit.
Heute hat sich ein schöner bunter Dolfin in der Angel gefangen, die wir nachziehen. Ich habe das 80 cm große Teil in
handliche Scheiben geschnitten und schon zum zweiten Mal gibt es Fischfilet an Bord. Ich hatte ja mit Fischfilet aus der
Tiefkühltruhe den Anfang gemacht, es gab Salzkartoffeln dazu und wurde allgemein gelobt. Fisch kann ich. Ich bin froh,
der Erste gewesen zu sein und die Meßlatte hoch zu legen. Salzkartoffeln auf dem Atlantik zu kochen ist übrigens
besonders einfach, weil die richtige Menge Salz bereits im Wasser ist
Abbildung 22: Nosferatu bei Mondaufgang
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21° West
Jetzt sind wir 5 Tage auf See, nachdem wir den letzten europäischen Vorposten verlassen haben. Vorgestern Abend wurde
der Wind stärker und eine kräftige Welle baute sich auf. In der Praxis bedeutet das, dass man sich unter Deck kaum
bewegen kann, dass hin und wieder ein Topf, ein Glas, ein Wassercontainer, eine Packung Klopapier oder sonstiger
Krempel sich quer zur Fahrtrichtung im Innenraum verteilt, dass im Cockpit das schwere Ölzeug zu tragen ist, dass man
sich, um in der Steuerbord-Kabine zu schlafen, am besten gleich in das Leesegel anstatt auf die Matratze legt, sofern an
Schlafen überhaupt zu denken ist. Schließlich ist es in der Kabine warm, miefig und stickig, weil man wegen der
überkommenden Gischt nicht die Luke öffnen kann, weil die wachhabende Crew auf dem Deck Lärm erzeugt, wenn der
Karabiner an der Rettungsleine über dem GFK entlang schleift, weil der Wind die Genuaschoten umherschlägt, die
Winschen laut knarzen oder wenn unter tonnenschwerer Last die Schot gefiert wird. Dann schlägt mal eine Tür, geht eine
Duschbilgenpumpe an oder es fliegt wieder etwas zu Boden. Dem Schlafe noch abträglicher ist das Aufknallen des
Rumpfs auf die Wasseroberfläche. Als säße man in einem großen Metallbehälter, auf den von außen mit einem riesigen
Hammer eingeschlagen wird. Vor allem aber macht mir der Wachrhythmus zu schaffen, auf den wir uns mit meiner
Gegenstimme festgelegt haben: 3 oder 4 Stunden Wache, dann 6 oder 7 Stunden Schlaf, täglich um 3 Stunden versetzt.
Unter diesen Bedingungen fühle ich mich gerädert, gestern sogar völlig erschöpft und am Ende meiner Kräfte. Hätte es
eine Möglichkeit gegeben auszusteigen, ich hätte sie wohl genutzt. So hatte ich mir das Passatsegeln nicht vorgestellt.
Drei Segelwechsel mit Groß-Setzen und Einrollen der Genua (wegen des Kutterstags sogar beim Wenden) hatten alle
Kräfte aufgezehrt und ich erschien nicht mal beim Abendessen.
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Heute nacht um 3 stand Magda am Ruder, als eine dunkle Wetterfront sich plötzlich vor den Mond schob und sich auf uns
zu bewegte. Auf einmal wurde es dunkel, als hätte jemand das Licht ausgeschaltet. Ich holte noch die Latzhose aus Ölzeug
und die „Musto“-Jacke und ging ans Steuer. Wenn Starkwind kommt, bin ich in Hochstimmung und hellwach, wenn ich
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auch Minuten zuvor mit dem Schlaf kämpfen musste. Die Front ging aber direkt vor uns vorüber, wir bekamen nur relativ
wenig Starkwind ab sowie erfrischenden Regen, der ja erfreulicherweise aus Süßwasser besteht und dadurch die
glitzernden Salzkristalle wieder von der Haut wäscht. Immerhin ist es nie kalt und ich komme, wenn es nicht kalt ist,
nachts mit der leichten Windjacke aus.
Schließlich stand die schwarze Front links von uns mit einem Regenbogen davor, rechts war der Himmel wieder hell und
klar vom untergehenden Mond. Gespenstisch. Magisch, einfach schön und furchteinflößend. Keiner von uns hatte jemals
einen Regenbogen im Mondlicht gesehen.
Heute ist es wieder ruhiger, Kurze-Hosen-Wetter, Zeit, um sauber zu machen oder den Kurs zu diskutieren. Immer noch
fahren wir zu weit nördlich der Ideallinie, die wir jetzt in südwestlicher Linie anvisieren. Meines und Gunnars Erachten
nach sollten wir eher südlich fahren, um schneller in die Passatzone zu gelangen, was die nordwestlichen Winde jetzt auch
hergeben würden. Franz und Walther wollen eher dem Kanarenstrom folgen, zur Not die nördliche Route fahren.
Gerade eben überholt uns eine riesige Ketsch unter Motor, das erste Schiff seit zwei Tagen. Wir stellen kurz Funkkontakt
zu dem Engländer her und erhalten einen Wetterbericht.
23° West, 23° Nord
Donnerstag, 22.11. 14:20h
Ich glaube, wir haben die Passatzone erreicht, die ja laut Definition auch am Wendekreis des Krebses beginnt, den wir
heute Nacht überfahren haben. Der Wind drehte langsam, ganz langsam im Uhrzeigersinn auf NO, endlich liegen wir auf
bb-Bug und haben die Segel weit ausgebaumt. Wenn ich in der Koje liege und aus meiner Luke schaue, blicke ich jetzt auf
das Wasser herunter statt in den Himmel. Wenn wir uns hart durch die Wellen kämpfen, taucht die Luke unter und es gibt
diesen Wechsel zwischen dem glitzernden Preußischblau der Atlantikoberseite und dem mit Luftblasen durchsetzten
erstaunlich lichtdurchfluteten Ultramarin der Unterwassersphäre, wovon man gern mehr gesehen hätte.
Zum Beispiel die Delphine, die bei unserer Steuerwache heute bei Sonnenaufgang wieder auftauchten, ganz viele,
vielleicht nur 60 cm lang, dunkel und mit kleiner Fluke. Links und rechts und vorn und hinten hüpften sie aus dem Wasser
und grüßten mich, während die anderen noch schliefen oder gerade frühstückten.
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Gestern hatten wir, obwohl wir doch jetzt schon viele Seemeilen vom afrikanischen Festland entfernt sind, Besuch von
einer Möwe, gerade als wir Abfall über Bord gaben. Walther kam auf die Idee, solchen Abfall, der nicht über Bord gehen
kann, mit der Schere so zu zerschneiden, dass er in eine leere 8l-Wasserflasche passt. Herbert friemelt dann mit seinen
Chirurgenfingern klebrige Streifen aus PET, Tetrapak und verschmierter PE-Folie in das Gefäß. Keine schöne Arbeit.
Papier und Organisches sowie Glas und Blech gehen über Bord.
Mit dem Essen und unserem Plan klappt es wirklich sehr gut. Unser Speiseplan umfasste bisher „Mogánfisch“ gebraten,
Salzkartoffeln mit Quark, Gemüserisotto mit Speck, gebratenen Dolfin, Nudelauflauf. Gestern war ich wieder dran mit
Zucchini speziale und war froh, dass ich noch etwas Fisch dazugeben konnte, wieder einen Dolfin, vielleicht 40 cm, der
zuvor eine Stunde lang an der Schleppangel zappelte.
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Heute ist wellenmäßig ein ruhiger Tag, der Wind spielt bei dem raumen Kurs keine große Rolle mehr. Luft und Wasser
sind warm, der Luftdruck hoch. Zeit um Wäsche zu waschen und trocknen, für Körperpflege, Tagebuch, Gespräche, dösen.
24° West
Ursula steuert nicht besonders gut, da helfen auch Promotion und SKS-Patent nichts. Im Zickzack schlängelt sich unser
Boot durch die mondhelle Nacht. Schlechte Voraussetzungen um einzuschlafen, in meiner Koje rolle ich zwischen
Bordwand und Leesegel. Als der Schlaf doch noch kommt, wird die Vorschiff-Fraktion wieder geweckt. Eine Wetterfront
würde näher rücken, es ist halb drei in der Nacht. Völlig verpennt krame ich das Ölzeug aus den tiefen Sedimenten meiner
Reisetasche, wo ich es gestern in einer Art Euphorie über die zukünftige Wetterentwicklung schon endzeitzulagern
gedachte. Die Wetterfront erweist sich dann als kleine Regenwolke, aber die wachhabende Crew hat noch ganz andere
Probleme. Durch die starken Schwankbewegungen auf dem Vorwindkurs war der Niederholer vom Vorsegel gerissen und
der Lappen flattert im Mondlicht. Gunnar und Franz führen eine Notreparatur durch, nicht ganz ungefährlich auf dem
schwankenden und schlüpfrigen Vorschiff.
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Nachts tragen wir immer die Rettungswesten und haken uns in die Lifeline ein. Als dann alles wieder steht, dreht der
Wind, wir nehmen die Genua herüber, wegen der Kutterbetakelung auch das eine kräftezehrende Angelegenheit. Dann
wird mal der Baum geshiftet, dann fällt der Spibaum aus dem Schothorn und die ganze Verzurrung baumelt im Rigg.
Hektik kommt auf, die Gelassenheit des Skippers findet hier ihre Grenzen. Zwischenzeitlich kommt Regen. Dann fehlt
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wieder Wind für die Manöver, der Motor muss angelassen werden. Ich überwache Magda am Ruder und fiere Leinen oder
belege oder setze vom Cockpit aus durch. Franz nuschelt seine Kommandos eher in Fahrtrichtung und bei 10m Distanz,
bei Wasser-, Wind- und Motorengeräuschen verstehe ich „aufstoppen!“ statt „auskuppeln!“. In der Eile gelingt das nicht
ganz geräuschfrei. Fehler machen ja immer nur die anderen, daraus resultieren Schuldzuweisungen, die schlimmste davon:
„Die machen grundsätzlich das Gegenteil von dem, was ich sage“. Das fehlte noch . Nach einiger Zeit steht das Vorsegel
wieder, jetzt wird mit dem Groß experimentiert, links und rechts und immer wieder den Preventer versetzen. Schließlich
kommt Franz stinksauer vom Klo. Jemand habe das Seeventil nicht geschlossen und die Scheiße würde auf dem Boden
schwimmen. „Wer war zuletzt auf dem Klo?“, Probleme werden personalisiert. Dass unser einziges Klo seit Tagen nicht
richtig funktioniert, weil man mit der undichten Pumpe nicht spülen kann und wir deshalb auf Spülung mit einem
Wasserkanister umsteigen mussten, wird außer Betracht gelassen, obwohl ja ursächliche Beziehungen bestehen könnten.
Ich beginne schon mal, den Waschraum backbords auf die Aufnahme von ca. 120l Wasser in Containern und einigen
Dutzend Rollen Klopapier vorzubereiten, um das Ersatzklo frei zu bekommen. In der Zwischenzeit steht Franz angeleint
auf der Badeplattform und pisst, wie mir scheint, demonstrativ, in die Heckwelle, er will es den Akademikern wohl zeigen,
ihm mache es auch nichts aus, vom Bootsrand aus ins Wasser zu scheißen. Dann besehe ich mir das übergelaufene Klo. Im
Schein der Kopflampe ist alles gar nicht so schlimm, ich pumpe das Wasser aus der Schüssel und schalte die Bilgenpumpe
ein, nachgewischt, fertig. Das Klo ist gerettet, der Waschraum kann wieder bezogen werden.
Oben wird mittlerweile das Groß ganz weggenommen, dann das Vorsegel mit seinem Spibaum und den mühevoll
angebrachten Sicherungsleinen wieder abgebaut und eingerollt. Die Kommandos dafür kommen jetzt lauter, aber auch mit
einem aggressiven Unterton. Der Übergang zwischen deutlich und vorwurfsvoll ist ja fließend. Gunnar ist völlig fertig, er
war die meiste Zeit damit beschäftigt, auf dem Vorschiff herumzuturnen und Leinen zu legen, umzulegen, zu belegen,
nicht ohne eine gewisse Verbissenheit. Auch ich hocke abgeschlagen herum. Zerreißprobe für die Nerven, nur knapp
bestanden.
Dann fällt mir auf, dass die Genuaschot unter dem Relingdraht hindurchläuft. Sie steht unter tonnenschwerem Zug und
kann jetzt nicht umbelegt werden. Also arbeite ich mich, es ist jetzt 5:30h und ich will nur noch ins Bett, in die
Befestigungstechnik von Yachtrelingen ein. Drahtfederring, Bolzen, Spanner, alles unter Zug und mit hohem
Verletzungsrisiko für die Finger. Schließlich ist die Reling frei und das Problem findet auch eine Lösung.
„Um die Welt zu segeln, ist der kürzeste Weg zu sich selbst“ (Bernard Moitessier).
Der Mond geht unter, aber im Osten wird es schon etwas hell. Schließlich fahren wir, weil der Wind weiter auf Ost dreht,
unter Motor. Dreieinhalb Stunden Hektik, praktisch umsonst. Völlig übermüdet fallen wir in die Kojen. Ich schlafe bis
Mittag.
Als ich aufwache, fahren wir endlich den SSW-Kurs, den ich schon vor Tagen vorgeschlagen hatte, um früher in die
verlässlichere Passatzone zu kommen. Nächste Nacht fahren wir also wieder dem Fomalhaut entgegen und lassen Atair
und Wega an Steuerbord liegen.
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27° West
Dass es hart werden würde, war mir klar. Dass es die schwersten Wochen des Jahres sein würden, auch das wusste ich im
Voraus. Aber dass es so hart werden würde, wie wir es jetzt erleben, hätte ich doch nicht gedacht. Ich sitze festgekrallt am
Salontisch, auf dem Boden haben sich wieder mal Deckel, Polster, Wasserflaschen verteilt. Regenklamotten und anderes
Aufgehängtes zeigt den Krängungswinkel an.
Ich hatte viel gelesen über die sogenannte Barfuß-Route über den Atlantik, den Nordostpassat, die Konvergenzzone,
Rossbreiten, Trade Winds etc. und hatte wie andere hier auch die Hoffnung, in kurzen Hosen und bei angenehmem Wind
mehrere Bücher und einiges andere Druckerzeugnis zu lesen sowie 512MB Podcasts anzuhören. Stattdessen haben wir hier
seit zwei Tagen und zwei Nächten schweres Wetter. Der Wind fällt selten unter 18 km und baut eine unglaubliche Welle
auf. In den Wellenkronen bricht sich hell glänzend die Gischt, in den Wellentälern sammelt sie sich als weißer Schaum.
Das Schiff tanzt wie ein Ei und lässt sich extrem schlecht auf Kurs halten, wenn die Welle nicht genau von Achtern
herankommt. Tut sie das aber, ist die Freude groß. Hinter uns türmen sich Wände aus Wasser auf, die den Blick auf die
Wolken gelegentlich verstellen. Manchmal hat die Welle exakt unsere Geschwindigkeit und wie ein Surfer stehen wir im
Wasser, das wie unbewegt wirkt.
Meist stehen wir aber schräg zur Wellenrichtung. Das Rudern unter diesen Bedingungen ist extrem anstrengend, weil
ständig auf Segel, Windeinfall, Kurs, Wetterentwicklung etc. zu achten ist. Besonders tagsüber fehlt es an Bezugspunkten
für das Auge, auf die man hinzuhalten könnte, die kleinen Wolken eignen sich nicht dafür. Der Rudergänger kann sich
auch nicht 10 unkonzentrierte Sekunden erlauben. Wendet man sich auch nur für einen einzigen Satz den anderen zu und
nimmt den Blick von den Instrumenten, läuft die Yacht gleich bis zu 30° aus dem Ruder und muss durch kräftiges
Gegenlenken auf den Kurs zurückgeholt werden. Dann fliegen unten wieder Sachen durch die Gegend oder Ursula surft
samt ihrem Polster von der Bank und landet neben dem Abfalleimer. Heute war es Gunnar, der sich dadurch Schrammen
zuzog, Magda war schon zweimal dran. Nicht ungefährlich. Ich hatte mir aus diesem Grund auf einem Ostseetörn einmal
eine Rippe gebrochen.
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Weil die hohe Konzentration nicht lange aufgebracht werden kann, lösen wir uns alle 20 Minuten am Ruder ab. Durch das
Einfahren in eine neue Zeitzone verlängerte sich gestern unsere Tagwache auf 4 ½ Stunden. Jedenfalls war ich gestern
heilfroh, als sich unsere verlängerte Ruderwache endlich in Richtung Ruhezeit entwickelte und zählte schon die Minuten.
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Da erschien Franz, der etwas gepennt hatte, oben auf Deck. Wenn der Skipper erscheint, zucke ich zusammen, denn das
bedeutet meistens Stress. So auch diesmal. Franz will jetzt den Schmetterling setzen.
Den Schmetterling zu setzen, bedeutet praktisch die Veränderung sämtlicher Segel, Preventer und Holepunkte. Viel Arbeit
und anstrengend. Dadurch, dass wir ständig zwischen der Sturmfock am Kutterstag und der stark gerefften Genua
wechseln, haben wir es immer mit einer Unzahl von Leinen zu tun. Auf die Genuaschot knoten wir jetzt per Stopperstek,
eine Idee Franz’, eine zusätzliche leine, die wir auf die Achterklampe legen, womit wir vom Cockpit aus den
Genuaholepunkt verändern können. Walther und Franz balancieren also bei 3m Welle auf dem Vorschiff mit dem Spibaum
herum, eine Knochenarbeit und in der wogenden See gefährlich dazu. Ich bin am Ruder und muss das Vorsegel auf
Anweisung wechselweise leicht blähen, backschlagen oder eben einfallen lassen, dabei darauf achten, dass der entsicherte
Großbaum im achterlichen Wind nicht herumschlägt und auch noch, dass Fahrt im Schiff bleibt. Dabei habe ich kaum
Stand, weil der Gib Sea keine Fußstützen am Steuerstand gegönnt wurden und ich mich mit einem Bein auf der Backskiste
abstützen muss. Äußerste Konzentration. Jetzt nur keinen Fehler machen! Das Ruder jetzt nur eine Nuance in die falsche
Richtung gelegt und die beiden Kumpels da vorn hätten ernsthafte Probleme oder das Rigg würde beschädigt. Unter 22 kn
Wind geht an diesem Tag nichts ab, die Anspannung ist enorm. Aber ich finde, ich habe die Sache gut gemacht, körperlich
und nervlich völlig erschöpft falle ich danach in die Koje und bin den Tränen nahe. 6 Stunden Ruhezeit bedeuten aber
nicht 6 Stunden Schlaf.
In der Nacht rauschen wir anfangs also unter Schmetterling mit full speed durch die Wellen. Unsere Gib Sea, bisher ein
eher träges und zu langsames Schiff, beginnt den Surf. Ähnlich dem Überschallknall beim Erreichen von Mach 1 beginnt
der GFK-Rumpf beim Überschreiten der Rumpfgeschwindigkeit zu vibrieren und zu dröhnen. Spitzengeschwindigkeit:
sagenhafte 11,3 kn! Neben meiner Koje rauscht es wie ein Wasserfall. Die Luken bleiben natürlich zu und unter Deck ist
es heiß und stickig wie in der Sauna. So kann sich kein Mensch erholen.
Um 10 vor 6 werden wir wieder geweckt, um 6 stehen wir wieder oben mit Schwimmweste und Rettungsleine, noch
immer ist Windstärke 6 – 7, jetzt den dritten Tag. Die beiden anderen Wachmannschaften sehen wir fast nur noch bei der
Übergabe des Ruders. An vergnügliche gemeinsame Mahlzeiten ist kaum noch zu denken. Um 5 nach 6 habe ich bereits
das Vorsegel gewechselt. Man war die Nacht hindurch auf einstimmigen Wunsch der Crew unter Sturmfock und stark
gerefftem Groß gefahren . Nächtlichen Segelwechseln und „Nachtschmetterlingen“ wurde eine Absage erteilt. So vergeht
dann auch der achtundzwanzigste Tag auf dem Meer seit Palma als anstrengender Kraftakt. Wieder hohe Welle, wieder
Winde zwischen 22 und 28 kn, selten unter 20. Bedeckter Himmel, Regenschauer.
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32° West
Als ich aufstehe, hat sich wieder nichts geändert. Draußen ist hohe Welle, der Wind pfeift im Rigg, der Himmel ist grau.
Wer draußen arbeiten muss, hat Fleece und Ölzeug an und darf sich über gelegentliche Regenschauer freuen, kein
angenehmer Job. Bei der Nachtwache war es kühl und ich habe Angst, mir die Schulter zu verkühlen. Unter Deck ist es
nicht besser. Auf Dauer nervt es gewaltig, keinen Schritt tun zu können, ohne sich kräftig festzuhalten. Verkrampft stehen
wir umher, hangeln uns von Haltegriff zu Haltegriff. Keine Sekunde kann man ein Glas, einen Getränkekarton allein
lassen, denn was nicht festgehalten wird, segelt unweigerlich durch den Salon. So vergeht der Tag wechselweise mit
Abhängen in der Koje und dem Kampf mit den Wellen.
Und der nächste auch.
Ich bin auf Segelbooten auf dem Ijsselmeer, der Nordsee, der Ostsee, der Adria, vor Spanien, Sardinien, Korsika, Türkei
und dem Kap der Guten Hoffnung unterwegs gewesen, aber im Vergleich zu dem, was ich hier erlebe, war alles zuvor nur
Kinderkram.
34° West
Dreißig Tage auf See. Ab heute ist der Atlantik ruhiger, Windstärke 5 – 6. Ein deutscher Sonntagsegler würde jetzt immer
noch nicht auslaufen, für uns ist das schon Entspannung, wenn der Wind nur 18 – 22 kn hat. Vor allem die Welle ist nicht
mehr so hoch und das Leben unter Deck wird erträglicher.
Nach und nach löst sich die dichte Wolkendecke auf, die vor allem nachts die Sicht auf Fomenhaut, Deneb und Scheat
verdeckte und das Steuern zur Qual machte. Sieht man die Sterne, ist alles easy. Den Deneb am Unterwant gepeilt und die
Richtung stimmt. Natürlich haben wir auch einen Autopiloten, aber der läuft mit Strom und mit nichts sind wir sparsamer.
Der Autopilot hat also Freizeit und zwar ständig. Nicht auszudenken, wenn wir keinen Strom mehr hätten.
Im Laufe des Tages wird es extrem heiß, halbnackt sitzen alle die nicht schlafen müssen, oben und reden über Kolumbus,
Prostatauntersuchung, Fledermaushöhlen in Malaysia und was es sonst noch so gibt an Themen. Einige duschen mit der
Pütz, es wird gewaschen und getrocknet. Der erste unserer beiden Trinkwassertanks ist leer, Wasser wird weiter rationiert.
Zur Körperreinigung verwenden wir Waschlappen, aber wenig Wasser. Haare zu waschen ist verpönt.
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Immer wieder sehen wir fliegende Fische, die wie Vögel in kleinen Schwärmen dicht übers Wasser huschen und dabei der
Form der Wellen folgen. Der zweite Dolfin, den wir fingen, war deutlich kleiner als der erste und der dritte wäre nur noch
15 cm gewesen, hätte der Trend sich fortgesetzt. Hat er aber nicht. Das Weibchen, das wir gestern rausholten, hatte etwa
50 cm und der Knabe von heute vielleicht 60. Diese Dolfine beißen wohl immer vor Sonnenuntergang und der oder die
zum Kochen Eingeteilte muss dann schnell umdisponieren mit dem Speiseplan.
Nachdem der Fisch gezeigt bekam, was man mit so einer Winschkurbel noch so alles machen kann, wird er zubereitet. Im
Ausweiden, Haut abziehen und Filettieren sind Franz und ich mittlerweile gut aufeinander eingespielt.
Andere Tiere, mit denen wir in Kontakt kommen, sind Sturmtaucher, die hier mitten auf dem offenen Atlantik fliegen und
jagen. Gestern hatten wir wieder Besuch von Delfinen. Astrid hat schöne Aufnahmen davon hinbekommen und freut sich
darüber wie ein kleines Mädchen.
Vorgestern bei einer Nachtwache bekomme ich plötzlich einen Schlag an den Arm wie von einem Schneeball. Ein
fliegender Fisch hatte es tatsächlich so hoch hinauf geschafft und zappelte dann im Cockpit herum. Gestern dann traf es
Gunnar, wieder am Arm, wieder beim Steuern, wieder ein fliegender Fisch. Merkwürdige Tiere. Gerade während ich das
hier schreibe, tut es einen heftigen Schlag. Kein fliegender Fisch. Herbert konnte sich nicht genügend festhalten und
krachte laut auf den Boden, der Navi-Tisch beendete seinen Gleitflug ganz abrupt. Herbert ist mit 72 der Älteste unter uns
und mir ist ein wenig bang. Aber es ging noch mal gut.
In immer kürzeren Abständen muss jetzt der Motor laufen, um die Batterien nachzuladen, dabei haben wir deren
Entladung wirklich sehr eingeschränkt. Walther und ich vermuten ausgelutschte Batterien, die wir testen wollen. Dazu
muss mit dem Akkuschrauber einiges Bodenmaterial vor dem Niedergang freigeschraubt werden, um dranzukommen. Auf
dem Schiff sieht es aus wie nach einer Katastrophe und ein wenig geht die Angst um, dass wir bald ganz ohne Strom sein
könnten, Wasserpumpen, Beleuchtung und Navigationsinstrumente also nicht mehr funktionieren würden. Die Diagnose
ergibt erst einmal, dass der Batteriezustand unverdächtig ist, die Lichtmaschine arbeitet, aber hinter dem Laderegler nicht
genügend Spannung ansteht. Wir verschieben die Lösung des Problems und schrauben wieder alles zusammen.
Wenn der Großbaum nur halb ausgestellt ist, der Preventer aber zwischen Baumnock und der Vorderklampe gespannt ist,
steht dieser in einem sehr spitzen Winkel zum Baum. Infolge der Dehnungsfähigkeit des Materials kann es dann unter
ungünstigen Bedingungen dazu kommen, dass er nicht hält und der Großbaum auf die andere Seite katapultiert wird,
woraus ich vergeblich hingewiesen hatte. Heute war es dann soweit. Krachend schlug das schwere Teil mit dem Großsegel
um, alle waren sofort wach. Herbert hatte sich versteuert. Zum ersten Mal war das Wort „Idiot“ an Bord zu hören, für ihn
unhörbar allerdings. Die Crew reißt sich wirklich gut zusammen.
Jetzt sitzt der Preventer auf der Mittelklampe.
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36° West
Alles ist gut. Es gibt so ein geflügeltes Wort bei uns an Bord, das in den richtigen Momenten gern zitiert wird: „Segeln soll
ja AUCH Spaß machen“ (von Franz).
Kurzer Schlaf nach der Wache, die bis Mitternacht ging. Die Morgenwache von 6 bis 10, die wegen des Erreichens einer
neuen Zeitzone den Tag wieder um eine Stunde verlängerte. Der Wind erreicht nur noch vorübergehend Stärke 6. Welle
und Dünung haben weiter nachgelassen, bald ziehe ich die gefütterte Seglerjacke aus, die ich wegen des Rückenwinds
trage. Bis zum Abend hin haben wir eher schwachen Wind von genau achteraus, so dass unser Boot sanft dahin gleitet und
dennoch gut voran kommt. Es ist mittags tropisch heiß, bis zur nächsten Wache ist viel Zeit und wer nicht gerade schläft,
beschäftigt sich irgendwie. Magda macht Pfannkuchen, Astrid trocknet Wäsche, Walther erfindet einen genialen
Aufstellmechanismus für die Abdeckung vom Instrumenten-Paneel, Franz brät sich die Reste vom gestrigen Fang, Ursula
macht den Tisch sauber. Herbert macht selten etwas Gemeinnütziges, Gunnar benimmt sich ordentlich und ich selber habe
schon das Cockpit mit ATA gereinigt, mich selber mit Seife und außerdem Podcasts gehört.
Die Stimmung ist gut, es gibt keine Feindseligkeiten. Als Gesprächsthemen hatten wir heute morgen, wo fliegende Fische
wohl ihre Nester bauen und wann sie in die Mauser kommen. Ansonsten hält das Niveau und der Umgang miteinander ist
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locker und entspannt. In der fünften Woche auf See nähern sich das Passatsegeln und unsere Vorstellungen davon einander
an.
42° West
Kaum hatte ich das geschrieben, gab es eine Auseinandersetzung ohnegleichen zwischen dem Skipper und den beiden
Kettenrauchern, vordergründig über das Thema Rauchen und Sicherheit an Bord. Sie sind ja von Anbeginn bereits dazu
verdonnert, nur oben im Lee zu rauchen, woran sie sich auch gut gehalten haben, aber irgend etwas muss sich bei Franz
angesammelt haben, was jetzt raus musste. Wir hatten daraufhin eine Krisensitzung innerhalb der Crew, die mit dem
Beschluss endete, dass die Raucher fortan noch vorsichtiger mit offenen Luken und mit dem Steckschott umgehen würden
und dass wir solche Angelegenheiten auch selber regeln könnten, weil der Skipper in solchen Situationen gern
überreagiert.
Ich bin vom Pech verfolgt. Nach und nach verabschieden sich all meine technischen Helferlein aus ihren Funktionen.
Kürzlich blieb die Uhr stehen, Batterie leer. Hier gibt es weit und breit keine zu kaufen. Vorgestern musste ich feststellen,
dass über meine liebe Casio Exilim Kaffee oder Hühnerbrühe gelaufen ist oder was auch immer. Ich hätte sie nicht offen in
der Lehnenablage liegen lassen sollen. Demontage mit spitzem Küchenmesser und intensive Bearbeitung mit
alkoholischem Brillenreiniger brachten keine Besserung, sondern den endgültigen Exitus. Ein ganz herber Schlag, diese
Reise ohne Kamera fortsetzen zu müssen. Ich danke an dieser Stelle allen Mitseglern, deren Fotos ich hier mitverwenden
durfte, vor allem Astrid, die jede Wolke und jede Welle zwischen dem alten und dem neuen Kontinent festgehalten hat.
Unserer Yacht geht es wenig besser. Heute fiel die eine Lewmar-Winsch halb auseinander, fast wäre die Chrommutter
über Bord gegangen.
Heute nacht gab es einen Kabelbrand in der elektrischen Anlage, ich wurde durch die Unruhe geweckt, bekam das nur am
Rande mit. Jedenfalls war kurzzeitig aller Strom abgeschaltet und die Rudergänger hatten es extra schwer ohne
Instrumente. Zum Glück ist alles wieder in Ordnung und wir müssen nicht befürchten, ohne Instrumente weitersegeln zu
müssen, schlimm genug, dass nicht genügend Strom aus den Hauptbatterien kommt und dass die so oft nachgeladen
werden müssen. Schlimm genug auch, dass das Klo aus einer PET-Flasche gespült werden muss, deren Schraubverschluss
mir heute in die WC-Schüssel fiel und ganz tief drunten stecken blieb. Ekelarbeit und Herzklopfen außerdem wegen der
Angst, der Verschluss könnte im Rohr verschwinden und dann die Scheißepumpe blockieren. Jetzt sind
Schraubverschlüsse auf dem Klo verboten.
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42° West bedeutet, dass wir deutlich mehr als die Hälfte des Atlantiks überquert haben. Der mittelozeanische Rücken liegt
in 1 – 2 km Tiefe unter uns, davor und dahinter ist das Wasser 3 – 4 km tief. Immer wieder mal kommt mir die Vorstellung
in den Sinn, wie der Atlantik aussähe, wenn man das Wasser abgelassen hätte: steile Gipfel, tiefe Schluchten, Tafelberge
....
Gestern fiel eine Leuchtboje über Bord. Anlass für ein kräftezehrendes Beiliegemanöver. Die Boje ist wieder an Bord,
MOB2-Test erfolgreich bestanden.
Mit den Kräften hauszuhalten ist nicht einfach. Allein das Umsetzen der 45m² großen Genua bringt mich, wenn ich ohne
Hilfe an den Winschen arbeite, aus der Puste. Das Ein- oder Ausdrehen des Rollgroßes gibt mir den Rest. Immer wieder
müssen der Niederholer und die Sicherungsleinen versetzt werden. Die Genuaschot ist so aufgeraut und vom Salzwasser
steif, dass die Hände schmerzen. Ist wieder mal eine Schlechtwetterfront während unserer Wache durchgezogen und die
Manöver mussten zweimal gefahren werden, bin ich für den Rest des Tages reichlich ausgelaugt. Magda ist überhaupt zu
schwach für die Schoten und Winschen und Gunnar liegt mit starken Rückenschmerzen und durch Schmerzmittel sediert
seit 2 Tagen fast regungslos in der Koje und ist für die Steuerwache überhaupt nicht verfügbar, weshalb sich die schwere
Arbeit auf weniger Leute verteilt. Diese Tortur ist etwas für Menschen, die sonst gern in Steilwänden übernachten, mit
dem Fahrrad auf den Mont Ventoux fahren oder für den Iron Man trainieren.
Aber die Mischung aus Schlafentzug und Entkräftung soll jetzt aber bald ein Ende haben und dieses zeichnet sich vor
meinem geistigen Horizont auch schon ab: noch 10 Tage Fahrt sagen unsere Hochrechnungen.
Die Strapazen werden danach bald vergessen sein, denke ich mir und die schönen Momente werden sich im Gedächtnis
festsetzen, so ist es ja immer. Herrlich ist so mancher Sonnenauf- oder –untergang oder auch Mondaufgang.
Große Klasse war es heute morgen, in mondloser Nacht und bei bedecktem Himmel, also bei absoluter Finsternis und
Windstärke 6 in das Nichts hineinzurauschen. Ich hatte, um nicht von den schwachen Lämpchen geblendet zu werden,
noch die beleuchteten Instrumente abgedeckt und fast nichts außer Milliarden fluoreszierender Planktonpünktchen in
unserer Heck- und Achterwelle war noch zu erkennen. 5 – 7 Knoten, geschätzt rein nach dem Geräusch der (stark
gerefften) Takelage und nach dem Wind am Ohr. Zuviel Wind am linken Ohr bedeutet dann, stärker nach stb zu gehen.
Schule der Sinne. Hohe Schule des Hochseesegelns.
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MOB = „Mann über Bord“, wichtiges Segelmanöver in jeder Ausbildung
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49° West
Der Törn nähert sich immer mehr den Vorstellungen, die wir davon hatten. Wir hocken halbnackt im Cockpit oder
transpirieren schwer in der Koje. Oben sind es 32°C, unten gefühlte 50, noch mehr gibt es nur noch in der sogenannten
Kühlbox, deren Kühlfunktion natürlich dem Stromsparen geopfert wurde. Man kann sie nur noch mit angehaltenem Atem
öffnen.
Leider fahren wir wieder unter Motor, weil der Wind zu schwach ist, schon seit 50 Stunden. Täglich gibt es eine kurze
Badepause, Schwimmen in 3500 m tiefem Wasser, herrliche Erfrischung.
Der Wind hat stetig nachgelassen, die Tage und Nächte zuvor waren bedeckt und fast kühl, jedenfalls hatte ich gestern
Halsschmerzen und musste ein Aspirin nehmen. Auf dem gesamten Törn bisher benahm sich der Wind atypisch. Im
Bereich des NO-Passats sollte man doch vorrangig Winde aus NO erwarten, aber wir hatten N, O, vor allem SO und
einmal auch W. Sind das Auswirkungen des Klimawandels, ist bereits ein so grundlegendes Windsystem wie der Passat
nachhaltig gestört? Wie ist es sonst erklärlich, dass es statt eines stabilen Azorenhochs an seiner Stelle ein ausgeprägtes
Tief gibt, das alle benachbarten Windgebiete beeinflusst?
Vor Beginn der Flaute hatten wir einen riesigen Blue Marlin an der Angel, länger als einen Meter. Franz ist ja ein Bär von
einem Mann, er hatte stark mit ihm zu kämpfen. Leider riss im letzten Moment die 40 kg – Schnur und jetzt schwimmt ein
Fisch, der den Kampf gewonnen hatte, mit Haken und Leine in den Weiten des Ozeans. Am Abend gab es dann Tunfisch
aus Dosen.
Wenn der Motor läuft, steht genügend Strom zur Verfügung. Dann gibt es auch wieder kühle Getränke, dann überlassen
wir mal dem Autopilot das Ruder. Leider fing er gestern an stark zu rumpeln und versagte danach ganz seinen Dienst, die
Befestigung seiner Mechanik im GFK-Rumpf hatte sich gelöst. Also mussten etliche 20 l – Dieselkanister aus dem
Hohlraum unter der Backskiste hervorgeholt werden, um die Reparatur durchzuführen.
50° West
Gestern abend kam es noch einmal zu einer heftigen Auseinandersetzung. Franz war wohl der Meinung, wir tränken zu
viel Wein, konnte das aber nicht kommunizieren und warf kurzerhand die zweite Flasche über Bord. Gunnar und ich
reagieren extrem sauer. In diesem Stil möchten wir nicht mit uns umgehen lassen und machen das deutlich. Heute ist daher
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die Stimmung wieder unterkühlt. Innerhalb der Crew ist aber die Solidarität groß, wir verstehen uns und geben uns größte
Mühe, die Stimmung bis zum Schluss zu halten. Nur noch 600 sm bis zum Ziel, etwa 5 Tage.
Heute übte die neugegründete Gymnastikgruppe des „Transatlantik-Senioren-Törns“ (Franz) bereits zum zweiten Mal,
sicher amüsant für Außenstehende, aber wichtig bei den einseitigen Bewegungen, die wir seit Wochen vollführen.
Täglich erhalten wir per Iridium-Satellitentelefon eine SMS aus Hamburg mit den aktuellen Wetterinformationen und
senden einen knappen Situationsbericht zurück. Aufgrund unserer Positionsangaben ist der Törn für alle Welt auf einer
Internetseite nachvollziehbar. „Eines Tages werden wir über winzige batteriegespeiste Walkie-Talkies verfügen, die nicht
größer als ein Päckchen Zigaretten sind und Tausende von Meilen weit reichen, damit die Kameraden sich untereinander
verständigen können...“ schrieb Bernard Moitessier noch 1969.
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55° West
Heute ist ein schöner Tag. Er begann, wie so oft, mit einem spektakulären Sonnenaufgang. Ich kann mich nicht satt sehen
an der Vielzahl der weißen, hellgrauen, dunkelgrauen und rosafarbenen Wolken vor dem glutroten Hintergrund.
Abgesehen davon, dass die Kamera ausgefallen ist, lassen sich die vielfältigen Eindrücke ohnehin nicht festhalten. Wie in
einem Kaleidoskop entstehen in kurzen Abständen immer andere Sinneseindrücke und das vor einem 360°-Panorama.
Heute morgen zogen einige Regenschauer über uns hinweg und erfreuten uns mit zahlreichen Regenbögen. Tagsüber
verleiten die kilometerhohen Haufenwolken zum Erkennen von Figuren und Gegenständen, abends sind wir fasziniert,
wenn die riesigen weißen Gebilde vor strahlend blauem Hintergrund fast plötzlich zu grauen Formen vor rötlichem Grund
werden. Ich muss an die Seebilder der alten Niederländer denken, wie konnten sie ihre Himmel nur ohne fotografische
Vorlage malen, rein aus der Erinnerung?
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Das Steuern ist anstrengend. Kurz war die Freude darüber, dass wir mal Strom für den Autopiloten hatten, ab heute Nacht
blinkt wieder „low battery“. Es ist Neumond und durch die starke Bewölkung nachts zappenduster. Die Konzentration auf
die Instrumente ist sehr anstrengend, länger als 15 Minuten halten wir es nicht durch, um bei 20 kn Wind abwechselnd den
Schwimmkompass, Windrichtungsanzeiger, Windstärkemesser, die digitale Kursanzeige zu beobachten und ins Schwarze
zu segeln, immer in der Hoffnung, dass Deneb, Wega, Atair oder Scheat doch einmal durch die Wolkendecke blicken und
das Kurshalten erleichtern. Sirius ist wegen seiner Helligkeit häufiger sichtbar, aber er steht links hinten und eignet sich
nicht für unsere Zwecke.
Gestern hatten wir noch einmal Besuch von einem fliegenden Fisch an Bord. Heute grüßte uns bereits eine Möwe, erste
Vorbotin vom amerikanischen Festland, welches noch 350 sm entfernt ist, drei Tage, wenn es so gut weitergeht wie im
Moment. Vorhin ging wieder ein riesiger Dolfin an den Haken, die ersten Scheiben davon sind in der Nahrungskette
bereits eine Stufe höher gewandert. Die elegante zweigeteilte Schwanzflosse wird sich zu den anderen an der Flaggenleine
gesellen.
Wasser an Bord neigt sich angeblich dem Ende entgegen, Ursula hat eine Soll- / Ist-Bestandsliste erarbeitet, um den
Verbrauch zu kontrollieren. Der zweite Tank sei leer, sagt Franz. Nach meinen Berechnungen gibt es überhaupt keine
Wassernot und ich vermute wieder einmal eine pädagogische Maßnahme, weil einige zu duschen und Wäsche zu waschen
wagten, was zwar nicht verboten aber verpönt ist. Wir alle sind über alle Maßen sparsam, reinigen uns an der Badeleiter,
haben verdreckte Klamotten an und besonders Walther stinkt wie ein nasser Iltis, weil er sein T-shirt jetzt den fünften Tag
trägt.
Ich zähle die Tage und Stunden, bis ich mich in einem Hotel richtig reinigen kann, bis ich die von Fugenmasse, Schweiß,
Schmiere und Fischblut versauten Hosen wegwerfen und durch neue ersetzen kann. Schlichte Wörter wie Waschmaschine,
Frühstücksbuffet oder Schokoladeneis erhalten unter solchen Bedingungen einen völlig unbekannten Glanz.
Auch das „Joch“, wir nennen so die schwere Rettungsweste mit den Rettungsleinen und den Karabinern, möchte ich gern
loswerden. Wann immer wir den Niedergang hochgehen, besteht ja Tragepflicht für das schwere Joch. Es zerrt an den
Schultern, verhindert die Transpiration und sooft der Skipper nicht schaut, wird das Joch geöffnet oder abgelegt. Werde
ich es vermissen in meinem späteren Leben?
Gerade eben fliegt der gefüllte Wasserkessel scheppernd zu Boden, ansonsten ist das Segeln nahe dem Optimum. Schönes
Wetter und beständige Winde um 4 bft aus Ost, gelegentlich auch mehr und dann kommt Freude auf. Gerade das
Aussteuern von Böen macht mir viel Spaß, das kann ich gut. Auch das Shiften gelang heute bilderbuchmäßig.
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Nikolaustag. Heute werden überraschenderweise zwei Flaschen Sprite aus irgendeiner Bilgenkammer hervorgezaubert,
welch unerwartete Überraschung. Leider auf Umgebungstemperatur. Tags darauf ist Astrids Geburtstag, wieder gibt es
Überraschungen und zwar Mars, Bounty und Twix. Die Stimmung ist gut, wir Männer haben uns aus Solidarität mit dem
Hl. Nikolaus nicht rasiert, was aber angesichts der allgemeinen Hygienelosigkeit nicht weiter auffällt.
Abbildung 23: Brotteigkneten
60° West
Wieder ein Feiertag, und was für einer. Zweiter Advent, zu Hause verkriechen sie sich in den Wohnstuben, weil es
draußen saukalt ist. Gunnar wird heute 60 und um 16 Uhr überfahren wir den 60. Längengrad. Genügend Anlass für
Kaffee & Kuchen, Lindt Schokolade und La Paloma „Auf Matrosen, ohe, einmal muss es vorbei sein!“.
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Der Skipper ist launisch, redet heute nicht mit mir. Heute nacht ließ er die Segelstellung abbauen, die Gunnar und ich
geplant und ausgeführt haben. Dann merkte er, dass es so auch nicht geht, ließ uns noch ein paar Experimente durchführen,
um anschließend zu unserer ursprünglichen Version zurückzufinden.
Niemals, so mein fester Entschluss, werde ich mich wieder einem unbekannten Skipper aussetzen, niemals.
Alle Augen richten sich jetzt immer wieder nach vorn, wo stündlich Land erwartet wird. Wir sind noch 50 Seemeilen vor
Martinique, aber jetzt kommt kurz vor Sonnenuntergang noch ein heftiger Schauer und so bald wird also niemand „Land in
Sicht!“ rufen.
Abbildung 24: Land in Sicht! Martinique am Morgen
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Martinique
10. Dezember 2007. Auf sechs Meter Tiefe ist der Anker gefallen, wir sind da.
4500 Seemeilen ( 8500 km ) liegen hinter mir. In der Nacht war der Lichtschein von Martinique und Sta. Lucia am
Horizont deutlich auszumachen. Heute morgen tuckerten wir dann gemütlich in die Bucht von St. Anne, wo wir vor Reede
liegen, weshalb auch immer. Die Zeit hätte lange gereicht, um noch nach St. Lucia zu fahren, wie im Plan vorgesehen.
Nach dem Ankerlegen versinken erst einmal alle im Schlaf, von Euphorie ist gar nichts zu spüren, nicht einmal einen
Anlegertrunk gibt es. Mit der Crew der „Guanajo“ hätte es so was nicht gegeben, niemals. Diese Crew hier ist anders als
andere, spartanisch, leidensfähig, weniger lebenslustig.
12. Dezember. Auberge du Marin, Le Marin, Martinique
Es ist vorüber. Nach 44 Tagen auf See habe ich endlich wieder Land unter den Füßen, aber Martinique schwankt etwas.
Das ist im Moment das Wichtigste: Es ist geschafft. Der Stolz über das Erreichte, die Rückbesinnung über das
ungewöhnliche Abenteuer stellt sich vielleicht später ein. Alles was jetzt zählt, ist Wasser! Wäscherei! Bett! Magnum
Classic! Dusche! Gepolsterte Café-Stühle! Internet! Bewegung! Gekühlter Yoghurt!
St. Lucia
Mit der Fähre auf die Nachbarinsel ist es nur ein kleiner Sprung. Soufrières mit Blick auf Petit Piton ist ein Ort, der mir
zusagt und das „Hummingbird Beach Resort“ bietet alles, worauf ich in den letzten Wochen verzichten musste.
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Abbildung 25: Karibikidylle Soufrières auf St.Lucia
Aber von hier bis zum Amazonas ist es noch weit.
(Ende „Transatlantik“)
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