Zeit Akademie GmbH

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Unser Gehirn
Wie wir denken, lernen
und fühlen
Impressum
Autor: Prof. Dr. Onur Güntürkün
Wissenschaftliche Leitung: Matthias Naß
Redaktion: Ulrich Schnabel
Grafische Konzeption: Ingrid Wernitz
Infografik: Hansen/2
Umsetzung: Madlen Domann, Anja Kallendorf
Bildbearbeitung: Andrea Drewes
Korrektorat: Mechthild Warmbier (verantwortlich)
Satz und Reproduktion: Z
eitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG
Druck und Bindung: optimal media GmbH, Röbel
© ZEIT Akademie GmbH, Hamburg
Zeit Akademie GmbH
Vorwort
Der Mensch, das denkende Wesen – dies ist das erhabene Bild, das wir von uns
haben. Damit grenzen wir uns als Spezies ab, und das nicht ganz zu Unrecht.
Denn tatsächlich unterscheidet unser Denkvermögen uns signifikant von unseren nächsten Verwandten unter den Säugetieren. Wobei, und das ist dann doch
eine recht ernüchternde Erkenntnis, diese Überlegenheit eine rein quantitative
ist: Unser Gehirn, dieses Wunderwerk von eben mal 1,3 Kilogramm Gewicht,
enthält einfach mehr Nervenzellen als das Gehirn jedes anderen Lebewesens.
Deshalb hat sich der Mensch evolutionsgeschichtlich durchgesetzt, deshalb
konnte er sich die Erde untertan machen.
Aber wie funktioniert unser Gehirn? Wie lernen und wieso vergessen wir? Warum erinnern wir uns im Alter problemlos an die frühesten Erlebnisse unserer
Kindheit, vergessen jedoch, was gestern war. Lässt sich das Gehirn trainieren,
hilft »Gehirnjogging« gegen unsere Vergesslichkeit? Weiter gefragt: Haben wir
wirklich zwei unterschiedliche Gehirnhälften? Welche Fähigkeiten hat die linke,
welche die rechte Hälfte? Schließlich: Lässt sich Intelligenz messen, und ist der
Intelligenzquotient (IQ) dafür ein verlässliches Maß?
Die Hirnforschung versucht Antworten auf all diese Fragen zu finden. Einer der
herausragenden Vertreter des Faches ist Onur Güntürkün, Professor für Biopsychologie an der Ruhr-Universität Bochum. Seine Arbeiten, etwa zur Evolution
des Denkens bei Mensch und Tier oder zu den kognitiven Unterschieden zwischen den Geschlechtern, zeichnen sich dadurch aus, dass sie viele verschiedene
Perspektiven – psychologische, biologische und neurologische – verknüpfen. Anschaulich und verständlich präsentiert er in dieser Vorlesungsreihe die neuesten
Erkenntnisse der Hirnforschung.
Wir hören ihm zu – und Milliarden Nervenzellen beginnen zu arbeiten, unsere
Synapsen wandeln sich, Gedächtnis entsteht. Wir können uns in dieser Vorlesungsreihe gewissermaßen selbst beim Denken beobachten. Ein tolles Erlebnis!
Ich heiße Sie bei der ZEIT Akademie herzlich willkommen!
Ihr
Matthias Naß
Wissenschaftlicher Leiter der ZEIT Akademie
Inhalt
Lektionen 1–3
Lektion 1: Ein einzigartiges Organ
Warum unser Gehirn so besonders und
so enorm leistungsfähig ist
21
Lektion 2Wie wir die Welt wahrnehmen
Von der Repräsentation der Welt in unserem Kopf
27
Lektion 3Wie lernen wir?
Vom Einfluss der äußern Umstände
34
Lektionen 4–6
Lektion 4Wie funktioniert mein Gedächtnis?
Die ausgefeilte Verarbeitung unserer
Erinnerungen
43
Lektion 5Wie Erinnerungen entstehen
Warum wir Wichtiges vergessen und
mitunter Falsches behalten
49
Lektion 6Wenn das Gedächtnis versagt
Wie es zu geistigen Ausfällen kommt und
was man dagegen tun kann
54
Lektionen 7–9
Lektion 7Was macht ein Gehirn intelligent?
Warum manche schneller denken und
Intelligenz kein Schicksal ist
63
Lektion 8Vom Wert der Emotionen
Warum Gefühle so wichtig sind
68
Lektion 9Das asymmetrische Gehirn
Warum wir links und rechts so
unterschiedlich denken
75
Lektion 10
Lektion 10Können Hirnforscher Gedanken lesen?
Von den Möglichkeiten und Grenzen
einer spannenden Disziplin
Anhang
Lebensläufe
Bildnachweise
83
93
96
Lektionen 1–3
Lektion x
Lektion 1
Ein einzigartiges Organ
Warum unser Gehirn so besonders und
so enorm leistungsfähig ist
Wir sind unser Gehirn. Alles was wir sehen, hören oder fühlen, all unsere Gedanken, Erinnerungen und Pläne für die Zukunft – all das findet in unserem
Gehirn statt. Wie ist es möglich, dass ein biologisches Organ von gerade einmal
1,3 Kilogramm Gewicht das gesamte Innenerleben eines Menschen erzeugen
und verarbeiten kann? Um diese zentralen Frage geht es in diesem Seminar.
Die Hirnforschung beschäftigt sich mit grundlegenden Aspekten unseres
Menschseins. Sie erklärt uns beispielsweise, wie wir lernen und weshalb unsere
Spezies so ungeheuer lernfähig ist; sie erkundet, wie das Gedächtnis funktioniert
und weshalb es mitunter versagt – aber auch, wie man sein Gedächtnis trainieren kann. Denn eine der Erkenntnisse der modernen Neurobiologie lautet, dass
unser Gehirn enorm »plastisch« ist, das heißt, dass es sich je nach Denktätigkeit
in Form und Funktion verändern kann. Deshalb ist es auch in vielerlei Hinsicht
trainierbar: Gedächtnis und Erinnerungsfähigkeit lassen sich in gewissem Rahmen ebenso schulen wie Intelligenz oder Wahrnehmungsfähigkeit. Man kann
auch sagen: Unser Denkorgan hält immer wieder Überraschungen für uns bereit.
Wie schafft das Gehirn all dies?
Zunächst einmal ein paar Zahlen und Fakten: In unserem Gehirn befinden sich
circa 100 Milliarden Nervenzellen (Neuronen), die insgesamt eine Billiarde Verbindungsstellen (Synapsen) aufweisen. Und fast alle diese Synapsen können sich
verändern und somit den Informationsfluss in unserem Gehirn steuern. Wenn
wir neue Erfahrungen machen, wandeln sich Synapsen. Dadurch lernen wir, dadurch entsteht Gedächtnis.
20
21
Lektion 1
Bereits während Sie diese Sätze lesen, sind Milliarden Nervenzellen Ihres Gehirns aktiv, um neue Eiweiße herzustellen, mit denen die Synapsen Ihres Gehirns verändert werden. Neue Verbindungen entstehen, andere gehen unter;
Ihr Gehirn, Ihr Denken verändert sich in diesem Augenblick. Deshalb ist auch
der gern gezogene Vergleich zwischen dem Gehirn und einem Computer nicht
stimmig: Denn das Gehirn kennt keine Software; es ist gewissermaßen nur
Hardware, aber eine Hardware, die sich ständig selbst verändert.
Dieses faszinierende Organ hat eine Evolutionsgeschichte von mehreren Hundert Millionen Jahren. Was das menschliche Gehirn auszeichnet, erkennen
wir im Vergleich mit den Gehirnen anderer Tiere. Zunächst gibt es da viele
Gemeinsamkeiten: Menschen sind Säugetiere, die zusammen mit Vögeln,
Reptilien, Amphibien und Fischen zu den Wirbeltieren gehören. Und deren
Gehirne haben einen ziemlich standardisierten Aufbau: Rückenmark, Stammhirn und Kleinhirn kommen bei allen Wirbeltieren vor, auch beim Menschen.
Was hingegen speziell die Säugetiere auszeichnet, ist der sogenannte Cortex
im Vorderhirn, der aus einer sechsschichtigen Rinde besteht und den man im
Deutschen auch häufig »Hirnrinde« nennt. Hier finden alle »höheren« Denkprozesse des Menschen statt.
▼
Da sich der Cortex weder in den Gehirnen von Vögeln noch von Reptilien,
Amphibien oder Fischen findet, nahmen Wissenschaftler lange an, dass die
kognitiven Fähigkeiten der Säugetiere einzigartig seien. Mittlerweile wissen
wir: Diese Sicht ist wahrscheinlich falsch. Das Vorderhirn von Vögeln besteht
aus denselben Zelltypen wie der Cortex der Säugetiere. Einziger Unterschied:
Das Vorderhirn der Vögel ist nicht geschichtet. So ist vermutlich nur der sechsschichtige Aufbau des Cortex typisch für Säugetiere, nicht aber das Hirngewebe selbst.
22
Blick ins Gehirn: Kegelförmige
Synapsen verbinden die Vielzahl
der Nervenzellen miteinander
Corbis; Science Picture
Und was erklärt unsere kognitive Überlegenheit gegenüber anderen Säugetieren? Die Antwort: Wir Menschen haben die meisten Nervenzellen im Cortex.
Selbst Säugetiere mit einem größeren Cortex, etwa Elefanten oder einige Walarten, besitzen in ihrer voluminösen Hirnrinde weniger Neuronen als Menschen. Die Hirnforschung beschert uns also die ernüchternde Einsicht, dass
unsere menschlichen Denkfähigkeiten nicht auf einem einzigartigen Gehirn
beruhen, sondern auf rein quantitativer Überlegenheit. Mehr nicht. Doch das
genügt.
Literaturhinweise
• Onur Güntürkün,
»Biologische Psychologie«;
Hogrefe Verlag 2012
• Lutz Jäncke,
»Lehrbuch Kognitive
Neurowissenschaften«;
Huber 2013
• Eric Kandel,
James Schwartz,
Thomas Jessell,
»Neurowissenschaften:
Eine Einführung«;
Spektrum der Wissenschaft
Verlag 2012
• Richard Thompson,
»Das Gehirn: Von der Nervenzelle zur Verhaltenssteuerung«;
Spektrum der Wissenschaft
Verlag 2010
23
Lektion 1
Blicken wir etwas genauer ins Gehirn:
Es besteht im Wesentlichen aus zwei Zelltypen, den Neuronen (Nervenzellen)
und den Gliazellen. Die Anzahl der Gliazellen ist mindesten zehnmal so hoch
wie die der Neuronen. Doch Letztere leisten die Informationsverarbeitung.
Und auch wenn Neuronen zum Teil sehr unterschiedlich aussehen, sind ihre
Funktionsmechanismen nahezu immer gleich, sowohl bei Menschen wie Tieren. Daher können Forscher die neuronalen Mechanismen bei Schnecken oder
Tintenfischen untersuchen und daraus Schlussfolgerungen für das Gehirn von
Menschen ziehen. Wahrscheinlich stammen sogar alle existierenden Nervenzellen von einem gemeinsamen Vorfahren ab, der vor fast einer Milliarde Jahren
lebte. Die Geschichte der Informationsverarbeitung ist also fast so alt wie das
Leben selbst. Um diese Geschichte zu verstehen, betrachten wir jetzt eine Nervenzelle im Detail:
Das Soma ist das Herz der Zelle. Hier sitzt die genetische Information. Sie wird
ständig an verschiedenen Stellen abgelesen, um Proteine (Eiweiße) für die lernabhängige Umgestaltung der Zellstruktur herzustellen und an die jeweiligen
Orte zu verschicken.
Die Dendriten sind quasi die Antennen der Nervenzellen, mit denen diese Informationen von Tausenden anderen Nervenzellen empfangen.
Lektion 1
Ein Axon ist ein Nervenzellfortsatz, über den Informationen an andere Nervenzellen weitergegeben werden. Am Beginn des Axons, dem Axonhügel, entscheidet
sich, ob das Neuron aktiv wird oder nicht. Nervenzellen können ununterbrochen
Zehntausende von Informationseinheiten an ihren Dendriten integrieren – doch
nur aus manchen entsteht am Axonhügel ein Aktionspotenzial, aus anderen
nicht. Im ersten Fall wandeln die Neuronen am Axonhügel ein analoges in ein
digitales (elektrisches) Signal um. Dieses läuft dann mit großer Geschwindigkeit
das Axon entlang in Richtung von anderen Neuronen, die dieses Signal empfangen.
Die Synapse am Ende des Axons dient als Kontaktstelle zu einem anderen Neuron. Dabei muss die Information einen winzigen Spalt überwinden, der etwa
ein fünfzigstel Millimeter breit ist. Das elektrische Signal muss also wieder in
ein chemisches umgewandelt werden: Das eintreffende Aktionspotenzial führt
zur Freisetzung von Botenstoffen (Neurotransmittern). Diese diffundieren durch
den synaptischen Spalt und aktivieren auf der anderen Seite Rezeptoren, die
▼
1 Aktionspotenzial
Zeitpunk t
Dendriten
Signaltransport: Durch chemische
Veränderungen entsteht ein
elektrisches Signal, das dann das
Axon entlangläuft
A xo n
A xo n h ü g e l
Soma
Z e l l ke r n
Sy n a p s e
Na+-Kanäle
werden refraktär
N a +- I o n e n
fließen ein
▼
Eine Nervenzelle (Neuron)
leistet die Informationsverarbeitung
und ist zugleich Empfänger, Filter
und Sender.
24
25
wiederum zu einer elektrischen Erregung des nächsten Neurons führen. Dabei
gibt es wahrscheinlich an die hundert Neurotransmitter und mehrere Hundert
Rezeptoren – das Gehirn ist gewissermaßen ein vielsprachiges System, in dem
verschiedene Botenstoffe auf engstem Raum unterschiedliche Nachrichten austauschen, ohne dass sich die jeweiligen Signale gegenseitig stören.
Zusammengefasst kann man sagen: Unser Gehirn ist gerade deshalb so effizient,
weil es nicht wie ein Computer funktioniert. Es ist vielmehr eine elektrisch
leitende Hardware, die sich ununterbrochen selbst umbaut und auf diese Weise
Erfahrungen speichert. Dabei können Informationen superparallel und auf vielfältige Weise zugleich verarbeitet werden. Zugleich optimiert sich das Gehirn
ständig selbst: Synapsen, die ein wichtiges Signal übermitteln, werden gestärkt,
andere geschwächt. Und schließlich ist der neuronale »Speicherplatz« – insbesondere in so großen Gehirnen wie dem des Menschen – nahezu unbegrenzt. Es ist
fürwahr ein einzigartiges Organ.
Fakten
Gehirne bestehen aus Milliarden von Nervenzellen, die durch Billionen
von Synapsen miteinander verbunden sind.
Nervenzellen sind in der Lage, ihre Synapsen durch Erfahrungen zu verändern. Dadurch werden Synapsen zu Speichern vergangener Erfahrungen.
Nervenzellen arbeiten elektrisch. Wird die Nervenzelle erregt, kann
dies ein Aktionspotenzial erzeugen, das an einem Axon entlangzieht und
weiter entfernt liegende Nervenzellen aktiviert.
Neben der digitalen (elektrischen) Sprache des Aktionspotenzials beherrscht
das Gehirn auch noch eine Vielzahl analoger (chemischer) Sprachen.
Gehirne verarbeiten Information parallel und somit eine enorme Informationsmenge zeitgleich.
26
Lektion 2
Wie wir die Welt wahrnehmen
Von der Repräsentation der Welt
in unserem Kopf
Optische Täuschungen verblüffen uns immer wieder. Sie sind nicht nur unterhaltsam, sondern machen uns zugleich klar, wie leicht sich unsere Wahrnehmung täuschen lässt. Mitunter sehen wir Dinge, die gar nicht vorhanden sind,
ein andermal sind wir gegenüber Offensichtlichem blind. Woran liegt das? Warum sehen, hören oder fühlen wir die Welt nicht exakt so, wie sie tatsächlich ist?
Nehmen wir zum Beispiel das Bild mit dem Zylinder, der auf einem schachbrettartigen Fundament steht (Schachbrett 1). Würden Sie glauben, dass die Quadrate
A und B gleich hell sind? Wahrscheinlich nicht. Dass A und B tatsächlich dieselbe Helligkeit haben, erkennt man, sobald man sie durch eine Brücke verbindet
(Schachbrett 2). Warum aber nehmen wir sie dann so verschieden wahr? Der
Grund ist, dass unser Gehirn in vielen Millionen Jahren eine Evolution durchlaufen und dabei gelernt hat, dass Schatten in der Regel einen Gegenstand verdunkeln. Es geht also davon aus, dass Feld B »eigentlich« heller sein muss, als es
erscheint, und korrigiert dementsprechend den Sinneseindruck: Das Feld wird
in unserer Wahrnehmung aufgehellt – obwohl es tatsächlich genauso dunkel ist
wie Feld A.
Dieses Beispiel illustriert ein generelles Prinzip: Unser Gehirn nimmt die Welt
niemals »roh« und unverfälscht wahr, sondern bezieht stets sein Vorwissen darüber mit ein, wie die Dinge üblicherweise sind. Denn das hat sich im Laufe der
Evolution ausgezahlt: Diejenigen unserer Vorfahren, deren Gehirne zum Beispiel Oberflächen im Schatten heller haben erscheinen lassen, konnten sich in
kritischen Situationen besser auf ihre Wahrnehmung verlassen und richtigere
Entscheidungen treffen, weil ihnen die Gegenstände in der Sonne und diejenigen
im Schatten ähnlich hell erschienen. Wir sind die Nachkommen dieser Lebewesen und besitzen somit ein Gehirn, das unsere Wahrnehmung durch solche
▼
Lektion 1
A
B
Schachbrett 1
Schachbrett 2
27
Lektion 2
Warum ist die Landkarte unseres Körpers so verzerrt? Ganz einfach: Die Rezeptoren für unseren Tastsinn weisen in wichtigen Körperbereichen, wie zum
Beispiel in den Fingern oder der Zunge, eine hohe Dichte auf. In weniger wichtigen Bereichen, wie dem Rumpf und den Beinen dagegen, finden sich deutlich
weniger Rezeptoren. Deshalb können zum Beispiel auch blinde Menschen mit
ihren Fingerspitzen Blindenschrift ertasten. Müssten sie dies mit ihrem Rücken
machen, müsste die Blindenschrift viel größer sein, da durch die niedrige Dichte
von Tastrezeptoren auf dem Rücken unsere Auflösung dort viel schlechter ist.
In der Großhirnrinde werden allerdings die ungleich verteilten Hautrezeptoren
äquidistant abgebildet, das heißt, die zugehörigen Neuronen sind alle in gleichem Abstand angeordnet. Dadurch nehmen privilegierte Körperbereiche wie
Finger und Mund im Gehirn einen enorm großen Raum ein, sie werden gleichsam aufgebläht, während Rumpf und Beine wie winzige Anhängsel wirken. Für
die Effizienz unseres Tastgefühls ist dies von großem Vorteil, leider aber hat diese
Organisation auch einen großen Nachteil: Wenn es zu Verletzungen in einem der
primären sensorischen Areale kommt, werden mit größerer Wahrscheinlichkeit
genau jene (übergroßen) Bereiche unserer Wahrnehmung geschädigt, in denen
wir besonders sensibel und auf die wir besonders angewiesen sind. Dieses zweischneidige Prinzip gilt übrigens nicht nur für unseren Tastsinn, sondern genauso
für Seh- und Hörsinn.
▼
Die Repräsentation des Körpers
im Gehirn ist verzerrt:
Sensible Partien (Zunge, Mund,
Hand) erscheinen größer
Korrekturmaßnahmen ständig unterstützt. Und meist nehmen wir diese Tricks
unseres Gehirns gar nicht wahr, sondern bemerken sie erst, wenn sie sich durch
geschickt konstruierte optische Täuschungen offenbaren.
Das gilt nicht nur für den Sehsinn, sondern für alle unsere fünf Hauptsinne
(Sehen, Hören, Fühlen, Riechen, Schmecken). Keiner von ihnen bietet uns einen
völlig unverfälschten Zugang zur Welt, sondern durchläuft stets eine Art Interpretationsfilter im Gehirn. Dabei werden die Informationen, die durch unsere
Sinne strömen, auf Landkarten im Gehirn abgebildet ­– in Bereichen, die wir
»primäre sensorische Areale« nennen. Allerdings bilden diese Bereiche unserer
Hirnrinde die Wahrnehmung merkwürdig verzerrt ab. Bestes Beispiel dafür ist
die Repräsentation unserer Körperoberfläche auf der Hirnrinde, im sogenannten
sensomotorischen Cortex. Diese Bild ist keinesfalls realitätstreu: Der Oberkörper
und die Beine sind eher zu klein repräsentiert, jene Organe dagegen, die für die
Welterfahrung wichtig sind – wie die Zunge, die Lippen, aber auch die Hände –,
überproportional groß repräsentiert.
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Wie aber transformiert man chemische Sinne (Geruch, Geschmack) in eine kortikale Landkarte? Dafür kennt unser Gehirn einen genialen Trick, den man am
besten anhand des Geruchssystems erläutert. Alles, was wir riechen können, besteht aus einem Gemisch verschiedener Geruchskomponenten. In unserer Riechschleimhaut in der Tiefe unserer Nasengänge befinden sich Rezeptoren, die auf
jeweils eine Geruchskomponente spezialisiert sind (in der nebenstehenden Abbildung ist das schematisch dargestellt). Dabei ziehen die Axone der Riechrezeptoren durch das Siebbein in unser Gehirn und bilden Synapsen im Riechkolben.
Wenn man genau hinschaut, erkennt man, dass die gleichfarbigen Axone jeweils
in ein kugelförmiges Gebilde namens Glomerulus ziehen. Hier sammeln sich
also die Geruchsinformationen jeweils einer Geruchskomponente. Die Informationen dieser Komponente werden über Mitralzellen an weitere Stationen der
Geruchsverarbeitung weitergeschickt.
Für jede von uns Menschen wahrnehmbare Geruchskomponente gibt es im
Riechkolben viele Glomeruli. Wenn man zum Beispiel Kaffee riecht, werden einige Dutzend Geruchskomponenten aktiviert (schematisch als zwei Komponenten gelb und blau dargestellt) – und diese bilden ein ganz spezifisches Muster im
Riechkolben. Dieses Muster ist ebenso einzigartig für den Geruch von Kaffee
Literaturhinweise
• Oliver Sacks:
»Das innere Auge.
Neue Fallgeschichten«;
rororo 2012
• Thomas Ditzinger:
»Illusionen des Sehens.
Eine Reise in die Welt der
visuellen Wahrnehmung«;
Springer 2013
• Hanns Hatt,
Regine Dee:
»Das kleine Buch vom Riechen
und Schmecken«;
Knaus 2012
• Jochen Müsseler:
»Visuelle Wahrnehmung, in:
Allgemeine Psychologie«,
Jochen Müsseler (Hrsg.);
Spektrum 2007 15–57.
29
Lektion 2
wie für Zimt- oder Rosenduft. Jedes zu riechende (und zu schmeckende) Objekt ist also für unser Gehirn ein individuelles Fleckenmuster. Man könnte auch
sagen: Unser Denkorgan verwandelt Gerüche in Bilder – und zwar Bilder, die an
Gemälde von Jackson Pollock erinnern.
B u l b u s o l f a c to ri u s
▼
Mitralzelle
Der Riechkolben (Bulbus
olfactorius) ist ein kleines Areal an
der vorderen Basis des Gehirns
Glomerulus
Lektion 2
Ganz allgemein gilt: Wahrnehmungen sind aus Sicht unseres Gehirns Aktivierungsmuster auf der Oberfläche des Cortexes. Für unser Sehen und Fühlen ist
das leicht zu verstehen, da die Bilder, die wir sehen, und die Berührungen auf
unserer Haut leicht als visuelle oder taktile Landkarte abgebildet werden können. Auch wenn diese Karte verzerrt ist, bleibt sie dennoch eine Landkarte. Bei
unserem Hören besteht diese Landkarte aus Frequenzfolgen. Und wie sich am
Beispiel des Riechens zeigt, können sogar Gerüche und in gleicher Art und Weise
auch Geschmacksinformationen als Aktivierungskarten auf unserem Cortex repräsentiert werden. Der Unterschied zwischen diesen Aktivierungskarten und
der Welt »da draußen« ist dabei ähnlich groß wie jener zwischen einer Landkarte
und der tatsächlichen, realen Landschaft. Überraschungen nicht ausgeschlossen.
Siebbein
Riechschleimhaut
Fakten
Zilien
Alle fünf Hauptsinne bilden jeweils eigene sensorische Karten auf der
Oberfläche unseres Cortex aus.
▼
Der Aufbau des Riechkolbens
in der Vergrößerung
Diese sensorischen Karten sind verzerrt. Bereiche mit vielen, eng
zusammenstehenden Rezeptoren werden im Gehirn überrepräsentiert,
Bereiche mit wenigen, locker verteilten Rezeptoren dagegen unterrepräsentiert. So wird die Wahrnehmung effizienter, die sensiblen übergroßen Bereiche sind aber auch anfälliger bei Verletzungen.
▼
Jeder Geruch bildet ein spezifisches
Muster im Riechkolben
30
Unsere Wahrnehmung bildet die Welt nicht exakt so ab, wie sie ist.
Vielmehr bezieht sie unsere subjektive Wahrnehmung mit ein und das
Vorwissen um die physikalischen Regelmäßigkeiten der Natur.
Kaf fe ZimtRosen
Beim Geruchssinn werden einzelne Geruchskomponenten getrennt wahrgenommen und dann separat als Fleckenmuster repräsentiert. Jedes
Objekt, das wir riechen, aktiviert dann einen ganz bestimmten Teil dieses
Musters. Ganz ähnlich erfolgt die Repräsentation von Geschmack.
31
Lektion 2
32
▼
▼
Simultanes Streicheln
der Gummihand und der
echten Hand suggerieren,
dass die Gummihand zum
Körper gehört.
Stresstest
Was passiert bei drohendem Schmerz, wenn ein
Hammer auf die Gummihand trifft?
Der drohende Schmerz
hat unseren Redakteur
Ulrich Schnabel zurückschrecken und die Hand
wegziehen lassen. Er hatte
die Gummihand als seine
eigene dritte Hand wahrgenommen und versuchte
sie zu schützen.
▼
Versuchsaufbau
ZEIT-Redakteur Ulrich
Schnabel sieht seinen
eigenen Arm und den
Gummiarm bis zur Hand
abgedeckt vor sich liegen.
Welche Hand ist die richtige? Das Gehirn löst den
Konflikt, indem es beide
»rechten Hände« als Teil
des Körpers akzeptiert.
▼
Die gefühlte dritte Hand
Ein Experiment zur
Wahrnehmungstäuschung
▼
Experiment
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Lektion 3
Wie lernen wir?
Vom Einfluss der äußeren Umstände
Das Gehirn ist eine gewaltige Lernmaschine. Ständig speichert es Informationen. Wie ein rastloser mentaler Staubsauger saugt es Bilder, Worte, Bewegungen,
Informationen auf und verwandelt einen Teil davon in Gedächtnis. Doch nicht
immer bleibt das Wichtigste hängen. Wir alle kennen das Gefühl, dass wir uns
zuweilen an belanglose Dinge erinnern, während wir Wichtiges vergessen. Wie
also funktioniert Lernen und wie funktioniert Gedächtnis?
Schon im ersten Kapitel war die Rede von der »synaptischen Plastizität«. Damit
bezeichnet man die Fähigkeit der Kontaktstelle (Synapse), sich zu verändern,
wenn etwas Neues gelernt wird. Wenn sie ein wichtiges Signal übermittelt, wird
diese Verbindung zwischen zwei Nervenzellen gestärkt, wenn sie dagegen selten
benutzt wird, wird sie geschwächt. Das ist die morphologische Grundlage der
Gedächtnisbildung.
Zwar kann auch eine kleine, schwach ausgebildete Synapse Informationen von
einem Neuron zum nächsten übertragen; doch die Erregung, die sie beim empfangenden Neuron verursacht, ist meist zu schwach, um ein Aktionspotenzial
auszulösen. Eine starke Synapse hingegen ist dazu wesentlich besser in der Lage.
Wird also eine Kontaktstelle beim Abspeichern einer Information verstärkt, wird
sie mit größerer Wahrscheinlichkeit beim empfangenden Neuron ein Aktionspotenzial erzeugen. Das bedeutet: Diese gespeicherte Gedächtnisspur kann andere
Neuronen aktivieren und dadurch unser Denken und Verhalten modifizieren.
Diese lernabhängige Veränderung von Synapsen kann man heute sogar im Tierexperiment sichtbar machen. Man kann regelrecht zuschauen, wie etwa einzelne
Synapsen in einem Mäusegehirn ihre Form ändern oder größer werden. Zwar
ist es unmöglich, solche Detailaufnahmen auch im menschlichen Gehirn zu
machen. Aber da die Prinzipien dieser Modifikationen von Schnecke bis Ratte
absolut gleich sind, können wir davon ausgehen, dass Ähnliches auch für uns gilt.
34
Untersuchungen zum Lernen zeigen überdies, dass monatelanges oder sogar jahrelanges Üben von Handlungen diejenigen Bereiche des menschlichen Gehirns
vergrößert, die die Erinnerungen speichern. Dieser Effekt entsteht wahrscheinlich
durch die gemeinsame Vergrößerung von Milliarden am Lernen beteiligter Synapsen.
Doch welche Ereignisse verändern nun unsere Synapsen in lernabhängiger Art
und Weise und welche tun das nicht? Mit anderen Worten: Wie identifiziert
unser Gehirn jene Ereignisse, die wichtig sind und die es sich merken soll?
Eines der wichtigsten Kriterien dafür ist die sogenannte Erwartungsverletzung:
Immer, wenn etwas Unvorhergesehenes geschieht, wird das Gehirn besonders
aktiv. Nehmen wir ein simples Beispiel: Dass abends um 20 Uhr beim Beginn der
Tagesschau ein Sprecher oder eine Sprecherin uns mit den Worten »Guten Abend,
meine Damen und Herren« begrüßt, fällt uns in der Regel nicht besonders auf.
Denn da dies jeden Abend passiert, registrieren wir diese Begrüßung gar nicht
mehr. Sie geht unter im gleichförmigen Strom der erwartbaren Begrüßungsformeln. Würde uns aber eines Abends eine Sprecherin im Trachtenkleid mit einem
fröhlichen Jodler begrüßen, erlebten wir das als eine deutliche Erwartungsverletzung. Diese Begrüßung würden wir uns sofort merken und könnten uns noch
Jahre später daran erinnern. Lernen findet also vor allem dann statt, wenn etwas
Überraschendes passiert.
Solche Erwartungsverletzungen werden im Gehirn durch den Botenstoff Dopamin kodiert. In unserem Hirnstamm befindet sich eine kleine Gruppe von Nervenzellen, die den Neurotransmitter Dopamin nutzt und mit ihren Axonen weite
Teile des Gehirns beeinflusst. Dieses »dopaminerge System« setzt den Botenstoff
immer dann frei, wenn etwas Überraschendes geschieht. Und der Transmitter
Dopamin wiederum beeinflusst die Arbeit von vielen benachbarten Synapsen.
Stellen wir uns beispielsweise vor, dass in der Nähe einer Dopaminsynapse sich
eine weitere Synapse befindet, die die Information über den Klang des Jodelns
der Tagesschau-Sprecherin übermittelt. Da das Jodeln überraschend kommt, wird
Dopamin freigesetzt und verstärkt nun die Synapse, die das Jodeln verarbeitet.
Dadurch verfügt die Information »Tagesschau-Sprecherin jodelt« nun über eine
effektivere Synapse und wird besser erinnert. Da bei dem hohen Überraschungsgrad dieses Ereignisses nicht nur eine, sondern wahrscheinlich Millionen von
beteiligten Synapsen durch Dopamin verstärkt werden, bildet sich ein stabiles
Gedächtnis von diesem einmaligen Ereignis.
Literaturhinweise
• Sarah-Jayne Blakemore,
Uta Frith,
»Wie wir lernen:
Was die Hirnforschung
darüber weiß«;
DVA 2006
• Hans-Otto Karnath,
Georg Goldenberg,
Wolfram Ziegler,
»Klinische Neuropsychologie –
Kognitive Neurologie«;
Thieme 2014
• Josef Dudel,
Randolf Menzel,
Robert F. Schmidt,
»Neurowissenschaft:
Vom Molekül zur Kognition«;
Springer 2012
• James E. Mazur,
»Lernen und Verhalten«;
Pearson 2006
35
2 4 J a h r e
4 4 J a h r e
86 Jahre
Diese Art des Gedächtnisses nennen Psychologen snapshot memory, weil es ein
bestimmtes Ereignis wie ein mit Blitzlicht fotografiertes Bild in unserem Gedächtnis einfriert. Ein bekanntes Beispiel dafür ist der Angriff auf das World
Trade Center am 11. September 2001: Die meisten Menschen können sich noch
sehr gut daran erinnern, was sie taten und wo sie gerade waren, als sie erstmals
von diesem extrem erwartungsverletzenden Ereignis hörten.
Lektion 3
Das Prinzip der snapshot memories hat noch eine weitere, wichtige Implikation.
Wenn wir zum Beispiel für eine Prüfung einen Text auswendig lernen, dann
memorieren wir nicht nur den Text selbst, sondern zugleich auch die Umstände
des Lernens – etwa den Ort, an dem wir uns befinden, die Zeit, das Hintergrundgeräusch et cetera. Und genau diese Zusatzinformationen können uns
später helfen, uns in der Prüfung an den Text zu erinnern. Wir müssen uns
dazu nur alle Umstände des Lernens möglichst plastisch in Erinnerung rufen;
das aktiviert dann die gesamte abgespeicherte Information und erleichtert so
das Abrufen des Textes.
▼
Im Laufe des Alters nimmt die
Dichte der Dopaminrezeptoren
(gelb/rot) ab, es fällt immer
schwerer, Neues zu lernen
Leider sterben im Verlauf des Alterns immer mehr dopaminerge Zellen. Das
zeigt sich auf sehr beeindruckende Art und Weise, wenn man Gehirne verschiedener Altersstufen untersucht: Man stellt fest, dass die Dichte der Dopaminrezeptoren im Laufe des Lebens kontinuierlich abnimmt. Das heißt nicht, dass
ältere Menschen nichts Neues mehr lernen könnten; aber es bedeutet, dass die
Effizienz des Lernens abnimmt, weil die Kodierung der Erwartungsverletzung
nicht mehr massiv in alle beteiligten Hirnregionen übermittelt werden kann.
Beim Lernen tritt noch ein wichtiges Phänomen auf: Häufig wird nicht nur ein
bestimmtes überraschendes Ereignis gelernt, sondern auch alles, was damit zusammenhängt. Nehmen wir zum Beispiel an, Sie hätten sich an jenem Abend,
bevor sie die Tagesschau einschalteten, ein Käsebrot geschmiert. Normalerweise
hätten Sie das wahrscheinlich schon wenige Tage später vergessen und könnten
nicht mehr sicher angeben, ob sie zur Tagesschau ein Käsebrot gegessen haben
oder nicht. Wenn nun allerdings die jodelnde Tagesschau-Sprecherin im Gehirn
eine Erwartungsverletzung auslöst, wird auch ihr Käsebrot in den Genuss der
entsprechenden Dopaminverstärkung kommen. Denn der Botenstoff Dopamin
verstärkt sämtliche Synapsen, die mit dieser überraschenden Episode in Zusammenhang stehen, und dazu gehören nun einmal alle Dinge, die in diesem Augenblick in Ihrem Gehirn als Information übermittelt werden inklusive Käsebrot.
36
Fakten
Synapsen können ihre Größe und somit ihre Effektivität abhängig
vom Lernen verändern. Sie fungieren dann als Gedächtnisspeicher
für das Erlernte.
Gelernt wird vor allem das Überraschende, welches eine Erwartungsverletzung mit sich bringt.
Dopamin ist ein Neurotransmitter, der Erwartungsverletzungen kodiert.
Die Ausschüttung von Dopamin bei einem überraschenden Ereignis
führt zur Verstärkung derjenigen Synapsen, die das überraschende
Ereignis verarbeiten.
Doch nicht nur das Ereignis selbst, sondern auch die Umstände des
Ereignisses werden mitgelernt und sind dann Teil der Gesamterinnerung.
Die Summe der durch das Lernen größer werdenden Synapsen in einer
Hirnregion kann zu einer Volumenvergrößerung dieses Areals führen.
37
Lektion 3
38
▼
▼
Der Unterschied:
Die Orte, an denen gelernt
wird, und die Orte, an
denen das Gelernte abgerufen wird, variieren.
Der dritte Taucher
lernt unter Wasser und
wird an Land befragt, der
vierte hingegen lernt an
Land und wird an Land befragt. Auch in diesem Fall
ist der Taucher, bei dem
Lernumgebung und der Ort
der Wiedergabe identisch
sind, deutlich besser.
Nicht nur das Gelernte
selbst, auch die Umgebung
wird mitgelernt und Teil der
Erinnerung. Diese zusätzlichen Informationen helfen,
das Gelernte abzurufen.
▼
Vier Taucher stehen
am Rand eines Sees, sie
bekommen alle die gleiche
Aufgabe. Ihnen werden
40 Silben vorgelesen, und
sie sollen nach kurzer
Zeit wiederholen, woran sie
sich erinnern.
▼
Welchen Einfluss hat unsere Umgebung
auf das Lernen?
Das Taucherexperiment
So lernt der erste Taucher
an Land und wird unter
Wasser gefragt, an wie
viele Silben er sich erinnert.
Der zweite Taucher bekommt die Informationen
unter Wasser und wird
auch unter Wasser befragt.
Der zweite erzielt ein
deutlich besseres Ergebnis.
▼
Experiment
39
Lektionen 4–6
Lektion x
Lektion 4
Wie funktioniert mein Gedächtnis?
Die ausgefeilte Verarbeitung unserer
Erinnerungen
Wenn wir über Gedächtnis reden, gilt es als Erstes, ein Missverständnis auszuräumen: Das Gedächtnis gibt es nämlich gar nicht. Genauer gesagt: Wir besitzen kein einheitliches Gedächtnis, sondern verschiedene Gedächtnisspeicher,
die sehr unterschiedliche Eigenschaften haben.
Beginnen wir mit dem sogenannten Kurzzeitgedächtnis:
Dieses ist dann aktiv, wenn Ihnen zum Beispiel jemand eine Telefonnummer
nennt und Sie diese in Ihre Adressdatei übertragen wollen. In der Zeit zwischen
Vernehmen und dem Notieren der Information befindet sich die Nummer in
Ihrem Kurzzeitgedächtnis. Wie der Name schon sagt, hält dieser Gedächtnisspeicher etwas nur sehr kurze Zeit fest und ist äußerst anfällig für Störimpulse.
Verwickelt Sie zum Beispiel jemand in ein Gespräch, bevor Sie die Telefonnummer aufgeschrieben haben, kann es sein, dass Sie die Nummer sofort vergessen.
Und spätestens, wenn Sie einschlafen, wird Ihr Kurzzeitgedächtnisspeicher vollständig geleert.
Das Kurzzeitgedächtnis ist somit für das reine »am Leben halten« einer Information (zum Beispiel einer Telefonnummer) zuständig. Sobald wir über diese
Information nachdenken (zum Beispiel die Nummer mit einer anderen vergleichen), laufen weitere Prozesse in unserem Gehirn ab. In diesem Fall ist das
sogenannte Arbeitsgedächtnis aktiv. Dieses gleicht ein wenig den berühmten
russischen Matrjoschka-Puppen: Im Kern sitzt das Kurzzeitgedächtnis, mit dem
wir uns nur etwas merken. Darum herum organisiert sich das Arbeitsgedächtnis,
mit dem wir die Informationen des Kurzzeitgedächtnisses kognitiv verwenden.
42
43
4 Arbeitsgedächtnis
Kurzzeitgedächtnis
▼
Lektion 4
ARBEITSGEDÄCHTNIS
▼
Das Kurzzeitgedächtnis
speichert jene Information,
die gerade im Moment
wichtig ist
Das Arbeitsgedächtnis
wird aktiv, wenn wir mit
dieser Information arbeiten
KURZZEITGEDÄCHTNIS
Wenn dabei eine Information aus dem Kurzzeitgedächtnis vergessen wird, ist
natürlich auch das Arbeitsgedächtnis für diese Information gelöscht.
Das Arbeitsgedächtnis hängt von den Prozessen in unserem präfrontalen Cortex
(PFC) ab. Interessant ist, was im PFC passiert, während wir eine Arbeitsgedächtnisaufgabe durchführen: Studien an Affen zeigen nämlich, dass die Nervenzellen
im präfrontalen Cortex genau dann aktiv werden, wenn die Information, die
man sich merken soll, nicht mehr wahrgenommen wird (also etwa dann, wenn
die Stimme, die die Telefonnummer nannte, verklingt und Sie nun die gehörte
Nummer in Ihrem Kurzzeitgedächtnis am Leben halten müssen). Das heißt:
Die Neuronen im PFC sind während der Darbietung des zu merkenden Reizes
kaum aktiv, doch sobald der Reiz verschwindet, produzieren die Nervenzellen
anhaltende Salven von Aktionspotenzialen. Die präfrontalen Neuronen sind somit das zelluläre Korrelat des Arbeitsgedächtnisses. Entsprechend führen Verletzungen des präfrontalen Cortex bei den Betroffenen oft zu schweren Störungen
im Arbeitsgedächtnis.
bereits hochgradig aktiv sind; und es unterdrückt anderseits die eher inaktiven
Zellen. Dadurch wird der Unterschied zwischen aktiven und inaktiven Neuronen noch verstärkt, es entsteht ein hoher Signal-Rausch-Abstand.
Lektion 4
Auf diese Weise wird das zu merkende Signal gestärkt und gegenüber eher unwichtigen Hintergrundgeräuschen stabilisiert. Das hilft, die Telefonnummer
selbst dann noch zu memorieren, wenn etwa Hundegebell oder andere Gespräche an Ihr Ohr dringen. Da die Zahl der Dopaminneurone im Alter allerdings
abnimmt, sind ältere Menschen anfälliger für solche Interferenzen; sie können
Störungen nicht mehr so gut ausblenden und haben Mühe, sich auf eine Aufgabe
zu konzentrieren, während im Hintergrund etwa das Radio läuft oder sich viele
Menschen unterhalten.
Aktivieren wir jetzt eine ganz andere Gedächtnisart Ihres Gehirns: Erinnern Sie
sich an Ihren letzten Geburtstag? Gab es eine Feier und wenn ja, wer war eingeladen? Fragen wie diese führen zu einer Zeitreise in unsere Vergangenheit. Diese
Zeitreise ist die Funktion unseres episodischen Gedächtnisses. In ihm sind Ereignisse unseres Lebens abgespeichert, die sich in genau dieser Art und Weise
nur ein einziges Mal abgespielt haben. Das episodische Gedächtnis ist Teil Ihres
Langzeitgedächtnisses und hält eventuell Ihr ganzes Leben lang. Aber wie entsteht der Unterschied von Kurz- und Langzeitgedächtnis?
Während das Kurzzeitgedächtnis durch Veränderungen der Aktivitäten von
Gruppen von Neuronen realisiert wird, muss unser Gehirn für die Erzeugung
eines Langzeitgedächtnisses größere Umbauten vornehmen: Dafür werden die
Synapsen von Zellverbindungen morphologisch verändert. Deshalb ist das Kurzzeitgedächtnis sofort verfügbar, aber kurzlebig, während unser Langzeitgedächtnis länger zum Aufbau braucht, aber dafür auch lange hält.
Signalverstärkung: Durch
den Botenstoff Dopamin werden
aktive Neurone zusätzlich
aktiviert, die anderen gedämpft
▼
Um das Arbeitsgedächtnis zu stabilisieren, bedient sich das Gehirn des Botenstoffs
Dopamin (siehe auch Lektion 3). Dieser Stoff wird während einer Merkaufgabe
im PFC ausgeschüttet. Dabei aktiviert Dopamin einerseits jene Neuronen, die
44
45
Lektion 4
Lektion 4
G e d ä ch tn i s s ys te m
L a n gze it s p e i ch e r Ku r z ze it s p e i ch e r
Literaturhinweise
• Axel Buchner,
Matthias Brandt,
»Gedächtniskonzeptionen und
Wissensrepräsentationen«; in:
Allgemeine Psychologie,
Jochen Müsseler (Hrsg.),
pp. 429–465, Spektrum 2007
• Douwe Draaisma,
»Warum das Leben schneller
vergeht, wenn man älter wird:
Von den Rätseln unserer
Erinnerung«;
Piper 2012
• Mark A. Gluck,
Eduardo Mercado,
Catherine E. Myers,
»Lernen und Gedächtnis:
Vom Gehirn zum Verhalten«;
Spektrum 2010
• Thomas Gruber,
»Gedächtnis«
VS Verlag 2012
• Hans. J. Markowitsch,
»Das Gedächtnis: Entwicklung,
Funktionen, Störungen«;
Beck 2009
46
N i c h t- d e k l a r a t i ve s
Gedächtnis
▼
Henry Gustav Molaison
P r oze d u r a l e s
Lernen
( B a s a l g a n g l i e n)
D e k l a r a t i ve s
Gedächtnis
Klassische
Ko n d i t i o n i e r u n g
( K l e i n h i r n)
Semantisches
Gedächtnis
(Co r te x)
Arbeitsgedächtnis
( P r ä f r o n t a l e r Co r te x)
Episodisches
Gedächtnis
(Co r te x H i p p o c a m p u s)
▼
Wie so oft in der Hirnforschung war es vor allem die tragische Lebensgeschichte
eines Mannes, die entscheidend zur Aufklärung einer Hirnfunktion beitrug.
Im Falle des episodischen Gedächtnisses war es Henry Gustav Molaison, der
in der Wissenschaft bis zu seinem Tod nur unter dem anonymisierenden Kürzel
H. M. bekannt war. H. M. hatte als Jugendlicher einen schweren Fahrradunfall
und entwickelte daraufhin schwerste Epilepsien, die nicht durch Medikamente
kontrolliert werden konnten. Da der Hauptherd der epileptischen Anfälle im
Hippocampus lag, entschieden sich die Ärzte in den 1950er Jahren, die Hippocampi beider Hirnhälften zu entfernen. Tatsächlich ließen die epileptischen
Anfälle nach, aber H. M. konnte kein neues episodisches Gedächtnis mehr bilden und kein neues Faktenwissen (semantisches Gedächtnis) mehr aufnehmen.
Für ihn regierte auch Jahrzehnte nach der Operation noch immer Stalin in der
Sowjetunion, und der Zweite Weltkrieg war für ihn gerade erst vorbei. Die Erinnerung an seine persönlichen Erlebnisse endete mit dem Tag der Operation.
Neue Informationen nahm er zwar erstaunt zur Kenntnis und konnte damit
im Gespräch auch klug umgehen. Doch sobald er anfing, über andere Dinge
nachzudenken, war die soeben aufgenommene Information umgehend wieder
gelöscht. H. M. war gewissermaßen gefangen im Hier und Jetzt, und sein ganzes
bewusstes Leben spielte sich ausschließlich im Arbeitsgedächtnis ab.
Wohlgeordnet: Eine Übersicht
über die verschiedenen Arten
unseres Gedächtnisses
Tierexperimentelle Studien und genauere Untersuchungen zeigten, warum diese
bizarren Defizite auftreten: Der Hippocampus spielt dabei eine entscheidende
Rolle. Er ist zwar nicht der Speicher für das Langzeitgedächtnis (da H. M.
sonst keine Erinnerungen an frühere Zeiten mehr besessen hätte). Aber der
Hippocampus stellt eine Art Adressenverwaltung dar, in deren System die Ortsinformationen der im Cortex abgelegten Erinnerungsfragmente sind – und zwar
sowohl jene für das episodische wie für das semantische Gedächtnis.
Und nun eine letzte Frage: Können Sie mir beschreiben, wie Sie es beim langsamen Fahrradfahren schaffen, nicht umzufallen? Wahrscheinlich machen Sie
jetzt Bewegungen nach, die Sie in einer solchen Situation üblicherweise ausführen, um zu beschreiben, was Sie dann tun. Das Gedächtnis für motorische
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Routinen nennen wir prozedurales Gedächtnis. Während wir die Inhalte des
episodischen und des semantischen Gedächtnisses problemlos verbalisieren
können, fällt uns das beim prozeduralen Gedächtnis schwer. Deshalb ist die
nächste wichtige Unterscheidung innerhalb unseres Gedächtnissystems diejenige
zwischen deklarativem (verbalisierbarem) und nicht-deklarativem (nicht oder
nur schwer verbalisierbarem) Gedächtnis. Deklaratives und nicht-deklaratives
Gedächtnis werden im Gehirn sehr unterschiedlich verarbeitet. Für Letzteres
sind vor allem die sogenannten Basalganglien wichtig. Der Cortex hingegen, der
für das deklarative Gedächtnis eine wichtige Rolle spielt, ist für das prozedurale
Gedächtnis weniger wichtig.
Lektion 5
Wie Erinnerungen entstehen
Warum wir Wichtiges vergessen und
mitunter Falsches behalten
Viele von uns klagen darüber, dass sie Dinge vergessen, die sie gern im Gedächtnis behalten würden. Aber die wenigsten wissen, dass sie auch Erinnerungen an
Episoden ihres Lebens besitzen, die nie stattgefunden haben. Wie kommt es,
dass wir einerseits manches vergessen und uns andererseits an nie Geschehenes
erinnern?
Fakten
Wir haben nicht ein Gedächtnis, sondern viele verschiedene Gedächtnisarten. Diese haben unterschiedliche Gehirnspeicher und Funktionsweisen.
Das Arbeitsgedächtnis hält Informationen kurzfristig im Gehirn aktiv
und verarbeitet sie. Der präfrontale Cortex ist für das Arbeitsgedächtnis
von zentraler Bedeutung.
Neben dem Kurzzeit- gibt es das Langzeitgedächtnis. Dafür ist der
Hippocampus von zentraler Bedeutung. Er funktioniert wie eine Adressenverwaltung des Cortex.
Wenn wir neues Faktenwissen (semantisches Gedächtnis) oder biografisches Wissen (episodisches Gedächtnis) erwerben, befindet sich die
eigentliche Information im Cortex. Über den Hippocampus können aber die
teilweise im Cortex verstreut liegenden Erinnerungsfragmente gemeinsam
aktiviert werden.
Eine weitere wichtige Gedächtnisart ist das prozedurale Gedächtnis.
Dieses speichert Handlungsroutinen, die nur schwer verbalisierbar sind,
auf die wir aber automatisch zurückgreifen (wie beim Fahrradfahren
oder Schuhebinden).
48
Schauen wir uns zunächst ein typisches Experiment an, in dem einer Versuchsperson ein falsches Gedächtnis eingeimpft wird. Die Psychologin Elisabeth
Loftus bat dazu die Eltern eines 14-jährigen Jungen namens Chris, drei erlebte
Geschichten aus der Kindheit von Chris aufzuschreiben. Dann erfand Frau Loftus eine vierte Geschichte, die nie stattgefunden hatte. Diese falsche Geschichte
handelte davon, dass Chris angeblich als Fünfjähriger in einem Einkaufszentrum
verloren gegangen war, laut geweint hatte und von einem älteren Mann gefunden
und zu seiner Familie zurückgeführt worden war. Alle vier Geschichten wurden
aufgeschrieben und Chris mit der Instruktion überreicht, über einen Zeitraum
von fünf Tagen zu jeder Episode täglich alle Details aufzuschreiben, die ihm
dazu einfielen. Erstaunlicherweise »erinnerte« sich Chris im Verlauf der fünf
Tage an immer mehr Details des erfundenen Dramas im Einkaufszentrum. Und
schließlich gehörte diese Geschichte sogar zu den lebhaften und plastischen Erinnerungen des Jungen. Als man ihm am Ende des Experiments sagte, dass eine
der vier Episoden nie stattgefunden habe und er raten solle, welche das sei, entschied sich Chris für eine der drei wahren Episoden. Und als man ihn aufklärte,
dass die Kaufhausgeschichte nie passiert war, konnte Chris es nicht glauben,
denn er sah vor seinem inneren Auge alle Details des Mannes, der ihn gerettet
hatte.
49
Lektion 5
▼
Assemblys sind Gruppen von
gemeinsam aktiven Neuronen. Für
jeden Begriff (etwa »Auto« oder
»Wohnung«) bilden sich typische
Anordnungen. Dabei können
einzelne Neuronen auch Mitglied
mehrerer Assemblys sein
Bild 1:
Auto
Bild 2:
Wo h n u n g
Bild 3:
Wo h n u n g a l t
Bild 4:
Wo h n u n g n e u
Dieses Experiment ­– und viele ähnliche – belegen, dass man tatsächlich Menschen »Erinnerungen« einimpfen kann, die nie stattgefunden haben. Das zeigt
nicht nur, wie vorsichtig man bei der Beurteilung von Zeugenaussagen sein sollte, sondern impliziert auch, dass eventuell einige unserer eigenen Erinnerungen
fiktive Konstruktionen sind. Wir mögen felsenfest davon überzeugt sein, dass es
sich so und nicht anders verhielt – und können dennoch völlig falsch liegen. Wie
kann das sein?
Um das zu verstehen, müssen wir uns zunächst einmal anschauen, wie Wissen
im Cortex repräsentiert ist. Die zelluläre Grundlage aller Erinnerungen sind,
wie schon im vorigen Kapitel erläutert, die Synapsen. Wenn neue Informationen
gelernt werden, kann sich die Form der beteiligten Synapsen innerhalb weniger
Minuten verändern. In Bezug auf unsere Erinnerungen kommt es natürlich
nicht so sehr auf eine einzelne Synapse an. Bedeutsam dafür ist vielmehr die
gemeinsame Aktivität einer Vielzahl synaptisch gekoppelter Nervenzellen. Diese
gemeinsam aktiven Nervenzellen nennt man in der Fachsprache ein »Assembly«
(engl. für Versammlung, Anordnung).
Assemblys sind somit temporäre Koalitionen von aktiven Nervenzellen. Und
diese Koalitionen entstehen, zerfallen und bilden sich neu in veränderter Zusammensetzung – ebenso wie die Gedanken in unserem Kopf. So kann zum
Beispiel ein Neuron A zu einem bestimmten Zeitpunkt Teil des Assemblys
»Auto« sein und wenige Minuten später im Assembly für »Wohnung« aktiv sein.
50
Lektion 5
(Bild 1 und Bild 2). Das heißt: Es kommt nicht auf das individuelle Neuron an,
sondern auf die jeweilige Kombination von Nervenzellen. Diese bestimmt den
Inhalt eines Assemblys. (Das ist ein wenig wie in der Politik: Auch dort sind
die jeweiligen Koalitionen meist bedeutender als der einzelne Abgeordnete.)
Es ist auch wichtig, festzuhalten, dass die Neuronen, die ein Assembly bilden,
nicht zwangsläufig räumlich benachbart sein müssen. Im Gegenteil, es ist sogar
recht wahrscheinlich, dass sie über weit entfernte Bereiche der Hirnrinde verteilt sind.
Wenn sich nun die Erinnerung an ein Objekt verändert, dann verändert sich
auch das zugehörige Assembly. Wenn Sie etwa Ihre Wohnung verändern, indem
Sie neue Möbel kaufen und das Wohnzimmer in einer anderen Farbe streichen,
dann wird dadurch auch Ihre innere Repräsentation der Wohnung modifiziert
– die Zusammensetzung des Assemblys ändert sich (Bild 3).
Das Prinzip der Assemblys hilft uns auch zu verstehen, weshalb es oft genügt,
nur ein Stück eines Raumes oder einen Teil des Gesichts einer Person zu sehen,
um uns sofort an den ganzen Raum oder das vollständige Gesicht erinnern zu
können. Denn erinnern wir uns: Lernen ist mit einer Stärkung der beteiligten
Synapsen verbunden. Assemblys, die öfter aktiviert werden, haben untereinander
sehr effektive synaptische Koppelungen. Deshalb genügt es bei einem fest etablierten Assembly, wenn nur ein Teil der zugehörigen Neuronen aktiviert wird
– aufgrund der effektiven Kopplungen »zündet« prompt das gesamte Assembly.
Dadurch vervollständigt sich das erinnerte Objekt in Ihrem Gedächtnis, obwohl
Sie nur einen Teil von ihm wahrgenommen haben.
Dieses Verständnis hilft uns nun, »falsche Erinnerungen« wie die eingangs beschriebene zu verstehen. Nehmen wir an, dass Sie zusammen mit einem Freund
zu einer Geburtstagsfeier eingeladen sind. Es ist eine nette Party, und Sie unterhalten sich den ganzen Abend mit vielen Gästen. Bei der Verarbeitung dieser
Ereignisse sind viele Neuronen beteiligt und bilden untereinander synaptische
Kontakte. In den darauffolgenden Tagen erinnern Sie sich noch häufig an die
Feier. Dabei wird das in Ihrem Cortex abgespeicherte Party-Assembly stets von
Neuem aktiviert. Dadurch »erleben« Sie die Geburtstagsparty immer wieder und
stabilisieren so das Assembly als Ganzes. Nun nehmen wir an, dass Sie einige
Zeit später wieder Ihren Freund treffen und dieser die Erinnerung an die gemeinsam besuchte Geburtstagsfeier wachruft. Während das Assembly der Party-Erinnerung aktiv ist, sagt Ihr Freund plötzlich: »Ich hätte nicht gedacht, dass wir
dort auch Kathi treffen würden.« Sie sind zunächst irritiert, denn Sie können
sich nicht daran erinnern, Kathi auf der Feier getroffen zu haben. Im Gegenteil;
Sie sind eigentlich der Meinung, dass Kathi zu dieser Zeit im Ausland war. Sie
Literaturhinweise
• Douwe Draaisma,
»Das Buch des Vergessens:
Warum Träume so schnell
verloren gehen und Erinnerungen sich ständig verändern«;
Galiani Berlin 2012
• Onur Güntürkün,
in Geist – Genorm – Gehirn –
Gesellschaft: »Wie wurde
ich zu der Person, die ich bin?«
Onur Güntürkün,
Jörg Hacker (Hrsg.), pp. 11–35.
Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Stuttgart 2014
• Sina Kühnel,
Hans J. Markowitsch,
»Falsche Erinnerungen:
Die Sünden des Gedächtnisses«;
Spektrum 2009
• Elizabeth F. Loftus,
»Die therapierte Erinnerung«;
Ingrid Klein Verlag 1997
51
Kathi und die Party gemeinsam repräsentiert waren. Damit stieg die Wahrscheinlichkeit, dass Sie irgendwann anfangen würden, sich an die Anwesenheit
von Kathi auf der Party zu »erinnern«. Und zugleich kümmerte sich Ihr Gehirn
darum, die Inkonsistenz aus dem Weg zu räumen, dass Kathi nicht zeitgleich
auf der Party und im Ausland gewesen sein konnte. So wuchs allmählich die
Überzeugung, dass Kathi früher als erwartet nach Deutschland zurückgekehrt
sein musste – auch wenn Ihr Freund tatsächlich unrecht hatte und Kathi gar
nicht anwesend war.
Lektion 5
▼
Eine falsche Erinnerung – etwa an
Kathi, die auf der Party gar nicht
anwesend war – entsteht durch das
gemeinsame Aktivieren der Assemblys für »Party« und »Kathi«
kommen zu der Schlussfolgerung, dass Ihr Freund sich irren muss. Doch allein
durch die Bemerkung Ihres Freundes wird jenes Assembly, das Erinnerungen an
Kathi repräsentiert, aktiviert.
Am nächsten Tag sind Sie sich schon gar nicht mehr so sicher, ob Kathi nicht
doch eventuell auf der Party war. Vielleicht ist sie ja früher aus dem Ausland
zurückgekommen? Je mehr Sie im Laufe der nächsten Tage an die Feier denken,
desto sicherer sind Sie sich, dass Kathi doch auf der Feier gewesen sein muss. Sie
rufen sich sogar einzelne visuelle Erinnerungsfetzen ins Gedächtnis, die es wahrscheinlich machen, dass Kathi anwesend war. Und allmählich glauben Sie immer
fester, dass Kathi früher als angekündigt aus dem Ausland zurückgekommen ist.
Am Ende sind Sie überzeugt: Ja, Ihr Freund hatte recht! Kathi war auf der Party,
und jetzt erinnern Sie sich auch daran.
Wie kommt es, dass Sie ursprünglich gegenteiliger Meinung waren und diese
Überzeugung sukzessive kippte? Ein wichtiges Merkmal einer echten Erinnerung ist die Existenz eines bereits abgelegten Assemblys von einem Ereignis. Als
Ihr Freund die Anwesenheit von Kathi auf der Party erwähnte, hatten Sie für
die Kombination von »Party« und »Kathi« noch kein Assembly und waren sich
daher sicher, dass Kathi nicht dabei war. Jedoch erzeugte die Äußerung Ihres
Freundes ein neues Assembly, in dem zeitgleich die Erinnerung an die Party und
jene an Kathi repräsentiert wurde. Bei jedem weiteren Grübeln stieß Ihr Gehirn
somit auf ein mit jedem Nachdenken immer besser vernetztes Assembly, in dem
52
Fakten
Erinnerungen sind in Form von temporären Koalitionen synaptisch
miteinander verkoppelter Neuronen in unserem Cortex gespeichert.
Eine solche Koalition nennt man ein Assembly.
Assemblys können sich durch neue Erfahrungen verändern. Dadurch
ändern sich auch die Erinnerungen an Objekte oder Ereignisse.
Wenn wir nur Teile einer Szene oder eines Gegenstandes sehen, können
wir dennoch die fehlenden Komponenten geistig ergänzen, weil auch das
gesehene Fragment ausreicht, das Assembly in Gänze zu aktivieren.
Psychologen weisen nach, dass falsche Erinnerungen induziert werden
können. Dabei entsteht wahrscheinlich ein neues Assembly, das zunehmend synaptische Kontakte mit anderen, bereits etablierten Assemblys
aufbaut, dadurch neue (falsche) Erinnerungsfragmente inkorporiert und
sich nach und nach real anfühlt.
53
Wenn das Gedächtnis versagt
Wie es zu geistigen Ausfällen kommt und
was man dagegen tun kann
Literaturhinweise
• Douwe Draaisma,
»Die Heimwehfabrik:
Wie das Gedächtnis im
Alter funktioniert«;
Herder 2011
• Gunther Karsten,
»Memotechniken – Strategien
für außergewöhnliche
Gedächtnisleistungen« in:
Dresler, M. (Hrsg.),
Kognitive Leistungen, pp. 57–76;
Spektrum 2011,
• Martin Korte,
»Jung im Kopf.
Erstaunliche Einsichten
der Gehirnforschung in
das Älterwerden«;
DVA München 2012
• Ulman Lindenberger,
Jacqui Smith, Karl Ulrich
Meyer, Paul B. Baltes,
»Die Berliner Altersstudie«;
Akademie Verlag 2009
54
Das im vorigen Kapitel vorgestellte Prinzip der Assemblys hilft uns nicht nur,
zu verstehen, wie »falsche« Erinnerungen entstehen, sondern auch, warum wir
reale Dinge vergessen. Kurz gesagt: Vergessen ist nichts anderes als das Nichtmehr-aktivieren-Können eines Assemblys, auch wenn dessen Teilmitglieder noch
existieren.
Wie bereits ausgeführt, sind Assemblys temporäre Koalitionen von Nervenzellen.
Dabei kann jedes Neuron Mitglied vieler verschiedener Assemblys sein. Nehmen
wir zum Beispiel an, dass eine Nervenzelle sowohl Mitglied der Assemblys A, B
und C ist. In allen drei Assemblys sind die Neuronen stark untereinander verknüpft. Je nachdem, welche Kombination von Zellen aktiviert wird, ist unser
Beispiel-Neuron entweder mit seinen Kollegen vom Assembly A, B oder C aktiv.
Durch die ständige Veränderung unseres Wissens und die Speicherung immer
neuer Informationen kann dieses Beispiel-Neuron auch noch Mitglied der Assemblys D, E und F werden. Wenn nun Assembly A selten aktiv ist, kann es
passieren, dass das Neuron viel stärkere Kontakte zu allen anderen Koalitionen
entwickelt und nur noch schwach mit Assembly A assoziiert ist. Wenn es den
anderen Neuronen innerhalb von A ähnlich geht, dann wird deren Verkopplung immer schwächer, bis das Assembly nicht mehr aktiviert werden kann: Die
entsprechende Erinnerung gerät zunehmend in Vergessenheit, verbleibt aber als
Fragment in unserem Gehirn.
Lektion 6
bedeuten, dass allzu »geschwächte« Assemblys mithilfe von außen plötzlich wieder aktiv wurden. Es ist aber auch denkbar, dass in diesem Augenblick neue
Assemblys künstlich gebildet wurden, die sich wie Erinnerungen anfühlten.
Welche von beiden Erklärungen zutrifft, wissen wir leider nicht.
Die Frage, warum wir besonders im Alter vergesslich werden, lässt sich mithilfe
der Assemblys beantworten. Denn von unserer Geburt an verlieren wir täglich
ungefähr 80 000 Nervenzellen. Obwohl wir viele Milliarden Neuronen besitzen, sind 80 000 dennoch ein ziemlicher Aderlass. Was das für das Gedächtnis
bedeutet, lässt sich leicht veranschaulichen: Stellen Sie sich vor, Ihre Erinnerung
an einen früheren Mitschüler namens Karl bestünde (extrem vereinfacht) aus
zehn Neuronen. Mit jedem dieser Neuronen, das Ihrem normalen Altersverlust zum Opfer fällt, wird das Assembly – und damit die Erinnerung an Karl
­– schwächer. Irgendwann hat das Assembly so viele Mitglieder verloren, dass es
nicht mehr gezündet werden kann. Ihre Erinnerungsfähigkeit an Karl hat eine
kritische Schwelle unterschritten, Sie haben ihn vergessen, auch wenn Reste der
Erinnerung noch in Ihnen schlummern.
Bevor es so weit ist, durchschreitet Ihr Karl-Assembly eine Zwischenphase, die
wir alle kennen: Man weiß, da war doch was – kommt aber nicht darauf. Diesem
Phänomen können zwei verschiedene Ursachen zugrunde liegen.
Zum einen kann es sein, dass sich ein anderes Assembly mit dem von Karl überlappt, sodass man beim Erinnerungsversuch an Karl stets die andere, falsche
Information aktiviert. In diesem Fall hilft es, das bewusste Erinnern aufzugeben
und sich mit anderen Dingen zu beschäftigen. Oft fällt einem dann nach ein
paar Stunden plötzlich die gesuchte Information wieder ein.
▼
Lektion 6
Absterbende Neuronen reißen
regelrechte Löcher in unsere
Erinnerung. Irgendwann lässt sich
beispielsweise das Assembly
für »Karl« nicht mehr aktivieren:
Wir haben ihn vergessen.
Durch schwache elektrische Ströme können solche längst vergessenen Episoden
allerdings wieder wachgerufen werden, wie der Neurologe Wilder Penfield in
den 1950er Jahren entdeckte. Als er bei Hirnoperationen schwache elektrische
Ströme auf kleine Bereiche der Hirnrinde applizierte, erinnerten sich seine Patienten plötzlich an scheinbar längst vergangene Kindheitsereignisse. Das könnte
55
Jüngere
▼
Hirnaktivität beim
Erkennen von Wörtern.
Ältere müssen für dieselbe
Leistung mehr kognitiven
Aufwand treiben
Ä l te r e
Zum anderen kann es sein, dass man einfach nicht an die Gedächtnisspur
kommt, weil man von einer anderen Erinnerung blockiert wird. In dem Falle
ist es sinnvoll, sich der gesuchten Erinnerung aus möglichst vielen verschiedenen Blickwinkeln anzunähern. Möglicherweise aktiviert man dadurch einen
Bereich des Assemblys, der bisher nicht aktiviert werden konnte, und bringt so
den Nervenzellverband zur Zündung. In diesem Augenblick ist die Erinnerung
plötzlich da.
Zu einem extrem beschleunigten Tod von Nervenzellen kommt es bei der Alzheimererkrankung. Beim Eintritt in das normale Rentenalter sind zwei Prozent
aller Menschen davon betroffen, im Alter von 85 bereits 20 Prozent. Es gibt noch
andere Demenzformen als Alzheimer, aber diejenigen, die mit einem schnellen
Absterben von Nervenzellen einhergehen, zeigen alle eine beschleunigte und
immer schlimmer werdende Form des Gedächtnisverlustes. Der Prozess unterscheidet sich im Kern nicht wesentlich von dem bei der normalen altersbedingten
Vergesslichkeit – nur ist er eben wesentlich rasanter.
Lektion 6
ihres Assemblys haben. Sie sind leicht zündbar, da wenige aktivierte Neuronen
ausreichen, um die ganze verbliebene Gruppe zu aktivieren. Zudem sind diese
alten Erinnerungen in so vielen Situationen erinnert worden, dass sie mit vielen anderen Erinnerungen unserer Vergangenheit verwoben sind. Das macht
diese alten Erinnerungen robust, weil sie durch viele verschiedene Erinnerungsfragmente aktivierbar sind. Der zweite spannende Effekt ist folgender: Alte
Menschen haben beim Durchdenken eines Problems ein aktiveres Gehirn als
junge Versuchspersonen. Warum? Weil sie, um die gleiche Leistung erbringen
zu können, mehr Hirnstrukturen aktivieren müssen als die jüngeren, deren Hirn
noch deutlich effektiver arbeitet.
Natürlich fragt sich jeder: Wie lange halte ich das kognitive Rennen gegen die
Jüngeren durch? Darauf kann man keine allgemeingültige Antwort geben, da die
individuelle Variationsbreite des kognitiven Alterns sehr groß ist. In der Grafik
auf Seite 58 sehen wir das kognitive Leistungsvermögen zwischen dem 20. und
dem 100. Lebensjahr. Der grau schraffierte Bereich zeigt das maximale Leistungsvermögen. Die horizontale Linie markiert eine Schwelle, bis zu der wir
noch ohne deutlich spürbare kognitive Einbußen funktionieren können. Die
blaue Linie markiert den Mittelwert für Menschen in den Industrienationen. Die
rote Kurve zeigt die Verbesserung der Leistungsfähigkeit, die durch kognitives
Training zu erzielen ist.
gesund
erkrankt
▼
Lektion 6
Zerfall: Ein gesundes
Gehirn (links) und das eines
Alzheimerpatienten
Der Tod vieler Nervenzellen führt zu einem zunehmenden Verlust an Erinnerungen, da immer mehr Assemblys nicht mehr aktiviert werden können. Dadurch treten zwei merkwürdige Phänomene auf:
An die ältesten Erinnerungen ihrer Kindheit erinnern sich auch mittlerweile
äußerst vergessliche Menschen noch am besten. Denn diese alten Erinnerungen
sind schon oft erinnert worden, sodass sie starke synaptische Kontakte innerhalb
56
57
Lektion 6
Ko g n iti o n
(und ihre Gehirne) so sehr wie das Gefühl, für andere wichtig zu sein. Was sich
bei Älteren leider wenig trainieren lässt, sind das episodische Gedächtnis und
logisches Schlussfolgern. Hier müssen wir einfach durch ein geistig reges Leben
dafür sorgen, dass wir die Erinnerungen möglichst vielfältig vernetzen, um Gedächtnisverlusten vorzubeugen.
hoch
▼
Die kognitive Leistungskurve
zeigt bei allen Menschen im Laufe
des Lebens nach unten, doch die
individuellen Unterschiede (grauer
Bereich) sind sehr groß. Einige
bleiben bis ins hohe Alter brillant,
bei anderen setzt das kognitive
Altern früh ein. Kognitives Training
kann den Leistungsbfall verzögern
funktioneller Grenzwert
20
30
40
50
60
70
80
90
100
Le b e n s a l te r
Wie also funktioniert kognitives Training für Ältere? Das beste Rezept lautet
ganz allgemein: Lernen Sie viel Neues, bewegen Sie sich viel und erleben Sie
neuartige Dinge. Wer immer nur ein und dieselbe Sache übt – zum Beispiel
stundenlang Sudoku – wird zwar in diesem Bereich immer besser. Doch ein
Transfer auf andere Bereiche des Geisteslebens findet praktisch nicht statt. Wer
dagegen immer wieder ungewohnte Erfahrungen macht und Neues lernt, bildet
neue Synapsen zu vielen alten Assemblys. Dadurch reduziert man die Gefahr,
diese Assemblys nicht mehr zünden zu können.
Ein Training durch sogenannte Gehirnjogging-Programme führt kaum zur
Zunahme der allgemeinen kognitiven Fähigkeiten. Aufmerksamkeitsprozesse
jedoch lassen sich durchaus selektiv trainieren. Computerspiele, die Multitasking
unter hohem Zeitdruck erfordern, können die Konzentrationsfähigkeit verbessern. Auch das Arbeitsgedächtnis lässt sich bis zu einem gewissen Grad durch
systematische Anstrengung trainieren. Schachspielen zum Beispiel ist dafür hervorragend geeignet. Auch Lesen, Musizieren oder Tanzen fördern die geistige
Spannkraft. Mindestens ebenso wichtig wie diese Aktivitäten selbst ist auch der
soziale Kontakt, der dadurch entsteht. Denn kaum etwas stimuliert Menschen
58
Lektion 6
Fakten
Vergessen geht mit dem Zerfall eines Assemblys einher, weil eine kritische
Menge neuronaler Mitglieder stirbt oder weil diese Mitglieder mittlerweile
stärker in andere Assemblys eingebunden sind und zu ihren alten Mitgliedern nur noch schwache Kontakte besitzen.
Bei einer Demenz beschleunigt sich dieser Prozess auf krankhafte Art und
Weise, sodass die Vergessenskurve sehr schnell nach unten zeigt.
Gehirnjogging-Programme bringen wahrscheinlich wenig. Allerdings
lassen sich Aufmerksamkeits- und Arbeitsgedächtnisprozesse bei älteren
Menschen bis zu einem gewissen Grad trainieren.
Die besten Strategien, um bis ins hohe Alter geistig fit zu bleiben, lauten:
ständig Neues lernen, körperliche Aktivität und geringe geistige Routine.
59
Lektionen 7–9
Lektion 7
Was macht ein Gehirn intelligent?
Warum manche schneller denken und
Intelligenz keine Frage des Schicksals ist
Intelligenz ist die Fähigkeit, Probleme durch Mechanismen des Denkens zu
lösen. Diese Intelligenz lässt sich messen und durch einen einfachen Wert, den
Intelligenzquotienten (IQ), ausdrücken. Der IQ ist die vielleicht schönste Messgröße der Psychologie, zugleich aber wohl auch jene, die am kritischsten in der
Öffentlichkeit diskutiert wird. Was macht den IQ so »schön«, und was hat es
mit der Kritik auf sich? Das wollen wir uns in diesem Kapitel näher anschauen.
Viele Aussagen zur Intelligenz werden häufig komplett missverstanden. Der IQ
beispielsweise wird als etwas Schicksalhaftes gesehen, und das Schicksal lieben
wir nicht, ganz besonders wenn Wissenschaftler es verkünden. Dabei gleicht Intelligenz eher einem mentalen Muskel: Wir können sie trainieren, ähnlich wie
die richtigen Muskeln im Sport. Zwar gibt es durchaus genetische Unterschiede –
der eine wird mit einem Potenzial für starke Muskeln geboren, der andere eher
für schwache – doch dieses Potenzial entfaltet sich nur, wenn wir es entsprechend
entwickeln. Wer nicht trainiert, bleibt schwach.
Allerdings kennen wir alle den Effekt, dass Menschen mit sportlicher Begabung
auch gern Sport machen. Das liegt daran, dass sie keine großen Anfangsprobleme
haben und schnell Erfolge in der sportlichen Ertüchtigung erleben. Menschen
ohne »Sportlergene« müssen dagegen anfangs härter an sich arbeiten, bis sie sportliche Erfolge feiern können. Menschen suchen sich daher häufig Bedingungen,
die zu ihrer Begabung passen und steigern dadurch ihre Begabung noch weiter.
Das gilt auch für die Intelligenz. Menschen, die mit der Gabe hoher geistiger
Leistungen geboren wurden, scheinen Allgemeinwissen, Sprachen, schwierige
Bücher, komplexe Erkenntnisse nur so zuzufliegen. Daher beschäftigen sie sich
auch häufig damit. Menschen ohne solche Anlagen müssen härter an sich arbeiten, und viele tun das eben dann nicht.
63
Elemente des g-Faktors
Lektion 7
Die verschiedenen Module des Denkens sind also nicht unabhängig voneinander, sondern hängen alle stark von »g« ab. Nur das Modul »Vokabular« entwickelt
eine gewisse Unabhängigkeit im Laufe des Älterwerdens. Denn die generelle Intelligenz, die mit dem »g«-Faktor erfasst wird, nimmt mit zunehmendem Alter
langsam ab – mit Ausnahme des Sprachvermögens. Diese Leistung können wir
im Alter sogar noch steigern. Doch was genau ist denn jetzt »g«? »g« wird meist
in zwei Komponenten zerlegt. Die eine ist die sogenannte fluide Intelligenz. Sie
bezieht sich auf unser schlussfolgerndes Denken und unsere Abstraktionsfähigkeit, also auf die Fähigkeit, ein Problem schnell und effizient zu verstehen und
zu lösen. Die fluide Komponente von »g« bezeichnet somit einen Prozess, einen
mentalen Vorgang; je schneller, kreativer und richtiger er durchgeführt wird,
desto höher ist unsere fluide Intelligenz.
Dadurch wird der Intelligenzquotient zu einem hochreliablen Maß. Das heißt:
Bei ein und derselben Person wird ein wissenschaftlicher IQ-Test stets sehr ähnliche Ergebnisse liefern. Und dies nicht nur innerhalb einer Spanne von Stunden
oder Tagen, sondern über Jahre – bis zu einem gewissen Grad sogar über Jahrzehnte. Es gibt kaum ein quantitatives mentales Maß, das über lange Zeit eine so
hohe Stabilität aufweist.
Zudem ist der IQ ein hoch valides Maß mit großer Alltagsrelevanz. Das heißt:
Das, was der IQ misst, reflektiert sich in vielen Bereichen unseres Lebens. So
lässt sich beispielsweise anhand des Intelligenzquotienten sehr gut vorhersagen,
wie schnell und wie kreativ jemand beim Lösen mentaler Herausforderungen ist;
der IQ liefert ein gutes prognostisches Maß für die Abiturnote und den späteren Berufserfolg, ebenso wie für Reichtum und sozioökonomischen Status, für
Langlebigkeit, Gesundheit im Alter, für geistige Offenheit und für vieles mehr.
Im Gegensatz dazu steht die kristalline Intelligenz. Dieser zweite Aspekt von »g«
bezieht sich auf unser gespeichertes Wissen, auf unseren Wortschatz, die Fakten
▼
▼
Die generelle Intelligenz (g)
ist ausschlaggebend für viele
kognitive Bereiche
Lektion 7
in einem Bereich gut ist, meistert in der Regel auch alle anderen erfolgreich.
Die fünf Bereiche korrelieren hochgradig miteinander. Daraus lässt sich folgern,
dass es einen gemeinsamen Faktor gibt, der für alle Bereiche gleichermaßen gilt:
Diesen Faktor nennt man »g« für »generelle Intelligenz«.
Im Alter nimmt die
generelle Leistungsfähigkeit ab – mit Ausnahme
des Sprachvermögens
Doch was genau ist der IQ? Manchmal liest man, es gebe viele verschiedene
Intelligenzen, verbale, räumliche, emotionale und so weiter. Doch diese These
lässt sich nicht wirklich belegen. Wissenschaftliche Intelligenztests legen eher das
Gegenteil nahe. Bei einem IQ-Test werden verschiedene Fähigkeiten überprüft:
die Fähigkeit zu schlussfolgern, räumlich zu denken, die Denkgeschwindigkeit,
das Gedächtnis und das Sprachvermögen (Vokabular). Dabei zeigt sich: Wer
64
65
Lektion 7
und alle Zusammenhänge, die wir gelernt und verinnerlicht haben. Die kristalline Intelligenz hängt also eng mit unserer Bildung zusammen, die fluide Intelligenz eher mit unserer Denkfähigkeit allgemein. Allerdings fällt es uns umso
leichter, Bildung zu erwerben und kristalline Intelligenz auszubauen, je höher
auch unsere fluide Intelligenz ist.
Ganz allgemein gilt: Der Faktor »g« und der IQ hängen sowohl von unserer
genetischen Anlage als auch von unserer Umwelt ab. Die ewige Streitfrage
lautet: Was ist wichtiger, Erbe oder Umwelt? Eindeutige Antwort: Es kommt
darauf an.
Literaturhinweise
• Onur Güntürkün,
»Wann ist ein Gehirn
intelligent?«; pp. 124–132
Spektrum der Wissenschaft
2008 November
• David Shenk,
»Das Genie in uns:
Neue Erkenntnisse über
Begabung und Intelligenz«;
Hoffmann und Campe 2012
• Frank M. Spinath,
»Psychologische Intelligenzforschung – Provokationen
und Potential«; in:
Dresler, M. (Hrsg.), Kognitive
Leistungen, pp. 1–22;
Spektrum, 2011
• Elsbeth Stern,
Aljoscha Neubauer,
»Intelligenz – Große
Unterschiede und ihre Folgen«;
dva 2013
66
Zudem gehen intelligente Menschen besser und effizienter mit ihren geistigen
Ressourcen um. Bei leichten und mittelschweren Aufgaben müssen weniger intelligente Menschen große Teile ihres Gehirns aktivieren, um die Fragestellung
zu lösen. Intelligente Menschen aktivieren nur wenige wichtige Bereiche ihres
Gehirns. Bei ganz schwierigen Aufgaben aktivieren hochintelligente Menschen
dagegen weite Teile ihres Gehirns und lösen die Aufgabe. Weniger intelligente
aktivieren ihr Gehirn dagegen wenig und geben auf, nach einer Lösung zu suchen. Sie schalten praktisch ab.
Lektion 7
Wenn die Umwelt sehr homogen ist, zwei Kinder zum Beispiel im selben wohlhabenden Stadtteil mit guter kultureller Infrastruktur leben, dann wird es zwischen ihnen keine großen Unterschiede in der sozialen Prägung geben; eventuelle
Unterschiede im IQ dieser Kinder hängen damit primär von ihren genetischen
Differenzen ab. Wenn diese Kinder aber in einer heterogenen Umwelt leben –
etwa in einem Stadtteil mit niedrigem sozioökonomischen Status, in dem es
stark auf die individuelle Initiative der Eltern ankommt –, dann fallen genetische
Unterschiede weniger ins Gewicht; vielmehr ist dann der soziale Einfluss entscheidender für den IQ dieser Kinder.
Das bedeutet also: Der IQ ist nicht Schicksal. Er lässt sich durchaus verändern.
Dieser Zusammenhang zeigt sich auch im sogenannten Flynn-Effekt, der nach
dem neuseeländischen Wissenschaftler James Flynn benannt ist. Dieser beobachtete, dass im Laufe des 20. Jahrhunderts der durchschnittliche IQ in den
Industrienationen immer weiter anstieg. Das liegt daran, dass deren Einwohner
im Laufe der Zeit immer bessere Bildungsmöglichkeiten nutzen konnten und dadurch tatsächlich im Schnitt intelligenter wurden. Während diese Entwicklung
heute in den Industrieländern nahezu zum Stillstand gekommen ist, nimmt sie
anderswo gerade erst richtig Fahrt auf. Derzeit beobachten Wissenschaftler zum
Beispiel, dass in Ostafrika die durchschnittliche Intelligenz fast jedes Jahr um
einen IQ-Punkt steigt – eine phänomenale Aufholjagd, genährt durch ein immer
besser werdendes Bildungs- und Gesundheitssystem in diesen Ländern!
Und was im Gehirn lässt uns nun intelligent werden? Ein wichtiger Punkt
scheint die neuronale Prozessgeschwindigkeit zu sein. Dabei ist nicht so sehr die
Leitgeschwindigkeit von Axonen wichtig, sondern die Geschwindigkeit, mit der
Synapsen Informationen übertragen. Intelligente Menschen können somit pro
Zeiteinheit mehr Gedanken durchdenken als weniger intelligente.
Fakten
Der Intelligenzquotient (IQ) ist eine Messgröße, die zuverlässig Bildungsabschluss, Berufserfolg und gesunde Lebensführung vorhersagt. Alle
gemessenen kognitiven Teilbereiche korrelieren hochgradig miteinander
und hängen von einem gemeinsamen Faktor ab, den man »generelle
Intelligenz« (kurz: »g«) nennt.
Der Faktor »g« beruht einerseits auf der Leichtigkeit und Geschwindigkeit,
mit der man ein Problem lösen kann (fluide Intelligenz), und andererseits
auf unserem gelernten Wissen (kristalline Intelligenz).
Der IQ hängt sowohl von der Umwelt als auch von unseren Erbanlagen
ab. Unter günstigen Umweltbedingung steigt der IQ. Unter optimalen
Bildungsbedingungen können die IQ-Unterschiede zwischen den Individuen primär über genetische Anlagen erklärt werden. Bei Menschen, die in
schwierigen sozialen Milieus leben, sind die Umweltbedingungen einflußreicherer für den IQ.
Der IQ hängt unter anderem von der synaptischen Übertragungsgeschwindigkeit ab. Intelligente Menschen können daher pro Zeiteinheit mehr
Gedanken durchdenken als weniger intelligente.
67
Lektion 8
Vom Wert der Emotionen
Warum Gefühle so wichtig sind
An die Allgegenwart unserer Gefühle sind wir so gewöhnt, dass wir uns ein Leben
ohne Emotionen gar nicht vorstellen können. Und doch gibt es Menschen, die
kaum einen Zugang dazu haben. Nehmen wir zum Beispiel jene Menschen, die
unter dem sogenannten Urbach-Wiethe-Syndrom leiden. Das ist eine genetisch
bedingte Erkrankung, die äußerst selten ist. Die Betroffenen scheinen von außen
gesehen weitgehend normal – doch ihr Erleben unterscheidet sich deutlich von
dem des Durchschnitts. Manche von ihnen haben etwa große Mühe, die emotionale Bedeutung von Gesichtsausdrücken zu erschließen. Andere zeigen auch
in hochgradig gefährlichen Situationen keinerlei Anzeichen von Furcht. Dass
sie anders sind als andere, merken diese Menschen oft erst spät. Eine Patientin
berichtete zum Beispiel, dass sie sich zuweilen wunderte, weil sie von etwas völlig
Unbekanntem durchflutet wurde. Erst als Erwachsene wurde ihr klar, was das
Seltsame war: Es waren intensive Gefühle.
Wie kann so etwas sein? Beim Urbach-Wiethe-Syndrom ist ein ganz bestimmtes
Hirnareal betroffen, die sogenannte Amygdala. Diese besteht aus einer Gruppe
kleiner Hirnkerne, die sich im Vorderhirn von Wirbeltieren finden. Die Amygdala
ist ein zentraler Bestandteil des limbischen Systems, mit welchem Emotionen erzeugt und organisiert werden. Bei Urbach-Wiethe-Patienten verkalken während
der Pubertät die Blutgefäße in dieser Region, sodass die Nervenzellen langsam
absterben. Da das Gehirn schmerzunempfindlich ist, merken die Patienten selbst
nichts davon. Nur den Angehörigen fällt auf, dass sie irgendwie anders sind.
Was sind Emotionen? Ganz offensichtlich haben sie eine sehr grundlegende
Funktion, denn die Amygdala und alle Teile des limbischen Systems sind stammesgeschichtlich sehr alt; das heißt, ihre emotionalen Funktionen haben sich seit
Jahrmillionen bewährt. Wahrscheinlich dienten Emotionen in ihrer evolutionären Entstehungsgeschichte dazu, blitzschnelle Entscheidungen zu erleichtern.
Angst etwa hilft, bei Gefahr schnell zu flüchten, Begierde hilft, bei Nahrung
68
schnell zuzugreifen, Fürsorge hilft, den Nachwuchs zu schützen. Dabei ist in
kritischen Situationen oft wenig Zeit, lange nachzudenken. Verschiedene Wahrnehmungen müssen vielmehr schnell verarbeitet und in »dichotome« Handlungsmuster (Hin oder weg? Bleiben oder flüchten?) überführt werden. Und
dazu dient die Unterscheidung negativer und positiver Emotionen. Sie liefern
keine ausgefeilte Analyse der Situation, sondern eben nur ein grobes Gefühl. Das
aber enorm schnell.
Wer über Emotionen verfügt, hat also einen evolutionären Vorteil. Diejenigen
unserer Vorfahren, die als Erste wichtige Reize erkannten und blitzschnell
reagieren konnten, haben überlebt und sich fortgepflanzt. Wir sind die Nachkommen dieser Überlebenden. Und deshalb finden sich in der evolutionären
Tiefe des Gehirns wichtige Strukturen wie die Amygdala, die eben das Erleben
von Emotionen ermöglichen. Natürlich haben sich die Emotionen im Laufe
der Evolutionsgeschichte in komplexere Funktionsarten ausdifferenziert; neben
basalen Emotionen wie Angst und Lust traten auch feinere Empfindungen wie
Liebe, Ehre oder Stolz. Doch die ursprüngliche Dichotomie der emotionalen
Funktion (Hin oder weg?) besteht nach wie vor fort.
Emotionen lassen sich als
Handlungsmuster beschreiben,
die uns zu Angenehmem hin- und
von Unangenehmem wegführen
E m oti o n e n
▼
P o s itive E m oti o n e n
»Wir wolle n d o r t hin«
Fre u d e
Fu rch t
N e g ative E m oti o n e n
»Wir wolle n d o r t we g«
Ärger
Tra u e r
69
Lektion 8
Ve r s ch a l tu n g s s ch e m a d e r A myg d a l a
sensorischer
Thalamus
gepumpt, falls eine schnelle Flucht notwendig wird), die Haare richten sich auf
(bei dem Fell, welches unsere Urahnen besaßen, sahen diese dadurch größer und
furchterregender aus), Schmerzreize werden weniger wahrgenommen (wir sollen
im Falle eines Kampfes nicht durch Wundschmerzen abgelenkt sein) und so
weiter. Solche koordinierten Handlungspakete können nur zeitgleich aktiviert
werden, wenn es eine zentrale Instanz gibt, die sie steuert. Eine solche zentrale
Instanz ist die Amygdala. Sie ist zwar nicht allein für Furcht/Freude/Trauer in
unserem Gehirn zuständig. Aber sie empfängt die für viele Emotionen kritischen
sensorischen Eingänge und leitet sie weiter in andere Handlungsmodule des Gehirns.
Lektion 8
Entscheidend dabei ist, dass die Amygdala schnelle, vorbewusste Emotionen
vermittelt: Wenn wir zum Beispiel unsere Bettdecke aufschlagen und darunter
plötzlich etwas Schwarzes, Haariges sehen, schreien wir auf, schrecken zurück
und erzeugen ein Angstgesicht. Die Wahrnehmung nimmt dabei einen sehr
H a n d l u n g s p a ke t
▼
Die Amygdala ist eine zentrale
Steuerungsinstanz für Emotionen.
Sie empfängt wichtige Informationen und schnürt daraus ein
emotionales »Handlungspaket«
Emotionsgesichter, die »Ekel« oder »Furcht« zeigen, werden von Menschen ohne Amygdala
schlechter wahrgenommen, weil der zentrale Koordinator zur Steuerung der Aufmerksamkeit fehlt
▼
Das zeigt auch die Etymologie: Das Wort Emotion setzt sich aus dem lateinischen Wort »motio« (Bewegung) und der Vorsilbe »e« zusammen, was so viel wie
»Herausbewegung« bedeutet. Dieser Begriff wurde vor etwas über 100 Jahren
von dem Schweizer Psychiater Eugen Bleuler eingeführt. Visionär hatte er erkannt, dass Emotionen nicht so sehr über ihre subjektive Empfindung verstanden werden müssen, sondern vielmehr über die Handlungstendenzen (Rückzug,
Hinwendung), die sie auslösen. Diese Handlungstendenzen, die natürlich mit
einem bestimmten Gefühl einhergehen, sind im Wesentlichen gebündelte Aktivierungen eines kompletten Pakets von Hirnstrukturen und Hormonsystemen.
Das lässt sich bestens anhand unserer emotionalen Gesichtsausdrücke illustrieren. Bei Angst etwa reißen wir die Augen weit auf und erweitern auf diese
Weise unser Blickfeld, um mögliche Gefahren gut zu erkennen. Bei Ekel dagegen
ziehen wir das Gesicht zusammen und rümpfen die Nase, sodass wir möglichst
wenig von eventuell schädlichen Geruchsreizen wahrnehmen. Um solche »Emotionsgesichter« zu erzeugen, müssen viele Gesichtsmuskeln koordiniert eingesetzt
werden. Aber es sind nicht nur die Muskeln des Gesichts, die zeitgleich aktiv
werden. Bei Angst steigt auch zeitgleich der Blutdruck (Blut wird in die Muskeln
70
Angst
E ke l
71
Zwi s ch e n h i rn
Auch ohne Amygdala kann man im Prinzip Emotionen erkennen. Versuche mit
Urbach-Wiethe Patienten zeigen, dass sie durchaus in der Lage sind, emotionale
Gesichtsausdrücke zu entschlüsseln. Allerdings betrachten sie häufig die falschen
Stellen im Gesicht eines Gegenübers. Statt etwa sofort die weit aufgerissenen
Augen einer sich fürchtenden Person wahrzunehmen, schauen Urbach-Wiethe
Patienten vorwiegend auf Nase oder Mund. Daran aber kann man Angst nur
schwer ablesen. Macht man sie allerdings darauf aufmerksam, dass sie auf die
Augen schauen sollen, erkennen Urbach-Wiethe Patienten Furcht ebenso gut wie
gesunde Menschen. Das zeigt, dass die Amygdala der zentrale Koordinator für
das Emotionssystem ist. Sie »weiß«, wohin die Aufmerksamkeit gelenkt werden
muss, um emotional relevante Informationen zu bekommen.
Co r tex
A myg d a l a
M u s k u l atu r
Die Amygdala ist somit eine einfache Hirnstruktur, die aus allen Sinnessystemen
sehr schnell grobe Informationen erhält und über einfache Erkennungsmerkmale
für zum Beispiel Furcht verfügt. Entdeckt sie irgendwo im Input etwas, was bedrohliche Merkmale aufweist, richtet sie die Aufmerksamkeit des Gehirns auf
diese Stelle. Ist dieser Stimulus tatsächlich Furcht-relevant, ist die Amygdala in
der Lage, alle Furcht-assoziierten Subsysteme zeitgleich zu aktivieren. Das heißt
aber auch, dass die Furcht-assoziierten Subsysteme, die wir mit dem Erleben von
Angst in Verbindung bringen, auch ohne die Amygdala weiterexistieren.
▼
B l u td r u ck
72
Lektion 8
schnellen Weg über die Amygdala, die, ohne zu zögern, Alarm auslöst. Erst einen
kleinen Moment später erreichen detaillierte visuelle Informationen über einen
zweiten neuralen Pfad unseren Cortex. Möglicherweise erkennen wir dann, dass
vor uns nur eine Gummispinne liegt und wir auf einen Kinderstreich hereingefallen sind. Die Amygdala hat einen Fehlalarm ausgelöst – der allerdings
evolutionär viel sinnvoller ist als ein zu langes Zögern.
Literaturhinweise
• Antonio Damasio,
»Descartes’ Irrtum:
Fühlen, Denken und das
menschliche Gehirn«;
List 2004
• Richard Davidson,
Sharon Bagley, Ulla Rahn-Huber,
»Warum wir fühlen, wie wir
fühlen: Wie die Gehirnstruktur
unsere Emotionen
bestimmt – und wie wir
darauf Einfluss nehmen
können«;
Arkana 2012
• Joseph LeDoux,
»Das Netz der Gefühle:
Wie Emotionen entstehen«;
dtv 2001
Bei Bedrohung schlägt die Amygdala
sofort Alarm und aktiviert die Muskulatur.
Die bewusste Verarbeitung des visuellen
Reizes dauert dagegen länger und erreicht
die Amygdala später
• Jan Plamper,
»Geschichte und Gefühl:
Grundlagen der
Emotionsgeschichte«
Siedler 2012
73
Fakten
Emotionen sind vermutlich das Produkt eines stammesgeschichtlich
sehr alten Verhaltenssystems. Dieses half den Organismen, für das Überleben kritische Hinweisreize zu erkennen und blitzschnell Hin- oder Abwendungsreaktionen zu erzeugen. Je schneller dies gelang, desto größer
waren die Überlebenschancen.
Die Amygdala ist eine Schlüsselstruktur des limbischen Systems, welches
unsere Emotionen erzeugt und reguliert. Die Amygdala ist ein komplexes
Konglomerat aus winzigen Hirnkernen in unserem Vorderhirn. Jeder dieser
kleinen Kerne hat wahrscheinlich eine etwas andere Teilfunktion.
Die Amygdala erhält aus allen Sinnessystemen schnelle und grobe
Wahrnehmungseingänge. Wenn hierbei etwas emotional Wichtiges dabei
ist, kann die Amygdala blitzschnell ein angeborenes Handlungspaket
aktivieren.
Auch ohne die Amygdala können Emotionen erkannt und erfahren werden.
Es fehlt aber die Fähigkeit, die für die Auslösung negativer oder positiver
Emotionen kritischen Reize gezielt zu suchen und das ganze emotionale
Reaktionspaket einheitlich zu aktivieren.
Lektion 9
Das asymmetrische Gehirn
Warum wir links und rechts so
unterschiedlich denken
Anfang der 1960er Jahre fand in einem Universitätslabor in Los Angeles ein
radikaler Eingriff statt. Der Patient hatte im Zweiten Weltkrieg eine Hirnverletzung davongetragen und litt seither unter schwerer Epilepsie. Um ihm zu helfen
und die Ausbreitung der Epilepsie in die gesunde Hälfte des Gehirns zu verhindern, durchtrennten die Ärzte kurzerhand die Verbindung zwischen beiden
Hirnhälften, das Corpus callosum. Der schwere Eingriff verlief gut, zeigte die
gewünschten Effekte und hatte scheinbar keine Nebenwirkungen. Doch der
Hirnforscher Michael Gazzaniga, der damals noch Doktorand war, wunderte
sich: Obwohl die größte Faserverbindung des menschlichen Gehirns durchtrennt
worden war, sollte dies nichts am Denken und Handeln des Patienten verändern?
Gazzaniga beschloss, dies genauer zu untersuchen. Er testete die Wahrnehmung
des Patienten in einer visuellen Halbfeldapparatur. Hierbei wird der Patient gebeten, auf einem Bildschirm einen kleinen Punkt zu fixieren. Dann wird für
einen kurzen Augenblick links oder rechts von diesem Punkt ein Bild gezeigt.
Erscheint das Bild links vom Punkt, gerät es nur ins Blickfeld des linken Auges,
erscheint es recht, kann es nur das rechte Auge sehen. Erstaunlicherweise, so
stellte Gazzaniga fest, konnte der Patient die Bilder nur dann benennen, wenn
er sie mit seinem rechten Auge sah. Erschien das Bild links, behauptete er, gar
nichts gezeigt zu bekommen. Dabei war er keinesfalls blind. Bat man ihn, aus
verschiedenen Gegenständen einen herauszufischen, griff er zielsicher nach jenem, den er links (angeblich nicht) gesehen hatte!
Dieser Versuch zeigt sehr schön die sogenannte Asymmetrie des Gehirns: Unsere
Hirnhälften haben sich jeweils auf besondere Fähigkeiten spezialisiert (siehe
Abbildung). Die linke Hirnhälfte hat sozusagen den analytischeren Part übernommen, verarbeitet Sprache, Zeit- und Handlungsfolgen und steuert die rechte
Literaturhinweise
• Lautenbacher, S.,
Hausmann, M.,
Güntürkün, O. (Hg.):
»Geschlecht und Gehirn«;
Springer 2007
• Peter F. MacNeilage,
Giorgio Vallortigara,
Lesley Rogers, »Warum unser
Gehirn zwei Seiten hat«;
Spektrum der Wissenschaft pp.
42-49 Juli 2010
• Oliver Sacks,
»Der Mann, der seine Frau
mit einem Hut verwechselte«;
rororo 2009
• Sally P. Springer,
Georg Deutsch,
»Linkes/Rechtes Gehirn«;
Spektrum 1998
75
Wa s se h e n Sie?
Diese Aufteilung zwischen Sprachverstehen links und Sprachintonation rechts
hat einen einfachen Grund: Die linke Hirnhälfte ist in der Lage, schnelle Frequenzveränderungen in sehr kurzen Zeitfenstern zu analysieren. Nur so können
wir die Konsonanten der menschlichen Sprache verstehen, die durch schnelle
Frequenzveränderungen charakterisiert sind. Die rechte Hirnhälfte ist dagegen
auf langsame Tonfolgen in längeren Zeitfenstern spezialisiert. Dadurch erfasst
sie nicht nur Sprachintonation, sondern auch Rhythmus und Klangfarben der
Musik.
I c h s e h e e i n e n B a l l .I c h s e h e n i c h t s .
Ebenso wie die Sprache sind auch viele andere Funktionen in unserem Gehirn
asymmetrisch organisiert. Die Rechts- oder Linkshändigkeit ist dafür nur das
sichtbarste Beispiel. Im Grunde kann man sagen, dass es kaum eine Funktion
des menschlichen Denkens gibt, die nicht wenigstens zum Teil durch die LinksRechts-Unterschiede des Gehirns beeinflusst wird.
▼
Visuelle Halbfeldapparatur:
Patienten mit getrennten Hirnhälften
sehen mit dem linken Auge scheinbar
nichts, wählen aber dennoch den
richtigen Gegenstand aus.
Hand und Körperseite. Sie gilt häufig als »dominante« Hirnhälfte, was sich unter
anderem darin zeigt, dass die meisten Menschen Rechtshänder sind. Die rechte
Hirnhälfte ist hingegen für eher »ganzheitliche« Aufgaben zuständig, für das
Erkennen von Gesichtern, die Orientierung im Raum, Musikalität, Aufmerksamkeit und die Steuerung der linken Hand.
Normalerweise stehen beide Hirnhälften in regem Austausch miteinander. Bei
dem von Gazzaniga untersuchten Patienten jedoch, bei dem das Corpus callosum durchtrennt war, war dies nicht mehr möglich. Deshalb konnten die links
gezeigten Bilder zwar von der rechten Hirnhälfte registriert, aber nicht mehr
benannt werden (da für die Sprache die linke Hirnhälfte zuständig ist). Michael
Gazzaniga wurde plötzlich klar, dass er sich im Gespräch mit dem Patienten
immer nur mit dessen linker Hirnhälfte unterhielt. Zu dem, was in der rechten
Hirnhälfte vor sich ging, hatte er keinen Zugang. Und ganz ähnlich erging es
auch den beiden Teilen des Gehirns: Die Operation hatte gewissermaßen zwei
Persönlichkeiten mit teilweise unterschiedlichen Eigenschaften innerhalb eines
Schädels produziert.
Gazzanigas Untersuchungen waren nicht die ersten zur Asymmetrie des Gehirns. Bereits 1865 stellte der französische Wissenschaftler Pierre Paul Broca fest,
dass Patienten mit einer Verletzung im linken frontalen Cortex die Fähigkeit zur
Sprachartikulation zum Teil gänzlich verlieren. Damit zeigte Broca, dass Sprache
im Wesentlichen in der linken Hirnhälfte verarbeitet wird.
76
Lektion 9
Lange Zeit ging man sogar davon aus, dass alle Sprachprozesse durch die linke
Hirnhälfte dominiert würden. Doch das ist nicht der Fall. Zwar kontrolliert die
linke Hirnhälfte den größten Teil unseres Vokabulars, unserer Grammatik und
fast alle Aspekte unserer Sprachmotorik; die rechte Hirnhälfte ist hingegen für
das Verstehen und Produzieren der Sprachintonation verantwortlich.
2 Landkarte
Li n ke H e m i s p h ä re
Re ch te H e m i s p h ä re
· Rechte Hand
· Sprache
· Zeiteinschätzung
· Koordination von Handlungsfolgen
· Linke Hand
· Gesichtserkennung
· Aufmerksamkeitssteuerung
· Orientierung
etrakdnaL 2
▼
Wa s se h e n Sie?
Arbeitsteilung: Die linke und
rechte Hirnhälfte verarbeiten
unterschiedliche Funktionen
77
Lektion 9
Bis vor 20 Jahren gingen die meisten Wissenschaftler davon aus, dass der Mensch
die einzige Spezies mit einem asymmetrisch funktionierenden Gehirn sei. Man
verstand die Spezialisierung unserer Hirnhälften als genialen Trick der Evolution, um die Leistung des Denkorgans zu verdoppeln. Erst damit, so glaubte man,
nahm die kognitive Überlegenheit des Menschen so richtig Fahrt auf. Heute
wissen wir: Diese Theorie ist falsch. Nicht nur wir Menschen nutzen den Verdoppelungseffekt dank Asymmetrie, sondern auch die meisten Tiere.
Die Erklärung hat natürlich mit der Asymmetrie des Gehirns zu tun. Denn in
der linken Hirnhälfte wird nur die gegenüberliegende rechte Welt repräsentiert.
Die rechte Hirnhälfte hingegen hat offenbar beide Raumhälften im Blick. Eine
Verletzung der linken Hemisphäre kann somit von der rechten Hirnhälfte kompensiert werden. Umgekehrt aber gilt das nicht: Eine Läsion der rechten Hemisphäre zerstört die einzige Repräsentation der linken Raumhälfte, auf die unser
Aufmerksamkeitssystem zugreifen kann.
Mittlerweile zeigen Hunderte von Studien, dass bei vielen Tierarten die Hirnhälften unterschiedlich spezialisiert sind. Papageien zum Beispiel sind noch linksfüßiger, als wir rechtshändig sind, und viele Tiere steuern ihre Vokalisationen
mit einer Hirnhälfte, vorwiegend der linken. Das Prinzip der Hirnasymmetrie
hat also eine lange Entwicklungsgeschichte von mehr als 300 Millionen Jahren.
Homo sapiens hat dieses Prinzip nicht erfunden, sondern nur menschentypisch
modifiziert.
Solche Phänomene belegen auf dramatische Weise, wie asymmetrisch unsere
mentalen Fähigkeiten im Gehirn verarbeitet werden. Diese Funktionsaufteilung
entstand wahrscheinlich vor Millionen von Jahren durch ein einfaches Leitprinzip: Die neurale Bearbeitung eines Problems kann innerhalb einer Hirnhälfte
wesentlich schneller erfolgen, als wenn dazu beide Hirnhälften erst über die
langsamen Faserverbindungen des Corpus callosums kommunizieren müssten.
Die Unabhängigkeit und Spezialisierung der Hirnhälften erhöht also letzten
Endes die Prozesskapazität des gesamten Gehirns massiv. Und diese Leistungssteigerung hat sich bewährt – sowohl bei Menschen wie auch bei Tieren.
78
Fakten
Viele Funktionen unseres Gehirns sind asymmetrisch organisiert.
Die meisten Sprachfunktionen sind etwa der linken Cortexhälfte
zugeordnet. Diese dominiert auch die Steuerung der Handmotorik
(bei Rechtshändern).
Dieses Neglect-Syndrom (von engl. to neglect: vernachlässigen, missachten) kann
mitunter Jahre oder sogar Jahrzehnte anhalten. Dabei sind Neglect-Patienten
nicht etwa linksseitig erblindet; sie beachten ihre linksseitigen Wahrnehmungen
nur einfach nicht mehr. Wie ist dies zu erklären? Und warum tritt der Neglect
immer nur nach einer Schädigung der rechten Hirnhälfte auf, nicht aber der
linken?
Die beiden Hirnhälften sind durch das Corpus callosum verbunden.
Wird bei Patienten dieser Balken durchtrennt, redet man fortan nur
noch mit deren linker Hirnhälfte. Nur diese kann Sprache formen.
Die rechte Hirnhälfte bleibt stumm.
▼
Allerdings nehmen wir dieses Prinzip meist erst dann wahr, wenn die feine
Arbeitsteilung durch eine Verletzung gestört wird. Wenn zum Beispiel Schlaganfälle, Blutungen oder Tumore die rechte Hirnhälfte schädigen, kann das für
die Patienten dramatische Folgen haben: Sie können die rechts sitzende Fähigkeit
zur räumlichen Fokussierung verlieren; und damit kann ihnen die linke Hälfte
der Welt regelrecht abhanden kommen. Sie schminken oder rasieren nur die
rechte Seite ihres Gesichts und bemerken das beim Blick in den Spiegel nicht
einmal; sie zeichnen Gesichter oder Blumen nur halb und lassen die Hälfte ihres
Essens auf dem Teller, um hungrig eine weitere Portion zu erbitten. Ihr Denken
zerbricht an einer einzigen Koordinate im Raum.
Lektion 9
Nicht nur Menschen, sondern auch die meisten Tiere haben asymmetrische
Gehirne. Sehr wahrscheinlich hat Homo sapiens die Hirnasymmetrie von
tierischen Vorfahren geerbt und dann menschentypisch modifiziert.
Halbe Welt: Neglect-Patienten nehmen von einer
Vorlage (oben) fast nur die rechte Seite wahr.
Die rechte Hirnhälfte kontrolliert räumliche Kognitionen und vor allem die
Steuerung der Aufmerksamkeit im Raum. Bei Verletzungen der rechten
Hirnhälfte kann es deshalb zu einem Neglect kommen, bei dem für die
Patienten die linke Hälfte des Raumes nicht mehr zu existieren scheint.
79
Lektion 10
Lektion 10
Können Hirnforscher Gedanken lesen?
Von den Möglichkeiten und Grenzen
einer spannenden Disziplin
Die Neurowissenschaft ist in den vergangenen zehn Jahren zur Leitwissenschaft
geworden. Ihr wird sehr viel zugetraut; manchmal zu viel. Dies ist typisch für
eine Wissenschaft, die viel mediale Aufmerksamkeit bekommt und sich gleichzeitig rasend schnell entwickelt. Die öffentliche Darstellung erzeugt eine Mixtur
aus Versprechungen und Ängsten und verschleiert zuweilen die Grenzen der
neurowissenschaftlichen Erkenntnisse. Sie überdeckt aber auch die tatsächlichen Potenziale, die zum Nutzen von uns allen möglich sein könnten. Dies
zeigt sich besonders deutlich bei dem Thema des »Gedankenlesens«, das wie ein
Brennglas viele Hoffnungen und Ängste bündelt: Könnten wir Gedanken lesen,
wäre das eine enorme Hilfe zum Beispiel für sogenannte Locked-in-Patienten,
die in ihrem gelähmten Körper eingeschlossen und unfähig sind, ihre Wünsche
zu äußern; sie könnten dadurch wieder mit uns kommunizieren. Andererseits:
Wenn wir Gedanken lesen könnten, liefen wir eventuell Gefahr, unsere innere
Privatheit, die letzte Bastion der freien Unberührtheit, zu verlieren.
Wie also steht es um das Gedankenlesen?
Was ist tatsächlich möglich, was ist ferne Zukunftsmusik?
Um diese Frage adäquat zu diskutieren, müssen wir einige Inhalte früherer Lektionen aufgreifen. Beim Thema »Lernen« etwa wurde besprochen, dass der Erwerb
neuer Information zu einer synaptischen Verstärkung zwischen zwei Nervenzellen führt. Beim Thema »Gedächtnis« wurde erläutert, dass eine Erinnerung
aus der Reaktivierung derjenigen Neuronengruppen (Assemblys) besteht, die
beim Lernen synaptisch stärker miteinander verkoppelt wurden. Assemblys sind
temporäre Koalitionen von aktiven Nervenzellen. Diese Koalitionen entstehen,
83
zerfallen und bilden sich in veränderter Zusammensetzung immer wieder neu;
genau wie die Gedanken in unserem Kopf. In dieser Lektion müssen wir darüber
reden, wo sich in unserem Cortex diese Assemblys befinden.
Lektion 10
Lassen Sie uns das an dem Begriff »Hammer« erläutern. Wo befindet sich wohl
das Assembly für Hammer in unserem Gehirn? Einerseits ist »Hammer« ein
Wort, daher führt das Nachdenken über einen Hammer zur Aktivierung der
Sprachregion. Andererseits hat ein Hammer ein Aussehen und aktiviert daher
Neuronengruppen im visuellen Assoziationscortex. Zugleich denken wir bei
einem Hammer auch an die Armbewegungen, die wir beim Hämmern ausführen, was zur Erregung bestimmter Assemblys im Motorcortex führt. Außerdem
werden Nervenzellen im auditorischen Assoziationscortex aktiv, weil Hämmern
einen Klang erzeugt. Das Nachdenken über einen Hammer führt also zu einem
regelrechten Patchwork an Aktivierungen im Cortex. Dieses Patchwork ist nicht
zufällig, sondern repräsentiert den »neuronalen Fingerabruck« des Denkens über
einen Hammer. Ähnlich wie ein echter Fingerabdruck ist aber auch das neurale
Aktivierungsmuster bei jedem von uns individuell einzigartig, weil jeder von uns
eine etwas andere persönliche Erfahrung beim Hämmern gemacht hat.
▼
Ein und derselbe Begriff
(z. B. Hammer) aktiviert unterschiedliche Zentren im Gehirn: Für
Sprache (rot), Aussehen (blau),
Bewegung (gelb) und Klang (grün)
Diese individuelle Karte wird nicht nur beim Wahrnehmen, sondern auch schon
beim mentalen Vorstellen eines Hammers aktiv. Das heißt, die Aktivität unseres
Gehirns ist bei der Imagination und bei der Wahrnehmung eines Gegenstands
sehr ähnlich (wenn auch nicht absolut identisch). Und das kann man sich beim
»Gedankenlesen« zunutze machen.
Stellen wir uns vor, wir wollen nicht nur die Aktivierung bestimmter Hirnregionen analysieren, sondern das Aktivierungsmuster des gesamten Gehirns. Dazu
kann man das Gehirn in lauter kleine, dreidimensionale Einheiten unterteilen,
sogenannte Voxel. Mithilfe der funktionellen Computertomografie kann man
nun erkennen, ob ein Voxel aktiviert ist oder nicht. Diese Anordnung aktiver
oder inaktiver Voxel im Gehirn ergibt dann ein riesiges, dreidimensionales Puzzle, das sich je nach dem Gegenstand des Denkens ändert.
Wenn Sie zum Beispiel ein bestimmtes Bild von Picasso betrachten, ergibt sich
ein anderes Voxelmuster, als wenn Sie ein Bild von Mondrian anschauen. Ein
Computer mit einer Mustererkennungssoftware könnte nun diese speziellen
Aktivierungsmuster, die jeweils typisch für Sie sind, analysieren und erlernen.
Dazu müsste der Computer allerdings zusammen mit Ihnen trainieren. Immer
und immer wieder müssten Sie dieses oder jenes Bild betrachten oder es sich
vorstellen. Immer und immer wieder lernte dann das System, dass dieses Aktivierungsmuster mit dem Bild von Picasso und jenes mit dem von Mondrian
84
85
Lektion 10
assoziiert ist. Anschließend wäre das System in der Lage zu erkennen, welches
Bild Sie sich anschauen oder vorstellen. Auf dieser noch sehr groben Ebene funktioniert Gedankenlesen also schon recht gut.
Bild 1
Bild 2
Mit der hier vorgestellten Technik lässt sich bereits sehr viel für Menschen tun,
die sich kaum oder nur sehr eingeschränkt bewegen können. Zum Beispiel für
Patienten, die an Amyotropher Lateralsklerose (ALS) leiden, wie etwa dem
Physiker Stephen Hawking. Bei ihnen sterben nach und nach die motorischen
Nervenzellen ab, sodass sie im Fortgang der Krankheit bei vollem Bewusstsein
in einem nicht bewegungsfähigen Körper eingeschlossen sind und nicht einmal
mehr ihre Wünsche mitteilen können; oder für Querschnittsgelähmte, die oft
nur sehr eingeschränkt mit ihrer Umwelt interagieren können.
Durch elektrophysiologische Methoden, die auf Abwandlungen der oben ausgeführten Gedankenlese-Logik beruhen, können die Intentionen dieser Menschen
zum Teil erfasst und in Bewegungen von Roboterarmen umgesetzt werden. Die
Patienten können auf diese Weise auch lernen, mit ihrer Hirnaktivität den Cursor
auf einem Monitor so zu bewegen, dass sie Buchstabe für Buchstabe schreiben
können. Und plötzlich kann ein Mensch, der zuvor stumm und auf sich selbst
zurückgeworfen war, seine Wünsche formulieren. Wer einmal so etwas erlebt
hat, wird nie vergessen, welchen Segen diese Forschung beinhaltet.
Doch wo liegen die Grenzen dieser Entwicklung?
Kann man mit dieser Technik auch dann unsere Gedanken lesen,
wenn wir es gar nicht wollen?
▼
Die Aktivitätsverteilung im Gehirn
hängt davon ab, welches Bild eine
Person betrachtet. Jede Wahrnehmung erzeugt ein typisches Muster
(rot oder blau). Dieses kann mithilfe
spezieller Mustererkennungssoftware analysiert werden. So kann
der Computer Gedanken »lesen«
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Zunächst einmal gilt: Wenn die Auflösung von bildgebenden Verfahren oder
elektrophysiologischen Methoden besser wird, steigt natürlich auch die Güte des
ausgelesenen neuralen Signals. Allerdings nähern wir uns bereits heute den physikalischen Grenzen dieser Technologien. Mit der steigenden Rechenkapazität von
Computern könnte es zwar innerhalb der nächsten ein bis zwei Dekaden möglich
sein, nicht nur grobe Kategorien des Denkens (»Mann«, »Straße«, »Auto« usw.)
auszulesen, sondern auch feinere Kategorien (eine bestimmte Szene, eine konkrete Person oder ein Wort). Das heißt aber noch lange nicht, dass wirklich komplexe Gedankengänge erfassbar wären.
Zudem gibt es eine wichtige methodische Begrenzung: Mustererkennungssysteme müssen ja erst einmal die individuellen Aktivitätsmuster der zu lesenden Person kennenlernen. Und das geht nur, wenn hochgradig kooperative
Literaturhinweise
• Nils Birbaumer,
Jörg Zittler,
»Dein Gehirn weiß mehr,
als du denkst: Neueste
Erkenntnisse aus der
Hirnforschung«;
Ullstein Buchverlage
GmbH 2014
• Stanislas Dehaene,
»Denken: Wie das Gehirn
Bewusstsein schafft«;
Knaus 2014
• Chris Frith,
»Wie unser Gehirn die
Welt erschafft«;
Springer Spektrum 2013.
• Karsten Hoechstetter,
»Gedanken sichtbar
machen? Funktionsweise,
Möglichkeiten und
Grenzen von EEG und
fMRT« in: Dresler, M. (Hrsg.),
Kognitive Leistungen
Spektrum 2011, pp. 233-250.
• Albert Newen,
»Philosophie des Geistes«;
Beck 2013
• Stephan Schleim,
»Gedankenlesen: Pionierarbeit
der Hirnforschung«;
Telepolis – Heise 2007
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Lektion 10
und hoffe ich, es bleibt dabei:
Die Gedanken sind frei.«
▼
Prof. Dr. Güntürkün: »Daher glaube
Lektion 10
Fakten
Versuchspersonen sich stundenlang bewegungslos Bilder oder Filme anschauen,
damit der Scanner ihre entsprechenden Hirnaktivitäten erlernen kann. Später,
in der eigentlichen Testphase, müssen sich diese Probanden dann auch brav an
das Testprotokoll halten und genau an jenes Bild oder dieses Wort denken, das
der Computer in ihrem Gehirn erfassen soll. Wenn eine Versuchsperson nicht
kooperiert, funktioniert das Ganze nicht.
Zudem gibt es noch ein anderes, grundlegendes Problem: Und dieses Problem
liegt in der Korrelation eines neuronalen und eines geistigen Signals. Denn ein
Mensch ist theoretisch zu unendlich vielen geistigen Vorgängen in der Lage;
diesen stehen nahezu unendlich viele Kombinationen neuronaler Signale gegenüber. Um diese aufeinander abzubilden, müsste eine Versuchsperson eine extrem
große Anzahl unterschiedlicher Gedanken denken und diese präzise mitteilen,
damit die Musterdetektoren die dazugehörigen neuronalen Signale lernen. Einmal ganz abgesehen von allen technischen Schwierigkeiten: Denken ist selten so
klar, dass es sich stets präzise mitteilen ließe. Nur ein kleiner Teil unseres Denkens wird uns bewusst und ein noch kleinerer Teil dieses bewussten Denkens
kann in Worten wiedergegeben werden. Der große Rest des Denkens ist nicht
einmal uns selbst zugänglich, trägt aber zu den neuronalen Signalen in unserem
Gehirn bei. Und mit dieser undurchdringlichen Vielfalt wäre wohl jedes Mustererkennungssystem überfordert. Daher glaube (und hoffe) ich, es bleibt dabei:
Die Gedanken sind frei.
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Denken ist mit schnell wechselnden Aktivitätsmustern auf unserer Cortexoberfläche verbunden. Verschiedene Assemblys repräsentieren dabei
verschiedene Teilaspekte jenes Gegenstandes, an den wir gerade denken.
Da jeder Mensch individuell verschiedene Erfahrungen gemacht hat, sind
auch seine Aktivitätsmuster individuell.
Computerbasierte Mustererkennungssysteme können zu jedem Bild,
das eine Versuchsperson betrachtet, das damit korrespondierende
Aktivierungsmuster erlernen. Anschließend sind solche Systeme in der
Lage, zu erkennen, welches der gelernten Bilder sich die Person gerade
anschaut oder sich vorstellt.
Solche Systeme können auch Handlungsintentionen erlernen und somit
vollständig gelähmten Menschen die Möglichkeit geben, Roboterarme zu
steuern oder Buchstaben auf einem Monitor auszusuchen. Dadurch können
diese Menschen wieder mit der Umwelt interagieren oder kommunizieren.
Ein Gedankenlesen wider unseren Willen ist aus drei generellen Gründen
unwahrscheinlich. Erstens ist momentan nicht erkennbar, wie die notwendige Auflösung der bildgebenden Verfahren erreicht werden soll. Zweitens
muss die Zielperson selbst am Training des Mustererkennungssystems mithelfen und kann daher diesen Prozess leicht sabotieren. Und drittens sind
viele unserer Gedanken uns selbst nicht bewusst oder können sprachlich
nicht adäquat benannt werden.
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Lektion x
Anhang
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Zur Person
Lektion x
Prof. Dr. Drs. h.c. Onur Güntürkün
1975–1984Diplomstudium der Psychologie und anschließende
Promotion an der Universität Bochum
1984–1992Thesisforschung und Habilitation für Psychologie an
der Universität Bochum
1984–1987Forschungsassistenz im Labor für Tierpsychologie
an der Universität Bochum
1987/1988Postdoc im Labor von Prof. H. J. Karten, Department of
Neuroscience an der University of California in San Diego, USA
1988–1992Forschungsassistenz im Labor für menschliche
Informationsverarbeitung an der Universität Konstanz
1993–1997Außerordentlicher Professor für Biopsychologie an der
Ruhr-Universität Bochum
Seit 1997Ordentlicher Professor für Biopsychologie an der
Ruhr-Universität Bochum
2014/2015
Fellow des Wissenschaftskollegs zu Berlin
Auszeichnungen: Träger des Gerhard Hess Awards, des Alfried Krupp
Awards, des TÜBITAK Special Award of the Turkish Republic, des Superior
Achievement Award of the Turkish Parliament, der Verdienstmedaille von
Nordrhein-Westfalen, des Gottfried Wilhelm Leibniz-Preises sowie des
Communicator Awards. Außerdem trägt er mehrere Ehrendoktorwürden
und ist Mitglied zahlreicher Akademien und wissenschaftlicher Gesellschaften in Deutschland.
Buch: »Biologische Psychologie«, Hogrefe Verlag, 2012
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Zur Person
Ulrich Schnabel
1982–1990
Studium der Physik und Publizistik in Karlsruhe und Berlin
1986Stipendium der Robert-Bosch-Stiftung für Wissenschaftsjournalismus
1990ASA-Stipendium der Carl Duisberg Gesellschaft für
Recherche- und Studienreise in Indien (1991)
1990–1993
Freier Journalist
seit 1993
Redakteur im Ressort Wissen der ZEIT in Hamburg
1996Stipendium der United States Information Agency für
eine vierwöchige Studienreise durch die USA zum Thema
Hirnforschung
2002–2005
Stellvertretender Ressortleiter Wissen
Seit 2005
ZEIT-Redakteur, Autor und Moderator
Auszeichnungen: Holtzbrinck-Preis für Wissenschaftsjournalismus (2006),
Theophrastus-Paracelsus-Preis für ganzheitliche Medizin (2009), Werner
und Inge Grüter-Preis für Wissenschaftsvermittlung (2010)
Bücher: »Wie kommt die Welt in den Kopf?« Reise durch die Werkstätten,
der Bewusstseinsforscher (mit A. Sentker); Rowohlt, 1997, »Die Vermessung
des Glaubens. Forscher ergründen, wie der Glaube, entsteht und warum
er Berge versetzt«; Blessing 2008, »Muße. Vom Glück des Nichtstuns«;
Blessing, 2010, »Was kostet ein Lächeln? Von der Macht der Emotionen in
unserer Gesellschaft«; Blessing, 2015
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Bild- und Videonachweise
Bildnachweise DVD
Lektion 1: Ralf Biehler, Axel Thiede, KAI PFAFFENBACH/Reuters/Corbis; Science Picture Company/
Science Picture Co./Corbis Lektion 2: Heritage Images/contributor Lektion 3: Science Picture Company/Science Picture Co./Corbis Lektion 4: Suzanne Corkin Lektion 5: Corbis; Jodi Hilton/Pool/Reuters/
Corbis; Hero Images/Corbis; Sophie Bassouls/Sygma/Corbis Lektion 6: akg/Science Photo Library;
www.brightstarcare.com/ chattanooga/files/2013/11/alzheimers-scan.jpg Lektion 8: akg/Science Photo
Library; ozgurdonmaz/iStock; Paul Ekman Group, LLC. Lektion 9: Rick Friedman/Rick Friedman/
Corbis; akg/Science Photo Library; IAM/akg-images.
Videonachweise DVD
Lektion 1: Berning et al., Science, Stefan Hell Lektion 10: Patrick van der Smagt (Veröffentlichungen:
Hochberg LR, Bacher D, Jarosiewicz B, Masse NY, Simeral JD, Vogel J, Haddadin S, Liu J, Cash SS,
Smagt P van der, Donoghue JP (2012). Reach and grasp by people with tetraplegia using a neurally
controlled robotic arm. Nature. 485 372–377. Vogel J, Haddadin S, Jarosiewicz B, Simeral JD, Bacher D,
Hochberg MM, Donoghue JP, Smagt P van der (2015). An assistive decision-and-control architecture for
force-sensitive hand–arm systems driven by human–machine interfaces. The International Journal of
Robotics Research (IJRR))
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