Nemo - Neue Mobilität Region Stuttgart Ausgabe 5

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Nemo - Neue Mobilität Region Stuttgart Ausgabe 5
OK TOBER 2015 | ausgabe 5
NEUE mobilITÄT IN DER REGION STUT TGART
Schwäbische Tüftler E-Mobilität für Menschen mit Handicap | Seite 14
Straßenbau ist nicht alles Interview mit Verkehrsminister Hermann | Seite 8
Günstig auf Achse Ein Selbstversuch im Fernbus nach Heidelberg | Seite 42
Pedaleure in Uniform Die E-Bike-Staffel der Stuttgarter Polizei | Seite 4
Inhalt
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Schneller als die Polizei erlaubt 4
INTERVIEW VERKEHRSMINISTER WINFRIED HERMANN „Der Stau sind letztlich alle“ 8
PORTRÄT FAHRZEUGE FÜR MENSCHEN MIT BEHINDERUNG Tüftler machen mobil 14
PORTRÄT INNENANSICHTEN EINES CHORS Prima fürs Klima 22
THEMA WORLD OF ENERGY SOLUTIONS Voraus in die Zukunft 26
REPORTAGE HYBRID-MÜLLAUTO Zwei Herzen in einer Brust 30
INTERVIEW ABGEORDNETER STEFFEN BILGER „Ludwigsburg ist ein Vorbild“ 34
THEMA E-AUTOS IN DER WERKSTATT Achtung Hochspannung 38
SELBSTVERSUCH TOUR MIT DEM FERNBUS Reisen für wenig Geld 42
REPORTAGE ORDNUNGSHÜTER AUF DEM E-BIKE
Impressum
Herausgeber Wirtschaftsförderung Region Stuttgart GmbH (WRS) · Friedrichstraße 10 · 70174 Stuttgart · Telefon 0711 - 228 35-0 · [email protected] · www.region-stuttgart.de
Geschäftsführer Dr. Walter Rogg Verantwortlich Holger Haas Konzept und Redaktion Michael Ohnewald Gestaltung Michel Holzapfel/felantix.de Realisierung Lose Bande/www.lose-bande.de
Mitarbeit Alexandra Bading, Elke Gregori, Holger Haas Druck Bechtle Druck&Service GmbH & Co. KG Die Wirtschaftsförderung Region Stuttgart GmbH ist eine Tochter des Verbands Region Stuttgart.
Bildnachweis Reiner Pfisterer (1, 2, 8, 11, 12, 14 – 25, 30 – 35, 38 – 48 ); Verband Region Stuttgart (3); Achim Zweygarth (4 – 7); Joachim E. Roettgers GRAFFITI (10); Foto Vogt (13);
WES/KD Busch (26 – 29); Abgeordnetenbüro Steffen Bilder MdB (37)
NEMO – NEUE MOBILITÄT IN DER REGION STUTTGART
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DIE NÄCHSTE AUSGABE ERSCHEINT IM FRÜHJAHR 2016
Editorial
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ie deutsche Autobranche sorgt für reichlich Schlagzeilen in diesen
Tagen. Abgasmanipulationen sind aufgeflogen. In einem ganz anderen Licht erscheint seitdem ein Werbespot von Volkswagen, der
in Amerika gelaufen ist. Drei ältere Damen sind darin in einem VW-Diesel
unterwegs. Als eine von ihnen einwendet, dass der Motor des neuen Autos womöglich reichlich Dreck in die Umwelt blase, nimmt die Besitzerin
kurzerhand zum Beweis des Gegenteils ein weißes Tuch und hält es unter
den Augen ihrer Freundinnen bei laufendem Motor vor den Auspuff, ohne
dass sich die Textile auch nur ansatzweise durch Rußpartikel verfärbt.
Inzwischen weiß man es besser, wobei es sich verbietet, die gesamte Autobranche unter Generalverdacht zu stellen. In jeder Krise liegt freilich
auch eine Chance. Gut möglich, dass die deutschen Automobilkonzerne
durch diese Zäsur künftig noch stärker auf verbrauchsarme Technologien setzen wie auf Hybrid- oder Elektroautos. Baden-Württembergs
Verkehrsminister Winfried Hermann würde es jedenfalls begrüßen,
wie er jetzt im nemo-Interview betont. „Die Automobilindustrie hat, zumindest nach internationalen Maßstäben, zu spät aufgedreht“, meint
der Grünen-Politiker. „Inzwischen haben die deutschen Autobauer aufgeholt und knapp 30 alternative Modelle auf den Markt gebracht.“
Hermann plädiert für eine ganzheitliche Mobilitätspolitik, „die alle Verkehrsträger auf einfache Weise und benutzerfreundlich miteinander vernetzt“. Weniger hält er dagegen vom steten Ruf nach neuen Straßen. „Staus
sind die Folge jahrzehntelang verfehlter Politik, die auf die autogerechte
Stadt fixiert war und dafür andere Bereiche vernachlässigt hat“, sagt der
Minister. Eine Ansicht, die nicht von allen geteilt wird, wie man sich denken
mag, die täglich auf unterdimensionierten Straßen im Stau stehen. „Wenn
man fünf Kilometer Umgehungsstraße baut, löst man einen Stau nicht auf,
sondern verlagert ihn nur fünf Kilometer weiter“, hält Hermann dagegen.
„Wenn sich im Modal Split nichts ändert, also der Verteilung des Transportaufkommens auf die verschiedenen Verkehrsträger, wird der Stau bleiben.“
Stuttgarts Oberbürgermeister Fritz Kuhn will mehr Pendler für Busse,
Bahnen und Räder begeistern. Er hat deshalb jüngst eine Kampagne gestartet unter dem Motto „Stuttgart steigt um“. Schließlich pendeln täglich
rund 140.000 Berufstätige in die baden-württembergische Landeshauptstadt ein und 70.000 aus der Stadt heraus. Die meisten nutzen dafür das
Auto und sitzen darin in der Regel allein. „1,2 Personen pro Fahrzeug sind
einfach nicht effizient“, sagt Verkehrsminister Winfried Hermann. „Der
Stau sind letztlich alle, die Auto fahren.“ Zumindest diesen Satz würde
wohl auch der CDU-Bundestagsabgeordnete Steffen Bilger unterschreiben, der ebenfalls in der fünften Ausgabe des Mobilitätsmagazins nemo
zu Wort kommt. Bilger ist Mitglied im Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung und Sprecher des Parlamentskreises Elektromobilität. Gemeinsam mit 12 Abgeordneten hat er neulich die Bundesregierung
aufgefordert, dass die Hälfte der Anschaffungskosten bei Elektroautos
im ersten Jahr steuerlich geltend gemacht werden kann. Elektrisch betriebene Autos seien aber auch noch aus ganz anderen Gründen wichtig für unsere Zukunft, so Bilger. „Die meisten Fahr-Zeuge sind eigentlich Steh-Zeuge, sie werden zur An- und Abreise genutzt und stehen die
[·] Dr. Walter Rogg
[·] Dr. Nicola Schelling
Geschäftsführer Wirtschaftsförderung Regionaldirektorin
Region Stuttgart GmbH
Verband Region Stuttgart
meiste Zeit. Mit ihren Batterien können sie damit intelligent als Strompuffer für erneuerbare Energien verwendet werden. Ich sehe auch deshalb
Elektromobilität als eine echte Chance für Deutschland: industriepolitisch, für unser Klima, saubere und leisere Städte sowie energietechnisch.
So könnten hierzulande bis zu 250.000 neue Arbeitsplätze entstehen.“
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inige der besagten Arbeitsplätze sind freilich längst entstanden.
Nicht von ungefähr ist in dieser Ausgabe zwei Unternehmen aus
Urbach und Eislingen ein großer Beitrag gewidmet, die neue
Wege im Bereich der Mobilität für Menschen mit Beeinträchtigung gehen. Einer davon ist Gerhard Fried aus Urbach. „Wir wollten einen Rollstuhl entwickeln, der geländetauglich ist, also problemlos durch Sand,
Kies und über Waldwege fährt, und dazu auch noch sportlich aussieht“, erzählt er. Herausgekommen ist der Elektro-Rollstuhl Freee F2,
der vollkommen anders aussieht als bisher bekannte Gefährte dieser
Art und sich auch vollkommen anders fährt – sehr zur Freude jener
Menschen, deren Radius sich durch das Gefährt deutlich erweitert
hat. Nach Freiheit riecht es auch im Laden von Gert Wiedemann, der
ebenfalls Unternehmer in Sachen Mobilität ist. Vor einigen Jahren hat
er in Eislingen eine Firma gegründet, die sich darauf spezialisiert hat,
Fahrzeuge mit zwei, drei oder auch vier Rädern so umzubauen, dass
auch Menschen mit Handicap wieder mobil sein können.
Es tut sich also durchaus einiges in der Region Stuttgart, wie dieses Magazin offenbart. Polizisten gehen neuerdings mit Elektrorädern auf Streife,
Müllautos sind in der Autoregion zu Testzwecken mit sparsamer HybridTechnik unterwegs, um nur zwei Geschichten anzureißen. Das alles ist
Teil einer neuen Mobilitätskultur. Und es ist lesenswert, wie wir meinen,
denn die Zukunft beginnt nicht erst, sondern sie nimmt längst ihren Lauf.
Wir wünschen Ihnen viel Freude bei der Lektüre dieses Magazins. [·]
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Schneller als die
Polizei erlaubt
Stuttgart ist vieles, nur nicht eben. Deshalb
fährt hier auch die erste E-Bike-Staffel der
Polizei im Land auf Streife. Mal gemütlich
und manchmal ganz schön forsch.
TEXT JÜRGEN LÖHLE
F O T O S A C H IM Z W E Y G A R T H
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R E P O R T A G E · O R D N U N G S H Ü T E R A U F D E M E - BI K E
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as Unheil naht rasch und von hinten.
Der junge Mann radelt auf dem Stuttgarter Marienplatz knapp an einer
arglosen Passantin vorbei, schnappt sich deren Umhängetasche, strampelt so schnell er
kann Richtung Filderstraße davon und biegt
kurz darauf rechts weg in die Lehenstraße.
Pech für ihn, dass zwei Polizisten die Szene
beobachtet haben und die Verfolgung aufnehmen. Normalerweise ist es für einen flinken
Radler kein Problem, im dichten Stadtverkehr
ein Auto abzuhängen, aber die besagten Beamten sitzen ebenfalls im Sattel. Der Dieb erkennt
die Lage und tritt bergauf in die Pedale, als
gäbe es kein Morgen. Trotzdem kommen die
Polizisten stetig näher. Und je steiler es wird,
desto schneller kommen sie heran. Keine zwei
Minuten später haben die Beamten den Dieb
erreicht. Der schnauft wie eine Lok, ist dermaßen außer Atem, dass er den immer noch wundersam entspannten Ordnungshütern keine
Probleme mehr machen kann. „Seid ihr Olympiasieger oder so was“, keucht der enttäuschte
Taschenräuber, als die Handschellen klicken.
Sind sie nicht, aber die Polizisten sind auf
E-Bikes unterwegs. Fahrradstaffeln der Polizei sind nichts Neues, aber einen elektrischen
Rückenwind auf dem Dienstvelo gibt es landesweit derzeit nur in Stuttgart. Und das hat
natürlich Sinn, wie die eingangs geschilderte, fiktive Szene, zeigt. Die baden-württembergische Landeshauptstadt ist schließlich
Deutschlands einzige Großstadt, die einen
stattlichen Höhenunterschied von bis zu
342 Meter im Stadtgebiet ausweist. Und sie
hat Anstiege wie zum Beispiel die Alte Weinsteige, die bei der Tour de France locker als
Bergwertung der zweiten Kategorie durchge-
hen würde. Da ist ein Pedelec natürlich genau
die richtige Ergänzung für stramme Polizeiwaden. „Wir können schließlich sicher nicht
von jedem verlangen, zum Beispiel zweimal
am Tag von der Stadtmitte bergauf nach Degerloch zu radeln“, erklärt Peter Sitzler, ein
Sprecher der Stuttgarter Polizei.
Die Szene mit dem Taschenräuber ist wie gesagt fiktiv, wäre aber künftig bei der erst seit
Mitte Juli aktiven Staffel durchaus denkbar.
Und auch ganz real ist bei einer normalen
E-Bike Streife schon so manches los. Ein Sommertag im Unteren Schlossgarten, am Rand
eines Parkteichs: Plötzlich geht es schnell,
sehr schnell. Zwei Radfahrer rauschen von
links heran, zwei von der anderen Seite. Die
Jugendlichen auf der Parkbank unter der gewaltigen Baumkrone erkennen zwar gerade
noch, dass da Polizisten im Sattel sitzen, die
sind aber so fix bei ihnen, dass der eilig weggeworfene Joint in der Wiese weiter vor sich
hin kokelt und zudem einer der Beamten sagen kann, wer ihn zuletzt in der Hand hatte.
Künstlerpech für die Kiffer, Alltag für die Mitglieder der Pedelec-Staffel.
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llesamt haben sich die Mitglieder der
Stuttgarter Staffel freiwillig zur Sattelarbeit gemeldet. Acht E-Bikes stehen
zur Verfügung, die radelnden Ordnungshüter
sind zudem mit schnittiger blau-grauer Funktionskleidung, blauen Helmen und höchst amtlichen Sonnenbrillen ausgestattet. Das ganze Set
kostete pro Beamten 715 Euro und wirkt insgesamt leicht und freundlich. In den USA sehen
radelnde Cops ganz anders und auf jeden Fall
grimmiger aus. Schwarze Montur, martialische
Panzer an Knien und Ellenbogen, armdicke
Schlagstöcke – ein wenig Starwars im Sattel.
Hierzulande setzt man eher auf unauffällig. Die
Aufschrift „Polizei“ ist auf den Trikots nur dezent angebracht, am Fahrrad fehlt sie komplett,
was durchaus im Sinne des Erfinders ist. Muss
ja nicht jeder sofort erkennen, wer da auf einen
zurollt. Im Alltag kann das auch schon mal heiter werden. Mark Gracher, der Leiter der Fahrradstaffel, erinnert sich: „Neulich hat uns einer
gefragt: Sind sie von der Post?“
Sind sie nicht, auch wenn manchmal im Sattel ordentlich die Post abgeht, wenn etwa die
schnelle Truppe bei einem Drogendeal eingreift und die Verdächtigen wegrennen oder
ein Kaufhausdetektiv um Hilfe bei der Verfolgung eines Schuhdiebes bittet. Gerade mitten
in der Stadt ist ein E-Bike in puncto Wendigkeit und Beschleunigung konkurrenzlos, da
geht es dann auch mal schneller, als die Polizei erlaubt – zumindest in Tempo-30-Zonen
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und Wohngebieten. Die Pedelecs unterstützen den Fahrer zwar nur
bis Tempo 25, bergab geht es aber durchaus auch deutlich schneller.
Die Jugendlichen mit dem Joint haben es deshalb wohl erst gar nicht
versucht, sich aus dem Staub zu machen. Der Rest ist Routine: Personalien aufnehmen, Taschenkontrolle, alles schriftlich festhalten,
Platzverweis aussprechen und weiter geht’s.
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egonnen hat die Streife zwei Stunden zuvor in der Dienststelle
der Einsatzhundertschaft an der Pragstraße. Normal fahren die
Beamten zu zweit oder zu viert; wenn sie zu einem Einsatz angefordert werden, können es auch mehr sein. Die Räder der Polizei sind
technisch im Moment Stand der Dinge. Federgabel, Scheibenbremsen
ein 250-Watt-Antrieb mit einem starken Akku und ein relativ leichter
Aluminiumrahmen. Diese Qualität hat allerdings auch ihren Preis. Pedelecs dieser Güte sind nicht unter 3.000 Euro zu bekommen. Deshalb
achten die Beamten bei überschaubaren Aktionen auch darauf, dass
einer bei den Velos bleibt, während der andere zum Beispiel jemandem
hinterhergeht oder kontrolliert. Man kann das Pedelec zwar verriegeln,
das schützt aber nicht davor, dass es jemand wegträgt. Aber die Sicherung des öffentlichen Eigentums hat auch Grenzen. „Nur um das Rad
vor Dieben zu schützen, lassen wir natürlich keinen einzelnen Beamten
fünf Männern hinterherrennen“, erklärt Mark Gracher.
Eine normale Streife beginnt in der Regel eher ruhig und beschaulich.
Über die Zentrale der Einsatzhundertschaft in der Pragstraße geht es
direkt in den Rosensteinpark. An der Wilhelma vorbei führt der Weg
bergab Richtung Schlossgarten. Gerade dort ist das Fahrrad das ideale
Gefährt. Zu Fuß dauerte die Streife viel zu lange, ein Auto fiele im Park zu
sehr auf und würde auch die Spaziergänger verärgern. Auf dem Rad ist
die Polizei mittendrin und eben auch dabei, wenn es schnell gehen muss.
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enau das ist auch der Zweck. Anders als in vielen Städten beschränken sich die Aufgaben der Stuttgarter E-Biker in Uniform nicht auf die Verkehrskontrolle anderer Radler. Das gehört auch dazu, aber am Rand. Die Stuttgarter Polizeiradler verstehen
sich als Streife wie jede andere, aber statt zu Fuß oder im Auto mit einer ganz neuen Mobilität, eben auf dem E-Bike. Das Spektrum ist weit,
reicht von Einsätzen bei Drogendelikten bis zur Kontrollfahrt durch
einbruchgefährdete Wohngebiete. Andere Einsatzgebiete werden geprüft. „Vielleicht probieren wir es auch beim Fußball aus“, sagt Polizeikommissar Gracher. Da ist bisher eher das Pferd das Maß der Dinge.
Heute ist es ruhig im Park. Ein paar Männer schlafen nahe dem Eckensee ihren Rausch aus, die Streife rollt ruhig weiter bis zum Schlossplatz.
Die Passanten schauen interessiert, manche auch amüsiert: „Haben Sie
kein Geld mehr für Autos?“, feixt ein junger Mann. Statt einer Antwort
fährt Aurelia Hildebrandt plötzlich los – und ist schnell weg. E-Bikes beschleunigen rasant und ein paar Sekunden später bedeutet die Polizeimeisterin einer Radlerin, doch bitte in der Fußgängerzone abzusteigen,
was diese umgehend auch tut, wenn auch ein wenig mürrisch. „Ich wollte mal etwas anderes machen und jetzt gefällt mir die Arbeit“, sagt Aurelia
Hildebrandt, „und man ist vor allem deutlich schneller als zu Fuß.“ [·]
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„Der Stau sind
letztlich alle“
Verkehrsminister Winfried Hermann ist ein
Überzeugungstäter: Er setzt sich für eine
„ganzheitliche und moderne Mobilitätspolitik
ein, die für mehr Lebensqualität im ganzen
Land sorgt“, wie er sagt. Den Autokonzernen
wirft der Grünen-Politiker vor, zu wenig für
den Verkauf von Elektrofahrzeugen zu tun.
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Herr Hermann, wie fühlt man sich so als Feindbild der CDU im Land?
Winfried Hermann: Ich meine, dass dieses Bild
zwischenzeitlich schon sehr verschwommen
ist. Es sind doch nur noch die allerletzten Ideologen, die glauben, mich als Feindbild bewahren
und benutzen zu können. Es war eben für viele
nur schwer vorstellbar, dass ein Grüner Verkehrsminister wird. Tatsächlich spüre ich landauf und landab die Anerkennung für meine Arbeit. Die Bürgermeister in den Kommunen und
Landkreisen haben in den vergangenen vier
Jahren erfahren, dass ich mich unabhängig von
ihrem Parteibuch um ihre Probleme kümmere,
dass Umgehungsstraßen gebaut und vor allem
Sanierungsmaßnahmen umgesetzt werden.
Wir bitten freundlichst um ein konkretes Beispiel Ihrer Überzeugungsarbeit.
Winfried Hermann: Beispielsweise haben wir
im Nassachtal, einem vergessenen Flecken
im Landkreis Göppingen, die Landstraße saniert, worauf die Menschen mehr als 40 Jahre warten mussten. Demnächst wird in dem
Tal auch noch ein neuer Radweg angelegt,
und endlich sind alle zufrieden. Es gibt viele
solcher Beispiele. Selbst von mittelständischen Unternehmen, die sich offen zur CDU
bekennen, bekomme ich zu hören, dass ich
ihre letzte Hoffnung bin, weil die Vorgängerregierung nur Versprechungen gemacht hat.
[·] Der Verkehrspolitiker Hermann wirbt gerne und oft für eine moderne, ganzheitliche Mobilitätspolitik …
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Dabei gelten doch Sie in den Augen der früheren Regierungspartei als Verkehrsminister, der
keine Straßen bauen mag und Autos aus den
Städten verbannen will.
Winfried Hermann: Erstens ist es nicht wahr,
dass wir keine Straßen bauen, das Gegenteil
ist der Fall. Wir haben in den vergangenen vier
Jahren doppelt so viel Geld in den Straßenbau
investiert wie die CDU, unter der die Straßenbauverwaltung zur Sparkasse wurde. Fast die
Hälfte der personellen und finanziellen Kapazität wurde damals abgebaut. Nicht umsonst
hat die SPD daraufhin die Kampagne „Holterdipolter“ ins Leben gerufen. Unser Ziel ist, das
besser und umsichtiger hinzubekommen. Wir
setzen den klaren Schwerpunkt auf die Sanierung, die lange vernachlässigt wurde. Ich suche
das Heil zwar nicht im Straßenbau, sehe aber
durchaus die Notwendigkeit, für eine nachhaltige und umweltfreundliche Infrastruktur zu
sorgen. 80 Prozent des Verkehrs läuft nach wie
vor über die Straße, dem muss auch ein grüner
Verkehrsminister Rechnung tragen.
Der Stau gehört zur Region Stuttgart wie der
Mercedesstern. Der Stuttgarter steht bundesweit
übers Jahr gesehen am längsten im Stau – fast 60
Stunden. Das schlägt pro Haushalt laut Studien
mit rund 3.000 Euro zu Buche. Tendenz steigend.
Was kann man als Politiker dagegen tun?
Winfried Hermann: Kleine Korrektur: Köln hat
Stuttgart als Stauhauptstadt abgelöst, dort
standen die Autofahrer im Schnitt 65 Stunden
im Stau. Nichtsdestotrotz, Staus sind die Folge
jahrzehntelang verfehlter Politik, die auf die
autogerechte Stadt fixiert war und dafür andere Bereiche vernachlässigt hat. Wenn man
fünf Kilometer Umgehungsstraße baut, löst
man einen Stau nicht auf, sondern verlagert
ihn nur fünf Kilometer weiter. Wenn sich im
Modal Split nichts ändert, also der Verteilung
des Transportaufkommens auf die verschiedenen Verkehrsträger, wird der Stau bleiben.
Ganz egal, wie viele Straßen man noch baut.
Was wir brauchen, ist ein ganzheitlicher
Ansatz. Deshalb bauen wir vor allem die Alternativen aus, also ÖPNV, Rad- und Fußverkehr, aber auch die Elektromobilität. Es muss
gelingen, eine größere Zahl an Pendlern zum
Umsteigen zu bewegen. 1,2 Personen pro Fahrzeug sind einfach nicht effizient. Der Stau sind
letztlich alle, die Auto fahren. Genauso können
alle dazu beitragen, ihn zu vermeiden.
Immerhin, es geht also noch schlimmer. Welche
Lösung können Sie anbieten?
Winfried Hermann: Ich stehe und werbe für
eine moderne, ganzheitliche Mobilitätspolitik,
die alle Verkehrsträger auf einfache Weise und
benutzerfreundlich miteinander vernetzt. Die
[·] … und pflegt den Dialog mit der Autobranche wie hier mit Daimler-Chef Dieter Zetsche (links) und Daimler-Forschungschef Thomas Weber (zweiter von rechts).
Stuttgart Service Card, die jetzt polygoCard
heißt, ist da ein wunderbares Beispiel und
Leuchtturmprojekt, das genau dieses Mobilitätsverhalten symbolisiert: Eine Karte, mit der
man Bus oder Bahn fahren, ein Pedelec oder ein
Elektroauto mieten kann. So etwas brauchen
wir im ganzen Land. Elektronische Netzkarten, die für viele Verkehrsträger gelten, ohne
dass man sich mit komplizierten Automaten
und Tarifen auseinandersetzen muss.
Setzen Sie dabei auch auf die nachkommende
Generation, die gerade in den Städten ein anderes Verhältnis zur Mobilität und vor allem
zum einstigen Statussymbol Auto hat?
Winfried Hermann: Das Projekt E-Car2Go in
Stuttgart zeigt uns eindeutig, dass insbesondere junge Menschen solche Angebote annehmen
und verstärkt nutzen. Es stimmt: Sie brauchen
und wollen vielfach kein eigenes Auto mehr,
wollen flexibel sein und keinen Ärger mit Parkplätzen oder Reparaturen haben. Es wächst,
zumindest in den urbanen Räumen, eine Generation heran, die multimodal unterwegs ist.
Das ist ein globaler Trend, nach dem wir unsere Politik ausrichten. Übrigens haben wir erst
jüngst eine Umfrage gemacht, die bestätigt,
dass wir mit dieser Politik den Wünschen vieler
Bürger entgegenkommen, nicht nur der jungen
Menschen. Die Forderung nach der nächsten
Straße als Lösung der Verkehrsprobleme ist
einfach nicht mehr zeitgemäß.
Die Forderung nach Fahrverboten dafür offenbar umso mehr. Sie trauen sich Projekte, die sich
in Deutschland so noch niemand getraut hat –
und das im Autobauerländle. Die Rede ist von
der konkreten Überlegung, an Tagen mit hoher
Feinstaubkonzentration die Fahrzeugmengen
zu halbieren. Keine Angst vor einer Revolte?
Winfried Hermann: Die Stadt Stuttgart reißt
trotz vieler Anstrengungen seit nunmehr
zehn Jahren die gültigen Feinstaub-Grenzwerte, die deshalb nach wissenschaftlichen
Erkenntnissen gesetzt wurden, weil es jenseits davon zu schwerwiegenden Krankheiten
und Schlimmerem kommen kann. Nun ist die
Europäische Kommission nicht länger gewillt,
weitere Entschuldigungen hinzunehmen. Sie
will stattdessen ein Klageverfahren gegen
Deutschland eröffnen, am Beispiel Stuttgart.
Als Landesregierung, die nach EU-Recht die
verantwortliche Behörde ist, sind wir verpflichtet, der Kommission so überzeugende
Vorschläge zu machen, dass der Europäische
Gerichtshof am Ende nicht angerufen wird.
Aber fürchten Sie nicht, dass der dicken Luft im
Kessel dicke Luft in der Wirtschaft des Landes
folgt, wenn der schwäbische Arbeitnehmer per
Dekret sein Auto stehen lassen muss?
Winfried Hermann: So weit ist es doch längst
noch nicht. Wir haben vielmehr ein Stufenkonzept entwickelt, das auf mehrere Jahre angelegt
ist. In der ersten Phase setzen wir auf Aufklärung und Freiwilligkeit, kommunizieren die
Grenzwerte und ihre Folgen und zeigen die
mobilen umweltfreundlichen Alternativen
zum Auto auf. Dann werden wir uns bei entsprechender Inversionswetterlage auch um
jene Kaminheizungen kümmern, die nur der
Romantik dienen, dabei aber ausgesprochene
Feinstaubschleudern sind. Erst dann folgt als
nächste Maßnahme die Reduzierung des Individualverkehrs. Dabei setzen wir zunächst darauf, dass die Menschen selber umsteigen, wenn
es eine Feinstaubwarnung gibt. Sollte das alles
nicht reichen, müssen tatsächlich Fahrverbote
in Betracht gezogen werden. Eine Möglichkeit
ist, die Euro-6-Norm als blaue Einfahrtplakette
zu nehmen. Optional könnte man auch Fahrzeuge ab zwei Personen zulassen, damit nicht
das Argument angeführt wird, nur die Reichen
könnten sich das leisten. Zu dieser Kombilösung tendieren wir gerade, wenngleich es noch
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Zum Beispiel mit unserem MetropolexpressKonzept, das den regionalen Schienenverkehr
S-Bahn-ähnlich vertakten soll.
[·] „Es gilt, über Stuttgart 21 hinaus zu denken“, sagt der mitunter auch polarisierende Grünen-Politiker.
weitere Reduzierungsmöglichkeiten gibt, etwa
über die Nummernschilder. Wie auch immer,
eines steht fest: Wenn wir nicht handeln, wird
uns das teuer zu stehen kommen. Die Europäische Kommission kann Bußgelder in sechsstelliger Höhe verhängen – pro Tag.
Aber wie lassen sich überzeugte Autofahrer
zum Umsteigen auf den Öffentlichen Nahverkehr bewegen?
Winfried Hermann: Wir setzen auch hier zunächst auf Aufklärung und Information, damit kann man schon einiges erreichen. Und
dann müssen natürlich die Alternativen noch
wesentlich besser werden. Die Stadt Stuttgart
muss ihre Fuß- und Radwege weiter ausbauen.
Und wir müssen zusammen mit dem Verband
Region Stuttgart als Betreiber der S-Bahn, den
Landkreisen und anderen Partnern die ÖPNVAngebote weiter verbessern, mehr Kapazitäten
schaffen, die Vernetzung und die Verlässlichkeit steigern, damit eine deutliche Steigerung
an Fahrgästen möglich ist. Dazu gehört auch
ein flächendeckendes Parkraummanagement
in der ganzen Region Stuttgart. In anderen
Städten ist man da schon viel weiter, selbst in
London und Paris oder der klassischen Autostadt San Diego sind Nahverkehr und Radwege in den letzten Jahren massiv ausgebaut
worden. Da lasse ich auch das ewige Argument
nicht gelten, dass Stuttgart mit seiner Lage im
Talkessel beim Radverkehr nur begrenzte Möglichkeiten hat. Wenn es nur wenig Fläche gibt,
muss sie umso intelligenter genutzt werden.
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Ist Stuttgart 21 ein Projekt, mit dem sich für Sie
Hoffnungen auf mehr Umsteiger vom Auto auf
den Zug verknüpfen. Schließlich verkürzen sich
viele Fahrzeiten enorm?
Winfried Hermann: Ein Teil unserer aktuellen
Probleme hängt zunächst einmal natürlich
mit der Großbaustelle zusammen. Die Umbauarbeiten am Hauptbahnhof haben Verspätungen von S-Bahnen und Zügen zur Folge,
die Baustellen auf den Straßen blockieren den
Autoverkehr, für den Tunnelbau müssen Autobahnspuren verschwenkt werden. Da uns die
Baustellen noch etliche Jahre begleiten werden, ist uns sehr daran gelegen, die Auswirkungen so gering wie möglich zu halten. Vor
allem aber wollen wir alles tun, um das Projekt bei der Umsetzung im Rahmen unserer
Möglichkeiten zu verbessern. Das dritte Gleis
am Flughafen ist ein großer Erfolg, weil damit
die Gäubahn-Züge der S-Bahn nicht mehr im
Weg stehen. Und der Ausbau des Vaihinger
Bahnhofs zum regionalen Umsteigepunkt
ist auch eine deutliche Verbesserung, die den
Nahverkehr in der Region deutlich attraktiver
macht und die Umsteigemöglichkeiten spürbar verbessert. Ich werde das Projekt nicht
schönreden, will aber auch keine alten Gefechte aufwärmen. Vor allem aber halte ich nichts
von dem alten Philosophenspruch, im Falschen nichts richtig machen zu können. Das
kann man schon, indem man versucht, das
Beste daraus zu machen. Vor allem gilt es, über
Stuttgart 21 hinaus zu denken und den Schienenpersonennahverkehr weiterzuentwickeln.
Sie gelten als überzeugter Radfahrer, der nicht
nur in die Pedale tritt, wenn Fotografen parat stehen, sondern tatsächlich gerne und oft
fährt. Es gibt inzwischen Städte in Europa mit
einem Radverkehrsanteil von 25 Prozent. Stuttgart ist mit sieben Prozent davon weit entfernt.
Wie kann die Politik gegensteuern?
Winfried Hermann: Tatsächlich habe ich etliche Räder, darunter auch ein Pedelec und ein
Dienstrad, das aus Teilen zusammengebaut
wurde, die ausschließlich in Baden-Württemberg hergestellt worden sind. Wir können nämlich nicht nur Autos bauen, sondern auch tolle
Räder. Es gibt immer mehr Städte im Land, die
viel für das Rad und den Ausbau der Infrastruktur tun und damit auch schon sehr erfolgreich
waren. Mannheim beispielsweise oder Karlsruhe. Aber auch die Landeshauptstadt hat in
diesem Punkt stark aufgeholt, seit es eine neue
Mehrheit im Rathaus und einen neuen Oberbürgermeister gibt. Wenn man mit dem Rad
durch die Stadt oder das Neckartal fährt, ist es
spürbar und sichtbar, dass die Situation besser
geworden ist. Das Prinzip dabei ist einfach: Je
mehr Radfahrer auf der Straße sind, desto stärker muss die Politik für eine sichere Infrastruktur sorgen und dafür Geld ausgeben.
Es wird Ihnen ja immer wieder vorgehalten, dass
Sie zu viel Geld für den Radverkehr ausgeben.
Winfried Hermann: Mit diesem Vorwurf werde
ich immer wieder konfrontiert. Er stimmt aber
nicht! Ich halte das für reine Polemik. Richtig
ist: wir haben die Radverkehrsförderung deutlich aufgestockt. Das ist aber völlig angemessen, denn wir geben für die gesamte Radverkehrsförderung im Jahr etwa so viel Geld aus
wie für eine einzige zweispurige Umgehungsstraße von einem mittelgroßen Ort. Dennoch
regt sich die Opposition regelmäßig auf. Das ist
Verkehrspolitik von vorgestern!
Nun sollen Sie auch noch Geld für Elektrofahrzeuge ausgeben, jedenfalls wenn es nach den
Automobilkonzernen geht. Sowohl DaimlerChef Dieter Zetsche, als auch der frühere Porsche-Chef Matthias Müller haben jüngst Unterstützung gefordert und politische Anreize für
den Kauf solcher Fahrzeuge, um das Ziel von
einer Million Stromer bis 2020 zu erreichen.
Winfried Hermann: Die Landesregierung hat
ziemlich viel getan in den vergangenen Jahren.
Ich kann ohne Übertreibung sagen, dass wir
mit unserer Landesagentur für Elektromobilität das erfolgreichste und bekannteste der
bundesweit vier Schaufenster sind. Dabei wer-
den nicht nur innovative Projekte rund um die
Elektrofahrzeuge gefördert und entwickelt, es
geht auch um die Elektrifizierung des ÖPNV, um
moderne Pedelecstationen, um Parkhäuser und
Wohngebäude mit eigenen Ladestationen unter
dem Solardach. Und wir begleiten Mittelständler im Autozuliefererbereich, damit sie sich auf
die neuen E-Fahrzeuge umstellen können. Die
Region Stuttgart hat die dichteste Ladesäuleninfrastruktur in Deutschland. Gleichzeitig wurde auf Bundesebene ein Gesetz durchgebracht,
das gewisse Privilegien für Elektrofahrzeuge
bringt wie beispielsweise beim Parken und Laden. Und, und, und. Die Politik hat bereits sehr
viel getan. Die Automobilindustrie hat dagegen,
zumindest nach internationalen Maßstäben,
zu spät aufgedreht. Inzwischen haben die deutschen Autobauer aufgeholt und knapp 30 alternative Modelle auf den Markt gebracht. Offenbar sind sie jetzt aber überrascht, dass die Autos
nicht weggehen wie warme Wecken.
Was woran liegen könnte?
Winfried Hermann: Für einen solchen kulturellen Wandel im Mobilitätsbereich muss man
umfassend und mit langem Atem werben und
die potentiellen Käufer über die Nutzungsvorteile aufklären. Alle sind doch an einen normalen Verbrennungsmotor gewöhnt und haben
beispielsweise Bedenken wegen der Reichweite
der Batterien. Stattdessen betreiben die Autobauer aber jetzt schon mit großer Begeisterung
Medienkampagnen für autonomes Fahren. Das
ärgert mich. Jetzt muss es doch erst einmal
um die umweltfreundliche Elektrifizierung
gehen. Und noch etwas: Baden-Württemberg
hat zusammen mit Hessen im Bundesrat
durchgesetzt, dass eine Sonderabschreibung
für gewerbliche Flotten mit Elektrofahrzeugen möglich ist, die ja noch teurer sind als herkömmliche Autos. Und was machen die Konzerne? Ein Elektroauto ist im Leasing mehr als
doppelt so teuer wie ein herkömmliches Auto
in größerer Variante, das auch noch wesentlich
luxuriöser ausgestattet ist. Dann brauchen sich
die Konzernchefs auch nicht wundern, wenn
solche Autos nicht gekauft werden. Ich wünsche mir, dass sie sich kontinuierlich für die
Elektrifizierung der Mobilität einsetzen.
Es geht eben um die Rendite.
Winfried Hermann: Aber auch Automobilkonzerne haben eine Verantwortung für die Erde
und das Klima. Wenn die Verantwortlichen
klug sind, dann erkennen sie heute, dass der
langfristige ökonomische Erfolg in umweltverträglichen Verkehrssystemen liegen wird. Man
muss nur schauen, wie in vielen Megastädten
die Mobilität feststeckt und wie verschmutzt
Städte wie Peking oder Neu-Delhi sind. Wenn
sie dort am Flughafen aussteigen, halten Sie
Stuttgart für einen Luftkurort. Die deutsche
Autoindustrie, die einen maßgeblichen Beitrag
für den Wohlstand im Land leistet, muss alles
dafür tun, dass das auch in Zukunft so bleibt,
auch im eigenen ökonomischen Interesse. Dafür muss sie Mobilitätsdienstleistungen anbieten und sich an ganzheitlichen Konzepten
beteiligen wie Daimler mit Car2Go. Der Verkauf
von Autos wird auf Dauer nicht mehr reichen.
Matthias Wissmann, einst Bundesverkehrsminister, verweist darauf, dass die jährlichen
Einnahmen des Staates über die Kfz-Steuer,
die Mineralölsteuer und die damit verbundene
Mehrwertsteuer sich auf rund 50 Milliarden
Euro belaufen. Im Straßenbau landen davon
gerade mal etwas mehr als 15 Milliarden.
Wäre nicht eine nachhaltige Aufstockung des
Verkehrsetats geboten, um mehr Geld für die
Infrastruktur zu haben?
Winfried Hermann: In den vergangenen zwei
Jahrzehnten ist viel zu wenig Geld in die Verkehrsinfrastruktur geflossen, das ist richtig.
Insbesondere die Bereiche Erhaltung und Modernisierung sind vernachlässigt worden. Wir
brauchen kontinuierlich mehr Geld, allerdings
nicht, um weitere teure Großprojekte zu realisieren. Diese Zeiten sind vorbei. Wir werden in
den nächsten Jahrzehnten keine neuen Autobahnen bauen müssen. Daher können wir die
Mittel verwenden, um Straßen umzubauen,
Achsen zu stärken und zu sanieren, die Kapazitäten im ÖPNV zu erweitern, Plätze neu zu ge-
stalten, den Radverkehr zu fördern und die Aufenthaltsqualität in den Städten zu verbessern.
Ist das letztlich nicht ein Kampf gegen Windmühlen? Egal, was Sie machen: es fahren doch
immer mehr Autos auf den Straßen.
Winfried Hermann: Das sehe ich nicht so, es
gibt viele ermutigende Ansätze, wenn Sie sich
international umsehen. Die alte Stadtplanung
hat sich ausschließlich am Auto orientiert.
Dann hat man begonnen, Fußgängerzonen
einzurichten, weil die Menschen immer weniger Platz hatten. Dadurch wurden die Verkehre
komplett getrennt, es gibt aber keine richtige
Verbindung zwischen den Zonen. Die Menschen
fahren ins Parkhaus, gehen in die Fußgängerzone und fahren anschließend wieder nach Hause.
Eine moderne Mobilitätspolitik will die Aufenthaltsqualität in der gesamten Stadt verbessern.
Ich wohne beispielsweise im Stuttgarter Heusteigviertel in einer Straße, in der kein Baum
steht und die zum langgestreckten Parkplatz
verkommen ist. Die Parallelstraße hat Bäume
und begrünte Ecken, Cafés mit Tischen und
Stühlen auf dem Gehweg und vielem mehr. In
der einen Straße treffen sich die Leute und es
geht lebendig zu, in der anderen ist gar nichts.
Es gibt viele Viertel, die zwar verkehrsberuhigt
sind, aber als Großparkplatz missbraucht werden. Da müssen wir ansetzen, und das ist auch
nicht teuer. Man muss nicht die gesamte Straße
umbauen, um urbane Lebensqualität zu ermöglichen. Die Verbesserungen im Kleinen bringen
oft mehr und kosten weniger. [·]
[·] Für den sauberen Zweiradverkehr hat der bekennende Radler Winfried Hermann besonders viel übrig.
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P O R T R Ä T · F A H R Z E U G E F Ü R M E N S C H E N MI T H A N D I C A P
14 nemo
Regionale Tüftler
machen mobil
Nirgendwo sonst werden so viele Patente
angemeldet wie in der Region Stuttgart.
Zu den Pionieren gehören auch zwei Firmen
aus Urbach und Eislingen, die neue Wege
im Bereich der Mobilität für Menschen mit
körperlicher Beeinträchtigung gehen.
TEXT MARKUS HEFFNER
FOTOS REINER PFISTERER
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P O R T R Ä T · F A H R Z E U G E F Ü R M E N S C H E N MI T H A N D I C A P
fährt, und dazu auch noch sportlich aussieht“
erzählt Gerhard Fried, der Betriebswirt im
Familienunternehmen. „Das Design war ein
ganz wichtiger und zentraler Punkt dabei.“
Rot ist die Farbe, für die sie sich schließlich
entschieden haben. Genauer gesagt: signalrot. „Wir haben auch über Grün oder Orange
diskutiert, wollten aber ganz bewusst eine
möglichst dynamische und sportive Farbe
für unseren Rollstuhl“, betont Andreas Fried,
der studierter Maschinenbauer ist und zusammen mit den Mitarbeitern seiner Firma
die Entwicklung des F2 vorangetrieben hat.
Herausgekommen ist nach einiger Tüftelei
schließlich ein Gefährt, das auffallend an einen Segway zum Sitzen erinnert. Und genau
das ist der F2 auch: ein selbstbalancierendes
und dabei geländegängiges Fahrzeug, das
ausschließlich über die Körperneigung beschleunigt, gelenkt und gebremst wird.
R
ot ist die Farbe, für die sich Andreas
und Gerhard Fried entschieden haben.
So rot wie der Brustring der Kicker
vom Cannstatter Wasen, denen die beiden Unternehmer aus Urbach die Treue halten, seit
sie als Jugendliche in den Vereinsfarben hinunter gepilgert sind ins damalige Neckarstadion. „Eine wunderbare Zeit“, sagt Andreas
Fried und denkt dabei an Spieler wie Ohlicher,
Allgöwer oder die legendären Förster-Brüder.
Zwar läuft es in der aktuellen Bundesligasaison alles andere als gut für den VfB Stuttgart,
an der Friedschen Farbenlehre vermag das
aber nichts zu ändern. „Einmal ein Roter, immer ein Roter“, sagt Gerhard Fried.
Nun haben die beiden Geschäftsführer an diesem Vormittag natürlich nicht die Tore ihrer
Werkshallen am Rande von Urbach geöffnet,
um über Fußball zu reden. Sie wollen vielmehr
eine Innovation Marke Eigenbau vorführen,
ein rollendes Etwas, das sie mindestens mit
der gleichen Leidenschaft entwickelt haben:
den Elektro-Rollstuhl Freee F2, der vollkommen anders aussieht als bisher bekannte Gefährte dieser Art und sich auch vollkommen
anders fährt. „Wir wollten einen Rollstuhl
entwickeln, der geländetauglich ist, also problemlos durch Sand, Kies und über Waldwege
16 nemo
Warum ein erfolgreiches und bodenständiges Unternehmen für Kunststofftechnik auf
einmal Rollstühle konstruiert, in einer eigenen Montagehalle zusammenbaut und verkauft, hat Andreas Fried zwischenzeitlich
schon oft erzählt. Die Geschichte handelt von
seinem Bruder Thomas, einem sportlichen
und aktiven Mann, der im Alter von 33 Jahren
plötzlich an einer Virenerkrankung leidet, die
eine Querschnittslähmung zur Folge hat und
ihn in den Rollstuhl zwingt. Welch’ massive
Einschränkungen damit verbunden sind, hat
in den Wochen und Monaten danach auch
Andreas Fried erfahren, nicht nur beim Spaziergang durch schwäbischen Altstädte mit
ihrem mittelalterlichen Kopfsteinpflaster oder
auf holprigen Waldwegen. Nach langer und
vergeblicher Suche nach einem geländetauglichen Rollstuhl sei in ihm schließlich der Gedanke gereift: „Das machen wir selber.“
I
m Januar 2013 wurden im Familienrat
die ersten Gespräche geführt und Überlegungen angestellt, ob und wie eine solche
Idee zu realisieren ist. Im Herbst vergangenen
Jahres stand dann der erste F2 auf dem Hof,
wie er heute in Kleinserie montiert wird. Der
Bruder von Andreas Fried, der an der Entwicklung beteiligt war und den Ingenieuren
unter anderem von seinen alltäglichen Erfahrungen und Problemen mit Barrieren aller
Art unmittelbar berichten und Anregungen
beisteuern konnte, übernahm die ersten Probefahrten. Seit er in seinem signalroten F2
unterwegs ist, sagt Andreas Fried, werde sein
Radius wieder immer größer und auch seine
Lebensfreude. „Mein Bruder gewinnt Stück
für Stück seine persönliche Freiheit zurück.“
nemo 17
P O R T R Ä T · F A H R Z E U G E F Ü R M E N S C H E N MI T H A N D I C A P
„Wir suchen nach passenden
Lösungen für die spezifischen
Bedürfnisse der Kunden.“
N
ach Freiheit riecht es
auch im Laden von Gert
Wiedemann, der ebenfalls Unternehmer in Sachen Mobilität ist. Dunkle Anzüge und
gestreifte Krawatten zu tragen
ist seine Sache derweil nicht: Der
62 Jahre alte Maschinenbauer, der
sein silberweißes Haar zu einem
langen Pferdeschwanz zusammengebunden hat, ist vielmehr
ein hemdsärmeliger Mann der
Tat und ein genialer Tüftler dazu.
Alb-Store nennt sich seine Firma,
die er vor einigen Jahren in Eislingen gegründet hat, um seiner großen Leidenschaft nachzugehen:
Fahrzeuge mit zwei, drei oder
auch vier Rädern so umzubauen, dass auch Menschen nach einem Schlaganfall, Menschen mit
Querschnittslähmung, Multipler
Sklerose oder auch Parkinson-Patienten wieder mobil sein können.
18 nemo
Jedes Fahrgerät, dass aus seiner
Werkstatt die Rampe hinauf zur
Probefahrt rollt, ist dabei eine
höchst individuelle Anfertigung.
„Wir suchen hier nach passenden
Lösungen für die spezifischen
Bedürfnisse der Kunden“, sagt
Wiedemann: „Wenn das gelingt
und ich positive Rückmeldungen
bekomme, ist das für mich eine
große Motivation, mich noch mehr
anzustrengen.“ Für den nötigen
Antrieb ist also gesorgt, denn positive Resonanz flattert ihm regelmäßig ins Haus. So hat sich erst
jüngst ein „Testfahrer“ bei ihm gemeldet, der sich ein E-Bike Modell
Easy Rider ausgeliehen hatte und
statt ursprünglich geplanter fünf
Kilometer erst nach geradelten
23 Kilometern durch einen Regenguss gestoppt wurde. „Es war für
mich ein unbeschreibliches Glücksgefühl“, steht in der Dankesmail.
Bei besagtem Gefährt handelt es
sich um ein so genanntes Trike,
also ein Rad mit extrem stabiler
und niedriger Sitzposition sowie
zwei Hinterrädern, das Gert Wiedemann für Kunden mit Gleichgewichtsproblemen motorisiert hat,
zur Freude nicht weniger Touristen und Ausflügler in der Region.
Die unterschiedlichen Modelle
aus der Werkstatt des Tüftlers,
darunter neben verschiedenen
E-Bikes auch ein Rollstuhltrans-
portrad mit Elektroantrieb, können
seit einiger Zeit an 30 Verleihstationen in der Erlebnisregion Schwäbischer Albtrauf gemietet werden.
Ein Projekt, das zwischenzeitlich
als „Juwel des inklusiven Radtourismus“ gilt und vom Verband Region Stuttgart gefördert wird.
F
ür seine Kunden ist Gert
Wiedemann ein Glücksfall, für sich selbst ist seine
Arbeit zu einer Art Berufung geworden. Dazu gekommen ist der
gebürtige Süßener allerdings erst
auf einigen Umwegen. Nachdem
er an der Esslinger Fachhochschule für Technik Maschinenbau und
Energietechnik studiert hatte, entwickelte und baute Wiedemann
zunächst als selbstständiger Unternehmer etliche Jahre Prüfanlagen für Automobilzulieferer. Weil
ihm eines Tages der Sinn nach
etwas Neuem stand, erfand er für
die kleine Glasbläserwerkstatt
seiner Frau damals neuartige
Gasbrenner, Kühlöfen und andere
nützliche Werkzeuge, mit denen
die beiden anschließend zehn
Jahre lang nahezu ganz Europa
versorgten. Am Anfang habe es
in Deutschland vielleicht 30 Glasperlenmacher gegeben, erzählt er.
„Hinterher waren es hier 500."
Auf einer der vielen Messen traf
der schwäbische Erfinder einen
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P O R T R Ä T · F A H R Z E U G E F Ü R M E N S C H E N MI T H A N D I C A P
Händler aus Graz, der damals Selbstbausätze
verkaufte, um aus einem gewöhnlichen Mountainbike ein Pedelec zu machen. Eine Begegnung, die Gert Wiedemanns Leben verändern
sollte. „Im Rückblick war das die Geburtsstunde von Alb-Store“, sagt er. Das erste Fahrrad, das er mit einem Elektromotor bestückte,
schnappte sich seine Frau, das zweite sein
Sohn, das dritte durfte er dann endlich selber
fahren. „Damit bin ich trotz meiner Probleme
mit dem Hüftgelenk wieder problemlos den
Albtrauf hochgekommen“, erzählt er.
Sein erster Kunde im eigenen Laden hatte einen Herzfehler und eine Frau, die ihren Mann
kaum noch zu Gesicht bekam, nachdem er
sich ein Rad aus Wiedemanns Werkstatt besorgt hatte. Begleiten konnte sie ihn auf seinen Fahrten nicht, zumindest habe sie als
Multiple-Sklerose-Patientin keine Möglichkeit
gesehen, erzählt Wiedemann, der seinerzeit
so lange nach einer Lösung suchte, bis er ein
Dreirad namens Easy Rider entdeckte, das in
Holland hergestellt wird. Nachdem er auch
bei diesem Rad einen Elektromotor eingebaut
und kleine Anpassungen vorgenommen hatte,
wurde er wenig später von der Amsel-Gruppe
eingeladen, in der Menschen mit Multiple Sklerose und ihre Angehörigen organisiert sind.
„Die Frau war so begeistert, weil sie wieder an
Orte gekommen ist, von denen sie jahrelang
geträumt hat, dass sie gleich allen davon erzählt hat“, sagt Gert Wiedemann.
Seither baut der Unternehmer wegen ständig steigender Nachfrage sein Angebot kontinuierlich aus, wobei er das Rad sozusagen
20 nemo
nicht neu erfindet. „Ich schaue mir an, was
es schon gibt und überlege, wie man es umfunktionieren kann“, erzählt er. Viele seiner
Kunden kommen zwischenzeitlich wegen
seiner sogenannten Therapieräder, die sowohl
durch Beinkraft über die Pedale als auch mit
den Armen über Kurbeln angetrieben werden
können. In seiner Ausstellung steht auch ein
ganz besonderes dieser Modelle: ein Rad, mit
dem Menschen trotz Querschnittslähmung
mit den eigenen Beinen in die Pedale treten
können. Möglich ist das mit Hilfe funktioneller
Elektro-Stimulation (FES), einer neuartigen
Methode, über die das Klinikum München eine
umfangreiche Studie durchgeführt hat. Gert
Wiedemann hat nach vielen Gesprächen mit
Therapeuten und Neurologen diese Technologie ins Filstal geholt, unter anderem gehört
nun auch ein junger Mann aus Österreich zu
seinen Kunden. „Dieses Training verbessert
die Durchblutung. Gleichzeitig werden die
Muskeln in den Beinen wieder aufgebaut, was
den Betroffenen zum Beispiel wieder längere
Flüge ermöglicht“, erzählt der Tüftler.
W
as mit innovativer Technologie aus
dem Schwabenland alles möglich
ist im Bereich der Mobilität, das
wollen auch die beiden Unternehmer Andreas
und Gerhard Fried aus Urbach vorführen. Aus
270 Einzelteilen wird ihr roter F2 zusammengebaut, wichtigste Komponenten dabei sind
das Fahrwerk und der Motor, die als Originalteile des US-amerikanischen Herstellers
Segway von einem österreichischen Händler
geliefert werden. Die restlichen Teile, die zur
Herstellung des High-Tech-Rollstuhls notwen-
dig sind, werden von Zuliefern direkt aus der
Region um Stuttgart bezogen. Bei der ersten
Entwicklungsvariante gab es noch kleinere
Probleme mit der Stütztechnik, die von den Ingenieuren aber schnell gelöst wurden. Seither
fahren per Knopfdruck zwei Parkstützen aus,
die elektronisch gesteuert werden und sich
automatisch dem unterschiedlichsten Terrain anpassen. „Der Fahrer muss sich absolut
sicher fühlen“, betont Andreas Fried. „Dazu
muss der Rollstuhl trotz seiner zwei Räder zuverlässig überall stabil stehen.“
Für die Vermarktung ihres Gefährts haben
die Unternehmer die Freee Mobility GmbH
gegründet und unter anderem Anna Schaffelhuber verpflichtet, die fünffache ParalympicsSiegerin auf dem Monoski, die der anvisierten Zielgruppe nahesteht, wie Gerhard Fried
sagt. Die Kunden seien oft Menschen, die einen Arbeitsunfall hatten, mit dem Motorrad
verunglückt sind oder beim Ausüben einer
Extremsportart. „Die wollen nicht mit einem
Krankenfahrstuhl herumfahren, sondern
möglichst viel Bewegungsfreiheit haben.“
Voraussetzung für diese Art der Freiheit ist
eine gewisse Stabilität im Rumpf, um den Rollstuhl steuern zu können. Der F2 sei aber auch
für Menschen mit Hüftproblemen oder nach
Operationen geeignet und bis zu einem gewissen Stadium auch für MS-Patienten, sagt
Gerhard Fried. Die Batterie mit zwei LithiumIonen-Akkus, die an jeder Steckdose geladen
werden kann, reicht knapp 40 Kilometer weit.
Und mit seinen beiden autonom gesteuerten
Elektromotoren kommt das Gefährt auch
starke Steigungen hinauf. Der Umgang mit dem Sitz-Segway ist im Vergleich zu herkömmlichen Rollstühlen zwar gewöhnungsbedürftig, andererseits aber auch schnell gelernt. „Bei den Probefahrten dauert es in
der Regel nicht lange bis zum ersten Aha-Erlebnis“, sagt Andreas Fried.
Etwa 20 Elektro-Rollstühle haben die umtriebigen Unternehmer aus
Urbach bisher verkauft. „Wir träumen von einer Stückzahl von einigen Hundert im Jahr“, sagt der Betriebswirt Gerhard Fried, dessen
Urgroßvater das Familienunternehmen einst als Wagnerei gründete.
Heute beliefert die Fried GmbH aus dem Rems-Murr-Kreis mit ihren
240 Mitarbeitern insbesondere die Medizintechnik und den Maschinenbau mit Kunststoffteilen. In die Entwicklung des F2 haben die beiden einen sechsstelligen Betrag gesteckt, der sich in den Jahren nach
Möglichkeit auch wieder amortisieren soll. Dazu wollen sie ihr Gefährt
sukzessive weiter entwickeln, neue Ideen umsetzen, die Zubehörpalette ausbauen und die Anregungen der Kunden aufgreifen. Einer habe
jüngst darum gebeten, eine Halterung für Krücken anzubringen, erzählt Andreas Fried. Ansonsten bekommen die beiden Unternehmer
vor allem viel Lob zu hören, nicht zuletzt auch für die schicke Lackierung. Gut also, dass sie sich für die Farbe rot entschieden haben. [·]
Wegen steigender Nachfrage
baut der Tüftler aus Eislingen
sein Angebot ständig aus.
nemo 21
PORTRÄT · INNENANSICHTEN EINES CHORS
22 nemo
Prima fürs Klima
Er ist bestens benotet und auch ziemlich
umweltbewusst: die Rede ist von einem
ambitionierten Chor, dessen Mitglieder sich
der Nachhaltigkeit verschrieben haben und
mit dem Rad, in Fahrgemeinschaften oder
mit Bus und Bahn zur Probe kommen.
TEXT MARKUS HEFFNER
FOTOS REINER PFISTERER
nemo 23
PORTRÄT · INNENANSICHTEN EINES CHORS
D
as Werk, dessen erste Textzeilen an
diesem Sonntagnachmittag zum wiederholten Mal gesungen werden, könnte
besser kaum passen zum momentanen Weltgeschehen. „Verleih uns Frieden“ heißt das kleine
Stück, das einst der Reformator Martin Luther
verfasste und später von einigen Komponisten
vertont wurde. Die wohl bekannteste Version
hat Felix Mendelssohn Bartholdy beigesteuert,
dessen Choralkantate Frank Ellinger neben einigen anderen Werken für die anstehenden Konzerte seines Chors herausgesucht hat – und das
nicht ganz zufällig. „Die Bürgerkriege und die
Flüchtlingsproblematik waren schon damals
ein aktuelles Thema, als wir das Programm zusammengestellt haben“, sagt der Dirigent. „Wir
wollen mit unserer Musik ein Zeichen setzen.“
Damit die Stücke bei den Vorstellungen auch
sitzen, wie er sich das vorstellt, hat der Berufsmusiker seine Sängerinnen und Sänger
zum gemeinsamen Probenwochenende nach
Stuttgart geladen, zu drei arbeitsreichen Tagen
für Sopran, Alt, Tenor und Bass. Mit 45 jungen
Menschen in allen Stimmlagen hat Frank Ellinger den Jungen Chor diesmal besetzt, für das
gemeinsame Wochenende in der Landeshauptstadt sind die Laienmusiker aus ganz BadenWürttemberg und aus Bayern angereist.
Die Allerwenigsten, und das ist das gleichermaßen Erstaunliche wie Besondere dabei, sind zu
dem Probenwochenende mit dem eigenen Auto
gefahren. Stattdessen sind viele mit dem Fernbus
oder der Bahn angereist, haben Carsharing gemacht oder sich zu Fahrgemeinschaften zusammengeschlossen. „Diese Art zu reisen entspricht
der Philosophie des Ensembles“, sagt Frank
Ellinger: „Wir wollen zu einer nachhaltigen und
umweltbewussten Lebensweise beitragen, diese
Haltung wird von allen getragen und gelebt.“
Der Chef selbst fährt dabei natürlich mit guten
Beispiel voran: auf einem schneeweißen Pedelec, mit dem er wann immer es geht unterwegs
ist. In den Sommerferien ist er damit sogar in
den Urlaub gefahren, begleitet von seiner Frau
und seinen beiden Mädchen, die er im Anhänger hinter sich hergezogen hat. Selbst der Albaufstieg sei machbar gewesen, sagt der Musikfan, wenngleich er dabei trotz hilfreichem
Motorantrieb etwas ins Schwitzen gekommen
sei. Das komplette Gepäck hatte er in die Ferienwohnung am Bodensee vorausgeschickt.
„Man kann auch heutzutage noch als Familie
mit kleinen Kindern ohne Auto in den Urlaub
fahren, so viel wissen wir jetzt“, sagt Ellinger.
Den ausgeprägten Hang zum Umweltbewusstsein und ökologischen Denken hat der gebürtige
24 nemo
Heilbronner von Zuhause mitbekommen, sein
Vater sei ein großes Vorbild in diesem Punkt gewesen, sagt er. „Von ihm habe ich gelernt, dass
man das Auto jederzeit stehen lassen und stattdessen auf das Rad steigen kann.“ Heute lebt
Ellinger selber diese Einstellung vor, was kaum
jemandem verborgen bleibt, der mit ihm zu tun
hat. Seinen Schülern am Otto-Hahn-Gymnasium in Ludwigsburg war jedenfalls schnell
bekannt, dass ihr Pauker mit dem Rad kommt.
Aus Stuttgart. Mal mit, mal ohne Hilfsmotor.
45 Minuten stramme Treppelei. Der studierte
Schulmusiker hatte in Ludwigsburg einige Jahre lang Musik und Gemeinschaftskunde unterrichtet, Themen wie Nachhaltigkeit, Globalisierung und moderne Mobilität seien dabei immer
wieder Teil des Lehrplans, erzählt er.
M
ittlerweile unterrichtet Ellinger am
Stuttgarter Karls-Gymnasium im
Süden der Stadt, weshalb er morgens
völlig entspannt und ohne Motorkraft von seiner Wohnung am Kräherwald den Berg hinunterrollen kann. Seit vergangenem Jahr leitet
der 39 Jahre alte Pädagoge, der nach seinem
Musikstudium in Stuttgart an der Weimarer
Hochschule für Musik in vier weiteren Semestern das Dirigieren studiert hat, das Fellbacher
Kammerorchester. Nebenbei singt er auch noch
im Württembergischen Kammerchor Stuttgart.
Den Jungen Chor, ein Laienensemble der Neuapostolischen Kirche Süddeutschland, leitet
Frank Ellinger seit dessen erstem Auftritt und
Gründung im Jahr 2009. Etwa 20 Konzerte,
bei denen Stücke für a capella aus allen Epochen aufgeführt werden, hat der Chor seither
in ganz Süddeutschland gegeben – und das
mit großem Erfolg und in stets proppenvollen
Kirchen. Jedes Jahr stehen zwei Konzertwochenenden auf dem Programm. Zur Vorbereitung treffen sich die jungen Sängerinnen und
Sänger, die zwischen 15 und 35 Jahren sind, zu
jeweils zwei intensiven Probenwochenenden.
„Weil unsere Chormitglieder über ganz Süddeutschland verteilt sind, müssen wir in relativ
kurzer Zeit die Stücke einstudieren und dafür
umso intensiver arbeiten“, erklärt Ellinger.
Für die Konzerte im Herbst ist in diesem Veranstaltungsjahr neben Stuttgart auch noch Ulm
als Probenort ausgesucht worden, damit auch
die Bayern in den Genuss einer kürzeren Anfahrt
kommen. „Wir schauen, dass wir das gerecht
verteilen“, sagt Jan Dambach, der von Beginn an
zu den Tenören des Chors gehört und dazu auch
noch im Organisationsteam ist, das die Proben und Konzerte vorbereitet.
Auch dabei werde bei allem darauf geachtet, dass die Chorarbeit möglichst
ressourcensparend und umweltgerecht vonstatten gehe, betont er.
Z
u diesem nachhaltigen Weg gehört etwa, dass möglichst wenig ausgedruckt wird, dass es an den Probenwochenenden fair gehandelten Kaffee und Biomilch gibt, dass die Flyer auf recyceltem Papier
gedruckt und die Noten in Briefumschlägen, die aus alten Landkarten hergestellt wurden, an die Sängerinnen und Sänger verschickt werden. „Das
hat sich in den Jahren so eingespielt“, sagt der 26-jährige Stuttgarter, der
an der Uni Heidelberg Geschichte und Politik studiert. „Wir thematisieren
das immer auch in den E-Mails und weisen beispielsweise daraufhin, dass
man Fahrgemeinschaften bilden soll.“ Als Quartier hat das Organisationsteam diesmal die Stuttgarter Jugendherberge in der Haußmannstraße
gewählt, in der man zwar vergleichsweise einfach untergebracht ist, das
aber zu nachhaltig günstigen Konditionen. „Auch Geld gehört zu den Ressourcen, die man einsparen kann“, sagt Dambach. Statt Komfort bietet die
Unterkunft auf ihrer Anhöhe im Stuttgarter Osten immerhin einen schönen Blick auf die Stuttgarter Innenstadt und den Hauptbahnhof, an dem
viele der Ensemblemitglieder an diesem Wochenende angekommen sind.
Drei Tage verbringen die jungen Menschen aus ganz Süddeutschland
zusammen in der Landeshauptstadt, neben den Proben stehen auch
gemeinsame Andachten und Gesprächsabende auf dem Programm.
Die Philosophie des Chores sei, „anspruchsvolle geistliche Musikliteratur und intensive Probenarbeit mit einem christlich geprägten Miteinander zu verbinden“, sagt Frank Ellinger, der dabei Taktgeber ist
und Motor, und das auch in Sachen Nachhaltigkeit. Selbst zu seinen
„Wir wollen zu nachhaltiger
und umweltbewusster
Lebensweise beitragen.“
Konzerten fährt der Dirigent mit dem Fahrrad vor, sein schwarzer Anzug und der Taktstock fahren im Köfferchen mit. Hin und wieder muss
freilich auch einer wie er auf herkömmliche Transportmittel zurückgreifen, etwa dann, wenn der Chor für seine Konzerte eine so genannte Truhenorgel zur musikalischen Begleitung braucht. In diesem Fall
werde bei Stadtmobil ein passender Bus gemietet, so Frank Ellinger.
Diesen März hat der Chor gleich zwei solcher mobilen Orgeln gebraucht,
bei der Aufführung der Matthäus-Passion, was den musikalischen Anspruch von Ellinger und seinem Ensemble zeigt. Beileibe nicht jeder
Laienchor ist in der Lage und Stimmung, das Meisterwerk von Bach
aufzuführen. „Das war unser musikalischer Höhepunkt bisher“, so Ellinger, der für die Passion einen Chor mit 75 Mitgliedern zusammengestellt
hatte. Mitgesungen hat unter anderem auch Phillip Koppitz, der in München Luft- und Raumfahrttechnik studiert und zu jenen gehört, die an
diesem Wochenende mit mit einer Carsharing-Fahrgemeinschaft angereist sind. „Musik auf einem gewissen Niveau zu machen, ist meine große
Leidenschaft“, sagt der 25-Jährige, der nebenbei noch Cello spielt. Eine
Leidenschaft, bestens benotet, und bei alledem ziemlich nachhaltig. [·]
nemo 25
T H E M A · W O R L D O F E N E R G Y S OL U T IO N S
26 nemo
Voraus in
die Zukunft
Austausch lautet das Gebot der Stunde:
Als Messe und Konferenz bietet die
„world of energy solutions“ seit 2013 eine
internationale Plattform für Aussteller
und Referenten aus den führenden
Nationen der Elektromobilität.
T E X T S Y BILL E R I E P E
nemo 27
T H E M A · W O R L D O F E N E R G Y S OL U T IO N S
cher Märkte und Dienstleistungen
von Energiewirtschaft und Mobilität von Anfang an mit. Die Idee zu
einer neuartigen Messe- und Konferenzveranstaltung war da nur
konsequent. 2013 schlossen sich
der „e-mobil BW TECHNOLOGIETAG“ der Landesagentur für Elektromobilität Baden-Württemberg,
die „BATTERY + STORAGE“ der
Messe Stuttgart und die „f-cell“,
der internationale Treffpunkt rund
um Wasserstoff- und Brennstoffzellentechnologie der Peter Sauber
Agentur Messe und Kongresse und
der Wirtschaftsförderung Region
Stuttgart GmbH (WRS), zur „world
of energy solutions“ zusammen.
Im Mittelpunkt des Events stehen
Technologien und Dienstleistungen rund um die Bereiche Batterieund Energiespeichertechnologien,
Wasserstoff- und BrennstoffzellenAnwendungen sowie Innovationen
aus dem Bereich der E-Mobilität.
D
ie Zukunft hat einiges an
Zugkraft verloren, denn sie
ist schon da. Jedenfalls in
Teilen. In den 1960er Jahren galten
autonom fahrende Autos oder die
Sprachsteuerung á la „Hallo Computer“ noch als absurd anmutende Visionen. Mittlerweile ist das
Realität. Die Zukunft verbindet
heute wie selbstverständlich die
Lebenswelten Arbeit, Mobilität,
Kommunikation und Energie. Am
besten intelligent, emissionsfrei,
umweltfreundlich und wirtschaftlich. So wie die E-Mobilität. Ein
Elektroauto, das auch als Speicher
für Windstrom dienen soll, stellt
allerdings vielfältige Herausforderungen. Zum Beispiel technisch
an das Batteriesystem des Fahrzeugs, betriebswirtschaftlich an
das Abrechnungssystem des Energieversorgers, juristisch an den
Anbieter der Infrastruktur. Oder
aus Kundensicht an die optimale
Verfügbarkeit des Fahrzeuges und
aus Marketingsicht an das Produkt
selbst. Ist es „Mobilität“, „Energie“,
„Fahrzeug“ oder „Umweltnutzen“?
Akteure aus Baden-Württemberg
gestalten in diesem Umfeld als Impuls- und Taktgeber das Zusammenwachsen ganz unterschiedli-
28 nemo
Der Weg zur „world of energy solutions“ begann 2001 mit dem „f-cell
Kongress + Messe“, bei dem die Themen Brennstoffzelle (englisch: fuel
cell, oder: f-cell) und Wasserstoff,
einer Kombination die noch als
sprichwörtliche „rocket science“
galt, im Mittelpunkt standen. Auf
Anhieb trafen sich 320 Experten
aus Wirtschaft und Wissenschaft
aus der ganzen Welt, ein internationales Branchentreffen war
installiert mit ihrem Gründungsvätern Peter Sauber und Holger
Haas (WRS), die früh einen guten
Riecher bewiesen hatten. Denn
die „f-cell“ gab das wichtige Signal,
dass innovative Technologien auch
für klassische Zulieferer und Mittelständler Optionen bieten und diese
am besten in einem Netzwerk aus
Forschungseinrichtungen, Automobilindustrie und Energiewirtschaft realisiert werden können.
Auch der erste Stuttgarter Strafzettel für ein Null-Emissionsfahrzeug
war gleich fällig: Ein DaimlerBrennstoffzellenfahrzeug auf Basis der A-Klasse parkte als Exponat
mit offizieller Erlaubnis auf dem
Bürgersteig, bekam aber trotzdem
das Knöllchen noch weit im Vorfeld
der heutigen Diskussion um Parkplätze für E-Fahrzeuge. Das Po-
tenzial von Brennstoffzellen, zum
einen als stationäre Strom- und
Wärmeerzeuger, zum anderen als
Stromquelle für Null-Emissionsfahrzeuge wie Elektro-Busse, -Pkw
und –Lieferwagen, beflügelte die
„f-cell“ und damit verbunden die
Perspektive, Mobilität vom Erdöl
abzukoppeln. Zusammen mit der
„f-cell“ lobten die Wirtschaftsförderung Region Stuttgart GmbH
und das Landesumweltministerium einen vom Land Baden-Württemberg gestifteten Innovationspreis Brennstoffzelle aus, den „f-cell
award“, der 2015 zum 15. Mal verliehen wird. Wie sehr die technologische Entwicklung fortgeschritten
ist, zeigt die „world of energy solutions“ 2015 mit der Präsentation
des ersten Serien-BrennstoffzellenPkws, des Toyota Mirai.
M
it ihrer langen Tradition im Bereich Maschinenbau hatte die Messe
Stuttgart ihrerseits erkannt, dass
die Entwicklung und Produktion
von Batteriespeichern für regenerativ erzeugten Strom, sei es stationär
oder für E-Fahrzeuge, der Energiewende einen Schub geben würde.
2012 führte die Messe Stuttgart die
„BATTERY + STORAGE“, die Batterietechnologie in allen Facetten
darstellt, erfolgreich ein. Allein der
Bereich der E-Mobilität zeigt das
Potenzial, das in Batterien steckt:
Die Traktions-„Batterie“ eines
E-Fahrzeuges ist ein Hightechprodukt aus Batteriezellen, Leistungselektronik und Kühlung, das an
Fertigung und Design höchste Anforderungen stellt und den größten
Kostenfaktor eines E-Fahrzeuges
ausmacht. Der Erfolg der E-Mobilität ist nicht nur mit der Leistungssteigerung der Batteriespeicher,
sondern auch in hohem Maße mit
Senkungen der Produktionskosten
des Batteriepacks verbunden. Die
im VDMA Industriekreis Batterieproduktion, dem ideell-fachlichen
Träger der „BATTERY + STORAGE“
organisierten Maschinen- und Anlagenbauer, nehmen hier eine entscheidende Rolle ein. Sie sind am
Weltmarkt führend vertreten und
liefern an Batteriehersteller und
Fahrzeugbauer maßgeschneiderte
Produktionslinien aus, die von der Zellfertigung
über die Packmontage bis zur Qualitätskontrolle
alle Arbeitsabschnitte integrieren. Diese Unternehmen leisten damit einen entscheidenden Beitrag zu der von nationalen Gesetzgebern ebenso
wie der EU eingeforderten zukünftigen Senkung
der Emissionen der Fahrzeugflotten.
D
as Autoland Baden-Württemberg beansprucht bei alledem Vorreiter zu sein.
Als erstes Bundesland gründete es 2010
mit der e-mobil BW eine Landesagentur für
Elektromobilität mit dem Auftrag, Rahmenbedingungen zu verbessern, Demonstrationsprojekte auf den Weg zu bringen und Kommunikation und Wissenstransfer zu unterstützten, kurz:
die Einführung der E-Mobilität voranzutreiben.
Die jährlich von der e-mobil BW veröffentlichten Studien zum ökonomischen Potenzial der
E-Mobilität attestieren Baden-Württemberg
die Kompetenz, die neuen Mobilitätsformen
ähnlich wie den konventionellen Fahrzeugbau
zu prägen und neue Arbeitsplätze zu schaffen.
Aber auch, dass dazu große Anstrengungen erforderlich sind. Damit das gelingt, müssen viele
Bereiche mitziehen: E-Mobilität ist keine Insellösung, sondern erfordert Denken und Handeln
in neuen Systemen der Dienstleistung und der
Wertschöpfung. Daher erweiterte sich der 2010
eingeführte Technologietag zur „e-mobility solutions“ der „world of energy solutions“, die den
Aufbau einer Lade-Infrastruktur und die Gestaltung attraktiver vernetzter Mobilitätsangebote
für Nutzer und Kunden integriert. Das Credo:
Erst wenn das Auto vernetzt fährt und die Generation Smartphone überzeugt ist, kommt die
E-Mobilität in der Gegenwart an.
Mobilität und Energie werden auch in Zukunft
zu den Bedürfnissen der Menschen zählen – vermutlich mehr denn je. Die Ansprüche der Kunden, die Beziehungen zwischen Dienstleistern
und Nutzern und die Rollen von Automobilherstellern werden sich weiter entwickeln und ändern. Die „world of energy solutions“ fokussiert
die Trends und Innovationen an drei Tagen, die
jährlich die international führenden Unternehmen, über 140 Referenten und mehr als dreitausend Fachbesucher nach Stuttgart bringt. Eine
Geburtsstätte für eine neue, saubere Energieversorgung und Mobilität in Deutschland. [·]
World Of Energy Solutions
12. – 14. Oktober 2015, Messe Stuttgart
Partnerland 2015: Die Niederlande
www.world-of-energy-solutions.de
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R E P O R T A G E · H Y B R I D - M Ü LL A U T O
Zwei Herzen
in einer Brust
In Göppingen und Schwäbisch Gmünd
sind die einzigen Hybrid-Müllautos in
Süddeutschland unterwegs. Sie machen
kaum Lärm und könnten die Möglichkeit
eröffnen, den Abfall in Zukunft nachts
abzuholen. Auf Tour mit dem leisen Riesen.
TEXT LENA MÜSSIGMANN
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FOTOS REINER PFISTERER
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R E P O R T A G E · H Y B R I D - M Ü LL A U T O
A
m Himmel hängen noch rosafarbene
Wolken, als Walter Millbrett sein Müllauto rückwärts in die erste Wohnstraße
von Eislingen rangiert. Nur das Warn-Piepen
des Rückwärtsfahrens ist noch zu hören. Sonst
nichts. Während Baden-Württembergs leiseste
Müllabfuhr ihre Runden dreht, können die Vögel
ungestört ihre Guten-Morgen-Hymne singen.
Walter Millbrett steuert im Landkreis Göppingen ein Müllauto mit zwei Herzen in einer
Brust: einem batteriebetriebenen Elektromotor
und einem Dieselmotor. Er fährt einen HybridMüllsammler. Den einzigen in Süddeutschland
neben einem baugleichen Fahrzeug in Schwäbisch Gmünd. Das Hybrid-Fahrzeug fährt drei
Jahre lang die gängigen Hausmülltouren der
Firma Entsorgung + Transport GmbH in Göppingen-Holzheim (ETG) in und um Göppingen
und soll auf diese Weise Erkenntnisse über
mögliche Einsparpotenziale und verminderte
Lärmbelastungen der Bevölkerung bringen.
Um 5.30 Uhr, noch vor Beginn der Schicht, stehen Walter Millbrett (63) und sein Beifahrer
Sascha Dunkel (30) in ihren leuchtend gelben
Hosen auf dem Hof der Firma und trinken Kaffee aus braunen Plastikbechern. „Kaffee muss“,
sagt Dunkel. Sie trinken aus. Millbrett zieht
ein dickes schwarzes Kabel aus der Flanke des
Müllautos, das Ladekabel. Könnte das Auto an
diesem Morgen mitsprechen, würde es sagen:
„Strom muss.“ Walter Millbrett, seit 26 Jahren
am Steuer von Müllautos, darf mit dem neuen
Fahrzeug unterwegs sein. Die ETG hat ihn vor
Beginn des Pilotprojekts als Experten nach
Schweden geschickt, um sich dort die Praxis
der Müllentsorgung mit Hybrid-Autos anzusehen. Millbrett hat sich auf das neue Fahrzeug
eingelassen, über das manche seiner Kollegen
schimpften, es sei nur „neumodisches Zeug“.
Seit er mit dem Hybrid-Fahrzeug arbeitet, lässt
er sich auf ein tägliches Spiel gegen die Ladeanzeigen in den Bordcomputern ein. Walter
Millbrett hat den Ehrgeiz entwickelt, möglichst
wenig Diesel zu verbrauchen, indem er die Lademechanismen der Batterien optimal nutzt. „Ab
vier Prozent Steigung schaltet sich der Diesel
dazu“, sagt Millbrett. Deshalb hat er seine Touren extra so umgeplant, dass sich Steigung und
abschüssige Strecken abwechseln, in denen
sich die Batterie wieder aufladen kann – am
Rande der Schwäbischen Alb ist das durchaus
eine beachtliche Herausforderung.
Das Fahrzeug hat zwei Batterien: eine für Tonnenheber und Presse, eine für den Antrieb. Der
Strom für die Tonnenheber kommt aus sechs
Akkus, je 100 Kilo schwer, verdeckt von einer
32 nemo
silbernen Tür direkt hinter dem Fahrerhaus.
Diese Akkus werden jede Nacht mit Ökostrom
aufgeladen. Die Antriebszellen sind unter dem
Fahrzeug angebracht, gleich hinter der Vorderachse. Eine Lithium-Ionen-Batterie. Sie
liefert Energie für den Elektromotor und wird
nicht mit Strom aus dem Netz aufgeladen, sondern während des Fahrens über einen DieselGenerator. Außerdem nimmt sie die Energie
auf, die beim Bremsen freigesetzt wird.
M
illbrett fährt auf eine Kreuzung
zu, als plötzlich der Dieselmotor
aufheult. Die Antriebsbatterie war
unter zehn Prozent Restladung gefallen. Der
Motor läuft auf 1.000 Umdrehungen, um die
Batterie wieder aufzuladen. Millbrett sagt, es
sei am besten, dann kurz stehen zu bleiben. Die
rote Ampel an der Kreuzung kommt ihm gelegen. Ein paar Sekunden später geht der Dieselmotor aus, und das grüne Müllauto surrt wieder elektrisch durch Eislingens Straßen, wobei
es ein bisschen so wirkt wie die Zeichentrickfigur Shrek: groß und schwerfällig, manchmal
kurz laut, aber im Grundton doch äußerst leise.
Bei Walter Millbrett im Fahrerhaus spürt man
das butterweiche Fahrgefühl. Am ersten Tag
hat ihn jemand vom Hersteller eingelernt. Den
Rest hat er sich letztlich überwiegend selbst
beigebracht. „Die Bremserei ist ganz anders“,
sagt er. Je öfter er anhält und wieder anfährt,
umso mehr Strom wird verbraucht. Deshalb
stoppt er oft zwischen zwei Hofeinfahrten. Sein
Beifahrer muss die Eimer beider Haushalte
zum Auto holen – damit hat Millbrett einmal
Anfahren gespart und im Wettkampf gegen den
Akkuladestatus ein paar Punkte gutgemacht.
Seine persönliche Erfolgsbilanz in diesem Duell
kann sich durchaus sehen lassen. Anfangs sei
der Dieselmotor auf einem Kilometer acht Mal
angesprungen, um die Batterie nachzuladen.
Heute springe er auf der gleichen Strecke nur
noch vier Mal an. Wer gern aufs Gas drückt, sei
in dem Fahrzeug falsch, meint Millbrett.
In einer Eislinger Wohnstraße kommt eine
alte Frau in blauer Kittelschürze mit weißen
Punkten aus dem Haus, um ihre Mülltonne
gleich nach der Leerung wieder in den Hof zu
ziehen. Dass die Müllabfuhr so leise ist, das ist
sie nicht gewohnt. „Ich hab richtig aufpassen
müssen, dass ich sie überhaupt wahrgenommen hab!“, sagt sie. Millbrett wurde auch schon
„verseckelt“. Eine Frau habe ihn geschimpft,
weil sie ohne die laute Müllabfuhr verschlafen
habe. „Ich hör‘ normal, wenn ihr in die Straße
reinfahrt“, habe sie gesagt. So ischs no au wieder! Millbrett lacht: „Das geht jetzt nicht mehr.“
D
ie ETG will die Auswirkung des leiseren Müllautos auf die Anwohner von
der Hochschule in Göppingen oder in
Geislingen untersuchen lassen. Mit den lärmreduzierten Hybrid-Autos könnte der Zeitraum
für mögliche Leerungen von derzeit 6 bis 20 Uhr
deutlich ausgedehnt oder in die Nacht verlagert
werden. Im Fahrerhaus leuchten vor Millbrett
mehrere Bildschirme zur Überwachung der
Batterien: Um 7.14 Uhr, nach einer guten Stunde im Einsatz haben sich die Akkus für Presse
und Tonnenheber schon um 18 Prozent entladen. Wenn die leer sind, ist Schicht im Schacht.
„Man könnte die schon auch noch während der
Fahrt aufladen, aber dafür bräuchte man eine
Lichtmaschine. Das wäre zusätzliches Gewicht
und unser Fahrzeug ist eh schon schwer“, erklärt Millbrett. 1.270 Mülleimer müssen die Schüttvorrichtungen an diesem Tag packen. „Das Fahrzeug wird richtig gestresst“, sagt Millbrett. Er ist stolz auf das stramme
Programm, das er täglich fährt. Die hohe Zahl der Leerungen habe der
Hersteller von seinen bisherigen Kunden noch nicht gekannt.
B
ernhard Lehle ist Betriebsleiter der Entsorgung + Transport
GmbH in Göppingen-Holzheim. Er hatte am Morgen auf dem
Hof mit Millbrett geplaudert und gescherzt. In den ersten Wochen
mit dem Hybrid-Müllsammler waren die Männer nicht so entspannt.
Lehle sagt: „Da haben wir täglich gezittert: kommt er heute vom Hof?“
Die Sicherungen des Fahrzeugs seien immer wieder rausgeflogen. Lehle
spricht von „heftigen Anlaufschwierigkeiten“, die inzwischen aber vom
Hersteller behoben seien. Das war auch im Vorfeld das größte Hemmnis
für die ETG, sich für den Modellversuch zu entscheiden. „Bei uns muss
jedes Fahrzeug funktionieren, wir haben keine Zeit für Spielereien.“
Die Hybrid-Müllabfuhr dreht nun schon eineinhalb Jahre ihre Runden,
nach weiteren eineinhalb Jahren wollen die Hersteller das geleaste Fahrzeug zurückhaben. Sie werden es auseinanderbauen und ihre Schlüsse
aus den Verbrauchsspuren ziehen. Millbrett will das Ergebnis dann unbedingt erfahren, auch wenn er nicht bis zum Schluss des Testzeitraums am
Steuer „seines“ Müllsammlers sitzt: Er wird dann schon in Rente sein. [·]
Verbrauch
Mit herkömmlichen Müllautos hat Walter Millbrett 90 Liter Diesel auf 100 Kilometer verbraucht. Das Hybridfahrzeug braucht laut der Entsorgung + Transport GmbH (ETG) im Schnitt rund 30 Prozent weniger Diesel (jetzt 50 bis 60 Liter). Die Akkus für Presse und Tonnenheber würden jede Nacht mit Solarstrom
im Wert von etwa 10 Euro gefüttert, heißt es. Der Strom entsteht auf einem
Dach der Schwarz Firmengruppe in Göppingen, zu der auch die ETG gehört.
Komponenten
Das Fahrzeug wiegt 17,6 Tonnen und ist damit rund zwei Tonnen schwerer als
ein herkömmliches Müllauto. Hersteller ist Volvo (Schweden). Das Fahrzeug
hat einen 300 PS starken Sieben-Liter-Dieselmotor und einen 120 Kilowatt
leistenden Elektromotor. Der Aufbau kommt von NTM (Finnland). Die Tonnenheber hat die Firma Zoeller (Mainz, Deutschland) beigesteuert.
Finanzierung
Die ETG hat den Hybrid-Müllsammler geleast. Die Hälfte der Leasingrate bezahlt
das Bundesverkehrsministerium im Rahmen der „Modellregion Elektromobilität“.
Die Erprobung erfolgt im Projekt Elektromobilität im Stauferland (emis), koordiniert durch die Nationale Organisation Wasserstoff- und Brennstoffzellentechnologie (NOW) und durch die Wirtschaftsförderung Region Stuttgart GmbH (WRS).
Das Fahrzeug kostet laut ETG doppelt so viel wie ein herkömmliches Fahrzeug.
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I N T E R V I E W · S T E F F E N BIL G E R , B U N D E S T A G S A B G E O R D N E T E R
„Ludwigsburg ist
ein echtes Vorbild“
Der CDU-Bundestagsabgeordnete Steffen
Bilger ist Mitglied im Parlamentarischen
Beirat für nachhaltige Entwicklung und
auch Sprecher des Parlamentskreises
Elektromobilität. Er kämpft dafür, dass
mehr E-Autos über deutsche Straßen rollen.
I N T E R V I E W MI C H A E L O H N E W A L D
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FOTO REINER PFISTERER
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I N T E R V I E W · S T E F F E N BIL G E R , B U N D E S T A G S A B G E O R D N E T E R
Herr Bilger, der Begriff „Nachhaltigkeit“ ist ähnlich schwindsüchtig
wie der deutsche Wald, aus dem er
kommt. Vom Waschmittel bis zur
Windel ist heute alles super nachhaltig. Jetzt gibt es auch noch
einen Parlamentarischen Beirat
für nachhaltige Entwicklung, dem
auch Sie angehören. Sind wir nicht
schon nachhaltig genug?
Steffen Bilger: Nun ja, der Begriff
wird in der Tat sehr inflationär
gebraucht. Es ist einfach schick, in
diesen Tagen mit Nachhaltigkeit
zu werben. Den Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung gibt es aber schon seit
langem. Wir sind nicht auf den Zug
aufgesprungen, sondern haben ihn
quasi mit in Bewegung gesetzt.
Was ist die Botschaft des Gremiums?
Steffen Bilger: „Heute nicht auf
Kosten von morgen leben!“ – so lautet das Leitmotiv für eine auf Nachhaltigkeit ausgerichtete Politik. Als
Politiker übernehmen wir Verantwortung für die heute Lebenden
genauso wie für künftige Generationen. Im Parlament hat der Beirat
eine Art „Wachhund-Funktion“. Es
wird „gebellt“, sobald ein Vorhaben
die nationale Nachhaltigkeitsstrategie außer Acht lässt. Mit Anhörungen und Positionspapieren
werden außerdem dringende Debatten angestoßen. So ist der Beirat
heute ein wichtiger und lebendiger
Bestandteil des Parlaments.
Nachhaltigkeit im ursprünglichen
Sinne bedeutet, die Belange der
Umwelt gleichberechtigt mit sozialen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu berücksichtigen. Davon
sind wir weit entfernt. Nicht mal der
Fahrdienst des Deutschen Bundestags ist einigermaßen nachhaltig.
Steffen Bilger: Bei den Ausschreibungen für den Fahrdienst des
Bundestages wurde schon seit geraumer Zeit darauf geachtet, dass
bestimmte CO2-Grenzwerte eingehalten werden. Zurzeit ist die Hälfte der Fahrzeuge erdgasbetrieben.
Trotzdem zeigt in der Tat gerade
der Fahrdienst, dass man mit mehr
Ambitionen auch mehr erreichen
kann. Deshalb hat der Beirat auch
den Fahrdienst des Deutschen
36 nemo
Bundestags ins Visier genommen
und striktere Klimavorgaben für
die eingesetzten Fahrzeuge gefordert sowie eine verstärkte Einbeziehung von Elektroautos.
Mit welchem Resultat?
Steffen Bilger: Die Initiative zielt
auf die anstehende Neuvergabe
der Fahrdienstleistungen für das
Parlament. In einem einstimmigen
Beschluss fordern wir Mitglieder
des Beirats fraktionsübergreifend
eine Vorreiterrolle des Bundestags bei nachhaltiger Mobilität.
Damit unterstützt der gesamte
Beirat eine Idee, die ich schon Monate vorher direkt als Koordinator
meiner Fraktion an Bundestagspräsident Professor Lammert gestellt hatte. Nun fordert der Beirat
bei erneuter Ausschreibung eines
ausgelagerten Fahrdienstmodells
ambitionierte CO2-Vorgaben, die
sich an den geltenden Werten der
Europäischen Union orientieren:
Bei Pkws muss der CO2-Ausstoß
demnach bis 2020 auf 95 Gramm
CO2 pro Kilometer gesenkt werden.
Dieser Wert müsste mindestens als
Durchschnitt für alle Fahrzeuge
der Bundestagsflotte gelten. Zudem
sollen nach unserer Vorstellung
20 Prozent aller Fahrzeuge der
Bundestagsflotte mit Elektromotoren ausgestattet werden.
Der ehemalige Umweltminister
Klaus Töpfer und auch Günther
Bachmann, Generalsekretär des
Rates für nachhaltige Entwicklung, sprechen sich dafür aus,
das Ziel der Nachhaltigkeit in das
Grundgesetz aufzunehmen. Teilen
Sie diese Forderung?
Steffen Bilger: Als Jurist bin ich
kein Freund davon, mit ständig
neuen Themen unser Grundgesetz
zu überfrachten. Für verschiedene
Interessengruppen hat man dies
bereits getan. Soweit ich weiß, hat
sich dadurch aber real nichts geändert. Deshalb bin ich dafür, lieber
direkt für mehr Nachhaltigkeit zu
kämpfen, statt sich für ein neues
Ziel im Grundgesetz einzusetzen.
Wir kommen ja schon recht gut
voran und müssen insgesamt einfach mehr tun – wobei ich uns aber
auf einem gut Weg sehe. Weltweit
gesehen kann aber empirisch betrachtet von einer nachhaltigen
Entwicklung überhaupt keine Rede
sein. Dies hat auch damit zu tun,
dass die Entwicklungsländer vor
dem Hintergrund des Wohlstandgefälles zwischen Nord und Süd vor
allem an Wachstum interessiert
sind. Wir müssen den Verbrauch
fossiler Brennstoffe reduzieren.
Das ist ein gutes Stichwort.
Schließlich naht eines Tages der
Peak Oil, also jene unvermeidliche
Zeitenwende bei der weltweiten
Ölförderung. Sollten wir da gerade
hierzulande nicht mit mehr Elan
umsteuern, beispielsweise hin zu
mehr Elektromobilität?
Steffen Bilger: In Deutschland
hängen sehr viele Arbeitsplätze und Steuereinnahmen an der
Automobilindustrie. Für uns als
Autobauerland steht also auch
industriepolitisch viel auf dem
Spiel. Das hat auch die Bundesregierung erkannt. Sie will, dass die
Bundesrepublik Leitmarkt und
Leitanbieter für Elektromobilität
ist. Bis 2020 sollen deshalb eine
Million Elektroautos auf deutschen Straßen fahren.
Pardon, von der magischen Zahl
von einer Million Elektroautos sind
wir meilenweit entfernt.
Steffen Bilger: Ja, leider läuft der
Markthochlauf noch nicht so an,
wie wir uns das vorgestellt haben. Deshalb habe ich ein gemeinsames Schreiben mit 12 Kollegen
an den Bundesfinanzminister
geschickt. Darin fordern wir die
Bundesregierung auf, dass die
Hälfte der Anschaffungskosten
bei Elektroautos im ersten Jahr
steuerlich geltend gemacht werden kann. Von dieser Sonderabschreibung wird ein großer
Schub für die Elektromobilität
erwartet. Unterm Strich kostet
so etwas den Staat nahezu nichts,
schließlich werden Abschreibungen nur vorgezogen. Elektrisch
betriebene Autos sind aber auch
noch aus ganz anderen Gründen
wichtig für unsere Zukunft: Die
meisten Fahr-Zeuge sind eigentlich „Steh-Zeuge“, sie werden
zur An- und Abreise genutzt und
stehen die meiste Zeit. Mit ihren Batterien
können sie damit intelligent als Strompuffer
für erneuerbare Energien verwendet werden.
Ich sehe auch deshalb Elektromobilität als
eine echte Chance für Deutschland: industriepolitisch, für unser Klima, saubere und leisere
Städte sowie energietechnisch. So könnten
hierzulande bis zu 250.000 neue Arbeitsplätze entstehen. Auch deshalb schauen wir mit
Zuversicht in die elektromobile Zukunft.
In vielen Kommunen wie etwa in Ludwigsburg
zieht die E-Mobilität in den städtischen Fuhrpark ein. Ein Schritt in die richtige Richtung?
Steffen Bilger: Gerade Ludwigsburg ist ein echtes Vorbild bei der Elektromobilität. Das Engagement meiner Heimatstadt für nachhaltige
Mobilität ist durchaus beachtlich. Wenn die
öffentliche Hand mehr E-Autos kaufen würde,
würde auch mittelfristig der dringend benötigte
Gebrauchtwagenmarkt anziehen.
Tun auch die deutschen Autobauer selbst genug, um bei der Entwicklung der Elektromobilität vorne dran zu bleiben?
Steffen Bilger: Die Autoindustrie ist in vielen
Bereichen mit Milliarden Euro in Vorleistung
gegangen und hat derzeit wenig Aussichten,
dass sie diese Investitionen mittelfristig zurückbekommt. Sie hat vor allem ein großes
Eigeninteresse daran, viele E-Autos zu verkaufen. Schließlich muss sie die EU-weiten
CO2-Grenzwerte trotz großen Premium-Anteils einhalten. Natürlich kann immer mehr
getan werden und es gibt schon auch Kritik an
dem einen oder anderen Verhalten. Unterm
Strich sehe ich aber schon, dass die deutsche
Automobilindustrie das Thema voranbringen
möchte und dafür viel tut.
Im Ausland gibt es beim Kauf von Elektroautos
finanzielle Unterstützung vom Staat. Das führt
zu höheren Zulassungszahlen. Die Bundesregierung hat das Ziel ausgegeben, eine Million
E-Autos bis 2020 auf deutsche Straßen zu bringen. Wird das ohne Bonus gehen? Es ist immer
deutlicher zu sehen, dass speziell in Deutschland
das Geschäft mit den Elektroautos nicht so in Fahrt
kommt, wie wir uns das wünschen.
Steffen Bilger: Mit Kaufprämien tun wir uns in
der CDU/CSU schwer. Solche Milliardensummen sind einfach nicht mehr vermittelbar und
führen auch oft zu Mitnahmeeffekten. Aber die
besagte Sonderabschreibung oder KfW-Kredite
mit oder ohne Tilgungszuschuss sind beispielsweise schon interessante Alternativen.
Bosch hat dieser Tage einen Innovationssprung in
der Batterietechnik angekündigt und hält bis 2020
eine Verdoppelung der Reichweiten für durchaus
realistisch. Stimmt Sie das optimistisch?
Steffen Bilger: Auf der Internationalen Automobil Ausstellung (IAA) wurden im September
bereits Modelle mit hoher Reichweite auch von
deutschen Herstellern vorgestellt. Ich rechne
schon seit längerem damit, dass es der Branche gelingt, Batterien besser und effizienter zu
machen. Wenn Batterien billiger und besser
werden, hilft uns das ungemein. Die beiden derzeitigen großen Nachteile Preis und Reichweite
würden damit ausgeglichen.
Mit dem Elektroauto öffnet sich der Markt zunehmend auch für fachfremde Player. Tesla hat
angefangen, auch Google mischt bereits mit.
Macht Ihnen das Angst, weil bei uns womöglich
Arbeitsplätze gefährdet werden könnten?
Steffen Bilger: Die deutsche Automobilindustrie
ist nach meinem Eindruck insgesamt sehr gut
aufgestellt – und in dem Segment, in dem unsere
Firmen hauptsächlich tätig sind, wird es nicht
einfach damit getan sein, irgendein Auto zu
bauen, welches vielleicht ähnliche Abmessungen wie andere Oberklassemodelle hat. Aber
sicherlich müssen sich unsere Autobauer weiterhin anstrengen, um an der Spitze zu bleiben.
Das wurde von ihnen aber auch erkannt und die
Anstrengungen sind dementsprechend groß.
Wie sieht ihre ganz persönliche Vision der Mobilität von morgen aus?
Steffen Bilger: Die Mobilität der Zukunft wird
von Experten so beschrieben: Voll vernetzt
und intelligent digitalisiert sowie autonom
fahrend. Mit anderen Worten: Mein Smartphone – oder was immer sonst es bis dahin
ersetzt haben mag – zeigt mir an, welches Verkehrsmittel ich nutzen soll, um den Weg am
besten zurückzulegen – ökologisch, ökonomisch und zeitsparend. Bis dahin wird es sicher noch etwas dauern, aber die Entwicklungen gehen schneller voran als viele denken. [·]
nemo 37
THEMA · E-AUTOS IN DER WERKSTATT
Achtung
Hochspannung
Wer ein Elektroauto reparieren will, muss
besonders geschult sein. Sami Hiseni ist
einer dieser Spezialisten. Wir beobachten
ihn bei der Wartung eines Kleinwagens, der
keinen Auspuff und kein Schaltgetriebe hat,
dafür aber unter Hochspannung steht.
TEXT LENA MÜSSIGMANN
38 nemo
FOTOS REINER PFISTERER
nemo 39
THEMA · E-AUTOS IN DER WERKSTATT
rer kann mit seinem Smartphone aus der
Ferne zum Beispiel den Ladezustand seines
Autos abrufen. „Wenn er das macht, fließt da
immer ein bisschen Strom. Das ist gefährlich
für uns“, sagt Hiseni. Aber noch gehört das
Auto dem Autohaus und geht erst nach der
Wartung raus an einen Kunden.
Das Auto wird mit dem hydraulischen Wagenheber der Werkstatt in die Luft gehoben, so
weit, dass Hiseni darunter stehen kann. Von
unten sieht der Wagen aus wie ein Spielzeugauto. Es hat einen geschlossenen, planen Boden. Kein Auspuffrohr, nichts ist zu sehen.
D
as Autohaus in der Sedanstraße, gleich
hinter dem Stuttgarter Neckartor, mit
den roten Fließen auf dem Boden der
Werkstatt gibt es schon seit den 1970er-Jahren,
immer Renault. Zu Beginn dürfte hier der R4
aufgebockt worden sein. Oder der R5, im Volksmund „kleiner Freund“ genannt. Ein solches
Modell, knallroter Lack, steht noch auf dem Hof,
gleich gegenüber vom Werkstatttor. Der „kleine
Freund“ hat viele Exemplare seiner Art überlebt, wurde aber trotz seines Durchhaltewillens
längst überholt vom technischen Fortschritt.
Heute hat der Renault Zoe seinen Platz in der
Werkstatt eingenommen, ein Elektroauto.
Der Markt für Elektroautos wächst, auch die
hiesigen Autohäuser müssen diesen Wandel
mitmachen. Denn wer repariert die neuartigen Fahrzeuge, wer wartet sie? In zertifizierten Werkstätten für Elektrofahrzeuge sind die
Mitarbeiter geschult, wissen, welche Kabel sie
berühren dürfen und wovon sie unbedingt die
Finger lassen sollten. Das Autohaus von der
Weppen war das erste in der Landeshauptstadt, das von der Kfz-Innung als „Fachbetrieb für Hybrid- und Elektrofahrzeuge“ zertifiziert wurde. Sami Hiseni, 42 Jahre alt, ist in
der Werkstatt Spezialist für Elektroautos.
Hiseni fährt an diesem Morgen einen Renault
Zoe an seinen Arbeitsplatz in der Werkstatt.
Das Auto wirkt clean, außen weiß, innen
weiß, gerade mal 6.000 Kilometer gefahren.
Hiseni bekommt bei der Wartung kaum
schmutzige Hände. Der Wagen sieht aus wie
ein frisch gelegtes Ei. Die Außenhaut wirkt
unversehrt, kaum unterbrochen, nicht einmal von einem Tankdeckel. Bevor Hiseni
loslegt, muss er theoretisch die Verbindung
zwischen Kunde und Auto trennen. Der Fah-
40 nemo
Das Auto ist etwas schwerer als ein vergleichbares Modell mit Verbrennungsmotor. Grund
ist die schwere Antriebsbatterie. Sie ist geschätzt 1,20 Meter lang und 70 Zentimeter breit,
mit Alu ummantelt, wiegt 290 Kilo. Die Lebensdauer ist länger als das Modell bislang auf dem
Markt ist, so scheint es. „Ich musste noch keine
ausbauen“, sagt Hiseni. Er schraubt eine Quadratmetergroße Plastikabdeckung zwischen
den Vorderrädern auf. Die Pressluft-Rätsche
zischt in einer hohen Frequenz, Hiseni lässt
sich die gelösten Schrauben in die Hand fallen.
Alle Schrauben sind entfernt, Hiseni löst die
Plastikabdeckung. Darunter glänzt silberfarben der Motor. „Der ist etwas kleiner als ein Verbrennungsmotor“, erklärt er. Motor und Getriebe stecken in einer Einheit. Das Auto hat keine
Gänge, also kein Schaltgetriebe. Es beschleunigt wie ein Zug ruckelfrei und übergangslos.
S
ami Hiseni hat Kraftfahrzeug-Mechatroniker gelernt und war im Jahr 1994 mit
der Ausbildung fertig. Damals ist gerade
der Renault Twingo neu rausgekommen, sein
erstes Auto. Vor vier Jahren hat er die Weiterbildung gemacht, um an Elektroautos arbeiten
zu dürfen. Sein Chef hatte ihm das angeboten,
und Hiseni hat darin eine Chance gesehen, eine
Absicherung für seine berufliche Zukunft. „Es
hat mich gereizt, etwas besonderes zu machen.
Ich mache seither Erfahrungen mit neuen Fahrzeugen, die gerade erst rausgekommen sind“,
sagt er lächelnd. Außer ihm sind ein weiterer
Werkstattmitarbeiter sowie der Kundendienstleiter geschult. Sami Hiseni würde selbst gerne
ein Elektroauto fahren, sagt er. Aber noch gibt
es keine Elektroautos in der Größe, die Hiseni
benötigt. Er brauche ein Auto, in dem die ganze
Familie Platz hat und mit dem er auch in den Urlaub fahren kann. Hiseni fährt einen Van.
Der Verkaufsleiter des Autohauses, Hendrik
Handke, Schnauzbart, weißes Hemd und ultraschmale Lesebrille mit weißen Bügeln auf der
Nasenspitze, sagt: „Wir haben bei keinem anderen Auto so viele Spontankäufe wie bei unseren
Z.E.-Fahrzeugen. Z.E. steht für Zero Emission,
keine Emissionen.“ Wer kauft, handle oft aus
Umweltbewusstsein. Er redet vom Fahrgefühl
wie im siebten Himmel und sagt: „Ich übertreibe ein bisschen: Mit einem solchen Auto brauchen Sie letztlich keinen Yogakurs mehr.“
H
andke sieht im großen Bestand der
Zweitfahrzeuge, die es in der Region
Stuttgart gibt, Potenzial für den Verkauf von Elektroautos. Mit dem Zweitwagen
werde die ganze Woche über nur eine geringe
Anzahl an Kilometern gefahren, was alles mit
dem E-Auto zu machen wäre. Er sagt: „Wenn
wir nur 10 bis 20 Prozent der Zweitwagen in
der Region elektrifizieren, hätten wir deutlich
weniger Lärm und Feinstaub in Stuttgart.“
Hiseni lässt das Auto wieder auf den Boden
zurück, macht die Motorhaube auf. Den Motor
sieht man von oben kaum, er sitzt ganz unten
im Motorraum. Darüber, gleich unter der Motorhaube, befinden sich die Behälter für Kühlwasser und eine Batterie – eine Zwölf-Volt-Batterie
wie bei jedem anderen Auto auch, um die Steuergeräte und Radio mit Strom zu versorgen.
Im Motorraum verläuft ein orangefarbenes Kabel. Orange, das heißt: Achtung, Hochvoltspannung. „Das kann ich jetzt von außen anfassen“,
sagt Hiseni, „kein Problem“. Rausziehen sei aber
tabu. Und im Fall einer Panne rät er: Auf keinen
Fall berühren. „Wenn ein Haus zur Hälfte eingestürzt ist, würde auch niemand auf die Idee
kommen, in den Sicherungskasten zu greifen.“
Was mit dem Marder passieren würde, wenn er
da reinbeißt? „Danach wäre er schwarz, klein
und hässlich“, sagt Hiseni. Er grinst. „An die
Steuerungskabel geht der Marder schon dran“,
sagt er. „Bisse im Hochvoltkabel hatten wir
bisher noch nicht.“ Was überrascht: Das Elektroauto hat viel weniger Kabel im Motorraum
als ein Auto mit Verbrennungsmotor. Hiseni
erklärt das so: „Der Motor braucht weniger
Sensoren. Beim Verbrennungsmotor ist auch
noch die Einspritzanlage verkabelt. Das fällt
hier alles weg.“ Noch mehr Autoteile konnten
im Elektroauto einfach wegfallen. Zum Beispiel der Riemen für den Klimakompressor, der
ebenfalls elektronisch gesteuert wird.
An einem der anderen Reparaturstände jagt
einer von Hisenis Kollegen den Motor eines
benzinbetriebenen Fahrzeugs zu Testzwecken
in den hohen Drehzahlbereich. Auch Hiseni
startet das Elektroauto. Ob das Auto läuft oder
nicht, hört man im Trubel der Werkstatt nicht.
U
nter der Motorhaube befindet sich auch noch ein Kasten, den es
in herkömmlichen Autos nicht gibt: ein Ladegerät. Das Ladekabel
wird vorne über dem Kühlergrill eingesteckt. Wenn der Strom aus
der normalen Steckdose zuhause kommt, wird in diesem Ladegerät der
220-Volt-Gleichstrom in Wechselstrom umgewandelt. Im Kofferraum liegen zwei hellblaue Ladekabel, so dick wie ein Zeigefinger – eines mit dem
passenden Stecker für die 220-Volt-Steckdose zuhause in der Garage und
eines mit dem Anschluss für Elektrotankstellen. Die Ladestationen bringen
unterschiedlich viel Leistung und laden das Auto unterschiedlich schnell
auf. Bei einer Ladestation mit der maximalen Leistung von 43 kW dauert es
eine halbe Stunde, um das Auto zu 80 Prozent aufzuladen.
Hiseni hat sein Werk getan. Um alles nochmal zu prüfen, steigt er ins
Auto. Zwischen seinen Arbeitsklamotten und dem Sitz knistert eine
Schutzfolie, damit nichts schmutzig wird. Er macht eine Testfahrt, lässt
die laute Werkstatt hinter sich: Kein metallisches Gehämmer der Kollegen, keine Motorengeräusche mehr. „Man meint, dass einer schiebt“, sagt
Hiseni. „Fahren Sie mal an einen schönen Ort, mit offenen Fenster, vielleicht in den Schwarzwald. Da hören Sie die Vögel zwitschern.“
Zurück auf dem Hof der Werkstatt holt er das Ladekabel aus dem Kofferraum und schließt das Auto an. Bei 22 kW braucht der Akku, der noch dreiviertel voll war, nur 35 Minuten zur vollen Ladung. Hiseni ist fertig. Auf der
Ladestation, einer weiß-blauen Säule, steht: „Elektroautos für alle.“[·]
„Mit einem solchen Auto
brauchen Sie letztlich
keinen Yogakurs mehr.“
Autowartung im Spannungsbereich
Das Zertifikat „Fachbetrieb für Hybrid- und Elektrofahrzeuge“ vergeben die
Kraftfahrzeug-Innungen seit 2011. Im Bereich der Innung Stuttgart sind aktuell insgesamt 18 Werkstätten zertifiziert. In einem solchen Betrieb muss
nach Angaben der Kraftfahrzeug-Innung mindestens ein sogenannter „Fachkundiger für Arbeiten an HV-eigensicheren Systemen“ angestellt sein, der
nachweislich auf diesem Gebiet geschult wurde. Weitere Voraussetzung: Der
Betrieb muss einen zugelassenen Spannungsprüfer und die notwendige persönliche Schutzausrüstung bereitstellen, zum Beispiel Elektrikerhandschuhe
für Arbeiten im Spannungsbereich bis 1.000 Volt.
www.kfz-innung-stuttgart.de
nemo 41
S E L B S T V E R S U C H · T O U R MI T D E M F E R N B U S
42 nemo
Reisen für
wenig Geld
Fernbusse machen der Deutschen Bahn
gewaltige Konkurrenz. Bei einer Fahrt von
Stuttgart nach Heidelberg erklären die Gäste,
warum sie im Bus und nicht im Auto oder
im Zug sitzen. Ein Selbstversuch.
TEXT DOROTHEE SCHÖPFER
FOTOS REINER PFISTERER
nemo 43
S E L B S T V E R S U C H · T O U R MI T D E M F E R N B U S
E
in großer Platz und keine Infos. Der Weg
zum Fernbus-Terminal an der Messe
Stuttgart ist recht spärlich beschildert.
Kurz nach 9 Uhr ist nichts los vor dem Congresscentrum, keiner da, den man fragen könnte. Und von hier aus sollen die viel gefragten
Busse fahren, die den Fernverkehr seit der Liberalisierung 2013 in Aufruhr gebracht haben?
Die boomen ohne Ende. 264 Linien von Anbietern wie MeinFernbus, DeinBus, City2City,
Flixbus oder Postbus durchkreuzen Deutschland längs und quer. Von Görlitz nach Aachen,
von Flensburg bis Singen, jede Woche kommen
neue Strecken dazu. Die Fernbusse haben im
vergangenen Jahr 19 Millionen Fahrgäste bewegt. Bis 2018 wird sich die Zahl auf 27 Millionen einpendeln, so eine Schätzung des Bundesverbands Deutscher Omnibusunternehmer.
Neulich sind wir zu dritt an
den Chiemsee gefahren – es hat
für alle 44 Euro gekostet.
Wo sind die Massen am Stuttgarter Terminal?
Wo ist überhaupt das Terminal? Zum Glück
gibt es einen ausgedruckten Lageplan in der
Tasche. Wer mit dem Fernbus unterwegs sein
möchte, bucht seine Karte nicht am Schalter,
sondern im Internet. Und bekommt zusammen mit dem Ticket auch einen Wegweiser
zum Abfahrtsterminal in der Nähe des Osteingangs der Messe. Keine Massen, aber an die
70 Leute stehen hier und warten auf einen Bus.
Einmal Heidelberg und zurück – für 10 Euro
im Postbus. Gute zwei Stunden pro Fahrt. Die
Bahn braucht dazu 40 Minuten. Ein Tagesausflug mit der Tante, die einmal Verwandtschaft in Heidelberg hatte und Erinnerungen auffrischen möchte, das ist der Plan. Für
10 Euro kommt man mit dem Zug nicht weit. Die
niedrigen Preise sind für die meisten Wartenden der Grund, an der Bushaltestelle zu stehen
und nicht am Bahnhof. Patrick Marbuch, 22,
studiert Medizin in Freiburg und fährt heute
noch nach Hamburg. „Mein Ticket hat 15 Euro
gekostet. Der Hammer, oder? Ich bin viel unterwegs, vor allem in den Semesterferien. Ich habe
beim Busfahren schon viele Leute kennengelernt. Neulich war ich mit zwei Freunden beim
Festival am Chiemsee – 44 Euro hat die Fahrt
für alle gekostet, hin- und zurück.“
Es sind aber nicht nur Studenten, die die
Kampfpreise der Fernbuslinien zu schätzen
wissen. Katja Schönleben ist mindestens
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doppelt so alt wie Patrick Marbuch, wohnt in
Reutlingen und fährt heute nach Dortmund
zur Verwandtschaft. Die Postbuslinie 24, die
über Stuttgart, Heidelberg und Dortmund
bis hinauf in die Hansestadt Hamburg fährt,
startet in Reutlingen. „Das passt für mich natürlich perfekt. Außerdem habe ich genug von
der Bahn, von den Ausfällen der Klimaanlage,
der Unpünktlichkeit. Wie oft habe ich schon
den Anschluss verpasst“, erzählt sie.
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ünktlich ist der Postbus an diesem
Morgen allerdings auch nicht. Nur
scheint das hier niemanden wirklich
zu stressen. Zur Abfahrtszeit rollt der gelbe
Bus erst ein, bis alle Gepäckstücke verladen
sind, vier Fahrkarten für eine spontan reisende Familie verkauft sind und alle sitzen,
dauert es eine Viertelstunde. „Die Karten sind
natürlich teurer, wenn man sie erst im Bus
kauft“, sagt Busfahrer Fikret Alkan. Die aktuellen Preise zeigt ihm sein Smartphone an.
Sein Co-Fahrer Ralf Weisser hat mittlerweile
alle Gepäckstücke quittiert und sitzt wieder
an seinem Platz. Ohne die ausgeteilten Abrisse bekommen die Reisenden ihren Koffer
später nicht wieder zurück. „Sonst muss mir
der Besitzer sagen, was oben im Koffer liegt
und ich öffne ihn“, sagt Alkan. Soviel Ordnung muss sein. Deswegen gibt es auch eine
Durchsage, bei der Fikret Alkan seine Fahrgäste willkommen heißt, sie auf Getränke, die
Toilette und die Anschnallpflicht hinweist.
Es sind viele enttäuschte Bahnfahrer, die jetzt
im Bus statt im ICE sitzen. Die Deutsche Bahn
befürchtet mittelfristig Umsatzeinbußen von
bis zu 250 Millionen Euro im Jahr durch die
Konkurrenz auf der Autobahn. Die ausdauernden Lokführerstreiks im Frühjahr waren
da nur noch das Tüpfelchen auf dem i. Doch
kampflos will die Bahn der neuen Konkurrenz
das Feld nicht überlassen. Dass in diesem Jahr
die Ticketpreise nicht erhöht werden, wie in
den vergangenen Jahren, ist wohl auch diesem
neuen Wettbewerb geschuldet. Der Streit um
die Maut ist indes noch offen. Die Bahn fühlt
sich benachteiligt, weil die Fernbusse, anders
als die Lastwagen, bislang nicht zur Kasse gebeten werden. Verkehrsminister Dobrindt will
daran vorerst auch nichts ändern.
„Der Fernbus ist wesentlich günstiger als die
Bahn, im Bus habe ich immer kostenloses
WLAN und ich kann meine Zeit viel besser
nutzen als im Auto. Und umweltfreundlicher
ist das Busfahren auch noch.“ So beschreibt
Judith Pauwels die Vorzüge des Fernbus-Fahrens. Im Gegensatz zu vielen der Mitfahrer hat
sie keinen schicken Tablet-Computer, sondern
Häkelzeug in der Hand. Ein buntes Nilpferd
soll das werden. Die pensionierte Pflegerin
mit englischen Wurzeln und dunklen Haaren ist auf dem Weg nach Münster zu ihrem
Lebensgefährten. „Soll ich langsamer fahren,
damit das Nilpferd fertig wird?“, scherzt Fikret Alkan. Ferienstimmung im Fernbus.
Im harten Preiskampf mit den Bussen hält
die Bahn schon seit dem Frühjahr 2014 dagegen. Man muss nur wissen, wo. Wer auf Vergleichsportalen wie busliniensuche.de oder
fernbusse.de nach der günstigsten Verbindung
sucht, bekommt nicht nur Busfahrten angezeigt, sondern auch Bahnverbindungen. Und
zwar zum Schnäppchenpreis. Die Tickets werden über diese Fernbusportale bis zu 50 Prozent
billiger verkauft, als auf der konzerneigenen
Internetseite deutschebahn.de. Die Bahn-Sparpreise von 29 Euro, die eigentlich nur für langfristige Vorbuchungen verfügbar sind, stehen
auf den Fernbusbuchungsportalen auch noch
zwei Tage vor Fahrtbeginn zum Verkauf.
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ine Viertelstunde Verspätung holt der
Fernbus auf der langen Strecke locker ein.
Jetzt staut es sich aber auf der A6. Alkan
nutzt einen alten Busfahrertrick, fährt an der
Raststätte raus und fädelt ein paar hundert Meter später wieder ein. Es nutzt nichts. Er muss
jetzt die Zentrale informieren, die schickt den
Wartenden an den Haltestellen eine SMS, dass
es später wird. Statt um 11.40 Uhr kommt der
Bus um 12 Uhr an. In Heidelberg, der Studentenstadt, steigen viele aus und noch viel mehr wieder ein. Auch eine Erklärung, warum die Busse
trotz der Dumpingpreise lukrativ sind. „Wir befördern auf der gesamten Fahrt rund 200 Gäste.
Es werden ja auch viele Teilstrecken gebucht
und nicht immer nur die ganze Fahrt von Reutlingen bis Hamburg“, erklärt Ralf Weise.
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S E L B S T V E R S U C H · T O U R MI T D E M F E R N B U S
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inen wunderbar verbummelten Nachmittag später mit Stopps
in einem exquisiten Schokoladenladen, vielen Boutiquen, nach
Krustenbraten, sahniger Torte und Neckarblick landen Tante
und Nichte wieder im Bus. Die Toilette ist nicht mehr zu benutzen, wer
muss, sollte schnell noch ins Café oder zu McDonald’s, sagt der Fahrer
vor der Abfahrt. Niemand meckert, manche springen eben noch mal
aus dem Bus. Fernbusgäste scheinen relativ unkompliziert zu sein.
Zum Fahrplanwechsel im neuen Jahr werden sie es in Stuttgart aber ein
bisschen komfortabler haben. Dann wird das neue große Busterminal
am Flughafen nahe dem Terminal 3 eröffnet. Die unscheinbaren Haltestellen am Stuttgarter Airport, der Omnibusbahnhof in den Stadtteilen Obertürkheim und Zuffenhausen, das sind eigentlich nur Provisorien. Das neue Stuttgart Airport Busterminal (SAB) wird dagegen auf
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20 Bahnsteigen rund 180 Busse pro Tag abfertigen, es wird eine Wartehalle, Toiletten und einen Kiosk haben. Wer sich mit dem Auto bringen
lässt, kann sich auf dem „Kiss-and-Ride-Parkplatz“ absetzen lassen.
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rmin Dellnitz, Stuttgarts Touristikchef, freut sich darüber,
weil er weiß, dass auch viele Städtetouristen die Fernbusse
nutzen. „Wir haben dazu noch keine Erhebungen. Aber wir
wissen, dass diese jungen und jung gebliebenen Reisenden oft abenteuerlustig und spontan sind. Die stehen dann am Schalter und fragen: jetzt bin ich hier, was kann ich machen, wo kann ich schlafen?“
Für sie bereitet Dellnitz gerade auch ein digitales Angebot vor. Über
das WLAN-Netz im Bus, wird sich die Stadt mit einer Willkommensseite als touristischer Hotspot präsentieren. Und besser zu finden
sein wird das neue SAB-Terminal dann mit Sicherheit auch. [·]
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