Skript - Religionskritik - Katholisch

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Skript - Religionskritik - Katholisch
Katholisch-Theologische Fakultät
der Universität Bonn
Seminar für Fundamentaltheologie
apl. Prof. Dr. René Buchholz
Wintersemester 2014/15 ,
aktualiserte Fassung SoSe 2015
„DIE ABENTEUER
DER IMMANENZ“
Themen, Ziele und Kontexte
neuzeitlicher Religionskritik
Fassung Juni 2015
Inhalt
Einleitung: Aufklärung als Aventure . . . . . . . . . . . . . .
3
1. Der sozialhistorische Kontext: Säkularisierung . . . . . . . . .
23
25
33
42
a) Nur eine Anomalie der Geschichte? . . . . . . . . . . . . . . .
b) Ausdifferenzierung der Sphären . . . . . . . . . . . . . . . .
c) Zerfall religiöser ‚Zivilisationen‘ . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Spinozas Impact: Die veränderte Konstellation von
Religion, Politik und Philosophie . . . . . . . . . . . . . .
a)
b)
c)
d)
e)
Religions- und Bibelkritik . . . . . . . . .
Freiheit der Diskussion und des Bekenntnisses . .
Deus sive natura: Der Gott Spinozas . . . . . .
Vom Mrc zur Rekonziliation . . . . . . . . .
Radikale Erben: vom Traktat über die drei Betrüger
bis Helvétius . . . . . . . . . .
. . .
f) Ein kurzer Blick auf und in die Encyclopédie . . .
.. . . . .
. . . . . .
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.. . .
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53
55
63
68
75
. . . . . . . . . 87
. . . . . . . . . 108
3. Die Entzauberung von Natur und Geschichte. . . . . . . . . . 117
a)
b)
c)
d)
e)
f)
Ent- oder Verzauberung der Natur? . . . .
Maîtres et possesseurs de la nature . . . .
Holbach und der Wille zum System . . . .
Geschichte als Schauplatz der Anthropogenese
Religion und Vorurteil . . . . . . . .
Religiöse Aufklärung . . . . . . . . .
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119
123
130
140
149
157
4. „Mann, bist du fähig, gerecht zu sein?“
Genderdiskurs und Religionskritik im siècle des lumières . . . . 167
a) Descartes im frühen Genderdiskurs . . .
.. . . . . . . . . . . 169
b) Materialistische Genderdiskurse . . . . . . . . . . . . . . . . 174
5. Emanzipation als Beerbung oder Aufhebung der Religion? . . . . 181
a) Ludwig Feuerbach:
Religion und ‚emanzipatorische Sinnlichkeit‘ . . . . . . . . . . . 183
b) Marx: imaginäre Blumen und abgeworfene Ketten . . . . . . . . . 195
c) Atheismus im Christentum? Ernst Blochs Strategien
der Beerbung religiöser Traditionen . . . . . . . . . . . . . . . 208
6. „Ressentiment gegen das Leben“:
Nietzsches Kritik des biblischen Monotheismus . . . . . . . . . 225
a)
b)
c)
d)
Dialektik der Kultur . . . . . . . . . . . . . .
Monotheismus als Ressentiment . . . . . . . . . .
Und „wenn sich Gott selbst als unsere längste Lüge erweist?“
Amor fati oder ‚Sabotage des Schicksals? . . . . . . .
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231
237
241
7. Wiener Mélange:
Neurosen, Illusionen und sinnlose Sätze . . . . . . . . . . . . 249
a) Seelische Unterwelten und das gefährdete Projekt der Kultur
b) Illusionen und infantile Wünsche . . . . . . . . . .
c) Eine mörderische Geschichte:
Der Ursprung des biblischen Monotheismus . . . . . .
d) Prosaisches Ende der Aventure?
Realitätsprinzip und Protokollsätze . . . . . . . . .
. . . . . . 251
. . . . . . 263
. . . . . . 270
. . . . . . 281
Epilog: „Der kritische Weg ist allein noch offen“
Religion und Aufklärung in der späten Moderne . . . . . . . . . 287
Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Alle Abbildungen dieses Skripts wurden, wenn nicht anders vermerkt,
Wikipedia entnommen. Text und Bilder sind nur zum eigenen,
nichtkommerziellen Gebrauch zugelassen! Text: © René Buchholz.
Aktualisiert Juni 2015 / updated June 2015
2
297
Einleitung:
Aufklärung als Aventure
3
4
« La philosophie … est fille du tumulte et de la guerre. »
Bernard-Henri Lévy1
Wer es verschmäht, in die beliebte theologische Klage über die Einseitigkeit
und Oberflächlichkeit neuzeitlicher Religionskritik oder über den angeblichen
Glauben an die Allmacht der Vernunft einzustimmen, hat seit Yirmiyahu Yovels
großer Arbeit zu Spinoza und zur Spinoza-Rezeption eine vielversprechende
Alternative zur Verfügung: die Metapher des Abenteuers, die zugleich mehr ist
als eine Metapher, eher schon ein Programm. Der zweite Band seiner Studie ist
untertitelt mit „The Adventures of Immanence“. Gewiss ist ‚Immanenz‘ nicht
schon identisch mit ‚Aufklärung‘, aber die Entdeckung der Welt mit ihren eigenen – eben ihr immanenten – Gesetzen, die Freude am Diesseits, die Rehabilitierung der Sinnlichkeit, der nicht schon die Höllenstrafen auf den Fuß folgen, die
Erweiterung der Naturerkenntnis und -beherrschung, der Bruch mit überkommenen Herrschaftsverhältnissen und vor allem das Vertrauen auf die eigene Urteilskraft und auf den von keiner Autorität zensierten Gedanken – dies alles gehört wesentlich zur Aufklärung. „Sie zeigte“, wie Kurt Flasch schreibt, „die Natur und die Geschichte ohne Wunder; sie machte die Welt erst weltlich.“2 Es
sind Abenteuer, Kampfplätze, Eroberungen, Verluste und Rückeroberungen,
Entdeckungsreisen, die nicht schon die eingefahrenen breiten Wege benutzen,
einen ungewissen Ausgang haben und keineswegs durch klare religiöse und moralische Grenzen gesichert sind. Aber war die Epoche der Aufklärung und besonders das Werk eines Descartes oder Spinoza nicht durchdrungen von einem
trockenen rationalistischen Geist, von Beweisen more geometrico und einer tiefen Skepsis gegenüber all dem, das nicht schon von der Vernunft erhellt und
streng kontrolliert war? Muss nicht der Zufall, ohne den es kein Abenteuer gibt,
eliminiert werden? Das Bedürfnis nach rationaler Rekonstruktion und Kontrolle
der uns erfahrbaren Wirklichkeit sollte nicht identifiziert werden mit der Vermeidung aller Risiken. Yovels Kronzeuge für die Abenteuer der Immanenz, Baruch Spinoza, ging mit seiner grundlegend anderen Sicht auf Politik, Erkenntnis,
Gott, Welt, Glaube und Vernunft ein erhebliches Risiko ein, denn „the idea of
immanence“ – der konsequent durchgeführte Gedanke einer ausnahmslos kausal
bestimmten und bestimmbaren Struktur aller Wirklichkeit, die keiner transzendenten Eingriffe bedarf, ja mit der Substanz Gottes identisch ist, „challenges the
major premise of Judaism and Christianity (and Islam), and is closely related to
1
2
Lévy 2010: 36.
Flasch in Flasch/Jeck 1997: 7.
5
naturalism and secularization“3. Die Rolle Spinozas im Diskurs der radikalen
Aufklärung und ihrer Kritik der Religion wird an anderer Stelle ausführlicher
thematisiert werden. Hier geht es um das Risiko, das Aufklärer eingingen, wenn
sie ihre von der religiösen, politischen und kulturellen Tradition abweichende
Sichtweise offen äußerten: Spinoza wurde aus der jüdischen Gemeinde Amsterdams ausgeschlossen und blieb es bis zu seinem Tod. Das liberalere Klima in
den Niederlanden des 17. Jahrhunderts bewahrte ihn vor weitergehenden Folgen. Aber nicht nur das persönliche Risiko, auch der offene Ausgang eines wissenschaftlichen Projekts oder einer neuen politischen Idee, welche die bisherigen Selbstverständlichkeiten und Herrschaftsverhältnisse in Frage stellt, sprechen für ein Abenteuer. Die Bühne, auf der es stattfindet, ist freilich nicht in
Halbdunkel gehüllt, sondern wird von der Vernunft ausgeleuchtet, ja erscheint
oft in grellem Licht. Der von Theologen so gerne bemühte Begriff der ‚Selbsttranszendenz‘ des Menschen schließt dieses Abenteuer notwendig ein: die Überschreitung des hier und jetzt Gegebenen, der Aufbruch aus ehrwürdigen Traditionen, deren argumentative Basis sich als zu schwach erweist, die Freiheit zu
denken, zu erkennen und zu irren und schließlich die Erweiterung des politischen Freiheitsraumes: die Abschaffung alter, angeblich von Gott sanktionierter
Herrschaftsformen, von heiligen Ordnungen, deren Segen sich sehr ungleich auf
die Menschen verteilt und die von der Mehrheit nur bedingungslose Unterwerfung fordern. Das Projekt der bürgerlichen Emanzipation, das die Schriftsteller
der Aufklärung argumentativ, zuweilen auch unter Aufbietung aller Polemik
begleiteten, war eine Aventure mit offenem Ausgang und Ambivalenzen, die
damals, als die Kämpfe gegen das ancien régime und seine theoretische Rechtfertigung ausgefochten wurden, noch keineswegs in ihrer ganzen Tragweite bewusst waren. Die Philosophie ist, wie Kurt Flasch und Bernard-Henri Levy betonen, kein Ort weltferner ruhiger Kontemplation, sondern eine Arena, auf der
Kämpfe ausgetragen werden, und eine „dramatisch-konfliktreiche Geschichte“
war schon das „Denken vor der Französischen Revolution“ – Mittelalter und
Antike eingeschlossen 4 . Mag sein, dass die akademische Philosophie den
Schlachtenlärm dämpft oder im Interesse vermeintlicher Objektivität sich gegen
ihn taub macht und so den vitalen Charakter der Konflikte unterschlägt5; wer
aber unvoreingenommen auf die Philosophiegeschichte blickt, muss feststellten,
dass hier keineswegs sine ira et studio „als ruhige Weisheit oberhalb der Parteiungen“6 argumentiert und geschrieben wurde. Ist dieser  sogar ein we3
4
5
6
Yovel 1989b: IX.
Flasch 2009: 9.
So Lévy 2010: 36f.
Flasch 2009: 7.
6
sentliches Merkmal der Philosophie, wie es bei Bernard-Henri Lévy heißt, „que
l’art de philosopher ne vaut que s’il est un art de la guerre“7? Die Wahrheit, der
alles Denken über einen bloß instrumentellen Gebrauch hinaus verpflichtet
bleibt, stellt sich zuweilen nur polemisch dar, und so ist in vielen historischen
Situationen die Polemik eine ‚Stellung des Gedankens zur Objektivität‘ (Hegel).
Wenn Yirmiyahu Yovel oder Jonathan Israel die grundlegende Bedeutung
Spinozas für die Aufklärung, insbesondere für ihre radikale Variante, herausarbeiten, so kontrastiert dies einer Sicht, welche die Grundlagen aufklärerischen
Denkens vor allem in der Methodenreform eines René Descartes sieht, eine Reform, die schließlich in Kants Kritik der reinen Vernunft mündet, wobei Kants
Erkenntnistheorie und Ethik als  und – wohl zu Kants eigener Überraschung – ‚Überwindung‘ der Aufklärung angesehen werden. Paul Natorps im
Kontext des Neukantianismus entstandene Arbeit Descartes‘ Erkenntnißtheorie.
Eine Studie zur Vorgeschichte des Kriticmus (Marburg 1882) belegt diese Interpretation der Aufklärung als Vorgeschichte des kritischen Idealismus eindringlich. Was sich diesem Schema verweigert, wird als dogmatischer Rest aus der
Rekonstruktion dieser ‚Vorgeschichte des Kritizismus‘ ausgeschieden, und so
wundert es kaum, dass Spinozas Ethik und der Theologisch-politische Traktat
sowie deren Rezeption im frühen 18. Jahrhundert weniger Beachtung fanden.
Eine umfassendere Darstellung auf dem Hintergrund eines sprach- und symboltheoretisch erweiterten Neukantianismus bot 1932 Ernst Cassirers Philosophie
der Aufklärung, die allerdings deren radikale Variante noch als Randerscheinung
abtat. Yirmiyahu Yovels Spinoza-Studie von 1989 schlägt einen Bogen von der
Frühaufklärung bis zu Marx, Nietzsche und Freud, Jonathan Israel thematisiert
in seinen umfang- und materialreichen Studien die Bedeutung Spinozas für ein
radikal-emanzipatorische Denken. Ob die Französische Revolution primär aus
dieser Philosophie zu erklären ist, mag man bezweifeln; zutreffend ist aber, dass
der emanzipatorische Überschuss der radikalen Aufklärung nicht einfach vom
kritischen Idealismus beerbt oder überwunden, sondern von der nachidealistischen Philosophie kritisch rezipiert und weiter vorangetrieben wurde. Die in der
Aufklärung sich artikulierende bürgerliche Emanzipation wird im 19. Jahrhundert mit ihren eigenen Ansprüchen, Idealen und uneingelösten Versprechen konfrontiert. Die selbstkritische Tradition der Aufklärung, in der sowohl Kant wie
Marx sich sahen und die bei Israel im Interesse der Abwehr postmoderner und
neokonservativer Denkrichtungen leider zu kurz kommt, reicht bis zu der
1944/47 publizierten Dialektik der Aufklärung, die das emanzipatorische Interesse keineswegs revozierte. So beschränkt sich Aufklärung – und mit Israel
7
Lévy 2010: 50.
7
möchte ich bei aller notwendigen inneren Differenzierung von ihr im Singular
sprechen – weder auf eine wissenschaftliche Methodenrevolution noch auf die
Formulierung einer autonomen Ethik, sondern beinhaltet – auch hier ist Jonathan Israel zuzustimmen – als zentralen Punkt das Programm einer radikalen –
schließlich revolutionären – Veränderung der politischen, wirtschaftlichen und
religiösen Verhältnisse; insofern ist sie gewiss für das Verständnis der Entstehung von Neuzeit und Moderne wichtiger als Reformation und Renaissance: Die
Aufklärung „effectively demolished all legitimation of monarchy, aristocracy,
woman’s subordination to man, ecclesiastical authority, and slavery, replacing
this with the principles of universality, equality, and democracy.“8
Schon dieser erste, noch flüchtige Blick auf die Phänomene Aufkärung und Säkularsierung zeigt eine Differenz zu den – im übrigen unbestreitbaren – Aufklärungstendenzen mittelalterlicher Philosophie an. Denker wie Anselm, Abaelard,
Maimonides, Ibn Rušd, Albert, Thomas oder Gersonides verteidigten das Recht
von Wissenschaft und Vernunft gegen die Angriffe eines simplen oder mit antiphilosophischer Skepsis verbündeten Fideismus9; sie erforschten die Gesetze des
Denkens und waren bestrebt, die Resultate selbstständigen Denkens zu versöhnen mit der Autorität von Schrift und Offenbarung. Manche gingen offenbar
noch erheblich weiter und griffen zentrale Inhalte der Religion an oder stellten
die Wisenschaftlichkeit der Theologie in Frage: „Quod sermones theologi“ heißt
es in einer 1277 durch Bischof Tempier von Paris verurteilten These, „fundati
sunt in fabulis / Die Reden des Theologen sind in Fabeln begründet.“ Oder, daran anschließend: „Quod nihil plus scitur propter scire theologiam. / Das theologische Wissen bringt keinen Erkenntnisgewinn.“10 Offen ist, was hier mit ‚Erkenntnisgewinn‘ gemeint ist: Analyse der Grundlagen unseres Denkens, Einsicht in die funktionalen Zusamenhänge der Welt oder praktisch verwertbares
Wissen? Für alle diese Forschungsinteressen erweist sich die Theologie, folgt
man der zuletzt genannten These, als unergiebig. Gewiss wird man vorsichtig
sein müssen, derart aus dem Kontext gerissene oder bewusst zum Zwecke der
Verurteilung pointierte Thesen so zu verstehen, als wären sie an der Pariser Artistenfakultät konsensfähig gewesen – aber zumindest möglich waren sie. Erzählungen von Gottes Großtaten und Wundern, seiner Liebe und seinem Zorn konnten einer Wissenschaft, die auf sichere Erkenntnis zielte, kaum als Maßstab die8
9
10
Israel 2001: VI; zu den revolutionären Konsequenzen vgl. Israel 2014: 20-29.
Zu den genannten Autoren vgl. Flasch/Jeck 1997, dort die Beiträge von Niewöhner, Butterworth, Moos,
Sturlese und Mensching; ferner Seymour Feldman, Gersonides. Judaism within the Limits of Reason, Oxford
– Portland (OR) 2010; Max J. Charlesworth, Intoduction to St. Anselm’s Proslogion Notre Dame (1978)
9
2014, 3-46.
Beide Thesen: Flasch 1989: 217; vgl. auch Flasch in Flasch/Jeck 1997: 13f. sowie Luca Bianchi, Der Bischof
und die Philosophen: die Pariser Verurteilung vom 7. März 1277, in: Flasch/Jeck 1997: 70-83.
8
nen; ja vermochten sie überhaupt Erkenntnis zu vermitteln, durfte sich auf diese
Bücher der Glaube stützen? So stehen Theologie und kirchliche Lehre im Verdacht, hohe Verbindlichkeit auf der Basis historisch und vor allem philosophisch
zweifelhafter Schriften einzufordern.
Aber auch weniger provozierende, auf Versöhnung von Schrift/Offenbarung und
Vernunft abzielende Thesen und Untersuchungen taten sich schwer mit der philosphischen Relevanz und Deutung biblischer Texte. Ibn Rušd, Maimonides oder auch Thomas interpretierten die anthropomorphe Sprache der Schrift als
Konzenssion an die Auffassungsgabe der Masse, während nur den Weisen und
Propheten der wahre, nämlich philosophische Gehalt der Schrift sich erschließt.
Der mittelalterliche Rationalismus war, mit anderen Worten, esoeterisch: Nur
wenige hatten Zugang zu wissenschaftlicher und philosophischer Bildung. In
Italien nahm mit dem Plädoyer für die italienische Sprache anstatt des Lateins
als Gelehrtensprache schon früh der exoterische Charakter der Bildung erste
Konturen an. Weniger die universitäre Philosophie als die Literatur hatte im späten 13. und 14. Jahrhundert eine avantgardistische Funktion inne. So heißt es bei
Giovanni Boccaccio (1313-1375):
„Wir dürfen nicht glauben,
man finde die Philosophie
immer nur auf Lehrstühlen (catere),
immer nur an Hochschulen (scuole),
immer nur in akademischen Streitgesprächen.
Sehr oft findet man sie
in der Brust von Männern und Frauen.“11
Wie bei Nicolaus Cusanus gibt es keinen akademischen Alleinvertretungsanspruch für Philosophie. Weisheit von wahrhaft philosophischer Bedeutung findet sich auch im Witz und im Pragmatismus, in den kleinen und großen Antrengungen zur Subversion öffentlicher, oft doppelbödiger Moral, im Mut und
manchmal auch in der Unverfrohenheit, die hierzu erforderlich sind, und
schließlich in den vielen Einsichten der von einem schwierigen Alltag geplagten
Männer und Frauen. Sie durchschauen oft die Verhältnisse besser als manche
Gelehrten und verfügen zuweilen über die Kapazität, ihrer deformierenden
Macht zu entkommen. Mit einer an die Aufklärungsliteratur erinnernden Respektlosigkeit, aber ohne deren ausgeprägten Hass, mokierte sich Boccaccio über
Wunderglauben und Charlatanerie. Die Geschichte von Bruder Cipolla im Decameron schildert einen Bettelmönch, der sein Auskommen findet, indem er
dem Volk die erstaunlichsten wundertätigen Reliquien präsentiert. Als er eines
11
Zitiert nach Flasch 1992: 8 (Übersetzung von Kurt Flasch). Siehe auch die einleitenden Bemerkungen
Flaschs, ebd.: 13-32.
9
Tages verspricht, die Feder des Erzengels Gabriel zu zeigen, spielen ihm Spaßvögel einen üblen Streich und ersetzen die angebliche Engelsfeder durch Kohle.
Erst während der Vorführung bemerkt Bruder Cipolla den Anschlag auf seine
Glaubwürdigkeit. Aber er ist um keine Ausrede verlegen, hat er doch, wie er den
Umstehenden erzählt, die Kästchen versehentlich vertauscht: in diesem nämlich
befänden sich die Kohlen, über denen der heilige Laurentius geröstet worden
sei. Auch hier preist er mit vielen Worten die wundertätige Wirkung dieser Kohle, und so wird er mit reichen Spenden bedacht 12. Der Zauber der Reliquien
scheint verflogen, man könnte hier von einer narrativen Entzauberung sprechen,
die mit Witz und Ironie arbeitet.
Was sich hier andeutet, wird in der neuzeitlichen Aufklärung ab Ende des 17. /
Anfang des 18. Jahrhunderts explizit: Bildung, Aufklärung, selbstständiges
Denken sollten nicht mehr Privilegien einer Minderheit sein. Eine freie und egalitäre Gesellschaft brauchte Bürger, die sich ihres Verstandes selbstständig bedienen konnten und nicht mehr Opfer von Wunderätern, Betrügern und Manipulatoren wurden. Die ‚Kampfplätze der Philosophie‘ weiten sich aus und geben
den Blick frei auf die wachsenden gesellschaftlichen Konflikte. Ein veränderter
Stand wissenschaftlicher Erkenntnis, die enge Verknüpfung von Theorie und
Praxis sowie die Problematisierung der überkommenen kirchlichen und weltlichen Autoritäten, ihrer hierarchischen Ordnung und Herrschaftsansprüche führten – fast möchte man sagen: unvermeidlich – dazu, dass die religiöse Überlieferung ins Visier emanzipatorischer Kritik geriet. Bereits im Rückblick auf das
siècle des lumièrs erklärte bekanntlich Marx, dass die Kritik der Religion der
Anfang aller Kritik sei13. Diese Sicht ist übrigens im 20. Jahrhundert auch Michel Foucault nicht fremd; beziehen sich doch die ersten Formen neuzeitlicher
Kritik – verstanden als die „Kunst, nicht derart reagiert zu werden“14 – auf die
Religion. Zunächst zielen sie auf den Monopolanspruch des kirchlichen Lehramtes, die Heilige Schrift auszulegen und verweisen auf die Kompetenz jedes einzelnen, die Schrift zu lesen, sie auszulegen und für das eigenen Leben fruchtbar
zu machen15. Den Weg einer immanenten Kritik beschritten im Alten Testament
schon prophetische Texte im Namen des einzigen Gottes und im Interesse einer
gerechten Ordnung der Gesellschaft, jüdische Reformbewegungen, frühchristliche Gruppen, die unterschiedlichen mittelalterlichen Erneuerungsbewegungen
und zu Beginn der Neuzeit die Reformation, die sich gerade als Rückkehr zu den
normativen biblischen Quellen verstand, an denen die kirchliche Verkündigung
12
13
14
15
Boccaccio 1982: 482-491 (6. Tag, 10. Geschichte).
Vgl. MEGA I/2: 170 (MEW 1: 378).
Foucault 1992: 12.
Vgl. ebd.: 13.
10
und Praxis zu messen ist16. Sowohl die kirchlichen Amtsträger als auch jeder
einzelne stehen unter dem Wort Gottes, das allen in der Heiligen Schrift zugänglich ist und dessen uneingeschränkte Geltung im Glauben anerkannt wird. Wie
aber ist es um die Autorität der Bibel bestellt, wenn der kanonische Text selbst
dem Urteil der autonomen Vernunft unterworfen wird und sich als menschliches
Werk erweist? Diese Fragestellung war der Reformation durchaus fremd, wird
aber spätestens von Spinoza im 17. Jahrhundert aufgeworfen und verschwindet
fortan weder aus dem religionskritischen noch aus dem theologischen Diskurs.
Für Marx ist jedoch, deutlicher als später für Foucault, die Kritik der Religion
die erste Form einer Kritik der Verdinglichung. Marx sieht sich, wie wir noch
sehen werden, durchaus als Erbe einer radikalen Aufklärung, die von der Kritik
der Religion zur Kritik der politischen und sozialen Verhältnisse voranschreitet.
Radikal ist eine solche Aufklärung, weil sie sich nicht mit ohnehin kurzlebigen
Reformen begnügt, sondern auf den Umsturz der bisherigen Herrschaftsverhältnisse zielt, also an die Wurzel (radix) des Übels geht, kausal therapiert und sich
nicht mit einer Bekämpfung der Symptome begnügt. Autoren wie Spinoza,
d’Holbach, La Mettrie, Meslier, Diderot und eine Reihe anonymer Verfasser
von Flugschriften verbanden im 18. Jahrhundert die Kritik der ökonomisch
längst überlebten Feudalgesellschaft mit einer polemischen Verabschiedung der
religiösen Traditionen und Institutionen, die aus ihrer Sicht nur dazu dienen, den
unhaltbaren Verhältnissen eine ideologische Rechtfertigung zu geben. Naturwissenschaft, historische Forschung und Philosophie hingegen entzogen aus der
Sicht einer radikalen Kritik der Religion jegliche rationale Basis und zeigten
mindestens indirekt, dass ihr Fortbestand sich eher den Interessen der Herrschenden verdankt, die von der Unwissenheit der Massen profitieren. Folglich
müssen die Massen instruiert werden, damit sie die Verhältnisse durchschauen,
ihre eigenen Interessen erkennen und schließlich den Gehorsam verweigern.
Manches von dem, was damals vorgetragen wurde, klingt heute auch aus einer
eher säkularen Perspektive etwas schlicht, wie z.B. die im Traité des trois imposteurs vertretene These vom Priesterbetrug, der gemäß die großen Religionen
von findigen Betrügern aus Geldgier und Herrschsucht gegründet wurden. Die
These überschätzt die Wirkung einzelner und verkennt die historische und soziale Dynamik, welche die Entstehung und Entwicklung von Religionen ermöglicht. Die gegenwärtigen religiösen, politischen, ökonomischen und sozialen
Missstände werden umstandslos in die Anfänge der Religionen projiziert: Was
heute zu ihrem Fortbestande verhilft, müsse auch damals ihre Gründung ermöglicht haben. Komplexer sind die naturwissenschaftlichen und historischen Ar16
Vgl. hierzu auch Kraus 1982.
11
gumente, die erst im 19. und 20. Jahrhundert eine angemessene theologische
Antwort fanden – also zu einem Zeitpunkt, da die alten Kämpfe ausgefochten
waren; ein Umstand, der manche Theologen dazu verführt, Religionskritik und
Aufklärung inzwischen für veraltet zu erklären.
Prima facie weniger radikal, aber doch in der Konsequenz weit reichend ist die
berühmte Kantische Definition von Aufklärung, der gemäß Aufklärung „der
Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“ sei. Unmündigkeit definiert Kant als „das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne
Leitung eines anderen zu bedienen“. „Selbstverschuldet“, erklärt Kant, „ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes,
sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Anleitung eines anderen zu bedienen.“17 Deskription und Präskription hängen hier eng zusammen; die Definition geht in eine Aufforderung über: „Sapere aude! Habe
Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der
Aufklärung.“18 Diese Einheit von Analyse des Missstandes und programmatischem, Horaz entliehenen Postulat kennzeichnet viele Schriften der Aufklärung.
Dass die meisten Zeitgenossen doch die Unterwerfung unter eine andere Macht
dem eigenen Verstandesgebrauch, zu welchen die Natur sie doch befähigt habe,
vorziehen, ist für Kant in „Faulheit und Feigheit“ begründet19. Es ist eben einfacher und bequemer, sich den Ansichten anderer ungeprüft anzuschließen als sich
der Mühe einer genaueren Kritik zu unterziehen. Zugleich fordert eigenständiges
Denken aber auch Mut, denn nicht erst das Ergebnis der Prüfung – es mag positiv oder negativ ausfallen –, sondern die Weigerung, bestimmte Geltungsansprüche oder eine bestimmte gesellschaftlich Ordnung als schlechthin gegeben hinzunehmen, läuft Gefahr, den Widerstand der jeweiligen Autoritäten zu provozieren. Auch nur der vorsichtig artikulierte Zweifel oder das Zögern, einem Befehl
zu folgen, ist mit dem Anspruch einer unbedingten Gehorsam fordernden Autorität schlechterdings unvereinbar. Wo immer Autorität ihren Anspruch notfalls
mit Zwangsmitteln Geltung verschaffen und die Macht des besseren Arguments
durch das Argument der Macht ersetzen kann, bedarf es sogar großen Muts, um
Kants Aufforderung nachzukommen. Dem Begriff des Abenteuers eignet in diesem Falle keine metaphorische Bedeutung; man riskiert sogar sein Leben. Die
Faszination, die nicht wenige Autoren und – bien entendu! – Autorinnen der
Aufklärung bis heute ausüben, gründet nicht nur in ihren Argumenten, von denen einige ihre Kraft inzwischen einbüßten, sondern – und hier ist Philipp Blom
17
18
19
Kant 1912b: 35.
Ebd. Dies gehört, worauf Susan Neiman mit Recht hinweist, zum Erwachsenwerden; es ist, wie sie schreibt,
„eher eine Frage des Mutes als des Wissens“ (Neiman 2015: 17 = Neiman 2014: 6).
Ebd; vgl. auch Schnädelbach 2009: 20-27.
12
zuzustimmen – in dem großen Mut, dessen es bedürfte, um die alten Plausibilitäten infrage zu stellen und die bestehende Macht zu provozieren. Das gilt in besonderem Maße für die radikalen Aufklärer, die sich etwa im Salon des Baron
d’Holbach trafen: „Sie hatten ihre Heimat verlassen, ihren Vätern getrotzt, sich
ein eigenes Leben konstruiert.“20 Ist es nur die biblisch belastete Phantasie des
Theologen, die mit dem Verlassen der Heimat Gen 12,1 assoziiert? Vielleicht
gib es ja auch ein säkulares Lech-Lecha. Was eine ‚Herausforderung‘ darstellt,
wusste man jedenfalls damals besser als heute, da der Begriff zur armseligen
Phrase verkommen ist, die Rat- und Hilflosigkeit verdeckt.
Ob Kants Erklärung für die fehlende Selbstaufklärung von Individuum und Gesellschaft zureicht, ist indessen nicht so sicher, wie der apodiktische Ton es zunächst suggeriert. Die normative Kraft des Faktischen, das den Schein eines
immer schon Gewesenen annimmt, behauptet sich auch heute noch. Die Hindernisse für den selbstständigen Gebrauch des Verstandes sind möglicherweise härter als Kant es dachte und reichen über die subjektive Befindlichkeit hinaus oder
genauer formuliert: Die spezifische Verfassung des Subjekts ist vermittelt zu
kulturellen und gesellschaftlichen Prozessen, die nicht durch den Appell an den
Einzelnen beeinflussbar sind. Kants Rede von der „beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit“ deutet auf den Schein des Unabänderlichen, mit dem das
Gewordene sich umgibt, und der nicht nur Unmündigkeit bewirkt, sondern
durch sie sich reproduziert. Bequemlichkeit allein reicht also zur Erklärung der
Unmündigkeit nicht aus, und Kant konzediert auch, dass manch einer sich seines
Verstandes nicht zu bedienen weiß, „weil man ihn niemals den Versuch dazu
machen ließ“, was durchaus im Interesse der Obrigkeit liegt21. So ist der bloße
Appell an das Individuum, wie sich bald zeigt, unzureichend. „Daß aber ein
Publicum sich selbst aufkläre“, führt Kant weiter aus, „ist eher möglich, ja es ist,
wenn man ihm nur Freiheit läßt, beinahe unausbleiblich. Denn da werden sich
immer einige Selbstdenkende sogar unter den eingesetzten Vormündern des
großen Haufens finden, welche, nachdem sie das Joch der Unmündigkeit selbst
abgeworfen haben, den Geist einer vernünftigen Schätzung des eigenen Werths
und des Berufs jedes Menschen selbst zu denken um sich verbreiten werden.“22
Die pädagogischen Ambitionen der Aufklärung scheinen hier deutlich durch,
nur dass Kant einem freien Publikum zutraut, diese Erziehung zur Mündigkeit
weitgehend selbst zu leisten. Denn jene, welche bereits das „Joch der Unmündigkeit“ abgeworfen haben, werden die Selbstaufklärung des Publikums vorantreiben – auch die Aufklärung braucht ihre Avantgarde. Erforderlich ist hierzu
20
21
22
Blom 2011: 106.
Kant 1912b: 36.
Ebd.
13
allerdings der öffentliche Gebrauch der Vernunft, d.h. die Freiheit der Meinung.
Und hier sieht Kant drei Gruppen, welche dieser Forderung ablehnend gegenüber stehen: „Der Offizier sagt: räsonnirt nicht, sondern exercirt! Der Finanzrath: räsonnirt nicht, sondern bezahlt! Der Geistliche: räsonnirt nicht, sondern
glaubt!“23 Soweit bestimmte gesellschaftliche Funktionen berührt sind, mögen
Offizier und Finanzrat in ihrem engeren Bereich ihre Forderung mit Recht stellen; als Weltbürger aber sind Soldat und Geschäftsmann uneingeschränkt berechtigt zu ‛räsonnieren’ – und zwar öffentlich. In Fragen der Religion liegen
die Dinge ähnlich: Der Geistliche ist verpflichtet, „seinen Katechismusschülern
und seiner Gemeine nach dem Symbol der Kirche, der er dient, seinen Vortrag
zu thun“; als Gelehrter aber genießt er volle Freiheit, von seiner Vernunft öffentlichen Gebrauch zu machen. Erst wo er einen unüberwindlichen Widerspruch
zur „inneren Religion“ – also zur eigenen religiösen Überzeugung und zum eigenen Status als Vernunftwesen – antrifft, so müsste er sein Amt wohl niederlegen24. Gleichwohl gilt auch in Fragen der Religion – denn die Amtsträger bilden
mit ihren besonderen Rücksichten nur einen Minderheit – die Forderung, „sich
seines eigenen Verstandes ohne Leitung eines anderen sicher und gut zu bedienen“, uneingeschränkt: wobei Kant einräumt, dass an der Realisierung dieses
Zieles „noch sehr viel“ fehlt25. Sein eigenes Zeitalter, konstatiert Kant 1784, ist
eben noch kein Aufgeklärtes, sondern noch eines der Aufklärung, es bedarf
günstiger politischer Rahmenbedingungen, aber die Aufklärung selbst ist Sache
der Öffentlichkeit und jedes Einzelnen. Kants Aufklärungsschrift bleibt, verglichen mit manchen Schriften der französischen Aufklärung, moderat; sie fordert
nicht den Umsturz der bestehenden Verhältnisse, nicht die Auflehnung gegen
die Obrigkeit, sie ruft nicht offen zum Kampf gegen die Religion auf (obwohl er
sich der Spannung zwischen Aufklärung und religiöser Autorität sehr wohl bewusst ist), sondern setzt das Vertrauen in die Selbstaufklärung der Gesellschaft,
was nicht ohne Konsequenzen für ihre weitere Verfassung bleibt. Es ist mit diesem schwierigen Unterfangen aber gerade erst ein Anfang gemacht.
Weniger emphatisch als Kant formulierte im gleichen Jahr Moses Mendelssohn
zur Frage Was ist Aufklärung?: „Die Worte Aufklärung, Cultur, Bildung sind in
unserer Sprache noch neue Ankömmlinge. Sie gehören vor der Hand bloss zur
Büchersprache. Der gemeine Haufe versteht sie kaum.“26 Gleichwohl ist das mit
diesen Begriffen Gemeinte nicht völlig neu, sondern Bestandteil jeder Bildung
eines Volkes. Auch Mendelssohn plädiert dafür, dass „Aufklärung und Cultur
23
24
25
26
Ebd.: 37.
Ebd.: 38.
Ebd.: 40; vgl. auch Ferrone 2015: 7-11.
Mendelssohn 2009b: 211.
14
mit gleichen Schritten fortgehen“27, wobei Aufklärung die Theorie, Kultur die
Praxis bezeichnet, die Einheit beider aber die Bildung nicht nur des Individuums, sondern des ganzen Volkes ausmacht28. Ziel der Bildung ist es, dass der
Mensch seine Bestimmung als freies Vernunftwesen realisiere – individuell und
als sozialer Verband. Auch Mendelssohn vermeidet in seiner kurzen Schrift
mehr noch als Kant, der ihm antwortet, die direkte Kollision mit der Obrigkeit,
auch wenn die Forderungen in letzter Konsequenz selbst mit einem aufgeklärten
Absolutismus unvereinbar sind. Erst die radikalen Aufklärer werden hier den
offenen Bruch wagen und als „political activists“ der überfälligen Veränderung
zuarbeiten 29 . Deutlichere Worte, welche an Spinozas Theologisch-Politischen
Traktat erinnern, findet er jedoch, wenn es um die Religionsfreiheit geht und
den Respekt vor dem Glauben des Anderen. Die Gesinnung verträgt keinerlei
Zwang, den gerade das Judentum, zu dem Mendelssohn sich bekennt, oft genug
zu spüren bekam. Darum spricht er sich deutlich für eine uneingeschränkte Freiheit des Bekenntnisses – negativ wie positiv – aus und gegen jeden Zwang in
Sachen des Glaubens, den weder weltliche noch geistliche Instanzen auszuüben
das Recht haben, und plädiert für eine Einschränkung der Sanktionsmöglichkeiten christlicher wie jüdischer Autoritäten30.
Ähnlich wie für Kant ist auch für Mendelssohn das eigene Zeitalter zwar kein
schon aufgeklärtes, wohl aber eines, das in Aufklärung begriffen ist und bereits
die beachtlichen Ansätze der Antike überbietet. Während Mendelssohn gegenüber geschichtsphilosophischen Spekulationen reserviert blieb, gingen andere
Autoren wie Lessing und Kant weiter. Condorcet oder Turgot in Frankreich
entwickelten, wie wir noch sehen werden, einen emphatischen Fortschrittsbegriff, der zur Kategorie avancierte, unter welcher die gesamte Geschichte betrachtet werden kann. Unangemessen ist jedenfalls die Behauptung einer Geschichtsferne oder Geschichtsvergessenheit der Aufklärung. „Die landläufige
Ansicht“, schreibt Ernst Cassirer“, daß das achtzehnte Jahrhundert ein spezifisch
‛unhistorisches’ Jahrhundert gewesen sei, ist selbst keine geschichtlichbegründete und begründbare Auffassung: sie ist vielmehr ein Kampfwort und
ein Schlagwort, das die Romantik geprägt hat, um in seinem Zeichen gegen die
Aufklärung zu Felde zu ziehen.“31 Natur und Geschichte werden, wie Cassirer
betont, als „eine Einheit“ und „mit denselben gedanklichen Mitteln“ behandelt32.
27
28
29
30
31
32
Ebd.: 249.
Vgl. ebd.: 213.
Jacob 2006: IX (Introduction).
Vgl. Mendelssohn 2009b: 89-94.
Cassirer 1973: 263.
Ebd.: 266. In Cassirers Darstellung wird allerdings das gesamte Phänomen der Aufklärung in hohem Maße
homogenisiert; vgl. auch die kritischen Anmerkungen Vincenzo Ferrones (ders. 2015: 60-62).
15
Nicht übersehen werden sollte, dass schon seit der Renaissance ein kritisches
Instrumentarium zur Erforschung von Quellentexten zur Verfügung steht, das
fortschreitend verfeinert wird und von dem die im Zuge der Romantik sich entfaltende Geschichtswissenschaft profitiert. Autoren wie Vico, Ferguson, Voltaire, Turgot oder Condorcet widmeten sich ausführlich historischen und kulturtheoretischen Fragen, und zwar oft mit einer großen Liebe zum Detail und mit
einer für ihre Zeit großen Breite der Kenntnis. Freilich geschah dies in einer
mehr oder weniger deutlichen Opposition zur bisherigen theologisch-heilsgeschichtlichen Betrachtung der Vergangenheit. Dass die Menschen Urheber ihrer
eigenen Geschichte und Kultur seien, ist seit Vico fester Bestandteil der Aufklärung, auch wenn die göttliche Vorsehung gleichsam hinter dem Rücken der
Agierenden wirkt wie bei Vico oder Lessing. Das Vertrauen in die kirchliche
Überlieferung des Christentums war nicht nur durch die naturwissenschaftlichen
Erkenntnisse, die mit dem Wortlaut von Schrift und Tradition nicht zu harmonisieren waren, erschüttert worden, sondern auch durch die Erfahrung religiöser
Intoleranz, die bis zur physischen Vernichtung des Dissidenten ging und nicht
zuletzt durch die religiöse Legitimation von Kriegen, die Europa im 17. Jahrhundert ruinierten. Wachsende Bildung und ökonomische Erfolge vor allem des
Bürgertums traten in Spannung zur politischen und meist auch religiösen Entmündigung. Das geschichtliche und politische Geschehen in die Hände der
Menschen zu legen, bedeutete auch, es den tradierten Autoritäten zu entreißen
und die Partizipation aller an politischen Entscheidungen und an den Segnungen
von Wirtschaft und Kultur neu zu verhandeln.
Natur, Kultur, Geschichte und Religion wurden so zum Feld einer Forschung,
die sich zwar an weltanschauliche und traditionelle Vorgaben nicht gebunden
sah, wohl aber bestimmten Interessen entsprang. Geht es doch darum, die Menschen aus dem Netz eigener Vorurteile, vom Druck einer blind zuschlagenden,
unerkannten Natur und einer unerhellten politischen wie religiösen Autorität zu
befreien. Der Begriff des Interesses ist aber noch in einem weiteren Sinne zu
verstehen. Mündigkeit bedeutet nämlich auch, sich die eigenen Interessen bewusst zu machen, also sich selbst über sie aufzuklären, sie nicht einfach fremden
Ansprüchen unterzuordnen. Die moralische Rehabilitierung der Eigenliebe
(amour propre), des Strebens nach Glück gehört zum Programm zumindest der
englischen und französischen Aufklärung. In diesen Zusammenhang gehört die
berühmte Betrugshypothese: Religion entspringe der Absicht von Priestern und
Religionsstiftern, aus der Furcht und Unbildung der Massen für sich Vorteile zu
gewinnen. Fortschreitende Bildung und die Besinnung auf die eigenen Interessen müsse folglich den religiösen Einbildungen im Interesse der Herrschenden
16
ein Ende bereiten. Bei La Mettrie und dem Marquis d’Argens schließlich wird
das Plädoyer für den amour propre erweitert zur Forderung nach der Emanzipation der Sinnlichkeit von der tradierten Moral unter Hinweis auf die somatische,
naturale Beschaffenheit des Menschen: Es ist besser sie zu kultivieren als sie zu
unterdrücken. Die pauschale moralische Verurteilung aller dieser legitimen Bestrebungen der Menschen steht, so der Verdacht, im Dienste von Herrschaft. Die
überlieferte, religiös fundierte Moral bürdet den unteren Schichten Verzicht und
Altruismus auf, während Geistlichkeit und Adel diese Tugenden zwar predigen,
aber selbst nicht praktizieren, im Gegenteil: sie führen ein luxuriöses Leben auf
Kosten der Mehrheit. Die erotische Literatur des Zeitalters mit ihren frivolen
und freizügigen Sujets zielte nicht bloß auf Unterhaltung. Sie stellte exemplarisch den Lesern Beispiele für die Befreiung und Kultivierung der Sinnlichkeit
vor Augen, wobei Vertreter der kirchlichen Moral meist die Negativfolie bildeten. Andere Pamphlete hingegen begnügten sich damit, in bunten Farben das
lasterhafte Leben und Treiben des Adels und höheren Klerus zu beschreiben;
mit Aufklärung hatte dies freilich wenig zu tun. Dass Luxus schädlich und moralisch verwerflich sei, die Verfeinerung der Kultur zu Korruption und Verschwendung führe, war freilich keineswegs Konsens. Von Adam Fergusons
Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft bis zu Mandevilles
Bienenfabel ist das Streben nach Wohlstand, Bequemlichkeit und Verfeinerung
durchaus legitim, ja geradezu der Motor des wirtschaftlichen, technischen und
kulturellen Fortschritts33. Der kulturkritische Zug Rousseaus ist Ferguson eher
fremd. So entfaltet sich ein großes Tableau von philosophischen, naturwissenschaftlichen, historischen und theologischen Themen, Erkenntnissen und Forderungen, die miteinander keineswegs immer harmonisieren; Aufklärung ist nur in
den Augen ihrer Verächter ein monolithischer Block.
Gleichzeitig mit diesen emanzipatorischen Forderungen setzt sich aber auch eine
Praxis der Disziplinierung der Menschen allmählich durch, die mit dem Streben
nach Unabhängigkeit nicht bruchlos vereinbar ist. Schon bei Holbach zeigt sich
die problematische Verbindung von mechanischem Materialismus, asketischer
Verwerfung des Luxus mit der Perspektive einer technischen Manipulation des
Menschen im Interesse einer wohl organisierten Gesellschaft34. Manufaktur, Gefängnis und Krankenanstalt werden, wie Leo Kofler und Michel Foucault zeigten, reformiert und verwandeln sich in Stätten, wo die Menschen einem strengen, von außen auferlegten Rhythmus, einer unerbittlichen Disziplin und sorg-
33
34
Aus wirtschaftshistorischer Perspektive vgl. Sombart 1922: 172-177,
Vgl. Holbach 1960: 96f.
17
fältigen Kontrolle unterworfen werden35: Sie finden sich im Interesse von Fortschritt und Zivilisation als bloße Objekte wieder, und ihre Überwachung funktioniert im Zuge technischer und administrativer Optimierung besser als im Mittelalter, das vielen Aufklärern als finsteres Zeitalter galt. Die vollkommen transparente Welt, in der es in Natur, Geschichte und Gesellschaft nichts Verborgenes mehr gibt, in der der Einzelne seine Existenzberechtigung durch seine Nützlichkeit beweisen muss, in der Technik, Wissenschaft und Bildung zum Vehikel
einer Ökonomie wurden, der gegenüber Menschen und Gesellschaften stets defizitär und unflexibel bleiben, erweist sich eher als Hölle und trauriges Ende des
aufklärerischen Abenteuers. Die Verselbstständigung der Mittel gegenüber den
Zwecken vereitelt eine rationale und humane Gestaltung dessen, was Hegel den
„objektiven Geist“ nannte: Familie, bürgerliche Gesellschaft, Staat und Politik.
Die destruktiven Potentiale dieser inmitten der Rationalisierung sich zunehmend
als irrational erweisenden Entwicklung entfaltet sich erst im 20. Jahrhundert ungehindert und mit aller Konsequenz. Dies pauschal den Autoren der Aufklärung
anzulasten – Descartes und Bacon gelten als Urheber allen Übels –, wäre wohl
kaum angemessen. Dass aber Aufklärung im 20. Jahrhundert in ihr Gegenteil
umschlug, ist ein Thema, das die neuere Philosophie von Adorno bis Zygmunt
Bauman intensiv beschäftigt. Nicht zuletzt diese Erfahrungen sind es, welche
einen naiven Fortschrittsoptimismus, den man oft pauschal ‘der’ Aufklärung
unterstellte, gedämpft haben.
Der wohl bis heute wichtigste und nachwirkende Versuch, die autodestruktiven
Potenziale der Aufklärung zu benennen ohne sich von ihr zu verabschieden, ist
Max Horkheimers und Theodor W. Adornos Dialektik der Aufklärung. Die
Schrift, von den Autoren im amerikanischen Exil unter dem Eindruck der nationalsozialistischen Diktatur verfasst, erschien zunächst 1944 als Privatdruck und
in leicht veränderter Form 1947 in Amsterdam. „Seit je“, so heißt es gleich zu
Beginn, „hat Aufklärung, im umfassenden Sinn fortschreitenden Denkens das
Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils.“36 Es klingt hier schon an, dass die Autoren den Begriff der Aufklärung
nicht auf eine Epoche – das 17. und 18. Jahrhundert – beschränken, sondern ihn
umfassender verstehen: als Versuch der Gattung, sich von naturaler, schließlich
auch von Menschen verursachter Fremdbestimmung zu befreien. Der Begriff
bezeichnet also den Emanzipationsprozess der Menschheit, dem bescheinigt
wird, dass er im 20. Jahrhundert in sein Gegenteil umschlug: Die vom Menschen
35
36
Vgl. Kofler 1992a: 300; Foucault 1976.
Horkheimer GS 5: 25.
18
frei gesetzten destruktiven Potenziale sind inzwischen mehr zu fürchten als die
Launen der Natur. Es fällt auf, dass die Definition von Aufklärung sich ausweitet: Sie ist nicht nur die programmatische Forderung, den Stand selbst verschuldeter Unmüdigkeit zu verlassen, sondern sie umfasst im Grunde die gesamte
Anthropogenese, d.h. den Versuch der Menschen, aus den bestehenden Abhängigkeiten und Schicksalsmächten – natürliche wie gesellschaftlich produzierte –
sich zu emanzipieren. Die Antithese von Mythos und Aufklärung wird von
Horkheimer und Adorno relativiert: Der Mythos besitzt, insofern er sprachlicher
Ausdruck ist, erklären, benennen, vermitteln will, bereits Vernunft, ein Gedanke, den Ernst Cassirer schon in den 20er Jahren entwickelte, während die Aufklärung als seine angebliche Überwindung selbstproduzierte Schicksalsmächte
installiert. Horkheimer und Adorno trieben das Abenteuer-Motiv noch weiter,
als sie in einem eigenen Kapitel die Irrfahrt des listigen Odysseus von Troja
nach Ithaka als Allegorie des bürgerlichen Subjekts lasen37. Hier ist aus der Distanz von zwei Jahrhunderten und der Erfahrung der großen Katastrophen des 20.
Jahrhunderts die Einheit von Humanisierung und Barbarei in ein und demselben
Prozess angesprochen.
Trotz der pointierten Formulierungen ist die Schrift keine Absage an die Aufklärung, als welche sie oft zustimmend oder ablehnend gelesen wird. Sie bezeichnet vielmehr den Versuch, Aufklärung noch einmal über sich selbst und ihre eigenen problematischen Herrschaftsansprüche aufzuklären, kurz: das Ziel ist potenzierte Aufklärung. Weder plädiert sie für die Rückkehr zu Mythos und Naturkult, noch empfiehlt sie, vormoderne Gesellschaften, von denen sich die
Menschen mit Grund emanzipierten, wieder neu einzurichten. Das hat Konsequenzen auch für die Religion: Aus der Dialektik der Aufklärung folgt keine
naive Rückkehr zu einer Religion und Frömmigkeit, die von naturwissenschaftlicher Einsicht, historischer Kritik, autonomer Vernunft und dem Misstrauen in
unerhellte Autorität wieder frei ist. Die zweite Naivität oder Unmittelbarkeit, die
auf theologischer Seite gerne beschworen wird, bleibt ein keineswegs frommer
Wunsch und lässt sich aus der Selbstkritik der Aufklärung nicht ableiten. Einmal
gebrochen lässt sich die alte Unbefangenheit, sofern sie je existierte und sich
nicht Projektion verdankt, auch auf einer höheren Stufe nicht wieder restituieren.
Sowohl die einmal artikulierten Zweifel als auch die nicht stets positiven Erfahrungen mit Religion oder die Verzweiflung am Weltlauf können nicht einfach
wieder verschwinden. Solche zweite Naivität verdankte sich der Amnesie und
wirkt schon von daher wenig einladend. Wahrscheinlich ist eher, dass bestimmte
religiöse Gruppen versuchen, von der Regression inmitten des Fortschritts zu
37
Vgl. ebd.: 67-103.
19
profitieren und Religion gänzlich ins Reich des Vor- oder Irrationalen verweisen, darin in merkwürdiger Übereinstimmung mit bestimmten Formen der Religionskritik. Nur ist hier die irrationale Verfassung von Religion und Glaube, der
Verzicht auf jede rationale Vermittlung und die Beheimatung der Religion in
Gefühl und Ekstase, positiv besetzt. Freilich haben die neureligiösen Gurus
mehr gemein mit den Führergestalten, die Horkheimer und Adorno vor Augen
hatten, als mit Voltaire, Diderot, Mendelssohn oder Kant. Religion aber, wie sie
die biblischen Traditionen vorstellen, ist Erwachen aus dem Traumschlaf, emphatische Nüchternheit jenseits des Sakralen und Numinosen, „Das Numinose
oder das Heilige“ schreibt Emmanuel Levinas, „enthüllt und entrückt den Menschen über seine Kräfte und seinen Willen hinaus. Aber eine wahre Freiheit widersetzt sich diesen unkontrollierten Übersteigerungen. Das Numinose hebt die
Beziehungen zwischen den Menschen auf, indem es die Menschen, und sei es in
der Ekstase, an einem Drama teilhaben lässt das diese Menschen nicht gewollt
haben, an einer Ordnung, in der sie zugrunde gehen.“ Eben dies wird von den
biblischen Traditionen negiert: „Die rigorose Behauptung der menschlichen Unabhängigkeit, ihrer geistigen Gegenwart in einer intelligiblen Realität, die Zerstörung des numinosen Begriffs des Heiligen enthalten das Risiko des Atheismus, das eingegangen werden muß. Nur dadurch erhebt sich der Mensch zum
geistigen Begriff des Transzendenten.“38 Auch dies ist ein Abenteuer, das – wie
die säkulare Aufklärung – das Verlassen der Heimat, Um- und Irrwege ebenso
wie Irrtümer einschließt, Selbständigkeit, eigene Verantwortung und den Mut
zum Experiment erfordert. Das verbindet, zumindest in der Lesart eines Levinas,
den biblischen Monotheismus trotz aller Spannungen mit dem siècle des lumières und dem gesamten okzidentalen Rationalismus. Die Versuchung, aus der
Abdankung der Vernunft vor ihren eigenen Hervorbringungen religiösen Profit
zu schlagen, mag groß sein, sie setzt das Unheil, als dessen Alternative sie sich
anbietet, aber nur fort; sie ist also eher Symptom als Heilung der Krankheit. Der
antirationalistische Affekt zieht auch die religiösen Traditionen, die stets mehr
und anderes waren als bloße Objektivationen des Gefühls und Exerzitien der
Unterwerfung, in Mitleidenschaft. Die Bewahrung des Glaubens angesichts einer Welt, die seiner Hoffnung spottet, ist ohne Rekurs auf Vernunft, auch da wo
sie ihm widerspricht, ihn kritisiert und zur Korrektur zwingt, ein vergebliches
Unterfangen. Dass daraus Religion, Glaube und Theologie nicht unverwandelt
hervorgehen werden, sollte freilich nicht unterschlagen werden; es gibt keine
Rettung ohne Transformation des zu Rettenden.
38
Levinas 1992a: 25-27 / 2006: 30f.
20
In einem Augenblick, da manche Anhänger der überlieferten Religionen sich
von jeder rationalen Vermittlung verabschieden, den Zweifel sowohl bei sich
selbst als auch bei anderen unterdrücken und gegen jene, die ihn offen auszusprechen wagen, gewaltsam vorgehen, erhält die Beschäftigung mit der Religionskritik seit der Frühaufklärung eine neue Aktualität und ist von geradezu kathartischer Wirkung. Mit einigem Recht bezeichnet Herbert Schnädelbach die
Theologie „als die im Christentum selbst institutionalisierte Religionskritik“39.
Sie arbeitet das rationale, kritische Potenzial der biblischen Traditionen und umgekehrt die Selbsttranszendenz endlicher Vernunft heraus, anstatt den Rückzug
in die bloße, im Grunde irrationale Setzung des Glaubens anzutreten. Nichts
rechtfertigt es, sich in ein von allen Anfechtungen und kritischen Einwänden
freies Ghetto zurückzuziehen. Was aus der Ferne manchem als Insel der Seligen
erscheinen mag, erweist sich aus der Nähe als Brutstätte selbstverschuldeter
Unmündigkeit, ja als Hölle. Der Dialektik der Aufklärung entkommt man nicht
durch einen Sprung – sei es in den Glauben, sei es in eine vom Wunsch konstruierte Vergangenheit.
39
Schnädelbach 2009: 18. Damit geht Schnädelbach über Max Weber hinaus, der in seinem Vortarg Wissenschaft als Beruf (1917/19) konstatierte: „Alle Theologie ist intellektuelle Rationalisierung religiösen Heilsbesitzes.“ (Weber 1994 = MWS I/17: 21)
21
22
1. Der sozialhistorische Kontext:
Säkularisierung:
Max Weber 1917 auf der Lauensteiner Tagung, Source: Wikipedia
23
24
a) Nur eine Anomalie der Geschichte? Aufklärung und Kritik werden oft –
und nicht ohne Grund – mit einem Prozess in Zusammenhang gebracht, dessen
Grundlagen und weitere Entwicklung der Soziologe Max Weber (1864-1920)
eingehend und in immer neuen Anläufen erforschte: die Säkularisierung. Gemeint ist mit diesem Begriff erstens die funktionale Differenzierung gesellschaftlicher Teilbereiche und deren oft auch normativ verstandene Emanzipation
von religiösen Vorgaben sowie der Zerfall überkommener religiöser Milieus und
zweitens der wachsende Einfluss einer weltimmanenten Erklärung von Vorgängen in Natur und Geschichte (Entzauberung), die Wunder als transzendente Eingriffe ausschließt und gegenüber der Vorstellung, die Geschichte werde auch
nur indirekt nach einem göttlichen Heilsplan gelenkt, skeptisch bleibt. Bis in das
letzte Viertel des 20. Jahrhunderts hinein galt dieser Prozess als unumkehrbar,
wobei die Prognosen schwankten zwischen einem völligen Verschwinden der
Religion aus der Öffentlichkeit und einer auf bestimmte Funktionen beschränkte
Persistenz von Religion. Das säkulare Bewusstsein war ein Befund, mit dem
sich auch die Theologie auseinander setzen musste, und zwar nicht nur im Gestus der Abwehr. „Die Welt“, schrieb 1966 Johann Baptist Metz, „ist weltlich
geworden, und wenn nicht alles trügt, ist dieser Vorgang noch keineswegs an
einem überschaubaren Ende angelangt. Der Glaube ist von dieser universalen
Weltlichkeit gestellt und gefragt, wie er sich zu ihr verstehe.“40 Im Umfeld des
II. Vatikanischen Konzils verband sich die Säkularisierungsthese noch mit dem
Optimismus, dass das Eigenrecht der Welt in allen Bereichen mit der christlichen Schöpfungs- und Erlösungslehre vereinbar sei, ohne dass das Christentum
von einem säkularen Bewusstsein vollständig absorbiert werde, ja dass gerade
die christliche Eschatologische kritische Potentiale enthalte, welche die säkulare
Gesellschaft erstens an ihre eigenen uneingelösten Versprechen erinnert und
zweitens davor bewahrt, in bloße Banalität abzugleiten.
Das Bild hat sich inzwischen gewandelt: Nicht nur Theologen plädieren angesichts des wachsenden Interesses an religiöser Symbolisierung der Wirklichkeit,
wie sie in den letzten Jahrzehnten zu verzeichnen ist, dafür, sich von Max Webers berühmter These einer fortschreitenden Säkularisierung und Entzauberung
der modernen Gesellschaft zu verabschieden. Für die Vereinigten Staaten moch40
Metz 1968: 11. Dass Metz keineswegs eine kritiklose Angleichung an die säkulare Gesellschaft intedierte,
zeigt schon in diesem frühen Text das Bewusstsein einer „Zweideutigkeit der Verweltlichung“ (ebd.: 15; vgl.
ferner Kirche und Welt im eschatologischen Horizont, ebd.: 75-89).
25
te die Säkularisierungsthese im Sinne einer schwindenden Relevanz und Plausibilität religiöser Symbolisierung ohnehin nur eingeschränkt gelten, und in jüngerer Zeit scheint die Bedeutung der Religion eher zu wachsen: „Zu Beginn der
neunziger Jahre“, fasst Michael Hochgeschwender die Ergebnisse empirische
Untersuchungen zusammen, „behaupteten zwischen 90 und 95 Prozent aller
Amerikaner, sie seien religiös; ein erheblicher Anteil von ihnen besuchte wöchentlich oder mindestens einmal im Monat einen Gottesdienst, und rund 70
Prozent erklärten, sie seien keinesfalls bereit, einem atheistischen Präsidentschaftskandidaten ihre Stimme zu geben.“41 Neuere Untersuchungen (s. Anm.
41) weisen zwar auch auf eine starke Rolle der Religion in den USA hin, verweisen aber auf einen differenzierteren Befund. Charismatische geistliche Erneuerungsbewegungen gewinnen auch in der katholischen Kirche eine größere
Bedeutung. Einer Meldung von Kath.net zufolge haben sich in den Vereinigten
Staaten Gruppen ‚evangelikaler Katholiken‘ etabliert, die ihre Aufgabe vor allem darin sehen, „nicht praktizierende Katholiken zu evangelisieren“ und gemeinsam mit protestantischen Evangelikalen Menschen zu erreichen, die ohne
Jesus leben (http://www.kath.net/news/41635; letzter Zugriff: 02/17/2014). Weltweit
wächst der Anteil von Menschen, die sich einer Religion enger verbunden fühlen, erheblich. Allein Christentum und Islam repräsentieren zusammen derzeit
48,8 Prozent der Weltbevölkerung mit steigender Tendenz. Die Zahl der Anhänger charismatischer Bewegungen betrug im Jahr 1970 etwa 62,7 Millionen
Menschen, im Jahr 2020 werden es nach aktuellen Schätzungen 709,8 Millionen
sein (http://www.kath.net/news/41650 letzter Zugriff: 02/17/2014). Sicherlich wird man
solche Meldungen mit Vorsicht rezipieren müssen. Genauer zu untersuchen wäre die Rolle, welche religiöse Traditionen in den unterschiedlichen Regionen,
Kulturen, Gesellschaften und sozialen Schichten spielen. Welchen Einfluss haben heute Bildung und Wohlstand auf das religiöse Bewusstsein und die Formen, in welcher Religion gelebt wird? Zu klären wäre auch, in welchem Maße
die unterschiedlichen Gesellschaften einen Prozess der Säkularisierung durchlaufen haben und welche Auswirkungen er auf die jeweiligen sozialen Gruppen
hatte. Das alles konzediert, bleibt aber in Geltung, dass Religion sich einer weitaus größeren Akzeptanz erfreut als es eine bestimmte Lesart der Säkularisierungsthese prognostizierte. Die verbreitete Annahme eines geradezu notwendig
eintretenden Niedergangs der Religion in den ‚entzauberten‘ säkularen modernen Gesellschaften, ist sicher falsifiziert worden.
41
Hochgeschwender 2007: 11 / 255. Die jüngste umfassende Studie von Pollack und Rosta zeichnet allerdings
ein komplexeres Bild der Religion in den Vereinigten Staaten; vgl. Polack/Rosta 2015, 337ff. Zur Differenzierung mahnen die Autoren mit Blick auf Westeuropa auch für das gänge Modell des ‚Niedergangs von Religion‘; vgl. ebd.: 89ff.
26
Dass die Säkularisierung im Sinne eines Verschwindens religiösen Bewusstseins
im engeren oder weiteren Sinne nicht das letzte Wort behält42, gehört bereits
zum kulturkritischen Diskurs in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In seiner
Schrift Das Ende der Neuzeit sah Romano Guardini 1949 eine Wendung zur Religion als Antwort auf die Dialektik des neuzeitlichen Fortschrittsoptimismus
voraus und fasste Überlegungen zusammen, die bis in den Beginn der zwanziger
Jahre zurückreichen 43 . Motive einer konservativen Kulturkritik verschränkten
sich mit scharfsichtigen Beobachtungen zur Krise des neuzeitlichen Freiheitsund Fortschrittspathos. Die Wirkungen moderner Technik innerhalb einer alten
Kulturlandschaft hatte Guardini 1927 schon in seinen Briefen vom Comer See
beschrieben 44 . Seit der Frühen Neuzeit sieht Guardini das Verhältnis von
Mensch und Natur durch ein Herrschaftsverhältnis gekennzeichnet. Diese formalisierte, die Naturgesetze in ihren Dienst nehmende Herrschaft über Natur
steigert die Entfremdung von ihr: „kein Empfinden natürlichen Maßes bestimmt
das Verhalten, sondern rational erdachter, willkürlich gesetzter Zweck.“ 45 Ist
aber diese Fehlentwicklung nicht schon in aller Kultur grundgelegt? Bei näherer
Betrachtung erscheint Guardini alle Kultur „erkauft durch ein Opfer an lebendiger Wirklichkeit“, hier „werden die Dinge nicht mehr unmittelbar gespürt, gesehen, gegriffen, geformt, genossen, sondern durch Vermittlungen hindurch, durch
Zeichen, durch Stellvertretungen“ 46 . Kultur als menschliche Praxis ist selbst
notwendig Vermittlung und besitzt im Zuge fortschreitender Formalisierung
„diesen abstrakten Zug“. Aber erst durch das „moderne, begrifflich-mathematische Denken“ wurde nach Guardini diese Tendenz dominant und destruktiv47.
Konservative Kulturkritik unterstellt, dass jene Unmittelbarkeit zur ‚Welt‘, oder
zur Natur jemals existierte und der Ausgang von ihr – anders als für den Fortschrittsoptimismus des 19. Jahrhunderts – im Grunde eine Dekadenzgeschichte
darstellt, an der Aufklärung einen maßgeblichen Anteil hat. Indessen begegnete
Natur den Menschen nie bloß als schützend bewahrend; sie war eine Heimat, die
man verlassen musste, bevor man gewaltsam aus ihr vertrieben wurde. Die Welt
der Mythen und von Gottheiten bewohnten Natur war nicht weniger grausam als
die säkularisierte, und die Naturkräfte konkurrieren souverän mit den destruktiven Kräften moderner Kriegstechnologie. Was die Kritik an der Moderne mit
Recht motiviert, ist nicht der Ausgang aus angeblich heilen Verhältnissen, son42
43
44
45
46
47
Vgl. Lehmann 2007: 144-156.
Vgl. Guardini 1986: 47-94; zu diesem Text vgl. auch Ferrone 2015: 50f.
Vgl. Guardini 1927, 11-17.
Ebd.: 55.
Ebd.: 26.
Ebd.: 31. Diese Sicht setzt sich modifiziert noch bis in die späten Schriften Joseph Ratzingers hinein fort;
vgl. auch die kritischen Anmerkungen Vincenzo Ferrones in ders. 2015: 52-54.
27
dern das Unvermögen, sich von kruder Naturgewalt erfolgreich zu emanzipieren. Die von Göttern vollen Himmel hinderten die Menschen nicht daran,
Ackerbau und Viehzucht effizienter zu gestalten, sich in einer Welt einzurichten,
in der ihnen kein spezifischer Platz zugewiesen war, sondern in der sie sich ihr
Biotop selbst schafften mussten; zu jeder Zeit, an jedem Ort; ein moderner Begriff für eben dieses menschliche Biotop lautet Zivilisation. Wohl von Mirabeau
im 18. Jahrhundert in die Diskussion eingeführt, bezeichnet er im Kontext der
Aufklärung die „Milderung der Sitten, Erziehung der Geister, Entwicklung der
Höflichkeit, Pflege der Künste und Wissenschaften, Förderung des Handels und
der Industrie, Errungenschaften materieller Bequemlichkeit und Luxus“48. Untrennbar bleibt er von seinen materiellen Grundlagen, deren Optimierung weiter
in die Geschichte zurückreicht, aber nicht von Mirabeau, sondern eher von
Condorcet als Geschichte des (niemals ungefährdeten) Fortschritts konzipiert
wurde49. Die wissenschaftlichen und technischen Errungenschaften von Antike
und Mittelalter entsprangen nicht dem Vertrauen darauf, dass die Gottheit jedem
menschlichen Bedürfnis Abhilfe schaffen werde, sondern die Menschen selbst
entsprechende Anstrengungen unternehmen müssen.
Die seit der ersten Jahrtausendwende allmählich einsetzenden Fortschritte in der
Landwirtschaft, die wachsende ökonomische Vernetzung der Städte als politisch
selbstständige Handelszentren mit einem wachsenden Bedarf an Agrarprodukten
zur Deckung des eigenen Bedarfs und zum Handel mit ferneren Regionen, die
zunehmende Unabhängigkeit der Wissenschaft von religiösen und traditionellen
Vorgaben (ein Kampf, den schon im Hochmittelalter die Universitäten aufnahmen), die bessere Kenntnis der Naturgesetze und deren von Francis Bacon und
René Descartes programmatisch formulierte Indienstnahme ermöglichten technische Innovationen und später neue Formen groß angelegter Produktionstechniken in allen Bereichen. Nicht etwa der Abfall von Gott und seiner Offenbarung, sondern die fortschreitende Befreiung von der baren Lebensnot trieb zur
immer weiteren Entwicklung von Technik und Ökonomie, die schließlich in den
Rahmen vormoderner politischer und kultureller Systeme nicht mehr passten
und die Abhängigkeit von den Launen der Natur reduzierte. „Die Natur, die
Mutter“, schreibt Sarah Kofman, „kann fürchterlich sein.“ 50 Die verbesserte materielle Lage erzeugt bis heute neue Bedürfnisse, die von einem bestimmten
Punkt nicht mehr rein quantitativer Art sind, sondern die qualitative Verbesserung betreffen, und dazu gehört auch eine Reduzierung der notwendig aufzubringenden Arbeitszeit, um anderen Beschäftigungen nachgehen zu können. Der
48
49
50
Starobinski 1990: 12f.
Vgl. ebd.: 17f; 34-38.
Kofman 2014: 59.
28
Sieg neuzeitlicher Rationalität gründet in ihrem unbestreitbaren Erfolg, den auch
die Einsicht in die Dialektik der Aufklärung nicht ignoriert. Nicht der Beistand
der Könige und religiösen Würdenträger, ja noch nicht einmal der Beistand Gottes, der doch den Menschen auftrug, sich die Erde untertan zu machen (Gen
1,28), sondern die rationale, methodisch gesicherte menschliche Praxis befreite
von der akuten Not. Aber Technik bleibt unnütz, wenn ihr nicht jene gesellschaftlichen Verhältnisse entsprechen, welche von Anfang an ausnahmslos allen
Menschen den gerechten Zugang zu den Gütern ermöglichen. Die überkommenden Strukturen der Feudalzeit mit ihrer ständischen Ordnung, den ruinösen
Kriegen und großen sozialen Asymmetrien vermochten dies ebenso wenig zu
leisten wie auf Dauer die bürgerliche Gesellschaft, welche doch die ungeheuren
Potenziale moderner Technik, Kommunikation und Distribution der Güter überhaupt erst entfesselt hatte. Mit den Städten und der modernen Geldwirtschaft
tritt die Globalisierung in eine neue Phase. Den religiösen Traditionen und ihren
Verwaltern trauten gerade die neuzeitlichen Eliten immer weniger zu, einen Beitrag zur Lösung dieser Frage zu liefern, ja sie sahen in ihnen eher ein Hemmnis,
von dem die Menschen sich zu befreien hatten. Die religiöse Legitimation überkommener Herrschaftsverhältnisse, in welche die Menschen sich nach göttlichem Willen zu fügen hatten; ein Offenbarungsbegriff, der die Menschen nur als
Weisungsempfänger des göttlichen Souveräns dachte; die ungebremste religiöse
Phantasie, die sich in den Wundervorstellungen auslebte – dies alles war mit den
Fortschritten der Natur- und Kulturwissenschaften nicht mehr vereinbar. Wir
werden noch sehen, dass der Stand der Wissenschaft und das emanzipatorische
Interesse mit der Kritik der Religion sich eng verbinden. Dass uns kein Gott,
kein höheres Wesen rettet, wie die Internationale versichert, wurde zum Slogan,
zur Kampfparole einer Emanzipation, die von der radikalen Aufklärung bis zum
Marxismus an polemischer Schärfe gewinnt. Aber es gibt auch einen Subtext,
der vom emanzipatorischen Pathos überlagert und darum meist übersehen wird:
Der Mensch steht in einer ihm gleichgültigen Natur allein da; ohne Trost und
Hilfe, und er selbst ist es, der die Grundlagen seiner Existenz schaffen und verbessern muss, und nur in diesem Rahmen gibt so etwas wie ‚Sinn‘. Es ist das
ausgeprägte Gefühl der Verlassenheit, das diese Parolen mit ihrem Fortschrittsoptimismus eher überspielen, und das bis heute fortwirkt. Gott, sofern seine
Existenz überhaupt noch eine Rolle spielt, schweigt angesichts der fortbestehenden Nöte, und überlässt die ausgebeuteten Klassen einem Schicksal, das Theologen ihrer Zeit nur rechtfertigten und verklärten. In der Zuversicht, dass der
Zynismus der Herrschenden nicht das letzte Wort behält, lebt säkularisiert ein
29
Element religiöser Hoffnung fort, ohne doch den zahllosen Opfern, welche die
bessere Gesellschaft nicht sehen werden, Trost spenden zu können.
Aber auch die unbestreitbaren Fortschritte schufen, wie wir heute sehen, neue
Abhängigkeiten. Die Zwänge von Technik und Ökonomie lösen oft nur diejenigen der Natur ab, und was einst als groß angelegtes Programm der Emanzipation
gedacht war, scheitwert am entfesselten bellum omnium contra omnes der wirtschaftlich Agierenden. Neue Zwänge entstehen, welche den durch Technik ermöglichten Gewinn an Zeit, die qualitativ anders genutzt werden könnte, aufgrund sich verschärfender Konkurrenz in eine überwunden geglaubte Exploitation der Arbeitskraft münden lassen. Mit wachsendem Druck und zunehmenden
Tempo verliert das Leben die von der Reklame versprochenen Intensität und
Differenziertheit. Eben jene Entwicklung nahm Guardini in seinen Briefen vom
Comer See und im Ende der Neuzeit sehr genau wahr. Die Menschen reagieren
auf diesen Verlust oder besser: die nicht eingehaltenen Versprechen der Moderne und so bahnt sich nach Guardini ein Umdenken an, eine Sehnsucht „nach
dem Inneren, nach dem Stillwerden; danach, aus der Hetze herauszutreten in die
Sammlung“. Dieses Bedürfnis gilt einer Kontemplation, die der Praxis nicht
schlechthin entgegengesetzt, „sondern mitten darin“ verortet ist. Mag diese
Sehnsucht oder Suche noch oft diffus sein, von Skepsis begleitet, so gibt es
doch, wie Guardini versichert, „nicht wenige die unmittelbar vor Gott stehen“ 51.
Was heute unter ‚Wiederkehr der Religion‘ verstanden wird, deutet sich für Guardini bereits in den zwanziger Jahren an. Eine ‚religiöse Grundstimmung‘, die
nicht schon in einer der Religionen und Konfessionen beheimatet ist, ja diesen
gegenüber eher distanziert bleibt. Die unübersehbaren ‚Kollateralschäden‘ des
auf Technik und Ökonomie reduzierten Fortschritts zwingen dazu, das Verhältnis zur Natur, zur Gesellschaft, zu den religiösen Überlieferungen neu zu denken. Die vormodernen Lebensverhältnisse aber, die Guardini in den Briefen
rückblickend verklärte, waren vielfach durch Enge, Paternalismus und Hoffnungslosigkeit für die unteren Schichten gekennzeichnet. Demgegenüber verkennt er den hohen emanzipatorischen Wert neuzeitlicher Rationalität. Der
Übergang in Gesellschaftsformen, die nicht mehr durch scheinbar ‚natürliche‘
Hierarchien gekennzeichnet sind, bedeutet einen Fortschritt, und nur in der Konfrontation mit dem Freiheitsanspruch der Neuzeit selbst ist Kritik mehr als bloße
Nostalgie. Neuzeit war hingegen in Guardinis Urteil, bei allen bedeutenden Errungenschaften, vor allem „Auflehnung gegen Gott“52, illegitime Beerbung des
Christentums durch ein säkulares Selbstverständnis. Gleichwohl bleibt er zu51
52
Alle drei Zitate: Guardini 1927: 110.
Guardini 1986: 91.
30
rückhaltend, mit dem verbreiteten Unbehagen in der Moderne eine Renaissance
der überlieferten Religion zu verbinden. Wie die nur wenige Jahre zurückliegende nationalsozialistische Diktatur zeigte, konnte das ‚Ende der Neuzeit‘ auch
der Anfang einer neuen, gesteigerten Barbarei sein.
Guardinis prognostische Vorsicht erscheint heute manchen als überflüssig. Mit
leichtem Aufatmen ist die Wiederkehr der Religion von einer These für viele
Zeitdiagnostiker zur Gewissheit worden, wobei es keine große Rolle spielt, was
genau da wiederkehrt53. Die Säkularisierung sei „nur ein Zwischenspiel in der
europäischen Geschichte … und nicht von Dauer“54. Das Phänomen einer radikalen Säkularisierung, d.h. einer funktionalen Ausdifferenzierung eigener Bereiche der Gesellschaft und die (auch normativ gewendete) Emanzipation von religiösen und traditionellen Vorgaben im Zeichen der Freiheit reiche kaum über
Europa hinaus und könne nicht als Ziel weltgeschichtlicher Entwicklungen angesehen werden. José Casanova fasst diese ‚Ausnahmetheorie‘ zusammen:
„Je stärker man eine globale Perspektive einnimmt, desto klarer wird, dass die drastische
Säkularisierung der westeuropäischen Gesellschaften eher ein Ausnahmephänomen darstellt, das wenige Parallelen jenseits europäischer Einwanderungsgesellschaft wie in Neuseeland, Quebec oder Uruguay findet. Ein derartiges Ausnahmephänomen verlangt daher
nach einer spezielleren historischen Erklärung. Der Zusammenbruch der Plausibilitätsstrukturen des europäischen Christentums ist so außergewöhnlich, dass wir dafür eine bessere Erklärung als den bloßen Verweis auf allgemeine Modernisierungsprozesse benötigen.
Das Festhalten am hergebrachten Säkularisierungstheorem dagegen bestärkt moderne säkulare Europäer und die Kosmopoliten der Welt, Religionssoziologen unter ihnen, in der
Sichtweise, dass dieser Zusammenbruch natürlich, zielgerichtet und gleichsam schicksalhaft gewesen wäre.“55
Damit ist in knapper Form eine scharfe Kritik an dem angeblich eurozentrisch
verkürzten „hergebrachten Säkularisierungstheorem“ formuliert worden. Sie
vermag in dieser Zuspitzung allerdings nur dann zu überzeugen, wenn
(1) im europäischen Kontext die ‚christlichen Plausibilitätsstrukturen‘ gänzlich kollabierten und das Christentum nur noch eine marginale Größe darstellt;
(2) die Säkularisierungsthese stets mit der (problematischen) Voraussetzung verknüpft ist,
dass sich dieser Prozess mit unabwendbarer Notwendigkeit sowohl in Europa als auch in
allen anderen Teilen der Welt nach denselben Regeln vollzieht und
(3) vergleichbare Prozesse in Asien, Afrika und Lateinamerika nicht einmal in bescheidenen Anfängen beobachtet werden können, so dass Religion dort ungebrochen fortexistiert.
Aber keine dieser Bedingungen ist hinreichend erfüllt:
(1) Das Christentum existiert selbst in europäischen Gesellschaft mit einer stark betonten
Entflechtung von Staat und Religion (wie etwa in Frankreich) weiterhin, wenn auch ‚post53
54
55
Vgl. Nehring 2008: 19-21. Herbert Schnädelbach spricht denn auch davon, dass Religion heute vor allem als
Religiosität im Sinn einer besonderen Erlebnisqualität nachgefragt wird“(Schnädelbach 2011: 246).
Lehmann 2007: 156.
Casanova 2013: 166.
31
konstantinisch‘ nicht mehr als einzig maßgebliches Referenzsystem. Es erwies sich nicht
nur als liquidationsresistent‘ sondern auch als reformfähig, ja es vermochte gegen die Widersprüche und Kostenseite der Moderne durchaus kritische und subversive Elemente der
eigenen Tradition zu mobilisieren.
(2) Der Prozess der Säkularisierung bedeutet, wie wir noch sehen werden, keineswegs
notwendig das allmähliche Verschwinden der Religionen, ihrer Deutungen und Institutionen, sondern kann sehr wohl mit einer – wenn auch spannungsreichen – Koexistenz von
Religion und säkularer Gesellschaft einhergehen. Die nicht nur von orthodox-marxistischer
Seite vertretene These vom Absterben der Religion beruht auf einem problematischen Religionsbegriff, Wunschdenken und – nicht zuletzt – auf der vorschnellen Verallgemeinerung einer historischen Situation, in der die religiösen Deutungen gegenüber dem Stand
von Wissenschaft und Gesellschaft in die Defensive geraten waren, wie es für das 18., 19.
und – bereits eingeschränkt – frühe 20. Jahrhundert zutrifft.
(3) Teile der asiatischen, afrikanischen und lateinamerikanischen Gesellschaften durchliefen bis in die siebziger Jahre hinein – wenn auch keineswegs mit gleichem Tempo und Erfolg – einen Modernisierungsprozess, der manchen urbanen Räumen bis in den Alltag hinein sogar westliche Züge (mit ‚exotischem Dekor‘) verlieh. Damit verbanden sich auch
Ansätze einer Entflechtung von Religion, Staat und Kultur, wie sie den Prozess der Säkularisierung charakterisiert56, ohne dass überall die religiöse und kulturelle Überlieferung im
Niedergang begriffen oder – wie etwa im China der Kulturrevolution – unterdrückt worden
wäre. Marxistische wie liberal orientierte Befreiungsbewegungen bedienten sich im Zuge
der Entkolonialisierung nicht selten Deutungsmuster, die in hohem Maße der europäischen
Aufklärungstradition entstammten. Oft blieb freilich Freiheit aus; es entstanden neue Abhängigkeiten, darunter auch jene von einem Weltmarkt, der sich weitgehend von religiösen
und kulturellen Besonderheiten und Normen emanzipierte.
Es scheint eher, dass sich bis in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein
die Modernisierung und mit ihr eine Entflechtung der unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereiche zwar weltweit, aber keineswegs homogen vollzog. Der
fragwürdigen These, dass die Säkularisierung streng gesetzmäßig verläuft und
stets mit dem Niedergang der Religion verbunden ist, steht die nicht minder
problematische ‚Ausnahmehypothese‘ gegenüber, und selbst José Casanova hält
den Säkularisierungsbegriff – trotz seiner Vorbehalte – für brauchbar
„nicht nur als eine Möglichkeit, die Transformationen der modernen europäischen Gesellschaften analytisch nachzuvollziehen, sondern gleichermaßen als analytischen Rahmen für
die Agenda einer vergleichenden Forschung, die darauf abzielt, den geschichtlichen Wandel aller Weltreligionen und Kulturen unter den Bedingungen moderner struktureller Ausdifferenzierung zu untersuchen, so lange das Ergebnis dieses Wandels nicht von der Theorie vorweggenommen wird und so lange nicht jegliche Entsäkularisierung oder jegliche religiöse Veränderung, die nicht dem vorgegebenen Modell entspricht, als religiöser Fundamentalismus abgestempelt wird.“57
56
57
In diesen Kontext gehören auch die nationalen Befreiungsbewegungen seit 1945; vgl. Walzer 2015: 1-33.
Casanova 2013: 167f.
32
Wie auch immer man die religiösen Transformationsprozesse bewerten mag – in
der Tat laufen sie nicht alle einfach auf den Fundamentalismus zu – sie reichen
sie kaum aus, die Kategorie der Säkularisierungsthese zu verabschieden. So
möchte ich mit Niklas Luhmann dafür plädieren, „den Begriff der Säkularisierung nicht ersatzlos zu streichen. Gravierende Veränderungen, die seit 1800 offen zu tage treten, lassen sich schwerlich bestreiten“58 Säkularisierung und Persistenz der Religion müssen mit René Rémond zusammen gesehen werden:
„Die Geschichte der Säkularisation zeigt zu Recht ganz klar, wie die Religion aus den
Machtpositionen verdrängt wurde, die sie einst besetzt hatte, aber sie gibt keine Antwort
auf die Frage, warum und weshalb sie sich so hartnäckig in den Herzen der Gesellschaften
hält. Als moralische Instanz ist sie heute um so gefragter und findet vielleicht um so mehr
Gehör, als die meisten der Institutionen, die diese Aufgabe erfüllten, verschwunden sind
und das implizite Einvernehmen über gemeinsame Werte nicht mehr besteht, das früher
das früher von Generation zu Generation weitergereicht wurde. … Aber diese neuen Formen des Handelns finden natürlich vor einem ganz anderen Hintergrund als zu der Zeit
statt, in der Religion die Staatsorgane noch direkt beeinflußte: Sie wirken in Verbindung
mit einer Säkularisation, die mehr auf die Initiative von einzelnen und freien Institutionen
in der bürgerlichen Gesellschaft setzt“59
b) Ausdifferenzierung der Sphären Webers Säkularisierungs- oder besser:
Entzauberungsthese ist komplexer als heutige Kritiker und manche hartnäckigen
Anhänger es oft darstellen. ‚Entzauberung‘ bedeutet nicht, dass die Welt für alle
klarer und durchsichtiger wurde. Wie komplexe Technik funktioniert, können
nur noch Experten vollständig erschließen, dennoch machen wir im Alltag von
ihr Gebrauch. Die ökonomischen Verhältnisse üben auf die Menschen eine
Macht aus, wie sie in vormodernen Gesellschaften nur den transzendenten Gewalten zugeschrieben wurde, gleichwohl spricht man von einer rational eingerichteten Gesellschaft. Was unterscheidet also die entzauberte Kultur von der
Magie? Es ist, wie Weber versichert das Wissen oder der ‚Glaube‘, „daß man
vielmehr alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne. Das
aber bedeutet: die Entzauberung der Welt.“60 Der ungeheure Erfolg dieser Entzauberung zeigt seine Wirkung auch noch dort, wo religiöse wie magische Traditionen sich zäher erhielten oder gar eine Renaissance erleben und in einer ei58
59
60
Luhmann 2000: 281; vgl. auch Augustin 2014: 147-150.
Rémond 2000: 272f. Für einen differenzierten Begriff der Säkularisierung statt seiner Verabschiedung plädieren auch Detlev Pollack und Gergely Rosta: „Gegenüber dieser entschlossenen Geste der Verabschiedung
möchten die hier vorgelegten Analysen zwei Fragen offen halten: Wissen wir wirklich bereits, worin die dominanten Tendenzen des religiösen Wandels in modernen Gesellschaften bestehen? Und: Sind wir in der Lage, diese Tendenzen zu erklären? Die hier versammelten Analysen nehmen sich vor, eine deskriptive und eine explanatorische Frage aufzuwerfen: Sie wollen beschreiben, wie sich die soziale Signifikanz von Religion
in ihren unterschiedlichen Facetten in modernen Gesellschaften verändert hat. Darüber hinaus geht es ihnen
darum zu erklären, welche Faktoren und Bedingungen zu diesen Veränderungen beigetragen haben.“ (Pollack/Rosta 2015: 12)
Weber 1994 = MWS I/17: 9.
33
gentümlichen Parallelität zur immanenten Erklärung und technischen Beherrschung der Natur existieren.
Der Entzauberung oder Säkularisierung entkommt man darum auch nicht
dadurch, dass man sie leugnet oder das eigene Zeitalter umdefiniert und ‚postsäkular‘ nennt. Nicht Bewusstseinsformen, sondern die Analyse funktionaler Differenzierungen war es, die Weber zur Formulierung seiner These führte. Eher
sollte man mit George Augustin von der Notwendigkeit einer Modifikation oder
Differenzierung der Säkularisierungsthese sprechen61, denn immerhin gab und
gibt es eine Reihe von Faktoren, auf die Webers These sich stützte und die in
den okzidentalen Gesellschaften (und nicht nur dort) bis heute wirksam sind:
Politik, Ökonomie und Kultur emanzipieren sich in den westeuropäischen Ländern von religiösen und theologischen Vorgaben; die Wissenschaften bieten eine
sehr erfolgreiche immanente Erklärung der Vorgänge in der Natur, die auf göttliche Interventionen verzichten kann; die personale Herrschaft in den vorneuzeitlichen Gesellschaften wird abgelöst von einer funktionalen, anonymisierten
Form der Herrschaft, die zu ihrer Legitimation einer transzendenten Instanz
nicht bedarf; der moderne Kapitalismus schließlich erobert mit seinem apersonalen Regelsystem alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens jenseits der Religion mit ihren Geltungsansprüchen und lebensweltlichen Plausibilitäten. „Mit der
Profanisierung der bürgerlichen Kultur“, so Jürgen Habermas, „treten die kulturellen Wertsphären scharf auseinander und entwickeln sich nach Maßgabe eines
geltungsspezifischen Eigensinns.“62 Allerdings trifft der simple Gegensatz von
Religion einerseits und Entzauberung der Wirklichkeit in der Moderne anderer61
62
Vgl. Augustin 2014: 148.
Habermas 1987b: 292.
34
seits auf Webers religionssoziologische und religionshistorische Arbeiten nicht
zu. „Weber“, konstatiert zutreffend Jürgen Habermas, „mißt die Rationalisierung von Weltbildern am Grad der Überwindung magischen Denkens.“63
Dieser Prozess beginnt aber nicht erst in der Moderne, sondern kennzeichnet die
religionsgeschichtliche Entwicklung. Er schlägt sich nieder nicht zuletzt in den
biblischen Schriften, in der „rationalen Systematisierung der Ethik“, die in der
prophetischen Verkündigung und der Ausgestaltung der Thora eine zentrale
Rolle einnimmt, und in dem exoterischen Charakter der heiligen Texte64. Vor
allem der hohe ethische Anspruch der Propheten, der nicht durch den Hinweis
auf den Kult und die Einwohnung Gottes im Tempel abgefertigt werden kann,
sowie die zunehmende Distanz zu aller Magie und Zauberei kennzeichnete die
biblische Religion als ‚rational‘. Webers Beurteilung der biblischen Religion als
Teil des Säkularisierungs- und Aufklärungsprozesses steht in einem größeren
Kontext religionsgeschichtlicher und –philosophischer Forschung seiner Zeit,
man denke etwa an die liberale protestantische Theologie oder an die Religionsphilosophie Hermann Cohens. Aber erst im okzidentalen Kontext bildet sich, so
Weber, eine soziale Schicht heraus, die zum Träger der Rationalisierung in
Wirtschaft, Politik, Recht und Kultur wird. Mit der „Entstehung des abendländischen Bürgertums und seiner Eigenart“65 nimmt die Emanzipation aller gesellschaftlichen Bereiche aus der religiösen Vormundschaft historisch wahrnehmbare Konturen an. Man kann Webers umfangreiche religionssoziologische Schriften als Antwortversuche auf eine zentrale Frage lesen: Weshalb lenkten nicht in
anderen Regionen der Welt „weder die wissenschaftliche noch die künstlerische
noch die staatliche noch die wirtschaftliche Entwicklung in diejenigen Bahnen
der Rationalisierung ein, welche dem Okzident eigen sind?“66 Die Soziologie
befasst sich weder mit dem isolierten Wandel von religiösen oder philosophischen Weltdeutungen, noch allein mit den Innovationen im Bereich von Technik
und Ökonomie. Alle diese Wandlungen müssen bezogen werden auf Gruppen,
die zu ihrem sozialen Träger werden, denn ohne sie bleiben die noch so großartigen Erfindungen und Ideen folgenlos. Für die islamisch wie christlich geprägten mediterranen Gesellschaften zwischen dem 10. und dem 12. Jahrhundert
lässt sich nach dem Befund Shlomo Dov Goiteins durchaus eine urbane Schicht
63
64
65
66
Habermas 1987a: 293.
Ebd.: 414-417. „Der großartige Rationalismus der ethisch-methodischen Lebensführung,“ schreibt Max Weber, „der aus jeder religiösen Propehtie quillt, hatte diese Vielgötterei entthront zugunsten des ‚Einen, das not
tut‘ und hatte dann, angesichts der Realitäten des äußeren und inneren Lebens, sich zu jenen Kompromissen
und Relativierung genötigt sehen, sie wir alle aus der Geschichte des Christentums kennen. Heute ist es religiöser ‚Alltag‘“ (Weber 1994 = MWS I/17: 17)
Weber 1920: 10.
Ebd.: 11.
35
von Kaufleuten und Gelehrten ausmachen, die zum Träger städtischer Emanzipation hätten werden können. „At that time, a vigorous merchant class was active on both sides of the Mediterranean and created an atmosphere of unity despite the constant wars and political upheavals, and, owing to the relatively great
freedom of economy from state interference, people were less involved, when
their rulers were at loggerheads with each other.”67 Im islamischen Bereich gewann eine gelehrte urbane Schicht, die allerdings mit der höfischen Kultur eng
verbunden war, schon im 9. und 10. Jahrhundert an Bedeutung68. Trotzdem etablierte sich nur in Europa ein selbstbewusstes Bürgertum, das schließlich seine
Unabhängigkeit von den feudalen Herrschaftsverhältnissen erstritt; ein Befund,
dessen Klärung weiterer Forschungsarbeit bedarf und nicht vorschnell auf die
religiösen Traditionen oder eine essentialisierte ‚orientalische Kultur‘ zurückgeführt werden darf.
Nach Max Weber gebrach es auch China und Indien nicht an Innovationen; sie
waren in mancher Hinsicht sogar dem Okzident voraus, wohl aber fehlte das
‚gesellschaftliche Subjekt‘, das diese Erfindungen einer umfassenden Transformation der Gesellschaft zuführte. Im städtischen Bürgertum, das sich zunehmend von den feudalen Fesseln befreit, erblickte Weber das Subjekt der okzidentalen Rationalisierung und „Säkularisierung“ die alle gesellschaftlichen Bereiche umfasst. „Säkularisierung“ – Weber gebraucht den Begriff sparsamer als
seine heutigen Rezipienten – meint nicht notwendig das Verschwinden der Religion. Sie verliert jedoch ihre Verbindlichkeit für alle Gruppen der Gesellschaft
und bildet in der Moderne nur noch ein Teilsystem neben anderen; man spricht
von der ‚Apartheit des Religiösen‘69. Es ist an dieser Stelle jedoch wichtig, für
einen Augenblick vom spezifisch theologischen Interesse zu abstrahieren: Säkularsierung im Sinne einer Emanzipation, die Kunst, Literatur, Philosophie und
Naturwissenschaft von religiösen Vorgaben anstrebten und durchsetzen, ist Teil
eines weitaus umfangreicheren Prozesses, in dem einst stärker integrierte Bereiche der Gesellschaft zu relativem Selbststand gelangen. Kunst und Wissenschaft
emanzipieren sich nicht nur von religiösen Vorgaben, sondern auch von politischen; heute steht deren stärkere Distanz zu ökonomischen Interessen auf der
Tagesordnung. Der Investiturstreit im Hochmittelalter stand im Zeichen einer
Emanzipation der Kirche von kaiserlichen Herrschaftsansprüchen und (mit geringerem Erfolg) von feudaler Bevormundung, kurz: Auch Religion wird zu einem Teilsystem der Gesellschaft, und wichtige Teile der Kirche, darunter das
Papsttum, waren darauf bedacht, gegenüber dem Kaiser und seinen Parteigän67
68
69
Goitein 1999: 70.
Vgl. Krämer 2005: 89-98.
Vgl. Nehring 2008: 15f.
36
gern unter Fürsten und Bischöfen die Selbstständigkeit erheblich zu erweitern.
Das schloss auch Bündnisse mit den aufstrebenden oberitalienischen Städten,
mit deren Bürgern und Patriziern, nicht aus. Gerade dort war man bestrebt, die
feudalen Fesseln zu lockern oder sich ganz von ihnen zu befreien. Die Oberherrschaft des Kaisers anzuerkennen, hätte bedeutet, auf städtische Selbstständigkeit
zu verzichten – hier war der Papst als Konkurrent des Kaisers nicht nur geographisch näher.
Die Städte waren Zentren der entstehenden Finanzwirtschaft, des Handels, eines
selbstbewussten Handwerks, der Kultur und der Bildung geworden. „Die bürgerliche Profitorganisation“, schreibt Kurt Flasch, „beruhte auf durchgängiger
Rationalisierung und prinzipiell umfassender Quantifizierung. … Die Erde bot
sich dem Wagemut der Fernkaufleute als universales Betätigungsfeld.“70 Freilich konnte nicht immer zwischen Fernkaufleuten und Abenteurern genau unterschieden werden. Aber letztere arbeiteten nicht selten für die Kaufleute und erschlossen neue Rohstoffquellen und Märkte. Das Bürgertum als sozialer Träger
dieses für Europa grundlegenden Transformationsprozesses strebte nach Selbstständigkeit und Selbstverwaltung, und in vielen Kommunen – auch außerhalb
Italiens – wurde dieses Ziel auch mehr oder weniger dauerhaft erreicht. Es waren gerade die italienischen Städte, in denen sich in der Institution des Podestà
eine frühe Form des Berufsbeamtentums herausbildete: „Die erste Hälfte des 13.
Jahrhunderts war ihre Blütezeit. Der Podesta war weit überwiegend ein aus einer
fremden Gemeinde berufener, kurzfristig mit der höchsten Gerichtsgewalt bekleideter, vornehmlich fest und infolgedessen im Vergleich mit den Consules
hoch besoldeter Wahlbeamter, ein Adeliger, aber mit Vorliebe ein solcher mit
juristischer Universitätsbildung.“71 Diese Anforderung fügte dem Adel eine Eigenschaft hinzu, die diesem als einstige Kriegerkaste eher fremd war; eine
Kompetenz, die man erst erwerben musste und nicht schon durch die Familie
vererbt wurde. Als ‚akademisch gebildeter‘ Beamter stand der Podestà trotz seiner vornehmen Geburt dem Bürgertum näher als dem Adel, denn entscheidend
war nicht die Geburt, sondern die Funktion, die bestimmte Qualifikationen erforderte. Wir haben es also bereits mit einer fortschreitenden Rationalisierung
von Herrschaft zu tun. Der durch Adel bzw. Patriziat immer noch privilegierte
Zugang zum Amt und die beschränkte Mitwirkungsmöglichkeit der unteren
städtischen Schichten sorgte für erhebliche Spannungen, die der angestrebten
70
71
Flasch 1986: 376; zum mediterranen Raum und zur Rolle der Kreuzzüge vgl. Abulafia 2011: 271-303.
Weber 2000 = MWS I/22-5: 41. Diese Einrichtung war, wie Weber betont, weitgehend auf den mediterranen
Raum beschränkt; es gab jedoch auch nördlich der Alpen Ausnahmen wie Regensburg (vgl. ebd.: 42). Das
Institut des Podestà steht, folgt man der Weberschen Herrschaftstypologie, am Übergang von der traditionellen patriarchalischen Herrschaft zur legalen, bürokratischen, wie sie aber erst vollständig in den modernen
Gesellschaften vorliegt; vgl. Weber 2009 = MWS I/22-4: 217-225.
37
Einheit der Kommune zuwiderliefen. In den italienischen Städten, aber auch
jenseits der Alpen, kam es, wie Weber zeigte, parallel zur Entwicklung des Podestats zur Entstehung des Populo bzw. der Zünfte. „Im ökonomischen Sinn
setzte sich der Populo ebenso wie die deutschen Zünfte aus sehr verschiedenen
Elementen zusammen, vor allem aus Unternehmern einerseits und Handwerkern
andererseits. Führend im Kampf gegen die ritterlichen Geschlechter waren zunächst durchaus die ersteren. Sie waren es, welche die Eidverbrüderung der
Zünfte gegen die Geschlechter schufen und finanzierten, während allerdings die
gewerblichen Zünfte die nötigen Massen für den Kampf stellten.“72 Wir haben
also zwei unterschiedliche Ebene des Konfliktes in der späten Feudalgesellschaft zu unterscheiden: der Kampf der Städte um ihre Unabhängigkeit von den
Feudalherren und die innerstädtischen Konflikte zwischen Patriziat einerseits
und freien Unternehmern sowie Handwerkern andererseits. Beide Schauplätze
des Konflikts führten langfristig zur Beseitigung der Feudalgesellschaft.
„Das städtische Gemeinwesen des Mittelalters war eine wimmelnde, auf engem Raum zusammengedrängte Gesellschaft, ein Ort der Produktion und des Warenaustauschs. Handwerk und Handel begegneten sich hier im Rahmen einer Geldwirtschaft. Außerdem wirkte
die Stadt als Schmelztigel eines neuen Wertesystems, hervorgegangen aus emsiger, schöpferischer Arbeit sowie einer Vorliebe für Handel und Geld. Damit zeichnete sich dort ein
Gleichheitsideal ab, während zur selben Zeit eine Auffächerung in soziale Gruppen stattfand, die der als erstes die Juden zum Opfer fielen. Nicht zuletzt fand man in der Stadt alle
Vergnügungen auf engstem Raum vereint: Man feierte Feste und konnte sich auf der Straße oder in Tavernen, Schulen, Kirchen und sogar auf Friedhöfen mit anderen Leuten unterhalten. Von geballter Kreativität zeugten die jungen Universitäten, die zwar nie völlig
unabhängig wurden, aber doch rasch Macht und Prestige erlangten.“73
In den mittelalterlichen Städten entsteht durch die große räumliche Nähe, aber
auch durch berufliche wie private Kommunikation etwas, das in der bürgerlichen Gesellschaft eine große Rolle spielen sollte: eine Öffentlichkeit, die sich
nicht nur auf den kleinen Kreis des Fürstenhofs beschränkte und der ab dem 18.
Jahrhundert die Aufklärung eine entscheidende Rolle als mündige Kommunikationsgemeinschaft und Kontrollinstanz zuwies. Was Le Goff hier schildert, ist,
auf wenige Sätze komprimiert, eine komplexe, in sich differenzierte Geschichte
und ‚Phänomenologie‘ der Stadt. Er unterschlägt auch nicht eine durchaus problematische Seite dieser Entwicklung: Aufsteigende Unternehmer und Zunfthandwerker verdrängten die jüdische Bevölkerung als mögliche Konkurrenten,
indem, alte Vorurteile aufgreifend, für sie ein rechtlicher Sonderstatus erwirkt
wurde, der sie von fast allen Gewerben – bis auf das Kreditwesen – ausschloss.
72
73
Ebd.: 57.
Le Goff 1998: 23. Zur Bedeutung der Universitäten vgl. ebd.: 58-64; zur – wenn auch nicht uneingeschränkten administrativen und intellektuellen Selbstständigkeit siehe ebd.: 62f.
38
Die Entwicklung in Italien verlief weniger dramatisch als im Norden, harmonisch aber wird man sie auch hier kaum nennen können.
Die aufblühenden Universitäten bedienten nicht nur die wachsenden Anforderungen an Klerus und Beamte, sondern trugen auch dem Umstand Rechnung,
dass die adelige Herkunft mehr und mehr in Konkurrenz zu Eigenschaften wie
Bildung, ökonomische Kompetenz, unternehmerischen Erfolg und handwerkliches Können trat: Geburt gegen ‚soft skills‘. Dass in der Bedeutung von Kompetenzen, die prinzipiell jeder und – leider erst sehr viel später – auch jede erwerben konnte, ein starkes egalitäres Element lag, hatte oben Jacques Le Goff schon
erwähnt. Auch wenn die ‚Bildung für alle‘ noch ein fernes und aufgrund gravierender sozialer Unterschiede (welche jene Wirtschaftsform generiert, die im
Mittelalter ihren Anfang nahm) auch heute ein noch nicht erreichtes Ziel ist, so
ist die Verschiebung von Werten und Qualifikationen doch unverkennbar: Handel und Geldwirtschaft verlangten intellektuell besser ausgebildete und versiertere Arbeitskräfte als die Agrarwirtschaft. Alphabetisierung, mathematische
Grundkenntnisse, unternehmerisches Kalkül, Sorgfalt der Buchführung – dies
alles waren Kompetenzen, die zwar nicht neu entdeckt werden mussten, aber sie
erhielten einen veränderten Wert in der sich entwickelnden Tauschwirtschaft,
wurden optimiert und auf breitere Schichten der Gesellschaften ausgedehnt.
Quantitativ wie qualitativ wachsende Bedürfnisse erforderten zudem neue Techniken der Produktion und einen optimierten Warenverkehr. Die fortschreitende
Entfaltung von Recht, Wissenschaft und Kunst entsprach einer sich differenzierenden Gesellschaft, in der schließlich die unterschiedlichen Bereiche einen Eigensinn entfalteten, der sich von der institutionalisierten Religion emanzipierte,
ohne diese prinzipiell in Frage zu stellen. Eben dies änderte sich in der Frühen
Neuzeit. Die Naturwissenschaften wurden als Voraussetzung für die effiziente
Indienstnahme der Naturkräfte durch den Menschen begriffen. Ihre Resultate
gerieten aber mehr und mehr in Spannung zu einem wörtlichen Verständnis der
Schrift und dem Anspruch überlieferter Autoritäten. Bildung war früh schon ein
Weg zur Emanzipation und Prüfung aller von außen an das Individuum oder die
Gruppe herangetragenen Geltungsansprüchen. Die Universitäten waren bestrebt,
sich selbst zu verwalten und der Forschung die größtmögliche Freiheit zu verschaffen ohne auf thelogische oder lehramtliche Vorgaben Rücksicht nehmen zu
müssen, was, wie schon in der Einleitung erwähnt, zu Konflikten mit der kirchlichen Autorität führen konnte74.
74
Vgl. etwa die 1277 verurteilten Thesen in Flasch 1989: 154 (These 55), 217 (These 152) und 230 (These
176); siehe hierzu auch die Einleitung Kurt Flaschs zu den Thesen, ebd.: 7-10.
39
Die Naturwissenschaften stellen zu Beginn der Neuzeit ein eigenes, immens
wachsendes Forschungsfeld dar und begnügen sich keineswegs mit dem Status
der Naturphilosophie: Kopernikus, Galilei, Gassendi und Newton revolutionieren das Weltbild und nötigen zu einem neuen Verständnis der Tradition. Francis
Bacon verabschiedet sich von einem kontemplativen Begriff der Wissenschaft
und zielt auf die praktische Verwertbarkeit vor allem der Naturwissenschaften.
Die emanzipatorische Praxis des Bürgertums, das beansprucht, für ‘das Volk’
zu sprechen, spielen für die Aufklärung und ihren spezifischen Verlauf in den
europäischen Regionen die entscheidende Rolle; aber auch manche Teile des
Adels und des Klerus schließen sich einer zumindest moderat formulierten Aufklärung an. Der Konflikt nicht nur mit den religiösen Autoritäten war, wie man
rückblickend feststellen muss unvermeidlich und keineswegs das Ergebnis
menschlicher Überheblichkeit. Säkulariseirung als Ausdifferenzierung der Bereiche – Naturwissenschaft, Philosophie, Ökonomie, Politik, Kunst und Religion
– folgte allerdings nicht einfach nur einer systemischen Logik, sondern verband
sich mit einem normativen Anspruch und emanzipatorischen Versprechen, d.h.
mit Ethos und Pathos. Die gesellschaftlichen Erscheinungen sollten nicht mehr
blind über die Menschen hinweggehen, sondern von ihnen durchschaut und gesteuert werden. Die Erkenntnis der Wahrheit und die Realisierung der Freiheit
waren eng verbundene Elemente dieses Prozesses, der vor der Religion nicht
Halt machte. Deren Kritik vollzog sich im Interesse einer Realisierung durchschaubarer, demokratisch beeinflussbarer und menschengerechter Verhältnisse.
Erst auf dieser Basis nimmt die Religionskritik über alle bisherigen Formen hinaus prinzipiellen Charakter an und begnügt sich nicht mit der Forderung nach
innerkirchlichen Reformen. Zugleich werden Natur, Geschichte, Politik und
Ökonomie als Bereiche begriffen, die eigenen Regeln gehorchen. Die Ökonomie
beansprucht mehr und mehr Aufmerksamkeit angesichts der differenzierteren
Geldwirtschaft und der desolaten Verfassung der Staatsfinanzen im absolutistischen Frankreich. Das Wohlergehen von Individuen und Gesellschaften hängt
ebenso wenig vom unmittelbaren Willen und Eingriff Gottes ab wie die Vorgänge in der Natur. Entscheidend ist darum nicht nur die Erforschung der Naturgesetze, sondern auch der Regeln, denen ökonomisches Handeln unterliegt.
Die theoretischen Grundlagen einer modernen Ökonomie formulierten Adam
Smith, Ferdinando Galiani und David Ricardo weitgehend frei von theologischen Vorgaben, und man mag mit Marxscher Ironie höchstens Adam Smiths
‚unsichtbare Hand‘ als Säkularisat der göttlichen Providenz deuten.
Allerdings – und hier kehren wir zu Max Weber zurück – wurden bei der Ausbildung des modernen Kapitalismus Religion und eine religiös fundierte Ethik
40
nicht völlig zurückgedrängt; im Gegenteil, sie spielten nach Weber vielmehr eine nicht zu unterschätzenden katalytische Rolle. Webers berühmter Essay Die
protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus 75 wäre jedoch gründlich
missverstanden, wollte man ihm unterstellen, der Kapitalismus sei geradezu aus
der protestantischen Ethik abzuleiten. Die Anfänge der kapitalistischen Wirtschaft reichen weit hinter die Reformation zurück, die Rationalisierung von
Ökonomie und Produktion setzte früher ein; eher wäre von einer Entsprechung
zu reden. Der asketische Grundzug vor allem der calvinistischen Ethik kam dem
– freudianisch gesprochen – notwendigen Triebverzicht oder –aufschub, den die
kapitalistische Ökonomie verlangt, durchaus entgegen. Die Verknüpfung von
diesseitigem Erfolg und Erwählung ist dabei eine besondere Form, keineswegs
aber die notwendig Grundlage einer Verbindung von Protestantismus und kapitalistischer Wirtschaft76. War die Verbindung von Kapitalismus und protestantischer Ethik ein förderliches Entsprechungs- und kein Bedingungsverhältnis im
strengen Sinne, so kann sich die kapitalistische Wirtschaft von ihr an einem bestimmten Punkt wieder lösen und ethische bzw. moralische Normen als bewusste Handlungsmotive durch Anpassung und Auslese ersetzen: „Der heutige, zur
Herrschaft im Wirtschaftsleben gelangte Kapitalismus also erzieht und schafft
sich im Wege der ökonomischen Auslese die Wirtschaftssubjekte – Unternehmer
und Arbeiter – deren er bedarf.“77 Freilich, so fügt Weber hinzu, mussten hierzu
Menschengruppen und spezifische Haltungen vorhanden sein, die anfänglich
einer solchen Auslese zur Verfügung standen. Eine vulgärmaterialistische Ableitung der Ethik aus den ökonomischen Verhältnissen lehnte Weber ebenso ab wie
eine rein geistesgeschichtliche Betrachtung der neuzeitlichen Umbrüche. Es
musste gesellschaftliche Gruppen geben, die erstens einflussreich genug waren
und zweitens den Willen hatten, die moderne Geld- und Warenwirtschaft gegen
Widerstände durchzusetzen. Erst in einer weiteren Entwicklung erhielt diese
Wirtschaftsform eine Eigendynamik, die sich ihrer ursprünglichen Subjekte entledigen konnte. Wie wir sahen, „erzieht und schafft sich“ nach Weber qua Auslese der Kapitalismus seine Wirtschaftssubjekte. Damit erhält ein Wirtschaftssystem Züge des Subjekts als eines selbstständigen Aktzentrums – freilich ohne
personales Bewusstsein, es erzeugt sich selbst und wird, in der Sprache Niklas
Luhmanns, selbstreferentiell.
„Das Konzept des selbstreferentiell-geschlossenen Systems“, so Luhmann, „steht nicht in
Widerspruch zur Umweltoffenheit der Systeme; Geschlossenheit und der selbstreferentiellen Operationsweise ist vielmehr eine Form der Erweiterung möglichen Umweltkontaktes;
75
76
77
Vgl. Weber 1920: 17-206.
Vgl. ebd.: 84-206.
Ebd.: 37; vgl. auch Habermas 1987b: 468f.
41
sie steigert dadurch, daß sie bestimmungsfähigere Elemente konstituiert, die Komplexität
der für das System möglichen Umwelt.“ 78
So fragt es sich, ob angesichts dieses Befundes überhaupt noch von Wirtschaftssubjekten sinnvoll gesprochen werden kann. Die Entzauberung erstreckt sich
nicht nur auf die Religion, sondern bezieht auch das Individuum, das einmal im
Zentrum der bürgerlichen Emanzipation stand, mit ein: Es wird zu seinem eigenen Mythos. Noch aber stehen wir am Anfang, in der frühen Phase dieser Entwicklung: Der Erwerb von Besitz ist das Ergebnis individueller Tugenden, einer
klugen Einsicht in die wirtschaftlichen Abläufe, von Bescheidenheit und Redlichkeit; alles Eigenschaften, die dem ausschweifenden Adel abgehen, der darum der Kritik verfällt – ungeachtet des Umstands, dass jene Untugenden den
Absatz im 18. Jahrhundert in hohem Maße sichern, denn die verarmten Bauern
dürften schwerlich in der Lage gewesen sein, Geld für Luxusartikel aufzuwenden. Gewiss ist bei allen Unternehmungen auch Gottes Segen wichtig, er rechtfertigt das eigene Vorgehen und stellt die Familie unter seinen Schutz; aber der
Erfolg verdankt sich einer Mischung aus Klugheit, Kalkül und Wagemut. Das
‚Glück‘ ist hierbei oft schon eine säkulare Komponente, nicht aber Gottes Zutat.
c) Zerfall religiöser ‚Zivilisationen‘ – Aber wer einmal begriffen hat, dass
Erfolg durch menschliche Handlungen plus Glück errungen wird; wer erste Einsichten in die Kräfte und Gesetze der Natur gewann, in Kräfte, die auch der
menschlichen Produktivität untertan gemacht werden können, wird andere Ansprüche an die religiöse Unterweisung stellen. Sie beginnt bekanntlich in der
Familie, setzt sich fort in den Gemeinden, und dies nicht nur bei den Kindern,
sondern auch bei den Erwachsenen, jeden Sonntag im Gottesdienst und zu anderen Anlässen. Wer ein gewisses Selbstbewusstsein gewann aufgrund einer besseren sozialen Stellung, wer eine gründlichere Bildung genoss als vielleicht
mancher Landpfarrer, stellt Fragen und hört nicht mehr nur andächtig zu. Die
Menschen, wie Bernhard Groethuysen es ausdrückt, „unterbrechen gewissermaßen die Prediger nach jedem Satz und stellen endlose Fragen“79. Die Gläubigen
werden gegenüber ihren Seelsorgern zu zweifelnden Gläubigern. Die „Einfalt
des einfachen Gläubigen“80 – wenn es sie je so gab, wie die Seelsorger sie sich
vorstellten – ist dahin. Es werden Fragen gestellt, man verlangt Rechenschaft
von Predigern, die nicht immer diesen höheren Anforderungen gewachsen sind.
„Zum Verständnis der großen religiösen Krise des XVIII. Jahrhunderts und ihres Zusammenhangs mit der Ausbildung eines selbständigen bürgerlichen Bewußtseins“, so nochmals Groethuysen, „ist es vor allem notwendig, dieses Phänomen in seinem ganzen Um78
79
80
Luhmann 1994: 63.
Groethuysen 1927a: 11.
Ebd.: 5.
42
fang und einer sozialen Bedeutung zu erfassen. Die Krisis ist vor allem durch eine neue
Einstellung gegenüber dem Glaubenserlebnis bedingt und zunächst nicht durch bestimmte
klar formulierbare Überzeugungen. Diejenigen, die wir die Fragenden, Suchenden genannt
haben, können dabei von den verschiedensten Gesichtspunkten und Motiven ausgehen. Es
gehören dazu ebensogut solche, die man ‚libertins‘ oder auch ‚esprits forts‘ nennt – Freigeister oder solche, die es gern sein möchten –, die von vornherein in ihren Fragen von einen feindseligen Geiste der kirchlichen Autorität gegenüber beseelt sind, wie auch aufrichtig Gläubige, die ihr Gewissen beruhigen möchten, und endlich die große Anzahl derer, die
nicht recht wissen, was sie glauben sollen und oft zwischen einem Glauben in seiner existenten Form und vollständigem Unglauben zu schwanken scheinen.“81
Bestehen die Seelsorger diese Prüfung? Offenbar nicht oft genug, denn sie werden zum Gegenstand von Spott und Satire das ganze 18. Jahrhundert hindurch.
Die Zweifel, Fragen und Enttäuschungen aber bleiben, und so wundert es kaum,
wenn manche Schriften einer popularisierten Religionskritik, wie sie auf Flugblättern und in Broschüren verbreitet wird, das Einverständnis eher voraussetzen
als durch Argumente zu gewinnen suchen. Die Bürger, die sich ihrer eigenen
Leistung und Würde durchaus bewusst waren, verstanden sich nicht mehr als
Untertanen der kirchlichen Amtsinhaber, als wäre die Kirche eine ähnliche Einrichtung wie die Parlamente und Gerichtshöfe des ancien régime 82. Die Vorstellungen, die viele Seelsorger noch von der Rolle und den Ansprüchen ihre Schäfchen hegten, differierten stark vom tatsächlichen Bewusstsein, das ein wachsender Teil der Bevölkerung von den eigenen Pflichten, den Glaubensinhalten und
dem schuldigen Gehorsam gegenüber der kirchlichen Obrigkeit tatsächlich hatte. Es ist eben nicht mehr „eine ganze Welt, in die die Kirche den Gläubigen
hineinversetzt, eine Welt, die sich an alle Sinne wendet, die da ist, bevor sie
noch gedeutet werden kann, die erlebt wird, noch bevor sie zu distinktem Bewußtsein gelangt ist“, wie Groethuysen sie knapp charakterisiert83. Mit anderen
Worten: Die Grundlage einer religiösen Zivilisation, einer sozial, lebensweltlich,
institutionell und durch Tradition abgesicherten Gewissheit, hat Risse bekommen; es beginnt ein Prozess, den Olivier Roy als „Dekulturation“ bezeichnet84,
und dessen Anfänge in das Spätmittelalter zurückreichen. Veranschlagen wir die
Bedeutung der ‚religiösen Zivilisation‘ nicht gering. Sie umgibt die Menschen,
durchdringt und strukturiert ihren Alltag, und sie erst verleiht dem Glauben über
die bloße Innerlichkeit hinaus Leben und jene durch Kult, Lehre und Familie
vermittelte Selbstverständlichkeit. Religionen werden erst in der Moderne ein
separater Bereich; ihrem Anspruch nach aber sind Thora und Evangelium a way
81
82
83
84
Ebd.: 11.
Vgl. Ebd.: 18.
Ebd.: 6f.
Vgl. Roy 2010: 25-30; Roys Analysen beschränken sich allerdings weitgehend auf die Moderne.
43
of life, der seine Überzeugungskraft, wie auch die Prediger versichern, nicht
durch die Argumente erhält, sondern durch die soziale Welt die er einerseits determiniert, die ihn aber andererseits erst zu einer kaum bezweifelten Selbstverständlichkeit macht: Nicht nur ich handle, denke und empfinde so, sondern eine
ganze Gemeinschaft. Mag es die Mehrheit oder auch nur eine kleine Minderheit
sein, aber auch diese Minderheit vermittelt denjenigen, die in sie hineingeboren
werden, ihre Lebensweise als das Selbstverständliche. Die anderen mögen anders sein, aber wir verhalten uns so, wie schon unsere Vorfahren es taten und
unsere Nachkommen es immer tun werden. Im urbanen Raum verliert seit dem
Mittelalter dieses Leben rascher von jener Selbstverständlichkeit, die vielleicht
selbst ein Idealbild darstellt, das schon früher von ersten Formen einer ‚Heteropraxie‘ bedroht war. Insofern mag es auch ungewiss sein, ob Groethuysen, der
sich stark auf die verfügbaren Predigten aus dem 18. Jahrhundert stützt, nicht ein
Bild vom ‚einfachen Gläubigen‘ zeichnet, das zu stark die Perspektive, Wünsche
und Projektionen der Prediger wiedergibt. Was genau wissen wir von den Gewissheiten und Zweifeln der kaum alphabetisierten bäuerlichen Bevölkerung?
Wie groß war ihr Vertrauen in die Ratschlüsse Gottes und seiner Kirche? Zeugen nicht abergläubische Praktiken seit vielen Jahrhunderten, davon, dass man
der Magie mehr zutraute als dem Bittgebet? Jedenfalls reagieren die Predigten
auf einen deutlich spürbaren Umbruch, der im sich formierenden und nach
Rechten strebenden Bürgertum sein historisches Subjekt hatte. Vor dem dunklen
Hintergrund einer zerfallenden Ordnung oder Zivilisation leuchtet in den Katechesen der einfache Glaube umso intensiver.
Dieser Glaube wurde auch beliefert mit moralischen Ermahnungen und breit
ausgemalten Bildern, die eine Zukunft beschreiben, welche nach dem Tode die
Geretteten und die Verdammten erwartet. Auch hier reduziert sich die Wirkung
der Predigten. Wer nach Gründen fragt, ist auch von den breit ausgemalten Höllenphantasien nicht so leicht zu beeindrucken. Im 18. Jahrhundert verliert die
bunte Bilderwelt volkstümlicher Eschatologie ihren Schrecken und ihre ohnehin
zweifelhafte pädagogische Wirkung, um schließlich nur noch als Metapher zu
überdauern. Der Mensch als freies Geschöpf steht nicht mehr zitternd und unwürdig vor seinem Gott; zudem führt die inflationäre Androhung von Höllenstrafen, garniert mit drastischen Bildern, zu einer gewissen Abstumpfung: „Die
Prediger haben so häufig zu den allerschärfsten Mitteln gegriffen, um die Phantasie ihrer Zuhörer zu erregen, daß dies mit der Zeit notwendig eintreten mußte.
Schließlich kommt es dann dazu, daß die Höllenpredigten der Geistlichen eigentlich nur wie große sensationelle Vorstellungen wirken, die man als solche
44
beurteilt, je nachdem sie gut oder schlecht waren.“85 Lange vor den Science Fiction- und Horrorfilmen aus Hollywood werden die Predigten auf eine ähnliche
Weise konsumiert und nach dem Grad des Nervenkitzels, den sie bereiten, bewertet. Die Waffe ist stumpf geworden. Wenn in den philosophischen Polemiken gerade die Furcht vor dem Jenseits, die eine reale Angst vieler Menschen
war, Gegenstand der Kritik wird, die christliche Eschatologie mit Polemik und
Spott überzogen wird, dann darf der Kreis der philosophes gewiss sein, dass es
über die philosophisch und wissenschaftlich Gebildeten hinaus Zweifel gibt und
die Bastionen der Eschatologie mitsamt der Furcht vor dem Tod im Begriff sind
zu fallen. Dies führt nicht notwendig zum dezidierten Atheismus, aber zu einer
Kritik der eschatologischen Bilderwelt und zu dem, was der Freiburger Religionssoziologe Michael Ebertz „die Zivilisierung Gottes“ nennt. Das Strafgericht
und die apokalyptische Bilderwelt verschwinden zwischen dem späten 18. und
dem 20. Jahrhundert zunehmend aus den Predigten. Man schämt sich als einigermaßen aufgeklärter Theologe der apokalyptischen Exzesse vergangener Generationen und vertraut eher auf die sittlichen Optimierungsstrategien der bürgerlichen Gesellschaft. Es kommt, so Ebertz, zum „Kollaps des traditionellen
eschatologischen Codes“, der sich nicht scheute vom Ende der Welt, von der
Gerechtigkeit und vom Zorn Gottes, vom Gericht und – in großer Ausführlichkeit – von ewigen Strafen zu sprechen86. Es ist der verspätete Sieg einer moderaten Aufklärung, die, wie wir noch sehen werden, im 18. Jahrhundert zwischen
allen Fronten einen schwierigen Stand hatte.
Was die moralischen Ermahnungen betrifft, so sollen sie dazu dienen, den Menschen ein schlimmes jenseitiges Schicksal zu ersparen, an das sie freilich so
recht nicht mehr glauben. Die Armen zu unterstützen, ist auch für die wohlhabenden Bürger ebenso eine moralische Pflicht wie die Stiftungen zur Pflege von
Kunst oder zur Ausbildung mittelloser Kinder. Man mochte damit auch sein eigenes postmortales Schicksal verbessern und Gunst in den Augen Gottes erwerben, vor allem aber gehörte es zur Ehre dessen, der aus sich selbst etwas gemacht hatte, auch für andere etwas zu tun. Das verändert aber den Status der
Armen: Gewiss, Reiche und Arme gab es immer schon, aber der Reichtum des
Bürgers ist erworben durch Arbeit und Verzicht – was soll schlecht daran sein?
Die Kreditwirtschaft ist längst fest etabliert, nachdem das Zinsverbot fiel und
den durch den Geldverleih zu Wohlstand Gelangten nicht mehr die Hölle droht,
sondern allenfalls das Purgatorium87. Der Bürger stand zwischen dem Adel als
Inhaber der Macht (wenn auch schon weniger der ökonomischen) und den Ar85
86
87
Groethuysen 1927a: 98-128, hier: 123.
Ebertz 2004: 338.
Vgl. Le Goff 1988: , 68-87.
45
men in der Stadt und auf dem Land. „Die Mächtigen der Erde und die Armen
weichen von der Norm ab; das Bürgertum ist das ‚Normale‘, das ‚Natürliche‘.
Eigentlich müßte jedermann Bürger sein. So ist Armut eine Anomalie, nicht, wie
es die katholischen Soziallehren behaupten, etwas Bedeutungsvolles, sondern
etwas rein Negatives, etwas, das nicht sein soll.“88 Der Adel schwelgt in Luxus
und vergeudet die Güter, die er sich nicht erarbeitet hat; die Armen aber sind
nicht diejenigen, an denen sich die Wohltätigkeit der Reichen und Mächtigen
übt und die so den eigenen sozialen Status bestätigen, sondern Ergebnis und
Ausdruck einer gesellschaftlichen Schieflage, oder sie sind träge Existenzen, die
weder Kraft noch Willen haben, ihr Leben, so wie der Bürger, selbst in die Hand
zu nehmen. Aber auch in diesem Fall bedürfen sie eines guten Beispiels und der
Erziehung, um ihre bedauerliche Lage zu ändern. Nicht erst die bürgerlichen
Revolutionen in Amerika und Frankreich, sondern die ökonomische und soziale
Praxis des Bürgertums zerstört den Schein, die gesellschaftliche Ordnung sei
von Gott sanktioniert oder bilde die himmlische ab. Armut und Reichtum, Adel
und Bauer, Kleriker und Laie sind nicht Teil einer ewigen, von Gott gestifteten
Ordnung, sondern historisch kontingente Erscheinungen. Diese Ordnung kann
kraft eigener Anstrengung geändert werden, und die Bürger sind der lebendige
Beweis dafür. Soweit Religion sich in die letzten Bastionen der verhassten und
bankrotten Feudalgesellschaft zurückzog, verfiel sie der vehementen Kritik nicht
nur der radikalen, sondern auch der moderaten Aufklärung.
Der Zerfall einer in sich geschlossenen religiösen Zivilisation, die sich mit einer
gesellschaftlichen Ordnung eng verband, hat aber noch weitere Ursachen: Auf
der einen Seite geriet Religion in Misskredit durch den Versuch, religiöse Homogenität durch Terror herzustellen; auf der anderen waren es gerade die unterschiedlichen Konfessionen und ihre Konflikte, welche die Glaubwürdigkeit der
Religion erheblich beeinträchtigten. Völlige religiöse Homogenität wie in Spanien nach 1492 und in Frankreich nach der Aufhebung des Ediktes von Nantes
(1685) war nicht das Ziel mittelalterlicher Herrschaft. Loyalität galt ad personam, und so konnten auch jüdische Gemeinden sich dem Herrscher unterstellen
und – meist nach der Zahlung nicht unerheblicher Beträge – Schutz beanspruchen. Der Herrscher, so die Ideologie, erwies seine Qualitäten gerade an den
Schutzlosen. Der Wille zur religiösen und kulturellen Homogenität ist eher neuzeitlich. Sie soll den Zusammenhalt des entstehenden Flächenstaates sichern und
feudale wie kulturelle Autonomietendenzen notfalls gewaltsam unterdrücken.
Das Streben nach Homogenität war im 17. Jahrhundert aber auch eine Antwort
auf die im Namen der Religion ausgetragenen Konflikte der kleineren und gro88
Groethuysen 1927b: 37.
46
ßen europäischen Mächte. Wolfhart Pannenberg verweist mit einigem Recht auf
die gravierenden Folgen, welche diese Kriege für Europa hatten, und in welchem Maße sie geeignet waren, Religion als Friedensmacht weitgehend zu diskreditieren89. Die mit äußerster Brutalität durchgeführte politische Neuordnung
Mitteleuropas im Zuge des Dreißigjähren Krieges, der im Namen der ‚wahren
Religion‘ geführt wurde, zeitigte ein Resultat, das jenes Streben nach Homogenität auch in kleinen Dimensionen bestätigte: cuius regio, eius religio. Es entstanden neben den großen Mächten kleine und mittlere Fürstentümer, deren konfessionelle Ausrichtung vom Souverän, d.h. vom Fürsten bestimmt wurde. Der
Westfälische Friede (1648) beendete zwar einen Konflikt, der ganze Landstriche
entvölkerte, unterstellte aber die Religion den Interessen des Souveräns. So
konnte es sein, dass nur wenige Kilometer weiter, hinter der Grenze des Fürstentums, in dem man lebte und wo die einzig wahre Religion ausgeübt wurde, sich
der Abgrund des Un- und Aberglaubens auftat, der im eigenen Bereich unnachsichtig verfolgt würde. Die ‚wahre‘ Religion war die im jeweiligen Territorium
zugelassene und praktizierte Religion. Wie
ein Kommentar zu diesen neuen Verhältnissen lesen sich Passagen aus Thomas Hobbes‘
Leviathan (1657): Religion entspringt der
„Furcht vor einer unsichtbaren Macht, die
man im Geiste erdichtet oder nach öffentlich
zugelassenen Geschichten vorstellt“ 90 . Sind
diese Geschichten öffentlich zugelassen, d.h.
vom Souverän gebilligt, so ist die Ausübung
dieser Furcht vor der unsichtbaren Macht ReThomas Hobbes (1588-1679)
ligion, im anderen Falle hingegen Aberglau91
be . Die öffentlich zugelassenen Geschichten christlicher Herrscher sind die
biblischen und, je nach Konfession, auch solche der Tradition.Die wahre Religion setzt darüber hinaus noch die Wahrhaftigkeit der vorgestellten Macht voraus,
aber was genau bedeutet dies angesichts der nicht mehr weiter zur Disposition
stehenden Entscheidung des Souveräns? Für Hobbes haben die Religionen ihren
Ursprung in der Wissbegier des Menschen, die Ursachen allen Geschehens zu
ergründen, sowie in der Furcht vor der Natur und einer ungewissen Zukunft 92.
89
90
91
92
Vgl. Pannenberg 1988b: 29f.
Hobbes 1996: 46; zu Hobbes vgl. auch Vorländer 1926: 59-65.
Vgl. Hobbes 1996: 46. Dabei zielt Hobbes keineswegs auf das Gottesgnadetum des Königs, vielmehr hatte er
den Souverän ebenso wie den Staat entzaubert; „der Staat ist ihm“, so Vorländer, „eine menschliche Einrichtung, in dessen unumschränkter Machtvollkommenheit ihm in dieser Zeit der Bürgerkriege die Bürgschaft
für innere Ruhe und Frieden zu liegen schien“ (Vorländer 1926: 62; vgl. Borkenau 1934: 439-461).
Vgl. Hobbes 1996: 88-92.
47
Schließlich entdeckten die heidnischen Herrscher, „deren Ziel es war, die Menschen in Gehorsam und Frieden zu halten“, den praktischen Nutzen der Religion
als Beitrag zur Kultivierung und Pazifizierung: Das Volk unterwarf sich und war
„weniger zur Meuterei gegen seine Herrscher geneigt“ 93 . Hobbesʼ Gedanken
sind nicht einfach zynisch zu nennen er begreift das Doppelgesicht der Religionen als zugleich pazifizierend und Quelle von Konflikten; letzteres lässt sich –
wie der Krieg aller gegen alle – nur durch den Souverän verhindern, der bestimmte Religionen zulässt, andere als ‚Aberglaube‘ verbietet. Auch meidet
Hobbes direkte Angriffe auf das Christentum, aber es entsteht doch der Eindruck, dass der praktische Nutzen der Religion den Vorrang vor der Wahrheitsfrage hat und die Glaubwürdigkeit der ‚zugelassenen Geschichten‘ – also der
Bibel – ihm eher zweifelhaft ist. Die noch näher zu untersuchende Kompilation
des Traktats über die drei Betrüger wird sich auch Hobbesscher Texte bedienen
und sie so arrangieren, dass eine religionskritische Programmschrift entsteht.
Die Einheit der Religion in Europa war dahin und ließ sich nur noch per Dekret
und mit Gewalt auf regionaler Ebene (wieder) herstellen. Schon rund hundertfünfzig Jahre vor dem Westfälischen Frieden hatte das soeben vereinigte Spanien seine jüdischen Bürger des Landes verwiesen oder genötigt, das Christentum
anzunehmen. Aber auch im Falle des Übertritts blieben die neuen Christen,
Conversos oder Marranos suspekt. Den rechten Glauben der Alt- und Neuchristen überwachte die Inquisition, die, von Anfang an „eine Art Zwitter“ zwischen
päpstlicher Legitimation und staatlichem Ernennungsrecht der Inquisitoren 94 ,
mehr und mehr ein Instrument des Königshauses geworden war. Sie entfaltete
nach 1492 ein Kontrollsystem, das bereits gewisse Gemeinsamkeiten mit Geheimdiensten autoritärer Systeme im 20. Jahrhundert aufweist, also kein – wie
die Aufklärung meinte – Rückschritt ins Mittelalter, sondern ein neuzeitliches
Phänomen war. Spitzel und Denunzianten, Misstrauen, ausgeklügelte Foltermethoden und – zumindest bis etwa 1530 – auch Massenhinrichtungen schufen ein
Klima der Angst und der Verunsicherung. Die Zahl der Hingerichteten wird
heute auf etwa 6.000 Opfer geschätzt und liegt damit deutlich unter älteren Angaben, die zwischen 10.220 und 105.304 schwankten95. Die Opfer waren nicht
alle Juden und Muslime, die ihren Glauben bis zu ihrer Denunziation und Inhaftierung heimlich praktizierten, sondern auch durchaus überzeugte Neuchristen,
die nur verdächtig waren, dogmatisch nicht ganz zuverlässig zu sein oder die
von Konkurrenten denunziert wurden. Die hohen Schätzungen wirken plausibel
eher aufgrund des extrem negativen Images der Inquisition, aber ebenso ange93
94
95
Ebd.: 96f.
So Angenendt 2007: 277.
Vgl. ebd.: 281-283.
48
sichts der Art der Hinrichtung, die einer sorgfältigen Dramaturgie unterlag. Auf
diese Weise hoffte man eine hohe abschreckende Wirkung zu erzielen und demonstrierte mit diesem Ritual die Schwere des Vergehens und die unendliche
Macht des Souveräns96. Die Inquisition brannte sich so wörtlich in das kollektive Gedächtnis nicht nur Spaniens, sondern ganz Europas ein; heimliche und öffentliche Grausamkeit bewirkten, dass die Qualität der Verhöre und Hinrichtungen die Schätzungen der Quantität beeinflusste. Es wundert darum nicht, dass
selbst sechs- und siebenstellige Zahlen für viele plausibel klingen. Zu den Opfern wird man aber auch jene rechnen müssen, die durch Haft und Tortur körperlich und seelisch dauerhaft geschädigt waren, finanziell ruiniert und sozial geächtet. Die spanische Inquisition wurde für weite Teile der Aufklärung zum
Symbol von Intoleranz und Gewaltbereitschaft, sie diente immer wieder als Beleg für die Grausamkeit und Unduldsamkeit des biblischen Gottes (N.B.: nicht
nur des alttestamentlichen) und seiner Kirche, die anders als durch solche menschenverachtenden Handlungen keinen Glauben mehr finden und ihre Herrschaft nicht länger aufrecht erhalten konnte .
Die mittelfristige Folge dieser Maßnahmen war keineswegs ein einheitlich
‚rechtgläubiges‘ christliches Spanien, sondern, wie Yirmiyahu Yovel zeigte, eine grundlegende Transformation und ‚Verflüssigung‘ religiöser Identitäten, eine
Entwicklung, die über Spanien und Portugal hinaus auch Italien, das östliche
Mittelmeer ebenso wie Amsterdam und Hamburg erfasste97:




96
97
98
99
100
ein klandestines Judentum, das aber, seiner rabbinischen Quellen, der jüdischen Gebetbücher und der gottesdienstlichen Ordnung beraubt, der hebräischen Sprache unkundig, nur noch auf die lateinische Übersetzung des Alten Testaments zurückgreifen konnte; im Grunde jeder religiösen Tradition entfremdet. „Der Marrane“,
schreibt Carl Gebhardt in seiner Einleitung zu Uriel da Costas Schriften, „ist Katholik ohne Glauben und Jude ohne Wissen, doch Jude im Willen.“98
Anders als Gebhardt schreibt, gab es aber durchaus gläubige Neuchristen (aus ehemaligen Juden und Muslimen), die ein stärker verinnerlichtes, die devotio moderna
weitertreibendes spiritualisiertes Christentum lebten, als wäre die klandestine Existenz auch an die Gruppe von Conversos übergegangen99;
Fanatische Neuchristen, die ihre einstigen Glaubensgenossen mit Eifer verfolgten
und von einem starken Antijudaismus geprägt waren100:
Christentum aus Opportunismus: wer im Lande bleiben, kein Risiko eingehen und
Karriere machen wollte, musste sich taufen lassen, war, ohne tiefere Überzeugung
assimiliert und lebte nach außen das katholische Christentum101.
Vgl. Foucault 1976: 44-90; Angenendt 2007: 277-279.
Vgl. Yovel 2009: 78-102.
Gebhardt in da Costa 1922: XIX; vgl. Yovel 1989a: 40-50; 2009: 80-89; einmal alle Traditionen entfremdet,
sind die klandestinen Juden oft nicht scharf zu unterscheiden von Gruppe .
Das vermutlich bekannteste Beispiel ist Teresa von Avila (1515-1582): siehe ebd.: 88f, 93f, 256-260.
Vgl. ebd,: 92.
49



Religiöser Synkretismus und heterodoxe Sichtweisen: Elemente eines seiner Grundlagen beraubten Judentums, des Islam und eines wenig vertrauten Christentums wurden auf unterschiedliche, zuweilen originelle Weise gemischt102.
Angesichts des Terrors und des erzwungenen Religionswechsels reagierten einige
mit einer ausgeprägte Skepsis gegenüber jedem emphatischen Wahrheitsanspruch103.
Als weitere Konsequenz des Terrors und praktischen Nihilismus der Verfolger bildete sich ein säkularer, religionskritischer Habitus aus, der nicht immer philosophisch
streng begründet wurde (oder aufgrund der eigenen Ausbildung werden konnte). Die
religiösen Überlieferungen wurden als intolerante Heuchelei und Anhäufung aberwitziger Lehren und Geltungsansprüche abgelehnt104.
Wer nicht in seiner Heimat blieb, nahm seine Kultur mit nach Thessaloniki, Venedig, Amsterdam und Hamburg. Die Erfahrungen der jüdischen Einwanderer
prägten auch die Gemeinden. Der praktische Nihilismus der Verfolger entfaltete
seine Wirkung auch dort, wo Juden in sicherem Umfeld ihre ursprüngliche Religion wieder annahmen: Aus den Neuchristen waren Neujuden geworden, die oft
mehr Kenntnisse vom Christentum als vom rabbinischen Judentum hatten. Wer
blieb und sich dem Schein nach oder aus Überzeugung dem Christentum anschloss, entwickelte aus der früheren Tradition heraus und dem Zwang zur Vorsicht und Heimlichkeit eine Praxis, die mit jener der Altchristen nicht immer
übereinstimmte. Sie zog oft genug den Argwohn der Nachbarn und über kurz
oder lang auch der Inquisition auf sich. Wo also Homogenität per Dekret und
unter Aufbietung aller Gewalt entstehen sollte, entwickelte sich eine ausgeprägte
Alterität, in Worten Yirmiyahu Yovels, eine split identity. Es wurden klandestine oder multiple Identitäten Merkmal einer zerfallenden religiösen Zivilisation,
die unter dem Druck des Terrors gleichsam zerbröckelte.
Wenn wir also abschließend nach der Legitimität des Säkularisationsbegriffs
fragen, so lassen sich zusammenfassend vier historische Gründe angeben:
 die Ausdiffernzierung wichtiger gesellschaftlicher Bereiche, die eine Eigenlogik jenseits
religiöser Normierung entwickeln;
 in den Städten entsteht eine Klasse, die sich von den überlieferten Traditionen und Autoritäten allmählich emanzipiert, über hinreichende Bildung verfügt, die dominierende
Stellung innerhalb der Geldwirtschaft, Güterproduktion (außerhalb der Landwirtschaft)
und im Handel einnimmt, wagemutig neue Märkte und Regionen entdeckt, ein praxisbetontes und antifatalistisches Ethos entwickelt, kurz: in jeder Hinsicht zum sozialen Träger des Säkularisierungsprozesses wird;
101
102
103
104
Vgl. ebd.: 95f.
Vgl. ebd.: 86-89, 92f, 126-136.
Ein prominenter Vertreter im 16. Jahrhundert war Michel de Montaigne (1533-1592), dessen Mutter einer
Converso-Familie entstammte; vgl. ebd.: 328-330.
Vgl. ebd.: 97-102. Zu dieser Gruppe werden Philosophen wie Gabriel (Uriel) da Costa (1585-1640). Juan
(Daniel) de Prado und Baruch Spinoza gezählt; vgl. ebd.: 330-336; ders. 1989a: 40-80 und unten, Kapitel 2.
Solche eher schematischen Zuordnungen bergen freilich auch die Gefahr, die spezifischen Intentionen und
Gedanken der Philosophen vorschnell einzuordnen und so zu verfehlen.
50
 die Fortschritte von Naturwissenschaft und Philosophie lassen sich in die alten Welterklärungen nicht mehr integrieren, d.h., Natur und Geschichte erweisen sich als Sphären,
die jenseits göttlicher Interventionen eigenen (immanenten) Gesetzen und Veränderungen unterliegen;
 die feudalen und religiösen Konflikte sowie die Tendenz zur Homogenisierung bewirken den Zerfall der bisherigen religiösen Zivilisation ohne dass sich eine Alternative
anböte, die den gravierenden Veränderungen des individuellen Bewusstseins, der frühneuzeitlichen Gesellschaft und der Wissenschaft Rechnung trüge. Die Norm einer fixen,
unveränderlichen religiösen und kulturellen Identität ist überholt und weicht mehr und
mehr einer multiplen, flexiblen Identität als neuer Realität.
Diese Gründe rechtfertigen es, weiterhin von Säkularisierung zu sprechen, auch
wenn im Laufe dieses Prozesses Religion nicht verschwunden ist und das sozialhistorische Modell der Säkularisierung eine solche Liquidierung der Religion
auch keineswegs suggerieren will. Die Religionskritik in ihren unterschiedlichen
Formen und Argumentationen ist Teil dieses – trotz theologischen Wunschdenkens – bis heute nicht zu einem Ende gelangten Prozesses. Er bewirkt eine Distanz zu den religiösen Traditionen und Geltungsansprüchen, die unumkehrbar ist
und durch keine ‚zweite Unmittelbarkeit‘ ersetzt oder überwunden werden kann.
Selbst dort, wo durch fundamentalistische Dezision der Säkularisierungsprozess
revoziert werden soll, zeugt die blinde Willkür der Entscheidung noch contre
cœur von jener Dynamik, die seit dem Mittelalter und beschleunigt in der Neuzeit die alten Ordnungen und Selbstverständlichkeiten auflöst. Diese Brechung
der Tradition auch dort, wo sie nicht prinzipiell negiert wird, ist in der Tat neu
und kann mit ihren weit reichenden Konsequenzen für die mittelalterlichen Gesellschaften nicht nachgewiesen werden. Motive der Religionkritik, deren Funktionen und Argumente im Folgenden ausführlicher erschlossen werden sollen,
sind tief in das moderne Bewusstsein eingewandert.
51
52
2. Spinozas Impact: die neue Konstellation
Von Religion, Politik und Philosophie
53
54
a) Religions- und Bibelkritik „La longue et conflictuelle histoire de
l’interprétation des Livres saints des religions monothéistes dure encore“, konstatiert Catherine Chalier zu Beginn ihres Buches Lire la Torah. „Mais, dans les
sociétés sécularisées du XXIe siècle, en particulier en Europe, elle se radicalise
souvent en se simplifiant à outrance et en prétendant opposer ‘esprits libres’ et
fondamentalistes.“105 Die Spannungen, die im 21. Jahrhundert, im Zeichen eines
wachsenden Fundamentalismus zu eskalieren drohen, reichen allerdings weiter
zurück und führen uns in die Frühe Neuzeit. Textkritische Studien, die Hinwendung zum hebräischen oder griechischen Original der Heiligen Schriften und ein
wachsendes Misstrauen gegenüber traditionellen Lesarten und allegorischen
Deutungen zeichneten sich bereits in der Renaissance ab. Der Literalsinn erfährt
eine deutliche Aufwertung, ist er doch leichter wissenschaftlich kontrollierbar
und eine Gegeninstanz zu willkürlichen Interpretationen und Projektionen. Die
Scheu, einen inspirierten Text, d.h. eine Schrift, für die eine göttliche Urheberschaft beansprucht wird, mit profanen Mitteln zu analysieren, weicht mehr und
mehr der wissenschaftlichen Neugier bis hin zu jenem Punkt, an dem die heiligen Texte der monotheistischen Religionen als menschliche Produkte angesehen
werden. Im 16. und 17. Jahrhundert wurde diese revolutionäre Hermeneutik als
Angriff auf den religiösen Wahrheits- und Geltungsanspruch gewertet und entsprechend energisch zurückgewiesen. Die Heftigkeit der Kontroversen stand den
aktuellen kaum nach, allerdings mit dem erheblichen Unterschied, dass heute die
Vorstellung einer Verbalinspiration ihre Unschuld verloren hat und nur noch um
den Preis eines sacrificium intellectus aufrecht erhalten werden kann. Eine säkulare Interpretation betrachtet die heiligen Texte als religionshistorische Dokumente, die wie jede andere historische Quelle nach den avanciertesten Methoden
zu untersuchen und mit zeitgenössischen Texten zu vergleichen sind. Diesen
Zugang zu den Texten fasst Catherine Chalier folgendermaßen zusammen: „Ces
Livres seraient des œuvres humaines, rien qu’humaines, à apprécier comme
telles et à expliquer en fonction d’un contexte géographique et historique passé
et contingent.“106 Der kühle Blick historischer Forschung ist für die einen ein
Sakrileg, für die anderen der Ausweis von Wissenschaftlichkeit angesichts des105
106
Chalier 2014: 7.
Ebd.
55
sen, dass für die Geschichte so wenig wie für die Natur unmittelbare göttliche
Interventionen nachgewiesen und vorausgesetzt werden können. Beide Größen
sind vielmehr innerweltlich zu erklären und folgen bestimmten Regeln, wobei
innergeschichtlich durchaus irrationale Faktoren zu veranschlagen sind. Mit diesem Programm einer konsequent innerweltlichen Erklärung verbindet sich der
Name Spinozas. Spätestens seit der Studie Yirmiyahu Yovels gerät die Bedeutung Spinozas für die radikale Aufklärung stärker in den Focus der Forschung.
Jonathan Israel bezeichnet sein Denken gar als „the intellectual backbone of the
European Radical Enlightenment“107. In Spinozas Theologisch-politischer Traktat (1670) und der Ethik (1677) gewinnt ein System Konturen, das Handlungsregulative, Erkenntnistheorie und metaphysische Ordnung verbindet, und in dem
für göttliche Willkür und Interventionen kein Raum ist. „Es ist ein aufklärerischen Interesse“, stellt Wolfgang Bartuschat fest, „das das Ziel hat, den Menschen zu dem zu bringen, was er aufgrund klarer und deutlicher Einsicht vermag, und ihn darin zu befreien von einer Fremdbestimmung, der er, bloßen
Meinungen folgend, erliegt.“108 Die emendatio ingenii und die emendatio societatis hingen eng miteinander zusammen. Die Philosophie Spinozas war sowohl
für die clandestinen als auch für die unter ihren Verfassernamen publizierten
Schriften inspirierend. Er repräsentierte deutlicher noch als Descartes, der die
neue erkenntnistheoretische Armatur lieferte, das spezifisch neuzeitliche, moderne Denken: Nicht nur unterlag die gesamte Wirklichkeit einer strengen gesetzmäßigen Ordnung; auch das menschliche Handeln musste von Prinzipien
geleitet werden, die sich more geometrico beweisen ließen. Der Zusammenhang
von göttlicher, natürlicher und sittlicher Ordnung ist
es, welcher der Ethik ihre Geschlossenheit verleiht.
Früher aber noch als die Ethik hatte Spinozas Bibelkritik seine jüdischen, katholischen und protestantischen Zeitgenossen provoziert. Die Reformation hatte noch im 16. Jahrhundert die Tradition unter Hinweis auf die Schrift als unhintergehbare Norm kritisiert und in ihre Schranken gewiesen. Auf jüdischer
Seite verwarf Uriel da Costa die rabbinische Autorität und mit ihr gesamte mündliche Thora. Indem sie
Baruch Spinoza (1632-77)
das Moment der Tradition stark mache und so den
Schriftdeutungen und Überlieferungen von Talmud und Midrasch die gleiche
Dignität verleihe wie dem Bibeltext, werde das Fundament der Thora umge107
108
Israel 2001: VI. So erscheint Spinoza bei Israel geradezu als ‚lonely hero‘ der Frühaufklärung; zur Diskussion und Kritik vgl. auch Ferrone 2015: 160-172.
Bartuschat 1992: 13.
56
stürzt, eine – wohl anders motivierte – jüdische Variante des Sola-scripturaPrinzips109. Rückte so die Schrift als norma normans non normata, d.h. als unantastbare Richtschnur von Predigt und Theologie ins Zentrum des Interesses, so
ergaben sich bei weitergehenden, gerade vom Schriftprinzip motivierten Untersuchungen Probleme, welche die Reformation nicht vorausgesehen hatte: Die
inneren Spannungen des Bibeltextes, Dubletten, Probleme der Chronologie und
manche Widersprüche mit dem Stand der Naturwissenschaften weckten Zweifel
an der Verbalinspiration. Weitere Fragen ergaben sich auch angesichts der
strengen Form, welche René Descartes der Philosophie gegeben hatte: Wie
konnten Handlungsrichtlinien und Inhalte, die für das Heil aller Menschen notwendig sind, in legendenhaften Erzählungen und Geschichten vorgetragen werden? Auf protestantischer Seite hatte schon vor dem Theologisch-politischen
Traktat der Philosoph, Philologe, Theaterregisseur und Freund Spinozas, Lodewijk Meyer (1629-1681), mit seinem mehrfach wiederaufgelegten und übersetzen Traktat Philosophia S. Scripturae interpres (1666) dem traditionellen Bibelverständnis philologisch wie philosophisch den Boden entzogen 110 . Meyer
und Spinoza standen in engem Kontakt, und es ist anzunehmen, dass die beiden
Traktate (und auch die Vorstufen von Spinozas Ethik) nicht ohne Kenntnisnahme und Einfluss des jeweils anderen entstanden sind.
Die Schrift genügt nicht sich selbst und ist eher „obscure and ambiguos“, was
nicht wundert, beruht sie doch auf Worten, die stets der Klärung bedürfen; Sprache, vor allem ihre narrative Form, entbehrt der vollkommenen Eindeutigkeit111.
Meyer führt Autoritäten wie Augustinus, Thomas und selbst Luther an, um seine
für protestantische Rezipienten provokante These von der Insuffizienz der
Schrift, soweit von ihrem wörtlichen Verständnis die Rede ist, zu stützen.
Gewiss, die Autoren der Schrift waren, wie es auch bei Calvin heißt, Gottes
‚Sekretäre‘, „and in these scribes was ever present the Spirit of Truth, on whom
not even a shadow of falsity or error could fall“112. Aber “the Spirit of Truth”
rechtfertigt nicht schon die Vorstellung einer Verbalinspiration. Vielmehr ist
dieser Geist der Wahrheit in einem Prozess zu eruieren, und welche Disziplin ist
für ein solches Unterfangen besser gerüstet als die Philosophie? Die katholische
Kirche erhebt für sich den Anspruch auf Deutungshoheit, ohne dass er von allen
Christen anerkannt würde; die evangelischen Kirchen sind der Auffassung,
109
110
111
112
Vgl. da Costa 1922: 18-22. – Dies hatte seinen Ursprung weniger in Motiven der Reformation als vielmehr
darin, dass die Conversos in Spanien und Portugal, wo da Costa geboren war, von der rabbinischen Tradition
abgeschnitten waren und als Quelle allein der (übersetzte) Text des Alten Testaments verfügbar war.
Zu Meyer vgl. auch Nadler 2009: 171-173, 309f; zur Rolle Meyers in der Frühaufklärung vgl. Israel 2001:
197-212.
PSSI, c. IV,1 = Meyer 1995: 91.
PSSI, c. IV,5 = Meyer 1995: 93.
57
„Scripture itself is the unique and the best rule, an infallible norm for the
guidance of all interpretation“113, aber die Schrift ist eben nicht klar und kann
folglich auch nicht den Maßstab zu ihrer Deutung abgeben; sie interpretiert nicht
sich selbst114. Allerdings führt dies nicht zur Affirmation der katholischen Position; zum Schrecken mehr der katholischen als evangelischen Leser stellen nämlich nach Meyer weder die Kirche, die Kirchenväter noch der Papst die unfehlbare Norm für die Schriftauslegung dar, denn sie widersprechen sich in vielen
Fragen, und auch die Gesamtkirche ist davon nicht ausgenommen 115. So bildet
Philosophie die dritte, zudem unabhängige Instanz und „the certain and infallible norm both for explicating the Holy Books and for investigating their explications”116. Allerdings ist es nicht die überlieferte scholastische Philosophie, der
Meyer eine solche Kompetenz zutraut, “but true and indubitably certain
knowledge which Reason, free from any veiling prejudice and sustained by the
natural light and acuity of the intellect, cultivated by study, diligence, practice,
experience and usage, draws forth and arranges under the most certain light of
truth”. Eine solche Philosophie – eben die wahre – habe, so versichert Meyer,
ihren Ursprung in Gott, dem Vater des Lichts und der Quelle der Weisheit117.
Nach dieser ‚wahren Philosophie‘ brauchen wir nicht lange zu suchen, sie wurde
entwickelt von „the most noble René Descartes“, seine Philosophie, die auf klaren und deutlichen Erkenntnissen beruht, a priori einsehbaren Prinzipien, sorgfältiger logischer Untersuchung und präziser Beobachtung, ist zur Lösung der
bestehenden Probleme geeignet118. Unschwer ist zu erkennen, dass die Vorrangstellung, die Meyer der Philosophie in Fragen der Exegese einräumt, auch die
Aufgabe hat, die Religionskonflikte, die „with violence and passion“ ausgetragen wurden, von einer über den Parteien stehenden Instanz zu schlichten 119 .
Möglich ist dies nur unter der Voraussetzung, dass die entscheidenden Wahrheiten der Schrift und der Offenbarung, ihr ‚wahrer Geist‘ sich philosophischer
(und, darin eingeschlossen, auch philologischer) Deutung erschließen, ja dass sie
eigentlich philosophischer Natur sind und darum in der Philosophie auch ihre
kongeniale Interpretin findet120. Der mit Descartes erreichte Stand der philosophischen Forschung bietet einen Grad an Gewissheit, den frühere Epochen noch
nicht kannten. Dass Philosophie und nur Philosophie die sichere und unfehlbare
113
114
115
116
117
118
119
120
PSSI, c. V,1 = Meyer 1995: 104.
Vgl. auch PSSI, c. XI,6 = Meyer 1995: 165-167; vgl. auch Israel 2001: 200f.
Vgl. PSSI, c. IX = Meyer 1995: 142-151.
PSSI, c. V,1 = Meyer 1995: 105.
Ebd.
PSSI, c. V,4 = Meyer 1995: 109.
PSSI, ep. = Meyer 1995: 226f.
So auch Israel 2001: 202.
58
Grundlage und Norm der Schriftinterpretation bilden sollte, wie Meyer im
sechsten Kapitel zu beweisen sich anschickt121, sprengte allerdings die reformatorische Hermeneutik und den Willen zur Toleranz bei weitem, wie auch die
Reaktionen zeigen122. Warum ist es überhaupt notwendig, sich noch mit der Bibel zu befassen, wenn es eher die Philosophie ist, die uns Klarheit verschaffen
kann? Descartes selbst bot hier keine Antwort, zumal ein Anspruch, auch die
Theologie auf den festen Boden seiner Methode zu stellen, seine Konflikte mit
den Theologen noch forciert hätte.
Es war Spinoza, der ohne Rücksicht auf die Theologen die Überlegungen in innerer Einheit von Philologie und Philosophie weiter vorantrieb. So erfolgten die
schockierenden Einschläge in kurzem Abstand; nur vier Jahre nach Meyers Abhandlung publizierte 1670 Spinoza seinen Tractatus theologico-politicus. Parallel zur Arbeit an diesem Text tauschte er sich mit Meyer auch ausführlich über
die Ethik aus, die bereits in den sechziger Jahren erste Konturen annahm123. Deren Veröffentlichung jedoch sollte Spinoza nicht mehr erleben. Der Tractatus
hingegen war, wie Meyers Werk, sofort Gegenstand heftiger Kontroversen. Indem Spinoza die das Gotteswort übermittelnde Autorschaft des Mose für den
Pentateuch widerlegte, wurde ein entscheidender Anfang in der modernen Bibelkritik gemacht, der eine große Wirkung haben sollte und über die Kritik eines
Uriel da Costa oder Lodewijk Meyer weit hinausging. Die Autorität der Schrift
als geoffenbartes Wort Gottes führte bisher bei den Kirchenvätern, in der rabbinischen und mittelalterlichen Literatur dazu, die Texte zu harmonisieren und die
Spannungen durch zuweilen sehr bemühte Interpretationen zu beseitigen. Wenn
Spinoza hier einen anderen Weg einschlägt, so wird man bereits ein verändertes
Verständnis von Offenbarung oder gar den Verlust ihrer Autorität voraussetzen
müssen. Leo Strauss hat wohl recht, wenn er die Religionskritik Spinozas als
Voraussetzung und nicht als Resultat der Bibelkritik Spinozas ansieht. Ein
wahrhaft freies Denken kann nichts als gültig annehmen, das nicht durch Argumente ausgewiesen ist. „Die Überzeugung“, so Strauss, „daß es eine der Vernunft übergeordnete Offenbarung gebe, hat nach Spinoza den Charakter eines
Vorurteils.“ 124 Vorurteile aber müssen geprüft werden, was nicht ausschließt,
dass diese Prüfung zugunsten des Vorurteils – hier: der Offenbarung – ausfällt.
Aber einmal geprüft ist das Vorurteil kein Vorurteil mehr, sondern erkannte
Wahrheit125. Spinoza spricht zu Beginn des Tractatus davon, „die Schrift von
121
122
123
124
125
Vgl. PSSI, c. VI = Meyer 1995: 113-119.
Vgl. Hierzu die Einführung in Meyer 1995: 11-17.
Vgl. etwa Spinozas Briefe an Meyer aus dem Jahr 1663, in: Spinoza 1995: 101-109 (Briefe 12 u. 12a).
Strauss 1996: 176.
Vgl. ebd.
59
neuem und mit unbefangenem Geist zu prüfen (de novo integro et libero animo
examinare) und nichts von ihr anzunehmen oder als ihre Lehre gelten zu lassen,
was ich nicht mit voller Klarheit ihr selbst entnehmen könnte.“126 Sola scriptura
wird der Autoritätsanspruch der Schrift eingeschränkt und ihr ein eigenes Reich
zugewiesen, das sie freilich gegenüber historischer Kritik nicht immunisiert. Die
„wahre Methode der Schriftauslegung“, erklärt Spinoza, unterscheide sich in
nichts von der Methode der Naturerklärung, denn
„wie die Methode der Naturerklärung in der Hauptsache darin besteht, eine Naturgeschichte zusammenzustellen, aus der man dann als aus sicheren Daten (ex certis datis) die Definitionen der Naturdinge ableitet, ebenso ist es zur Schrifterklärung nötig, eine getreue Geschichte der Schrift auszuarbeiten, um daraus als aus den sicheren Daten und Prinzipien
den Sinn der Verfasser der Schrift in richtiger Folgerung abzuleiten.“127
Die besondere Dignität der Schrift rechtfertigt keine methodische Ausnahme; sie
ist Teil dieser Welt und bildet das Material, dessen Geschichte eruiert werden
muss, um die Absichten ihrer unterschiedlichen Autoren zu verstehen. Wie die
Natur kritisch und historisch gelesen werden muss, so auch die Schrift. Beides
sind Texte, die sich dem Leser nicht sofort erschließen, so dass er schnell Opfer
eigener Täuschungen und Vorurteile werden kann. Spinozas Methode begnügt
sich also nicht mit einer simplen Aneinanderreihung von historischen Befunden
oder ihrer bloßen Repetition. Selbst der Akzent auf dem Literalsinn bedeutet
keine voraussetzungslose und kontextunabhängige Interpretation; „thus the interpretation of the Bible consists, not in understanding the Biblical authors
exactly as they understood themselves but in understanding them better than
they understood themselves.“128 Die Resultate dieser strengen Methode waren
für die zeitgenössischen Theologen wenig erfreulich. Die Texte sind, wie Spinoza zu zeigen vermag, nicht am Sinai diktiert worden, sondern haben eine über
Jahrhunderte dauernde Genese; sie sind gleichsam kristallisierte Traditionsgeschichte. Wie etwa kann Mose gegen Ende des Buches Deuteronomium seinen
eigenen Tod darstellen? Warum spricht die Thora von Mose in der dritten Person Singular, wenn er sie doch verfasst haben soll? Wie ist es möglich, dass
Ortsnamen auftauchen, die zur Zeit des Mose noch ungebräuchlich waren129?
Und schließlich: Sind Wunder möglich, welche die wissenschaftlich beschreibbare strenge Ordnung der Natur aufheben? Spinoza kommt nach ausführlicher
Analyse der biblischen Texte zu dem Ergebnis, dass Thora und Propheten nach
dem Exil eine Endredaktion erfahren, und dieser Redaktor war vermutlich Esra,
126
127
128
129
TTP, praefatio = Spinoza 1989a: 16/17 und Spinoza 2012: 68/69; vgl. dazu Schulte 2002: 52-55.
TTP, c. VII = Spinoza 1989a: 230/231 und 232/233; Spinoza 2012: 280/281; vgl. auch Kraus 1956: 56-58.
Strauss 1988: 146.
Vgl. TTP c VIII = Spinoza 1989a: 278-307 /2012: 324-351; Nadler 2011: 104-142; Chalier 2014: 29-32;
ähnliche Argumente finden sich auch bei Thomas Hobbes; vgl. Hobbes 1996: 322f.
60
von dem es heißt „daß er seinen Eifer der Erforschung und Auslegung des göttlichen Gesetzes zugewandt habe und daß er ein Schriftgelehrter war“ 130. Die
neuere Exegese hat zwar die Bedeutung Esras nicht derart hoch veranschlagt,
doch kommt Spinoza, was die Zeit der Endredaktion des Pentateuchs und vieler
prophetischer Texte betrifft, den Ergebnissen der modernen Bibelforschung, die
allerdings große Teile des Pentateuch in die spät- und nachexilische Zeit verlegt,
recht nahe131. Auch die weiteren Beobachtungen Spinozas sind beachtlich, wie
etwa die Spätdatierung der Chronikbücher132 und vor allem die Kritik der Evangelien, die keine Protokolle der Geschichte Jesu sind:
„Wer wird aber glauben, daß Gott viermal die Geschichte Christi habe erzählen und
schriftlich mitteilen wollen? Allerdings ist in dem einen manches enthalten, was sich in
dem anderen nicht findet, und häufig hilft der eine den anderen verstehen. Daraus darf man
aber noch nicht schließen, daß man alles kennen müsse, was von diesen vier Evangelien
berichtet wird, und daß Gott sie auserwählt habe, die Geschichte Christi zu schreiben, damit diese besser verstanden werde. Jeder von ihnen hat sein Evangelium an einem anderen
Ort gepredigt, und jeder hat es so, wie er es predigte, aufgeschrieben, ganz einfach mit der
Absicht, die Geschichte Christi deutlich zu erzählen (historiam Christi dilucide narreret),
aber nicht um die anderen zu erklären.“133
Die Evangelien sind überlieferte Predigten und Theologien einzelner Personen
(heute spricht man eher von Gemeinden), aber nicht das Diktat Gottes. Warum
wohl hätte er vier verschiedenen Sekretären vier verschiedene Texte diktieren
sollen? „Die Bücher beider Testamente sind nicht auf ausdrücklichen Befehl zur
gleichen Zeit für alle Jahrhunderte geschrieben worden, sondern bei Gelegenheit
für bestimmte Menschen“, so das Résumé134. Sie haben ihren zeitbedingten Anlass, ihren ‚Sitz im Leben‘ und entspringen bestimmten (nicht nur) theologischen Interessen ihrer Verfasser. Kurz: Die fundierenden Schriften von Judentum und Christentum erwiesen sich am Ende der Prüfung als ein menschliches
Werk, in das auch menschliche Interessen und Leidenschaften einflossen. Der
Anspruch einer wörtlichen Inspiration der Schrift war dahin; wie aber konnten
dann die religiösen Gemeinschaften angesichts der vielen Unsicherheiten, mit
denen ihr Glaube behaftet war, noch unbedingten Gehorsam erwarten und im
Konfliktfalle Sanktionen verhängen? Damit ist keineswegs die Autorität der
Schrift gänzlich negiert, es kommt aber darauf an, ihren moralischen Gehalt
130
131
132
133
134
TTP, c. VIII = Spinoza 1989a): 300/301f; Spinoza 2012: 346/347.
Hans-Joachim Kraus fasste die Leistung Spinozas vor allem für die Entstehungsgeschichte des Pentateuch
knapp zusammen: „1. Spinoza führt den negativen Beweis in einer nahezu vollständigen Geschlossenheit;
der Pentateuch kann schlechterdings nicht von Mose verfasst worden sein. 2. In den positiven Aufstellungen
ist bemerkenswert, daß Spinoza die große Spanne zwischen dem terminus a quo (Mose) und dem termnius ad
quem (Esra) aus den Texten des Pentateuchs erkennt und das langsame geschichtliche Werden und Wachsen
des vieldiskutierten biblischen Literaturkomplexes überzeugend herausstellt.“ (Kraus 1956: 56)
Vgl. TTP, c. X = Spinoza 1989a: 344-347; Spinoza 2012: 284-387.
TTP, c. XII = Spinoza 1989a: 406/407; Spinoza 2012: 442/443.
TTP, c. XII = Spinoza 1989a: 404/405; Spinoza 2012: 440/441.
61
nicht dadurch zu verdunkeln, dass man an überkommenen Offenbarungsvorstellungen mit aller Kraft festhält. Es wäre vermessen, den Wortlaut des Bibeltextes
mit der ‚ursprünglichen Offenbarung‘ zu identifizieren135. Die Schrift ist nicht
unmittelbar Quelle der Wahrheit, finden sich in ihr doch genügend Stellen, die
mit dem Stand der Naturwissenschaft unvereinbar sind. Offenbart Gott uns etwa
wissenschaftlichen Unsinn? Der Anspruch einer Verbalinspiration ist unhaltbar;
Gott ist vielmehr Urheber der Bibel „wegen der wahren Religion, die in ihr gelehrt wird, aber nicht etwa deshalb, weil er den Menschen eine bestimmte Anzahl von Büchern hätte übermitteln wollen.“ 136 . Nicht ihr Wortlaut, der geschichtlichen Veränderungen und Entstellungen unterliegt, sondern ihr Sinn ist
göttlich und nicht von menschlichen Unzulänglichkeiten depraviert 137. „God“,
so fasst Anthony Kenny die Auffassung Spinozas zusammen, „is the author of
the Bible only in the sense that its fundamental message – to love God above all
things and one’s neighbor as oneself – is the true religion, common to both Old
and New Testaments.”138 Diese dem menschlichen Geist eingeschriebene ‘wahre
Religion’ im Unterschied zu Sektenwesen und Aberglauben ist von den vielen
zeitbedingten, aber für unser Leben irrelevanten, ja schädlichen Entstellungen zu
unterscheiden, und diese ‚wahre Religion‘ beruht nicht auf problematischen
Lehrsätzen, sondern auf unserem Verhalten. „It is not what you believe but what
you do that matters.“139 Es gibt gewiss viele heutige Zeitgenossen, die in diesem
Punkt Spinoza beipflichten und religiöse Bekenntnisse ebenso wie dogmatische
Formulierungen für überflüssig halten oder ihnen misstrauen. Die simple Erkenntnis unserer Pflichten gegen andere wird als erheblich wertvoller erachtet
als die Reinheit des Bekenntnisses im Sinne christlicher Rechtgläubigkeit. Aber
auch für das Judentum entstanden Probleme: Wenn nämlich die Thora nicht
wörtliches Diktat Gottes ist, inwieweit kann sie dann noch weiterhin Verbindlichkeit beanspruchen? Geltung kommt ihr für Spinoza nur eingeschränkt zu,
insofern nämlich einige ihrer Vorschriften – insbesondere die ethischen – mit
der ‚wahren Religion‘ zusammenstimmen und andere – wie die Ritualgesetze –
eine Zeit lang von praktischem Nutzen waren, aber diese Funktion inzwischen
verloren haben, wieder andere ohnehin nur für den ‚Staat der Hebräer‘ (republica Hebraeorum) in Geltung waren und nach dessen Untergang ihre Bedeutung
135
136
137
138
139
Vgl. Strauss 1996: 320.
TTP, c. XII = Spinoza 1989a: 402/403; Spinoza 2012: 438/439; vgl. Nadler 2011: 141f. Vor diesem Hintergrund ist auch Mose primär der vorbildliche Staatsmann, nicht aber der Empfänger wörtlicher Offenbarung.
Vgl. TTP c. XII = Spinoza 1989a: 408/409; vgl. auch Kraus 1956: 57f.
Kenny 2006: 65; vgl. TTP c. XII = Spinoza 1989a: 392/393; Spinoza 2012: 428/429.
Nadler 2011: 156; vgl. dazu TTP, praefatio, Nr. 10 = Spinoza 1989a: 18/19; Spinoza 2012: 70/71
62
verloren140. Einer orthodoxen Thoraobservanz, soweit sie auf der Idee der Verbalinspiration beruht, war mit historischen Argumenten der Boden entzogen
worden. Die Hoffnung auf Lohn und die Furcht vor Strafe als Motiv, alle Gebote zu halten, entspringen einem falschen Gottesbild. Gott ist kein Despot, der
beleidigt reagiert, wenn seine Gesetze übertreten werden. Was nicht aus Einsicht
und Achtung vor der ethischen Pflicht geschieht, ist moralisch wertlos.
b) Freiheit der Diskussion und des Bekenntnisses Spinoza plädiert mit allem Nachdruck für die Freiheit des Gedankens, der Forschung und des Wortes.
Freie Diskussion der Inhalte einer Religion und ihrer fundierenden Texte ebenso
wie die freie Diskussion von politischen Fragen oder auch solchen, die unser
Wissen betreffen, muss an die Stelle von kirchlicher und staatlicher Zensur mit
ihren Zwangsmaßnahmen treten. Nur so wird verhindert, dass die unterschiedlichen Parteien ihre Vorstellungen und Interessen mit Gewalt zu behaupten versuchen und schließlich das Argument der Macht die Macht des Arguments ersetzt.
Was aber nötigte Spinoza dazu, solche Forderungen in einem Land zu erheben,
das im europäischen Vergleich erstaunlich liberal war?
„D’abbord“, antworten die Herausgeber der französischen Ausgabe des Tractatus, „parce
que cette tolérance n’est pas totale: des amis et éditeurs de Spinoza en font l’expérience ;
ensuite parce que si l’Etat est tolérant, l’Eglise ne l’est pas ; enfin parce que cette tolérance
est menacée – comme la forme même de l’Etat qui la défend. Les calvinistes les plus
strictes sont alliés aux orangistes, pour mettre en danger le régime des régents. Certes, au
moment où Spinoza écrit, le régime semble encore solide: le grand pensionnaire Jan de
Witt dirige une république marchande aux institutions en apparence stables. Deux ans plus
tard, l’invasion française, l’assassinat des frères de Witt et la prise du pouvoir par Guillaume III d’Orange en montreront la fragilité. ”141
Was sich also auf den ersten Blick als eine tolerante Republik ausnahm, erweis
sich bei näherem Hinsehen als Kampfplatz gegensätzlicher religiöser und politischer Interessen. Die Freiheit war fragil und vom konservativen Lager der Calvinisten stets infrage gestellt. Die Ermordung des liberalen Staatsmanns Jan de
Witt und seines Bruders im Jahre 1672 soll einer der wenigen Augenblicke gewesen sein, in denen Spinoza die Fassung verlor und Schritte unternehmen wollte, die ihn selbst hätten gefährden können142. Spinoza hatte zudem die Religionskriege des 16. und 17. Jahrhunderts vor Augen, welche zeigten, dass die unterschiedlichen Wahrheits- und Offenbarungsansprüche Ursache von Spaltungen
und Konflikten waren. Spinoza blickte schließlich auf das Schicksal seiner eige140
141
142
Vgl. TTP, c. XVII = Spinoza 1989a: 499-553 / Spinoza 2012: 535-585. Das achtzehnte Kapitel zieht eine
Reihe von Lehren aus der Geschichte der republica Hebraeorum, darunter jene, dass die Übertragung der
Herrschaft an Priester und Könige Freiheit, Wohlstand, Eintracht und Frieden nicht gerade beförderte.
Spinoza 2012: 4 (Introduction par Fokke Akkerman, Jacqueline Lagrée et Pierre-François Moreau).
Vgl. Nadler 2009: 304-307; Seidel 2014: 85.
63
nen Familie und Vorfahren, d.h. auf das Schicksal der von der Inquisition verfolgten Conversos zurück, – und vielleicht erinnert daran auch die eine oder andere Dorne jener Rose, die seinen Siegelring schmückt. Der überspannte Anspruch der Verfolger, über eine Reihe unbezweifelbarer Wahrheiten zu verfügen, die gegen den in Juden und Conversos gleichsam verkörperten Zweifel mit
allen Mitteln behauptet werden mussten, stand in stärkstem Widerspruch zu seinem schwachen epistemologischen Status. Um eine ähnliche Katatstrophe zu
verhindern, ist nicht nur die Ausrichtung des menschlichen Handelns streng
nach den Regeln der Vernunft erforderlich, sondern auch die weitgehende Entflechtung von Staat und Religion. Die Freiheit des Gedankens und des Wortes
war für Spinoza – im Unterschied zu Thomas Hobbes – grundlegend für das
friedliche Zusammenleben143. Die Kritik der Religion wird formuliert in einem
politischen Kontext und nicht im neutralen Raum. Dies
gilt auch für den notgedrungen zurückgezogen lebenden Spinoza. Die Macht religiöser Autoritäten hatte er
selbst kennen lernen müssen, als er aus der jüdischen
Gemeinde von Amsterdam wegen seiner Ansichten
über Schrift, Autorität und Offenbarung feierlich ausgeschlossen wurde. Seine Philosophie und die aus ihr
gezogenen Konsequenzen schienen mit dem Judentum
144
Siegel Spinozas
seiner Zeit unvereinbar und blieben nicht ohne Folgen.
Gegen Spinoza wurde 1656der am schärfsten formulierte Bann der jüdischen
Geschichte verhangen; die Gründe, welche die “Senhores of the ma’amad” leiteten, fasste Steven Nadler am Ende seiner Studie Spinoza’s Heresy zusammen:
„Spinoza denied that the Torah was literally the word of God; he claimed that the Jews
were not God’s chosen people in any deep and interesting sense; and his naturalistic understanding of God was calculated to discourage the kind of anthropomorphizing of the divine
being that is so characteristic of (and essential to) the main sectarian religions”145
Dass ausgerechnet die eigene Gemeinde, in der Bento Spinoza (so sein portugiesischer Name) geboren war und aufwuchs, dessen Eltern zu den angesehenen
Familien der Gemeinde gehörten, zu einer solchen Maßnahme schritt, zeigt, wie
alarmiert man von den Äußerungen dieses Freigeistes war, der sich allen Ermahnungen gegenüber als unzugänglich erwies. Offenbar vermochten weder
Lehrer noch Gemeindeleiter Spinozas Argumente überzeugend zu widerlegen.
143
Vgl. TTP, c. XX = Spinoza 1989a: 600-621 / Spinoza 2012: 633-653.
„Der Familienname de Espinosa leitet sich her aus dem portugiesischen Wort „espinho“, was „Dorn“ bedeutet. Das erklärt, warum Spinozas Siegel eine Rose zeigt, zusammen mit den drei Initialen BdS und der lateinischen Warnung ‚caute!‘ (Vorsicht!). Im übrigen heißt das portugiesische „espinoso“ auch „heikel, schwierig“ – nomen est omen!“ (Seidel 2014: 81)
145
Nadler 2001: 183; Seidel 2014: 86-88; Schulte 2014: 134-136; zum Text des Cherem vgl. auch Nadler 2001:
2-4; Yovel 1989a: 3-14; Goldstein 2006: 17f.; ausführlich siehe auch Nadler 2009: 116-154.
144
64
Die von ihnen möglicherweise vorgetragenen Autoritäts-Argumente waren ihm
ja gerade problematisch geworden und konnten schwerlich als triftige Einwände
gelten. Keineswegs folgte auf den Ausschluss aus der jüdischen Gemeinde wie
noch bei Uriel da Costa die Reue und die Wiederaufnahme unter einem demütigenden Ritual146; auch trat Spinoza nicht zum Christentum über, sondern blieb
im Sinne einer positiven Religion – sei sie jüdisch oder christlich – bewusst ortlos, säkular – und darin durchaus modern:
„Spinoza of course“, so Yirmiyahu Yovel, „rejected both the dualistic transcendence of the
Christians and the denaturized, transcendence-ridden this-worldliness of his fellow Jews. A
‘Marrano of reason’, he shed all historical religion (though not all religious concerns) and
offered salvation neither in Christ nor in the Law of Moses but in his own kind of religion
of reason – naturalistic, monistic, and strictly immanent.“147
Man mag sich fragen, ob Yovels knappe Charakterisierung des damaligem
Christentums bzw. Judentums nicht allzu bekannte Klischees bestätigt; zutreffend ist sicherlich, dass Spinozas ‚höchstes Gut’ mit den überlieferten Vorstellungen sowohl des Judentums als auch des Christentums kaum übereinstimmt.
Zugleich eröffnet er eine andere Perspektive, sein Ziel zu erkennen und zu finden. Leo Strauss hatte die Kritik Spinozas an den religiösen Orthodoxien – jüdische wie christliche – folgendermaßen zusammengefasst:
„Die Schrift ist Grundlage der Frömmigkeit, nur der Frömmigkeit; sie ist nicht Grundlage
der nicht auf Frömmigkeit, sondern allein auf Wahrheit gerichteten Philosophie. So sind
(auf die Schrift gegründete) Theologie und Philosophie hinsichtlich ihres Ziels und ihrer
Grundlage gänzlich verschieden, so verschieden, daß kein Übergang von der einen zur andern möglich ist. Vollends ist es absurd, wenn die Theologen, die kein anderes Ziel kennen
dürfen als die Erziehung zur Gerechtigkeit und Liebe, die Philosophen mit Haß und Zorn
verfolgen. So wird auf Grund der Schrift, im Sinn der Schrift die Philosophie von der Bevormundung durch die Theologie befreit, das die Philosophie gefährdende Vorurteil: die
Philosophie müsse der Theologie Magd-Dienste leisten, beseitigt.“148
Die Unsicherheiten, mit denen der Offenbarungsanspruch behaftet ist und die
Erfahrungen massiver Übergriffe religiöser wie staatlicher Autoritäten haben für
eine umfassende Reform von Religion, Wissenschaft und Politik weit reichende
Folgen. Der Tractatus Theologico-Politicus, beschränkt sich nicht nur auf eine
Kritik des überlieferten Offenbarungsmodells und der aus ihm abgeleiteten Geltungsansprüche, sondern zielt, wie Wolfgang Bartuschat zeigte, auf „die Freiheit
zu philosophieren in bezug auf den Staat (und auf die als Frömmigkeit zu verstehende Religion)“; womit der Staat zwar nicht die Freiheit jedweder Handlung
(es gibt Handlungen, gegen die er seine Bürger zu schützen hat), wohl aber jeder
146
147
148
Da Costas Leben endete tragisch, vgl. hierzu Goldstein 2006: 133-142.
Yovel 1989b: 169; vgl. ausführlich ders. 1989a: 40-127 sowie in knapper Form Nadler 2001: 35-37.
Strauss 1996: 159f.; vgl. TTP, praefatio = Spinoza 1989a: 18/19.
65
Meinung garantieren muss149. Die Freiheit des Geistes bleibt allerdings nicht das
Privileg einiger Wissenschaftler, sondern kommt allen Bürgern zu, denn die Gesetze „müssen sich einer Beurteilung durch den Bürger stellen, weil sie als Gesetze für alle Bürger auch universell zustimmungsfähig sein müssen“150. Diese
Freiheit kann der Staat aber nur garantieren, wenn er selbst weltanschaulich
neutral ist und keine der religiösen Gemeinschaften protegiert oder bekämpft. In
der Konsequenz bedeutet dies, dass alle Bürger innerhalb eines Staates leben,
der sich als säkular versteht und dessen allgemein verbindliche Regeln lediglich
das friedliche Zusammenleben der Menschen und die Achtung voreinander betreffen, nicht aber die Meinungen und Konfessionen.
„Es ist nicht Zweck des Staates“, heißt es prägnant, „die Menschen aus vernünftigen Wesen zu Tieren oder Automaten zu machen (bestias vel automata facere), sondern vielmehr
zu bewirken, daß ihr Geist und ihr Körper ungefährdet seine Kräfte entfalten kann, daß sie
nicht mit Zorn, Haß und Hinterlist sich bekämpfen noch feindselig gegeneinander gesinnt
sind, Der Zweck des Staates ist in Wahrheit die Freiheit (Finis ergo reipublicae revera libertas est.)“151
Auf dieses Ziel ist auch die Forderung nach Toleranz ausgerichtet; sie hat vor
allem die individuelle Freiheit im Blick, der bei Spinoza das größere Gewicht
zukommt, während die Bedingungen einer friedlichen Koexistenz der Religionsgemeinschaften bei ihm geringere Aufmerksamkeit erfahren als bei John Locke152. Die Vernunft und die Fähigkeit, von ihr Gebrauch zu machen, bilden die
Basis einer Gesellschaft freier Individuen, die auf einen Konsens verwiesen
bleibt, dem alle aufgrund der rationalen Argumente zustimmen können. Kontrolle und Einschränkung der individuellen Freiheit durch die Religionsgemeinschaften sind abzulehnen; staatlicher Zwang bleibt nur dort legitim, wo das Zusammenleben der Menschen durch bestimmte Handlungen – nicht aber durch
einzelne Meinungen – gefährdet ist. Eine Regierung gilt als gewaltsam, welche
„einem jedem die Freiheit, zu sagen und zu lehren, was er denkt, verweigert“153.
Damit sind den staatlichen Kompetenzen deutliche Grenzen gesetzt. Die Freiheit
der Meinung ist unabdingbar und – wie das Leben der Menschen insgesamt –
einzig den Regeln der Vernunft unterworfen, vor der sich alle Geltungsansprüche auszuweisen haben. Deutlich wird hier formuliert, was Hegel in seiner
Rechtsphilosophie für die moderne Subjektivität reklamiert, nämlich „nichts in
149
150
151
152
153
Bartuschat 1992: 255f. Die Freiheit zu philosophieren als leitendes Motiv des Tractatus nennt Spinoza selbst
in einem Brief vom Herbst 1665 an den Philosophen Henry Oldenburg (Spinoza 1995: 185f = Brief 30); siehe auch Seidel 2014: 91-95.
Bartuschat 1992: 258.
TTP, c. XX = Spinoza 1989a: 604/605 und ders. 2012: 636/637; vgl. Vorländer 1926: 74-76. Dies schließt
keineswegs die Möglichkeit aus, dass die Äußerung bestimmter Meinungen verboten und sanktioniert werden kann, sofern sie das Wohl anderer oder der Republik gefährdet; vgl. Chalier 2006: 237-278, hier: 240f.
Vgl. Israel 2001: 266f / Israel 2006: 155-163.
TTP, c. XX = Spinoza 1989a: 604/605 und Spinoza 2012: 636/637.
66
der Gesinnung anerkennen zu wollen, was nicht durch den Gedanken gerechtfertigt ist“154. Von „einem mystisch-quiestischen Standpunkt“, den Franz Borkenau
Spinoza unterstellt 155 , wird man also schwerlich sprechen können; Borkenau
übergeht weitgehend die Bedeutung des Theologisch-Politischen Traktats.
Die Freiheit der Meinung und des Gedankens war für Spinoza auch persönlich
von außerordentlich hoher Bedeutung, so dass er einer Karriere, die seine freie
philosophische Arbeit möglicherweise gefährdete, die ruhigere Existenz als Optiker und Hersteller von optischen Gläsern vorzog, gewährte sie doch die materielle Basis seiner geistigen Unabhängigkeit. 1673 bot ihm Louis Fabricius
(1632-1697), Dozent für Philosophie und Theologie in Heidelberg eine Professur an der berühmten Universität an, die bemüht war, führende Wissenschaftler
zu gewinnen. Fabricius versprach Spinoza weitgehende Freiheit zu philosophieren, mit der einzigen Einschränkung, dass er diese Freiheit nicht dazu missbrauche, das Christentum öffentlich anzugreifen156. Spinoza lehnte in seinem sehr
höflich gehaltenen Antwortschreiben ab. Wenn er je den Wunsch nach einer
Universitätsprofessur hätte, so wäre er durch die ihm angebotene erfüllt worden.
Doch kommt er nach reiflicher Überlegung zu einem negativen Entschluss: Erstens hindere ihn der akademische Unterricht am Fortgang seiner philosophischen Studien; zweitens – und dies war wohl der entscheidende Grund seiner
Ablehnung – waren ihm die Grenzen der Freiheit zu philosophieren nicht recht
klar: Wann und mit welcher Äußerung griff man das Christentum an, was war
man bereit zu tolerieren? Dem Risiko, seine Freiheit zu philosophieren möglicherweise einzubüßen und in Konflikte mit der etablierten Religion zu geraten, zog
Spinoza den Status des Privatgelehrten vor157. Es war weniger das Misstrauen in
die Absichten des Fabricius und seines Landesherrn, Kurfürst Karl Ludwig (ein
Bruder der Königin Christine von Schweden) als vielmehr in die Toleranz des
Christentums, seiner Anhänger und Priester. Deren Offenheit für Argumente
sollte man nicht überschätzen, wie Spinoza auch durch die Reaktionen auf seinen Theologisch-politischen Traktat belehrt wurde.
Für die Philosophie in den Dezennien vor der Französischen Revolution bis zu
Beginn des 19. Jahrhunderts blieb Spinoza von Bedeutung. Damit sind nicht nur
einzelne Aspekte seines Systems gemeint, sondern eine bestimmte intellektuelle
Position, die Jonathan Israel folgendermaßen charakterisiert:
„In essence it is the acceptance of a one-substance metaphysics ruling out all teleology, divine providence, miracles, and revelation, along with spirits separate from bodies and im154
155
156
157
Hegel 1999a: 17.
Borkenau 1934: 320 und 321. Auch wenn Spinozas Ideal nicht die technische-ökonomisch Eroberung der
Natur war, so folgt daraus doch keineswegs ein (unpolitischer) Rückzug in die Innerlichkeit.
Vgl. Spinoza 1995: 249 (Brief 47).
Ebd.: 250f (Brief 48).
67
mortality of the soul, and denying that the moral values are divinely delivered … Logically, ‘Spinozism’ always went together with the idea that this man-made morality should
provide the basic for legal and political legitimacy – and hence that equality is the first
principle of a truly legitimate politics. Always present also is Spinoza’s concomitant advocacy of freedom of thought.”158
Diese Auffassung wirkt bis heute nach; einzelne Elemente – wie die strikte
Trennung von Religion und Staat oder das Postulat der Egalität – sind aber auch
relevant für heutige Positionen, die nicht mehr in jener polemischen Konfrontation von Meinungsfreiheit und ancien régime stehen wie im 17. und 18. Jahrhundert, und nicht zuletzt für die Grundlegung und das Gelingen moderner demokratischer, pluralistischer Gesellschaften, wie George Levine ausführt:
„On this account, a truly democratic state can’t be Christian (or any of the Christian subsets or alternatives, like Roman Catholic, or Jewish, or Islamic), but must be ready to allow
Christianity, or Judaism, or Islam, its space within the community. There must be what
Charles Taylor calls a ‘theory of social order . . . that transforms our social imaginary.’
Which is to say that a truly democratic state must be secular, whatever any individual inside the state believes about the transcendent and its relation to our ordinary lives.“159
„Die Neutralität des Staates in Fragen der Religion“, so auch George Augustin,
„und die Neutralität der Religion dem Staat gegenüber sind die Grundvoraussetzung der Religionsfreiheit.“ 160 Das bedeutet nicht, dass Religion gänzlich ins
Bereich der Innerlichkeit verbannt wird und so aus dem öffentlichen Bild verschwindet, wohl aber gibt es keine privilegierte Stellung einer bestimmten Religion oder eines Bekenntnisses. Was modernen demokratischen Staatstheorien
selbstverständlich ist, war im 17. Jahrhundert für viele Leser des Tractatus eine
Provokation, „‘a book forged in hell‘, written by the devil himself“161. Der kritische Zugang zu den Offenbarungsdokumenten war in dieses Urteil eingeschlossen, ja es galt ihm vor allem selbst bei liberaleren Zeitgenossen.
c) Deus sive natura: Der Gott Spinozas Aber nicht nur die Bibelkritik und
die politische Theorie des Tractatus, sondern auch die metaphysischen Grundlagen der Ethik waren gleich nach dem (postumen) Erscheinen des Werks Gegenstand heftiger philosophischer und theologischer Kontroversen. Die Konstruktion seines Werks more geometrico, dessen Fundierung in der Idee einer absoluten Substanz, bot der theologischen Rezeption erhebliche Schwierigkeiten, da
sie mit dem tradierten Gottesbegriff, den die Theologie zu entfalten hatte, hart
kollidierte. Um dies zu verstehen, ist es sinnvoll, sich das Spezifikum des biblisch geprägten Monotheismus in Erinnerung zu rufen. Zunächst ist weniger sei158
159
160
161
Israel 2011: 11; ausführlich vgl. ebd.: 633-758.
Levine 2011: 3.
Augustin 2014: 151.
Nadler 2011: XI.
68
ne komplexe Genese und Fortentwicklung von Interesse als das Ergebnis dieses
religionsgeschichtlichen Prozesses.
„A monotheist religion”, definiert der amerikanische Religionshistoriker Jacob Neusner,
„maintains that there is one God alone, who is just and merciful (thus ‚ethical monotheism’) and who created the world and rules. Monotheism is not a matter of arithmetic,
counting one God rather than many gods. Its view of God is that God is transcendent, outside the natural world and in change of it: wholly other. How God, different from humanity, engages with humanity has to be explained by the monotheist religions.”162
Gott ist also einzig, gerecht und gnädig, Schöpfer und Herrscher der Welt, zugleich jenseitig (der ‚ganz Andere‘), aber in aktiver Beziehung zur Welt und
zum Menschen; er ist, so ließe sich modern formulieren, interessiert. Zu dieser
Beziehung gehört auch die Offenbarung Gottes, seine (Selbst-) Mitteilung an die
Menschen. Mit der Offenbarung und ihrer bleibenden Aktualität verbindet sich
auch die Frage nach der Nähe, ja Immanenz Gottes unter uneingeschränkter
Wahrung seiner Transzendenz. Von der Einwohnung Gottes inmitten seines
Volkes (Schekhinah) über Seine besondere Nähe im Koran bis zur – für Juden
wie Muslime schwer nachvollziehbaren – christlichen Lehre von der Inkarnation
des Wortes reicht hier das Spektrum der Antworten. Mögen Judentum, Christentum und Islam darüber uneins sein, in welchen Formen und Gestalten sich diese
Offenbarung konkretisiere und ob nach Mose, d.h. nach der Gabe der Thora
noch eine (gar endgültige) Offenbarung Gottes ergangen sei, so bleiben die genannten Merkmale doch für alle drei Religionen wesentlich. Dabei tritt auch in
rabbinischer Lesart die Offenbarung nicht notwendig in Gegensatz zur vernünftigen Erkenntnis, ist die Thora doch den Menschen überantwortet; sie vergegenwärtigt sich im Modus fortschreitender Deutung und Aktualisierung163.
All das hat, zusammen mit den von Neusner aufgezählten Kennzeichen Gottes
in Spinozas Philosophie keinen Platz oder erfährt eine entscheidende Modifikation, was den zeitgenössischen Lesern keineswegs entging. Gewiss, auch für
Spinoza bleibt Gott nicht schlechthin unerkennbar im Jenseits, aber er teilt sich
primär der Vernunft mit, und zwar nicht durch supranaturale Akte, sondern
durch die natürliche Erkenntnis. Und in der Tat ist Spinozas Philosophie die
konsequente und kritische Auflösung jeglicher Form des Supranaturalismus. Im
Theologisch-Politischen Traktat vollzieht sich dies vor allem auf historischkritischer Basis mit Blick auf die politischen Konsequenzen, in der Ethik führt
Spinoza den Gedanken genauer aus, und zwar in einer Weise, die, wie Anthony
Kenny konstatiert, „more adventurous“ ist als bei Descartes und Malebranche164.
162
163
164
Neusner 2002: 3; Hervorhebung durch Fettdruck: R.B.
Vgl. ebd.: 20-22.
Kenny 2006: 61.
69
Mit dem Gottesbegriff, wie er in der Ethik definiert wird, verlässt Spinoza die
Tradition der drei monotheistischen Offenbarungsreligionen. Gott ist zwar der
eine und einzige, jedoch nicht mehr mit personalen Merkmalen versehen, sondern vielmehr die unendliche Substanz und die immanente Ursache von Vernunft und Körperwelt; es gibt außerhalb Gottes keine selbstständige Substanz:
„Quicquid est, in Deo est, et nihil sine Deo esse, neque concipi potest. / Alles,
was ist, ist in Gott, und nichts kann ohne Gott seyn oder begriffen werden.“165
Substanz meint hier nicht das Substrat einer den Wandlungen und zufälligen
Differenzierungen unterworfenen Welt der Erscheinungen, nicht bloß dasjenige
also, das bei wechselnden Akzidenzien sich selbst gleich bleibt, sondern die Totalität der geistigen und körperlichen Welt. „Unter Substanz“, heißt es in der
dritten Definition gleich zu Beginn der Ethik, „verstehe ich das, was in sich ist
und aus sich begriffen wird (id, quod in se est, et per se concipitur); das heisst,
das, dessen Begriff nicht des Begriffs eines andern Dings bedarf, um daraus gebildet werden zu müssen.“ In der sechsten Definition identifiziert Spinoza Gott
mit der so verstandenen Substanz: „Unter Gott verstehe ich das schlechthin unendlich Seyende (ens absolute infinitum), d.h. die Substanz, die aus unendlichen
Attributen besteht, von denen jedes ein ewiges und unendliches Wesen ausdrückt.“166 Unter ‚Attributen‘ ist dasjenige zu verstehen, das als zum Wesen der
Substanz gehörend erkannt wird, während die Modi die Einwirkungen (affectiones) der Substanz auf ein Anderes betreffen, wobei nicht zu vergessen ist, dass
dieses ‚Andere‘ nicht schlechthin von der Substanz differiert, da es ja per definitionem nur eine Substanz, die göttliche, gibt167. Sie existiert notwendig, d.h., ihr
Wesen schließt ihre Existenz ein, da anderenfalls Gott – die unendliche Substanz
– endlich wäre und ihr Grund außerhalb ihrer selbst läge, was mit dem Begriff
Gottes unvereinbar ist 168 . Als unbedingte (und darum einzige) Substanz, als
causa sui169 ist, wie schon angedeutet, Gott nicht der Welt jenseitig, sondern ihr
immanent; eine scharfe Trennung von Transzendenz und Immanenz ist für
Spinoza sinnlos; zu unterscheiden ist lediglich Gott als schöpferische Macht der
Natur – natura naturans – von den existierenden Gebilden der Natur – natura
naturata –, ohne dass sich eine scharfe ontologische Trennung von Gott und Natur behaupten ließe170. Damit entfernt sich Spinoza weit von jenem Gottesbild,
165
166
167
168
169
170
Ebd.: pars I, prop. XV =Spinoza 1989b: 106/107; vgl. auch Spinozas Brief an den schon erwähnten Lodewijk
Meyer (April 1663), in: Spinoza 1995: 102f = Brief 12.
Zitate: Ethica, pars I, def. 3 et 6 = Spinoza 1989b: 86/87.
Vgl. ebd., ferner Melamed 2012: 98-102.
Vgl. Ethica, pars I, prop. 11 = Spinoza 1989b: 98-103.
Vgl. Ethica, pars I, def. 1 = Spinoza 1989b: 86/87; vgl. auch Melamed 2012: 84-98.
Natura naturans: „id, quod in se est, et per se concipitur, ... Deus, quatenus, ut causa libera, consideratur“;
natura naturata: „id omne, quod ex necessitate Dei naturae, sive uniuscuiusque Dei attributorum sequitur“
(Ethica, cap. I, prop. XXIX, Scholium = Spinoza 1989b:132/133; vgl. Israel 2001: 162, 230).
70
das die Bibel und vor allem die nachbiblischen Traditionen bis an die Schwelle
zur Neuzeit entworfen haben. Auch sie kennen zwar eine Immanenz Gottes,
doch hebt diese Seine Transzendenz nicht etwa auf, sondern unterstreicht sie
noch. Demgegenüber ist für Spinoza Gott die immanente Ursache sowohl des
Denkens als auch der Körperwelt (res extensa); beide sind entweder Attribute
oder Modi Gottes, der die einzige Substanz ist. Alle möglichen Gegenstände des
Wissens gründen in einer einzigen göttlichen Substanz, wobei ihr ‚Grund‘ nicht
im Sinne der Schöpfung einer nichtgöttlichen Wirklichkeit zu verstehen ist. Die
in sich differenzierte Welt bezeichnet vielmehr die Modi der Substanz. Darum
kann es auch keine Dualität selbstständiger Substanzen (res cogitans und res
extensa) wie bei Descartes171, sondern nur die einzige Substanz geben mit einer
unendlichen Zahl von Modi und Attributen, doch nur zwei Attribute öffnen sich
unserer Erkenntnis: Denken und Ausdehnung172. Gott kennt auch keine Leidenschaften wie Menschen; Zorn, Hass oder Zuneigung sind Attribute, die nichts
mit Gott zu tun haben, sondern nur Projektionen der Unwissenden sind173. Entsprechend gibt es auch weder im Diesseits noch in einem Jenseits Lohn oder
Strafe, die von Gott wie von einem menschlichen Richter verhangen werden.
Gott handelt vielmehr „nach den Gesetzen seiner Natur“, folglich gibt es in der
Natur nichts Zufälliges, sondern alles ist determiniert eben durch die Natur Gottes, entsprechend gibt es in und für Gott, keinen freien Willen, der so oder auch
anders entschiede, sondern nur strenge Notwendigkeit174. Nichts geschieht zufällig, aus einer Laune Gottes oder einer Eigengesetzlichkeit der Modi heraus, sondern notwendig, alles ist „aus der Nothwendigkeit der göttlichen Natur bestimmt
(omnia ex necessitate divinae naturae determinata sunt), nicht nur da zu seyn,
sondern auch auf eine gewisse Weise da zu seyn und zu wirken, und es giebt
nichts Zufälliges“175. Entsprechend ist auch eine dem menschlichen Geist nachgebildete Teleologie unangemessen; es gehört zu den Vorurteilen, von denen
wir uns verabschieden müssen, „dass Gott selbst Alles zu einem gewissen bestimmten Zweck lenke (ipsum Deum omnia ad certum aliquem finem dirigere)“,
als wäre alles auf den Menschen hin geschaffen und dieser wiederum zur Verehrung Gottes176. Unsere endliche Praxis, die sich an Zwecken orientiert, lässt sich
nicht einfach in das Absolute projizieren. Gott ist kein Handwerksmeister, der
171
172
173
174
175
176
Denkendes ‚Ding‘ (Subjekt) und ausgedehntes Ding (Körperwelt); vgl. hierzu die meditationes II und V, in:
Descartes 1996c: 40-61; 114-161.
Vgl. Ethica, pars II, prop, 1 et 2 = Spinoza 1989b: 162-165. In der Tat hat Spinoza gegenüber Descartes „die
Logik ganz für sich“ (so Borkenau 1934: 319), und eine Kritik müsste beim Substanzbegriff, genauer: bei
seinen dogmatischen (vgl. Cassirer 1995b: 102-125) und identitätsphilosophischen Prämissen, ansetzen.
Vgl. Ethica, pars I, prop. 15, scholium = Spinoza 1989b: 106-113.
Vgl. Ethica, pars I, prop. 17, 29, 32 = Spinoza 1989b: 114-135.
Ethica, pars I, prop. 29, demonstratio = Spinoza 1989b: 132/133.
Ethica, pars I, Appendix = Spinoza 1989b: 144/145.
71
schrittweise ein Werkstück fertigstellt und es schließlich mit etwas Besonderem
– dem Menschen – krönt. So ist also lange vor Darwin ein Pfeiler der Schöpfungstheologie ins Wanken geraten. Wenn alle Anthropomorphismen von Gott
ferngehalten werden müssen, so sind auch Offenbarung und Vorsehung keine
Kategorien, unter denen die Natur oder die menschliche Geschichte betrachtet
werden können, beinhalten sie doch eine Teleologie im Sinne einer causa finalis
alles Seienden. Der biblische Glaube, der die Differenz von Gott und Welt festhielt, richtete sich nach der beschränkten Fassungskraft des einfachen Volkes
und ist für dieses durchaus nützlich, lehnt er doch den Aberglauben ab, schärft
die Verehrung des einzigen Gottes und zentrale moralische Imperative ein. Wer
jedoch nach exakter Erkenntnis und größtmöglicher Gewissheit strebt, ist, soweit sein intellektuelles Vermögen dies zulässt, auf wissenschaftliches Denken
verwiesen, das Spinoza vom Glauben, den er vor allem als ein praktisches Vermögen betrachtet, streng unterscheidet. Die Vernunft allein gelangt zu der Einsicht, dass „alles, was geschieht, nach einer ewigen Ordnung und nach gewissen
Naturgesetzen (secundum aeternum ordinem, et secundum certas Naturae leges)
geschehe“177, womit im übrigen so etwas wie ‚Wunder‘ ausgeschlossen sind. Sie
gehören den für die Menge bestimmten biblischen Erzählungen an, nicht der
klaren und deutlichen Erkenntnis. Fast scheint es, als sollte Religion hier – wie
später bei Feuerbach und Bloch – beerbt werden: Dasjenige, was die religiösen
Überlieferungen nur dunkel und verworren ausdrücken, wird zu wissenschaftlicher Klarheit gebracht und von abergläubischen ‚Schlacken’ gereinigt. Dass die
Bibel sich an die ungebildeten Massen wendet und ihren Verständnishorizont
berücksichtigt, „is the standard view of medieval Islamic and Jewish philosophy“178. Mehr noch: Bereits die rationalistische mittelalterliche islamische und
jüdische Philosophie kehrte die Position der Magd (ancilla) um und wies der
Offenbarungsreligion die dienende Aufgabe zu. Angemessen konnte demnach
nur die Philosophie von Gott und seiner Relation zum Menschen sprechen; die
biblischen Texte mit ihren Anthropomorphismen müssen darum allegorisiert
werden; eine Methode, die Spinoza in den frühen Schriften noch billigte, aber
mit Blick auf seine historisch-kritische Lektüre der Bibel im TheologischPolitischen Traktat verwirft, um später nochmals auf sie zurückzukommen179.
Gegen eine christliche Dogmatik als Schlüssel der Schrift beruft sich Spinoza
auf den hermeneutischen Vorrang des Literalsinns; gegen den Versuch, die Philosophie der Autorität der Schrift zu unterwerfen verweist Spinoza (wie schon
Lodewijk Meyer) darauf, dass die Schrift eine Reihe von Widersprüchen und
177
178
179
Spinoza, Tractatus de intellectus emendatione = Spinoza 1989b: 12/13.
Fraenkel 2008: 2.
Vgl. ebd.: 13-41, 45-47.
72
wissenschaftlichen Ungereimtheiten enthält, die rein schriftimmanent und mithilfe des überlieferten Offenbarungsmodell nicht zu lösen sind 180. Die Schrift
kann nur in dem Sinne als Wort Gottes bezeichnen werden, dass sie die Grundlagen der wahren Religion enthält, die aber nicht einfach mit dem Wortlaut der
Schrift identisch sind; Intentionen, die nicht völlig spannungsfrei zueinander
stehen. Jedenfalls sollte man den im fünfzehnten Kapitel des Tractatus verkündeten ‚Westfälischen Frieden‘ zwischen Philosophie/Vernunft und Religion/Glaube mit ihrer je eigenen ‚regio‘ nicht allzu ernst zu nehmen 181. Die biblischen Schriften und der auf ihnen gründende Glaube wird am Ende des Kapitels
mit großem Respekt behandelt, aber er ist letztlich der Weg der breiten Massen,
die unter den gegebenen politischen Verhältnissen nicht in der Lage sind, ihr
Leben von der Vernunft leiten zu lassen, aber Anteil an der ‚wahren Religion‘
haben sollen. Wer jedoch zum richtigen Vernunftgebrauch fähig ist, bedarf im
Grunde des Glaubens nicht. Nicht nur der Tractatus, sondern auch die Ethik
stellt eine kritische Weiterführung der Intentionen Lodewijk Meyers dar, indem
hier sowohl die philologische Analyse geschärft wurde als auch die These, dass
nur die Philosophie eine angemessene Auslegung der Schrift biete, eine strenge
logische und metaphysische Grundlegung erfuhr, die freilich über Descartes
hinausging. Aber gerade Spinozas Versuch, die Selbstständigkeit, ja den Primat
der Philosophie gegenüber Schrift und Theologie zu behaupten, führt in eine
größere Nähe zu Maimonides als ihm bewusst gewesen sein mochte. Damit widerspricht Fraenkel Jonathan Israels Darstellung, die Philosophie Spinozas habe
mit der gesamten mittelalterlichen Tradition radikal gebrochen182.
Die These, dass Spinozas Bibelhermeneutik und Gottesbegriff gleichsam die
radikaliserte Form des mittelalterlichen Rationalismus eines Maimonides (Rabbi
Moshe ben Maimon, RaMBaM, 1138-1204) seien, ist verlockend, aber nicht über
jeden Zweifel erhaben. Spinoza ist an einem Ausgleich zwischen philosophischer Argumentation und Erkenntnis more gerometrico, wie sie der Ethik zugrunde liegt, einerseits und der narrativ verfahrenden Schrift mit ihrer bildhaften
Sprache andererseizts im Grunde nicht interessiert. Die Mykvbn, die Verwirrten,
haben sich an den Regeln eines ungegängelten Denkens zu orientieren und müssen sich im Konfliktfall gegen die Autorität der Tradition entscheiden, wenn sie
zur Klarheit gelangen wollen. Dem Gedanken, dass die Thora, wie Maimonides
in Anschluss an den Talmud versichert, die Sprache der Menschen spreche,
180
181
182
Vgl. auch Strauss 1988: 197.
Vgl. TTP, c. XV = Spinoza 1989a: 445-465 / Spinoza 2012: 482-503.
Vgl. Fraenkel 2008: 48f und schon Joël 1870: 9-30. Auf die Motive, die nach Fraenkel Spinoza in seinem
Wechsel zwischen einer historisch-kritischen und systematischen-allegorischen Bibellektüre leiteten, kann
hier nicht näher eingegangen werden.
73
nämlich jener Menschen, die der philosophischen Reflexion nicht fähig sind183,
hätte auch Spinoza zugestimmt. Maimonides lehnt bekanntlich jede Übetragung
eines unserer Erfahrungswelt entnomenen Attributes auf Gott entschieden ab
und gelangt so nicht nur zu einer konsquenten negativen Theologie, sondern ist
auch zu einer Neuinterpretation der bildhaften Sprache der Schrift genötigt184.
So mag ein derart ‚didaktisch reduzierter Text‘auf indirekte Weise Wahrheiten
ausdrücken und seine Meriten haben – schließlich begleitete er das Judentum
durch viele Jahrhunderte – doch ist er philosophisch kaum relevant. An vielen
Stellen zögert Spinoza denn auch nicht, die an einem mehrfachen Schriftsinn
orientierte Exegese des Maimonides einer strengen Kritik zu unterziehen185.
Joshua Parens betont denn auch in Übereinstimmung mit Leo Strauss und anders
als Shlomo Pines die Modernität und Eigenständigkeit Spinozas gegenüber
Maimonides186. Dies wird prima facie deutlich, wenn Spinoza mit Nachdruck
die uneingeschränkte Meinungsfreiheit sowohl für den Glauben als auch für das
wissenschaftliche Denken einfordert: für den Glauben, weil er keine gesicherte
Erkenntnis beanspruchen darf und geradezu terroristisch wird, wenn er mangelnde Überzeugungskraft durch Zwang ersetzt; für die Wissenschaft, weil sie
nur durch ein selbstbestimmtes, ungegängeltes Denken zu sicheren Resultaten
gelangen kann. Wissenschaft – hier rekurriert Spinoza auf die rationalistische
Erkenntnistheorie René Descartes’ (1596-1650) – gründet sich auf unmittelbar
einsichtigen Prinzipien, die also nicht durch die unsichere Erfahrung, sondern
aus dem Denken selbst gewonnen werden, und schreitet von verworrenen Vorstellungen zu klaren und deutlichen voran. Die Erkenntnis legt sich also eine
strenge Disziplin auf – aber aus Freiheit, während Willkür sich mit dem Mantel
der Freiheit umhüllt, aber in die Abhängigkeit vom Zufall und von den eigenen
unerhellten Capricen führt; man wird zu seinem eigenen Tyrann. Der einem
Maimonides fremde pantheistische Gottesbegriff liefert die metaphysische
Grundlage nicht nur für eine durchgehende, alle Bereiche rational durchdringende immanente wissenschaftliche Erklärung der Welt sondern auch die Basis der
Ethik. Anfang und Ziel der Ethik sind identitätsphilosophisch begründet, was
aber eine differenzierte Sicht auf die Modi nicht ausschließt. Wie Gott causa sui
ist, sich selbst erzeugt und erhält, so sind in analogem Sinne auch die Modi be183
184
185
186
Vgl. Maimonides, More I,26 = Maimonides 1972a: 74 / 1963: 56 / 2012: 133. Maimonides zitiert hier den
Babylonischen Talmud, Ber 31b / Jeb 71a / Bava Mezia 31b, vgl. auch Chalier 2006: 27-62.
Vgl. Maimonides More I, 50 bis 59 = Maimonides 1972a: 153-213 / 1963: 111-143 / 2012: 216-286; vgl.
auch Leaman 1997, 18-38.
Vgl. etwa TTP c. VII, 20 u. 21 = Spinoza 1989a: 266-273 / Spinoza 2012: 312-321. Mit Recht spricht Catherine Chalier davon dass Spinoza die Thesen seines Vorgängers mit großer Strenge kritisiere, ja mit Ironie und
Verachtung verurteile (vgl. Chalier 2006: 7).
Vgl. Parens 2012: 1-18. 187-191; Strauss 1996: 195-247.
74
strebt, ihre Natur zu realisieren und sich selbst zu erhalten 187. Der Mensch, sofern er Teil der im Sinne Spinozas verstandenen Natur ist, ist auch Teil ihrer
Ordnung, d.h. es ist „unmöglich, dass der Mensch nur Veränderungen erleiden
sollte, deren adäquate Ursache er selbst wäre“188. Er ist also nicht schlechthin
frei, sondern unterliegt auch äußeren Ursachen, Leidenschaften und Affekten:
letztere sind zwar bezogen auf das Interesse, sich selbst zu erhalten, weisen aber
nicht notwendig in dieselbe Richtung, sondern können den Menschen „nach verschiedenen Seiten hinziehen“189 – bis zu dem Fall, dass er zum Sklaven seiner
Affekte wird. ‚Gut‘ und ‚böse‘ sind nun in einem ersten Schritt bezogen auf den
Nutzen für die Selbsterhaltung und keine Eigenschaft von Dingen. Die Tugend
ist die Fähigkeit, das Bestreben, sich zu erhalten, auch zu realisieren; „tugendhaft handeln ist nichts Anderes in uns als nach der Leitung der Vernunft (ex ductu rationis) handeln, leben, sein Seyn erhalten (diese drei bedeuten dasselbe) aus
dem Grunde, dass man seinen Nutzen sucht.“190 Entsprechend gibt es keine Tugend, die dem Streben nach Selbsterhaltung vorausgeht. Für Spinoza ist dieses
Streben nichts moralisch Verwerfliches, denn die Tendenz, in ihrem Sein zu
verharren, ist Dingen und Lebewesen – den Menschen eingeschlossen – von ihrer Natur aus eigen. Das menschliche Streben nach Selbsterhaltung ist letztlich
nur eine Konkretion des im dritten Teil der Ethik entwickelten Begriffs der
Selbstbeharrung 191. Eine Ethik, welche gegen die Natur des Menschen entwickelt würde, wäre zur Ohnmacht verurteilt und besäße keine Möglichkeit, unser
Handeln zu leiten 192 . In diesem Kontext formuliert Spinoza jenen berühmtberüchtigten Satz, der von der Dialektik der Aufklärung bis zu Levinas Widerspruch provozierte: „Conatus sese conservandi primum, et unicum virtutis est
fundamentum / Das Selbsterhaltungsstreben ist die erste und einzige Grundlage
der Tugend.“193 Es muss die Grundlage der Tugend bilden, da es in unserer Natur verankert ist, einer Natur allerdings, zu der auch Vernunft und Erkenntnis
gehören. Das Selbsterhaltungsstreben ist nicht blind, sondern ein bewusstes, das
vom menschlichen Geist weiter bestimmt und von der Vernunft kontrolliert
wird, denn nach ihrer Leitung sollen wir handeln, wenn wir nicht Opfer der unterschiedlichen Affekte werden wollen. Das ihrem Wesen entsprechende Ziel
der Vernunft aber ist die Erkenntnis und für den Geist ist das höchste Gut
187
188
189
190
191
192
193
Man wird von ‚Analogie‘, nicht von Deduktion sprechen müssen, da, wie Wolfgang Bartuschat zeigt, das
Konzept der Selbsterhaltung endlicher Modi im Unterschied zum Wesen Gottes „den zeitlichen Bezug“ enthält (vgl. Bartuschat 1992: 133f).
Ethica, pars IV, prop. 4 = Spinoza 1989b: 394/395.
Ethica, pars IV, definitio 5 = Spinoza 1989b: 388/389.
Ethica, pars IV, prop. 24 = Spinoza 1989b: 416/417.
Vgl. Ethica, pars III, prop. 6-8 = Spinoza 1989b: 272-277.
Vgl. auch Bartuschat 1992: 179f.
Ethica pars IV, prop. 22, corol.= Spinoza 1989b: 416/417.
75
(summum bonum) „die Erkenntnis Gottes (Dei cognitio), und die höchste Tugend des Geistes ist, Gott zu erkennen“194. Diese Erkenntnis führt durch die Erkenntnis der Dinge und die Kontrolle der Affekte hindurch: „Je mehr wir die
einzelnen Dinge“ – die Modi Gottes also – „erkennen, um so mehr erkennen wir
Gott“, und so ist die verstandesmäßige Liebe zu Gott (amor dei intellectualis)
die einzig adäquate195. Der Vernunft als Organon dieser Erkenntnis stehen aber
unsere ungeordneten Leidenschaften entgegen; es kommt also darauf an, diese
Leidenschaften zu disziplinieren. Was uns trennt, ja zu den stärksten Gegensätzen und Konflikten zwischen den Menschen führt, sind die Leidenschaften –
auch die religiösen; was uns von Natur aus verbindet, ist die Vernunft, und nur
soweit die Menschen nach ihrer Leitung leben, stimmen sie „auch unter sich …
nothwendig immer überein“196. Weder sola gratia, sola fide, sola scriptura (die
leidenschaftlichen Streitpunkte zwischen Katholiken und Protestanten), sondern
sola ratione sollen die Menschen ihr Leben führen. Die in unserer (vernünftigen) Natur begründete Erkenntnis führt nicht nur zu einer Kontrolle der Leidenschaften, sondern auch zu einer gewaltfreien Übereinstimmung der Menschen,
die nicht als bloße Mittel zur Machtsteigerung einzelner, noch zu Mitteln religiösen Eifers missbraucht werden dürfen 197 . Nur ein Handeln, das der Leitung
durch die Vernunft entspringt, kann in einem emphatischen Sinne (als Übereinstimmung meines Strebens nach Selbsterhaltung mit dem Wohlergehen und der
Selbstbestimmung anderer) ‚gut‘ genannt werden und ist verbunden mit einem
Bewusstsein Gottes als dem höchsten Gut. Allein dies kann wahrhaft Religion
genannt werden, während alle religiösen Formen, welche Quelle der Leidenschaften und Unduldsamkeit sind, sich von Gott entfernen und keineswegs auf
Frömmigkeit beruhen. „Die Begierde aber, gut zu handeln (cupiditatem autem
bene faciendi), welche daraus hervorgeht, dass wir nach der Leitung der Vernunft leben (ex rationis ductu vivimus), nenne ich Frömmigkeit (pietatem
voco).“198 Nur die Ausrichtung auf das Gute, nicht aber der Blick auf Lohn oder
Strafe im Jenseits oder die Erwartung, von Gott geliebt zu werden, qualifiziert
unsere Praxis.
Dem hätte auch Maimonides zustimmen können. Das Ziel des Menschen ist die
Liebe zu Gott, die Entwicklung seines Intellekts und der Erwerb von Wissen
und Wahrheit, die auch unser Handeln leiten. Dem dienen auch die Gebote der
Thora – jene eingeschlossen, die nicht befriedigend begründet werden können;
194
195
196
197
198
Ethica, pars IV, prop. 28 = Spinoza 1989b: 420/421. Zum conatus, seinen Implikationen, dem Zielen der
Vernunft und zur Differenz von Maimonides in diesen Fragen vgl. Parens 2012: 19-50.
Ethica, pars V, prop. 25 und prop. 33 = Spinoza 1989b: 536/37 und 542/43; vgl. Bartuschat 1992: 345-354.
Ethica, pars IV, prop. 35 = Spinoza 1989b: 428/429.
Vgl. Ethica, pars IV, prop. 37 = Spinoza 1989b: 432-441; Bartuschat 1992: 200f.
Ethica, pars IV. prop. 37, scholium = Spinoza 1989b: 434/435.
76
sie alle haben einen pädagogischen Zweck. „Wir haben ja“, schreibt Maimonides, „vielfach gezeigt, daß die Liebe zu Gott der Erkenntnis Gottes entspricht.
Aber auf die Liebe soll der Dienst folgen, auf den schon unsere Lehrer hingewiesen haben mit den Worten: ‚Dies ist der Gottesdienst mit dem Herzen‘
[bTa’nit 2a, R.B.], Nach meinem Dafürhalten besteht er darin, daß der Mensch
sein ganzes Denken dem ersten Gedachten [Gott, R.B.] zuwende und sich nach
Möglichkeit ausschließlich mit ihm befasse“199. Die intellektuelle Liebe zu Gott,
welche dahin gelangte, „den Beweis für alles das zu kennen, wofür es einen
Beweis gibt, und der hinsichtlich der göttlichen Dinge das Wesen von allem
kennt, dessen Wesen zu erkennen möglich ist“, und die ihr „ganzes Denken auf
das Göttliche richtet, ganz Gott ergeben ist“, kennzeichnet die nur wenigen erreichbare Stufe der Prophetie200. Schon die Einschränkung, die in dieser Formulierung vorgenommen wurde, bedeutet auch für die höchste Stufe, dass wir Gottes Wesen niemals erkennen können, seine so genannten Attribute nur Wirkungen seien und Gott von der erscheinenden Körperwelt streng zu trennen ist201.
Demgegenüber hebt Spinoza diese metaphysische Differenz auf der Basis seines
Substanzbegriffs wieder auf; die strenge monotheistische Unterscheidung von
Gott und Welt wird hinfällig. Zwischen der Natur und Gott gibt es keine letzte
und unaufhebbare Differenz (deus sive natura); Spinozas Gott besitzt weder personale Züge, noch einen freien Willen; Gottes Wille ist, wie erinnerlich, nicht
freie, sondern notwendige Ursache („non causa libera, sed tantium necessaria“).
Ihm einen freien Willen zuzuschreiben heißt, etwas aus unseren Vorstellungen
in Gott zu projizieren und ihn mit allen endlichen Eigenschaften auszustatten,
die eher den Menschen kennzeichnen202. Gott ist zwar die Ursache des Seienden,
dessen Gesetze notwendig aus ihm hervorgehen, aber Hervorgang bedeutet eben
nicht Schöpfung. Das gilt auch für den Menschen: Insofern der menschliche
Geist partizipiert an den wahren Ideen und sich auf die allgemeine Erkenntnis
erstreckt, kann „er mit dem Körper nicht gänzlich vernichtet werden, sondern es
bleibt Etwas von ihm übrig (sed ejus aliquid remanet, quod aeternum est)“, wie
es in der Ethik vage heißt203. Spinoza konkretisiert diesen Gedanken in der weiteren Argumentation, doch folgt aus all dem nicht, dass die individuelle Seele
unsterblich sei; „unser Geist ist ein ewiger Modus des Attributs Denken, der ins
Unendliche von anderen ewigen Modi desselben Attributs bestimmt ist, die zu199
200
201
202
203
Maimonides Moreh III,51 = Maimonides 1972c: 345 / 1963: 621 / 2012: 1194.
Moreh III,51 = Maimonides 1972c: 343 / 1963: 620 / 2012: 1192f. „The goal of a human being“, fasst Moshe
Halbertal die Sicht des Maimonides zusammen, „is to develop the intellectual elements of his life and to pursue knowledge and truth.” (Halbertal 2014: 333)
Vgl. Moreh I,54 = Maimonides 1972a: 180f / 1963: 124f sowie Halbertal 2014: 277-311.
Ethica, pars I, prop. 22 = Spinoza 1989b: 134/135; vgl. auch Seidel 2014: 95.
Ethica, pars V, prop. 23 = Spinoza 1989b: 534/535.
77
sammen (omnes simul) den ewigen und unendlichen Verstand Gottes, also den
intellectus infinitus, ausmachen“204. Über die Fortexistenz der einzelnen Person
bzw. des Individuums ist damit positiv nichts ausgesagt. Da es aber keine selbstständigen Substanzen außerhalb Gottes gibt und unser Denken mit der göttlichen
Substanz nur verbunden ist, insofern es innerhalb seiner Grenzen das Notwendige und Allgemeine ergreift, hat man Mühe sich vorzustellen, wie bei Spinoza
dem Individuum als solchem Dauer zugesprochen werden kann. In diesem Sinne
schreibt auch Steven Nadler:
„My suggestion – and it is, I admit, only a suggestion – is that for Spinoza, after a person’s
death, what remains of the mind eternally – the adequate ideas, along with the idea of the
essence of the body – all disperses and reverts back to the infinite intellect of God (the attribute of Thought), since they just are God’s knowledge of things.“205.
Wohl ist der Geist ewig, „sofern er ein Modus der göttlichen Substanz ist, die
selber ewig ist“206 , ob aber diese Ewigkeit der individuellen Seele zukommt,
bleibt, darin ist Steven Nadler zuzustimmen, fraglich. Die Selbsterkenntnis des
Geistes unter der Form der Ewigkeit („sub aeternitatis specie“) impliziert nach
Spinoza auch eine Erkenntnis Gottes und das Wissen darum, „dass er in Gott ist
und durch Gott begriffen wird“207. Jenes ‚Sein in Gott‘ ist nicht metaphorisch zu
verstehen, noch ist es das Ergebnis eines mystischen Aufstiegs, sondern erschließt sich der strengen Selbsterkenntnis des Geistes. Die Modi sind tatsächlich in Gott und bilden keine Substanz außer ihm. Die dieser Erkenntnis angemessene intellektuelle Liebe zu Gott (amor Dei intellectualis) aber ist, wie
Spinoza im 36. Lehrsatz der Ethik schreibt, „Gottes Liebe selbst“, genauer: „ein
Theil der unendlichen Liebe, mit der Gott sich selbst liebt“ und zwar insofern
Gott im menschlichen Geist sich selbst erkennt208. Unser Heil und unsere Glückseligkeit liegt, wie Spinoza erklärt, „in der beständigen und ewigen Liebe zu
Gott oder in der Liebe Gottes zu den Menschen“ – was letztlich identisch ist.
Mit der wachsenden Erkenntnis und intellektuellen Liebe zu Gott schwinden
auch die Affekte, die Furcht eingeschlossen, und so braucht der Weise im Sinne
dieser aristocratie de l‘esprit den Tod nicht zu fürchten209.
Die Bibelkritik und der Gottesbegriff Spinozas
blieben nicht nur für Zeitgenossen, sondern auch für spätere Generationen und
d) Vom Mrc zur Rekonziliation
204
205
206
207
208
209
Bartuschat 1992: 378, bezogen auf Ethica, pars V, prop. 40, Scholium = Spinoza 1989b: 552/553.
Nadler 2001: 105-131, hier 129; als Beleg wird ebenfalls Ethica V, prop. 40, Scholium (s.o.) herangezogen.
Bartuschat 1992: 327.
Ethica, pars V, prop. 30 = Spinoza 1989b: 540/541.
Ethica, pars V, prop. 36 (mit demonstratio) = Spinoza 1989b: 545-547. Damit ist auch eine Differenz zu
Maimonides bezeichnet, vgl. Chalier 2006: 279-317.
Ethica, pars V, prop. 36, corollarium et scholium = Spinoza 1989b: 546/547; vgl. auch ebd.: prop 38 =
Spinoza 1989b: 548-551; zur Formulierung aristocratie de l’esprit vgl. Chalier 2006: 316.
78
Vertreter einer moderaten Aufklärung provokant und trugen ihm von verschiedenen Seiten den Atheismus-Verdacht ein 210 . Das Neu- und Einzigartige der
Philosophie Spinozas formulierte Yyirmiyahu Yovel treffend:
„Even among rationalist philosophers, Spinoza was unique to the point of solitariness. He
transcended the conceptual universe of Descartes and of Leibniz, and also of skeptical deism, no less than the world of traditional faith. These other thinkers postulated a ‘God of
the philosophers’ as part of their rational systems, but preserved his extraworldly role as
Creator and First Cause. Spinoza alone refused to assign God as such a role. Rather, he
identified God with the totality of the universe itself. His conception, indeed, remained sui
generis in the annals of philosophy.”211
Descartes hatte mit seinem ontologischen Gottesbeweis die Differenz zwischen
Gott und Welt ebenso wenig aufgehoben wie einst Anselm von Canterbury. Nur
fragte hier der Glaube nicht die Vernunft (fides quaerens intellectum), sondern
die Vernunft vergewisserte sich selbst hinsichtlich einer durch Gott verbürgten
extramentalen Realität. Der vom Rationalismus des 17. Jahrhunderts festgehaltene ‚Gott der Philosophen‘ mochte das fromme Empfinden und das Bedürfnis
nach einer lebendigen Beziehung des Einzelnen zu Gott unbefriedigt lassen,
doch war die Brücke zur biblischen und nachbiblischen Tradition nicht völlig
abgebrochen worden. Zwar blieb auch für Spinoza die Bibel Gegenstand der
Forschung, aber anders als für seine jüdischen und christlichen Zeitgenossen
besaß ihr Wortsinn keine normative Kraft mehr. Wenn Spinoza nach dem Bann
nicht zum Christentum übertrat, so lag dies nicht nur an einer gewissen Loyalität
gegenüber seinen von Christen verfolgten Vorfahren, sondern entsprang auch
der Einsicht, dass er mit den christlichen Autoritäten ebenso rasch in einen Konflikt geriete wie mit den jüdischen. Für ein freies, unzensiertes Denken gab es
weder hier noch dort Platz; insofern blieb er bewusst ortlos; er führte, wie Yovel
treffend formuliert, „an alienated existence“212. Eben dies lässt ihn rückblickend
als Vorläufer der Moderne erscheinen, und seit dem 19. Jahrhundert wurde er
von säkularen Juden, wie wir noch sehen werden, als einer der ihren reklamiert.
Indessen wurde für manche Rezipienten gerade die jüdische Herkunft Spinozas Gegenstand von Vermutungen und gehässigen Unterstellungen. 1699 veröffentlichte Johann Georg Wachter die These, dass die Ethik weitgehend von jüdischen, insbesondere kabbalistischen Lehren abhänge, ja „daß die Kabbala mit
dem Spinozismus übereinstimme“213. Wachters ebenso kühne wie problematische und ohne Kenntnis der kabbalistischen Originaltexte formulierte These lös210
211
212
213
Vgl. Nadler 2009: 246.
Yovel 1989a: 175.
Ebd.: 177.
Gershom Scholem, Die Wachtersche Kontroverse über den Spinozismus und ihre Folgen, in: Gründer /
Schmidt-Biggemann 1984: 15-25, hier 16; vgl. auch Nirenberg 2013: 341f; Schulte 2014: 168-178.
79
te eine Diskussion aus, die bis in das erste Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts nachwirkte. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts versuchte Moses
Mendelssohn eine vorsichtige Rehabilitierung Spinozas, nicht zuletzt angesichts
des Spinozismus-Verdachts, in den postum sein Freund Lessing geraten war.
Mendelssohns Rede von einem ‚geläuterten Spinozismus‘, der sich „hauptsächlich mit dem Judenthume sehr gut vereinigen läßt“, jedenfalls besser „als die
orthodoxe Lehre der Christen“214, hatte ihre Spitze gegen Jacobi, der Lessing des
Spinozismus bezichtigte – als bedürfte die Philosophie einer Gedankenpolizei,
die sorgfältig auf die Kompatibilität philosophischer Thesen mit der christlichen
Lehre oder mit den Ansichten der Obrigkeit achtet. Jacobi hatte sich für Mendelssohn diskreditiert. Die Diskussion ging auch nach dem Tod Mendelssohns
(1786) weiter. Von Autoren wie Herder, Fichte, Hegel und nicht zuletzt von
Goethe215 wurden die Schriften Spinozas geradezu wiederentdeckt. Moses Hess
(1812-1875), der frühe Wegbegleiter Marxens und Mitbegründer des Zionismus,
betrachtete sich in der Nachfolge Spinozas (s.u.). Während der Restaurationsphasen nach 1815 und besonders nach 1830 und 1848 hingegen konnte auch nur
der Verdacht einer Affinität zur Philosophie Spinozas den Entzug der venia legendi bedeuten. Das liberale Judentum und zum Teil auch die Wissenschaft des
Judentums (Judaistik) knüpften an Mendelssohns vorsichtige Bemühungen um
eine Rehabilitierung Spinozas an – mit Ausnahme Hermann Cohens, der sich
von den pantheistischen Zügen der Ethik scharf distanzierte und den Mrc (Cherem) rechtfertigte216. Cohens Kritik stand im 20. Jahrhundert nicht allein. So
entwickelten Franz Rosenzweig und vor allem Emmanuel Levinas zum System
der Ethik relationale oder alteritätsphilosophische Gegenmodelle. Gerade in Levinas‘ Hauptwerken Totalität und Unendlichkeit und Jenseits des Seins ist die –
paradox ausgedrückt – anwesende Abwesenheit Spinozas beredt.
Für ein säkulares, zum Teil zionistisch orientiertes Judentum hingegen erlangte
Spinoza geradezu Vorbildfunktion217 und blieb bis heute inspirierend; nach Jan
Eike Dunkhase wurde Spinoza gar zu einem „nationalen Helden erkoren“ 218 .
‚Säkular‘ hat im jüdischen Kontext keine klar definierte Bedeutung; als ‚säkular‘
bezeichnen sich Juden, die dezidiert nicht orthodox sein möchten, jedoch an einer wie immer näher zu bestimmenden religiösen Praxis festhalten, ferner auch
jene, die zwar eine religiöse Praxis aufgaben, sich aber mit den jüdischen Tradi214
215
216
217
218
Vgl. Moses Mendelssohn, Sendschreiben an die Freunde Lessings, in: ders. 2009b: 335-367, hier: 345; vgl.
auch Mendelssohn 2009a: 20-22; ferner Schwartz 2012: 35-52. Auch hier spielte Wachters These eine gewisse Rolle; vgl. Scholem in Schmidt-Biggemann 1984: 24f.
Zur Entwicklung von Goethes Spinozismus vgl. Schmidt 1984: 79-101.
Vgl. Hierzu Strauss 1996: 415 und die weiteren Ausführungen in diesem Kapitel.
Vgl. Yovel 1989a: 199-204.
Dunkhase 2013: 28; vgl. auch Biale 2011: 34-46.
80
tionen und den früheren Generationen verbunden fühlen. Säkular sind schließlich auch jene, die alle religiösen Verbindungen verloren haben, sich aber als
Teil des jüdischen Volkes verstehen. Die doppelte Bestimmung des Judentums
als ethnische, kulturelle und religiöse Größe gestattet ein breites Spektrum säkularen Bewusstseins. An prominenter Stelle dieses heterogenen säkularen Judentums findet sich Albert Einstein. Was von den überlieferten religiösen Vorstellungen in ein wissenschaftliches Zeitalter hinübergerettet werden kann, ist
nach Einstein lediglich ein von allen Anthropomorphismen gereinigter Begriff
des Absoluten:
„I cannot imagine a God who rewards and punishes the objects of his creation, whose purpose are modeled after our own – a God, in short, who is but a reflection of human frailty.
Neither can I believe that the individual survives the death of his body, although feeble
souls harbor such thoughts through fear or ridiculous egotism. It is enough for me to contemplate the mystery of conscious life perpetuating itself through all eternity, to reflect upon the marvelous structure of the universe which we can dimly perceive, and to try humbly
to comprehend even an infinitesimal part of the intelligence manifested in nature.”219
Diese knappe Formulierung erinnert nicht nur an Spinozas Gottesbegriff, sondern auch an dessen Bestimmung des Lebensziels und an die Perspektive des
Individuums jenseits der Todesgrenze. Einstein
spricht von einem „cosmic religious sense, which
recognizes neither dogmas nor God made in man’s
image“ und bezieht sich u.a. ausdrücklich auf Spinoza. Es sei Aufgabe von Kunst und Wissenschaft diesen Sinn (oder dieses Gefühl) lebendig zu halten220.
Einstein ist sich durchaus bewusst, dass diese Interpretation der Beziehung zwischen Religion und Wissenschaft sich von der gewöhnlichen Sicht stark unterscheidet. Aber nur so wird aus seiner Sicht der
häufig behauptete Antagonismus zwischen Religion
Albert Einstein (1879-1955)
und Wissenschaft überwunden221. Man sieht, dass
Spinozas Gottesbegriff auch im 20. Jahrhundert gerade auf philosophisch ambitionierte Naturwissenschaftler überzeugend wirkte, weil er weder mit der Vorstellung eines kausal determinierten Universums, noch mit einer naturwissenschaftlichen Anthropologie kollidiert.
Während Einsteins ‚Spinozismus‘ über die Grenzen des Judentums hinausweist,
integriert er Spinoza und Marx bei allen Unterschieden zusammen mit dem biblischen Moses in das Judentum, das er ausdrücklich nicht dogmatisch bestimmt
219
220
221
Einstein 2007: 231f.
Ebd. 233.
Vgl. ebd.; vgl. auch Einstein 2005: 46f.
81
wissen will222. „The bond, that has united the Jews for thousands of years“, versichert Einstein, „and that unites them today is, above all, the democratic ideal
of social justice coupled with the ideal of mutual aid and tolerance among all
men.”223 Toleranz, Freiheit und soziale Gerechtigkeit finden sich zwar nicht alle
mit gleichem Gewicht in Spinozas Theologisch-politischem Traktat und in der
Ethik doch erkennt Einstein hier ein spezifisch jüdisches Merkmal, das auch für
den einst aus der jüdischen Gemeinschaft ausgestoßenen Spinoza gilt. Auch der
Jude, der seinen Glauben verlässt, bleibt Jude: halakhisch ohnehin, aber ebenso
in dem Sinn, wie Einstein das Judentum (eher säkular) definiert mit seinem spezifischen Gespür für Gerechtigkeit, Freiheit und mit seiner Hochschätzung intellektueller Ambitionen.
Aber schon erheblich früher finden wir die postume Rückkehr (oder Wiederaufnahme) Spinozas ins Judentum, etwa in den frühen Schriften eines Moses Hess
und, breiter ausgeführt, in seiner 1862 publizierten zionistischen Programmschrift Rom und Jerusalem. Die strenge Einheit Gottes, die sich in der Gesetzmäßigkeit der Natur und in der Idee der Einheit und Gleichheit des Volkes im
Alten Testament angemessen ausdrückt224, ist der Urgrund einer freien und egalitären Gesellschaft, die sich in ferner Zukunft
auf die ganze Menschheit ausdehnt. Dann nämlich wird sie „im Inneren einig wie von außen
gleich – das Gesetz Gottes wird in jeden Gliede
leben und klar erkannt sein“225. Diesen Gedanken nimmt Hess in den späteren Schriften nicht
zurück, wohl aber verbindet er ihn mit der
Hoffnung auf eine nationale und kulturelle Erneuerung der Juden, denen Hess bescheinigt,
„zu den sozialen Offenbarungen einen speziellen Beruf“ zu haben226. Dieser ‚Beruf‘, der über
die Juden hinaus auch den Völkern gilt, ist aber
Moses Hess (1812-1875)
während der Diaspora, in den Jahrhunderten der
Ausgrenzung und Unterdrückung, vergessen worden „Nur aus der nationalen
Wiedergeburt“, heißt es im fünften Brief, „wird das religiöse Genie der Juden,
gleich dem Riesen, der die Muttererde berührt, neue Kräfte ziehen und vom hei-
222
223
224
225
226
Vgl. Einstein 2007: 307. Auch ergriff Einstein unabhängig von religiösen und theologischen Diskussionen
Partei für eine kulturzionistische Position in scharfer Abgrenzung vom Revisionismus; vgl. ebd.: 297-302.
Ebd. 307 / dt: Einstein 2005: 245 (in einigen Details abweichend).
Hess 1962: 71.
Ebd.: 80.
Ebd.: 311.
82
ligen Geiste der Propheten wieder beseelt werden.“227 Eine eher beiläufige Bemerkung Spinozas über die Erwählung Israels in seinem TheologischPolitischen Traktat rückt ins Zentrum der Rezeption. Spinoza sah in Israels Erwählung in erster Linie das politische wie ökonomische Wohlergehen des Volkes, nicht eine besondere Tugend, die ihm den anderen Völkern gegenüber einen
Vorzug verlieh. Dass es nach 70 noch einmal zur Gründung eines selbstständigen jüdischen Staates kommen würde, war für Spinoza nicht ausgeschlossen:
„Ja, wenn die Grundsätze ihrer Religion ihren Sinn nicht verweichlichen, so möchte ich
ohne weiteres glauben, daß sie [die Juden, R.B.] einmal bei gegebener Gelegenheit, wie
ja die menschlichen Dinge dem Wechsel unterworfen sind, ihr Reich wieder aufrichten
(suum imperium iterum erecturos) und daß Gott sie von neuem auserwählt.“228
Diese Bemerkung wird für eine zionistische Rezeption Spinozas zentral. Dass es
Spinoza, zurückhaltend ausgedrückt, nicht primär um eine religiöse Erneuerung
des Judentums ging, macht ihn für einen säkular verstandenen Zionismus durchaus anschlussfähig. Der Zionismus eines Hess oder Herzl war eine säkulare
Utopie, keine religiöse. Bei Hess zeigen sich allerdings Anknüpfungspunkte an
die religiöse Tradition, insbesondre, was Israels Aufgabe für die Völker betrifft.
Die Erneuerung des Judentums ermöglicht es ihm nach Hess auch, seinen welthistorischen Beruf wieder wahrzunehmen. Hess greift zwar die nationalen Bewegungen in Europa auf und beansprucht für das Judentum die gleichen Rechte
wie sie für andere Völker geltend gemacht werden, aber er begnügt sich, darin
Schüler Hegels, nicht mit einer partikularen Perspektive. Gerade Spinoza stellt
die Brücke dar zwischen Partikularität und Universalität; ist es doch „seit Spinoza die Aufgabe der Geschichte geworden, den von ihm gelegten Keim zur definitiven Versöhnung im Leben der
Völker zu entwickeln 229 “. Unterschiedliche zionistische Rezpienten
wie der Literaturwissenschaftler Joseph Klausner (1874-1958) und der Politiker David Ben Gurion (1886-1973)
sicherten Spinoza wieder einen festen Tel Aviv, Rechov Baruch Spinoza © Noemi Raz
Platz in larwy Xra und im Judentum selbst; er wurde zu einem seiner großen
‚Söhne‘230. Eine Straße in Tel Aviv ist nach ihm benannt, und das wohl kaum
zufällig, versteht sich Tel Aviv doch als Metropole eines modernen säkularen
227
228
229
230
Ebd.: 244; zu Moses Hess vgl. Yovel 1989b: 51-77; Schwartz 120f; Biale 2011: 104-110; Dunkhase 2013:
39-59; Fischer 2014: 158-166.
TTP cap. III = Spinoza 1989a: 128/129 / Spinoza 2012: 178/179.
Hess 1962: 316.
Vgl. Dunkhase 2013: 65-100; zu Klausner vgl. auch Schwartz 2012: 113-153. Ben Gurions Rehabilitierung
Spinozas wurde von Emmanuel Levinas kritisch kommentiert, vgl. Levinas 2006: 142-147 / 1992: 104-108.
83
Judentums in Israel. Die Rechov Baruch Spinoza war einst eine Straße in
Shabazi zwischen Tel Aviv und Jaffa, heute schmückt der Name eine ruhige
Straße im nördlichen Zentrum von Tel Aviv231.
Aber nicht nur im Kontext des Zionismus, auch in einem Judentum, das, ohne
sich als Religion gänzlich zu verleugnen, doch ein säkulares Selbstverständnis
entwickelt, kommt Spinoza zu neuen Ehren, wie unter anderem Margarete Susmans Spinoza-Essay aus dem Jahr 1914 zeigt. Susman reproduziert nicht einfach die schon bekannte Darstellung Spinozas, sondern entdeckt in seinem System eine oft übersehene religiöse Dimension. „Gott als Identität nicht nur des
uns erfaßbaren, sondern eines unermeßlich darüber hinausgreifenden Seins und
Geschehens durchtränkt die Welt damit, daß er Gott ist, in einem ganz anderen,
gewaltigeren und überrationaleren Sinne, als er es als die bloße Einheit der erkennbaren Welt vermöchte. Der strenge Gesetzeszusammenhang unserer Welt
ist göttlicher Natur – das bedeutet nun nicht mehr nur: er ist in der absoluten
Wahrheit gegründet, sondern er ist gegründet in einer absoluten Vollkommenheit, von der sich einen Begriff zu machen die menschliche Fassungskraft übersteigt.“232 Für Susman wird damit „das religiöse Weltgefühl Herr über das metaphysische“; was für eine streng rationalistische Spinoza-Interpretation durchaus
provokant klingt 233 . Allerdings wird Spinoza damit nicht für eine mystischekstatische Deutung beansprucht, im Gegenteil: Spinozas amor Dei intellectualis ebenso wie die bleibende Unergründlichkeit Gottes verbleiben im Rahmen
einer Rationalität, die sich nicht überhebt. Natur und Ethik erschließen sich nicht
dem Rausch, sondern unterliegen erkennbaren Gesetzen und hier steht, so Susman, „die Gesetzesliebe des Alten Testaments, die Gesetzesliebe Spinozas der
Mystik aller Zeiten gegenüber“234. Wie ein späterer Kommentar zu dieser Stelle
liest sich Ernst Blochs Feststellung: „Die jüdische Überlieferung feiert den Tag,
wo das ‚Gesetz‘ überreicht worden war, als Fest; ein Stück dieser ‚Gesetzesfreude‘ ist in Spinozas Hingabe an ganz andere Gesetze.“235
Philosophisch und politisch markiert das Werk Spinozas einen Beginn, einen
Anfang, der für viele unterschiedliche Rezeptionen offen ist. Autoren wie Lessing, Herder und Goethe mochten fasziniert sein von der Fülle des Absoluten,
dessen schöpferisches Wirken als natura naturans zutage tritt. Das Plädoyer für
Toleranz und Denkfreiheit wirkt bis in die politischen Forderungen der radikalen
Aufklärung im Vorfeld der Französischen Revolution nach, und noch der Zio231
232
233
234
235
Vgl. Dunkhase 2013: 9-15.
Susman 1994: 91; Zu Susmans Spinoza-Rezeption vgl. Klapheck 2014: 91-113.
Susman 1994: 91.
Ebd. 104.
Bloch 1972: 48.
84
nismus des 19. und 20. Jahrhunderts fand einen Anhalt im TheologischPolitischen Traktat. Historisch und exegetisch ist Spinozas Bibelkritik von großer Wirkung gewesen, die religionskritisch aber auch theologisch beerbt und
fortgesetzt wurde. Der Materialismus radikaler Aufklärer sah sich nicht minder
als Erbe Spinozas an, was noch genauer zu entfalten ist. Wer aber beruft sich auf
den ‚wahren‘ Spinoza, wer ist sein authentischer Ausleger und legitimer Erbe?
Die Frage muss – trotz der Bemühungen Spinozas um systematische Geschlossenheit und begriffliche Klarheit – offen bleiben, denn kein Werk vermag die
eigene Rezeption exakt zu bestimmen, sind in ihm doch viele, von der Kritik der
Folgezeit herausgearbeitete Gedanken angelegt, die über ihre eigenen Grenzen
hinausweisen. Zu Spinozas philosophischem Vermächtnis gehört auch – und
zwar ganz gegen seine erklärte Absicht – ein bis heute erkenntnistheoretisch und
politisch nicht vollständig gelöstes Problem: das Verhältnis von Allgemeinem
und Besonderem. Es versteht sich prima facie nicht von selbst, dass eine Ethik,
die den Trieb der Selbsterhaltung als Fundament der Tugend bezeichnet, das
letzte Ziel nicht im abstrakten, um sich kreisenden Selbst erblickt, sondern in der
intellektuellen Liebe zu einem Gott, der alle beengenden, aber auch personalen
Züge verloren hat. Das Streben nach Glück und Selbsterhaltung ist, wie wir
schon sahen, nicht per se schlecht, es bleibt aber nicht Spinozas letzte Auskunft:
Sofern das Einzelne sich mit der vernünftigen Erkenntnis verbindet und sich ihrer Leitung anvertraut, wächst es nämlich über sich hinaus. Nicht die Partikularität, sondern die durch Erkenntnis realisierte Einheit mit den anderen Menschen
und dem wahren Allgemeinen ist es, in dem sich unser kurzes Leben erfüllt: im
Wortsinne ekstatisch, d.h. außer sich sein, nicht in der eigenen Identität verharren. „It is in that original sense that Spinoza offers us something new under the
sun: ecstatic rationalism.”236 Die alles Abweichende exkludierende Identität, die
Spinoza auf christlicher und jüdischer Seiten kennen lernen musste, ist der ‚wahren Religion‘ ebenso fremd wie der ‚wahren Philosophie‘.
Aber genau in ihrer Stärke liegen auch die Probleme dieser identitätsphilosophisch fundierten Überwindung der bornierten Partikularität. Identitätsphilosophie meint ein philosophisches Modell, das die Fülle der uns prinzipiell erfahrbaren Wirklichkeit aus einem Punkt heraus konstruiert: Gott ist die einzige Substanz, die nur Attribute und Modi kennt, aber keine weiteren eigenständigen
Substanzen. Die Entwicklung der Ethik more geometrico meint die strenge Form
der Deduktion aus obersten Sätzen, deren Beziehung und Unterordnung das System als ein Geordnetes erst ausmacht. Es gibt kein Seiendes, das außerhalb die236
Goldstein 2006: 186; vgl. auch Seidel 2014: 96f, der ich den Hinweis auf Rebecca Goldsteins originelle
Spinoza-Interpretation verdanke. Goldstein schildert plastisch die Warnungen vor Spinoza und die Ermahnungen im Kontext ihres orthodox orientierten Religionsunterrichts; vgl. Goldstein 2006: 19-48.
85
ses Systems einen Ort hat oder haben kann: Es ist zwar unendlich hinsichtlich
der Unendlichkeit Gottes, aber, weil Gott die einzig möglich Substanz ist, auch
mit sich identisch. Was immer existiert, existiert einzig in Gott. Die überlieferte
Schöpfungslehre, welche die biblischen Erzählungen später zur Lehre von der
creatio ex nihilo ausbaute, vermochte zwar die Eigenständigkeit der Welt und
darin des Menschen zu wahren, musste sich aber mit dem Problem befassen, wie
zwei selbstständige Substanzen überhaupt denkbar waren. Spinoza hat den Vorrang des Allgemeinen vor dem Besonderen philosophisch klar ausgesprochen,
ein Gedanke, der später in der Philosophie Hegels eine große Rolle spielen wird.
Vielleicht könnte man sagen, dass die konfliktreichen und leidvollen politischen
Erfahrungen des 17. Jahrhunderts sich bis in die metaphysisch-logische Seite der
Ethik auswirkten, insofern Spinoza sicherstellen möchte, dass kein Teil, kein
Modus sich verabsolutiert. Aber die identitätsphilosophische Pazifizierung der
Konflikte partikularer Existenzen hat ihren Preis: Freiheit erschöpft sich in der
Erkenntnis der strengen Notwendigkeit und Allgemeinheit. Aus der Sklaverei
der Affekte und Leidenschaften, des Zufalls, der politischen Willkür und der
religiösen Intoleranz endlich befreit, gerät das Individuum in das System eines
strikten Determinismus, erkennt es sich als bloßes Moment des Allgemeinen.
Hatte die traditionelle Differenz zwischen dem Absoluten (Gott) und der Welt
(als Schöpfung) die Ansprüche des Einzelnen nicht besser gewahrt? Die Identitätsphilosophie ist eine Philosophie der Einverleibung; nichts Verschiedenes,
nichts Eigenständiges kann draußen bleiben. Sie kennt zwar eine Mannigfaltigkeit der Modi, versagt ihnen aber eine eigenständige Existenz außerhalb Gottes.
Hermann Cohens tiefe Reserven gegenüber Spinoza gründeten nicht im Hinweis
auf dessen fehlende Orthodoxie, sondern im systemisch grundgelegten Ausschluss eines Korrelationsverhältnisses zwischen Mensch und Gott; Korrelation
und Vereinigung mit Gott schließen einander aus, und Cohen denkt den biblischen Monotheismus strikt als ein korrelatives Verhältnis237. Der Pantheismus
hebt in Wahrheit den Menschen als sittliches, d.h. als moralisch freies Wesen
auf, indem er ihn in letzter Instanz mit dem Absoluten identifiziert 238. Für Cohen
ist es, ganz in der Tradition des kritischen Idealismus, nicht die Einheit der Substanz, welche die Einheit der Welt stiftet, sondern die Einheit des Bewusstseins,
die bei Spinoza keine Rolle spielt239. Spinoza bleibt der Ontologie verhaftet, als
wäre es eine außer unserem Bewusstsein klar identifizierbare Ordnung, welche
die Totalität konstituiert und nicht das reine ‚ich denke‘. Man wird fragen können, ob mit der Begründung unserer Erkenntnis in der Bewusstseinseinheit die
237
238
239
Vgl. Cohen 1915: 105 und 134 (hier mit ausdrücklichem Bezug auf Spinoza).
Vgl. Cohen 1929: 38, 52, 74f, 83, 423f. u.ö.
Vgl. Cohen 1915: 134f.
86
identitätsphilosophischen Voraussetzungen Spinozas tatsächlich überwunden
sind. Das Problem, welches Spinoza nicht etwa gelöst hat, sondern seit der Ethik
das sich in aller Schärfe stellt, hatte Cohen durchaus richtig erkannt: An die Stelle der bornierten, sich selbst verabsolutierenden und Konflikte generierenden
Identität von Personen, Religionen, Konfessionen oder Kulturen tritt die allumfassende Identität der göttlichen Substanz, die, als causa sui und einzig mögliche, nichts schlechthin außerhalb ihrer kennt – und dieses Problem erbte sich an
Spinozas materialistische Rezipienten fort. Gibt es aber ein über alle Debatten,
über Zustimmung und leidenschaftliche Ablehnung hinwegreichendes, auch für
uns noch verbindliches Erbe Spinozas? Vielleicht wird man mit Leo Strauss sagen können: die Unabhängigkeit seines Denkens240, die auch den Bruch mit Autoritäten und Gemeinschaften in Kauf nimmt. In einer Zeit, in der die philosophischen Salons noch in den Anfängen waren, bedeutete dies auch, einsam und
fremd – ‚as a Marrano of reason‘241 – inmitten einer Gesellschaft zu sein, deren
Konsens das ungeprüft Selbstverständliche, die δόξα, war. Und zu dieser Haltung gehört bis heute großer Mut.
d) Radikale Erben: vom ‚Traktat über die drei Betrüger‘ bis Helvétius Die
strenge Argumentation Spinozas und die Geschlossenheit seines Denkens eigneten sich auch zu einer materialistischen Adaptation, die den Anspruch erhob,
dasjenige explizit vorzutragen, was in der Ethik nur implizit gesagt wurde. Die
Schriften, die auf diese Weise Spinozas Erbe antraten, entwarfen ein möglichst
geschlossenes Gegenmodell zur kirchlichen Lehre. Spinoza hatte also auch radikale Schüler und Verehrer, die ihm zu Lebzeiten wohl mehr Probleme als Anerkennung eingetragen hätten. Aber nicht nur der Gottes- und Naturbegriff Spinozas boten Anknüpfungspunkte für das, was Margaret C. Jacob the „pantheistic
materialism of seventeenth-century radicals“ nennt242, sondern auch die Analyse
der Bibeltexte im Tractatus. Metaphysisch, erkenntnistheoretisch, historisch und
naturwissenschaftlich formierte sich eine – über Spinozas Kritik der Vernunftverächter243 weit hinausgehende – Opposition gegen die christlich geprägte religiöse Tradition als Inbegriff der Irrationalität. Seit dem Mittelalter waren – wie
etwa in Giovanni Boccaccios Decamerone – Aberglaube, Bigotterie, Wunderglaube, Doppelmoral und eine restriktive Sexualethik Zielscheiben des Spotts,
aber erst Ende des 17. Jahrhunderts meldet sich eine Kritik zu Wort, welche den
Geltungsanspruch der Religion prinzipiell bestreitet und darauf zielt, sie als ide240
241
242
243
Vgl. Strauss 1996: 422.
Vgl. Yovel 1989a: 15-39, bes. 36-38.
Jacobs 2006: 3; vgl. auch Jacobs in Hunt 1994: 132-139.
Vgl. Spinoza 1989a: 14/15 und Spinoza 2012: 66/67.
87
ologische Basis des überkommenen Feudalsystems und der absoluten Monarchie
zu zerstören244. Autoren wie der anonyme Verfasser des Traité des trois imposteurs, der Abbé Meslier, d’Holbach und La Mettrie galten Ernst Cassirer
noch als Außenseiter und Werke wie das Système de la nature und L’Homme
machine als „Rückfall in jene dogmatische Denkart, die das achtzehnte Jahrhundert in seinen führenden wissenschaftlichen Geistern bekämpft, und die es zu
überwinden strebt“245. Für Cassirer steht, ganz in der Tradition des Neukantianismus, der Dogmatismus einer materialistischen Metaphysik im Vordergrund.
Ihm stellt er die Skepsis eines d’Alembert gegen jeden Ausgriff auf das vermeintliche ‚Wesen‘ der Wirklichkeit, das sich unserer Erkenntnisapparatur entzieht, entgegen. „Über die Fragen nach der Einheit von Seele und Körper“, fasst
Cassirer die Kritik d’Alemberts zusammen, „und über ihren wechselseitigen
Einfluß, über die Frage nach dem Ursprung unserer einfachen Ideen, über die
Frage nach den letzten Gründen hat die Vorsehung einen Schleier gebreitet, den
wir vergebens zu heben suchen.“246 Der breite Strom der Aufklärung muss demnach gedeutet werden als Vorläufer der Erkenntnistheorie Kants und ihrer Skepsis gegenüber allen abschlusshaften Aussagen über das Wesen der Dinge, seien
sie idealistischer oder materialistischer Art. Die Konzentration auf die nicht zu
leugnende erkenntnistheoretische Problematik übersieht allerdings die politische
und emanzipatorische Stoßrichtung der radikalen Aufklärung. Demgegenüber
versucht Jonathan Israel in seinen umfang- und materialreichen Studien darzulegen, „wie eng in der Radikalaufklärung die Abschaffung göttlicher Vorsehung
und religiöser Macht mit demokratischem Republikanismus und der Forderung,
die oberste Staatspflicht sei das Allgemeinwohl des ganzen Volkes und die
Gleichwertigkeit jedes Individuums zusammenhängen“ 247 ; eine Tendenz, die
schließlich der Französischen Revolution zuarbeitete. Die Gruppen und Klassen,
welche als Akteure der Französischen Revolution auftraten, mochten von unterschiedlichen Motiven geleitet, die Unzufriedenheit mit der überkommenen Herrschaft unterschiedlich ausgeprägt sein; man mag zahlreiche Ursachen der Revolution ausmachen, so bedarf es doch einer Kraft, welche diese Motive und Ursachen zusammenführt, ihnen einen bündigen theoretischen Ausdruck verleiht und
revolutionär zuspitzt. „Radical Enlightenment”, versichert Israel, „was incontrovertibly the one ‚big‘ cause of the French Revolution“248. Man mag die Sicherheit, mit der Israel von dem „one ‘big’ cause” spricht, nur eingeschränkt teilen
244
245
246
247
248
Vgl. Israel 2001: 703.
Cassirer 1973: 73.
Ebd.: 73f.
Israel in Israel/Mulsow 2014: 274; vgl. auch Israel 2001: 703.
Israel 2014: 708.
88
und ihm mit Margaret Jacob eine „largeley idealist methodology“ attestieren 249 –
als ließen sich revolutionäre Prozesse primär ideengeschichtlich ableiten; aber
Israels inzwischen viel beachtete These wirft doch ein neues Licht auf die radikale Aufklärung, die oft eher als Randphänomen abgetan wurde250.
Diese im späten 17. Jahrhundert einsetzende Bewegung löste dank der Printmedien, die sich auch bildlicher Darstellungen bedienten, einen umfassenden
Prozess aus; „a drama which profoundly involved the common people, even those who were unschooled and illiterate“251. Aufklärung war nicht begrenzt auf
den kleinen Kreis der Gelehrten. Wie vorher die Reformation konnte sie auf
Flugschriften und Broschüren zurückgreifen, die größere Teile der Bevölkerung
erreichten und so den Kampf gegen Aberglauben, Vorurteile und nicht zuletzt
gegen die überkommenen Autoritäten intensivierte. Eine nicht zu unterschätzende Rolle für die Materialismus-Rezeption in gebildeteren Schichten spielte hier
der Traktat über die drei Betrüger, dessen Verfasser bis heute nicht mit Sicherheit identifiziert werden konnte. Die Schrift, die auch unter dem Titel „La vie et
l’esprit de Mr. Benoit de Spinosa“ verbreitet wurde, ist „in eine umfassende Kritik der traditionellen Metaphysik eingebettet, die den Begriff eines personalen
Gottes, der menschlichen Freiheit, die Unsterblichkeit der Seele und die Teleologie ... zugunsten eines materialistischen Pantheismus aufhebt.“252 Sachlich bildet der „Traité“ das Bindeglied zwischen der Philosophie Spinozas – die er, neben Hobbes’ ‘Leviathan’, teils paraphrasiert, teils direkt zitiert – und den materialistischen Konzeptionen eines Holbach und La Mettrie. Zumindest für Holbach darf die Kenntnis dieser Schrift vorausgesetzt werden253.
Die ‘drei Betrüger’ sind für den Verfasser Moses, Jesus und Mohammed, auf die
das dritte Kapitel näher eingeht. Die Schrift nimmt damit den Kampf gegen jene
drei monotheistischen Religionen auf, die in der Geschichte Europas eine zentrale Rolle spielten. Schon im ersten Kapitel versichert der Verfasser, die eitlen
und lächerlichen Meinungen, die falschen Vorstellungen von Gott, der Seele und
vom Geist, welche die Religion ausmachen, seien das Produkt von Betrügern.
„Il importe trop à ces imposteurs que le peuple soit ignorant, pour souffrir qu’on
le désabuse“254. Die Stifter der drei großen Religionen werden nun diesen Betrügern, die einzig aus egoistischen Motiven heraus handeln, zugeschlagen. Die
historischen Konstruktionen, die der Verfasser aufbietet, um seine These zu
249
250
251
252
253
254
Jacob 2006: VI (Preface to the second edition); kritisch auch Ferrone 2015: 170f.
So noch Im Hof 1995: 219-224.
Israel 2001: 5.
Schröder, Einleitung zum „Traktat über die drei Betrüger“ = Anonymus 1992: XVf.
Vgl. ebd.: XXIIIf.
Traité, Chap. I, §§ 1-2 = Anonymus 1992: 4-7.
89
stützen255, halten einer näheren Kritik kaum stand. Gewichtiger war schon die
These von der Genese des religiösen Bewusstseins. Denn ohne jede Voraussetzung bei den Opfern können auch Betrüger nicht zu ihrem Ziel gelangen: So sei
es die Furcht, welche die Götter und die Religion kreierte und seither spuke der
Wahn in den Köpfen der Menschen, dass unsichtbare Mächte ihr Schicksal bestimmten 256 . De- r Traité paraphrasiert im dritten Kapitel die Ausführungen
Thomas Hobbes’ zur Entstehung der Religion257. Hobbes hütete sich noch, dieses Erklärungsmodell der Religion ausdrücklich auf das Christentum zu übertragen, während er es auf den Islam ohne Zögern anwandte. Kreatürliche Angst vor
einer unerhellten Natur und die Hoffnung, diese mittels transzendenter Mächte
beeinflussen zu können, bilden das materialistische Fundament des religiösen
Bewusstseins und seiner Objektivationen. Im Traité wird Religion, konsequenter
noch als bei Hobbes, der instrumentellen Vernunft zugeordnet. Hoffnung und
Furcht – auch hier übernimmt der Verfasser eine Formulierung Thomas Hobbes’
– waren es, die von Priestern und Religionsstiftern zum eigenen Vorteil genutzt
werden konnten258. Gerade die unteren Klassen sind es, die nach Ansicht des
Verfassers aufgrund ihrer Unbildung in besonderem Maße für die religiösen
Wahngebilde ansprechbar sind. Nun ist jedoch nicht jeder Gottesbegriff nichtig.
Der Autor des Traité stellt sich in die Reihe derer, die über die gängigen Vorurteile, die über Gott aus durchsichtigen Interessen kursieren, aufklären möchten.
Tatsächlich aber wird unter Berufung auf Spinoza der vollständige Bruch mit
der bisherigen theologischen und metaphysischen Tradition vollzogen:
 Sämtliche personalen Züge Gottes verfallen dem Anthropomorphismusverdikt. Gott ist
weder gerecht noch barmherzig oder eifersüchtig – dies alles sind Eigenschaften, die allein
Menschen zukommen259. So sind von Gott weder Strafen noch Belohnungen zu erwarten;
ein Aspekt der Religionskritik, den der Traité mit Epikur und Lukrez verbindet260.
 Die umstandslose Identifikation Gottes mit der Natur ebnet jene Differenz zwischen natura
naturans und natura naturata ein, die Spinoza in der Ethik (s.o.) vornahm261. So heißt es
im vierten Kapitel des ‘Traité’: „Dieu n’étant ... que la nature, ou, si l’on veut,
l’assemblage de tous les êtres, de toutes les propriétés & de toutes les énergies, est nécessairement la cause immanent & non distincte de ses effets...“262
255
256
257
258
259
260
261
262
Vgl. ebd.: Chap. III, §§ 10-23.
Vgl. ebd.: Chap. III, § 2 = Anonymus 1992: 44/45; vgl. dazu auch Hobbes 1996: Kap. XII.
Vgl. ebd.: Chap. III, §§ 1-9.
Vgl. Traité: §5 = Anonymus 1992: 48-51: Chap III, § 8 = Anonymus 1992: 52/53.
Traité, Chap. IV, §2 = Anonymus 1992: 112/113.
Vgl. Traité: Chap. II, §1 = Anonymus 1992: 18/19.
Vgl. hierzu die kommentierende Fußnote des Herausgebers: Anonymus 1992: 156, Anm. 102.
Traité, Chap. IV, §2. – „Die meisten Versionen des frühneuzeitlichen Materialismus“, so Margaret Jacob, „–
der sich vielleicht am besten als pantheistischer Materialismus beschreiben läßt – setzen überdies Natur und
Gott in eins und eliminieren so die traditionelle übernatürliche Quelle von Ordnung und Hierarchie im Universum.“ (Jacob in Hunt 1994: 137).
90
Schließlich ist auch die Psychologie Gegenstand einer Kritik, deren Ergebnis
von der traditionellen Seelenlehre gravierend abweicht. Der Begriff einer unkörperlichen, geistigen Seele, und zwar auch als cartesianische res cogitans, wird
mit aller Entschiedenheit verworfen263. Vielmehr gehört die Seele selbst auf die
Seite des Materiellen, wenn sie auch „le feu le plus pur“ ist, das alle Teile des
Körpers durchdringt. Motive des antiken Materialismus kehren hier wieder: Die
menschliche Seele ist prinzipiell von gleicher Beschaffenheit wie diejenige der
Tiere und löst sich wie der Körper nach dem Tod auf, woraus folgt, dass die
Lehre der Theologen über die Seele nichts als eine Chimäre ist264. Eschatologische Aussagen sind für den Verfasser nur erfunden worden, um von der Unbildung der Massen zu profitieren, indem man ihnen Furcht einflößt vor dem
kommenden Gericht und ihrem jenseitigen Schicksal. Der Traité beruft sich in
seiner Kritik stets auf den allen Menschen gemeinsamen gesunden Menschenverstand (bon sens), der ausreicht, um die Erfindungen der falschen Propheten,
Theologen und Priester, die nur ihren Profit und Machtzuwachs im Blick haben,
zu durchschauen.
Die Betrugs-These hatte im 18. Jahrhundert noch eine große Karriere vor sich.
Autoren wie d’Argens, Holbach und selbst Helvétius vertraten sie, ohne sie einer weiteren Prüfung zu unterziehen. Sie musste ihnen geradezu evident erschienen sein, obwohl sie nichts weniger als dies war. In ihrer Schlichtheit und
intellektuellen Anspruchslosigkeit war sie durchaus geeignet, auch den weniger
gebildeten Schichten vermittelt zu werden. Die enge Verbindung der Kirche
zum ancien régime, die Bereitschaft, es ideologisch zu stützen, die Vertröstungen auf die kommende Welt, der wachsende Widerspruch zwischen Wissenschaft und überlieferter religiöser Lehre, die Konflikte, die im 16. und 17. Jahrhundert im Namen der Religion ausgetragen wurden und Europa verheerten, Intoleranz und Fanatismus waren dazu geeignet, dass Religion nicht nur Gegenstand der Kritik, sondern eines grimmigen Hasses wurde, der aus nicht wenigen
Schriften der radikalen Aufklärung spricht. Neben dieser affektiven Seite könnten aber auch die Fortschritte der Bibelkritik eine Rolle gespielt haben. Wie
Spinoza zeigte, dass der Pentateuch keinesfalls von Moses verfasst worden war,
so waren auch andere Schriften des Alten und Neuen Testaments einer kritischen Prüfung unterzogen worden. Wie sollte man das Phänomen der Pseudepigraphie in biblischen und nachbiblischen Traditionen bewerten? Die zeitgenössische Theologie verfügte kaum über eine befriedigende Antwort, und noch im
20. Jahrhundert zögerte man aus dogmatischen Gründen, den philologischen Be263
264
Vgl. ebd.: Chap. V, §§ 6/7 sowie die Anmerkungen des Herausgebers, ebd.: 158-160, Anm. 121f.
Ebd.: §7 = Anonymus 1992: 128/129.
91
fund zur Kenntnis zu nehmen265. Wenn der Pentateuch nicht von Moses verfasst
worden war und die apostolische Urheberschaft der Evangelien mit guten Gründen bezweifelt wurde, kurz, wenn die bisher geltende Verbalinspiration der
Schrift sich als unhaltbar erwies, wer hatte dann die biblischen Schriften verfasst
und welche Absicht verfolgten diese Leute, wenn sie für sich die Autorität eines
Mose oder der Apostel beanspruchten? Waren sie vielleicht Betrüger, die eher
eigennützige Absichten mit dem Schein der Offenbarung versahen? Bewies
nicht eine Fälschung wie die so genannte Konstantinische Schenkung, dass die
Ansprüche der Priester keineswegs reinen Motiven entsprangen und man die
Dokumente den eigenen Interessen anzupassen wusste? Der philologische Befund, die eigenen, durch den aktuellen Stand von Philosophie und Naturwissenschaft genährten Zweifel an den Geltungsansprüchen von Offenbarungsdokumenten und kirchlichen Lehren sowie die scharfe Kritik an der gesellschaftlichen Funktion von Religion fügten sich zu einem scheinbar plausiblen Bild des
‚Priesterbetrugs‘ zusammen, das auch noch negative Affekte bediente.
Mit der polemischen Verabschiedung der Religion und einer materialistischen
Kritik der überlieferten Seelenlehre weist der Traité auf das 18. Jahrhundert voraus. Thematisch steht ihm auch Jean Meslier (1664-1729) nahe; an Schärfe und
Unerbittlichkeit übertrifft er alle religionskritischen Schriften der Aufklärung
vom Traité bis zu Holbach und Diderot und zeigt, dass die materialistisch fundierte radikale Kritik der Religion bis in den Klerus reichte. Das berüchtigte
‚Testament‘ des Dorfpriesters von Étrépigny in den französischen Ardennen
wurde „erst nach seinem Tod 1729 entdeckt, per Hand abgeschrieben und unter
strengster Geheimhaltung im literarischen Untergrund der Hauptstadt herumgereicht“266. Das Werk, das durchaus Längen und Redundanzen aufweist, vermittelt einen Eindruck von der Enttäuschung und Bitterkeit gegenüber der etablierten Religion, ihren Repräsentanten und Verteidigern. Die Themen des Traité
werden über viele Seiten entfaltet. Alle Religionen – das Christentum eingeschlossen – sind für Meslier „nichts als menschliche Produkte und Erfindungen“, und der Verehrung der Gottheiten entspringen „alle die großen Übel des
Lebens“267. Warum teilt sich Gott nicht eindeutig und unmissverständlich den
Menschen mit, warum wählt er Träume und Phantasien? Wohl deshalb, da er
ihnen auch tatsächlich entsprang. „Denn alle diese angeblichen Visionen und
nächtlichen Offenbarungen, auf die sich unsere götzendienerischen Gottgläubigen berufen, sind mit Sicherheit verdächtig und der Phantasie allzusehr unter265
266
267
Zur Problematik vgl. Brox 1975: 51-57, 71-80, 120-129.
Blom 2011: 120.
Meslier 2005: 96.
92
worfen, als daß sie irgendeinen Glauben verdienten.“268 Dass Gott uns genaue
Vorschriften mitteilt, besondere Regeln für seine Verehrung erlässt ist lächerlich, zumal er sich oft genug zu widersprechen scheint. Die Pluralität der Religionen, von denen viele sich auf Offenbarungen einer Gottheit berufen, unterhöhlt
ihren Geltungsanspruch und nährt den Verdacht, dass ihre Stifter und Priester sie
zum eigenen Vorteil erfanden und sie von den ungebildeten Massen ohne Prüfung geglaubt wurden, weil die Sehnsucht nach einem göttlichen Schutz vor den
Zufällen der Natur und nach üppigen liturgischen Schauspielen schwerer wogen
als die Einwände der Vernunft.
Eine zentrale Rolle in diesen Betrugsmanövern spielen die eschatologischen
Hoffnungen und Ängste. Die Furcht der Menschen vor dem Tod und das darauf
folgende Gericht mit ungewissem Ausgang wird von Priestern und Theologen
geschickt für die eigenen Zwecke eingesetzt, wobei Gott je nach Bedarf die Rolle des grausamen Richters und des barmherzigen Vaters spielt:
Nachdem sie „uns ihren Gott als ein schreckliches, wütendes und grimmiges Ungeheuer
gegenüber den sündigen Menschen vorgestellt haben, das sie für ihre Laster und Sünden
unbarmherzig durch die furchtbarsten Strafen der Hölle züchtigt, und sie auch schon für
die geringsten läßlichen Sünden mehrere Jahre lang durch die züngelnden Flammen des
Fegefeuers schwer bestraft, stellen sie ihn als einen bewunderungswürdigen Spender von
Güte, Milde, Gnade und Barmherzigkeit hin, der unschwer auch die größten und verabscheuungswürdigsten Verbrechen vergibt.“269
Wozu wohl hat dieser kleinliche Tyrann die Menschen erschaffen, wenn er sie
zuletzt auf ewig in die Hölle verbannt und nur einen kleinen Rest rettet? Die religiösen Demagogen setzen geschickt mal auf die Furcht, mal auf die Hoffnung
der Menschen, Misstrauen aber verdient das eine wie das andere; „alles, was
man Euch an Schönem und Erhabenem über das eine und an Furchtbarem und
Schrecklichem über die andere erzählt, sind nichts als Märchen; nach dem Tode
ist weder Gutes zu erhoffen, noch irgend etwas Böses zu befürchten“270. Dem
biblischen ‚Fürchte dich nicht!“ stellt Meslier ein philosophisches gegenüber,
das auf den göttlichen Despoten und seine irdischen Diener verzichten kann. Die
materialistische Religionskritik der radikalen Aufklärung knüpft bewusst an Motive der Philosophie Epikurs und Lukrez‘ an. Vor allem Epikur erfuhr seit Pierre
Gassendi (1592-1655) eine Aufwertung. Nach ihm hatte Pierre Bayle in seinem
Historischen und kritischen Wörterbuch eine vorsichtige, in theologische Reserven eingekleidete Rehabilitierung Epikurs unternommen271. Oberstes Ziel des
268
269
270
271
Ebd.: 97.
Ebd.: 226.
Ebd.: 86.
Vgl. Bayle 2003: 81-107 (Artikel Epikur)
93
Menschen ist die  (Unerschütterlichkeit)272. Dazu bedarf es eines ausgeglichenen Charakters, der weder durch Furcht, noch durch Hoffnung, weder
durch Mangel, noch durch Gier gefährdet ist. Die Furcht vor Tod und Gericht ist
gegenstandslos, da nach dem Tod die aus feinsten Atomen zusammengesetzte
Seele mit dem Körper zugrunde geht; es gibt weder Gericht, noch Verdammnis.
Alles, was von Belang ist, findet in diesem Leben statt, dem Körper muss das
seinige gegeben werden, damit wir nicht Hunger und Durst leiden, maßvoller
Genuss, nicht Ausschweifungen ist einer der Wege, der zur führt.
Epikur hatte die Existenz der Götter nicht bestritten, doch mischen sie sich nicht
in die menschlichen Dinge ein, sondern führten ihr Dasein in den Intermundien.
Sie sind Beispiele für die realisierte Unerschütterlichkeit, wie umgekehrt Epikur
von den Göttern weder ein Gut erwartete, noch von ihnen ein Übel befürchtete.
Ist dies, so fragt Pierre Bayle seine Leser, nicht ein durchaus lobenswerter Gottesdienst?273 Wer Ärger und Beunruhigung vermeiden möchte, sollte sich zudem
auch der Politik enthalten. War Epikurs Schülerkreis eher familiär und intim, die
Realisierung der Lehre an das hohe Privileg von Muße und relativem Wohlstand
gebunden, so sind Autoren wie Meslier oder auch Holbach bestrebt, den eher
esoterischen Charakter der epikureischen Lehre aufzuheben und die Möglichkeit
eines genussvollen, reflektierten, von übermäßigen Erschütterungen und Leiden
freien Lebens auf die ganze menschliche Gesellschaft auszudehnen. Mit diesem
Ziel aber musste die politische Abstinenz Epikurs zugunsten des Kampfes gegen
die bestehende Ordnung und deren Agenten aufgegeben werden.
Aber nicht nur die aberwitzigen Jenseitsvorstellungen, auch die unbewiesenen
Wahrheitsansprüche der Religionen und Konfessionen sind wenig dazu angetan,
Friede und Glück zu realisieren. Meslier blickt zurück auf die unzähligen Kriege
und Gewaltexzesse, die, zumindest dem äußeren Anspruch nach, um des wahren
Glaubens willen geführt wurden. Dieser blinde Glaube „ist nicht nur der Ursprung von Irrtümern, Wahngebilden und Betrug, sondern zugleich die verhängnisvolle Quelle von Unfrieden und ewiger Zwietracht unter den Menschen“, da
doch eine jede Religion mit gleichem ungeprüftem Wahrheitsanspruch auftritt
und fanatische Anhänger hat, die sich gegenseitig „mit Feuer und Schwert verfolgen“ .... Aus diesem Grund gibt es kein Übel und keine Bosheit, die sie sich
nicht gegenseitig unter dem schönen und gleisnerischen Vorwand antäten, die
sogenannte Wahrheit ihrer Religion zu verteidigen und zu bewahren – welche
Toren sind sie doch alle!“274 Dies sind für einen Pfarrer starke Worte, und er
scheut sich nicht, sie im weiteren Gang seines Buches erheblich zu mehren. Sei272
273
274
Zu den folgenden Ausführungen vgl. Buchholz 2001: 36f, 90-94.
Vgl. Bayle 2003: 85.
Meslier 2005: 110.
94
ne ‚Theologie der Religionen‘ bedarf aber keiner langen Ausführungen: alles
beruht auf Täuschung und Betrug. Die Beweise, welche die Theologen für die
Existenz eines Gottes anführen, stehen für Meslier auf schwachen Füßen, denn
als Erklärung der Natur, ihrer konkreten Beschaffenheit und ihrer Ursachen ist
die Annahme eines göttlichen Schöpfers überflüssig. Plausibler ist es doch, die
Bewegungen und Strukturen der Materie aus ihren eigenen Gesetzen, die eine
lückenlose Ordnung bilden, zu erklären. Es bedarf also keiner Zusatzannahme
wie diejenige einer geistigen, unsichtbaren Wirklichkeit, einem Sein „über dessen Beschaffenheit und Existenz man überhaupt nichts weiß, weshalb es nichts
weiter als ein eingebildetes Sein sein kann, ich sage mit Absicht eingebildet,
denn ein Sein, das unsicher und zweifelhaft ist, das man nicht sieht und das sich
irgendwo befindet und von welchem man sich noch nicht einmal eine richtige
Vorstellung bilden kann, muß gewiß eher als eingebildet denn als wirklich und
wahrhaftig vorhanden gelten.“275 Die Gedankenführung ist allerdings zirkulär:
Wirklich ist nur dasjenige, das sinnlich erfahrbar ist, einen Ort in Raum und
Zeit, von dem man eine klare und deutlich Vorstellung bilden kann. Da dies auf
Gott als unsichtbare erste Ursache nicht zutrifft, kann ihm auch keine Wirklichkeit zukommen und er das Sein auch nicht geschaffen haben. Dass alles Wirkliche raum-zeitlicher Art sein muss, ist die unbewiesene, aber für Meslier über
jeden Zweifel erhabene Voraussetzung. Tatsächlich ist es misslich, mit Gottes
Handeln – etwa in der Form von Wundern – die Lücken unserer Naturerklärung
füllen zu wollen. Schöpfung besagt aber einen Akt, der aller räumlichen und
zeitlichen Determination vorausliegt und nicht selbst Glied – und sei es das erste
– einer innerweltlichen Kausalkette sein kann. Die Schöpfungslehre löst keine
naturwissenschaftlichen Probleme, sondern versucht die Frage zu beantworten,
weshalb überhaupt etwas ist.
Dergleichen Überlegungen interessieren Meslier weniger, weil die Kämpfe, in
die er verwickelt ist, nicht rein philosophischer, sondern durchaus sozialer und
politischer Art sind. Für den Materialismus eines Meslier sind die Deduktionen
und Distinktionen eines Descartes oder Spinoza weniger relevant, wichtiger ist,
dass er den religiösen Traditionen und mit ihnen auch den feudalen Ketten ihre
Legitimationsbasis entzieht. „Vereinigt Euch also ihr Völker, wenn Ihr vernünftig seid, schließt Euch alle zusammen, wenn Ihr ein Herz habt, um Euch von Eurem ganzen gemeinsamen Leid zu erlösen“, heißt es gegen Ende des umfangreichen ‚Testaments‘276. Dies war nicht nur ein Aufruf, sich von der Religion zu
verabschieden, sondern auch die drückenden Verhältnisse umzuwerfen, unter
275
276
Ebd.: 310-327, hier: 318.
Ebd.: 394.
95
denen die Mehrheit der Bevölkerung zu leiden hatte. Für den Landpfarrer waren
diese Zustände mit täglicher eigener Anschauung verbunden: „Seine Arbeit in
einer ländlichen Gemeinde“, schreibt Philipp Blom, „hatte Meslier die Augen
geöffnet für die schrecklichen Lebensumstände der armen Bauern, für Hunger
und alltägliche Gewalt. Harte Arbeit, Verrohung und Aberglaube verkrüppelten
die Männer und Frauen, die so leben mussten, geistig und oft auch körperlich,
und Meslier betrachtete sie mit einer Mischung aus intensivem Mitleid und Verachtung. Christicoles nannte er sie mit einer umgangssprachlichen Verkleinerungsform, die sich etwa als ‚Christenzwerge‘ übersetzen lässt.“ 277 Vergessen
wir nicht, dass wir zu Beginn des 18. Jahrhunderts erst am Anfang einer Entwicklung stehen, die zum Kollaps des alten Systems führte; eines Systems, das
reformresistent war, das politisch, ökonomisch und intellektuell stagnierte. Leute wie Meslier hatten die Kostenseite des Absolutismus deutlich vor Augen. Das
verleiht seinen religionskritischen Äußerungen zwar keine zusätzliche argumentative Kraft, erklärt aber die Verbitterung, mit der er eine Religion bekämpfte,
die sich nicht schämte die unerträglichen Verhältnisse erträglich zu machen und
jede Form von Auflehnung gegen die gottgegebene Herrschaft zu verurteilen.
Systematisch strenger fällt die Religionskritik Paul Thiry d’Holbachs aus, der
sowohl den Traité als auch das Testament des Abbé Meslier kannte. D‘Holbach
hatte diese Schriften – wie viele seiner aufgeklärten Zeitgenossen – rezipiert und
für seine eigenen religionskritischen Schriften fruchtbar gemacht. Holbach begnügt sich nicht mit einer Kritik der Offenbarung im Namen der ‘natürlichen
Religion’ wie der englische Deismus oder Voltaire. Ziel der Kritik ist die noch
in ihrer deistischen ‘Minimallösung’ festgehaltene, rational begründete Zustimmung zu dem, „quod omnes dicunt deus“278. Sie bezeichnet für Holbach
nicht mehr den sogar über das Christentum hinausgreifenden Konsens vernünftiger Wesen („omnes dicunt“), sondern das ideologische Band des Absolutismus
und derer, die vom verhassten ancien régime nach wie vor profitieren. Dafür
nimmt er eine Reihe von Schwierigkeiten in Kauf, die durch den apodiktischen
Ton mehr überspielt als ausgeräumt werden. Die Ewigkeit der Materie, die folglich von keinem Schöpfer abhängig ist, und die notwendige Existenz der Natur
sind schwerlich aus physikalischen Gesetzen ableitbar; sie ist vielmehr, wie die
These der Nichtexistenz Gottes, eine auf der Basis von Anschauung und Erfahrung nicht begründbare metaphysische Behauptung – eine Schwachstelle, auf
die bereits Voltaire aufmerksam machte279. Julien Offray de La Mettrie war sich
dieses Umstandes wohl bewusst, wenn er im Namen eines von ihm nicht ge277
278
279
Blom 2011: 121.
Thomas von Aquin: Sth I, q 2, a 3c.
Vgl. Voltaire 1818b: 333f.
96
nannten Gesinnungsgenossen in dieser Frage einräumt, „que rien n’est demontré
avec assez de clarté pour forcer son consentiment“ um das zentrale Motiv des
Atheismus gleich hinzuzufügen, „l’Univers ne sera jamais heureux, a moins
qu’il ne soit Athée.“280. Erst dann wird endlich Friede einkehren: „Plus de guerres theologiques, plus de soldats de Religion; soldats terribles“281. Die Ironie,
aber auch die Bitterkeit und Härte, mit welcher die Religion bekämpft wird,
gründet weniger in unwiderlegbaren Argumenten als in diesen Motiven. Wäre
sie nur eine harmlose Illusion oder ein naturwissenschaftlich überholtes Relikt
der Vergangenheit, so diente Religion lediglich als Zielscheibe eines mehr oder
weniger geistreichen Humors. Dass sie aber zu einer intellektuellen Blockade
wird, eine überholte, Sinnlichkeit und Glücksstreben unterdrückende Moral
lehrt, mit der überkommenen Herrschaft paktiert, Hass, Intoleranz und gewaltsam ausgetragene Konflikte generiert, macht sie gefährlich und zum Hindernis
des gesellschaftlichen Fortschritts. Die radikale Aufklärung setzt auf den Atheismus als intellektuell redliche und friedfertige Alternative große Hoffnungen.
Sie haben sich bekanntlich nicht erfüllt; weder ist ‘die Welt’ atheistisch geworden, noch herrschten, wo der Atheismus wie einst die Religion verordnet wurde,
Frieden, Freiheit und Glück.
Der nicht nur in deistischen Diskursen zu findende Hinweis auf die gesellschaftlich wichtige moralische Funktion der Religion vermag Holbach nicht zu überzeugen. Die Behauptung, „das Christentum sei der Politik und Moral nützlich
und ohne Religion könne der Mensch weder Tugenden besitzen noch ein guter
Bürger sein“, gilt Holbach als empirisch widerlegt282. „Ein System, das sich auf
Wunder, Fabeln und dunkle Orakel gründet, muß eine ergiebige Quelle für
Streitigkeiten sein.“283 Der Begriff des ‚Systems‘ sollte nicht unbeachtet bleiben.
Er verweist sowohl auf die Funktion der Religion im politischen System als
auch auf die Bemühungen der Theologen, eine zusammenhängende, in sich geschlossene Lehre vorzutragen, wobei die Frage, ob die biblischen Schriften
überhaupt ein System bieten oder anstreben, unerörtert bleibt. Das Nützlichkeitsargument zugunsten der Religion – vielleicht denkt Holbach hier auch an
Hobbes oder Voltaire – wird im Système de la nature entschieden zurückgewiesen. Unwahre Vorstellungen können allenfalls den Herrschenden von Nutzen
sein: „Die falschen Ideen, die so viele Leute von der Nützlichkeit der Religion
haben, die, wie sie glauben, wenigstens imstande ist, das Volk im Zaum zu hal280
281
282
283
La Mettrie 1990: 92/94 (Übersetzung von Claudia Becker: „daß nichts mit ausreichender Klarheit erwiesen
ist, um seine Zustimmung zu erzwingen“ und „ die Welt wird niemals glücklich sein, es sei denn, sie ist atheistisch“)
Ebd.: 94.
Holbach 1970: 166.
Ebd.: 160; vgl. auch ebd.: 152f.
97
ten, rühren von dem unseligen Vorurteil her, daß es nützliche Irrtümer gebe und
daß Wahrheiten gefährlich sein können.“284 Doch sind es gerade diese Irrtümer,
denen die Menschen nach Holbach ihr Unheil verdanken. So ist der Atheismus
die redliche Alternative, denn „der richtig verstandene Atheismus beruht auf der
Natur und der Vernunft, die niemals, wie die Religion es tut, die Verbrechen der
Bösen rechtfertigen und vergeben werden.“285 Niemals fehlt in der religionskritischen Literatur des 18. Jahrhunderts der Vorwurf, Religion fördere Fanatismus
und Intoleranz, sei es, dass die Religion als Instrument dunkler Machenschaften
dient, sei es, dass sie selbst die Quelle der Intoleranz ist. Als Beleg dieser These
dient der Hinweis auf die Ketzerverfolgungen, die Kreuzzüge und Religionskriege, aber auch auf den Kolonialismus286. Nur vorschnelle Apologetik wird
diese Kritik als verjährt ansehen wollen. Wenn sich heute nicht nur in den drei
großen monotheistischen Religionen fundamentalistische Tendenzen zu Wort
melden, oft auch erheblichen politischen Einfluss gewinnen und vor Krieg und
Verfolgung Andersdenkender nicht zurückschrecken, so erhält die angeblich
überwundene Religionskritik des 18. Jahrhunderts neue Aktualität und Nahrung.
Abwehr und Flucht in unerhellte Autorität waren im 18. und sind auch im 21.
Jahrhundert die falschen Antworten.
Die Kritik Holbachs geht indessen noch weiter und wendet sich in seiner Schrift
Le christianisme dévoilé 287 dem Offenbarungsanspruch von Judentum und
Christentum zu. Dieser ist schon angesichts der fehlenden Eindeutigkeit, was
genau Gott den Menschen zu ihrem Heil hat mitteilen wollen, unglaubwürdig:
„Eine Offenbarung, die wahrhaftig wäre, die von einem
gerechten und gütigen Gott und für alle Menschen notwendig wäre, müßte klar genug sein, um auch vom ganzen Menschengeschlecht verstanden zu werden. Trifft
dies aber für die Offenbarung zu, auf die sich der Judaismus und das Christentum gründen? Die Lehrsätze des
Euklid sind für alle verständlich, die sie verstehen wollen; dieses Werk ruft keinerlei Streitigkeiten unter den
Mathematikern hervor. Ist die Bibel auch so klar und
verursachen die geoffenbarten Wahrheiten keine Streitigkeiten unter den Theologen, die sie verkünden?
Durch welches Verhängnis haben die von Gott selbst
284
285
286
287
Paul Henry Thiry (urspr.: Paul Heinrich
Dietrich) d’Holbach (1723-1789)
Holbach 1960: 518.
Ebd.: 513.
Vgl. Holbach 1970: 131.
Vollständiger Titel der unter dem falschem Verfassernamen Nicolas-Antoine Boulanger 1756 mit dem Verlagsort London erschienenen Schrift: Le christianisme dévoilé ou Examen des principes et des effets de la religion chrétienne. Autor, Erscheinungsjahr- und -ort sind ebenfalls erfunden. Manfred Naumann hält mit guten Argumenten als Erscheinungsjahr 1766 und als Verlagsort Nancy für sehr wahrscheinlich (vgl. die Einleitung Manfred Naumanns in Holbach 1970: 5-36, besonders 6-13; siehe auch Blom 2011: 125-135).
98
geoffenbarten Schriften noch Kommentare nötig, und warum fordern sie die Erleuchtung
von oben, um geglaubt und verstanden zu werden? Ist es nicht verwunderlich, daß das,
was dazu dienen soll, alle Menschen zu leiten, von keinem verstanden wird? Ist es nicht
grausam, daß das, was am wichtigsten für sie ist, ihnen am wenigsten bekannt ist? Alles ist
Mysterium, Finsternis, Ungewißheit, Stoff zu Streitigkeiten in einer Religion, die vom Allerhöchsten verkündet wurde, um das Menschengeschlecht aufzuklären. Das Alte und das
Neue Testament enthalten Wahrheiten, die für die Menschen wesentlich sind, doch niemand kann sie verstehen.“288
Ohne Zweifel legt Holbach hier den Finger auf die Wunde eines ‘instruktionstheoretischen Offenbarungsverständnisses‘ und unterwirft es einer scharfen Kritik. Ein wenig erinnert sie schon an die Frage Lessings, ob zufällige Geschichtswahrheiten jemals notwendige Vernunftwahrheiten werden können. Indessen geht Holbach über die Lessingsche Kritik weit hinaus. Die Unklarheiten
der Offenbarung, die mehr ver- als enthüllt, ist die Quelle von Konflikten, nicht
von Eintracht und Friede. Ähnlich wie Meslier ist die unüberschaubare Vielfalt
von Auslegungen, Religionen und Konfessionen kein Zeichen der im Bereich
endlicher Sprache unerschöpflichen Lebendigkeit und Fülle der Offenbarung,
sondern, im Gegenteil, eines Mangels an Klarheit, der zu Chaos, Streit und Gewalt führt. Offenbarung soll die Menschen, wie Holbach schreibt, aufklären –
also Licht und Klarheit bringen. Klar und einfach aber sind die Lehrsätze der
Mathematik sowie die logischen Prinzipien, auf denen unsere Erkenntnis fußt,
nicht aber die Mitteilungen Gottes, der uns an Wissen und Klarheit doch unendlich überlegen, ja deren wahre Quelle sein müsste. Was er aber mitteilt, ist dunkel und der Deutung bedürftig. Kann der Gott der Juden und Christen sich etwa
nicht recht ausdrücken? Aber diese Dunkelheit ist durchaus gewollt; sie sichert
der Kirche ein Deutungsmonopol, von welchem ihre Priester reichlich Gebrauch
machen und sehr gut leben. Da es zur Kommentierung und Erforschung der
Schrift einer besonderen „Erleuchtung von oben“ bedarf, wie Holbach ironisch
anmerkt, darf kein Laie sich anmaßen, hier zu nach eigener Vernunft und Einsicht zu urteilen. So despotisch und eifersüchtig wie ihr Gott sind auch seine
wohl bestallten Diener289. Für Holbach wie für den Verfasser des Traité ist es
ausgemacht, „daß Unwissenheit und Furcht die Götter geschaffen, daß Einbildungskraft, Schwärmerei und Betrug sie ausgeschmückt oder entstellt haben,
daß die Schwachheit sie anbetet, die Leichtgläubigkeit sie nährt, die Gewohnheit
sie achtet und daß die Tyrannei sie aufrecht erhält, um aus der Verblendung der
Menschen Nutzen zu ziehen.“290 In Le christianisme dévoilé zieht Holbach das
Fazit seiner Kritik der Religion:
288
289
290
Holbach 1970: 85f.
Vgl. ebd.: 86.
Holbach 1960: 410f.
99
„In der Tat, ich wiederhole es, scheint die Religion überall nur deshalb eingeführt worden
zu sein, um den Fürsten die Mühe zu ersparen, gerecht zu sein, gute Gesetze zu erlassen
und vernünftig zu regieren. Die Religion ist die Kunst, die Menschen durch Schwärmerei
trunken zu machen, um sie daran zu hindern, sich mit den Übeln zu befassen, mit denen ihre Herrscher sie hienieden plagen. Mit Hilfe unsichtbarer Mächte, mit denen man ihnen
droht, zwingt man sie, schweigend alles Elend zu erleiden, das ihnen von sichtbaren Mächten zugefügt wird. Man läßt sie hoffen, daß sie in einem anderen Leben glücklicher sein
werden, wenn sie sich mit einem unglücklichen Dasein in dieser Welt abfinden.“291
Religion entsprang der Furcht vor einer unerkannten Natur und ist ein nützliches
Instrument der Herrscher. Die Furcht bezeichnet die subjektive Seite, das Bedürfnis, der unpersönlichen, teils hegenden, teils blind zuschlagenden Macht der
Natur persönliche Züge zu verleihen. Ihre objektive Seite besteht erstens in der
mangelnden Erkenntnis der Ordnung und Gesetze der Natur und zweitens in der
Möglichkeit, mithilfe der Religion eigene Herrschaftsinteressen auf Kosten der
ungebildeten Mehrheit durchzusetzen. Vor Marx erblickt Holbach im religiösen
Trost ein Rauschmittel, das den Menschen von den Herrschern verabreicht wird,
damit sie zahllosen Leiden, die ihnen auferlegt werden mit dem Hinweis auf ein
besseres Leben im Jenseits leichter ertragen. Dies gilt uneingeschränkt auch für
die monotheistischen Religionen. So enthalten nach Holbach die biblischen
Schriften phantastische Fiktionen, die von den ungebildeten Massen geglaubt
wurden – auch hier ist an den Traité zu erinnern – und einen Gott vorstellen, der
mißgünstig, launisch, eifersüchtig und grausam ist. Der bis heute nicht verstummte Vorwurf, der biblische Gott, insbesondere der des Alten Testaments,
sei grausam und gewalttätig – man denke an die Kritik Jan Assmanns oder Peter
Sloterdijks292 –, hat in den religionskritischen Schriften des 17. und 18. Jahrhunderts seine Vorläufer. Insbesondere das Buch Josua dient immer wieder als Belegstelle. Aber auch die Exodusüberlieferungen werden von Holbach vernichtend beurteilt. „Sind die Bücher, die diesem Moses zugeschrieben werden und
die von so vielen Tatsachen berichten, die erst nach ihm geschehen sind, wirklich authentisch? Endlich, welchen Beweis haben wir von seiner Mission außer
dem Zeugnis von 600.000 unzivilisierten, abergläubischen, unwissenden und
leichtgläubigen Israeliten, die sich vielleicht von einem grausamen Gesetzgeber
anführen ließen, der immer bereit war, sie auszurotten?“293 Die Skepsis gegenüber dem mosaischen Ursprung des Pentateuch verweist auf Spinoza; Holbachs
Kritik der fundierenden Narrative Israels geht aber weit über Spinoza hinaus.
Anders als manche Theologen des 20. Jahrhunderts schließt Holbach in seine
Kritik auch das Christentum ein: Intoleranz und Fanatismus erklären sich aus
291
292
293
Holbach 1970: 167.
Vgl. Assmann 1997: 17-26; ders., 2003; ferner Sloterdijk 2007: 13-62; dazu Buchholz 2010.
Holbach 1970: 87.
100
den jüdischen Ursprüngen des Christentums. Der Religionskritik des 18. Jahrhunderts waren diese durchaus präsent; freilich ist dieses Erbe zugleich der
Grund für die repressive Praxis der Kirche. Es ist zu einfach, die antijüdische
Polemik mancher Autoren der Aufklärung damit zu erklären, dass das Judentum
als Projektionsfläche einer im Grunde antichristlichen Kritik diente. Gerade
Holbach bietet zahlreiche Belege, die das Gegenteil nahelegen: die historisch
zutreffende Verankerung des Christentums im Frühjudentum bedingt für Holbach, dass der ‚unmenschliche Gott des Judentums’ seine Züge auch an den
christlichen Gott weitergibt. Noch schärfer sind die Formulierungen, die Holbach im zweiten Kapitel des Entschleierten Christentums wählt: „Stolz auf den
Schutz Jehovas (!), zogen die Hebräer zum Sieg aus. Der Himmel rechtfertigte
in ihren Augen Schurkerei und Grausamkeit. Die Religion im Verein mit der
Habsucht erstickte in ihnen die Stimme der Natur, und unter der Leitung ihrer
unmenschlichen Anführer vernichteten sie die Stämme Kanaans mit einer Barbarei, die jeden Menschen empört, in dem der Aberglaube die Vernunft noch
nicht völlig zerstört hat.“294 Lassen wir dahingestellt, ob die Stimme der Natur in
uns immer Menschlichkeit und Milde gebietet, so zeigt sich hier eine Tendenz,
die negativen Seiten des Christentums als jüdische Erbschaft zu deuten. Das entschuldigt die Kirche in den Augen Holbachs keineswegs, doch sind Betrug, Intoleranz und Machthunger bereits bei der älteren Religion nachweisbar, der das
Christentum entsprang. Das Bild, das Holbach vom Judentum als „des unwissendsten, stumpfsinnigsten, niedrigsten und leichtgläubigsten Volkes“ zeichnet,
ist wenig schmeichelhaft. Selbst wenn man meinte, damit sei nur die Wüstengeneration gemeint, der von der Bibel selbst kein gutes Zeugnis ausgestellt wird,
so räumt der Artikel ‘Juifs‘ der Théologie portative (1768), jeden Zweifel aus:
„Juden (Juifs) Anmutiges Volk, das aus Krätzigen, Aussätzigen, Räudigen, Wucherern und
Beutelabschneidern besteht und in das sich der Herr der Welt, dem es diese schönen Eigenschaften angetan hatten, verliebte. Das hat ihn veranlaßt, ziemliche Dummheiten zu sagen und zu begehen; heute ist er wohl darüber hinaus; seit die Juden seinen Sohn aufgehängt haben, interessiert er sich nur noch für geröstete Juden. Die Inquisition hat den Auftrag, seine Küche damit zu versorgen.“295
294
295
Ebd.: 72.
Holbach 1970: 173-293, hier: 246. Diese Enzyklopädie der Religionskritik, die sich ironisch als ‚theologisches Lexikon‘ gab, erschien 1768 pseudonym unter dem Namen François Bernier (1625-1688). Ob Holbach
der alleinige Autor war, darf bezweifelt werden. Aber gerade der Artikel Juifs stimmt recht genau zu den extrem negativen Äußerungen Holbachs über das Judentum, die sich auch in Le Christianisme dévoilé finden.
Die Anmerkung des Herausgebers, die Kritik der Aufklärung am Judentum sei nicht mit Antisemitismus zu
verwechseln (ebd.: 534), wirkt sehr bemüht. Den Hinweis auf angebliche physische Makel ‘der’ Juden wird
man schwerlich als ‚Kritik‘ bezeichnen können, er gehört vielmehr zu den Stereotypen des Antisemitismus.
Zu den antiken Ursprüngen dieses Motivs vgl. auch Assmann 1998: 54-72; zum Antisemitismus einer Reihe
von Vertretern der Aufklärung – neben Holbach auch Voltaire – vgl. Poliakov 1983: 100-112, 134-142;
Nirenberg 2013: 352-358.
101
Der Hinweis auf den Missbrauch biblischer Texte zur Legitimation sowohl der
bestehenden (Un-) Ordnung als auch repressiver kirchlicher Maßnahmen – man
denke an das Vorgehen der spanischen Inquisition nicht zuletzt gegen die Juden,
worauf auch der zitierte Text anspielt – reicht nicht aus, diese hämische Polemik
zu erklären oder gar zu rechtfertigen. Selbst wenn man bedenkt, dass
erstens die historisch-kritische Erforschung der Schrift recht spät erst das Buch Josua als
weitgehend unhistorisch erwiesen hatte (womit das ethische Problem noch nicht gelöst ist);
zweitens man im 18. Jahrhundert nicht wusste, dass die auch heutige Leser befremdende
Idee des ‚Banns‘ (hebr. Mrc, meint im altorientalischen Kontext die Weihung der besiegten
Gegner an die Gottheit) auch Israels Nachbarn bekannt war296 und
drittens einer in Fragen der Toleranz und der Menschenrechte hochsensibilisierten Generation dieses Buch einschließlich seiner Rezeptionsgeschichte anstößig sein musste,
so entschuldigt dies keineswegs die kritiklose Übernahme alter Klischees, die im
ersten Satz des Artikels Juifs ins Auge springen und noch eine große Karriere
vor sich haben sollten. Der antijüdische Habitus überlebt offensichtlich seine
religiösen Ursprünge und ist auch bei Autoren zu finden, die sich dezidiert von
allen kirchlichen Lehren und Traditionen losgesagt haben. Eine weitere, ebenso
wichtige Quelle ist die vor- und außerchristliche antijüdische Polemik, wie sie –
nach der Überlieferung des Flavius Josephus (37- ca.100) – u.a. von dem ägyptischen Priester Manetho (3. vorchristliches Jahrhundert) und Apion (1. Jahrhundert n. Chr.) vorgetragen wurde. Auf beide Autoren kommt Holbach im Christianisme dévoilé ausdrücklich zurück 297 ; sie dürften auch Motive des Artikels
Juifs in der Théologie portative geliefert haben. Dem ‚paganen‘ Antijudaismus
waren die Exodus-Traditionen, die – vielleicht auch in Erinnerung an den Versuch eines ‚Monotheismus von oben‘ unter Amenophis IV. Echnaton im 14.
vorchristlichen Jahrhundert298 – in Gestalt eines Gegen-Narrativs proägyptisch
umgedeutet wurden, suspekt. Aber auch der strenge Monotheismus, der Erwählungsgedanke, die Kaschrut, die Beschneidung (obwohl sie keineswegs auf Juden beschränkt war) und der Sabbat dienten als Beleg für die angebliche jüdische Menschenfeindschaft299. In diesen Texten hat auch die Behauptung, Juden
seien mit einer ansteckenden Krankheit behaftet, (Aussatz, Krätze), die nach einigen Konflikten schließlich zu ihrer Vertreibung aus Ägypten führte, ihren Ur-
296
297
298
299
Vgl. Walzer 2012: 35f. Walzer spricht für die biblischen Schriften von der „invention of the totalizing herem“, der in der Praxis der Kriegführung nie angewandt wurde (ebd.: 44f).
Vgl. Holbach 1970: 71; zu den genannten und weiteren antiken Autoren vgl. Assmann 1997: 54-72, Schäfer
1998: 15-33.
Vgl. Assmann 1997: 47-54.
Vgl. ebd.: 54.72; ausführlich Schäfer 1998: 34-105. Ob jüdische Gemeinden vor der Konstantinischen Wende gezielt für sich warben und so Nichtjuden für das Judentum gewannen (Proselyten), ist zwar nicht unumstritten, aber plausibel. Eine solche Praxis könnte schon bestehende antijüdische Affekte verstärkt haben (vgl.
Schäfer 1998: 106-118).
102
sprung300. Holbach übernimmt sie ebenso wie die von Josephus überlieferte Darstellung Manethos ohne kritische Distanz. Weil die Argumentation des Traité
ebenso wie diejenige Holbachs oder selbst Voltaires, der einen der ersten geschichtsphilosophischen Versuche vorlegte, kaum religionshistorische Differenzierungen vornimmt, zudem das Verdikt über die religiösen Traditionen im
Grunde bereits feststeht. Die radikale Aufklärung war ausgerechnet hier nicht
radikal genug und ließ die Wurzel des Übels unberührt. Wo die Kritik schläft, ist
die Anfälligkeit für die Übernahme älterer Vorurteile größer als man es bei der
Vernunftemphase Holbachs annehmen sollte. Die totalisierende Tendenz nicht
nur Holbachs ist selbst ein Stück Dialektik der Aufklärung.
Allerdings steht der Religionsbegriff der radikalen Aufklärung historisch wie
systematisch auf zu schmaler Basis; er war weitgehend von Hobbes und dem
Traité, in geringerem Maße von Spinoza abhängig. Bereits Gianbattista Vico,
der uns an anderer Stelle noch ausführlicher beschäftigen wird, hatte sich zu Beginn des 18. Jahrhunderts nicht mit der Antwort begnügt, allein die Furcht vor
der unerhellten Natur habe die Götter hervorgebracht. Die Genese der Mythen
und Religionen wird in den kultur- und religionsgeschichtlichen Modellen, die
auf Vico folgen in den Zusammenhang einer mit der menschlichen Selbsttranszendenz verbundenen ‘Logik der symbolischen Formen’ (E. Cassirer) gestellt.
Für die frühen Stufen sind Furcht und Lebensnot als wesentliche Elemente keineswegs auszuschließen, doch stehen die Mythen und Religionen nicht einfach
nur im Zeichen einer primitiven Naturerklärung, sondern gehen über zu einer
umfassenden symbolischen Weltdeutung 301 . Auch ist Holbach angesichts der
legitimatorischen Funktion der Religion zu seiner Zeit entgangen, dass zentrale
Teile der biblischen Traditionen ausdrücklich im Zeichen einer Herrschaftskritik
stehen und nicht der blinde Gehorsam sondern Mündigkeit sich mit der monotheistischen Revolution verbindet 302 ; ein Befund, der im 20. Jahrhundert bei
Ernst Bloch, wie wir noch sehen werden, eine große Rolle spielt. Dass die Völkerwelt nicht bloß als Feind Israels und Gottes dargestellt wird, zeigen wichtige
Passagen der prophetischen Literatur303. Allerdings wird man einräumen, dass
gerade diese subversiven Schichten biblischer Überlieferung schwer kompatibel
waren mit dem Interesse, der überkommenen Herrschaft eine religiöse Legitimation zu verleihen. Vielleicht ist es aber gerade der politischen Wirkung einer radikalen Kritik von Religion und Gesellschaft zu verdanken, dass heute Theolo-
300
301
302
303
Vgl. Josephus, Contra Apionem II,26-31 = Josephus 1993: 128-137; hierzu Assmann 1997: 69-72.
Vgl. Vico 1990: 188-190. Zu Vico vgl. ausführlicher das nächste Kapitel.
An das Exodus-Motiv knüpft ausdrücklich Michael Walzer an; vgl. Walzer 1995, 11-27.
Vgl. Walzer 2012: 93-96.
103
gen und Religionsphilosophen die herrschaftskritische Bedeutung des biblischen
Monotheismus erkennen und herausarbeiten können.
Anders als Holbach blieb Claude Adrien Helvétius in seiner Stellung zum mechanischen Materialismus kritischer als es die simple Einordnung in die ‚radikale Aufklärung‘ zunächst vermuten lässt. Auch die radikalen Aufklärer bildeten
keine völlig homogene Gruppe, und was sie verband, war vor allem die kompromisslose Ablehnung der überkommenen Verhältnisse und deren ideologische
Stützen. Wie für Spinoza der Trieb zur Selbsterhaltung (conatus sese conservandi), so bildet für Helvétius die Eigen- oder Selbstliebe (amour propre) als ein
vormoralischer Egoismus, der von Spinozas conatus sich begrifflich nicht scharf
unterscheiden lässt, die Grundlage seiner primären Interessen und Tugenden. Sie
gehört zur natürlichen Verfassung des Menschen und kann von ihm nicht abgetrennt werden. „Unsere Selbstliebe macht uns ganz zu dem, was wir sind. Aus
welchem Grunde begehrt man so heftig Ehren und Würden? Weil man sich
selbst liebt, sein Glück herbeiwünscht und damit auch Macht, um es sich zu verschaffen.“304 Es ist vergebens, den Menschen die Eigenliebe verbieten zu wollen, sie werden sie hinter allen angeblichen Tugenden verstecken, und oft sind
jene, die gegen die Eigenliebe wettern, ihr tiefer ergeben als die Adressaten ihrer
Predigt. Nun geht Helvétius nicht von einer unveränderlichen, mechanisch klappernden Natur aus, deren bloßer Teil der Mensch ist, sondern betrachtet Natur
als etwas, das von der menschlichen Zivilisation überformt werden kann; so
auch die menschliche Natur. Die Eigenliebe, der wir unsere Fortexistenz verdanken, kann und darf nicht ausgelöscht werden, wohl aber ist sie zu zivilisieren. Erziehung und Gesellschaft nach ihrem jeweiligen Stand bewerkstelligen
dies – oder versagen zum Unheil der Menschen. Der Mensch ist Teil der Natur,
aber, was ihn betrifft, einer bewussten Natur, die
darauf angewiesen ist, die Chancen der Zivilisation oder der ‚moralischen Welt‘ zu nutzen. Darum kommt es darauf an, scheinbar Invariantes,
durch Natur Festgelegtes, als Produkt gesellschaftlicher Prozesse durchschaubar zu machen
und so auch einer möglichen Veränderung zu
öffnen; umgekehrt ist dem Natur-Moment am
und im Menschen zu seinem Recht zu verhelfen.
Es ist zu kultivieren, nicht aber zu unterdrücken Claude Adrien Helvétius (1715-1771)
oder zu leugnen. Entsprechend entfaltet Helvétius in De l’homme (postum 1773)
nicht ein weiteres Système de la nature, sondern beginnt mit den frühesten
304
Helvétius 1972: 199.
104
Einwirkungen von Gesellschaft auf den Menschen, untersucht ihre Chancen und
die Folgen, welche die bestehende Gesellschaft und ihre Erziehungsorgane für
die Entwicklung der Menschen haben. Der Mensch beginnt mit der Nachahmung anderer und ist darin – schon hier bahnt sich die Darwinsche Kränkung an
– „ein Affe“305. Umso wichtiger ist es, dass die Gesellschaft als Vorbild wirkt,
wozu die bestehende schwerlich taugt. Das pädagogische Interesse Helvétius‘ ist
nicht blind für die gesellschaftlichen Bedingungen, denen das Individuum unterworfen ist und die es zu erhellen gilt. Entsprechend bietet De l’homme keine
abstrakte Anthropologie mit invarianten ‚Wesenseigenschaften‘. Die Menschen
realisieren sich nur im sozialen Verband, in Gesellschaften, die historischen
Veränderungen unterliegen. So sind auch Ideologien und Vorteile keineswegs
das Produkt einzelner, sondern verweisen auf die Verfassung der Gesellschaft.
Mit Recht spricht Leo Löwenthal von einem „Primat der Soziologie“ bei Helvétius306. Das Schicksal der Indiviuen und ganzer Gesellschaften ist nicht das
Ergebnis göttlichen Handelns oder eines Heilsplanes, sondern immanenter Verhältnisse, die analysiert werden müssen, um sie einer möglichen Veränderung
zuzuführen. Was Helvétius zusammen mit diesem Perspektivwechsel in seiner
Schrift bietet, ist eine ausführliche, fulminante und kompromisslose Kritik der
Strukturen des ancien régime und deren schädlicher Einflüsse auf die Individuen. Er prangert die schlechte, an den Privilegien des ersten und zweiten Standes
orientierte Gesetzgebung ebenso an wie die Scheinmoral, die umfassenden Beschränkungen der Freiheit und die Lähmung wirtschaftlicher und technischer
Innovationen. „De l’homme“, so Jonathan Israel, „was a radical bombshell, undermining every principle of existing law, administration, and morality.”307 Diese Wirkung übte die Schrift nicht nur auf Theologen und Politiker des ancien
régime aus, sondern auch auf Vertreter einer ‚moderaten Aufklärung‘. Die kühnen Attacken machten auch vor der herrschende Religion, ihren theologischen
Lehrern und kirchlichen Amtsinhabern nicht halt.
Auch hier stehen wie in anderen religionskritischen Schriften die gefährliche
Nähe von Religion und Herrschaft, die wissenschaftlich unausweisbaren Geltungsansprüche der Offenbarungsreligionen und deren Intoleranz im Zentrum
der kritischen Aufmerksamkeit. Alle Religionen, die behaupten, dass sich Gott
oder Götter den Menschen auf besondere Weise mitgeteilt hätte(n), ähneln einander, beruhen auf menschlichen Sehnsüchten und Erfindungen und sind in
ihren Wirkungen destruktiv, haben sie doch „die Nationen gegeneinander aufgebracht, das Blutvergießen verursacht und die Zerstörung in die Welt getra305
306
307
Ebd.: 472.
Vgl. Löwenthal 1987: 53-59.
Israel 2011: 671.
105
gen“308. Insofern sie auf erfundenen Erzählungen beruhen, Projektion der Sehnsüchte sind, Ursachen von Konflikten und Intoleranz sind und schließlich eine
Kaste von Priestern gut ernähren, nennt Helvétius sie ‚falsche Religionen‘. Eine
ihrer wichtigsten Ursachen ist „das Verlangen nach Unsterblichkeit“. Die Menschen haben „Angst vor dem Tode und dem Verfall“, und allein diese Angst,
versichert Helvétius, „hätte ausgereicht, sie auch ohne Offenbarung das Dogma
der Unsterblichkeit erfinden zu lassen“309. Man glaubt gerne, was man wünscht,
und unterdrückt den aufkommenden Zweifel. Einige vermochten aus diesem
Bedürfnis für sich Vorteile zu ziehen und nicht nur mithilfe angeblicher Offenbarungen ein florierendes Unternehmen mit Monopolstellung für Lebenssinn
und Moral zu etablieren, sondern auch die Macht an sich zu reißen. Der Geistlichkeit, welche ihre Zuständigkeit zum eigenen Vorteil fortschreitend bis in den
Bereich der Politik und Gesetzgebung hinein ausdehnt und abwechselnd Furcht
wie Hoffnung bedient, ist schwerlich daran gelegen, dass die Menschen von ihrer Vernunft Gebrauch machen. „Es liegt nicht im Interesse der Priester“, so
Helevétius, „daß der Bürger gut handelt, sondern daß er überhaupt nicht nachdenkt. ‚Die Menschen müssen‘, so sagen sie, ‚wenig denken und viel glauben‘.“
So geht der Vernunftgebrauch zurück, nimmt die Tugend des Volkes ab. „Die
Ausübung der Tugenden ist anstrengender als die Einhaltung eines Aberglaubens. Es fällt dem Menschen weniger schwer, vor Altären niederzuknien, dort
ein Ofer zu bringen, sich im Ganges zu baden und jeden Freitag fleischlos zu
essen, als wie Camillus undankbaren Mitbürgern zu vergeben, wie Pappyrius
den Reichtum zu verachten oder wie Sokrates die Welt zu belehren.“ 310 Die
Menschen sind schon aufgrund ihrer Trägheit eine leichte Beute der Priester,
und so bietet sich in nahezu allen Kulturen ein ähnliches Bild. Es bedürfte nur
ein wenig Urteilskraft, um die absurden Lehren und Vorstellungen der ‚falschen
Religionen‘ zu überführen, aber solange deren Diener mit der Erziehung der
Menschen betraut sind, werden sie deren Trägheit fördern und ihnen die phantastischen Erzählungen als glaubhaft von Kindheit an einflößen.
Die Formulierungen, zu denen Helvétius in seinen religionskritischen Ausführungen greift, fallen nicht selten hinter die eigenen sozialhistorischen und sozialpsychologischen Einsichten zurück und vermitteln auf den ersten Blick den
Eindruck, dass auch für ihn Religion eine Erfindung geschäftstüchtiger Priester
und schlauer Theologen sei; sie profitieren von der Trägheit und Unbildung der
Massen, welche sie zugleich prolongieren. Warum aber lassen sich die Menschen derart manipulieren? Hat das Bedürfnis, das die Priester für sich erfolg308
309
310
Helvétius 1972: 154.
Ebd.: 154f.
Beide Zitate: ebd.: 161f.
106
reich nutzen, ein fundamentum in re und muss nicht doch ein bestimmter historisch-gesellschaftlicher Stand angenommen werden, an dem die Organisation
der Gemeinwesen und der Stand des Vernunftgebrauchs deratige Machenschaften ermöglichen? Helvétius bleibt uns hier eine bündige Antwort schuldig; es ist,
so schreibt Leo Löwenthal, „gar nicht verständlich, wie eine Gruppe von Menschen nur aufgrund einer erfundenen Offenbarungslehre andere Menschen zur
Aufgabe ihrer Machtpositionen sollte veranlassen können, wenn sie nicht wollen.“311 Welche sozialpsychologischen Gründe lassen sich anführen, um ein derart absurdes, den eigenen Interessen zuwiderlaufendes Verhalten zu motivieren?
Es scheint als habe Helvétius „hier sein Haß seine Einsicht übermannt und ihn
zu einer Geschichtskonstruktion verführt, die mit seinen eigenen sonst angewandten Methoden nicht in Übereinstimmung gebracht werden kann.“ 312 Die
interreligiösen und interkulturellen Vergleiche bleiben – auch wenn man den
Stand des 18. Jahrhunderts berücksichtigt – eher dürftig und man hat den Eindruck, dass Helvétius vor allem die römisch-katholische Kirche als Objekt seiner Abscheu und Modell aller Religionen vor Augen stand.
Wenn es aber eine ‚falsche Religion‘ gibt, so muss es auch eine ‚wahre‘ oder
zumindest bessere geben. Wie sieht diese aus und was kennzeichnet sie im Unterschied zu den bestehenden Offenbarungsreligionen? Sicherlich ist diese ‚wahre Religion‘ nichts, das den überlieferten ähnelt. Helvétius nennt sie auch Weltreligion im Singular – als Erbe der Weltreligionen, die sich allesamt als Feinde
von Vernunft und Aufklärung erweisen. „Eine Weltreligion kann nur auf ewigen
und unveränderlichen Prinzipien begründet sein. Diese müssen wie die Sätze der
Geometrie im strengen Sinne beweisbar und aus der Natur des Menschen und
der Dinge abgeleitet sein.“ 313 Die Formulierung erinnert kaum zufällig an
Spinozas more geometrico verfahrende Ethik. Die Vernunft ist es auch hier, die
uns allein leiten soll. „Der Himmel … hat gewollt, daß der Mensch mit seiner
Vernunft an seinem Glück mitwirkt und daß in den großen Gesellschaften das
Meisterwerk einer vorzüglichen Gesetzgebung, wie das aller anderen Wissenschaften, ein Produkt der Erfahrung und des Genies sei.“314 Gott schuf den Menschen mit Vernunft, damit er in Fragen der Bedürfnisbefriedigung, der Politik
und der Moral von ihr Gebrauch mache, seine Fertigkeiten auf allen Gebieten
verbessere und die optimale Gesetzgebung erfinde. Das ist die wahre Religion
und der wahre Kult; die heutigen Priester aber werden aufgrund ihres partikularen Interesses niemals „zu Aposteln einer solchen Religion werden“, sondern sie
311
312
313
314
Löwenthal 1987: 85.
Ebd.
Helvétius 1972: 75.
Ebd.: 76.
107
eher hintertreiben. „Die Fundamente einer vernünftigen Moral sind in den Staaten … nur durch die Zerstörung der meisten Religionen zu legen.“ 315 Vernunft
un Offenbarung bleiben für Helvétius unversöhnliche Gegensätze.
e) Ein kurzer Blick auf und in die Encyclopédie Es gab seit Pierre Bayles
Dictionnaire historique et critique (1697), eines der wichtigsten Werke der
Frühaufklärung, viele Wörterbücher und Lexika, aber nur eine Encyclopedie.
Wie auf einer Place d’etoile laufen die unterschiedlichen Tendenzen der Aufklärung (die radikale eingeschlossen) in diesem, von Denis Diderot und Jean le
Rond d’Alembert edierten Gemeinschaftswerk vieler, dem Projekt der Aufklärung verbundner Autoren zusammen316. Die Encyclopédie stand gewiss nicht auf
dem Land in den Hütten französischer Bauern und in Pariser Elendsquartieren,
sie erfreute sich aber über die Salons als besondere Orte der Aufklärung hinaus
einer großen Verbreitung in gebildeteren bürgerlichen Schichten, ja die – verglichen mit den Foliobänden – preisgünstigeren Quart- und Oktavauflagen waren
Bestseller des 18. Jahrhunderts317. Die Kontroversen und Krisen, die das Werk
vom ersten Band (1751) an begleiteten, waren auf lange Sicht dem Absatz ebenso förderlich wie die illustre Schar seiner Autoren, die philosophes318.
Jean Baptiste le Rond
d’Alembert (1717-1783)
Denis Diderot (1713-1784)
„Dieses Buch“, schreibt Robert Darnton, „war gefährlich. Es lieferte nicht lediglich Wissen
über Alles von A bis Z; es zeichnete die Kenntnisse nach philosophischen Prinzipien auf,
die d’Alembert in der ‚Einleitenden Abhandlung‘ dargelegt hatte. Obwohl er formal die
Autorität der Kirche anerkannte, machte d’Alembert deutlich, daß Erkenntnis durch die
Sinne gewonnen wird und nicht aus Rom oder der Offenbarung. Der große strukturierende
Faktor war die Vernunft, die gemeinsam mit der Erinnerung und der Einbildungskraft als
ihren Schwesterfähigkeiten die Sinnesdaten in Zusammenhang brachte. So stammt alles,
315
316
317
318
Ebd.: 77. ‘Gott’ und ‘Himmel’ sind hier schwerlich in einem personalen Sinne zu verstehen; Löwenthal
spricht wohl zutreffender von einem „säkularisierten Deismus“ (vgl. Löwenthal 1987: 98).
Der vollständige Titel lautet Encyclopédie ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers. Die
Encyclopédie nicht als imposantes Werk eines einzelnen Gelehrten (wie Bayles Dictionnaire), sondern „als
Gemeinschaftswerk von rund 140 Verfassern“ wurde zum Vorbild moderner Nachschlagwerke; vgl. Burke
2014: 212f; zur Strategie des Sammelns und Klassifizierens vgl. ebd.: 62-67.
Vgl. Darnton 1993: 17f; zur Encyclopédie siehe ferner Blom 2011: 67-83.
Vgl. ebd.: 22f; Im Hof 1995: 143f; zu den philosophes als ‚öffentliche Intellektuelle‘ vgl. Burke 2014: 278.
108
was der Mensch wußte, aus der Welt, die ihn umgibt und aus den Tätigkeiten seines eigenen Geistes.“319
Encyclopédie: Baum des Wissens (Naturwissenschaft, Philosophie und Historiographie)
319
Darnton 1993: 18; vgl. auch Groethuysen 1971: 28-31
109
Zu den vielen Illustrationen des Werkes gehörte auch der Baum des Wissens, der
die Stellung der Wissenschaften, wie sie den Herausgebern und den Autoren der
Encylopédie vorschwebte, veranschaulichte: Die Theologie, einst Krönung und
Königin der Wissenschaften, verliert ihre frühere Stellung, sie muss sich mit einem dünnen Ast begnügen. Die Konstitution der Wissenschaft ist – trotz der besonderen Stellung der Philosophie als Stamm (tronc) – republikanisch. Sowohl
die Offenbarung, die der théologie révélée normativ zugrunde liegt, als auch der
Glaube sind für die Autoren der Encyclopédie nur schwer vereinbar mit dem
Stand der Wissenschaft und einem seit Spinoza nicht nur geforderten, sondern
auch mit hohem Risiko praktizierten freien Gebrauch der Vernunft. Allerdings
bleibt d’Alembert in seinem Discours préliminaire erheblich vorsichtiger als
Robert Darnton es in seiner Deutung suggeriert320. Autoren wie d’Holbach vertraten in ihren eigene Werken eine sehr viel weitgehendere Position, die Religion wie Theologie gänzlich aus dem Kreis des Wissens verbannte. Offen und mit
beißender Ironie drückte Denis Diderot seine eigene Auffassung in der Addition
aux Pensées philosophiques (1762 / 1770) aus: „Si la raison est un don du ciel,
et que l’on en puisse dire autant de la foi, le ciel nous a fait deux présents incompatibles et contradictoires.“ Nur einige Zeilen später heißt es: „Si ma raison
vient d’haut, c’est la voix du ciel qui me parle par elle; il faut que je l’écoute.“321
Hat die Stimme des Himmels nicht höhere Autorität als diejenige der Theologen
und Zensoren? Überhaupt ist den Theologen nicht recht zu trauen und man tut
gut daran, sich von ihnen fern zu halten, bringen sie einen doch um den letzter
Rest des Verstandes: „Égaré dans un forêt immense pendant la nuit, je n’ai
qu’une petite lumière pour me conduire. Survient un inconnu qui me dit : Mon
ami, souffle ta bougie pour mieux trouver ton chemin. Cet inconnu est un théologien.“322 Vom unbegrenzten ‚Vernunftglauben‘, den manche Autoren pauschal
der Aufklärung attestieren, findet sich hier nichts, nur „une petite lumière“, und
selbst das scheint manchen Theologen, so Diderot, suspekt zu sein. Schwerlich
hätten seine Bonmots in einem Artikel der Encyclopédie stehen können, ohne
die Aufmerksamkeit der kirchlichen und staatlichen Zensur auf sich zu lenken.
Aber trotz der Vorsicht, die Herausgeber, Autoren und Verlag walten ließen,
wurde „diese Satansbibel“ nach mehreren Anläufen der Zensur 1759 auf den
Index gesetzt, was die erste Krise des ambitionierten Projekts auslöste323. Den
Zensoren entging der neue erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Anspruch,
der hier vertreten wurde, ebenso wenig wie die kritische Stellung zu den Autori320
321
322
323
Vgl. d’Alembert / Diderot 1986a: 118; zum Baum des Wissens vgl. auch Burke 2014: 64.
Diderot 2007: 160.
Ebd.
Im Hof 1995: 144; vgl. Darnton 1993: 24f.
110
täten. „Unter der Masse der achtundzwanzig Foliobände der Enzyklopädie“, so
Darnton, „mit ihren 71.818 Artikeln und 2885 Tafeln liegt ein erkenntnistheoretischer Richtungswechsel, der die Topographie allen menschlichen Wissens
verwandelte.“324. Gegenüber der rationalistischen Tradition des 17. Jahrhunderts
gelangten Locke und Newton zu größerer Bedeutung. Nicht zuletzt Lockes Kritik der idées innées musste von Interesse sein, doch sollte die Nähe zum Empirismus nicht überbewertet werden. Weder Locke noch der als Überwinder der
Scholastik hoch geschätzte „chancelier Bacon“, sondern Descartes besaß für
d’Alembert „tout ce qu’il faut pour changer la face de la philosophie“325. Auch
der in sich differenzierte Monismus Spinozas (den zu nennen d’Alembert sorgfältig meidet) blieb für viele Autoren aus dem Umkreis der Encyclopédie weiterhin attraktiv – und sei es in der schon bekannten materialistischen Wendung
des Gedankens326.
Für die Zensoren enthielt, wie schon angedeutet, der neue Wissenschaftsbegriff
noch einen weiteren Anstoß: Diderot verwies mit einem beachtlichen Teil seiner
Mitautoren an der Encyclopédie den Glauben ins Reich des Irrationalen. Er bildet die Quelle für Spaltungen und Konflikte. Während die apodiktisch formulierten Inhalte des Glaubens rational nicht adäquat nachvollzogen werden können, ist jede Abweichung mit harten Sanktionen belegt. Das Dogma ist für
Diderot gerade nicht, wie später einem auf Gefühl und Erlebnis basierenden Religionsbegriff, Ausdruck einer rationalistischen Reduktion, sondern im Gegenteil einer Abdikation der Vernunft. Sie ist unter Androhung von Strafen genötigt, sich einer äußeren Autorität zu unterwerfen, so dass die beiden ‚Himmelsgeschenke‘ – Vernunft und Glaube – einen dauernden Konflikt begründen. Wo
aber allein Autorität, Willkür und Gewohnheit die Grundlage der Religion bilden, sind Spaltungen nicht verwunderlich. Was dem einen heilig und unantastbar ist, wird vom anderen verworfen und als Unglauben bezeichnet:
„J’entends crier de toutes parts à l‘impiété. Le chrétien est impie en Asie, le musulman en
Europe, le papiste à Londres, le calviniste à Paris, le janséniste au haut de la Rue SaintJacques, le moliniste au fond du faubourg Saint Médard. Qu’est-ce donc qu’un impie?
Tout le monde l’est-il ou personne?327
Die Pluralität von Religionen und Konfessionen, an denen heute sich die unterschiedlichen Modelle einer Theologie der Religionen abarbeiten, wird auch für
Diderot zum Zeichen einer schwachen Glaubwürdigkeit. Religionen und Konfessionen werden einander Häresien, je nachdem wo ihre jeweiligen Vertreter
sich gerade befinden. Kann aber eine Wahrheit nur auf einen – bis zum Quartier
324
325
326
327
Ebd.: 19.
d’Alembert / Diderot 1986a: 139.
Vgl. Israel 2001: 516-527.
Diderot 2007: 76
111
reichenden – geographisch und kulturell begrenzten Raum beschränkt sein? Widerlegen sich die einander bekämpfenden religiösen Geltungsansprüche nicht
wechselseitig? Was als Glaube, was als Unglaube oder Häresie gilt, hängt ab
vom jeweiligen kulturellen und gesellschaftlichen Kontext. Auch in seinem Artikel Irréligieux für die Encyclopédie verlieh Diderot diesem Zweifel, wenn
auch auf weniger ironische Weise Ausdruck, als er schrieb: „On n’est irréligieux
que dans la société dont on est membre…“328 Die religiösen Lehren mit ihren
Zufälligkeiten und willkürlichen Urteilen können folglich niemals die Grundlage
des gesellschaftlichen Zusammenlebens bilden, sondern allein die Vernunft.
Weit davon entfernt, einen Absolutheitsanspruch zu erheben, weiß die Vernunft
– im Gegensatz zu den kirchlichen Dogmen – um ihre Grenzen. Wir stoßen immer wieder, wie Bernhard Groethuysen es zugespitzt formuliert, auf den Hass,
den „die dogmatische Haltung“ bei vielen Aufklärern und philosophes weckt:
„Es geht nicht darum, alte Dogmen durch neue zu ersetzen, sondern darum, die
dogmatische und voreingenommene Denkweise durch eine wissenschaftliche
Methode zu ersetzen, die auf der Erfahrung und einer kritischen Geisteshaltung
beruht.“329 Das hat auch erhebliche Folgen für die Theologie, soweit sie an die
kirchlichen Lehrinhalte gebunden ist. Es sind vor allem drei Punkte, welche den
Wissenschaftscharakter der Theologie als zweifelhaft erscheinen lassen:
 Schrift, Tradition und Lehramt sind Autoritäten, die in der Theologie nicht prinzipiell
zur Diskussion stehen und bezweifelbar sind. Zwar ist auch die Wissenschaft nicht
schlechthin voraussetzungslos, doch gibt sie sich Rechenschaft über Geltungsumfang
und Evidenz ihrer apriorischen, d.h. für jeden vernünftigen Menschen einsehbaren Prinzipien. Darüber hinaus hat sie sorgfältig die aposteriorischen, äußeren – politischen, sozialen oder kulturellen – Einflüsse und Voraussetzungen zu prüfen.
 Anders als Philosophie und Wissenschaft ist die Theologie nicht ergebnisoffen, sondern
bleibt den normativen Gehalten der Offenbarung und der kirchlichen Lehre verpflichtet.
Man mag über die Wege streiten, das Ziel aber scheint außer Frage zu stehen. Kurz: es
fehlt die notwendige Freiheit zum Objekt. Die Bindung an das Dogma stellt bereits
formal, noch vor aller Problematik der Inhalte, den Wissenschaftscharakter der Theologie in Frage – Vorbehalte, die bis heute oft und mit Nachdruck vertreten werden.
 Die Wissenschaften liefern keine absoluten Wahrheiten, die wir gehorsam von den Autoritäten empfangen, sondern (stets vorläufige) Erkenntnisse, die durch Argumente und
überprüfbare Erfahrungen gestützt werden. Wahrhaft aufgeklärte Menschen bleiben –
wie schon Spinoza – bescheiden, sie maßen sich nicht an, in Fragen, in denen wir keine
Gewissheit haben können, apodiktisch zu formulieren.
328
329
d’Alembert/Diderot 1986b: 189 (Art. Irréligieux).
Groethuysen 1971: 74. – Man denke auch an Holbachs bissigen Artikel Doctrine in der Theologie portative.
Dort wird die die kirchliche Lehre folgendermaßen definiert: „Was jeder gute Christ glauben muß, wenn er
nicht verbrannt werden will, sei es nun in dieser oder jener Welt. Die Dogmen der Religion sind unabänderliche Ratschlüsse Gottes, der seine Meinung nur ändern kann, wenn die Kirche das tut.“ (Holbach 1970: 222.)
112
 Es sind die kirchlichen Autoritäten, die ihre Grenzen überschreiten und den öffentlich
bekundeten Zweifel sanktionieren. Die geforderte Unterwerfung unter Sätze und Lehrgehalte läuft auf ein sacrificium intellectus hinaus, das die vernünftige Natur des Menschen vergewaltigt. Das Reich von Vernunft und Wissenschaft ist republikanisch und
auf die Gleichheit seiner Bürger bedacht; das Reich des Glaubens aber eine absolutistische Monarchie, die von den Theologen mit allen Mitteln verteidigt wird.
In seinem Artikel Dogmes lässt Voltaire den Schöpfer und Bewahrer der vielen
Welten sagen, dass es nicht die leeren Ideen (idées creuses) ihrer Bewohner
sind, über die er richtet, sondern allein über ihre Taten (uniquement sur leurs
actions): die Praxis entscheidet330. Dies setzt allerdings voraus, dass die Vernunft in Fragen der Moral über konfessionelle, religiöse und kulturelle Grenzen
hinweg allen Menschen gemeinsam ist und sie zu leiten vermag, so auch bei
Diderot; „la morale“ versichert er, „est la même partout. C’est la loi universelle
que le doigt de Dieu a gravée dans tous les cœurs. “331 Man denkt an Kants ‚moralisches Gesetz in mir‘, geschrieben, wie einst die Tafeln des Bundes, mit dem
‚Finger Gottes‘, aber nun – wie in Dtn 30,14 – im Herzen. Der Universalismus
der Aufklärung, der kulturelle Differenzen nicht notwendig nivelliert, wohl aber
deren Verabsolutierung und Essentialisierung kritisiert, verweist auf die wahren
Gemeinsamkeiten aller Menschen. Wie Religiosität nicht schon moralisches
Verhalten garantiert, sondern durchaus Intoleranz und Grausamkeit motiviert, so
steht Irreligiösität nicht schon für Immoralität. „Il ne faut donc pas confondre
l’immoralité et l’irréligion.“332 Diderot sagt es an dieser Stelle nicht ausdrücklich, aber angesichts dessen, dass allein eine in der allen Menschen gemeinsamen Vernunft fundierte Moral die Kriterien eines guten Zusammenlebens abgeben kann, gleichgültig ob die Mitglieder der Gesellschaft sich als religiös oder
irrelegiös definieren, darf auch diese Gesellschaft selbst nicht mehr einen bestimmten Glauben als für alle verbindlich ansehen. Mit anderen Worten: Nur
eine auf Vernunft basierende säkulare und egalitäre Gesellschaft besitzt eine
hinreichende Legitimation. Nicht die Religion mit ihren vielfältigen Spaltungen,
Zerwürfnissen und zentrifugalen Tendenzen verfügt über die notwendige Bindekraft, sondern die praktische Vernunft. Diskurs und Argument bedürfen in Wissenschaft und Politik ihrer institutionellen Absicherung und der Garantie ihrer
Freiheit. Es ist leicht, heute über den angeblichen, ihr oft fälschlich unterstellten
Vernunftoptimismus der Aufklärung zu spotten – aber, so würde Diderot einwenden, welches andere Vermögen verbindet die Menschen, ohne die große
Pluralität der konkreten Objektivationen unserer Rationalität aufzuheben?
330
331
332
Voltaire 1818b: 377-380, hier: 379f.
d’Alembert/Diderot 1986b: 190 (Art. Irréligieux).
Ebd.
113
Deutlich vorsichtiger als Diderot oder Voltaire ist der Genfer Pfarrer Jean-Edme
Romilly (1739-1799) in seinem Artikel Tolérance, den er für die Encyclopédie
verfasste. Sie ist, so Romilly,
„im allgemeinen die Tugend jedes schwachen Wesens (la vertu de tout être faible), das dazu bestimmt ist, mit Wesen zusammen zu leben, die ihm gleichen. Dem Menschen, der
durch seine Intelligenz so erhaben ist (si grand par son intelligence), sind zugleich durch
seine Irrtümer und seine Leidenschaften so enge Grenzen gesetzt, daß man ihm den anderen gegenüber nicht genug von jener Toleranz und jener Hilfe einflößen kann, deren er
selbst so sehr bedarf und ohne die man auf der Erde nur Unruhen und Streitigkeiten (troubles et dessensions) sehen würde.“333
Man mag bei einem reformierten Pfarrer auch an die Lehre einer durch die Erbsünde verderbten Vernunft denken, die uns dazu nötigt als selbst irrende, die
erreurs und passions anderer mit Nachsicht zu behandeln. Zudem erinnert er
wie andere Aufklärer an die Ungerechtigkeit, welche die Hugenotten in Frankreich zu erleiden hatten und die Religionskriege, die Gesellschaften zerstören.
Romilly plädiert für die unverbrüchlichen Rechte des Gewissens „in allem, was
die Gesellschaft nicht beunruhigt. Spekulative Irrtümer (erreurs spéculatives)
sind für den Staat belanglos; „Verschiedenheit in den Anschauungen wird immer unter Wesen herrschen, die so unvollkommen sind wie der Mensch, die
Wahrheit bringt Ketzereien hervor wie die Sonne Schlacken und Flecken (la
vérité produit des hérésies, comme le soleil des impuretés et des taches).“ 334
Man sieht, dass innerhalb der Encycolpédie unterschiedliche Strömungen der
Aufklärung vertreten sind, radikale wie gemäßigte oder religiöse. Romilly plädiert für Toleranz in Fragen der Spekulation, wo wir aufgrund unserer Schwäche
niemals völlige Gewissheit haben und keinen Konsens erreichen können. Gerade
das höchste Vermögen des Menschen, seine Intelligenz und Vernunft, wird von
Leidenschaften fehlgeleitet und zu Irrtümern geführt. Für den Staat ist dies bedeutungslos, da er nicht auf spekulativen Lehren beruht. Die Wahrheit aber kann
die Häresien durchaus vertragen, es sind gleichsam ihre unvermeidlichen ‚Abfallprodukte‘. Freilich beziehen sich die Rechte des Gewissens nach Romilly nur
auf jene Bereiche, in denen die Gesellschaft, wie er es ausdrückt, „nicht beunruhigt“ wird. Atheistische Positionen und Ansichten, welche die Gesellschaftsordnung oder die religiöse Verfassung als ganze zur Disposition stellen, sind durch
Romillys Toleranzforderung nicht gedeckt 335. Optimistischer als Diderot oder
Holbach scheint er vorauszusetzen, dass das ancien régime noch zu Reformen
333
334
335
Romilly, Art. Tolérance in d’Alembert/Diderot 1989: 278 / dies. 1986b: 335.
Ebd. 280 / 336.
Eben darum hatte Diderot den Artikel mit einem redaktionellen Zusatz versehen, der den eindruck erweckt,
der Autor des Artikels plädiere wie Pierre Bayle für Toleranz auch gegenüber Atheisten; vgl. den Kommentar
der Herausgeber in d’Alembert/Diderot 1989: 282f).
114
fähig ist und einen religiösen wie weltanschaulichen Pluralismus durchaus dulden kann. Genau hier aber liegt der Dissens zur radikalen Aufklärung: Sie hegt
nicht mehr das Vertrauen in die überkommene Herrschaftsform, fordert Toleranz ohne Einschränkungen, plädiert für die völlige Loslösung des Staats von
der Religion und stellt die Religion als Stütze des Régimes unter Verdacht. Sie
produziert Streit, gründet, wie Holbach nicht müde wird zu betonen, in irrationalen Voraussetzungen und wird sich niemals mit einer Einschränkung ihrer
Macht in der Gesellschaft und über die Menschen begnügen.
Aber nicht nur Frankreich war seit dem 17. Jahrhundert Schauplatz einer sich
radikalisierenden, d.h. an die ‚Wurzeln‘ der bestehenden Gesellschaft und Überlieferungen rührenden Aufklärung. Jonathan Israel unterstreicht, dass dieser
Prozess „from the depths of Spain to Russia and from Scandinavia to Siciliy“
reichte336. In allen Regionen Europas verband sich mit den wissenschaftlichen
Errungenschaften und den ambitionierten erkenntnistheoretischen Programmen
eines Bacon, Descartes und Spinoza die wachsenden Distanz zu den politischen
und religiösen Autoritäten. Der immer wieder gescholtene ‚Vernunftglaube‘ der
Aufklärung, gesetzt er existierte jemals in einem übergreifenden Sinne, konnte
durchaus auf beachtliche Leistungen einer von zweifelhaften Traditionen und
Denkgewohnheiten befreiten wissenschaftlichen und politischen Vernunft verweisen. Das Vertrauen auf rationale Argumentation und unzensiertes Denken
bei so unterschiedlichen Autoren wie Descartes, Bacon, Spinoza, Leibniz, Voltaire, Condorcet oder Kant ist zudem nicht schon identisch mit einer Selbstüberschätzung der Vernunft und ihrer Reichweite. Weit genug aber reichte die Kraft
des Denkens sehr wohl, um die Regeln der überkommenen Gesellschaften infrage zu stellen:
„The radical philosophes viewed the societies of their time as inherently oppressive and
corrupt. At the same time, they sought to discredit and delegitimize existing constitutions
and legal systems on the ground that they depended on authority rooted in religion, tradition, received thinking, and aristocratic values. Radical enlighteners and democratic revolutionaries rejected the whole edifice of their society’s laws, precedents, charters, and institutionalized inequality unequivocally, and this inevitably involved rejecting all religious
authority as well.”337
Zu tief waren politische und religiöse Autorität verbunden, als dass die Kritik
der einen nicht diejenige der anderen nach sich zöge. Anders als es heutigen
Theologen erscheinen mag, bedeutete die Preisgabe eines personalen, ansprechbaren Gottes diesen Philosophen nicht notwendig einen Verlust. Aufklärung
hieß auch, den Menschen die Angst vor ihren selbst gemachten Dämonen zu
336
337
Israel 2001: 7.
Israel 2014: 704.
115
nehmen – und trat Gott nicht oft genug auf wie ein launiger Despot? War es
nicht zutiefst beunruhigend, dass das Schicksal der Menschen abhängen sollte
von den Beschlüssen eines undurchschaubaren göttlichen Souveräns und seiner
irdischen Statthalter? Zudem ähnelten die himmlischen Hierarchien auffallend
den irdischen. Sowenig das Recht unmittelbar von einer göttlichen Instanz gesetzt wird, sowenig gründen die gesellschaftlichen Machtverhältnisse in einer
von Gott gewollten und geheiligten Ordnung. Der Mensch steht nicht mehr als
ein all seiner Ansprüche und Würde beraubter Sünder vor einem Gott der seine
renitenten Kinder unmittelbar oder mithilfe einer unnachsichtigen Obrigkeit diszipliniert. Die moralische Ordnung ist keine von Gott diktierte Offenbarung,
sondern eine menschliche Schöpfung – zum Guten wie zum Schlechten. Der
revolutionäre Gedanke lag gerade darin, den Prinzipien von Freiheit, Gleichheit
und Reziprozität der Beziehungen als Grundlage einer menschlichen Ordnung
der Gesellschaft gegen alle bestehenden Widerstände eines überlebten und korrupten Systems zum politischen Durchbruch zu verhelfen338. Die Integration der
Menschen in ein deterministisches System der Natur – wie bei Holbach oder La
Mettrie – mochte weniger entwürdigend ein als die Abhängigkeit von einem
launischen Gott. Zudem konnte, bei hinreichender Beobachtung der Natur und
der Gesetzmäßigkeiten, denen ihre Erscheinungen unterlagen, für Menschen
nützliche Erkenntnisse gewonnen werden, die sich technisch anwenden ließen.
„Zum ersten Mal seit dem alten Rom“, schreibt Philipp Blom, „wurde eine starke und öffentlich sichtbare Alternative zum Weltbild der Kirche artikuliert, in
intensiven Debatten verteidigt und in schmalen, leicht zu verbergenden Traktaten unter die Leute gebracht.“339 Aber nicht nur die streng deterministisch gedachte Natur, auch die Geschichte war ohne göttliche Vorsehung und Interventionen von Interesse, eröffnete sie sich der Forschung doch als Raum menschlicher Praxis, die möglicherweise gewisse Regelmäßigkeiten aufwies, aus denen
man lernen konnte, ja vielleicht ließen sich sogar die Fortschritte der Menschheit
im historischen Verlauf nachweisen – das Thema des nächsten Kapitels.
338
339
Vgl. Israel 2014: 707.
Blom 2011: 147.
116
3. Die Entzauberung
von Natur und Geschichte
Titelkupfer von Vicos Scienza Nuova (1744)
117
118
a) Ent- oder Verzauberung der Natur? Der neuzeitliche Begriff der Natur
wird primär unter dem Aspekt ihrer Entzauberung und Beherrschung gesehen.
Natur und Geschichte, so die verbreitete Ansicht, durchliefen seit der Frühen
Neuzeit einen fortschreitenden Prozess der Entzauberung und öffneten sich, sofern ihre Regeln erforscht und beachtet wurden, der menschlichen Praxis. Griffen einst höhere Mächte und göttliche Machttaten in das Leben der Menschen
ein, so nahmen sie es nun selbst in die Hand, indem sie die Kräfte einer fortschreitend erkannten Natur für sich zu nutzen lernten. Dieses geradlinige Entzauberungsmodell ist jedoch zu korrigieren. Es gehört zur tiefen Kränkung des
neuzeitlichen Rationalismus, dass der Kampf gegen das erstarrte alte Weltbild
und für eine neue Gesellschaft nicht von Anbeginn an auf dem Feld wissenschaftlicher Vernunft ausgetragen wurde. Methodisch streng kontrollierte Verfahren verdrängten zunächst keineswegs Wunderglaube, Okkultismus und Magie. Die Provokation der christlichen Deutungen und die Rebellion gegen die
feudalen Fesseln fand auf einem Feld statt, wo Vernunft, Wissenschaft und Magie, Heterodoxie und Okkultismus nicht strikt sich trennen ließen:
„During the seventeenth century”, so Margaret Jacob, „magical explanations of the natural
order were intrinsically bound up with popular heresy and social protest coming from the
lower orders of society. Given that association, the assault upon magical and animistic explanations of nature undertaken by the major Christian scientists can no longer be seen
simply as a step in the struggle between ‘rational’ versus ‘irrational’ ways of explaining the
natural order. Political and social motives were entwined with that assault, and indeed
those motives are most clearly illustrated in the role played by English scientists during the
English Revolution.”340
Es kommt noch schlimmer: Der Zusammenbruch des Absolutismus im Zuge der
Glorious Revolution in England (1688/89) wäre ohne die unteren Klassen und
ihre Sprecher kaum möglich gewesen. Neben dezidiert religiösen, aus dem Protestantismus stammenden Motiven findet sich bei den naturwissenschaftlich wenig gebildeten Sprechern der unteren Schichten auch eine Vorstellungswelt, die
von Animismus, Magie, Pantheismus, ja Materialismus geprägt war, also durchaus heterodoxe Züge besaß341. Beides konnte auch nebeneinander existieren, da
alle diese einzelnen Motive mit Erfahrungen zusammenhingen, die nicht in eine
geschlossene Totalität integriert oder integrierbar waren. Es handelte sich oft um
340
341
Jacob 2006: 3.
Vgl. ebd.
119
popularisierte Varianten bedeutend älterer und komplexerer ‚esoterischer‘ Theorien, die seit dem 15. Jahrhundert sich offenbar nicht nur in Kreisen der Gelehrten verbreiteten.
Solange das Ideal einer kohärenten, auf rational nachvollziehbaren Gesetzen,
exakter Beobachtung, wiederholbaren Experimenten und strengen Regeln des
Denkens beruhenden Wissenschaft nicht – wie bei Bacon, Descartes oder
Spinoza – programmatisch formuliert und in Ansätzen durchgeführt war, konnten unterschiedliche Vorstellungen über die Veränderungen und Beeinflussbarkeit der Natur wenigstens ad experimentum koexistieren. Ernst Cassirer spricht
in diesem Zusammenhang vom „Widerstreit der gedanklichen Motive“ 342. Einerseits gab es durchaus eine Tendenz, Natur, Politik, Geschichte und Gesellschaft immanent zu erklären „und jede Berufung auf transscendente Kräfte und
Autoritäten fernzuhalten“, andererseits wurde „die eindringende und exakte Beobachtung der Naturerscheinungen für die Magie und die „philosophische Forschung für die Cabbalistik dienstbar gemacht“343. Hatten also der mechanische
und pantheistische Materialismus des 18. Jahrhunderts derart unrühmliche, unaufgeklärte Vorfahren? Müssen sich etwa auch die modernen Naturwissenschaften ihrer Ahnen schämen? Man wird zögern beide Phänomene aus den magischen Vorstellungen, die noch bis weit ins 18. Jahrhundert von weiten Teilen der
Bevölkerung geteilt wurden und bis in die scheinbar aufgeklärten Schichten
reichten, unmittelbar ableiten zu wollen. Aber die Magie war nur ein Teil einer
umfassenderen Sicht, die sich aus der Rezeption antiker Quellen speiste, insbesondere dem Corpus hermeticum, das seit 1471 in lateinischer Übersetzung zugänglich war. „In the Corpus magic, astrology, alchemy, mystical and number
symbolism mix easily with natural philosophy, with a distinct understanding of
the physical world.”344 Der Rekurs auf ein vorchristliches, geheimes, aus dem
alten Ägypten stammendes Wissen ermöglichte es, einen Erklärungsanspruch
außerhalb der bekannten Bahnen scholastischer Theologie und christlicher
Dogmatik zu erheben. Ägypten wurde ein imaginärer Ort, eine ‚Heterotopie‘
(M. Foucault): Es war nach dieser wirkungsvollen Fiktion die Wiege der Religionen, Ursprung von Schrift und Weisheit, Ort eines friedlichen Zusammenlebens unterschiedlicher Kulte und Religionen, die letztlich in einem Kosmotheismus oder Pantheismus verbunden waren. Anders als der nachexilische Monotheismus der biblischen Traditionen, wurde eine strikte Unterscheidung von Gott
und Welt nicht vorgenommen. Der ganze Kosmos war erfüllt mit Göttlichem,
das in bestimmten Göttergestalten eine konkrete Symbolisierung erfuhr. Die Na342
343
344
Cassirer 1995a: 75.
Ebd.: 74 und 75.
Jacob 2006: 5.
120
tur war göttlich, das Göttliche in der Natur präsent. Wer die Kräfte der Natur
kannte, hatte auch Anteil am Göttlichen; sie waren dem Weisen zugänglich, so
dass er auch durch bestimmte, allein ihm bekannte Praktiken Einfluss auf sie
nehmen konnte. Die Lehren waren zwar geheim, aber nicht an bestimmte Glaubensbekenntnisse gebunden. Das ferne Reich am Nil wurde zum Gegenbild eines Europa, das von Konfessionsstreitigkeiten zerrissen war, dessen religiöse
Autoritäten sich in den Augen vieler diskreditiert hatten, das seinen Philosophen
und Wissenschaftlern die Freiheit der Forschung und des Gedankens verweigerte und das von der Möglichkeit eines friedlichen religiösen Pluralismus fasziniert war345. Indessen waren die hermetischen Traditionen nicht, wie man glaubte, verloren gegangen, sondern von den Kirchenvätern über das Mittelalter bis in
die Renaissance lebendig geblieben346. In der Frühen Neuzeit aber werden diese
Traditionen verschmolzen mit einer Naturphilosophie, die, wie bei Giordano
Bruno (1548-1600), zunächst ihr (neu-) platonisch-idealistisches Erbe nicht verleugnet. Ein dynamisch-pantheistischer Naturbegriff erhält durch die grundlegende Veränderung der Kosmologie seit Kopernikus eine naturwissenschaftliche
Unterstützung: Sind nicht die alten biblischen Vorstellungen obsolet, entspricht
das neue, unbegrenzte Universum nicht weitaus besser dem unendlichen Gott?
Ist es überhaupt sinnvoll, Gott und Welt strikt zu unterscheiden? In der Dynamik
des Kosmos mit seinen vielen Sternen und (vielleicht sogar belebten) Planeten,
wirkt die Kraft Gottes immanent, d.h. als nicht von der Welt verschieden. Was
Brunos Lehre kirchlichen Stellen verdächtig machte, war weniger seine Sympathie für Kopernikus, dessen Lehre als These vertreten werden konnte, sondern
vielmehr ihre kaum verhüllte pantheistische Tendenz, ihre Nähe zu Magie und
Okkultismus und ihre gegen das Christentum gerichtete Pointierung.
Brunos Ideen wurden von Autoren der radikalen Aufklärung rezipiert, auch
wenn es, wie Margaret Jacobs klarstellt, ein Missverständnis wäre, „to imagine
that a continuous historical chain, yet to be discovered, exists between Bruno,
through the seventeenth-century Rosicrucians, to the radicals of the early Enlightenment“347. Vielmehr haben wir es mit Motiven und Denkmodellen zu tun,
die im Prozess der Rezeption Wandlungen durchliefen. Schwerlich ist Brunos
Naturbegriff identisch mit demjenigen eines Descartes oder Spinoza, und selbst
dem Traité des trois imposteurs, der die begriffliche Strenge und Distinktion
Spinozas der breiteren Wirkung opfert, sind Magie und Okkultismus bereits
fremd. Aber ist es sehr gut vorstellbar, dass die Popularisierung der radikalen
Aufklärung auf Rezipienten traf, die Magie und Materialismus auf höchst unge345
346
347
Vgl. Assmann 1998: 37-41.
Vgl. ebd.: 39.
Jacob 2006: 6-10, hier: 9; zur Präsenz kabbalistischer Traditionen bei Bruno vgl. Schulte 2014: 110.
121
wöhnliche Weise verbanden. Vergessen wir nicht, dass ein Scharlatan wie der
‚Graf‘ Alessandro Cagliostro (1743-1795) zur Verwunderung Ernst Blochs noch
im siècle des lumières sein Unwesen trieb. „Also waren die mannigfaltigen
Cagliostros sogar durch Aufklärung nicht ganz unmöglich gemacht, besonders
wenn sie sich außer der magischen mechanisch technischer Sprache bedienten.“ 348 Aufklärung löste die vielen ‚Magier‘ oder modern ausgedrückt: die
‚Esoterik‘ nicht einfach ab, sondern koexistierte mit ihnen. Die Verbindung von
‚wissenschaftlichem‘ Experiment, Magie und Suggestion hatte bei manchen
Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts durchaus Erfolg. Statt von Magie sprach
Cagliostro lieber von den „höheren Mächten der Natur, welche einzelnen Menschen von der Vorsehung mitgeteilt werden, um so wie Christus, Moses und Elias, für Tausende Gutes zu wirken“349. Manches von dem, was Elisa von der Recke, die nach eigenem Bekunden selbst „in der Gefahr gewesen“ war, „in
Schwärmerei und finstern Aberglauben zu geraten“ 350 , berichtet, erinnert an
Praktiken aus der heutigen Esoterik-Szene 351 , die sich aus ähnlichen Quellen
speist und deren Vertreter sich eines höheren Wissens über jene Kräfte und
Energien der Natur rühmen, die den Naturwissenschaften unzugänglich bleiben.
Was bei aller Gegensätzlichkeit die esoterischen Praktiken und die Beseelung
der Natur mit der Aufklärung auf den ersten Blick verband, war die Hoffnung,
Natur nicht nur zu erklären, sondern zu beeinflussen, ja zu beherrschen. Das Ziel
der Aufklärung, wie Max Horkheimer und Theodor W. Adorno es formulierten,
„von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen“352,
realisierte sich um den Preis einer Eliminierung aller Geheimnisse und einer
mechanisch klappernden, im Grunde toten Natur. „Die Entzauberung der Welt
ist die Ausrottung des Animismus“353, in deren Zeichen bereits die frühe Kritik
des Anthropozentrismus stand. Die Welt ist nüchtern geworden, und die Menschen sind aus dem Reich der gleichsam ‚begeisterten‘ Natur vertrieben und in
die Sphäre der Determination durch Naturgesetze versetzt worden, in der sie nur
eine unbedeutende Rolle spielen. Demgegenüber verwiesen die Magier und Okkultisten auf Kräfte der Natur, die über alle Vernunft und Aufklärung gingen,
die Natur in ein geheimnisvolles Reich voller Bedeutungen verwandelten und
die einem kleinen Kreis von Eingeweihten zugänglich waren. Der Okkultismus
profitierte und profitiert bis heute von der Sehnsucht einer der Aufklärung eher
348
349
350
351
352
353
Bloch 1959: 736. – Cagliostro (eigentlich Giuseppe Balsamo) wurde nicht zuletzt durch die bemerkenswerte
Publikation der Elisa von der Recke (zur Person vgl. Herz 2013: 103-106) schließlich überführt.
Von der Recke 1991: 51.
Ebd. 141.
Vgl. ebd.: 55ff.
Horkheimer GS 5: 25.
Ebd. 27.
122
suspekten Existenz jenseits von Berechenbarkeit und Nützlichkeit. Dem exoterischen Charakter der Aufklärung, die ihrem Anspruch nach allen Teilen der Bevölkerung Anteil an Wissen und Bildung vermitteln wollte, stand der esoterische
Charakter der Magier gegenüber. Von den Wissenschaften übernahmen sie den
Anspruch, durch das Experiment ihr höheres Wissen vor den Augen aller Anwesenden zu erweisen; ein Wissen, das sich jedoch auf höhere Kräfte der Natur
erstreckt und das in einer Geheimgesellschaft oder besonderen Freimaurerloge
gepflegt und an Eingeweihte weitergegeben werde. Aufklärung kannte ebenfalls
geheime Gesellschaften mit besonderen Initiationsriten, die, wie Margaret Jacob
zeigte, innerhalb der Aufklärung eine beachtliche Rolle spielten354. Was sie von
der Esoterik aber unterschied, war ihr exoterischer Charakter, der sich dem Vertrauen verdankt, dass die Vernunft das alle Menschen verbindende Organon ist,
auch wenn sie es nicht vermag, alle Hoffnungen und Erwartungen zu erfüllen.
Unsere Vernunft kennt Regeln, nachprüfbare Gesetze und bewahrt uns vor allzu
raschen Urteilen. Dass aber eine formalisierte, ihren Zwecken gegenüber blind
gewordene Vernunft selbst Züge eines Wahns annimmt und die Aventure der
Aufklärung in neuen Abhängigkeiten traurig endet, war zu ihrem Beginn, der
noch ganz im Bann des emanzipatorischen Interesses stand, unbekannt.
b) „Maîtres et possesseurs de la nature“ Gegenüber einem magischen und
okkulten Verständnis der Natur, das bis heute durchaus Anhänger hat, setzt sich
die kausale Erklärung als normativ durch. Es ist, wie Ernst Cassirer zeigt, die
unterschiedliche Auffassung von Kausalität, welche Mythos und Magie von der
Wissenschaft unterscheidet: Zwar ist auch das mythische Denken kausal strukturiert, freilich nach dem Prinzip post bzw. iuxta hoc, ergo propter hoc; es fehlt
die methodisch kontrollierte, analysierende Überprüfung und Rekonstruktion der
Kausalreihe355. Die räumliche Nähe genügt, um eine kausale Beziehung zu stiften. „Wenn das wissenschaftliche Denken bestrebt ist, den Primat des Zeitbegriffs vor dem Raumbegriff festzustellen und immer bestimmter auszuprägen, so
bleibt im Mythos der Vorrang des räumlichen Anschauens durchaus gewahrt.“356 Dies gilt auch dann, wenn der Mythos – wie etwa in der Theogonie
oder Kosmogonie – die Form einer ‘Geschichte’ annimmt, denn es bleibt ihm
„der eigentliche Begriff des Werdens und der Stetigkeit des Werdens fremd.
Nicht mit der zeitlichen Kontinuität, sondern mit der räumlichen Kontiguität ist
der mythische Begriff der Ursächlichkeit innerlich verwandt und verwach354
Vgl. Jacob 2006: 80-111.
Vgl. Cassirer 1994a: 57-77.
356
Cassirer 1994b: 48.
355
123
sen.“357 Das kausale Denken der Wissenschaft ist, mit Kant formuliert, Synthesis
in der Zeit, und zwar eine Synthesis, die nach bestimmten Regeln der Logik und
apriorischer Prinzipien zustande kommt. Kopernikus, Galilei und schließlich
Newton haben den Naturwissenschaften in der Neuzeit entscheidend zum
Durchbruch verholfen. Die wissenschaftliche Methodik wird durch den Erfolg
ihrer Erklärungen und technischen Anwendungen in hohem Maße gestützt.
Mit Francis Bacon einerseits und René Descartes andererseits emanzipiert sich
die Wissenschaft von allen theologischen, aber auch abergläubischen Resten. Im
Novum Organon, das schon in seinem Titel an die logischen Grundlagen der
Wissenschaft durch Aristoteles erinnert358, formuliert Bacon eine Wissenschaftstheorie, die kontrollierte Erfahrung und technischen Nutzen ins Zentrum rückt.
Gegen die Skepsis hält Bacon daran fest, dass man zwar „auf dem jetzt gebräuchlichen Wege in der Natur nicht viel wissen kann“, aber mit einer neuen
Grundlegung der Wissenschaften „die Autorität der Sinneswahrnehmung und
des Verstandes“ gegen die Skeptiker sich
behaupten wird359. Bacon erhob die Induktion zur einzig legitimen Form sicherer Erkenntnis. Die „corruptio philosophiae“
folgt für ihn teils aus der Vermischung von
Philosophie, Aberglauben und Theologie,
teils aus einer methodisch unzureichenden
Empirie360. Unkritischer Gebrauch der Beobachtung fördert nur falsche Resultate und
ist im Ergebnis ebenso fragwürdig wie die
von Bacon wenig geschätzte Metaphysik.
Gegen diese, den wissenschaftlichen FortFrancis Bacon von Verulam (1561-1626)
schritt hemmenden Irrtümer formuliert er
die Kritik der „idola et notiones falsae“, welche den menschlichen Verstand auf
den falschen Weg bringen und eine Erneuerung der Wissenschaft (instauratio
scientiarum) verhindern361. Ernst Cassirer nennt die Idolenlehre treffend „eine
Pathologie des menschlichen Vorstellens und Urteilens“ 362 , und genau diese
Funktion hat sie für Bacon. Unser Verstand ist nämlich, wie Bacon an anderer
Stelle versichert, „kein reines Licht, sondern er erleidet einen Einfluß vom Wil357
358
359
360
361
362
Ebd..
Allerdings handelt es sich eher um einen Gegenschrift zum aristotelischen Organon, das wenig Gunst in
Bacons Augen findet; vgl. Kenny 2006: 26-29.
Novum Organon I, Aph. 37 = Bacon 1990: 98/199.
Novum Organon I, Aph. 55 = Bacon 1990: 134/135.
Novum Organon I, Aph. 38 = Bacon 1990: 98-101.
Cassirer 1995b: 7.
124
len und von den Gefühlen (recipit infusionem a voluntate et affectibus)“, und an
die Stelle einer exakten Wissenschaft tritt das, was Bacon als „Wissenschaft für
das, was man will“ bezeichnet: „Was nämlich der Mensch lieber für das Wahre
hält, das glaubt er eher. Daher verwirft er das Schwierige, weil ihm die Geduld
zur Untersuchung fehlt, das Nüchterne, weil es die Hoffnung einschränkt, das
Höhere in der Natur aus Aberglauben, das Licht der Erfahrung aus Anmaßung
und Hochmut, um nicht den Anschein zu erwecken, daß der Geist sich mit solch
Billigem und Vergänglichem abgebe, das Ungewöhnliche wegen der Meinung
der Menge“ 363. Mit ‚Aberglaube‘ (superstitio) könnte Bacon auch die noch nicht
scharf genug vollzogene Trennung aller wissenschaftlichen Untersuchungen der
Natur von magischen und okkulten Vorstellungen gemeint haben. Erst Autoren
des 17. Jahrhunderts vollziehen sie mit Nachdruck und allem erkenntnistheoretischen Scharfsinn. Und so bedarf es negativ einer Kritik der bestehenden Vorurteile und Ideologien (idola) und positiv einer in streng kontrollierter Erfahrung
fundierten Wissenschaft. Bacon unterscheidet vier Arten der idola364:
1) Idola tribus (Idole des Stammes): sie gründen in der menschlichen Natur (fundata in ipsa
natura humana), insofern unsere Sinne keineswegs frei sind von Täuschungen und falschen
Vorspiegelungen. Es ist also nicht richtig, Bacon ein simples Vertrauen in die Sinne zu unterstellen; Induktion bedarf einer genauen Prüfung der Leistung unserer Sinne365.
2) Idola specus (Idole der Höhle): gemeint sind damit die individuellen Vorurteile und Spekulationen, die nicht näher geprüft wurden – es ist die Verabsolutierung unserer eigenen
kleinen Welt.
3) Idola fori (Idole des Marktes): in Erziehung und Kommunikation begründete kollektive
Vorurteile. „Die Menschen gesellen sich nämlich mittels der Sprache zueinander; aber die
Worte werden nach der Auffassung der Menge (ex captu vulgi) beigeordnet.“366
4) Idola theatri (Idole des Theaters): philosophische und dogmatische Vorurteile. Ältere
Lehrmeinungen, die ungeprüft übernommen werden und unsere Erkenntnis verdunkeln; ja
es gibt sogar „eine große Anzahl von Lehrsätzen der Wissenschaften, welche durch Tradition, Leichtgläubigkeit und Nachlässigkeit Geltung erlangt haben (quae ex traditione et fide et neglectu invaluerunt)“367.
Das Ziel des ganzen Unternehmens, die Purgierung unseres Verstandes und unserer Methodik – wir könnten etwas salopp auch von der ‚Haussmannisierung
der Vernunft‘ sprechen – ist die Beherrschung der Natur, denn nur durch sicheres Wissen, so Bacon, kann der Mensch Macht über die Natur gewinnen:
„Scientia et potentia humana in idem coincidunt, quia ignoratio causae destituit effectum.
Natura enim non nisi parendo vincitur; et quod in contemplatione instar causa est, id in
363
Novum Organon I, Aph. 49 = Bacon 1990: 110-113.
Vgl. Novum Organon I, Aph. 38-44 = Bacon 1990: 98-105.
365
Vgl. hierzu Cassirer 1995b: 7f; Kenny 2006: 31f.
366
Novum Organon I, Aph. 43 = Bacon 1990: 102/103.
367
Novum Organon I, Aph. 44 = Bacon 1990: 104/105; vgl. auch ebd.: Aph. 84 = Bacon 1990: 178-181.
364
125
operatione instar regulae est. / Wissen und menschliches Können ergänzen sich insofern,
als ja Unkenntnis der Ursache die Wirkung verfehlen läßt. Die Natur nämlich läßt sich nur
durch Gehorsam bändigen; was bei der Betrachtung als Ursache erfaßt ist, dient bei der
Ausführung als Regel.“368
Entgegen einer verbreiteten Ansicht hat Bacon das kontemplative Moment also
nicht vollständig eliminieren wollen, aber die so gewonnenen Erkenntnisse sollen technisch nutzbar werden. Hierzu bedarf es einer gründlichen Reform der
Erkenntnis, die dieser wesentlich praktischen Aufgabe gewachsen ist. In seiner
Utopie Novum Atlantis hatte Bacon eine Gesellschaft entworfen, in welcher die
Naturwissenschaften einen zentralen Stellenwert beanspruchen. Es gibt Forschungszentren und ‚think tanks‘, die anwendbares Wissen zur Verfügung stellen, Bacons Utopie hat, anders als diejenige von Thomas More, einen stärker
naturwissenschaftlich-technischen Akzent369.
Sowohl für Francis Bacon als auch für René Descartes ist die völlige Unabhängigkeit der Wissenschaften von religiösen und theologischen Vorgaben von großer Bedeutung. Die physische Welt ist für die Wissenschaft kein Schauplatz
göttlicher Manifestationen oder gar magischer Kräfte, die durch Beschwörung
wirken, sondern die Totalität logisch rekonstruierbarer kausaler Beziehungen, Inbegriff eines
mathematisierbaren Erkenntnisgegenstandes.
Descartes entwickelte die erkenntnistheoretischen Grundlagen dieser veränderten Sicht auf
die Welt, indem er sich zugleich von Modellen
der Schulphilosophie verabschiedete. Ziel ist
„die Einheit der Wissenschaften und ihr lückenloser Zusammenhang“370. Mathematik und
Geometrie sind nach Descartes weit zuverlässiger als alle übrigen wissenschaftlichen Disziplinen, „weil nämlich sie allein“, wie es in
René Descartes (1596-1650)
den Regulae ad directionem ingenii heißt, „mit
einem so reinen und einfachen Objekt (objectum ita purum et simplex) umgehen, daß sie gar nichts voraussetzen (nihil plane supponant), was die Erfahrung
unsicher machen wird, sondern ganz auf vernünftigen Deduktionen und Folge-
368
369
370
Novum Organon I, Aph. 3 = Bacon 1990: 80/81. Sehr richtig fasst Ludwig Feuerbach das Ziel der Wissenschaft nach Bacon zusammen: “Der wahre und vernünftige Zweck der Wissenschaft ist, dem menschlichen
Leben Nutzen zu bringen, es mit neuen Erfindungen und Schätzen zu bereichern. … Die Naturwissenschaft
hat darum auch keinen andern Zweck, als die Macht und Herrschaft des Menschen über die Natur fester zu
begründen und zu erweitern.“ (Feuerbach, Werke 2: 86f)
Vgl. Bacon 1982: 42-58.
So Cassirer 1995a: 457.
126
rungen beruhen“371. Ernst Cassirer charakterisiert die spezifische Leistung des
Cartesianischen Naturbegriffs folgendermaßen: „Die Natur ist mathematisch,
nicht in besonderen Erscheinungen, sondern in ihrer Gesamtheit, in ihrer grundlegenden Struktur. Zwischen ihr und der Mathematik gib es keine Scheidewand
mehr: das Ganze der Natur ist für die mathematische Erkenntnis gewissermaßen
‚transparent‘ geworden.“372 Damit verwandelt sich ‚Natur‘ als Inbegriff mathematisch beschreibbarer Funktionen in eine funktionale Größe; allgemein gültig
werden die Beobachtungen nämlich nur, wenn sie den apriorischen Regeln unserer Erkenntnis folgen und sich am Ideal der Mathematik ausrichten. Man könnte
mit Ernst Cassirer die Methodik Descartes‘ am Übergang vom Ding- zum Relationsbegriff, vom Substanz- zum Funktionsbegriff sehen373. Descartes war der
Bruch mit der Schulphiosophie sehr wohl bewusst. Nicht durch die „Bücher der
Alten (Antiquorum libri)“ und ihre Autorität, sondern durch das Streben nach
dem „was wir in klarer und evidenter Intuition sehen oder zuverlässig deduzieren können (quid clare et evidenter possimus intueri vel certo deducere
quaerendum est) … erwirbt man Wissenschaft“374, und erst diese klare, an exakter Methodik orientierte Erkenntnis ist für uns nützlich. Dem hatte Descartes
auch im Discours de la méthode (frz. 1637 / lat. postum 1656) programmatisch
Ausdruck verliehen. Die Erkenntnis der allgemeinen Grundbegriffe der Physik
(„notions générales touchant la physique“), so Descartes, zeigen sehr wohl, „daß
es möglich ist, zu Kenntnissen zu kommen, die von großem Nutzen für das Leben sind, und statt jener spekulativen Philosophie, die in den Schulen gelehrt
wird, eine praktische zu finden, die uns die Kraft und Wirkungsweise des Feuers, des Wassers, der Sterne, der Himmelsmaterie und aller anderen Körper, die
uns umgeben, ebenso genau kennen lehrt, wie wir die verschiedenen Techniken
unserer Handwerker kennen, so daß wir sie auf ebendieselbe Weise zu allen
Zwecken, für die sie geeignet sind, verwenden und uns so zu Herren und Eigentümern der Natur (maîtres et possesseurs de la nature) machen könnten“375. Der
Hinweis auf die Nützlichkeit der Erkenntnisse verbindet Descartes mit Bacon
über die großen methodischen und metaphysischen Differenzen hinweg, doch
begnügt Descartes sich nicht mit der Idee einer geordneten Induktion und der
Befreiung der Wissenschaften von Vorurteilen. Bacons Erfahrungsbegriff blieb
erkenntnistheoretisch unterbestimmt, weil er die spezifischen Grundlagen des
Erkenntnisprozesses im Subjekt nicht genügend herausausarbeitete. Nach
371
372
373
374
375
Descartes 1996a: 10/11 = Regula II, Nr. 5.
Cassirer 1995c: 18.
Vgl. Cassirer 1994c: 3-27.
Cassirer 1995c: 14/15 = Regula III mit Nr. 1
Descartes 1996b: 100/101.
127
Descartes bedarf es hingegen einer über jeden Zweifel erhabenen Basis unserer
Erfahrungen und Erkenntnisprozesse, die im denkenden Ich (res cogitans) zu
finden ist. Zunächst erschließt sich nur die Sicherheit dieses ego cotitans, mag es
irren oder klar erkennen, ja selbst wenn es betrogen wird, bleibt immer noch die
Gewissheit des Ich; eine Gewissheit, die von der Körperwelt (res extensa) nicht
ebenso gilt. Von hier aus gelangt Descartes zu weiteren Bereichen des Denkens,
zur Gewissheit Gottes und zur Gewissheit unserer logischen Regeln, ohne die
keine Gegenstandswelt von der Erkenntnis geordnet und durchdrungen werden
kann376. Die entscheidenden Leistungen unserer Vernunft sind apriorischer Natur und bilden die Grundlage einer jeden klaren und deutlichen Erkenntnis. Mit
anderen Worten: „Die allgemeinen Gedanken von Ausdehnung, Gestalt und
Bewegung gehen als Norm und Maßstab des Sinnlichen voran.“ 377 Trotz des
Rückbezugs auf Gott, der die Einheit von Gedanke und Sein sichert378, ist unübersehbar, dass Vernunft bei Descartes eine autonome Instanz ist; sie stellt im
Prozess der Erkenntnis die Totalität der Erfahrung auf der Basis ihr immanenter
Regeln her. Theologische Vorgaben konnten also für Descartes so wenig wie für
Bacon konstitutiv für Verfahren und Ergebnis der Wissenschaften sein. Descartes mied zwar nach Möglichkeit den Konflikt mit den religiösen Autoritäten,
konnte ihnen aber nicht gänzlich ausweichen. So erschwerte die radikale Reduzierung des Körperbegriffs auf die Ausdehnung, welche zugleich nie ohne Substanz gedacht werden kann, das überlieferte Verständnis der Transsubstantiation.
Hatte die scholastisch-aristotelische Tradition auf die Beibehaltung der die Sinne tangierenden Akzidenzien von Brot und Wein verwiesen, während die Substanz sich in Leib und Blut Christi wandle, so bricht diese Argumentation zusammen, wenn eine Änderung der Substanz auch mit einer veränderten Perzeption der Akzidenzien notwendig verbunden ist, wie Antoine Arnaud in einer Erwiderung zu bedenken gab379.
Wichtiger jedoch als dieses Problem ist für uns der Schritt, den Spinoza über
Descartes hinaus unternahm, indem er die beiden Substanzen res cogitans und
res extensa in der einen göttlichen vereinigte: Erkenntnis und Natur sind, wie
erinnerlich, demnach keine grundlegend verschiedenen Instanzen im Sinne von
Erkenntnissubjekt und –objekt. Entsprechend ist die ewige Ordnung des Denkens Ausdruck der ewigen Ordnung der Natur380. Die Seele handelt nach Spinoza nach strengen Gesetzen und ist „gleichsam ein geistiger Automat (aliquid au376
377
378
379
380
Vgl. Descartes 1996c: 40-97 (mediationes II und III).
Cassirer 1995a: 461f.
Vgl. ebd.: 491-494. Zutreffend bemerkt Cassirer: „nicht Gott, sondern die Natur ist es, die zuletzt ‚bewiesen‘
werden soll“ (ebd.: 494).
Vgl. Descartes 1972 : 197f ; Nadler 2013: 164-168.
Vgl. Spinoza, Tractatus de intellectus emendatione = Spinoza 1989b: 12/13.
128
tomata spirituale)“381. Schon der Traktat über die drei Betrüger hatte Ende des
17. Jahrhunderts Spinozas Substanz- und Erkenntnisbegriff materialistisch gewendet, so dass Gott und Natur in nicht weiter differenzierter Identität existieren. Unser Denken und Handeln ist Teil der Natur und auf natürliche Ursachen
reduzierbar. Nicht nur der Verdacht, Moses, Jesus und Mohammed hätten aufgrund wenig ehrbarer Motive ein Glaubenssystem begründet, sondern auch die
spezifisch materialistische ‚Metaphysik‘, der gemäß es keine geistige Existenz
außerhalb einer streng deterministisch gedachten Natur gibt, entzieht der Religion jede rationale Basis. Soweit die Religion – und hier sind vor allem die monotheistischen Offenbarungsreligionen gemeint – sich auf einen welttranszendenten Gott beruft und die Existenz einer Über- oder, mit Nietzsche gesprochen,
‚Hinterwelt’ annimmt, hat sie es nur mit Phantasieprodukten zu tun, die in den
Köpfen der Menschen ihr Unwesen treiben und den Priestern Geld und Einfluss
bescheren. Wenn es um den ‚mechanischen‘ oder ‚dogmatischen Materialismus‘
des 18. Jahrhunderts geht, so sind es also drei Schritte, die den cartesianischen
Rationalismus in die (scheinbar) geschlossene Sicht einer radikalen Philosophie
der Immanenz verwandeln:



Spinozas Identifikation von res cogitans und res extensa mit der einen und einzigen
Substanz Gottes und
die umstandslose Identifikation Gottes mit der wissenschaftlich beschreibbaren,
streng mechanisch-gesetzmäßig gedachten Natur, ein Modell, das schließlich auf den
Gottesbegriff ganz verzichten kann.
die zur rationalistischen Erbschaft in Spannung stehende induktive Methodik Bacons
und vor allem der Empirismus John Lockes (1832-1704).
Es ist wichtig zu beachten, dass diese Schritte nicht streng notwendig aus dem
Rationalismus eines Descartes und Spinoza folgen. Sie sind vielmehr das kontingente Ergebnis eines sich erheblich verschärfenden Konfliktes zwischen dem
sich emanzipierenden Bürgertum, dem Stand der wissenschaftlich-technischen
Diskussion und eher zaghaft und furchtsam agierenden Vertretern des Christentums, die zudem die tiefe Problematik einer engen Verbindung von Thron und
Altar verkannten. Gerade die Einbeziehung sensualistischer und empiristischer,
d.h. auf dem Primat der Erfahrung beruhender Erkenntnistheorien zeigt zudem,
dass der religionskritisch pointierte Materialismus des 18. Jahrhunderts durchaus
seine strategischen Interessen hatte. Verweisen nicht auch Descartes wie Bacon
auf die technische Anwendbarkeit und den gesellschaftlichen Nutzen der Naturwissenschaften? Sie sollten dazu beitragen, die Menschen aus ihrem blinden,
fälschlich für göttliche Fügung gehaltenen Schicksal zu befreien. Diesem Projekt versuchte 1770 Paul Thiry d’Holbach in seiner umfangreichen, an Polemik
381
Ebd.: 66/67; vgl. auch Cassirer 1995b: 91.
129
nicht sparsamen Schrift Système de la Nature ou Des Loix du Monde Physique
et du Monde Moral eine Geschlossenheit anstrebende Basis zu geben. Den Lehren der Religion stellte er System ein entgegen, das keinen Platz mehr bot für
eine Schöpfungs- und Offenbarungstheologie. Die ewige Natur muss, nachdem
die religiösen Phantome verscheucht sind und die Menschen sich über ihre Ort
in der Welt Aufklärung verschafft haben, Gegenstand und Maßstab unseres
Wissens und Handelns sein. Die enge Verbindung von Naturbegriff und Ethik
macht aus der Sicht Holbachs jeden Rekurs auf religiöse, göttlich sanktionierte
Normen überflüssig. Schauen wir näher zu, wie sich dieses System darstellt und
ob es sein Ziel zu erreichen vermag.
c) Holbach und der Wille zum System „Die Menschen werden sich immer
irren“, versichert Holbach zu Beginn seiner Schrift, „wenn sie die Erfahrung um
solcher Systeme willen preisgeben, die durch die Einbildungskraft geschaffen
werden. Der Mensch ist das Werk der Natur, er ist ihren Gesetzen unterworfen,
er kann sich nicht von ihr freimachen, er kann nicht einmal durch das Denken
von ihr loskommen; vergeblich strebt sein Geist über die Grenzen der sichtbaren
Welt hinaus, immer ist er gezwungen, zu ihr zurückzukehren. … Der Mensch
ist ein rein physisches Wesen; der moralische Mensch ist nichts anderes als dieses physische Wesen, betrachtet unter einem bestimmten Gesichtspunkt, das
heißt, in bezug auf seine eigenen Wirkungsarten,
die durch seinen besonderen Körperbau bedingt
sind. Doch ist dieser Körperbau nicht das Werk der
Natur?“382 Das sind starke Worte, die vom ersten
Satz an keinen Zweifel daran lassen, wo der Gegner
steht: Es sind jene ‚Systeme‘, die allein der Phantasie entspringen, Produkte unserer Einbildungskraft,
die keinerlei Geltung für unsere wissenschaftliche
und moralische Orientierung beanspruchen können.
Lassen wir uns hingegen von unserer Erfahrung
leiten, so müssen wir nach Holbach erkennen, dass
es nichts gibt außer der Natur und wir deren Teil
sind. Diese Natur, das zeigt schon eine erste Beobachtung, ist ständig in Bewegung, der Begriff der
Natur schließt „notwendig den der Bewegung ein“, wobei es jedoch keines ersten unbewegten Bewegers wie im Aristotelismus bedarf: „Aber, wird man sagen, woher hat diese Natur ihre Bewegung erhalten? Wir antworten: aus sich
382
Holbach 1960: 11f; vgl. hierzu auch Lange 1921a: 362f.
130
selbst, weil sie das große Ganze ist, außerhalb dessen – folgerichtigerweise –
nichts existieren kann.“383 Der Mensch als Teil der Natur sollte sich nicht anmaßen, sich ins Zentrum des Universums zu rücken und seine eigene Welt als Erklärungsbasis für die Funktion der Natur zu halten. Derart irre geführt gelangt er
zu seltsamen Projektionen, etwa „daß diese Natur durch eine intelligente Ursache, die seiner eigenen Art ähnlich ist, geleitet würde“384. Wie unsere Handlungen mehr oder weniger planvoll ablaufen, so soll auch das Geschehen in der Natur einem intelligenten Urheber entspringen. Zur Erklärung der Welt aber bedarf
es seiner nicht. Es sind die immanenten Gesetze, denen die Abläufe in der Natur
folgen, die „ewige, unwandelbare und notwendige Ordnung“ 385, der auch wir
unterworfen sind. Was wir als ‚Zufall‘ bezeichnen, entspringt lediglich unserer
Unkenntnis der Ursachen.
Holbach scheut den Begriff der Fatalität nicht, der die Kette der Ursachen in der
Natur ebenso wie die menschliche Handlungsweise unterliegt. Nach ein und
derselben Ordnung ziehen sich Gegenstände an, streben schwere Körper zum
Erdmittelpunkt, steigen leichte empor, wirken auch Menschen aufeinander, gehen ihre sozialen Verbindungen ein, die sie gut oder böse machen, glücklich oder unglücklich. Die Menschen folgen in ihren Handlungen spezifischen Interessen, also dem, „was jeder für seine Glückseligkeit als notwendig erachtet“,
und es gibt keinen Menschen ohne Interesse, das die einzige Triebkraft seines
Handelns darstellt386. Auch das Interesse gründet nicht in Freiheit, sondern in
unserer physischen Verfassung, der wir nicht entrinnen können. Holbach bietet
eine konsequent materialistische Lesart von Spinozas conatus sese conservandi387, der ethisch neutral, weil in unserer Natur begründet ist. Das Interesse
auch am eigenen Glück ist nichts moralisch Verwerfliches. Der Hinweis auf die
Eigenliebe (amour propre) hat in diesem Zusammenhang eine kritische Funktion: Die Menschen sollen den eigenen Anspruch auf Glück und Wohlbefinden
nicht anderen, angeblich höheren Zwecken opfern, hinter denen sich oft nur die
partikularen Interessen der Herrschenden verbergen. Es gibt sehr wohl ein
„Recht auf Genuß und materielles Glück“, und zwar nicht nur für die happy few,
sondern für ausnahmslos alle 388. Eben deshalb ist es für das Zusammenleben
wichtig, Interessen mit Tugenden zu verknüpfen. Solche Handlungen, „die jederzeit nützlich sind oder zum wirklichen und dauerhaften Glück der menschli-
383
384
385
386
387
388
Holbach 1960: 25-27, hier: 25.
Ebd.: 57.
Ebd.: 164.
Ebd.: 231.
Vgl. Ethica, pars IV, prop. 22, Coroll. = Spinoza 1989b: 416/417.
Schweppenhäuser 1986: 74.
131
chen Gattung beitragen, werden Tugenden genannt“389. Tugendhaftes Handeln
im Sinne Holbachs meint aber die Übereinstimmung von individuellem Interesse mit demjenigen anderer; „heißt: die Wohltaten und Vergnügen genießen, die
man ihnen bereitet“390. Man könnte von einem Gleichgewicht oder einer Harmonie der Interessen sprechen, wobei jeder Vorteile und Genuss hat, wenn er
die Interessen anderer berücksichtigt. Holbach begreift sehr wohl, dass es kein
isoliertes, auf Kosten der anderen erworbenes Glück auf Dauer geben kann;
dauerhaftes Glück muss sich vielmehr „auf die Achtung unserer selbst und auf
die Vorteile, die wir anderen verschaffen, stützen“391. Das setzt allerdings eine
Gesellschaft voraus, in der das eigene Überleben nicht von der Rücksichtslosigkeit gegenüber anderen abhängt, so dass nicht mehr unter dem Mantel der Tugend, mehr schlecht als recht verborgen, der erbärmliche und erniedrigende
struggle for existence zum Alltag gehört; ein Problem, das die bürgerliche Gesellschaft bis heute nicht zu lösen vermochte. In einem gewissen Sinne lässt sich
wohl sagen, dass die Erfüllung des Glücksversprechens zugleich das Ende des
unreflektierten ‚praktischen Materialismus‘ dem bis heute die soziale Verfassung der Menschen unterliegt, bedeutet.
Die Tugenden, deren das Zusammenleben der Menschen bedarf, entspringen –
wie die Interessen – keineswegs einer irreduziblen menschlichen Freiheit, wie
man vielleicht meinen könnte. Eher handelt es sich um die optimale Einstellung
einer komplexen Maschine392: Die eigene körperliche und geistige Verfassung
(wobei der Geist nur eine Funktion des Körpers darstellt) ist ungetrübt, so dass
auch die sozialen Beziehungen nicht leiden. „Die Freiheit des Menschen“, erklärt Holbach, „ist nur die in ihm selbst enthaltene Notwendigkeit.“ 393 Diese
aber können wir wenigstens zu einem Teil erkennen und menschliche Handlungen zum Besseren verändern, sobald wir ihre Ursachen verstanden und die Stoffe, aus denen der Mensch besteht und die sein Temperament und seine Neigungen bedingen, entdeckt haben. Diese Entdeckungen werden uns in die Lage versetzen, „sein Verhalten bei bestimmten Gelegenheiten vorauszusagen; sie werden uns auf die Mittel hinweisen, die wir anwenden können, um mit Erfolg die
Mängel eines fehlerhaften Körperbaus zu beseitigen – oder die Mängel eines
Temperaments, das für die Gesellschaft ebenso schädlich ist wie für den, der es
besitzt“394. Die Perspektive, die Holbach hier eröffnet ist ambivalent: In der Tat
389
390
391
392
393
394
Holbach 1960: 176.
Ebd.: 235; vgl. auch Schweppenhäuser 1986: 75 sowie Horkheimer GS 4: 9-88.
Holbach 1960: 245.
Nicht Holbach, aber La Mettrie spricht ausdrücklich vom Menschen als einer „gut ‘erleuchteten’ Maschine
(une Machine bien éclairée)“; vgl. La Mettrie 1990: 94/95.
Holbach 1960: 165.
Ebd.: 97.
132
können auf diesem Wege viele Leiden beendet werden, es eröffnen sich aber
auch ungeahnte Möglichkeiten der Manipulation; eine ‚schöne neue Welt‘
glücklicher, genormter und leicht formbarer Menschen. Der Doppelcharakter der
Aufklärung als Befreiung und zugleich Unterwerfung unter eine eherne Ordnung wird hier flagrant, wobei Befreiung und Unterwerfung nicht zwei unterschiedliche Sphären sind, sondern die Befreiung von der alten Ordnung vollzieht
sich als Unterwerfung unter eine neue; ein Akt, der ein höheres Maß an Rationalität beansprucht. Das Système de la nature scheint, paradox genug, im Interesse
von Emanzipation und Freiheit ausgerechnet Max Webers stählernes Gehäuse
vorwegzunehmen. Der Wille zum System schmiedet neue Ketten, noch bevor
die alten endlich abgeworfen wurden. So schreibt Günther Mensching:
„Die Lehre von der Determination alles Seienden durch die mechanischen Gesetze ist …
primär als Polemik zu verstehen. Holbach hat jedoch das Verhältnis von Polemik und Wissenschaft innerhalb seiner eigenen Konzeption nicht durchschaut. So wendet er die polemischen Kategorien seiner Naturlehre in ontologische und desavouiert damit seine emanzipatorische Intention. Die Konstruktion des totalen Determinismus gerät zur ebensolchen
Spekulation wie das Dogma von der Willensfreiheit. Herrschte einsinnige kausale Determination in der physischen wie in der moralischen Welt, dann wäre die Intention, die physische Natur zu erkennen, und in der moralischen Welt die scheinbar von Ewigkeit seienden Abhängigkeitsverhältnisse zu zerbrechen, nicht möglich.“395
Holbachs Système de la nature ist das Gegen-System zu den theologischen Systemen, jedoch gleichsam ‚härter‘ als diese, nämlich auf solider naturwissenschaftlicher Basis errichtet. Der ‚Gotteshypothese‘ bedarf es nicht mehr: „Wenn
die Unkenntnis der Natur Anlass zur Erschaffung der Götter war, so ist die
Kenntnis der Natur dazu angetan, diese wieder zu zerstören.“396 Hierzu gehört
seit Spinoza auch die Verabschiedung eines teleologischen Naturbegriffs. Wenn
man nämlich fragt, was das Ziel der Natur sei, „so antworten wir: es liegt im
Wirken, im Existieren, im Erhalten ihres gesamten Seins. Wenn man uns fragt,
warum sie existiert, so antworten wir: sie existiert notwendig, und alle ihre Vorgänge, ihre Bewegungen, ihre Werke sind notwendige Folgen ihrer notwendigen
Existenz.“397 Materialistisch wäre damit auch die seit dem Erdbeben von Lissabon (1755) nagende Theodizeefrage gelöst: Die Katastrophe war nicht, wie einige Theologen behaupten, die Strafe eines despotischen Gottes, der seine ungehorsamen Untertanen auf diese furchtbare Weise züchtigt, sondern Ergebnis natürlicher Prozesse. Gott ist weder Gegenstand der Furcht, von der es die Men395
396
397
Mensching, Einleitung zu Helvétius 1972: 7-28, hier: 13f; siehe auch Haupt 1987: 56f. Modern ausgedrückt,
verfolgt Holbach auf Kosten erkenntnistheoretischer Kritik die Grundlegung einer „Leitkultur von Humanismus und Aufklärung“ (Schmidt-Salomon 2006: 8), welche die religiöse ablösen und sie an Erklärungskraft
ebenso wie an innerer Geschlossenheit überbieten soll.
Holbach 1960: 289f.
Ebd.: 395.
133
schen vielmehr zu befreien gilt, noch der Hoffnung, die sich als Illusion erweist.
Kein Gott, sondern die Kräfte der Natur – und sie allein – sind Ursache solcher
Katastrophen. Sie interessieren sich nicht für das Schicksal der Menschen; vielmehr sind die Naturkräfte zu erforschen, sei es, um ihren schädlichen Wirkungen nach Möglichkeit vorzubeugen, sei um sie technisch zu nutzen und das Leben zu erleichtern. Es ist aber für Holbach töricht, allen Scharfsinn für die Lösung theologischer Scheinprobleme zu vergeuden398. Die Menschen müssen ihr
Geschick im Rahmen ihrer naturalen Determination selbst meistern, wobei Vernunft und Wissenschaft die Mittel sind, dies zu realisieren. Schwerlich würde
Holbach Pierre Bayle darin zustimmen, dass die Vernunft „ein flatterhaftes,
biegsames Instrument“ ist, „das man wie einen Wetterhahn in jede Richtung
drehen kann“399. Dies mag für die Flausen der Theologen gelten, denen die philosophische Skepsis zuweilen nicht ungelegen kommt; ein unvoreingenommenes Denken aber unterliegt bestimmten Regeln, die es ermöglichen, auf der Basis kontrollierter Erfahrung gültige Urteile zu formulieren. Die Materie ist ewig;
wohl vergehen ihre konkreten Zusammensetzungen, Erzeugung und Zerstörung
bilden die unaufhörlichen Prozesse der Natur, Prozesse freilich, die einer strengen Gesetzmäßigkeit unterliegen400.
Nicht nur für heutige Leser überraschend und ein wenig befremdlich ist vor diesem Hintergrund die Wendung, die das Schlusskapitel vollzieht: Hier erhebt die
Natur selbst ihre mahnende Stimme und hält eine Umkehr- oder Erweckungspredigt: „Kehre denn zurück, abtrünniges Kind; kehre zurück zur Natur! Sie
wird dich trösten, sie wird dein Herz von jenen Ängsten, die dich niederdrücken,
von jenen Unruhen, die dich peinigen, von jenen Begeisterungen, die dich hin
und her treiben, von jenem Haß dich befreien, der dich von dem Menschen, den
du lieben sollst, absondert.“401 Die Natur ist es, die Übertretungen ihrer Gesetze
bestraft, die Menschen durch selbige leitet. Holbachs System bietet auch auf der
affektiven Ebene eine Alternative zum Christentum, ja es kennt sogar ‚Apostel
der Natur‘402, und man fragt sich, ob es nicht längst schon eine Religion geworden ist403. Holbachs Hass auf die etablierte Religion verführt ihn, sich seinerseits
religiöser Kommunikationsformen zu bedienen und einen Totalitätsanspruch zu
erheben, vor dem Theologen nicht erst heute angesichts einer prinzipiell offenen
Zukunft und unerfüllten Gegenwart zurückschrecken 404 . Natur wird von Hol398
399
400
401
402
403
404
Vgl. Blom 2011: 131-135.
Bayle 2003: 113 (Artikel Hipparchia).
Vgl. Holbach 1960: 393.
Ebd.: 551-556, hier: 551.
Vgl. ebd.: 557.
Vgl. Lange 1921a: 384 (zu Holbach 1960: 557).
Vgl. etwa Karl Rahner, Immanente und transzendente Vollendung der Welt, in: Schr. VIII, 593-609.
134
bach mit geradezu personalen Zügen ausgestattet, und selbst wenn man die zwischen Ironie und Ernsthaftigkeit oszillierende Form dieser sonderbaren Predigt
berücksichtigt, bleiben doch Zweifel an Holbachs Verfahren und Thesen. Natur
ist schwerlich die schützende Instanz; ihre Gesetze und Prozesse nehmen am
menschlichen Schicksal, was dem Materialisten Holbach schwerlich entging,
keinerlei Anteil. Die Naturgeschichte des Menschen, d.h. die Auseinandersetzung von Mensch und Natur von Anbeginn an, ist, wie Johann Baptist Metz mit
Recht konstatierte,– „gewissermaßen seine Passionsgeschichte“405, für die Holbach sich nicht weiter zu interessieren scheint.
Nicht zu übersehen sind aber auch Schwächen des Systems selbst: Dass Natur
und Materie ewig und aus sich selbst heraus existieren – hier wird vorschnell der
Gottesbegriff Spinozas ohne weitere Differenzierung auf die Natur übertragen –
ist eine dogmatische Behauptung, die durch ihre Wiederholung nicht überzeugender wird. So schreibt der scharfzüngige neapolitanische Ökonom Ferdinando
Galiani (1728-1787) an Louise d’Epinay, die in Paris einen bedeutenden Salon,
in dem vor allem die ‚Enzyklopädisten‘ verkehrten, unterhält:
„Ich habe das Système de la Nature durchgeblättert. Es scheint mir von der derselben
Hand, die den christianisme dévoilé und den Militaire philosophe gemacht hat. Es ist zu
lang. Es scheint nicht mit kaltem Blut geschrieben zu sein, und das ist ein großer Fehler,
denn man könnte glauben, daß der Autor nicht so sehr andere, als vielmehr sich selbst zu
überzeugen nötig hat. Im Grunde kennen wir die Natur nicht gut genug, um ein System
aufzustellen.“406
Galinai hatte, was den Verfasser betrifft, richtig vermutet. Und auch seinen Äußerungen zu Länge und polemischem Stil werden heutige Leser beipflichten. In
der Tat erweckt Holbach den Anschein, als müsse er durch ständige Wiederholungen, Aufforderungen und diverse Seitenhiebe sich selbst von den Gewissheiten überzeugen, die er verkündet. Wichtig ist auch Galianis skeptischer Hinweis
auf die voreilige Sicherheit, mit der Holbach glaubt, die Einheit von Natur und
vernunftgeleiteter menschlicher Praxis in einem System erreichen und adäquat
darstellen zu können. Auch Galiani hat Affinitäten zum mechanischen Materialismus, glaubt aber nicht, wie er auch an anderer Stelle betont, dass die Natur als
Totalität dargestellt werden kann. Wenn sie eine Maschine ist, so wissen wir
doch nicht, heißt es mit leichter Ironie, „aus wieviel Rädern sie besteht“ und
welches wohl das Hauptrad sei, ja ob es überhaupt nur eines gebe407. Zweifelhaft
ist auch, ob die Sinne uns wahre Erkenntnis vermitteln können. Die Unterscheidung von Wahrheit und Falschheit sind keine Kategorien sinnlicher Apperzepti405
406
407
Metz 1992: 109.
Ferdinando Galiani, Brief vom 30. Juni 1770 an Louise d’Epinay = Galiani 2009: 75f.
Ferdinado Galiani, Brief an Louise d’Epinay vom 19. August 1770 = Galiani 2009: 80f.
135
on, sondern gehören der Urteilskraft an. Mag keine Erkenntnis ohne die Sinne
möglich sein, so gibt es ohne die Tätigkeit unserer Vernunft keine Erkenntnis.
Darauf deutet auch eine ironisch formulierte Briefstelle:
„Voltaire hat recht: der Mensch hat fünf Sinne, die eigens dazu erschaffen sind, ihm Vergnügen und Schmerz anzuzeigen – kein einziger, der ihn das Wahre vom Falschen unterscheiden ließe. Er ist also nicht erschaffen, die Wahrheit zu erkennen oder durch Lügen getäuscht zu werden. Das ist gleichgültig. Er ist da, um zu genießen und zu leiden: wir wollen also genießen, und wenn möglich, nicht leiden. Das ist unser Los.“408
Der zweite Teil des Zitats könnte auch bei La Mettrie stehen409: Weniger zur
Erkenntnis als vielmehr zum Genuss sollten wir die gegenüber Wahrheit und
Falschheit indifferenten Sinne gebrauchen, und es ist die Frage ob der tugendhafte und strenge Holbach ohne Einschränkung zustimmte. Trotz seiner Einwände bleibt Galiani dem Verfasser, der ebenfalls den Salon von Madame
d‘Epinay besucht, verbunden und sorgt sich um ihn: Die oft polemischen religionskritischen Passagen und der unverhohlene Materialismus riefen die kirchlichen und staatlichen Instanzen auf den Plan. Das Système wurde indiziert und
öffentlich verbrannt. „Gott“, schreibt Galiani mit seiner Liebe zu Paradoxien an
Madame d’Epinay, „schütze den Atheismus vor irgend welcher betrüblichen
Verfolgung: aber ich zittere.“410
Auch von einer anderen erkenntnistheoretischen Perspektive gibt es, über Galianis Skepsis hinausgehend, Einwände. Ob nämlich die ‚ewige Ordnung‘ der Natur ein subjektunabhängiger Befund ist, also von der Natur als ‚Ding an sich‘
ausgesagt werden kann, ist durchaus fraglich. Holbach scheint einen Standpunkt
außerhalb von Welt und Subjekt einnehmen zu wollen, um auf beide zu blicken,
ihre Beziehung zu klären und so zu einem ‚objektiven‘ Befund zu gelangen. Die
methodisch kontrollierte und geschärfte Beobachtung, so unverzichtbar sie für
die Wissenschaft ist, vermag nichts über die Ewigkeit der Materie zu sagen.
Empirie ist die Verknüpfung von einzelnen Beobachtungen, wobei wir uns unserer Sinne unmittelbar bedienen oder ihre Kapazität mithilfe von Instrumenten
erheblich erweitern. Diese Verknüpfungen kausaler Art geschehen aufgrund der
Struktur unseres Denkens, und es ist sehr gewagt, sie als an sich seiend, d.h. als
weitgehend unabhängig von unseren rationalen Operationen und Vermittlungen
existierend vorauszusetzen. Auch wenn man der Auffassung ist, dass Natur in
den Formen unserer Vermittlung nicht schlechthin aufgeht, also nicht schlechthin im Erkenntnisprozess erst konstituiert wird, so ist die Rolle des Erkenntnisprozesses und seines Trägers, des erkennenden Subjekts, bei Holbach unterbe408
409
410
Ferdinado Galiani, Brief an Louise d’Epinay vom 15. September 1770 = Galiani 2009: 89.
Vgl. etwa La Mettrie 1985: 118-120.
Ferdinado Galiani, Brief an Louise d’Epinay vom 8. September 1770 = Galiani 2009: 88.
136
stimmt. Das Système erhält zwar in Gestalt des dogmatischen Materialismus seine religionskritische Pointe, macht sich aber erkenntnistheoretisch angreifbar.
Für den Kantianer Friedrich Albert Lange vertritt Holbach – bei aller Sympathie
für seine herrschaftskritischen Intentionen – einen vorkritischen Standpunkt, der
die vermittelnde, Erkenntnis begründende Tätigkeit des Subjekts unterschlägt411.
Holbachs Système de la nature ließ einen (später) berühmten Leser enttäuscht
zurück: Goethe, der das inkriminierte und heftig umstrittene Werk in seiner
Straßburger Zeit mit Freunden las, war von der mechanisch klappernden Natur
Holbachs wenig angezogen: „Allein wie hohl und leer ward uns in der tristen
atheistischen Halbnacht zu Mute, in welcher die Erde mit allen Gebilden, der
Himmel mit allen seinen Gestirnen verschwand. ... Aber er (Holbach, R.B.)
mochte von der Natur so wenig wissen als wir: denn indem er einige allgemeine
Begriffe hingepfahlt, verläßt er sie zugleich, um dasjenige, was höher als die
Natur oder als höhere Natur in der Natur erscheint, zur materiellen, schweren,
zwar bewegten aber doch richtungs- und gestaltlosen Natur zu verwandeln, und
glaubt dadurch recht viel gewonnen zu haben.“412 Holbach, so Goethes Kritik,
vermag gerade den Reichtum der Erscheinungen in der Natur nicht in seinem
mechanischen Materialismus unterzubringen. Jenem emphatischen Augenblick,
in dem Natur über sich hinausweist, „höhere Natur in der Natur erscheint“, hatte
Goethe in seinem Gedicht „Maifest“ (1771) Ausdruck verliehen:
„Wie herrlich leuchtet
Mir die Natur!
Wie glänzt die Sonne!
Wie lacht die Flur!
Es dringen Blüten
Aus jedem Zweig
Und tausend Stimmen
Aus dem Gesträuch...“413
Holbachs Natur leuchtet nicht. Sie ist zwar der Kampfbegriff, mit dem er gegen
die Religion als Bündnispartner der überkommenen Mächte zu Felde zieht, doch
steht sie im mechanistischen System, in der ‘beflaggten Weltfabrik’, wie Ernst
Bloch es nannte414, schon als Objekt der Exploitation zur Verfügung, wie auch
die Menschen zu Objekten der beginnenden Sozialtechnologie werden. Holbachs polemisch geschärfter Naturbegriff ist, aller Betonung der Erfahrung zum
Trotz, in seiner mechanistischen Ausformung abstrakt. Seine Kategorien bleiben
zu starr, um sich der geschichtlichen Vermittlung aller Erfahrung zu vergewissern. Mit Recht zweifelt Goethe, „ob das Buch der Natur ausschließlich in mathematischen Formeln geschrieben ist“415. Sehr klar erkannte Goethe den Man411
412
413
414
415
Vgl. Lange 1921a: 370f.
Goethe 1989: 491.
Goethe 1993: 30f. - Zu Goethes Naturbegriff vgl. Schmidt 1984: 19-56., dürfte auch heute noch aktuell sein.
Bloch 1972: 181; vgl. auch Feuerbachs Kritik am cartesianisch-mechanistischen Naturbegriff, die auch noch
denjenigen Holbachs tangiert (Feuerbach GW 2: 294-311).
Schmidt 1984: 18f.
137
gel des mechanischen Materialismus: „Er verabsolutiert die seit Galilei und
Newton üblichen Kategorien wissenschaftlichen Denkens und erhebt dadurch
die Physik in den Rang der Metaphysik.“ Demgegenüber wird bei Goethe
Spinozas natura naturans zur verheißungsvollen göttlich-schöpferischen Potenz
der sich in unendlichen Formen und Arten entfaltenden Natur, ohne dass damit
die Naturgesetze in ihrer Bedeutung geschmälert würden. Gerade in ihrer Regelhaftigkeit öffnet sich die Natur auch ihrer Erforschung, und Goethe sah sich
durchaus in der Rolle des Naturforschers. Alfred Schmidt machte darauf aufmerksam, dass Goethes Spinoza-Rezeption keineswegs dem Bedürfnis nach
Kompromissen entsprang. Sein Pantheismus vermittelt zwar zwischen der
christlichen Theologie und „dem abstrakt-quantifizierenden Materialismus“,
doch gerade so „kann er – Spinozas All-Einheitslehre umbildend – sich des ungeschmälerten, qualitativen Reichtums der Natur versichern.“416
Trotz der Mängel und erkenntnistheoretischen Unbekümmertheit des mechanischen Materialismus soll seine kritische Bedeutung nicht unterschlagen werden,
die um so stärker hervortritt, wenn man ihn mit dem Materialismus-Streit des
19. Jahrhunderts417 vergleicht, wo das emanzipatorische Moment eher zurücktrat
und Gefechte mit Religion und Philosophie um Deutungshoheit und, modern
ausgedrückt, den Status der ‚Leitwissenschaft‘ ausgetragen wurden:




416
417
418
Als konsequent immanentes Verständnis allen Geschehens in Natur, Gesellschaft und
Geschichte entsakralisiert er Herrschaft und bereitet die Trennung von Religion, Politik
und Gesellschaft vor, die allerdings erst während und nach der Französischen Revolution realisiert wird.
Wie seine antiken Vorgänger (Demokrit, Epikur, Lukrez) erinnert der Materialismus
des 18. Jahrhundert an die naturwüchsige Seite des Menschen, den Geist ausdrücklich
eingeschlossen. Der Mensch ist Teil der Natur und unterliegt ihren Gesetzen, vermag
aber in deren Rahmen das Leben zu verbessern und seine natürlichen Anlagen zu kultivieren. Nicht der kultivierte, sondern der unterjochte Trieb wird böse.
Die sinnlich-somatische Seite des Menschen ist nichts, dessen er sich zu schämen hätte.
In ihr Gründet das Streben nach Glück (das von der Organlust nicht gänzlich getrennt
werden kann418), das legitim ist, wenn es nicht auf Kosten anderer realisiert wird. Sofern die christliche Tradition hier nur das Einfallstor der Sünde erblickte und dazu tendierte, alles Begehren einer strengen Zensur zu unterwerfen oder gar ganz zu unterdrücken, wird sie zum Gegenstand einer harschen Kritik und beißenden Spotts.
Der materialistische Diskurs diskutiert offen die enge Verbindung von Körper und
Geist. Die „Fähigkeiten der Seele“ hängen entscheidend „von dem eigentümlichen Bau
Schmidt 1984: 95.
Vgl. hierzu die Beiträge in Bayertz / Gerhard / Jaeschke 2007a.
Vgl. etwa La Mettrie 1985: 156.
138

des Gehirns und des ganzen Körpers“ ab419 – Thesen, die auf einer anderen Stufe biologischer Erkenntnis in der Mind-Brain-Debatte heute wieder diskutiert werden.
Da der Mensch in seinem Denken und Handeln sozialen und physiologischen Einflüssen in hohem Maße ausgesetzt ist, ist er auch nicht durchgehend Herr seiner selbst. Das
hat erhebliche strafrechtliche Konsequenzen, näherhin für die Zurechnungsfähigkeit und
das Strafmaß auch bei schweren Vergehen. Temperamentvoll wendet sich La Mettrie
gegen die drakonischen Strafen seiner Zeit und plädiert für ein milderes Strafrecht 420.
Die hier angesprochenen Themen beschränken sich, wie man leicht sieht, nicht
auf das 18. Jahrhundert. Viele gewinnen neue Aktualität wenn man sie – in der
Terminologie Diltheys gesprochen421 – aus ihren weltanschaulichen Verkrustungen löst und auf einem veränderten Stand der Naturwissenschaften, die sich von
jenem mechanischen Modell längst verabschiedet haben, neu formuliert. Das
gilt für die Fragen einer säkularen, pluralistischen Gesellschaft ebenso wie für
die Anthropologie, die Ethik oder die Diskussionen um ein modernes Strafrecht.
Schließlich sollten auch Theologen sich vom ‚zähnebleckenden Moment des
Materialismus‘, wie Adorno es nannte und das in Gestalt des ‚neuen Atheismus‘
heute manches Gemüt beunruhigt, nicht abschrecken lassen. Der Materialismus,
so Adorno, „präsentiert dem Geist die Rechnung, indem er ihn seiner eigenen
Naturwüchsigkeit überführt“ 422.Endlicher Geist ist der Natur gegenüber nicht
das schlechthin Andere, Edlere, sondern stellt, gerade dort, wo er sich überlegen
fühlt, nämlich als naturbeherrschende Gewalt, selbst ein Stück unversöhnter Natur dar. Materialistisches Denken deutet darauf, nimmt am Geist das Recht dessen wahr, das nicht Geist ist – und provoziert so entrüstete Ablehnung. Suspekt
ist der Materialismus, der bis zu Beginn des 18. Jahrhunderts in der Literatur als
Epikureismus bezeichnet wurde423, auch der theologischen Tradition. Dabei ist
dem biblischen Denken die Betonung der somatischen, sinnlichen, bedürftigen,
hinfälligen wie lustvollen Seite des Menschen nicht fremd. Es kennt nicht die
Aufteilung in denkende und ausgedehnte Dinge, sondern das menschliche Leben
bildet eine Einheit vitaler Kräfte, Interessen und intellektueller Fähigkeiten. Die
somatische Existenz ist nichts, das jenseits der gott-menschlichen Relation angesiedelt wird, sondern ist in sie integriert, wie der Mensch ja auch nicht als reine
Geistseele angesehen wird; ein Umstand, der leider nur oft ignoriert wurde.
Theologie war fast ausschließlich zu idealistischem Denken vermittelt und vergaß die älteren Impulse, die sie einmal leiteten424. Im Materialismus der Neuzeit
419
420
421
422
423
424
La Mettrie 1990: 94/95
Vgl. ebd.: 78-83; ders. 1985: 54-56.
Vgl. Dilthey 1991: 75-118.
Adorno 1974; 173.
Erst Samuel Clarke nennt 1715 in einem Brief an Leibniz „the false Philosophy of the Materialists, to which
the Mathematick Principles of Philosophy are the most directly repugnant“ (Leibniz 1990: 358/360).
Vgl. hierzu Buchholz 2001; 9-32.
139
kehrt das Verdrängte wieder, und zwar in dezidiert emanzipatorischer Absicht.
Dabei leiteten ihn allerdings kaum biblische Impulse, sondern eher die Rezeption vorchristlich-antiker Philosophien und eine bestimmte Deutung neuerer naturwissenschaftlicher Theorien seit Galilei und Newton. Im Grunde steht eine
theologische Antwort auf den philosophischen Materialismus, die mehr ist als
bloße Abwehr, noch aus425.
d) Geschichte als Schauplatz der Anthropogenese Geschichte ist in den
biblischen Traditionen ein besonderer Schauplatz: Hier erweist Gott seine
Macht, er befreit Israel aus der Knechtschaft, manifestiert sich den Völkern,
überantwortet sein ungehorsames Volk den Großmächten und erlöst es wieder
von deren Herrschaft. Die fundierenden Geschichten des Judentums und des
Christentums sind nicht in einer ewigen Vorzeit angesiedelt, sondern innergeschichtlich. Geschichte ist, anders als Traum und Trance, der Ort der Offenbarung Gottes par excellence, eben weil sie – wie am Schilfmeer und auf dem Sinai – öffentlich ist, als ‚public viewing‘426. Die Konstitution Israels geschieht
vor den Augen der Völker, Jesus tritt öffentlich auf; der Auferstandene zeigt
sich nicht nur dem engen Kreis seiner Jünger, die frühesten Gemeinden der Jesusanhänger und die entstehende Kirche hüten ihr Evangelium nicht als Geheimnis, sondern tragen es in die nähere Umgebung und schließlich in die Völkerwelt hinein. Genau diese scheinbar öffentlichen, für jeden vernünftigen Menschen einsehbaren Gewissheiten erhielten Risse, als die Naturwissenschaften
Zweifel an der Möglichkeit einer göttlichen Intervention in den Ablauf der Natur bekundeten und Spinozas Bibelkritik die Genese der Texte in späteren Jahrhunderten ansiedelte: es gab also keine Zeugen. Wie schließlich ist es um die
menschliche Freiheit bestellt, wenn Gott die Geschichte lenkt, das Herz Pharaos
verstockt, Streitkräfte im Meer umkommen lässt, Völker züchtigt wie Kinder?
Was ist Macht – eine göttliche Eigenschaft oder ein in Gott hinein projiziertes
menschliches Vermögen, das in der Welt eine entscheidende Rolle spielt? Spätestens seit Niccolo Machiavellis Il Principe (1513/1532) wird das politische
Geschehen als ein säkulares begriffen. Im 18. Jahrhundert entstehen geschichtsphilosophische Modelle, die Geschichte zu strukturieren versuchen, ihrer Logik
auf die Spur kommen wollen und sie mehr und mehr als ein Geschehen ansehen,
das – wie die Natur – immanenten Regeln unterliegt. Geschichte ist auch nicht
mehr, wie für Augustinus, ein Kampfplatz der zwei (unsichtbaren) civitates, der
sich eher als ‚series calamitatum‘ darbietet. Die civitas terrena ist nicht mehr die
Negativfolie der civitas Dei, vielmehr kommt ihr in der neuzeitlichen Ge425
426
Vgl. Buchholz 2007: 327-331.
Vgl. Pannenberg 1982: 98-102.
140
schichtsphilosophie ein eigenes Recht zu, insofern sie das Ergebnis menschlicher – wenn auch nicht von Anbeginn an bewusster, vernünftiger – Praxis ist.
Sie tritt aus der Unsichtbarkeit heraus, denn man braucht sich ihrer nicht zu
schämen. Es gibt nur die eine irdische, menschliche Geschichte, aber unterschiedliche Kräfte, die in ihr wirken. Es ist verwunderlich, konstatiert Giovanni
Battista Vico in seiner 1725 erschienen Scienza Nuova, dass die Wissenschaften
sich ganz auf die Erforschung der Natur konzentrierten, während die Welt der
Geschichte, Politik und Kultur, die „sicherlich von Menschen gemacht worden
ist“427, nicht rational erschlossen wird. René Descartes und Francis Bacon waren
bemüht, die erkenntnistheoretischen und metaphysischen Grundlagen der Naturwissenschaften zu eruieren, ließen aber die Erforschung von Geschichte und
Kultur weitgehend unbeachtet. Stehen die eigenen Schöpfungen den Menschen
nicht sehr viel näher als die Phänomene der Natur, die von Gott geschaffen wurden428? Vico spricht zwar noch von der göttlichen Vorsehung, doch sie wirkt
(wie später bei Hegel) in der Geschichte der Menschen nicht unmittelbar, sondern nur vermittelt, gleichsam hinter dem Rücken der Agierenden und durch
ihre Praxis hindurch. „Die bewußten Motive und Handlungen der Menschen bilden die Oberflächenphänomene der Geschichte, das Wesentliche, dem bloßen
Auge Verborgene ihres Verlaufs ist enthalten in den ‚Ordnungen‘“, die dem
Gesetz der Geschichte unterliegen429, Unwissenheit
und Barbarei standen am Anfang der Geschichte,
die „aus einer Nacht voller Finsternis“ hervorging430 und von Menschen beherrscht wurde, deren
rohe körperliche Kraft in starkem Missverhältnis
stand zu ihren geistigen und kulturellen Fähigkeiten. Es sind gerade die gewaltsamen Elemente, die
bei Vico auf den unterschiedlichen Stufen der Geschichte wiederkehren. Wenn man trotz der Ricorsi
von einer „allmählichen Menschwerdung des Menschen“ sprechen kann431, so ist dies einer in der Geschichte wirkenden Kraft zu verdanken – eben der
Giovanni Battista Vico
(1668-1744)
Vorsehung Gottes432. Sie in ihrem rationalen Gang
transparent zu machen, so dass die göttliche Vorsehung keine rein äußerliche
Leitung ist, sondern nachvollzogen werden kann, ist Aufgabe der Scienza nuova
427
428
429
430
431
432
Vico 1990: 142.
Vgl. ebd.: 7f, 143.
Schmidt 1989b: 75.
Vico 1990: 142.
Burke 2001: 67.
Vgl. Croce 1927: 103-113; Burke 2001: 67-83.
141
(1725) oder „einer rationalen politischen Theologie der göttlichen Vorsehung“433. Spielt diese Formulierung auf Spinozas Theologisch-politischen Traktat an? Nur wenige Stellen in der Scienza nuova nennen Spinoza direkt und dort
eher in distanzierender Form434. Denkbar ist aber sehr wohl eine gleichsam geschichtliche Verflüssigung der Kategorien Spinozas. Die Scienza Nuova ist ja
kein rein spekulativer Gedankengang, sondern arbeitet sich an dem ihm zugänglichen geschichtlichen Material ab; Peter Burke nennt es ein ‚entschieden komparatistisch angelegtes Werk‘, auch wenn die Bedeutung des Quellenstudiums
für Vico nicht überschätzt werden sollte 435 . Die Vorsehung Gottes lässt sich
nicht punktuell festmachen, sondern ist weitgehend in den historischen Prozess
mediatisiert, ja sie ist, wie Jonathan Israel interpretiert, „nothing other than the
historical process which gradually shepherds mankind, as he describes it, from
barbarism to a more settled, orderly state, and a society based on reason“ 436.
Schon lange vor Israel formulierte Benedetto Croce die These, dass Vicos Kultur- und Geschichtsbegriff weder von der Reformation noch von katholischen
Traditionen inspiriert war, sondern von der Renaissance. Vico sei das „Mythologisieren über die geschichtliche Chronologie“ gänzlich fremd geblieben, während er „die Wandlungen im Geist“ erforschen wollte, „die beständig die Geschichte beherrschen“437. In der Tat war Vico bestrebt die Genese der Mythen
kulturhistorisch und anthropologisch – in ihrer Bedeutung für die archaische
Menschheit – zu erhellen und nicht neue Mythen und mit ihnen ein Fatum zu
kreieren. Ist aber die Rede von der göttlichen Vorsehung nur die fromme Verkleidung eines säkularen philosophischen Blicks auf die Geschichte, den mit
Spinoza die „Kritik der Transzendenz des Göttlichen“ verbindet438? Die Frage
ist nicht leicht zu beantworten. Vico bewegt sich, wie Peter Burke wohl zutreffend bemerkt, „an der Grenze zwischen theologischer und säkularer Geschichtsdeutung“439. Immerhin kommt in der Scienza nuova dem Volk Israel eine besondere Stellung zu, die Joseph Maier eingehender untersucht hat. Während
nämlich die Völker sich nur langsam und mit Mühen aus ihrer Finsternis zu einem humanen Status emporarbeiten, war Israel, „dank der besonderen Offenbarung Gottes, von Anfang an menschlich“440. Die Weltgeschichte ist Vico nicht
das Weltgericht, es gibt vielmehr eine heilsgeschichtliche Ausnahme, die aber
433
434
435
436
437
438
439
440
Vico 1990: 4; vgl. Croce 1927: 98f.
Vgl. Vico 1990: 145, 607.
Burke 2001: 85, 91.
Israel 2001: 669.
Croce 1944: 222.
Croce 1927: 98
Burke 2001: 75.
Maier 1991: 217.
142
nicht die Differenz zwischen Erwählung und Verwerfung markiert, sondern zwischen (besonderer) Heilsgeschichte und profaner Weltgeschichte441, wobei Israel
und das Judentum mit Gottes Hilfe bereits dort sind, wo die Völkerwelt hingelangen soll. Gott ist zwar der Befreier der Völker, aber diesen ist er zunächst
unbekannt. So sind es weniger die Erzählungen von göttlichen Wundern, die
Israels Stellung begründen – solche Sagen kennen auch die Völker –, sondern
„daß es von ihm [Gott, R.B.] erkannt worden ist und ihn in dieser Berührung erkannt hat.
Nicht das Schilfmeer, nur der Sinai gehört auf die andere Seite der Weltgeschichte. Man
kann es auch in einem Reim ausdrücken: How odd / of God / to choose / the Jews! Not so
odd / the Jews chose God!“442
Was sich hinter dem Rücken der Völker ereignet, was oder besser: wer ihr
Schicksal lenkt, ist Israel als einzigem Volk bekannt und bewusst443. Die rationale politische Theologie der göttlichen Vorsehung hat also ihre biblischen Ursprünge. Maier zeigt, dass Vico seine These auch mit Hilfe jüdischer Quellen
stützte, und dabei benutzt er keineswegs nur solche Werke, die sich uneingeschränkter rabbinischer Anerkennung erfreuten, sondern auch jene, die aus orthodoxer Perspektive eher suspekt waren wie Asarja de Rossis Me’or enayim
(1573-75)444. Man wird sich fragen, ob dieser Aufwand nur dazu dient, etwaigen
Zensoren die eigene Rechtgläubigkeit zu demonstrieren; rechnen wir eher damit,
dass schöpferische, ja revolutionäre Einsichten durchaus einer veränderten Rezeption religiöser Traditionen entspringen können. Säkularisierung ist dann
nicht die weitgehende Verdrängung der Religionen aus der Gesellschaft, sondern eine veränderte Verhältnisbestimmung von Religion, Geschichte und Gesellschaft, in der die Menschen als eigene, wenn auch nicht von Anbeginn an
autonom handelnde Agenten zum Zuge kommen, um endlich aus ihrer „Nacht
voller Finsternis“ zu erwachen.
Eindeutiger als bei Vico und sicher deutlicher im Sinne Jonathan Israels ist für
Autoren wie Voltaire oder Condorcet Geschichte ein säkulares Projekt. Biblische Erzählungen spielen eine untergeordnete, eher illustrative Rolle und werden nicht als historische Berichte gedeutet. Die Menschen ‚machen‘ ihre Geschichte – zum Guten wie zum Schlechten – selbst und, im späteren Verlauf,
auch bewusst. Geschichte ist, wie in Condorcets berühmter „Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain“ (postum 1795) zum Ort der
Anthropogenese geworden.
Condorcets Geschichtsphilosophie sub specie progressionis verdankt nicht wenig Voltaires Essai sur les mœurs et l’esprit des nations (1756) und bleibt – wie
441
442
443
444
Vgl. Burke 2001: 81.
Maier 1991: 225f.
Vgl. Vico 1990: 13, 155, 241.
Vgl. Maier 1991: 219-221.
143
dessen geschichtsphilosophischer Versuch – frei von theologischen Intentionen.
Eine philosophische Geschichtsschreibung begnügt sich nicht mit den so genannten Fakten, die man bloß aneinanderreihen muss, noch ist sie eine - und sei
es säkularisierte Form – der Heilsgeschichte. Ihr Ziel ist es nicht, eine Geschichte aus göttlicher Perspektive zu konstruieren, der Leser von Voltaires Geschichtsphilosophie sucht nur „des vérités utiles“ – nützliche Wahrheiten445. Aus
den Ruinen der Geschichte, den Dummheiten, Verbrechen, Kriegen und großen Leistungen ergibt sich
keine Heilsgeschichte, kein klar umrissenes absolutes
Ziel. Die Natur des Menschen, die trotz seiner Leidenschaften auch eine Liebe zur Ordnung einschließt,
ist konstant, während die Sitten und Gewohnheiten je
nach kulturellem und historischem Kontext wechseln446. Die Geschichtsphilosophischen Entwürfe des
18. Jahrhunderts könnten Weber als weiterer Beleg
Nicolas Caritat de
für seine Säkularisierungs-These dienen. Kein göttliCondorcet (1743-1794)
ches Weltregiment lenkt die Geschichte direkt oder
indirekt und keine heilsgeschichtlichen Spekulationen liegen der Darstellung
zugrunde, sondern die Beobachtung (observation) der wechselnden historischen
Erscheinungen bildet sukzessive ein Tableau der menschlichen Fortschritte.
Condorcet spricht sogar von einer „ordre des changemens“447, die allerdings von
den Naturgesetzen zu unterscheiden ist: Die Entfaltung all der Anlagen, mit
welchen die Natur den Menschen ausgestattet hat, vollzieht sich nicht nach
ehernen Gesetzen, sondern bleibt gefährdet und kennt zahlreiche Rückschläge.
Während jedoch für Voltaires Geschichtsphilosophie Fortschritt „mehr ein moralisches Postulat als ein aus dem Gang der Ereignisse ablesbares Faktum“ ist 448,
meint Condorcet trotz mancher regressiver Tendenzen einen – in Gegensatz zu
Rousseaus Sicht449 – auch sittlichen historischen Fortschritt der Menschheit feststellen zu können. Er ist nicht das Ergebnis einer weltabgewandten Spekulation,
sondern durch Beobachtung, genaue Untersuchung und Schlüsse verifiziert und
kann von den frühsten Anfängen bis zur Französischen Revolution in zehn Epochen unterteilt werden. Hatte schon Vico der kulturhistorischen Untersuchung
jenseits der bloßen Mutmaßung einen großen Wert beigemessen, so werden das
historische ‚Faktum‘ und seine Deutung zum zentralen Bestandteil der Ge445
446
447
448
449
Voltaire 1817a: 3.
Voltaire 1817c: 594.
Condorcet 1795: 3; vgl. Schmidt 1989b: 76f.
Schmidt 1989b: 79; vgl. auch Groethuysen 1971: 77.
Vgl. Rousseau 1971: 52/53, der eine „corruption des mœurs“ als Folge des Fortschritts konstatiert.
144
schichtsphilosophie Condorcets. Dem Theologisch-Politischen Traktat Spinozas
kommt demgegenüber keine größere Bedeutung zu. Nicht Spinoza und seine
Nachfolger, sondern Bacon, Galilei und Descartes sind jene „grands hommes“,
die den Übergang in die moderne Epoche markieren450. Die Bewältigung der
physischen Not am Anfang der Geschichte spielt – nicht nur bei Condorcet –
eine entscheidende Rolle. Sie wird zum Auslöser, alle Anlagen und Fähigkeiten
welche die Menschen von Natur aus besitzen, zu entfalten, sie zu verfeinern und
zu optimieren über die bloße Behebung der Lebensnot hinaus. Die differenzierte
Entwicklung des menschlichen Geistes hebt erst an mit der Erweiterung der
Subsistenzsicherung, die sich anfangs in sehr engen Bahnen bewegte. Erst in
dem Maße, in dem die Menschen lernen, Natur zu bearbeiten, Produkte auszutauschen und sich die noch primitiven Gesellschaften arbeitsteilig differenzieren, emanzipieren sie sich von der Macht des Zufalls und gelangen zu fundamentalen kulturellen Errungenschaften; in deren Genuss kam allerdings nur
„une classe d’hommes dont le temps n’est pas absorbé par un labeur corporel“451. Die Bedürfnisse, die nun entstehen, sind qualitativ andere als die primären, die der unmittelbaren Lebensnot entspringen: Sie sind bereits produziert
und repräsentieren eine partielle Emanzipation vom ‘Reich der Notwendigkeit’.
Die Entwicklung der frühen Gesellschaften vollzog sich nach Condorcet keineswegs friedlich; Unterjochung, Ausbeutung und Grausamkeit kennzeichnen
die archaischen Gemeinwesen. Für Condorcet ist ‚Aufklärung‘ nicht erst das
Motto seines Jahrhunderts, sondern vielmehr ein sehr viel früher einsetzender
Prozess. Sie misst sich nicht an einem idealen état de nature wie Rousseau, sondern ist un „passage orageux et pénible d’une societé à l’état de civilisation des
peuples éclairés et libres“452. Das konflikthafte Moment der Aufklärung auch in
früheren Epochen ist nicht zu unterschlagen, es ist aber „une crise nécessaire“,
ohne die es keinen Fortschritt in der Geschichte gibt453.
Condorcet erinnert an die natürlichen Grundlagen der Geschichte, wie umgekehrt Natur stets durch menschliche Praxis vermittelt ist und kein bloßes ‘Ansich-Sein’ darstellt. Innerhalb des historischen Fortschritts, in dessen späteren
Phasen den Naturwissenschaften und der Ökonomie eine zentrale Bedeutung
zukommt, konstituiert sich die Menschheit allmählich zu einem in sich differenzierten Gesamtsubjekt. Funktionale Arbeitsteilung – auch in den Wissenschaften
– ist von großer Bedeutung, ohne dass sie sich ihrerseits gegenüber den rationa450
451
452
453
Vgl. Condorcet 1795: 216-219.
Ebd.: 7; dt.: „eine Klasse von Menschen, deren Zeit nicht durch körperliche Arbeit aufgezehrt wird“
(Condorcet 1976: 33).
Condorcet 1795: 38; „Übergang aus einem ungefügten Gesellschaftszustand in den der Zivilisation, in dem
es aufgeklärte und freie Völker gibt“ (Condorcet 1976: 50; dagegen Rousseau 1971: 188/189).
Condorcet 1795: 38 / 1976: 50.
145
len Zwecken verselbstständigen dürfte. Zur Differenzierung der Wissenschaften
gehört umgekehrt auch ein Bewusstsein ihres inneren Zusammenhangs, ohne
den der wissenschaftliche Fortschritt ziellos und dumm würde: „Les sciences qui
s’etoient divisées, n’ont pu s’etendre sans se rapprocher, sans qu’il se formât
entre elles des points de contact.“454. Den Religionen misst Condorcet, anders
als Vico, keine positive Funktion bei; sie sind eher Hemmnisse des Fortschritts,
ja sie können sogar massive Rückschläge bewirken und stützen jegliche Despotie. Vergeblich wird man im Esquisse auch nur die Grundzüge einer Religionsgeschichte suchen. Die Religionen haben ihre Bedeutung lediglich als Negativfolie des Fortschritts; sie blühen auf, wo die Wissenschaften im Niedergang begriffen sind. Vom Verfall sowohl des römischen Reichs als auch der Philosophie
und der Wissenschaft profitierte, so Condorcet, auch das frühe Christentum, das
ein Produkt von Schwärmern sei, die einen Propheten zum Messias und
Menschheitserlöser erhoben455. Der „mepris des sciences humaines“ gehöre zu
den „premiers caractères“ des Christentums; Prüfung und Zweifel („fléau de
toutes les croyances religieuses“) seien ihm ebenso suspekt wie die Naturwissenschaften, die dem Wunderglauben, auf den es sich stütze, gefährlich werden
mussten456. Man schaut in die heiligen Schriften, in die Werke der Autoritäten,
aber man studiert nicht ‚das Buch der Natur‘ dem die Rechte der Menschen
doch zu entnehmen sind457. Auch der Islam, unter den Religionen „la plus simple dans ces dogmes, la moins absurde dans ses pratiques, la plus tolérante dans
ces principes“ und die arabische Kultur, der Condorcet einen hohen zivilisatorischen Stand bescheinigt, entwickelten sich zur Tyrannei und barbarischen Intoleranz458. Auch die Reformation, welche eine Alternative zum päpstlichen Regiment und zu vielen abergläubischen Praktiken darstellt, ist nicht ein Ort der
Aufklärung und des freien Gedankens, wie Condorcet ausdrücklich feststellt:
„L’esprit, qui animoit les réformateurs, ne conduisoit pas à la véritable liberté de penser.
Chaque religion, dans le pays où elle dominoit, ne permettoit que des certaines opinions.
Cependant, comme ces diverses croyances étoient opposées entre elles, il y avoit peu
d’opinions qui ne fussent attaquées ou soutenues dans quelques parties de l‘Europe“459
454
455
456
457
458
459
Vgl. Condorcet 1795: 285.
Vgl. ebd.: 126f.
Ebd.: 128. / „Einer der Hauptzüge des Christentums bestand in der Verachtung des menschlichen Wissens.
Es hatte sich für die Beleidigungen zu rächen, die ihm die Philosophie zufügte; es fürchtete jenen Geist des
Fragens und des Zweifelns, jenes Vertrauen auf die eigene Vernunft, das eine Geißel für jeden religiösen
Glauben ist.“ (Condorcet 1976: 97)
Vgl. Condorcet 1795: 172.
Ebd. 156. / „die in ihren Dogmen die allereinfachste, in ihren Übungen die am wenigsten widersinnige und
iin ihren Prinzipien die toleranteste ist“ (Condorcet 1976: 112)
Condorcet 1795: 195. / „Der Geist, der die Reformatoren beseelte, führte nicht zu wirklicher Denkfreiheit.
Jede Religion ließ in dem von ihr beherrschten Lande nur bestimmte Ansichten zu. Da jedoch die verschiedenen Glaubensrichtungen im Gegensatz zueinander standen, gab es weder Ansichten, die in irgendeinem
Teil Europas nicht angefochten oder verteidigt worden wären.“ (Condorcet 1976: 133)
146
Die Glaubensspaltungen unterminierten den Wahrheitsanspruch jeder einzelnen
Konfessionen, der nur noch gewaltsam aufrecht erhalten werden konnte.
Condorcet hält es für wenig wahrscheinlich, dass der christliche Glaube – in
welcher konfessionellen Gestalt auch immer – sich jemals der Meinungs- und
Gedankenfreiheit uneingeschränkt öffnen könnte, ohne dazu gezwungen zu
werden, indem Revolution und Gesellschaft durch den Umsturz der alten Ordnung und die Einführung einer demokratischen und rechtsstaatlichen Verfassung
die notwendige Grundlage schaffen.
Trotz der großen Fortschritte, welche die menschliche Zivilisation in Europa
machte, ist die Verbreitung ihres Segens in anderen Regionen der Erde oft mit
Ausbeutung und Tyrannei verbunden, weil die politischen Verhältnisse in den
europäischen Nationen selbst der Aufklärung und Freiheit nach wie vor entbehren. Die spanischen und portugiesischen Konquistadoren waren ruhmsüchtige
Abenteurer und wenig an der Zivilisierung der eroberten Gebiete interessiert460.
Condorcet geht nicht so weit wie Holbach, der das Vorbild für die Expansion
der christlichen Königreiche in den Landnahmeerzählungen des Alten Testaments erblickte 461 , doch macht er sich keine Illusionen über die Motive und
Wirkungen des Kolonialismus. Gepaart mit einer tiefen Verachtung der kolonisierten Völker bringt er nicht Freiheit, sondern Knechtung und Demütigung.
Aber auch die jenseits des Atlantik lebenden und dort geborenen Europäer waren Objekte der Oppression; „le gouvernement britannique faisoit semblant de
croire que Dieu avoit crée l’Amerique comme l’Asie, pour le plaisir des habitans
de Londres“462. Condorcet begrüßt die Amerikanische Revolution, die das britische Joch abschüttelte, als Initialzündung der europäischen Revolution, die nicht
zufällig ihren Anfang in Frankreich nahm, „le pays le plus éclairé et un des
moins libres“463. Die Geschichtsphilosophie Condorcets huldigt keinem dumpfen Fortschrittsoptimismus; sie erkennt die Kämpfe und Opfer, die in der Geschichte auch nur die kleinste Verbesserung forderte, die Rückfälle und Widersprüche, die zwar auch zum Motor des Fortschritts werden konnten, aber den
Menschen unsägliche Leiden auferlegten. Anders aber als in der späteren Staatsund Geschichtsphilosophie Hegels ist Ende des 18. Jahrhunderts der prix de
460
Vgl. Condorcet 1795: 184.
„Daß sich die christlichen Nationen“, schreibt Holbach, „die Besitzungen der Bewohner der Neuen Welt
widerrechtlich angeeignet haben, ist augenscheinlich einer Folge der jüdischen Ideen. Die Kastilier und Portugiesen hatten offensichtlich die gleichen Rechte, sich Amerikas und Afrikas zu bemächtigen, wie die Hebräer sie hatten, sich zu Herren über die Länder der Kanaanäer zu machen, die Bewohner zu vernichten oder in
die Sklaverei zu führen.“ (Holbach 1970: 131)
462
Condorcet 1795: 257. / „Aber die britische Regierung tat so, als glaube sie, daß Gott Amerika wie Asien zum
Vergnügen der Einwohner von London geschaffen habe.“ (Condorcet 1976: 165)
463
Condorcet 1795: 260. / „ein Volk, das gleichzeitig das aufgeklärteste und unfreieste war“ (Condorcet 1976:
166; vgl. auch Cassirer 1973: 337f.)
461
147
progrès in der Form fortschreitender Proletarisierung breiter Bevölkerungsschichten im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft und neuer Abhängigkeiten
von eben jenen Mitteln, welche die Subsistenz und Freiheit der Menschen sichern sollen, noch nicht hinreichend bewusst. Die zentrifugalen Kräfte der bürgerlichen Gesellschaft, die ihrem Produktionsparadigma entspringen, machen
sich noch nicht deutlich bemerkbar. Der Ausblick auf die künftigen Fortschritte
der Menschen im letzten Kapitel des Esquisse464, kennt auch noch nicht die massiven ökologischen Probleme, welche die ungebremste Naturbeherrschung inzwischen aufwirft. Kolonialismus, Ausbeutung und Hochmut stehen zwar der
Ausbreitung der segensreichen Fortschritte auf der ganzen Erde im Wege, doch
sind dies auf der Basis einer vernünftigen Gesellschaftsordnung bald überwindbare Probleme. Trotzdem huldigte Condorcets geschichtsphilosophischer Entwurf keinem naiven Fortschrittsglauben. Seine Periodisierung der Fortschritte ist
nicht identisch mit einem strengen historischen Gesetz, wie es fast ein halbes
Jahrhundert nach Condorcet Auguste Comte (1798-1857) formulierte. Demnach
durchläuft die Geschichte drei verschiedene theoretische Stadien („trois états
théoretiques différentes“), das theologische oder fiktive, das metaphysische und
das positive Stadium 465 . Es sind notwendig aufeinander folgende Stufen. Die
erste unterteilt sich nochmals in Fetischismus, Polytheismus und Monotheismus.
Für Comte wie für Condorcet stellt die Religion keine intellektuell ernst zu
nehmende Größe mehr dar, aber für ersteren ist sie ein notwendiger Anfang (und
nicht das Ergebnis von priesterlichen Betrugsmanövern). Mit dem zweiten, dem
metaphysischen Stadium wird eine weitere Stufe der Abstraktion von den bunten anthropomorphen Vorstellungen auch noch des Monotheismus erreicht. In
noch geringem Umfang behauptet die Beobachtung ihr Recht, während vor allem Begriff und Argument ausgebildet und weiterentwickelt werden, bis
schließlich im positiven oder realen Stadium die Einbildungskraft gänzlich der
erforschbaren gesetzlichen Ordnung alles Wirklichen untergeordnet ist. Beobachtung, Experiment und Ordnung der Tatsachen nach festen Gesetzen mit
der schon von Holbach erhofften Möglichkeit einer rationalen Voraussicht
(„prévision rationelle“)466. Comtes positivistische Geschichtsphilosophie bietet
durchaus strukturelle Parallelen mit der Hegelschen, doch ist es hier nicht mehr
der ‚Weltgeist‘, das Absolute, das sich durch die historischen Gegensätze hindurch realisiert, sondern eine bereits säkulare Größe: die wissenschaftliche Erkenntnis, die alle Bereiche der Natur und der Gesellschaft durchdrungen hat und
sie bestimmt. Anders als Condordet kontrolliert Comte den Fortschrittsbegriff
464
465
466
Vgl. Condorcet 1795: 309-363.
Vgl. Comte 1979: 4-39, hier: 4.
Vgl. ebd.: 32-35.
148
bereits durch den der Ordnung: „Ordre et progrés“467 ist darum das Motto, und
für revolutionäre Umwälzungen ist in Comtes Prozess kein Platz mehr; das Bürgertum ist fest installiert und begrenzt den Fortschritt auf das, was im Rahmen
der von ihm etablierten Ordnung realisierbar ist. Wahrheit und Glück, die der
geschichtliche Fortschritt nach Condorcet realisieren soll, tritt für Comte als Ziel
der Geschichte zurück 468 . Condorcet hingegen wollte objektive Faktoren und
Potenziale für eine künftige, von Freiheit, Wohlstand und Glück gekennzeichnete menschenwürdige Gesellschaft aufzeigen, so dass sie kein bloßer Traum und
Wunsch bleiben musste. Allerdings führt, anders als bei Comte, kein unaufhaltsamer Automatismus dazu, sondern die Menschen müssen die Möglichkeiten,
die ihnen die Geschichte bietet, auch ergreifen. Die Fortschritte der Wissenschaften, der Technik und der Wirtschaft, die Ausweitung des geographischen
und kulturellen Horizonts müssen rational genutzt werden. Das Ausmaß, in welchem sich gut hundert Jahre später die Produktivkräfte in Destruktivkräfte verwandeln können, und die großen Probleme, vor denen die postkolonialen Gesellschaften heute stehen, hätte die Geschichtsphilosophie von Condorcet bis
Marx wohl überrascht.
e) Religion und Vorurteil Zu den stets wiederkehrenden Motiven der neuzeitlichen Religionskritik, auch in ihrer gemäßigteren Form, gehört der Hinweis
auf den engen Zusammenhang von Religion und Vorurteil. Sei es, dass diese der
Religion entspringen, sei es, dass die Religion selbst ein Produkt der Vorurteile
ist. Wir finden diesen Zusammenhang bei Spinoza, Holbach, Voltaire und
Diderot, und es ist an dieser Stelle sinnvoll, den Begriff des Vorurteils und seine
Stellung innerhalb der Religionskritik wenigstens in groben Zügen darzustellen.
Die Bestimmung dessen, was unter einem Vorurteil (praeiudicium, préjugé, prejudice) zu verstehen ist, verändert sich im Laufe der Geschichte, was sowohl mit
den veränderten gesellschaftlichen Konfliktfeldern, aber auch mit dem veränderten Stand einer wissenschaftlichen Erforschung des Vorurteils zusammenhängt.
Wir hatten schon gesehen, dass Francis Bacons Idolenlehre eine frühe Form der
Ideologie- und Vorurteilstheorie entwickelt, wobei vor allem die idola fori und
die idola theatri eine wichtige Bedeutung haben: Erstere sind die Vorurteile der
Menge, das ‚was man sagt‘, letztere beruhen auf ungeprüften Meinungen früherer Autoritäten469. Was beide Arten von Vorurteilen zu solchen macht, ist der
Mangel an Prüfung und selbstständigem Urteil. Sowohl die ‚Marktschreier‘ und
‚Stammtischexperten‘ als auch die Autoritäten früherer Jahrhunderte werden in
467
468
469
Ebd.: 42/43; vgl. auch Negt 1964: 96-116.
Vgl. ebd.: 108f.
Vgl. Novum Organon I, Aph. 43 und 44 = Bacon 1990: 102-105.
149
ihren Meinungen übernommen und beanspruchen eine Autorität, die doch erst
das Ergebnis einer genauerer Untersuchung sein kann. Der Kampf gegen die
Vorurteile wird zentral, wo bisherige Gewissheiten fragwürdig wurden und
Menschen Geltungsansprüche aufgrund ihrer Autorität, nicht aber aufgrund ihrer
Argumente erheben. Anders ausgedrückt: „Le préjugé“, so Voltaires Definitions, „est une opinion sans jugement“470 Meinungen, die ohne hinreichendes Urteilsvermögen, ohne Prüfung der Gründe gebildet werden, sind Vorurteile, die
nach Voltaires Ansicht auf der ganzen Erde verbreitet sind und den Kindern bereits in einem Alter eingeflößt werden, in dem sie zu einem selbstständigen Urteil noch gar nicht in der Lage sind. Was schon in der frühesten Sozialisation
angelegt wird, lässt sich später nur schwer wieder korrigieren. Voltaire unterscheidet in seinem Artikel Préjugés vier Gruppen von Vorurteilen471:
 Préjugés des sens
Die sinnlichen Eindrücke sind bekanntlich nicht über jeden
Zweifel erhaben. Oft unterliegen wir Täuschungen der Sinne, verbinden die Informationen unserer diversen Sinne falsch oder begnügen uns mit einer einzigen, zudem oft verzerrten Perspektive.
 Préjugés physiques
Es handelt sich hier um voreilige Induktionen, etwa wenn wir
auch nach Galilei immer noch sagen, die Sonne oder der Mond geht auf und diese lebensweltliche Perspektive zur ungeprüft gültigen erheben; oder wenn wir glauben, der
Mond beeinflusse unsere Krankheiten, nur weil bei einer bestimmten Stellung des
Mondes zufällig das Fieber stieg (oder sank).
 Préjugés historiques
„La plupart des histoires sont crues sans examen“ 472 , die
meisten Geschichten und Überlieferungen werden ohne genauere Überprüfung und
Vergleich ihrer Quellen geglaubt. Das Instrumentarium einer kritischen Historiographie
ist zu Voltaires Zeiten schon weiter entwickelt, und es ist notwendig von ihm Gebrauch
zu machen, bevor man Überlieferungen Glauben schenkt.
 Préjugés religieux
Hier laufen alle Vorurteile zusammen, jene, die sich aus einem unkritischen Gebrauch der Sinne, der Naturbeobachtung und der geschichtlichen
Quellen ergeben. Wer aber auf diesem Gebiet die eigene Urteilskraft über die Vorurteile
stellt, gerät in den Verdacht des Unglaubens und der mangelnden Frömmigkeit.
Die phantastischen Geschichten von Wundern und göttlichen Interventionen gehören ebenso zu den religiösen Vorurteilen. Man muss die vorsichtigen Formulierungen im Artikel Préjugés mit dem Artikel Miracles zusammenlesen. Der
Begriff des Wunders, so Voltaire, bezeichnet eigentlich etwas Bewunderungswürdiges wie die Ordnung der Natur, die Bewegung der Millionen von Planeten
um ihre zahlreichen Zentralgestirne, das Licht oder die komplexen Formen des
Lebens; dies sind „miracles perpétuels“. Aber häufiger versteht man unter Wunder Ereignisse, welche die Naturgesetze durchbrechen, die doch ebenfalls göttli470
471
472
Voltaire 1818d: 236.
Vgl. ebd.: 237-239.
Ebd.: 238.
150
che Gesetze sind473. Für den Deisten Voltaire sind es gerade die Naturgesetze,
die Gott der Natur eingeschrieben hat und die ihre Ordnung konstituieren. Wenn
Voltaire, anders als Holbach oder Diderot, am Gottesbegriff festhält, so ist es
nicht dessen Verbürgung durch Offenbarung und Autoritäten, sondern die Idee
der Gerechtigkeit und die Forderung nach Einheit oder Entsprechung von natürlicher und moralischer Welt474. Die Gesetze, denen die Natur einserseits und die
Moral andererseits unterliegt, können nicht nach Belieben und Laune außer
Kraft gesetzt werden, wenn nicht die gesamte Ordnung der Welt im Chaos der
Willkür versinken soll. Im Wunderglauben vermutet Voltaire einen Widerspruch
im Gottesbegriff, ja einen heimlichen Manichäismus. Das Wunder nämlich, seine Möglichkeit einmal vorausgesetzt, entspränge einem zweiten Prinzip, das in
Widerspruch zur Ordnung der Natur oder Schöpfung stünde. Wie kann ein weiser Schöpfer der Natur sich selbst widersprechen? Was würde er wohl, fragt
Voltaire einen fiktiven Philosophen, antworten, wenn er mit eigenen Augen sähe, dass die Sonne ihren Lauf anhält, d.h. die Erde in ihrer Bewegung um die
Sonne innehält, die Toten auferstehen und die Berge sich ins Meer stürzten –
und all dies, um eine Wahrheit zu beweisen? Er werde, antwortet der Philosoph,
Manichäer, angesichts dessen, dass ein Prinizip das andere zerstöre. Wundergeschichten zu glauben, die ohnehin in allen Kulturen zu finden sind, ist nicht nur
naiv, sondern läuft darauf hinaus, einen Widerspruch in die Natur einzutragen,
der schließlich den Wahrheitsbegriff selbst vernichtet 475 . Der Wunderglaube
enthüllt die destruktive Kraft des Vorurteils. Voltaire steht ein Offenbarungsbegriff vor Augen, der in erster Linie von einzelnen Mitteilungen Gottes ausgeht,
die durch Wunder beglaubigt werden, die ihrerseits von Schriftstellen Jahrzehnte
oder gar Jahrhunderte später aufgeschrieben und so überliefert werden. Das
préjugé physique verbindet sich mit dem préjugé historique, und die Kirche legt
beides – von den Wundern des Alten Testaments bis hin zur leiblichen Auferstehung Jesu – als zu glauben vor, während sie die öffentliche Bekundung begründeter Zweifel mit staatlicher Hilfe sanktioniert. So wird in der Religion das
Vorurteil zu einem von Autoritäten gefördeten Habitus.
Behauptungen – naturwissenschaftliche, philosophische und religiöse – bedürfen
der eingehenden, unzensierten Prüfung durch unsere Vernunft. Was eine bestimmte Aussage für Voltaire zu einem Vorurteil macht, ist also nicht primär ihr
Inhalt – von den Wundergeschichten einmal abgesehen –, sondern unser Verhältnis zu dieser Aussage, die mangelnde Bereitschaft, Wahrheits- und Gel473
474
475
Voltaire 1818d: 1-20, hier: 1; zu Voltaire vgl. Peter-Eckhard Knabe in Kreimendahl 2000: 104-121;
Vgl. Voltaire 1818b: 339-344 (Artikel Dieu/Dieux).
Vgl. Voltaire 1818d: 7; siehe auch David Humes skeptische Demontage der Wundertraditionen in Hume
1911: 128-155.
151
tungsansprüche einer Prüfung zu unterziehen. Es ist ja durchaus möglich, dass
sie eine solche Prüfung bestehen; als zu prüfende Aussagen sind sie keine Vorurteile, sondern Thesen, als geprüfte und erhärtete Thesen aber sind sie Erkenntnisse im Rahmen der irrtumsanfälligen endlichen Vernunft. Die fehlende Prüfung von Aussagen, kann in individuellem Unvermögen ihren Grund haben – im
Mangel an Methodik und Bildung – aber auch in tieferen Schichten des Bewusstseins, in der Weigerung, überlieferte Gewissheiten und liebgewordene
Gewohnheiten zur Disposition zu stellen. Sozialpsychologisch kann eine solche
Weigerung auch motiviert sein von der Funktion, die bestimmte Vorurteile für
das Kollektiv haben, dessen Zusammhalt möglicherweise auf falschen Prämissen beruht oder dessen vitale Konflikte notdürftig mit Illusionen pazifiziert werden. Vorurteile – individuelle wie kollektive – scheinen also stets mit einer Verhärtung des Bewusstseins einherzugehen.
Nun könnte man gegen diesen Begriff des Vorurteils einwenden, dass wir in unserem Alltag nicht immer alles gründlich prüfen und zur Disposition stellen
können. Gerade der Alltag bedarf, um zu funktionieren einer gewissen Routine.
Wir holen kein wissenschaftliches Gutachten ein, wenn wir eine Brücke überqueren oder Lebensmittel kaufen. Viele Gewohnheiten entlasten uns, sie helfen,
Zeit zu gewinnen, gerade auch um etwas Neues auszuprobieren. Kann also ein
Leben ohne Vorteile außerhalb des wissenschaftlichen Betriebs (und selbst dort
spielen Gewohnheiten eine nicht zu unterschätzenden Rolle) überhaupt geführt
werden? Nun müssen wir auch im Alltag zuweilen die Erfahrung machen, dass
alte Gewohnheiten und Verfahren nicht mehr zum Ziel führen, sondern korrigiert werden müssen oder gar gänzlich untauglich werden. Ob wir Vorurteilen
unterliegen oder nicht hängt von der Fähigkeit zu Korrektur und Erneuerung ab,
und auch hier gibt es das Phänomen der Verhärtung. Obwohl man es eigentlich
besser weiß, hält man an alten Ansichten und Praktiken fest („das haben wir
immer so gemacht“). Solange Überliefertes nicht problematisch wird, mit veränderten Bedingung des Alltags kollidert, bildet es noch kein Vorurteil; schon
gar nicht dort, wo es gleichsam ‚plastisch‘ bleibt, veränderbar. Erst in der Verhärtung wandelt es sich zum Vorurteil; obwohl man eigentlich weiß, dass eine
Veränderung unausweichlich ist, hält man am Überkommenen fest. Solche Ver
härtungen gibt es individuell im Alltag, aber auch im gesellschaftlichen, kulturellen, religiösen und politischen Zusammenhang. Sie werden in der Aufklärung
zur Zielscheibe der Kritik, gleichzeitig wird untersucht, wie es zu diesem Verhalten kam, welchen Interessen es über die Individuen hinaus noch dienen könnte. Religion hat in diesem Kontext eine wichtige Funktion, weil sie problematischen Überlieferungen und Ansichten einen höheren Sinn, gleichsam eine ‚hö-
152
here Weihe‘ gibt. Als sakrosankt, von Gott legitimiert, sind heilige Texte, Praktiken oder politische wie kirchliche Hierarchien der Kritik prinzipiell entzogen,
auch wenn sie sich bei näherer, Prüfung als menschliche Setzung oder menschliches Produkt erweisen, als mit Irrtümern behaftet und auch von wenig ehrenwerten Interessen geleitet.
Der Kampf gegen die Vorurteile war für die Aufklärer immer auch ein Kampf gegen Verhältnisse,
die zu ihrem Fortbestand der Vorurteile bedurften.
Vorurteil, Religion und politische Repression gingen oft eine enge Verbindung ein, die auch ihre
fatalen juristischen Konsequenzen hatte, wie die so
genannte ‚Affäre Calas‘ zeigte, ein Justizmord, den
Voltaire mit allen publizistischen Mitteln verfolgte.
Jean Calas, ein hugenottischer Kaufman aus Touluse wurde des Mordes an seinem Sohn bezichtigt.
Das Mordmotiv soll dessen Übertritt zur katholischen Kirche gewesen sein, den Calas, so der Vorwurf, mit äußersten Mitteln zu verhindern suchte.
Calas wurde in einem sehr zweifelhaften Verfahren
und aufgrund fragwürdiger Beweise zum Tode
verurteilt und hingerichtet.
„Die Ermordung des Calas, die in Toulouse mit dem
Schwerte der Gerechtigkeit den 9. März 1762 begangen
ist“, schreibt Voltaire in seiner Abhandlung Über die
Voltaire (François-Marie Arouet,
Toleranz. Veranlasst durch die Hinrichtung des Johann
1694-1778)
Calas im Jahre 1762, „ist eine der seltsamsten Begebenheiten, die die Aufmerksamkeit unseres Zeitalters und der Nachwelt verdienen. … Da, wo
Gefahr und Vorurteile gleich sind, hört das Erstaunen auf, und selbst das Mitleiden wird
schwach. Aber wenn ein unschuldiger Hausvater dem Irrtum, der Leidenschaft und dem
Fanatismus unter die Hände gerät; wenn der Angeklagte keinen Verteidiger hat als seine
Tugend; wenn die Schiedsrichter über sein Leben auf den Fall, dass sie ihn erwürgen, weiter keine Gefahr laufen als – sich zu irren; wenn sie ungestraft durch ein Urteil morden
können: dann erhebt sich die Stimme des Publikums, jedem wird bang für sich selbst; man
sieht, daß vor einem Tribunal, das errichtet worden ist, um über das Leben der Bürger zu
wachen, niemand seines Lebens sicher ist; und alle Stimmen schreien gemeinschaftlich um
Rache.“476
476
Voltaire 2010: 113 (Traité de la tolérance, 1763); zur Affäre Calas und zur Rolle Voltaires vgl. Israel 2011:
112, das umfangreiche Nachwort von Ingrid Gilcher-Holtey, in: Voltaire 2010: 249-294, zur Differenz von
Skandal und Affäre vgl. ebd.: 288; ausführlich zur Affäre Calas und ihrer Wirkungsgeschichte vgl. Hunt
2007: 70-112. Voltaires publizistische Aktion war die Manifestation einer im 17. und vor allem im 18. Jahrhundert wachsenden Empathie mit den Opfern von Justiz, Folter und drakonischen Strafen; einer Empathie,
welche nach Lynn Hunt den Menschnrechten gerade ihre Evidenz verlieh.
153
Voltaire begründet in seinen eindeutigen Stellungnahmen und Anklagen, in der
Verbreitung von Briefen und Pamphleten die öffentliche, politische und gesellschaftskritische Funktion des Intellektuellen, die in der Moderne von Emile Zolas „J’accuse!“ im Zusammenhang der Dreyfus-Affäre bis zu Jean Paul Sartre in
Frankreich eine große Rolle spielt und geradezu Vorbildcharakter erhielt. Das
Publikum wird involviert, weil im Unrecht gegen den Einzelnen auch das herrschende Unrecht einer ganzen Gesellschaft flagrant wird, ein Unrecht, dessen
nächstes Opfer jeder selbst sein kann. Nicht zuletzt den Interventionen Voltaires
ist es zu danken, dass der Fall neu aufgerollt und der Verurteilte – wenn auch
nur postum – rehabilitiert wurde. Vorurteile töten; im angeblichen Namen des
Gesetzes ebenso wie in Akten einer aufgehetzten, rasenden Menge. Religion
spielt immer wieder eine zentrale Rolle, wenn es um Vorurteile und ihre destruktiven Wirkungen geht. Die Intolearnz im zeitgenössischen Christentum
kann sich jedoch, wie Voltaire im Unterschied zu Holbach zu zeigen versucht,
nicht auf die Bibel berufen; vielmehr lehrt uns die Schrift „daß Gott nicht nur
alle Völker duldete, sondern sogar väterliche Sorgfalt für sie trug. Und wir wollen intolerant sein?“477 Weder das Frühjudentum, noch die Verkündigung Jesu
bieten eine Basis für die Intoleranz und Willkür der kirchlichen und politischen
Instanzen. Voltaires umsichtige Strategie ist bemüht, Argumente gegen Fanatismus, Intoleranz und Vorurteile aus den fundierenden Texten des Christentums
selbst zu gewinnen, während die radikale Aufklärung, wie wir schon sahen, bereits in den biblischen Schriften die Quelle des fanatischen Wahns erblickt, so
dass sie als Gegen- und Korrekturinstanz ausscheiden. Voltaire hingegen ist aus
pragmatischem Interesse und nicht ohne ironischen Unterton sogar bereit, gewisse Kompromisse einzugehen, indem er eine Hierarchie der Schädlichkeit von
Vorurteilen und Aberglauben aufstellt: Am gefährlichsten ist jener Aberglaube,
„der seinen Nächsten um der Meinungen hassen lehrt“; demgegenüber ist es sogar „unendlich vernünftiger, den heiligen Nabel, die heilige Vorhaut und die
Milch und den Rock der heiligen Jugfrau anzubeten, als seinen Bruder zu verabscheuen und zu verfolgen“478.
Für Voltaire, aber auch für Holbach oder Helvétius gründen Aberglaube und
Vorurteile – gerade auch die religiösen – nicht bloß in Unwissenheit und methodischer Unbekümmertheit, sondern auch in Manipulationen durch jene, die von
ihnen profitieren. Vorurteile entspringen also nicht allein individuellen Unzulänglichkeiten, sondern einer bestimmten gesellschaftlichen Verfassung. Der
bloße Appell an den Einzelnen, seine Ansichten und Urteile ebenso gründlich zu
477
478
Ebd.: 192.
Ebd.: 225.
154
prüfen wie die Meinungen, die an ihn herangetragen werden, läuft ins Leere,
solange Gesellschaft und Erziehung nicht grundlegend verändert worden sind.
„Der Mensch“, konstatiert Helvétius, „wird unwissend geboren, er kommt aber nicht
dumm auf die Welt und wird es auch nicht ohne Anstrengung. Um es zu werden und so
weit zu kommen, daß er in sich auch noch den natürlichen Verstand erstickt, sind Kunst
und Methode nötig. Der Unterricht muß in uns Irrtümer über Irrtümer angehäuft haben;
und durch vielfältige Lektüre müssen wir erst unsere Vorurteile vervielfältigt haben. Wenn
bei zivilisierten Völkern die Dummheit der gewöhnliche Zustand der Menschen ist, dann
ist das Frucht einer verderblichen Erziehung; weil man von den falschen Gelehrten unterricht wird und törichte Bücher liest.“479
Die subjektive Verankerung der Vorurteile in der Erziehung und ihre Verbindung untereinander erweitern sie zu einem System der Ideologie, welche den
Einzelnen von der vernünftigen Einsicht in die Wirklichkeit trennt. In diesem
Zusammenhang ist auch Voltaires Beobachtung, dass Vorurteile schon in der
frühen Kindheit grundgelegt werden von Bedeutung480. Sie verweist auf die sozialpsychologische Genese der Vorurteile, die nicht etwa zur unabänderlichen
condition humaine gehören, sondern an bestimmte gesellschaftliche und historische Konstellationen gebunden sind. Solange es Vorurteile gibt, ist eine Gesellschaft nicht mündig geworden. Entsprechend verbürgen auch Mehrheitsentscheidungen nicht schon die Freiheit von Vorurteilen, und so misstraut Helvétius auch der so genannten ‚öffentlichen Meinung‘, insofern sie der Manipulation
durch die Herrschenden unterworfen ist. Keine Religion, kein kirchlicher Amtsträger, kein Fürst und keine Mehrheit dispensieren vom freien Gebrauch der eigenen Vernunft und Urteilskraft481.
Diese Überlegungen haben ihre Aktualität nicht eingebüßt, auch wenn die Theorie des Vorurteils, das in den modernen, scheinbar aufgeklärten Gesellschaften
nach wie vor seine Macht behauptet, durch historische, soziologische und psychologische Forschungen erheblich erweitert worden ist. Fraglich ist allerdings,
ob das Vorurteil primär darin besteht, Behauptungen ungeprüft zu übernehmen,
d.h. ob dies nicht vielmehr ein Symptom ist, an dem die Kritik der Aufklärung
sich festmachte. Vorurteile vor allem gegen andere Gruppen der Gesellschaft
kompensieren die Demütigungen, die man selbst erlitten hat. Sie vermitteln den
Objekten ökonomischer und politischer Entscheidungen das Gefühl, gegenüber
anderen immer noch als Herren auftreten können, während sie in Wahrheit nur
Manövriermasse in einem umfassenderen Kalkül sind. Wenn, wie von Spinoza
bis Helvétius immer wieder betont wurde, der Trieb zur Selbsterhaltung, die
479
480
481
Helvétius 1972: 38.
Vgl. Voltaire 1818d: 236.
Vgl. Helvétius 1972: 433f; siehe auch Voltaire 1818c: 15-30, gekürzte dt. Übers. Voltaire 2010: 93-101;
ferner Rousseau 1971: 80/81, 294-297.
155
Erweiterung der eigenen Handlungsmöglichkeiten und die Erlangung von Lust
machtvolle Motive menschlichen Handelns sind, so sind die Chancen, sie umzusetzen, in den Gesellschaften bis heute sehr unterschiedlich verteilt. Gleichzeitig
nötigen die Zivilisationen die Menschen zum Verzicht auf unmittelbare Triebbefrieidgung, und für weite Teile wird aus dem Aufschub ein dauerhafter Verzicht.
Konkurrenz und Neid, die dadurch gefördert werden, treiben Aggressionen hervor, und die Menschen sind leicht geneigt, die Schuld an ihrem Los anderen
Gruppen anzulasten oder an ihnen ihren Unmut auszuleben. Die Vorurteile, die
– wie der Antisemitismus – auf diesem Wege entstehen, gründen nicht in erster
Linie in Unbildung und methodischem Unvermögen, sondern in einem tief sitzenden Groll, der auf seinen Augenblick wartet. Solche Vorurteile wirken noch
vor jeder Erfahrung und determinieren diese. Sie bilden das Schema, welches
Erfahrung und Urteil strukturiert und sind darum durch Erfahrung und Argumente auch nicht zu widerlegen: die Zensur war bereits am Ursprung wirksam.
Vorurteile motivieren dazu, sich Autoritäten in sadomasochistischer Weise unterzuordnen, wenn sie nur die eigene Rancune bedienen; sie sind integraler Bestandteil des ‚autoritären Charakters‘. „Gegen die starren Vorurteile zu argumentieren“, schreibt Max Horkheimer, „ist eitel. … Das Tor ist geschlossen gegen alles, was der andere auszudrücken vermag. Er gilt nicht mehr als Wesen,
mit dem umzugehen und zu sprechen vielleicht ein Vehikel der Wahrheit ist. Er
gehört zu einer niedereren Gattung. Die Verfolgungen sind die logische Konsequenz.“482 Damit entziehen sich Vorurteile prinzipiell der Kritik; sie entspringen
nicht einer ungeübten Vernunft und sind durch Argumente auch nicht zu entkräften. Dadurch unterscheiden sich Vorurteile von Ideologie, die „als Verschränkung des Wahren und Unwahren“ 483 immer noch einen rationalen Kern
bewahrt. In Mittelalter und Früher Neuzeit konnten die Vorteile sich religiös
legitimieren, ja von religiösen Demagogen in ihren Dienst genommen werden.
Der ausgeprägte negative Affekt gegen Religion, der sich bei Vertretern der radikalen Aufklärung findet, hat auch hier seinen Ursprung; sie vernachlässigten
(wie viele theologische Apologeten auf der anderen Seite) freilich das rationale
Potenzial der Religion, ihre Kraft zur Veränderung und Humanisierung. Seit
dem Sieg der bürgerlichen Gesellschaften bedürfen die Vorurteile der religiösen
Scheinlegitimation kaum noch; pseudowissenschaftliche Rassenlehren oder Sozialdarwinismus haben diese Funktion übernommen. Notfalls reicht auch die
blanke Wut, die nach Gründen nicht länger fragt. Dem religiösen Fundamentalismus – nicht nur im islamischen Raum – kommt heute wieder stärker die
482
483
Max Morkheimer: Über das Vorurteil (Horkheimer, GS 8: 194-200, hier: 198.
Vgl. Theodor W. Adorno: Beiträge zur Ideologienlehre (Adorno, GS 8: 457-477, Zitat: 465).
156
Funktion zu, Rancune und Vorurteile religiös zu symbolisieren. Der Schrecken,
den er in seinen gewaltbereiten Formen verbreitet, ist geeignet, Religion erneut
und möglicherweise tiefer in Misskredit zu bringen als ihre radikalen Gegner im
18. Jahrhundert erwarteten. Das Vorurteil – in seiner religiösen wie säkularen
Gestalt – hat leider noch eine große Zukunft.
f) Religiöse Aufklärung Die scharfe Kritik und der beißende Spott, denen
vor allem die Offenbarungsreligionen im siècle des lumières ausgesetzt waren,
mochte wohl dazu führen, dass die religiöse Aufklärung als Antwort auf das radical enlightenment und Teil der gesamten europäischen Aufklärung auch von
der Forschung lange unterschätzt wurde. Ihre Vertreter führten die religiösen
Traditionen und Institutionen nicht pauschal auf Priesterbetrug, Aberglauben
und Unwissen zurück, sondern strebten eher eine umfassende Reform des Verhältnisses von religiöser und säkularer Bildung, Kirche und Staat, Vernunft und
Offenbarung an. Letztere bildeten für sie keine unüberwindlichen Gegensätze,
wohl aber bedurfte es einer Neufassung des Offenbarungsbegriffs und einer
stärkeren Kontrolle religiöser Autorität, damit die Freiheit des Einzelnen vor
Übergriffen geschützt werden konnte. Das Problem der Träger dieser Aufklärung bestand darin, dass sie einer Schicht angehörten, die mit dem politischen
System oft eng verbunden war und aus der Perspektive der Herrschenden eine
mehr oder weniger wichtige Rolle im Reformprogramm eines aufgeklärten Absolutismus, wie in Preußen (Friedrich II., 1712-1786) und im Habsburger Reich
(Joseph II., 1741-1790) spielen sollte. Das Programm einer ‚Aufklärung von
oben‘ staatlicherseits verband sich auf der Gegenseite mit den Erwartungen einer weitgehenden Entflechtung des bisher engen Verhältnisses von Thron und
Altar und einer Beschränkung kirchlicher Autorität auf rein religiöse Fragen484.
David Sorkin plädiert gegenüber Jonathan Israel dafür, die religiöse Aufklärung als Teil des umfassenden Phänomens ‚Aufklärung‘ zu begreifen, das er einteilt in radikale, moderate und religiöse Richtungen485. Ungeachtet der Frage, ob
die Distinktion zwischen moderater und religiöser Aufklärung immer strikt
durchzuhalten ist, könnte man Sorkin grundsätzlich zustimmen; allerdings ist
nicht zu übersehen, dass in Frankreich die fortschreitende Polarisierung und die
Reformunfähigkeit des ancien régime die Stellung der religiösen Aufklärung
schwächte, und es eher die radikalen Vertreter waren, die das gesamte marode,
484
485
Vgl. Sorkin 2008: 18f.
Vgl. ebd.: 20f.; siehe ferner Im Hof 1995: 148-159, 209-212. „In ihrer großen Merhheit“, versichert auch
Herbert Schnädelbach, „waren die Aufklärungsphilosophen keine Ungläubigen. Sie verstanden sich nicht als
neue Heiden.“ (Schnädelbach 2009: 29) Das trifft cum grano salis auf Deutschland zu, muss aber für die konfliktreichere Situation in Frankreich modifiziert werden. Zuschreibungen wie Alt- und Neuheidentum tragen
ohenhin zur Erhellung der Kontroversen im 18. Jahrhundert wenig bei.
157
ökonomisch wie politisch ineffiziente und ungerechte System infrage stellten.
Sie verfügten von Holbach bis Diderot auch über eine kämpferische Theorie,
welche die ideologische Basis des Systems zerstören und politische Alternativen
aufzeigen konnte. Umgekehrt stießen in Deutschland und Österreich die Reformbestrebungen der religiösen Aufklärung sowohl in den eigenen Gemeinschaften als auch bei den politischen Instanzen bald schon auf Grenzen, und der
Versuch einer ‚Aufklärung von oben‘, die der Fürst seinen Untertanen verordnete, bleibt in sich widersprüchlich, weil er verordnet, was die Menschen allein in
Freiheit sich aneignen und realisieren können. Wie Sorkin für die Entwicklungen des Josephinismus und die Reformbestrebungen Joseph Valentin Eybels
(1741-1805) zeigte, waren die Radikalisierung der französischen Aufklärung,
der Beginn der Französischen Revolution und schließlich ihr Übergang in die
Terreur ab 1793 ungünstig nicht nur für das Habsburgische Reformprojekt, das
schließlich weitgehend zum Erliegen kam486. Noch geringer waren die Chancen
in Spanien, wo etwa Benito Jerónimo Feijóo (1676-1764) sein moderates, mit
Blick auf die damalige Codierung des Genderverhältnisses aber mutiges Aufklärungsprogramm formuliete487.
Aber auch in Preußen blieben wichtige Reformprojekte Desiderate. Moses Mendelssohn, der bekannteste Vertreter der jüdischen Aufklärung (hlkSh) genoss
zwar großes Ansehen auch bei vielen nichtjüdischen Zeitgenossen, vermochte
aber zu Lebzeiten kaum, die ‚bürgerliche Verbesserung der Juden‘ entscheidend
voranzutreiben. Den Respekt zollte man vor allem dem Aufklärer Mendelssohn,
dem Verfasser des Phaedon und der Briefe über die Empfindungen, weniger
dem Juden. Die demütigenden Aufenthalts – und Ansiedlungsbestimmungen in
Preußen wurden nicht aufgehoben, völlige bürgerliche Gleichberechtigung von
Juden und Nichtjuden blieb auch noch das Desiderat seiner Nachfahren488. Mögen die politischen Ziele Mendelssohns sich zunächst nicht erfüllt haben, so entfaltete er eine beachtliche Wirkung innerhalb der Aufklärung, wie die hohe Anerkennung durch Kant und Mirabeau belegt. Breit rezipiert wurde seine Forderung nach Religions- und Meinungsfreiheit, wie er sie in seiner Vorrede zu Menasseh ben Israel: Rettung der Juden (1782) und in Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum (1783) formulierte:
„Ich weis von keinem Rechte auf Personen und Dinge, das mit Lehrmeinungen zusammenhänge, und auf denselben beruhe; das die Menschen erlangen, wenn sie in Absicht auf
486
487
488
Vgl. Sorkin 2008: 254-259; ferner Israel 2011: 283-296.
Zu Feijóo vgl. Israel 2001: 534-540.
Vgl. Sorkin 2008: 208-213; zu Mendelssohns Leben und Werk vgl. auch Altmann 1973; Albrecht in Kreimendahl 2000: 209-225; Schoeps 2004: 22-29; Bourel 2007; Feiner 2009. Im Schicksal der Familie Mendelssohn vom 18. bis zum 20. Jahrhundert war monadologisch dasjenige des deutschen Judentums enthalten;
vgl. Schoeps 2004: 229-284; ders.: 2009.
158
ewige Wahrheiten gewissen Sätzen beystimmen, und verlieren, wenn sie nicht einstimmen
können, oder wollen. Am wenigsten weis ich von Rechte und Gewalt über Meinungen, die
die Religion ertheilen und der Kirche zukommen sollen. Die wahre, göttliche Religion
maßt sich keine Gewalt über Meinungen und Urtheile an, giebt und nimmt keinen Anspruch auf irrdische Güter, kein Recht auf Genuß, Besitz und Eigenthum, kennet keine andere Macht, als die Macht durch Gründe zu gewinnen, zu überzeugen und durch Ueberzeugung glückselig zu machen. Die wahre, göttliche Religion bedarf weder Arme noch
Finger zu ihrem Gebrauche; sie ist lauter Geist und Herz.“489
Gewiss hätten Vertreter der radikalen Aufklärung bissig angemerkt, dass mit
„lauter Geist und Herz“ der Kampf gegen die herrschende Ordnung nicht zu gewinnen sei. Zentral ist aber, dass Mendelssohn, der in dieser Frage nicht weit
entfernt ist von Spinoza, keinerlei religiöse Macht über Gesinnung und Meinung
gelten lässt. Weder staatliche noch religiöse Institutionen haben ein Recht über die Meinungen
ihrer Mitmenschen, auch und gerade nicht über
solche, die religiöse Fragen betreffen; „welcher
Mensch, welche Gesellschaft von Menschen
darf sich dieses anmaßen?“ 490 Auch hier gilt
allein die Macht des besseren Arguments. Wenn
in Fragen der ‚ewigen Wahrheiten‘ nicht dogmatische Setzungen, der Anspruch, etwas auf
Befehl hin anzunehmen, sondern Gründe den
Ausschlag geben, so setzt dies voraus, dass dieMoses Mendelssohn (1729-1786)
se Wahrheiten vernünftiger Einsicht zugänglich
sind. Und in der Tat ist Mendelssohn in der Tradition eines Leibniz und Wolff –
als „Philosophie des gemäßigten Bürgers“ 491 – sicher, dass die wichtigsten
Wahrheiten – die Existenz Gottes, die Unsterblichkeit der Seele und die Grundlagen der Moral – streng sich beweisen lassen. In dieser Frage, so Mendelssohn,
ist das Judentum verbunden mit allen Menschen, die willens und fähig sind, von
ihrer Vernunft freien Gebrauch zu machen. Das Judentum, so Mendelssohn in
seiner binnen acht Monaten (1782/83) verfassten „Charta des modernen Judentums“492, hat „keine Glaubensartikel“ und „niemand ward auf Glaubensartikel
beeidigt“493; eben weil es „keine geoffenbarte Religion, sondern geoffenbartes
Gesetz“ ist494. Das Judentum beruht eher auf Vernunft und vernunftgeleiteter
Praxis als auf Glauben, der ohnehin nicht geboten werden kann. Mit dem Ver489
490
491
492
493
494
Mendelssohn 2009b: 89f.
Ebd.: 91.
Schmidt 1989a: 27-31.
Bourel 2007: 382-444, hier: 382; vgl. auch Feiner 2004: 166-172; ders. 2009: 145-173.
Mendelssohn 2009b: 179.
Mendelssohn 2009b: 351 (An die Freunde Lessings); vgl. Schulte 2002: 56-63; Sorkin 2008: 199-206.
159
zicht auf eine in Offenbarung fundierte ‚jüdische Dogmatik‘ umgeht Mendelssohn prima facie auch jenes gravierende Problem, das 1777 sein Freund Gotthold Ephraim Lessing in seiner Schrift Über den Beweis des Geistes und der
Kraft angesprochen hatte. Die universale Gültigkeit der christlichen Offenbarung kann nämlich, so Lessing, durch historische Wahrheit nicht bewiesen und
beglaubigt werden. Alle Fragen der historischen Kritik von Spinoza bis Reimarus einmal beiseite gesetzt, bleibt also die Frage nach der allgemeinen Verbindlichkeit partikularer historischer Ereignisse, wie sie die Bibel überliefert. „Zufällige Geschichtswahrheiten“, so Lessing, „können der Beweis von notwendigen
Vernunftwahrheiten nie werden.“495 Das Vergangene bleibt partikular und lässt
sich nicht mehr aktuell erleben. Selbst seine wissenschaftliche Rekonstruktion
bietet nur Plausibilitäten und entbehrt des Status eines strengen Beweises. Zwischen einer plausiblen historischen Konstruktion einerseits und a priori einsehbaren metaphysischen oder moralischen Begriffen besteht eine Differenz, und
dieser „garstige breite Graben“ ist nicht überbrückbar – es sei denn durch eine
, einen unzulässigen Sprung, womit aber nur der logische Fehler eines auf Tradition und ‚historischen Tatsachen‘ beruhenden Offenbarungsglaubens erweisen wäre496. Bekanntlich blieb dies nicht Lessings letztes
Wort in einer Frage, welche den universalen Geltungsanspruch des christlichen
Offenbarungsglaubens zentral betraf. Indem der Wahrheitsbegriff geschichtlich
‚verflüssigt‘ wurde – ein Gedanke, der bei Lessing nicht zu ersten Mal auftaucht
–, war es möglich, „die Offenbarung als eine Erziehung des Menschengeschlechts“ zu begreifen497. Nicht die Fixierung auf einzelne geoffenbarte Ereignisse und Sätze, sondern die Totalität der Geschichte muss als fortschreitende
Offenbarung Gottes verstanden werden, bei der allerdings Judentum und Christentum nur einzelne Stufen darstellten und auf „die Zeit eines ewigen Evangeliums“ vorbereiten498. Die moderne evangelische und katholische Theologie hat
Lessings Geschichtsphilosophie nicht einfach übernommen; aber die Idee einer
geschichtlichen Struktur der Offenbarung erwies sich als fruchtbar. Die Verklammerung – nicht Identifikation – mit der stets ambivalenten menschlichen
Freiheitsgeschichte degradierte den Menschen gerade nicht zu einem passiven
Rezipienten von Sätzen, die angeblich von Gott selbst ausgesagt wurden.
Menschliche Spontaneität und Produktivität haben konstitutiven Anteil an den
Offenbarungsdokumenten, wenn Gottes Selbstmitteilung ihren Adressaten errei-
495
496
497
498
Lessing 1982: 309.
Ebd.: 311.
Ebd.: 545 (Die Erziehung des Menschengeschlechts, 1777-80, §3).
Ebd.: 561; zu Lesssings Geschichtsphilosophie vgl. auch Schmidt 1989b: 80f.
160
chen soll – aber diese Überlegungen weisen schon weit auf die Theologie des
späten 19. und des 20. Jahrhunderts voraus.
Nicht nur die theologischen Zeitgenossen Lessings, auch Mendelssohn vermochte der Erziehung des Menschengeschlechts nur wenig abzugewinnen.
„Nicht die Vervollkommnung des Menschengeschlechts“, schrieb er 1782 in
einem Brief an August Hennings, „ist die Absicht der Natur. Nein! Die Vervollkommnung des Menschen, des Individui. Jeder einzelne Mensch soll seine Anlagen und Fähigkeiten entwickeln und dadurch immer vollkommener werden
…“. Eine vollkommene Menschheit als Telos der Geschichte oder ein unendlicher Progress böte dem Individuum keine Entwicklungsmöglichkeit mehr, es
„würden die neuen Ankömmlinge keine Gelegenheit finden, ihre Kräfte zu
üben, ihre Anlagen zu entwickeln, und dieses ist gleichwohl wahrer Zwek der
Natur.“499 Die erfüllte Menschheit, die alle ihre Anlagen realisiert hätte, böte
künftigen Generationen keine Möglichkeit mehr, sich zu entwickeln und verharrte in ewiger Statik – für den Aufklärer Mendelssohn nicht gerade eine verlockende Perspektive. Aber auch die vorläufige Rolle, die Lessing dem Judentums
zuwies – eine von der christlichen Theologie nur allzu bekannte Argumentation
– mochte die Reserven Mendelssohn bestärken. Zudem bedurfte es, um die Vernünftigkeit des Judentums zu erweisen, keiner geschichtsphilosophischen Spekulation. Das Judentum gesteht allen Menschen qua Erkenntnis das zu ihrem
Heile Notwendige zu. Wo es um ewige Vernunftwahrheiten geht, spricht, so
Mendelssohn, auch die Bibel nicht vom Glauben, sondern vom Erkennen und
Wissen (so in Dtn 4,39 und 6,4). Mit einer gewissen Spitze gegen die christliche
Dogmatik und kirchliche Lehrautorität schreibt Mendelssohn: „Nirgend wird
gesagt: Glaube Israel, so wirst du gesegnet seyn; Zweifle nicht Israel! oder diese
und jene Strafe wird dich verfolgen. Gebot und Verbot, Belohnung und Strafen
sind nur für Handlungen, für Thun und Lassen, die in des Menschen Willkühr
stehen, und durch Begriffe vom Guten und Bösen, also auch von Hoffnung und
Furcht gelenkt werden.“500 Glauben und Zweifel hingegen gehören allein zum
Feld der Erkenntnis. Dasjenige aber, dessen alle Menschen zur ewigen Seligkeit
bedürfen, ist ihnen von Gott durch die Vernunft geoffenbart worden, dies sind
zugleich jene ewigen Wahrheiten, „die der menschlichen Vernunft nicht nur begreiflich, sondern durch menschliche Kräfte dargethan und bewährt werden
können“501. So bedarf es keiner Mission, keiner Annahme von Glaubenswahr499
500
501
Beide Zitae: Mendelssohn 1979: 65, Brief 571. Auch Mendelssohns jüngerer Zeitgenosse Isaak Euchel
(1756-1804) kennt keine Geschichtsphilosophie im Sinne Lessings, der Nutzen der Geschichte ist vor allem
„der moralische“ (vgl. Euchel 2001: 29-43, hier: 41-43).
Mendelssohn 2009b: 179.
Ebd.: 171.
161
heiten, die der Vernunft unzugänglich bleiben, sondern es genügt, den rechten
Vernunftgebrauch zu lernen. In der Frage der auf Vernunft gegründeten Urteile
und Meinungen haben sich weder kirchliche noch staatliche Einrichtungen einzumischen502. Das gilt selbstverständlich auch für jüdische Institutionen, und so
lehnt Mendelssohn entschieden den Bann (Mrc), den Ausschluss aus der Gemeinde als Maßnahme der Disziplinierung, ab503. Damit ist die religiöse Macht
jüdischer wie christlicher Inhaber religiöser Ämter auf jenes Maß eingeschränkt,
das zum Wohlergehen und zur religiösen Entfaltung aller notwendig ist.
Mendelssohn ist sich durchaus bewusst, dass weder im Staat noch in den bestehenden Religionsgemeinschaften diese Forderungen Realität angenommen haben. „Der Despotismus“, schreibt er zu Beginn von Jerusalem, „hat den Vorzug,
daß er bündig ist.“504 Beispielhaft sind ihm Dogmatik und Verfassung der katholischen Kirche: „Euer Gebäude ist aufgeführt, und in allen Theilen desselben
herrscht vollkommene Ruhe. Freilich nur jene fürchterliche Ruhe, wie Montesquieu sagt, die Abends in einer Festung ist, welche des Nachts mit Sturm
übergehen soll.“505 Nun, die Festung wurde auch mehr als zweihundert Jahre
nach Mendelssohn noch gehalten, aber der Wunsch nach Ruhe ist in manchen
Teilen der katholischen Kirche immer noch unverkennbar, während der Sinn
einer Festung gegen die Moderne nicht wenigen heutigen Zeitgenossen mit
Grund zweifelhaft wurde. Auch für Mendelssohn ist es das Dogma, verbunden
mit der Androhung von Sanktionen, das einer Gemeinschaft vernünftiger Wesen
unwürdig ist. Die Verweigerung des Gehorsams gegenüber einem Anspruch, der
nur die überlieferte Autorität als Grund anzugeben weiß, gehört zu den Charakteristika sowohl der radikalen als auch der religiösen Aufklärung. Mendelssohn
ist der Überzeugung, dass das Judentum, eben weil es ‚keine geoffenbarte Religion‘ ist, auf die unerhellte kirchliche oder gar staatliche Autorität in Fragen des
Glaubens verzichten kann. Anders als die radikale Aufklärung ist es nicht Ziel
seiner Kritik, die Grundlagen der Religion als Ideologie der überkommenen
Verhältnisse zu zerstören. Die Existenz Gottes, die Unsterblichkeit der Seele
und die menschliche Freiheit standen ihm als vernünftig einsehbare Wahrheiten
fest, sie brauchten nicht durch die Autorität eines Lehramtes oder eine staatliche
Zensurbehörde gesichert zu werden; entsprechend verlor seine Kompromisslösung an Überzeugungskraft, als Kant die erkenntnistheoretischen Voraussetzung
der theologia naturalis, auf welche Leibniz, Wolff und Mendelssohn sich stützten, einer fundamentalen Kritik unterzog. Aber auch das ‚geoffenbarte Gesetz‘
502
503
504
505
Vgl. Mendelssohn 2009b: 159; Bourel 2007: 413.
Vgl. Mendelssohn 2009a: 92f; Bourel 2007: 393; Feiner 2009: 156-161.
Mendelssohn 2009b: 133; vgl. die knappe Zusammenfassung von Schoeps 2004: 26-29.
Mendelssohn 2009b: 133.
162
hatte für Teile der Generation nach Mendelssohn seine Plausibilität eingebüßt.
Erst die Reform im 19. Jahrhundert vermochte es, die Krise der überlieferten
Religion wenigstens in zentralen Teilen zu bemeistern. Mendelssohn selbst sah
in seinen letzten Lebensjahren eine ihn bedrückende Renaissance des Irrationalismus und der Bigotterie, deren Vorboten er schon im Streit mit Lavater zu spüren bekam und die in dem von Jacobi angestoßenen Spinozismus-Streit deutliche Konturen annahmen. Mit Sorge und einem pessimistischen Unterton, was
den Übergang der vernünftigen Einsicht in Praxis betrifft, schreibt Mendelssohn
1784 an Johann Georg Zimmermann:
„Wir träumten von nichts als Aufklärung und glaubten durch das Licht der Vernunft die
Gegend so aufgehellt zu haben, daß die Schwärmerey sich gewiß nicht mehr zeigen werde.
Allein wie wir sehen, steiget schon, von der anderen Seite des Horizonts, die Nacht mit allen ihren Gespenstern wieder empor. Das Fürchterlichste dabey ist, daß das Uebel so thätig
und wirksam ist. Die Schwärmerey thut, und die Vernunft begnügt sich zu sprechen.“506
Mendeslssohns Gespenster waren nicht weniger anschaulich und diesseitig wie
später diejenigen Goyas. Das ungleiche Kräfteverhältnis zwischen Vernunft und
„Schwärmerey“ änderte sich erst mit dem Beginn der Französischen Revolution,
den Mendelssohn nicht mehr erlebte. Aber auch deren weitere Entwicklung
zeigte, dass die Vernunft leider nicht durchgehend „thätig“ war, sondern während der Grande Terreur zur Passivität verurteilt oder mundtot gemacht wurde.
Möglich auch, dass eine Vernunft, die, ihrer Erfolge gewiss, über sich selbst
nicht wacht, sich nicht über sich selbst aufklärt, jene Gespenster produziert.
Nicht nur in Preußen und Österreich, auch im Frankreich des späten ancien
régime gab es neben der radikalen auch eine religiöse Aufklärung, zu der das
vom Abbé Gregoire (1750-1831) formulierte naturrechtlich begründete Programm der Toleranz und einer ‚bürgerlichen Verbesserung der Juden‘ gehörten507. Zu nennen ist ferner das sehr weitgehende, von Rousseau beeinflusste
katholische Reformprojekt Claude Fauchets (1744-1793), das ein demokratisches Gemeinwesen mit einer grundlegenden – wir würden heute sagen: ‚basisdemokratischen‘ – Erneuerung der Kirche und einer Entflechtung von ‚Thron
und Altar‘ verbinden wollte. Ihm war, wie auch in anderen Ländern, während
des 18. Jahrhunderts kein nennenswerter Erfolg beschieden. „Allen wichtigen
ideologischen Blöcken entfremdet, war er bald völlig isoliert und verlor den Einfluss, den er von 1790 bis 1791 hatte.“508 Die Terreur bereitete dem zwischen
alle Stühle geratenen Reformer 1793 ein Ende auf der Guillotine. Aus der Perspektive der radikalen Aufklärung erschien ihre religiöse Variante als eine bloße
506
507
508
Mendelssohn 1979, 221f, Brief 655; zur Krise der Haskalah vgl. Feiner 2004: 293-341.
Vgl. Sorkin 2008: 271-273.
Israel in: Israel/Mulsow 2014: 247f; vgl. auch Sorkin 2008, 273f.
163
Halbherzigkeit, Ausdruck eines fehlenden Mutes, mit den unglaubhaft gewordenen Überlieferungen zu brechen und dem alten System die ideologische Rechtfertigung zu entziehen. Noch im 19. Jahrhundert begriffen sich revolutionäre
Autoren wie Marx als Erben der radikalen Aufklärung, der sie auch noch in der
Kritik verpflichtet blieben. Entsprechend distanziert ist das Verhältnis zu den
moderateren Formen, so verfällt Mendelssohn dem Urteil Marxens, der ihn 1870
in einem Brief an Ludwig Kugelmann abschätzig als „Urtyp eines Seichtbeutels“ bezeichnet509, der die Konsequenzen eines Spinoza zu ziehen nicht wagte.
Die orthodoxe Praxis Mendelssohns, die Nähe zur Leibniz-Wolffschen Aufklärung und seine Reserven gegenüber der Idee eines geschichtsimmanenten Fortschritts mögen die tiefe Abneigung Marxens motiviert haben.
Innerhalb der europäischen Linken war das Ansehen der religiösen Aufklärung
in den Jahrzehnten nach Marx nicht sonderlich gestiegen, soweit man sie überhaupt der Erwähnung für würdig befand. Gleichwohl wird man zögern, von einem völligen Scheitern der religiösen Aufklärung zu sprechen. Es ist nicht zu
übersehen, dass, wie Sorkin es auch andeutet, Impulse der religiösen Aufklärung
über den Vormärz bis in den Kulturprotestantismus, die jüdische Reformbewegung und die – bis zum II. Vatikanum leider fruchtlosen – katholischen Reformbestrebungen reichten510. Religiöses Bewusstsein vom 17. Jahrhundert bis zum
Beginn der Moderne steht also nicht immer und durchgehend auf der Seite der
Reaktion und einer reformunwilligen Obrigkeit. Mehr noch: Für die Niederlande
konnte Wiep van Bunge zeigen, dass radikale demokratische Positionen zwar
Inspirationen von Spinoza empfingen, aber durchaus religiösen Motiven entspringen konnten511. Die religiöse Aufklärung entwickelte zudem anspruchsvolle Alternativen zur simplen Erklärung der Religion aus den finsteren Machenschaften von Priestern, Propheten und dem Unwissen der Massen. Im Unterschied zur radikalen Aufklärung waren weite Teile der religiösen auf das Wohlwollen und die Reformbereitschaft der staatlichen Seite angewiesen, deren Eifer
jedoch erlosch, sobald das politische System als ganzes zur Disposition stand.
Aufklärung ist, wie Herbert Schnädelbach konstatiert, „nicht von außen herstellbar“512, sondern muss Sache und Forderung einer Öffentlichkeit werden, die sich
von den Interessen der Obrigkeit emanzipiert hat.
509
510
511
512
MEW 32: 686.
Vgl. Sorkin 2008: 313f.
Vgl. Wiep van Bunge, in: Israel / Mulsow 2014: 121-148.
Schnädelbach 2009: 22.
164
4. „Mann, bist du fähig, gerecht zu sein?“
Genderdiskurs und Religionskritik
im siècle des lumières
165
166
a) Descartes im frühen Genderdiskurs „Mann, bist du fähig, gerecht zu
sein?“, fragt Olympe de Gouges in ihrer Erklärung der Rechte der Frau (1791)
„Eine Frau stellt dir diese Frage; du wirst ihr doch nicht das Recht dazu absprechen wollen. Sag an, wer hat dir die selbstherrliche Macht verliehen, mein Geschlecht zu unterdrücken? Deine Kraft? Deine Talente?“513 Ein fulminanter Auftakt, der nach der Widmung an die Königin folgt, die diesen Text wahrscheinlich nie zur Kenntnis nahm. „Die Frau“, heißt es im Artikel I, „wird frei geboren
und ist dem Manne ebenbürtig in allen Rechten. Unterschiede im Bereiche der
Gesellschaft können nur im Gemeinwohl begründet sein. / La Femme naît libre
et demeure égale à l'homme en droits. Les distinctions sociales ne peuvent être
fondées que sur l'utilité commune.“514 Der Text lehnt sich an den ersten Artikel
der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte
von 1789 an (wie der erste Teil später auch im Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte 1948 aufgegriffen wird) und modifiziert ihn
hinsichtlich des Geschlechterverhältnisses: Nicht
schlechthin die Menschen (les hommes = Menschen, aber auch Männer), sondern die Frau wird
frei geboren. Bedurfte es einer solchen genderspezifischen Erklärung? Offensichtlich war es notwendig, denn trotz des feierlichen Textes von 1789, der
die Rechte der Frauen logisch einschloss, konsta- Marie (Olympe) de Gouges
(1748-1793)
tiert Olympe de Gouges weiterhin eine fundamentale „Unkenntnis, Vernachlässigung oder Mißachtung der Rechte der Frau“515;
ein Übel, dem weitere entspringen. Waren ihre Forderungen selbst nach 1789
noch zu früh? Jules Michelet (1798-1874), der große Historiker der Französischen Revolution, attestierte ihr, sie habe „das Recht der Frauen durch ein großes und schönes Wort begründet“ 516; die Feststellung bezog sich auf den be513
514
515
516
de Gouges 2006: 50.
Ebd.: 52 / http://www.assemblee-nationale.fr/histoire/femmes/olympe-de-gouges_declaration-des-droits-dela-femme.asp letzter Zugriff: 23/06/2014. 1789 und in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung (1776)
findet erstmalig die Gleichheit, Universalität und Evidenz der Rechte, welche den Menschen ‚von Natur aus‘
zukommen, ihren verbindlichen politischen Ausdruck; vgl. Hunt 2007: 21f und 26-34.
Ebd.: 51. Ähnliches konstatiert noch Harriet Taylor Mill (1807-1858) rund ein halbes Jahrhundert später; vgl.
Mill 1998: 43 und 46-48.
Michelet 1984: 92.
167
rühmt gewordenen 10. Artikel der Frauenrechte: „Die Frau hat das Recht das
Schafott zu besteigen, gleichermaßen muß ihr das Recht zugestanden werden,
eine Rednertribüne zu besteigen“517. Der Tugendterror Robespierres jedoch verübelte ihr die Rede und bot ihr als Bühne das Schafott, auf dem Olympe de
Gouges 1793 endete. Ihr Mut und ihre scharfe Polemik gegen Robespierre, der,
wie sie schrieb, den Tyrannen „an Ansehen und Macht wie an Freveltaten nicht
nachstehen“ will und sich seinen Weg „mitten durch Berge von Leichen“
bahnt518, waren nicht nur dem derart Angesprochenen unerträglich. Selbst Michelet, der mit Sympathie und Achtung von ihr sprach, bescheinigte ihr, „das
Spielzeug und das Opfer ihrer nervösen Reizbarkeit“519 geworden zu sein. Die
Tendenz zur Pathologisierung steigerte sich mit historischem Abstand: 1904 diagnostizierte rückblickend ein Arzt Wahnvorstellungen und eine paranoia reformatoria520. Die armselige Ranküne der Männer überlebte die unbotmäßige
Frau um mehr als ein Jahrhundert. Aber der Gedanke war einmal in der Welt,
folgte zwingend aus den Menschenrechten und fand neue Anhänger/innen. Die
traditionelle, auch religiös legitimierte Rollenteilung von Mann und Frau wurde
hier nicht etwa zaghaft, sondern mit aller intellektuellen und rhetorischen Kraft
prinzipiell in Frage gestellt und bekämpft.
Es gab aber, wie wir gleich sehen werden, scharfsinnige Vorläufer/innen, die
vom späten Mittelalter bis in das Zeitalter der Aufklärung reichten; Olympe des
Gouges hätte auf eine Liste illustrer Namen verweisen können: Frauen (und
auch Männer) fragten nach der Legitimität und Geltung der angeblich spezifisch
weiblichen Verhaltensweisen und Rollen, die, so schien es lange, vom Schöpfer
vorgegeben waren521. Das Spektrum dieses Diskurses reicht von der Verteidigung der Frauen gegen gängige Vorurteile, die selbst von philosophischen Autoritäten vorgetragen wurden (vgl. Christine de Pizan, Le livre de la cité des Dames, 1405) über die kühne Behauptung ihrer Superiorität (vgl. Juan Rodriguez
de la Cámara, Trionfo de las donas, 1438) bis zur grundsätzlichen Infragestellung des überlieferten Gender-Codes seit der Frühaufklärung. Eine wichtige
Rolle als philosophisches Fundament der Kritik spielte, was manchen überraschen mag, die cartesianischen Philosophie. Auf sie bezogen sich die Kritiker
des bisherigen Genderverhältnisses und Verfechter einer uneingeschränkten
Gleichstellung der Geschlechter. Das wohl berühmteste Werk dieser Zeit verfasste nur wenige Jahre nach Spinozas Tracatus der von Jonathan Israel in eine
517
518
519
520
521
de Gouges 2006: 53; vgl. auch Israel 2014, 125-128.
de Gouges 2006: 110-114, hier: 111f (Prognose Maximilian Robespierre betreffend)
Michelet 1984: 92.
In: de Gouges 2006: 187f.
Vgl. zum Folgenden King / Rabil 2005: XIX-XXIX.
168
Fußnote verbannte François Poulain de la Barre: De l’égalité des deux sexes;
1673522. Schon der Anfang der Schrift ist fulminant: Die Urteile von Männern
über Frauen erweisen sich als kulturübergreifende fest gefügte Vorurteile und
falsche Gewohnheiten. Rollen und angebliche Eigenschaften nahmen den
Schein an, als wären sie „par un ordre général de l’auteur de la nature“ begründet523, während sie in Wahrheit der frühen gesellschaftlichen Arbeitsteilung und
bestimmten Herrschaftsverhältnissen entsprangen524, die sich im weiteren Verlauf der Geschichte verfestigten. Wundert es dann noch, dass diejenigen, welche
politisch die Entscheidungsmacht beanspruchten und die Frauen auf Haus und
Familien verwiesen, auch in der Religion alle Kompetenzen in Kult und Theologie für sich reservierten525? Indessen gestatten es die Wissenschaften, die
nichts als wahr anerkennen,was nicht auf klaren und deutlichen Ideen basiert
(„appuyé sur des idées claire et distinctes“526), die Anmaßungen und Fiktionen
der Männer zu entlarven. Nicht nur genaue Vergleiche zwischen den Fähigkeiten von Männern und Frauen, sondern die Beschaffenheit des menschlichen
Geistes verweist die Behauptung der weiblichen Inferiorität ins Reich vulgärer
Vorurteile (préjugés). Unter der Voraussetzung der cartesianischen Dichotomie
von res cogitans und res extensa nämlich kann dem
Geist kein spezifisches Geschlecht zugesprochen
werden, denn „la difference des sexes ne regarde
que le Corps“527. Insofern ist vom Geist zu sagen,
„qu’il n’a point de sexe“528, eine Äußerung, die in
geringfügiger Variation auch von der Königin
Christina von Schweden überliefert wird: „L’âme
n’a point de sexe.“529 Gott vereinigte Geist / Seele
und Körper von Frauen und Männern nach demselben Gesetz „et l’esprit n’agissant pas autrement
dans un sexe, que dans l’autre, il est également caFrançois Poulain de la Barre
pable des même choses“530. Der Schluss von der
(1647-1723)
körperlichen Differenz auf die geistige ist eine .
Frauen sind ebenso wie Männer fähig, Metaphysik, Logik, Physik, Mathematik,
522
523
524
525
526
527
528
529
530
Vgl. Israel 2001: 93, Nr.71.
Poulain 2011: 63.
Vgl. ebd.: 64-66.
Vgl. ebd.: 67f.
Ebd.: 54.
Ebd.: 99.
Ebd.: 100.
Nach Cassirer 1995c: 259.
Poulain 2011: 101.
169
Medizin und Theologie zu treiben531 und haben ein Recht auf eine umfassende
Erziehung und uneingeschränkte Partizipation an Bildung und Wissenschaft.
Kein Hinweis auf Natur und Schöpfung rechtfertigt die Ungleichheit der Geschlechter: Von der Natur ist der Geist unabhängig; er übernimmt nicht die geschlechtliche Differenzierung der Körper; die Schöpfung aber hat gerade Geist
und Körper beider Geschlechter nach gleichen Regeln vereinigt. Anthropologisch unterläuft Poulain die lange – meist religiös begründete – Tradition eines
misogynen Generalverdachts, demgemäß Sünde und Schuld durch die Frau, die
stärker als der Mann von Körper und Trieben beherrscht werde, in die Welt kam
und deshalb auch einer sorgfältigen Aufsicht durch die (männlich dominierte)
Gesellschaft bedürfe. Modern würde man jene Traditionen als Ergebnis einer
sich sozial und historisch reproduzierenden Projektion auf einem fortgeschrittenen Stand arbeitsteiliger Naturbeherrschung deuten, in welcher auf männlicher
Seite das eigene nur in Grenzen sublimierte Begehren dem anderen Geschlecht
als Spezifikum zugeschrieben wird. Die préjugés sind also sozial- wie individualpsychologisch tiefer anzusetzen als Poulain meint, wenn er schreibt, sie seien
„jugements portés sur les choses, sans les avoir examinées“532.
Die cartesianische Demontage traditioneller Genderzuweisungen spielte in der
frühneuzeitlichen querelle des femmes
auch außerhalb Frankreichs eine nicht zu
unterschätzende Rolle. In Italien fand
Descartes nicht nur eine intelligente und
selbstbewusste Übersetzerin seiner Schriften, sondern auch eine eigenständige
Schülerin in Guiseppa Eleonora Barbapiccola, der Ursula Pia Jauch in ihrer Studie
ein eigenes Kapitel widmete533. Ihrer italienischen Übersetzung der Principia PhiGuiseppa Eleonora Barbapiccola
(ca. 1700 – ca. 1740)
losophiae (1722 534 ) stellte Barbapiccola
Portrait von Francesco de Grado
eine ausführliche Begründung voran, weshalb auch Frauen Philosophie studieren können und sollen. Das Vorwort ist, in
den Worten Paula Findlens, die den Text ins Englische übertrug, „a manifesto of
women’s right to learn“535. Die angebliche Schwäche ihres Geschlechts, „which
531
532
533
534
535
Vgl. ebd.: 101-105.
Ebd.: 53 Anm.
Vgl. Jauch 1990: 81-92.
Vgl. Messbarger / Findlen 2005: 47-66.
Messbarger / Findlen 2005: 37.
170
only studies in order to know how to play games and to speak knowledgeably of
fashionable clothes and hair ribbons“ gründet in Erziehung, nicht in der Natur536.
Die Übersetzerin verweist auf bedeutende Vorläuferinnen – „eine imposante
Nomenklatur gelehrter Frauen“537 –, die sich der Philosophie widmeten und denen sie viel verdankt 538. Aber besonders überzeugt sie René Descartes; seine
Philosophie, so hörte sie, „was based on solid reasoning and certain experience,
and proceeded with a clear method, deriving one from another … For this reasons I was more inclined to this philosophy than to any other.” 539 Die italienische Übersetzung soll Descartes einem größeren Publikum erschließen, „particulary women who, as the same René says in one of his letters, are more apt at
philosophy than men“540. Der Zweifel an der philosophischen Kompetenz der
Frauen wird – unter Berufung auf Descartes, den Barbapiccola vertraut bei seinem Vornamen nennt – umgekehrt und gegen die männliche Vorherrschaft gerichtet.
Poulain ging allerdings in seiner Schrift über die Gleichheit der Geschlechter
mit seinen Forderungen und kritischen Einwänden noch erheblich weiter als
Barbapiccola in ihrem Vorwort. Die Gleichheit der Geschlechter ist auf allen
Gebieten der Kultur, Politik und Ökonomie zu realisieren, wo der Primat des
Geistes herrscht und jede körperliche Differenz belanglos ist. Unübersehbar sind
aber die Grenzen dessen, was cartesianisches Denken für den Genderdiskurs
leistet: Der Geist muss ontologisch vom mechanisch gedachten Körper getrennt
werden, um jeder geschlechtsspezifischen Bestimmung enthoben zu sein. Freiheit von Frauen wie Männern ist nur jenseits des Körpers denkbar, der gänzlich
von Naturgesetzen determiniert ist. Diese Sicht wirkt noch im 20. Jahrhundert
nach: Kaum zufällig zitiert Simone de Beauvoir zu Beginn ihres Buches Le deuxième sexe (1949) Poulain541, denn auch in diesem ‚Klassiker‘ des Feminismus
spielt das somatische Element nur eine instrumentelle Rolle, was aus der Sicht
der heutigen Genderdiskussion alles andere als unproblematisch ist. Nach Judith
Butler hat die strikte Dichotomie von Geist und Körper „traditionell und implizit
die Geschlechter-Hierarchie produziert, aufrechterhalten und rational gerechtfertigt“542. Die Zuschreibung von Geist = männlich / Körper = weiblich rechtfertigte auf der Grundlage einer Herrschaft des Geistes über den Körper die Ge-
536
537
538
539
540
541
542
Ebd.: 55.
Jauch 1990: 90.
Vgl. Messbarger / Findlen 2005: 50-55.
Ebd.:55.
Ebd.
Vgl. Beauvoir 1951, 5.
Butler 1991: 31.
171
schlechterhierarchie 543. Poulain vermochte das bisherige Genderverhältnis nur
zu kritisieren, indem er die Gleichheit von Männern und Frauen unter der Bedingung einer vom Körper gelösten Existenz dachte. Die Theorie des Körpers
als Maschine, die vom Geist beherrscht werden muss, ist bereits eine männliche
Codierung des Somatischen: Frauen erhalten gleiche Rechte, sofern sie diese
Codierung auf sich selbst anwenden. Insofern steht, wie Butler konstatiert, auch
Simone de Beauvoir noch „in der philosophischen Tradition, die mit Platon beginnt und sich mit Descartes, Husserl und Sartre fortsetzt“544. Butlers Kritik erscheint prima facie als überzogen, zumal Simone de Beauvoir betonte, „daß es
in der menschlichen Gesellschaft nichts Natürliches gibt und die Frau unter anderem ein Zivilisationsprodukt ist. … Die Frau wird weder durch ihre Hormone
noch durch geheimnisvolle Instinkte bestimmt, sondern durch die Art und Weise, wie sie durch das Bewußtsein Fremder ihren Körper und ihre Beziehung zu
Welt erfaßt.“545 Für Butler ist die Durchdringung von zivilisatorischer Codierung und Körper weitaus intensiver als Beauvoir es darstellte, so dass noch der
Körper ein zivilisatorisches Produkt ist und kein naturales Substrat, das übrig
bleibt, wenn man die Zutat der Zivilisation abzieht. Vom Körper haben wir nur
Begriffe und Vorstellungen, die keine ‚Abbilder‘ sind, sondern bereits auf eine
spezifische Weise sozial codierte Symbole546: Die Frau / den Mann ‚an sich‘,
gibt es nicht; eine These, die schlüssig aus der Auflösung der cartesianischen
Dichotomie von Seele und Körper andererseits folgt.
b) Materialistische Genderdiskurse Einen anderen Weg als Poulain beschritt Jean Baptiste de Boyer, Marquis d’Argens in seinem anonym erschienenen Roman Thérèse philosophe (1748), einem Bestseller der erotischen Literatur
des 18. Jahrhunderts. Die Kupferstiche der späteren Auflagen dürften dem Absatz durchaus förderlich gewesen sein. D’ Argens attestiert den Verfechtern der
kirchlichen Sexualmoral einen scharfen Widerspruch zwischen Lehre und Lebenspraxis, die alle Predigt desavouiert. Immerhin verdankt die Protagonistin
der armseligen Lüsternheit des Paters Dirrag den entscheidenden Impuls für ihre
sexuelle Aufklärung, der eine philosophische folgen wird. Im Rahmen dieser
sinnlich-geistigen Wechselwirkung vollzieht sich Thérèses Entwicklung zur
‚philosophe‘. Jene Doppelmoral aber, wie sie Pater Dirrag praktiziert, ist, wie
die philosophischen Passagen des Romans darlegen, das Ergebnis der kirchlichen Morallehre, die in Widerspruch zur Natur steht, der die Menschen nicht
543
544
545
546
Vgl. Ammicht Quinn / Buchholz 2005: 391, 393f.
Butler 1991: 31 und 33.
Beauvoir 1951: 722.
Vgl. Ammicht Quinn / Buchholz 2005 392f.
172
schlechthin entrinnen können: „Törichte Sterbliche! Ihr glaubt, es stehe in eurer
Macht, die Leidenschaften zu ersticken, welche die Natur euch eingepflanzt hat:
sie sind das Werk Gottes.“547 Wie in vielen Schriften der radikalen Aufklärung
und nicht selten unter Berufung auf Spinoza sind Gott (sofern man am Gottesbegriff noch festhält) und Natur nicht streng voneinander zu unterscheiden. Die
Naturvorgänge – und der Mensch wird als Teil der Natur gesehen – unterliegen
Gesetzen, die auch vom Menschen nicht aufgehoben werden können. In einem
ähnlichen Sinne argumentiert auch Diderot, wenn er die Leidenschaften zu den
wesentlichen Merkmalen des Menschen zählt. Erheben die Leidenschaften nicht
unsere Seele zu den höchsten Dingen? Wir können sie nicht tilgen; ja die Abtötung der Leidenschaften degradiert den Menschen und zerstört die Lebensenergie. Es kommt vielmehr darauf an, eine uns bekömmliche Balance zwischen den
unterschiedlichen Leidenschaften herzustellen. Sie
stehen zugleich für das nicht schon vollständig
Kontrollierte und Unterworfene im Menschen 548 .
Unsere seelischen Aktionen gehören zu unserer
somatischen Verfassung und gehören keiner davon
separierten Sphäre an. „Die Seele“, heißt es bei
d’Argens knapp, „hat keinen Willen, sie ist nur
durch die Sinnesempfindungen, nur durch die Materie bestimmt. Die Vernunft klärt uns auf, aber sie
bestimmt uns nicht.“ Der Geist ist keine selbstständige Substanz, sondern, wie es ausdrücklich heißt,
„Teil der Materie“549: Damit ist nicht nur das materialistische Koordinatensystem angedeutet, innerhalb dessen sich die Theorie einer weitgehenden
Jean-Baptiste de Boyer,
Emanzipation von Sexualität und Sinnlichkeit beMarquis d’Argens (1703-1771)
wegt, sondern auch die Cartesianische Basis verlassen, auf der Poulain und Barbapiccola argumentierten. Die Dichotomie von
Körper und Geist-Seele lässt sich für d’Argens ebenso wie für Diderot, Lammetrie oder Holbach vor der Empirie nicht hinreichend ausweisen, vieles spricht
eher für eine starke Abhängigkeit der seelischen Vorgänge von physischen, wie
der Einfluss von Drogen oder gar die Altersdemenz deutlich zeigen, die eine
dauerhafte und tiefe Veränderung der Persönlichkeit bewirkt. Der Schritt zum
vollständigen Determinismus geht allerdings über den empirischen Befund hinaus und zeigt, dass die kämpferische Absicht zuweilen die erkenntniskritische
547
548
549
d’Argens 1996: 230; zur Thérèse vgl. auch Margaret Jacob in Hunt 1994: 154-176.
Vgl. Diderot 2007: 61f.
d’Argens 1996: 335 und 341.
173
Kraft schwächt. So bleibt auch die naheliegende Frage, wie uns denn die Vernunft angesichts des durchgehenden Determinismus wenigstens aufklären könne
und woher die Illusionen stammen, wenn der Mensch doch vollständig der Naturkausalität unterliegt, unbeantwortet. In Spannung zu diesem dogmatischen
Materialismus steht auch, daß es durchaus geistige Genüsse gibt, die, durch
sinnliche stimuliert, mit diesen doch nicht ohne weiteres identisch sind. Thérèse
findet ihre sexuelle Selbstbestimmung gerade dank philosophischer Unterweisungen, die sie in die Lebenspraxis umsetzt. „La Volupté et la Philosophie sont
le bonheur de l’homme sensé. Il embrasse la Volupté par goût et aime la Philosophie par raison.“ So lautet der Kommentar zum Titelkupfer einer Ausgabe der
‘Thérèse’ 550 . Mit Recht spricht Jonathan Israel von einem „remarkably close
linkage between philosophy and sex“551, der erst die emanzipatorische Dynamik
der Lehre, die hinter dem amüsanten Roman steht, sichert. Der Widerspruch
zwischen der Freiheit philosophischer Einsicht und dem konsequenten Determinismus hingegen wird nicht weiter reflektiert. Der Roman trägt keine streng auf
ein System angelegte philosophische Lehre vor; der ganze Nachdruck liegt
vielmehr auf der These, dass der auch auf kirchlicher Seite vertretene weibliche
(und männliche) Tugendkatalog gegen die Natur sei und darum auch keinen Anspruch auf Befolgung erheben könne. Von keinem geringen Interesse für die
Gender-Diskussion dürfte der Umstand sein, dass die Kritik der geltenden kulturellen Kodierung des Körpers und der (passiven) weiblichen Rolle im Geschlechterverhältnis sich gerade auf der Basis eines mechanischen Materialismus artikuliert. Deutlich ist aber auch das Bestreben, den Menschen die Angst
vor den in Aussicht gestellten Höllenstrafen zu nehmen. Die Religionen können
keinen Anspruch auf Geltung erheben, da sie sich doch schon untereinander widersprechen552; sie sind, wie alle ihre Vorstellungen und Symbole, „ohne Ausnahme Menschenwerk“553. Die sexuelle Freiheit findet – wie eine jegliche – ihre
Grenze im unverletzbaren Selbstbestimmungsrecht des Anderen und im Gemeinwohl, nicht aber in der Angst vor jenseitigen Strafen: „Sowohl durch die
Vernunft wie durch die inneren Gefühle, die er [Gott, R.B.] uns eingepflanzt hat,
ist es uns möglich, seine Absicht und sein Ziel zu erkennen und sie mit dem Interesse der menschlichen Gesellschaft in dem von uns bewohnten Land zu vereinbaren.“554 Um Richtlinien für unser Handeln in allen Fragen des Lebens zu
gewinnen, bedarf es also keiner zusätzlichen Offenbarung.
550
551
552
553
554
Zitiert nach Jauch 1990: 169 und Jacob in Hunt 1994: 155.
Israel 2001: 95.
Vgl. d’Argens 1996: 285f.
Ebd.: 290.
Ebd.; vgl. auch Israel 2001: 96.
174
D’Argens möchte der nicht schon gänzlich beherrschten, reglementierten Sinnlichkeit zu ihrem Recht verhelfen – ein Unterfangen, das auch zur weltlichen
Askese des Bürgertums in einer nicht geringen Spannung steht Die Hochschätzung der Askese und die Abwertung der Sexualität, würde sie für alle Menschen
handlungsleitend, hätten schließlich fatale Folgen:
„Nach der christlichen Religion“, heißt es in einem philosophischen Intermezzo des Abbé
T., „müssen wir nach höchster Vollkommenheit streben. Nach ihr ist der Stand der Jungfräulichkeit vollkommener als der Stand der Ehe. Draus geht klart hervor, daß die Vollkommenheit der christlichen Religion auf eine Auslöschung des Menschengeschlechts abzielt. Wenn die Bemühungen und Reden der Priester Erfolg hätten, so würde in sechzig
oder achtzig Jahren das Menschengeschlecht vernichtet sein. Kann eine solche Religion
von Gott kommen?555
Die welt- und lustfeindliche christliche Moral verdient also auch mit Blick auf
den Fortbestand der Menschheit nichts als Verachtung. Sie gründet in einem falschen Gottesbegriff, der Gott mit menschlichen Eigenschaften wie Zorn, Rache
und Eifersucht ausstattet und obendrein den Menschen bestraft, sobald er nach
eben jener Natur handelt, die Gott geschaffen hat:
„Welcher Irrsinn zu glauben, Gott habe uns geschaffen, damit wir nichts anderes tun, als
was gegen die Natur ist und was uns in dieser Welt glücklich machen kann, und man fordert von uns, allem zu entsagen, was die Sinne und die Begierden befriedigt, die er uns gegeben hat! Ein Tyrann könnte nicht schlimmer sein, der uns vom Augenblick der Geburt
bis zu unserer Todesstunde mit seinem Grimm verfolgt!556
Die Sexualität auszuleben ist das gleiche Recht von Männern und Frauen, sofern
ihre Beziehung reziprok, in Freiheit und wechselseitiger Achtung begründet ist.
Das schließt die Künste der Werbung und die Kultivierung der Sinnlichkeit ein,
was ebenfalls zu einer angemessenen Erziehung gehört und den Menschen jene
Um- und Abwege erspart, die Thérèse im Zuge ihrer Emanzipation durchlief.
Frauen sind Subjekte, nicht Objekte der (männlichen) Sexualität. „Konsequent“,
heißt es bei Jauch, „arbeitet die Thérèse philosophe an der Vertreibung des
weiblichen Keuschheits-Kultes. Nichts von weiblicher Passivität und Enthaltsamkeit!“ 557 Um unerwünschten Schwangerschaften zu entgehen, empfiehlt
d’Argens in der Person des Abbé T. den coitus interruptus oder die Selbstbefriedigung, die – ebenso wie die Homosexualität – nichts moralisch Verwerfliches
ist558. Die Freude am Genuss der Anderen ist wechselseitig, so dass beide Sexualpartner ihren amour propre zugleich in den Dienst des Anderen stellen können559, ein Modell das kaum zufällig an die Grundlagen der bürgerlichen Öko555
556
557
558
559
D’Argens 1996: 289.
Ebd.
Jauch 1990: 176.
Vgl. d’Argens 1996: 275-279.
Vgl. etwa d’Argens 1996: 276f; 282-284.
175
nimie erinnert. In der Tat befreit d’Argens Männer wie Frauen von der überkommenen Moral mit ihren Zwängen und Asymmetrien und schickt die Partner
auf den Markt der Beziehungen. Dessen vollständige Liberalisierung wird freilich noch an die zweihunertfünfzig Jahre dauern und zeigt sofort – wie der freie
Austausch von Gütern und Arbeitskraft – auch seine Schattenseiten. Die Egalität
und Reziprozität ist nämlich auf beiden Märkten Fiktion, wie Eva Illouz in ihren
Studien ausführlich darlegte560. Der Befund asymmetrischer Ausgangspunkte –
der nicht immer geteilte Wunsch nach dauerhaften Beziehungen und Kindern,
der bei Frauen ausgeprägter ist als bei Männern – korrigiert die Voraussetzung
völliger Egalität. Wer Gefühle ‚investiert‘, ist vulnerabel, zumal es auf deren
Erwiderung keinen Anspruch gibt, und hier differieren weibliche und männliche
Rollen nach wie vor erheblich. Die zunehmende Ökonomisierung hetreo- wie
homosexueller Beziehungen, d.h. die Internalisierung marktwirtschaftlicher
Prinzipien und ihre Anwendung bis in den intimen Bereich hinein, steigt das
Glück keineswegs, sondern wird zur Quelle von Schmerz und Versagung.
Aber wir befinden uns noch im 18. Jahrhundert, dessen Vertrauen auf das freie
Spiel der Kräfte beinahe ebenso groß war wie das emanzipatorische Programm,
das es zu realisieren galt. Die Freiheit des Handelns kollidiert in den materialistischen Diskursen – von den Autoren kaum bemerkt und diskutiert – mit der
Vorstellunge durchgehender kausaler Determination. D’Argens stößt die kirchliche Moral um, richtet aber in den philosophischen Passagen an deren Stelle die
eiserne Ordnung der Naturnotwendigkeit auf, gleichsam als argumentative Bastion gegen die tradierten Vorschriften. Der Roman trägt dem nicht durchgehend
Rechnung; das Triebleben tritt den Menschen nicht einfach als fremde Naturmacht gegenüber, sondern ist kultivierbar. Erst dort, wo Sexualität unterdrückt
wird – und hier werden vor allem die Vertreter der Kirche in ungünstigem Licht
gezeigt –, bricht sie sich auf eine abstoßende Weise wie die blinde Naturmacht
Bahn. Geradezu unzivilisierte Zyniker sind demnach diejenigen, welche die Natur im Menschen verleugnen. D’Argens Thesen verweisen schon auf Einsichten
der Freudschen Theorie. De Sades „potente weibliche Subjekttheorie“561 hingegen verrät schon etwas von der Dialektik der Aufklärung: Sie verbindet offener
als d‘Argens die Emanzipation des Eros mit seiner ökonomischen Organisation.
Paul Henri Thiry d‘Holbach, der die materialistische Anthropologie d’Argens
teilt, hatte in seiner Ethocratie (1776) eine weniger galante Einführung der
560
561
Vgl. Eva Illouz: Gefühle in Zeiten des Kapitalismus. Adorno-Vorlesungen 2004. Übersetzt von Michael
Hartmann, Frankfurt/M. 2006; dies.: Der Konsum der Romantik. Liebe und die kulturellen Widersprüche des
Kapitalismus. Übersetzt von Andreas Wirthensohn, Frankfurt/M. 2007; dies.: Warum Liebe weh tut. Eine soziologische Erklärung. Übersetzt von Michael Adrian, Berlin 2011.
Jauch 1990: 188; Hunt 1994: 269-278.
176
Frauen in eine sich intellektuell, politisch und ethisch emanzipierende Gesellschaft vorgesehen. Holbach hatte sich in diesem Werk auch eingehend mit der
éducation des femmes befasst562. Seine Vorbehalte gegenüber der unzensierten
Sinnlichkeit sind allerdings größer, schließlich sollen auch Frauen als citoyennes
ihre Pflichten in der rational verfassten bürgerlichen Gesellschaft erfüllen:
„L’éducation des femmes de tous états devroit les habituer de bonne heure ‚a l’amour du
travail, nécessaire dans toutes les positions de la vie, soit pour échapper à l’ennui qui les
entraîne souvent au désordre & à la ruine, soit pour acquérir une subsistance honnête, qui
garantit du vice & du crime.“563
Holbachs Erziehungsziel ist ambivalent: Die uneingeschränkte Partizipation der
Frauen am Produktionsprozess vermittelt ihnen den Status eines selbstständigen
Subjekts im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft und sichert ihnen ein selbstständiges Auskommen, das sie vor sexueller Exploitation – der einzigen Perspektive jenseits der Ehe als Versorgungsinstitut – bewahrt. Frauen sollen künftig nicht genötigt sein, ihre Position einzig als attraktive Ware auf dem Heiratsmarkt behaupten zu müssen, um ihre Würde und ihre Subsistenz dem Ehemann
zu verdanken. Verglichen mit der gesellschaftlichen Stellung der Frauen auch
noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist das, was Holbach hier vorschwebt, durchaus fortschrittlich zu nennen. Condorcet wird in ähnlichem Geiste gegen Ende des 18. Jahrhunderts alle Argumente, die eine mindere Stellung
der Frau in der Gesellschaft rechtfertigen sollen, wie schon Poulain, den ‚préjugés‘ zuweisen. In schärferen Worten als Holbach wird er konstatieren, dass die
Ungleichheit zwischen den beiden Geschlechtern keinen anderen Grund habe
„que l’abus de la force, et c’est vainement qu’on a essayé depuis, de l’excuser
par des sophismes“564. Unter jene Sophismen zählt Condorcet auch die Berufung
auf die unterschiedliche körperliche Beschaffenheit oder den angeblich unterschiedlichen Gebrauch des Verstandes der beiden Geschlechter. Leider hat
Olympe de Gouges dieses Plädoyer Condorcets nicht mehr erlebt.
Hat man eine Ursache für die Ungleichheit unter den Menschen im Ausschluss
breiter Schichten von Bildung und hinreichender Unterweisung zu sehen, so gehört die intellektuelle Entwicklung aller Teile der Gesellschaft zum Programm
der Aufklärung. Holbach zog also durchaus die nötigen Konsequenzen aus dem
unbefriedigenden Befund. Was aber in der Erziehung der Frauen „de bonne heure“ seinen Anfang nimmt, ist von jenem ‚coming of age‘ der Thérèse durchaus
562
563
564
Vgl. Holbach 1776: 197-205.
Ebd.: 201; vgl. auch ebd.: 105.
Condorcet 1795: 346f. / „als den Mißbrauch der Gewalt, und vergeblich hat man sie später durch Sophismen
zu entschuldigen gesucht“ (Condorcet 1976: 213) Dass der Satz ‚Frauen haben keine anderen Rechte als die
die Menschenrechte‘ immer noch notwendig zu betonen sei, liege, so auch Harriet Taylor Mill, daran, dass
die Gesetze und Meinungen immer noch von Männern geprägt seien; vgl. Mill 1998: 43-46.
177
verschieden und hat gewisse Affinitäten zu einem säkularisierten monastischen
Ideal, während Holbach die klösterliche Erziehung entschieden ablehnt, da hier
gerade die rationale Seite – die Ausbildung von Vernunft und Urteilsvermögen –
im Interesse der Religion zu kurz kommt: ora et labora – freilich ohne das Gebet, das nur Zeitvergeudung und Ablenkung ist, und so bleibt nur die Arbeit als
Selbsterzeugung des (bürgerlichen) Menschen. Die Liebe zur Arbeit ist wichtiger als Musik, Tanz und die Sorge, zu gefallen, kurz: als die Selbstinszenierung
und der ganze Flitter und Luxus des Adels565. Der Bürger war mit grau immer
sehr zufrieden. Es zeigt sich bei Holbach die tiefe Ambivalenz des modernen
Emanzipationsprozesses: Der Mensch – männlich wie weiblich – ist wesentlich
durch seine Produktivität bestimmt und hat darin seine Existenz. Das durch
Fleiß und Arbeit Erwirtschaftete darf er/sie genießen – aber jenseits aller Verschwendung. Selbstdarstellung, aufwändige Kleidung, Überfluss sind suspekt,
und zwar nicht angesichs der darbenden Massen, sondern als Ausdruck des
Überschwangs. Unproduktivität und Muße erregen Misstrauen; es gibt kein
Recht auf Faulheit. Der Hass auf die Klöster gründete nicht nur in deren Verflechtung mit dem überholten Feudalsystem, sondern in der Zeitverschwendung
für Liturgie und Studium von Texten, deren Autorität von der Aufklärung bezweifelt wurde. Holbach meidet die ausgiebige Darstellung der Doppelmoral
klösterlichen Lebens als nach außen fromm und keusch, nach innen aber ganz
der Libertinage ergeben. Das Verdikt über die Nutzlosigkeit genügt, und wo die
Patres Macht über ihre Zöglinge haben, ist kaum damit zu rechnen, dass die Pädagogik je zu selbstständigem Denken führen wird.
Frauen benötigen nach Holbach besondere Aufmerksamkeit: Die gegenüber den
Männern stärker ausgeprägte emotionale Seite der Frauen („la sensibilité de
leurs ames, la vivacité de leur esprit, la mobilité de leur imagination“) macht sie
einerseits für die Introversion einer humanen Moral, andererseits aber auch die
Einflüsterungen der Priester und die frivolen Zerstreuungen des Adels leichter
empfänglich, und so bedarf ihre Erziehung der besonderen Aufmerksamkeit des
Gesetzgebers. Die Erziehung – beider Geschlechter – muss der Kirche und ihren
Einrichtungen entzogen und ganz dem Staat übertragen werden566. Die Gleichberechtigung steht bei Holbach schon im Dienste einer auf die Bedürfnisse der
bürgerlichen Gesellschaft abgestellten Unterwerfung der gesamten Gefühlswelt,
die – wenn man so will: gendergerecht – Männer und Frauen gleichermaßen betrifft. Die Liebe zur Arbeit soll vor allem die Frauen daran hindern, auf dumme
Gedanken zu kommen und ihnen eine solide bürgerliche Subsistenz sichern; in
565
566
Vgl. Holbach 1776: 199f; zur Bedeutung der Frauenrolle und des Frauenbildes und im Zusammenhang der
Luxusproduktion vgl. Sombart 1922: 111-132.
Vgl. Holbach 1776: 104-106.
178
Holbachs Ethocratie herrschen Disziplin und Ordnung. So fehlt hier die Ironie
eines La Mettrie und die unbefangene Sinnlichkeit eines Marquis d’Argens. La
Mettrie hatte die Anthropologie des homme machine entworfen, aber dem Streben nach Glück die höhere Bedeutung beigemessen, das sogar dem strengen Determinismus zuweilen ein Schnippchen schlägt; Holbach erst machte mit dieser
Anthropologie ernst, indem er, wie schon gezeigt wurde, Biologie, Ethik und
politische Theorie zusammenschloss. Es zeichnet sich hier – trotz des emanzipatorischen Impetus und angesichts der mechanistischen Anthropologie – bereits
eine Vorform von E.T.A. Hoffmanns und Jacques Offenbachs ‚Olympia‘ ab.
Mit der bei d’Argens und seinen materialistischen Vorläufern und Mistreitern
mehr vorausgesetzten als konsequent durchgeführten Kritik des cartesianischen
Dualismus steht auch die Geschlechtsneutralität des Geistes als Grundlage der
Kritik Poulains und seiner Nachfolger(innen) zur Disposition. Allerdings argumentiert Poulains De l’égalité des deux sexes nicht ausschließlich auf einer cartesianischen Basis. Die Schrift verweist auf die historische Genese des ungleichen Geschlechterverhältnisses und den Schein, der entsteht, wenn historisch
Gewordenes als ‚Natur‘ angesehen oder in der Schöpfungsordnung verankert –
wir würden heute sagen: essentialisiert – wird. Dieser Zugang erscheint hier in
seinen noch recht groben Anfängen, wird aber im Fortgang des Aufklärungsdiskurses – und zwar schon bei d’Argens – an Bedeutung gewinnen. Die Kritik des
scheinbar ‚natürlich Gegebenen‘ als ‚Doxa‘ gehört zu den wichtigen Themen
einer kulturtheoretischen Betrachtung der Geschlechteridentitäten. Giambattista
Vicos Scienza nuova hätte hier inspirierend sein können, und Barbapiccola
scheint seine älteren Schriften gekannt zu haben567, doch war das Vorwort zur
Descartes-Übersetzung drei Jahre zu früh, um von Vicos ‚neuer Wissenschaft‘
zu profitieren. Kulturelle Phänomene als geschichtlich geworden zu begreifen,
ihre Entwicklungen und Veränderungen nachzuvollziehen bedeutet auch,
scheinbar unwandelbare Gegebenheiten auf eine mögliche Veränderung hin zu
öffnen. Die Geschichtswissenschaft ist im Kontext der Aufklärung keine Disziplin, die ohne ein spezifisch emanzipatorisches Interesse betrieben wird. Sie steht
im Dienste einer Verflüssigung fixer Identitäten und als ‚von jeher‘ gegebener
sozialer Beziehungen, die bei näherer Betrachtung ihre historische Genese und
menschlichen Ursprung verraten. Nicht nur die heiligen Schriften und ehrwürdigen Traditionen, sondern die durch sie begründeten Rollen der Geschlechter und
die gesellschaftlichen Hierarchien verlieren unter dem Blick historischer Forschung den Schein des schlechthin Gegebenen. Selbst die Formen unserer
Wahrnehmung, unseres Denkens und die intimen Regungen, unsere Gefühle,
567
Vgl. Messbarger / Findlen 2005: 58.
179
offenbaren ihre kulturellen Ursprünge und Transformationen. „Das Unbewußte“, schreibt Pierre Bourdieu, „ist die Geschichte – die kollektive Geschichte, die
unsere Denkkategorien erzeugt, und die individuelle, die sie uns eingeprägt
hat.“568 Noch der gesellschaftliche Ort dessen, der eifrig entmythologisiert, ist in
die kritische Untersuchung einzubeziehen. Natur wird nicht schlechthin in Kultur aufgelöst, wohl aber zeigt sich, dass es eine ‚natura pura‘ auch kulturhistorisch und kulturtheoretisch für uns nicht gibt.
Das geschichtliche Denken ist der geborene Feind des bis heute – wenn auch in
veränderter Gestalt – aktuellen Alltagsmythos, in dem sich die petrifizierte Identität ausdrückt und der ihren Fortbestand im individuellen wie kollektiven Bewusstsein sichert. „Die Dinge verlieren“, so Roland Barthes, „in ihm die Erinnerung daran, daß sie hergestellt worden sind. … Ein Zaubertrick hat das Reale
umgestülpt, hat es von Geschichte entleert und mit Natur gefüllt.“569 Es ist ein
im Vergessen gründender Akt der Verdinglichung, der das gesellschaftliche Dasein in statische Natur verwandelt; er ist so, wie Barthes es ausdrückt, „eine entpolitisierende Rede“570. Diesen ‚Zaubertrick‘, der an einer vollständigen ‚Entzauberung‘ der Gesellschaft zweifeln lässt, vollführen nicht nur der heutige
Fundamentalismus, sondern auch starke konservative Kräfte in den Religionen,
wenn sie die Genderverhältnisse ‚naturalisieren‘ (während die Wissenschaften
seit dem späten 18. Jahrhundert Natur eher ‚vergeschichtlichen‘), historisch entsprungene Rollen verewigen; aber auch, wenn sie die biblischen Texte nicht hinreichend untersuchen oder die menschliche Genese von Autorität nicht wahrhaben wollen. Die Abwehr wird umso verbissener, je weniger es noch eine ‚historische Naivität‘ gibt und schlägt zuweilen um in offene Aggressivität. Auch
Fundamentalisten wissen zu viel, um jene Unbefangenheit eines vormodernen
Bewusstseins zu realisieren, dem sie sehnsüchtig nachtrauern. Sie sind modern
gerade darin, dass das Subjekt übernehmen muss, was einst Konvention und sozialer Verband garantierten. Die Genderdiskurse des späten 17. und 18. Jahrhunderts waren über derartige Vorurteile immerhin hinaus.
568
569
570
Bourdieu 2001: 18.
Barthes 2010: 295.
Ebd.
180
5. Emanzipation als Beerbung
oder Aufhebung der Religion?
Ludwig Feuerbach (1804-1872), Fotographie
181
182
a) Ludwig Feuerbach: Religion und ‚emanzipatorische Sinnlichkeit‘
Die
geschichtsphilosophischen Entwürfe des 18. Jahrhunderts und die Wiederentdeckung Vicos durch Herder veränderten die starren Kategorien eines an Descartes
orientierten mechanischen Begriffs der Wirklichkeit. Die Phänomene der Kultur,
zu denen auch die religiösen Traditionen gehören, bedürfen einer differenzierten
historischen und sozialen Analyse. Der Gedanke, dass die Menschheit sich im
Laufe einer längeren Entwicklung zivilisiert und neue kulturelle Formen hervorbringt, führt auch dazu, die Religionen im Kontext einer Entwicklungsgeschichte zu deuten. Wichtige Ansätze dazu finden wir bereits bei Vico und Voltaire.
Eine ausführliche Philosophie der Religion, die ihre Geschichte nachzeichnet
und sie als ihr wesentlich betrachtet, finden wir vor allem in den nachkantischen
idealistischen Systemen Schellings und vor allem Hegels. Hegel (1770-1731)
beschränkte sich nicht auf die Untersuchung der diversen Formen religiösen
Bewusstseins, sondern befasste sich auch mit dessen Verobjektivierung in Institutionen und Riten. In Hegels teleologischer Geschichtsphilosophie, die Geschichte als Selbstexplikation des Absoluten darstellte, nimmt die Religion einen
wichtigen Platz ein, auch wenn sie nicht die letzte Stufe des sich selbst wissenden und realisierenden Absoluten darstellt. Von Spinoza übernimmt Hegel den
Gedanken, dass Gott causa sui, Ursache seiner selbst ist. Diese Realisierung seiner selbst wird von Hegel aber in die menschliche Geschichte mediatisiert. Gott,
die absolute Vernunft, verfügt über die unendliche Macht, sich durch alle Formen, Irr- und Abwege der Geschichte hindurch zu verwirklichen, ja die einzelnen Interessen und Leidenschaften als ‚List der Vernunft‘ in ihren Dienst zu
nehmen571. Der vernünftige Endzweck der Geschichte realisiert sich hinter dem
Rücken der Agierenden. Gesellschaft, Staat und Geschichte als das Verhältnis
der Staaten zueinander in diachroner Perspektive sind der ‚objektive Geist‘, d.h.
Formen und Stufen der Verwirklichung des Absoluten. Gegen den christlichen
Anspruch einer letztgültigen geschichtlichen Offenbarung hatte einst Gotthold
Ephraim Lessing (1729-1781) einen wichtigen Einwand vorgetragen: Selbst
wenn wir die Bibelkritik von Spinoza bis Reimarus einklammern und hypothetisch alle biblischen Erzählungen als historisch gesicherte ‚Tatsachen‘ ansehen
wollten, können doch zufällige Geschichtswahrheiten niemals den verbindlichen
Charakter notwendiger Vernunftwahrheiten haben. Wie kann historisch Kontin571
Vgl. Hegel 1996: 56-72.
183
gentes universale Gültigkeit beanspruchen? Die Frage bleibt ungelöst, solange
nicht die Geschichte selbst zum Schauplatz der Offenbarung wird, und zwar so,
dass nicht einzelne isolierte Ereignisse mit einem absoluten Wahrheitsanspruch
verbunden werden, sondern die Totalität der Geschichte als Selbstoffenbarung
Gottes betrachtet wird. Bei Hegel gibt es weder für sich stehende ‚geoffenbarte
Glaubenssätze‘ noch im Sinne Mendelssohns ein geoffenbartes Gesetz, sondern
alles, was in der Geschichte Gestalt gewinnt, folgt dem Gesetz oder Anspruch
des sich selbst mitteilenden Absoluten, ist ein Aspekt der in der Geschichte waltenden Vernunft. Indem Hegel Spinozas Begriff des Absoluten geschichtlich
verflüssigt, die eine und einzige Substanz als etwas ansieht, das sich selbst im
historischen Prozess gleichsam erzeugt und darin seine Macht und Wirklichkeit
behauptet, sind die historischen Ereignisse dem universalen Offenbarungsanspruch nicht mehr bloß äußerlich, sondern Aspekte oder Attribute seiner Verwirklichung. In der christlich-germanischen Welt hat die Weltgeschichte ihren
avanciertesten Stand erreicht und wirkt auf andere Teile der Welt zurück; im
Christentum kulminiert die Religionsgeschichte, weil sich in ihm „das Wesen
Gottes offenbart“572.
Ist aber diese enge Verbindung des Absoluten mit der Geschichte nicht doch ein
klandestiner Abschied vom Christentum, das mit Judentum und Islam die Trennung von Endlichem und Unendlichem, Schöpfung/Geschichte und Gott festgehalten hat? Wie steht es zudem mit der materiellen, empirischen Gestalt des
Menschen? Die Behauptung einer Einheit von Vernunft und Geschichte muss
entweder von den Leiden und ungestillten Bedürfnissen absehen oder diese
selbst in den Verwirklichungsprozess des Absoluten einbeziehen und, wie bei
Hegel, als vernünftig und sinnvoll rechtfertigen. Dass bürgerliche Gesellschaft
und Staat Explikationen der Vernunft seien mochte im rückständigen Deutschland nur begrenzt einleuchten. Die unbefriedigende Gegenwart ließ die behauptete Einheit von Vernunft und Geschichte als Illusion erscheinen. Dass die Vernunft die treibende Macht sei wurde von der Unvernunft der Verhältnisse in den
Augen vieler Zeitgenossen und unmittelbaren Nachfahren Hegels dementiert.
Hegels Geschichts- und Religionsphilosophie ließen sich auch anders deuten,
nämlich als Menschwerdung des Menschen, und zwar des empirischen, sinnlichen, leibhaften Menschen. Religion hat auch hier eine wichtige Bedeutung und
lässt sich nicht wie im Traité des trois imposteurs oder bei Holbach auf simplen
Priesterbetrug reduzieren; aber sie ist auch nicht Objektivation des Absoluten. In
Ludwig Feuerbachs ‚anthropologischem Materialismus‘, der gegen den nach-
572
Hegel 1996: 22.
184
kantischen Idealismus eines Fichte, Hegel oder Schelling die sinnliche, somatische Seite des Menschen geltend macht, ist die Religion
„die erste, und zwar indirekte, Selbsterkenntnis des Menschen. Die Religion geht daher
überall der Philosophie voraus, wie in der Geschichte der Menschheit, so auch in der Geschichte der einzelnen. Der Mensch verlegt sein Wesen zuerst außer sich, ehe er es in sich
findet. Das eigne Wesen ist ihm zuerst als andres Wesen Gegenstand.“573
Was in der Religion nur dunkel ins Bewusstsein tritt, ist von der Philosophie
deutlich herauszuarbeiten. In immer neuen Anläufen kreist Feuerbach um die
These, dass „das göttliche Wesen nichts anders ist als das Wesen des Menschen,
befreit von der Schranke der Natur“574, d.h. der Gottesgedanke ist eine bloße
Projektion des noch nicht zu sich selbst gekommenen menschlichen Wesens.
Die Kritik der Anthropomorphismen, die seit Xenophanes die Volksreligion
demontierte, greift auf die idealistische Religionsphilosophie über.
„Sind deine Prädikate Anthropomorphismen, so ist auch das Subjekt derselben ein Anthropomorphismus. Sind Liebe, Güte, Persönlichkeit usw. menschliche Bestimmungen, so ist
auch das Subjekt derselben, welches du ihnen voraussetzt, auch die Existenz Gottes, auch
der Glaube, daß überhaupt ein Gott ist, ein Anthropomorphismus – eine durchaus menschliche Voraussetzung.“575
Nun könnte man im Sinne einer konsequenten negativen Theologie einwenden,
dass wir in der Tat von Gott keine positiven Prädikate aussagen können und somit Feuerbachs Kritik ins Leere läuft, weil sie einen unzulänglichen Gottesbegriff voraussetzt. Diesen Einwand aber lässt Feuerbach nicht gelten: „Was ein
Subjekt ist, das liegt nur im Prädikat, das Prädikat ist die Wahrheit des Subjekts.“576 Das Subjekt ist keine vom Prädikat zu trennende Wesenheit, die, nachdem alle Prädikate negiert wurden, als schlechthin Unbestimmtes fortexistiert,
denn die Annahme eines ‘Etwas’ setzt eine Bestimmung voraus. Noch die Behauptung der Geistigkeit Gottes verfällt der Kritik und enthüllt sich nach Feuerbach als „das durch den Tod der Abstraktion verklärte menschliche Wesen“577.
Wenn Hegel Gottes Selbstmitteilung wesentlich im Denken verankert und erst
dadurch im zweiten Schritt sich auch durch die menschliche Praxis objektiviert,
so vollzieht Feuerbach den entscheidenden Schritt über Hegel hinaus, indem er
Gott als Produkt der im Gedanken vollzogenen Abstraktion ansieht. Damit
übernimmt, was von der theologischen Rezeption Feuerbachs oft übersehen
wird, die Religion allerdings eine wichtige Phase innerhalb der Anthropogenese;
sie stellt eine Stufe in der Entwicklung des menschlichen Wesens dar: „Die Religion ist die Reflexion, die Spiegelung des menschlichen Wesens in sich selbst ...
573
574
575
576
577
Feuerbach, Werke 5 (Wesen des Christentums), 47.
Feuerbach, Werke 9, 298.
Feuerbach, Werke 5, 53f.
Ebd.: 55f.
Ebd.: 186.
185
Gott ist der Spiegel des Menschen“578. Auch Feuerbach sieht die Instrumentalisierung der Religion im Dienste der Herrschenden, doch erschöpft sie sich in
dieser Funktion keineswegs; er könnte sogar mit Hegel sagen, dass ‚Gott‘ im
Christentum sein Wesen offenbart, aber dieses Wesen ist das Wesen des Menschen, die Gattung, die sich innergeschichtlich realisiert und nun sich ihrer
selbst bewusst wird. Die Feuerbachsche Kritik möchte Religion nicht liquidieren, sondern im emanzipatorischen Interesse beerben. Religion ist für Feuerbach
nicht ein aus Furcht und egoistisch motivierten Betrugsmanövern geborenes
Wahngebilde, sondern Ausdruck des menschlichen Wesens und menschlicher
Selbsttranszendenz, freilich einer solchen, die, einmal bewusst geworden, kein
Jenseits mehr gelten lässt; seine Religionskritik ist, so Bloch, „Rückverwandlung theologisch gemachter Entschränkungen in endlich menschliche“579.
Diese endliche und menschliche Seite ist wichtig, wenn man Feuerbachs Religionsphilosophie nicht isoliert, sondern im Zusammenhang seines philosophischen
Reformprogramms im Sinne eines ‚anthropologischen Materialismus‘deutet.
Gegen den Idealismus und seinen Primat des Geistes hebt Feuerbach die sinnlich-naturale Verfassung des Menschen als konstitutiv hervor. Wie stark das
sinnliche Moment, in welchem sich der Mensch seiner naturalen Voraussetzungen inne wird, diese aber nicht nur hinnimmt, sondern gestaltet, von Feuerbach
gegen den Idealismus akzentuiert wird, erhellt das folgende Zitat:
„Persönlichkeit, Egoität, Bewußtsein ohne Natur ist nichts oder, was eins, ein hohles, wesenloses abstractum. Aber die Natur ist ... nichts ohne den Leib. Der Leib ist allein jene
verneinende, zusammenziehende, beengende Kraft, ohne welche keine Persönlichkeit
denkbar ist. Nimm deiner Persönlichkeit den Leib - und du nimmst ihr den Zusammenhalt.
Der Leib ist der Grund, das Subjekt der Persönlichkeit. Nur durch den Leib unterscheidet
sich die reale Persönlichkeit von der eingebildeten eines Gespenstes.“580
Dem Menschen ist die Natur nicht ‘schlechthin’ gegeben, sondern als immanente Bestimmung, als Leib. Er erinnert an die aus dem Geist nicht ableitbaren materiellen, physischen Bedingungen der Person; „der Geist ohne Natur ist ein unreelles abstractum“581. Zugleich ist der Leib jene Umschlagstelle, an welcher das
lebendige, sinnliche Ich, das Feuerbach gegen Fichtes Idealismus scharf pointiert, an der Umwelt partizipiert:
„Das Ich ist beleibt – heißt aber nichts anderes als: das Ich ist nicht nur ein activum, sondern auch passivum. Und es ist falsch, diese Passivität des Ich unmittelbar aus seiner Aktivität ableiten zu wollen. Im Gegenteil: Das passivum des Ich ist das activum des Objekts.
Weil auch das Objekt tätig ist, leidet das Ich – ein Leiden, dessen sich übrigens das Ich
nicht zu schämen hat, denn das Objekt gehört selbst zum innersten Wesen des Ich. … „das
578
579
580
581
Feuerbach, Werke 5: 127, vgl. auch ders., Werke 10, 49 sowie Winiger 2011: 140.
Bloch 1968: 282; vgl. auch Werbick 2000: 108-111, 514-518.
Feuerbach, Werke 5: 177.
Ebd.: 171.
186
Ich ist keineswegs „durch sich selbst“ als solches, sondern durch sich als leibliches Wesen,
also durch den Leib der ‚Welt offen‘. Dem absolvierten Ich gegenüber ist der Leib die objektive Welt. Durch den Leib ist Ich nicht Ich, sondern Objekt. Im Leib sein heißt in der
Welt sein. Soviel Sinne – soviel Poren, soviel Blößen. Der Leib ist nichts als das poröse
Ich.“582
Mit dem Begriff des ‚porösen Ich‘ sind zwei Assoziationen verbunden: die Haut,
die einerseits die Grenze des Leibes zur Umwelt bildet, andererseits aber über
die Poren mit dieser in einem Austausch steht; porös bedeutet aber auch locker,
brüchig, und in der Tat ist das Ich seiner selbst nicht so sicher wie uns der Idealismus versichert. Weil das Ich einen Leib nicht bloß hat wie ein Kleid, sondern
Leib ist, bleibt es auch verwundbar, hat es eine passive Seite, auf die Feuerbach
nachdrücklich aufmerksam macht. An sich selbst, an seiner leibhaften Konstitution erfährt das Ich sich als bedürftig, passiv, und erst aus dieser Passivität heraus wird es zur Aktivität geradezu genötigt. Hunger, Durst, Schmerz und Lust
zeigen uns an, dass es ein objektives Moment gibt, das in uns selbst hineinreicht
und das nicht schon ein von uns frei Gesetztes ist. Wir erfahren uns, mit anderen
Worten, selbst als konstituiert und nicht bloß als konstituierend. Der Materialismus bedeutet immer, auch in seiner dogmatisch-mechanischen Form, eine narzisstische Kränkung des Menschen, der in zuweilen scharfen Worten an seine
passive, sinnliche Seite erinnert wird. Aus diesem Grunde ist gegen den Hegelschen Idealismus das sinnliche und somatische Moment nicht nur der Erkenntnis, sondern unserer gesamten Existenz hervorzukehren:
Der Philosoph muß das im Denken, was nicht philosophiert, was vielmehr gegen die Philosophie ist, nicht dem abstrakten Denken opponiert, das also, was bei Hegel zur Anmerkung
herabgesetzt ist, in den Text der Philosophie aufnehmen. Nur so wird die Philosophie zu
einer universalen, gegensatzlosen, unwiderleglichen, unwiderstehlichen Macht. Die Philosophie hat daher nicht mit sich, sondern mit ihrer Antithese, mit der Nichtphilosophie, zu
beginnen. Dieses vom Denken unterschiedene, unphilosophische, absolut antischolastische
Wesen in uns ist das Prinzip des Sensualismus.“583
Wenn Feuerbach hier vom Sensualismus spricht, so ist mit ihm auch die Differenz zum mechanischen Materialismus eines Holbach und La Mettrie gesetzt584.
Die Sinne bieten uns kein ‚Ding an sich‘; das „Sinnliche ist“, wie Feuerbach betont, „nicht das Unmittelbare in dem Sinne, daß es das Profane, das auf platter
Hand Liegende, das Gedankenlose, das sich von selbst Verstehende sei.“585 Es
bedarf der denkenden Vermittlung, wie umgekehrt das ‚Wirkliche‘ in dieser
Vermittlung nicht aufgeht, keine Identität von Denken und Sein möglich ist.
„Das Wirkliche“, heißt es in den Grundsätzen der Philosophie der Zukunft, „ist
582
583
584
585
Feuerbach, Werke 9: 150f.
Ebd.: 254; vgl. auch Winiger 2011: 170-182.
Vgl. Schmidt 1988: 129.
Feuerbach, Werke 9: 325.
187
im Denken nicht in ganzen Zahlen, sondern nur in Brüchen darstellbar“; das
Denken läuft „nicht die absolute Identität mit sich“ fort, sondern unterbricht sich
in der Anschauung586. Das sinnlich-leibliche Moment gehört immer schon zum
Denken dazu, uns insofern Feuerbach keine Restitution des dogmatischen Materialismus betreibt, sondern auf die Vermittlung des Sinnlichen, Materiellen
durch das Denken wert legt, kann er mit Recht seine Philosophie auch, Kant
modifizierend, als „‘Kritik der unreinen Vernunft‘“ bezeichnen587. Entsprechend
konstruiert Feuerbach keinen materialistischen Monismus, kein System der Natur, um den Menschen in dieses einzuordnen. Natur ist beim Menschen stets
durch Bewusstsein und Praxis intersubjektiv vermittelt, und auch die moralische
Welt ist nicht, wie bei Holbach, unmittelbar Teil der Natur, sie stellt, wenn auch
nicht einfach losgelöst von naturalen Bedingungen, einen qualitativen Sprung
dar588. Unsere Sinne sind nicht schlechthin auf die Seite der Natur zu schlagen,
sondern, wie Aufklärung sehr wohl wusste, Teil und Resultat eines umfassenden
Prozesses sozialer Interaktion. Im Begriff des Leibes als ‚poröses Ich‘ eingeschlossen sind mithin auch die sozialen Bezüge. Sie kommen zum Naturverhältnis nicht bloß additiv hinzu, sondern sind in der Form, wie Natur für uns ist,
notwendig eingeschlossen. Feuerbach fetischisiert also nicht das von allen Sozialbezügen isolierte ‚leibhafte‘ Individuum. Der Leib ist kein rein passives Organ, sondern durch die leibhafte Praxis ist der Mensch zur Natur vermittelt, die
ihm folglich kein schlechthin Gegebenes ist. „Zwar wird der Mensch“, wie Alfred Schmidt erläutert, „zunächst von wirklichen, widerständigen Dingen affiziert, aber er setzt sich als leibliches (nicht bloß reflektierendes) Wesen auch mit
ihnen auseinander, gestaltet sie um, wodurch ihre Realität zu einer für ihn wird;
‚denn nur das ist wirklich, was ein Objekt reeller, wirklicher Tätigkeit ist‘. Feuerbach versucht, die – bisher ausschließlich idealistisch behandelte – Problematik weltkonstituierender Subjektivität auf ihre uneingestandenen materiellen Füße zu stellen“589, hält aber nachdrücklich daran fest, dass weder der Leib noch
die Welt der Objekte einfach in den Sozial- und Weltbezügen aufgeht. Der Leib
ist kein anderes Wort für die Relationalität des Menschen, sondern er ragt als
naturales Substrat in die Personstruktur. Auch für den Sozialbezug ist die physische Basis, die freilich beim Menschen nie als ‘reine Physis’ existiert, konstitutiv. Die Verwirklichung des Menschen ist mithin keine einsame Tat des Individuums, sondern hat seine Sozialisation zur Bedingung: „Das Bewußtsein der
Welt ist also für das Ich vermittelt durch das Bewußtsein des Du. So ist der
586
587
588
589
Ebd.: 330.
Ebd.: 81.
Vgl. Schmidt 1988, 77-81; Xhaufflaire 1972, 171-182.
Schmidt 1988: 126f.
188
Mensch der Gott des Menschen. Daß er ist, verdankt er der Natur, daß er
Mensch ist, dem Menschen. Wie er nichts physisch vermag ohne den andern
Menschen, so auch nichts geistig.“590 Dieses Zitat ist in mehrfacher Hinsicht
bemerkenswert. Zunächst wird man Feuerbach keinen abstrakten Individualismus unterstellen dürfen; zwar ist Marxens Feuerbachkritik nicht unbegründet, an
dieser Stelle aber zu präzisieren. Feuerbach bleibt auch hier seinem religionskritischen Ansatz treu: er transformiert den trinitarisch-kommunikativen Gottesbegriff des Christentums in die intersubjektive Konstitution des Menschen591. Nur
darum lässt sich sagen, der Mensch sei der Gott des Menschen. Nicht soll sich
hier der Mensch aller mit seiner somatischen Struktur gegebenen Endlichkeit
entledigen und selbst zum Absoluten werden, sondern er soll die Gott-Hypostase
als Projektion seines sinnlichen, geistigen und das heißt auch: sozialen Wesens
durchschauen.
Gleichwohl besitzt der Mensch für Feuerbach eine über die krude Natur hinausreichende Transzendenz, und deshalb kommt es überhaupt zur Vorstellung einer
jenseitigen, von allen Schranken des Diesseits befreiten Welt592. Indem jedoch
Welt, Natur, Sinnlichkeit nur als Schranke aufgefasst werden, von welcher sich
der Mensch zu lösen hat, stellt das religiöse Bewusstsein auch eine Verarmung
dar, die einen Wesenszug des Menschen nicht zu seinem Recht gelangen lässt.
Insofern in Gott sich der Mensch nur in abstracto, nämlich als geistiges Wesen,
projiziert, ist die Religion Negation der Welt, und gegen diese Negation, welche
mit dem Idealismus eng zusammenhängt, protestiert Feuerbach. „Der religiöse
Mensch zieht sich von der Welt zurück. Innerlichkeit gehört zum Wesen der Religion. Der religiöse Mensch führt ein abgezogenes, in Gott verborgenes, stilles,
weltfreudenleeres Leben.“593 Gedanken der Religionskritik Nietzsches sind hier
antizipiert594. Allerdings wird Religion in der Volksfrömmigkeit mit ihren unbefangenen Anthropomorphismen von der verdrängten sinnlich-naturalen Dimension eingeholt, indem auch die affektive Seite zur Geltung kommt: „Die Religion ist nur Affekt, Gefühl, Herz, Liebe, d.h. die Negation, Auflösung Gottes im
Menschen. Die neue Philosophie ist daher, als die Negation der Theologie, welche die Wahrheit des religiösen Affektes leugnet, die Position der Religion. Der
590
591
592
593
594
Feuerbach, Werke 5: 166. – Vgl. auch Feuerbach, Werke 9: 339: „Das Wesen des Menschen ist nur in der
Gemeinschaft, in der Einheit des Menschen mit dem Menschen enthalten – eine Einheit, die sich aber nur auf
die Realität des Unterschieds von Ich und Du stützt.“ Eine Formulierung, die auf Martin Bubers dialogische
Philosophie vorausweist.
Vgl. auch Feuerbach, Werke 5: 164.
Vgl. Feuerbach, Werke 5, 309.
Ebd.: 132.
Vgl. Nietzsche, KSA 6: 185:„Gott zum Widerspruch des Lebens abgeartet, statt dessen Verklärung und ewiges Ja zu sein! In Gott dem Leben, der Natur, dem Willen zum Leben Feindschaft angesagt! Gott die Formel
für jede Verleumdung des ‘Diesseits’, für jede Lüge vom ‘Jenseits’! In Gott das Nichts vergöttlicht, der Wille
zum Nichts heilig gesprochen!“
189
Anthropotheismus ist die selbstbewußte Religion – die Religion, die sich selbst
versteht.“595 Die Theologie meidet zwar den Anthropomorphismus, nimmt aber
dafür dem Gottesbegriff seine auf den Menschen verweisende Lebendigkeit; er
bleibt ein Abstraktum. Darum ist die Kritik des Anthropomorphismus nicht zu
verabsolutieren; sie zielt nicht auf eine ‘rein geistige’ Gottesvorstellung oder
negative Theologie. Vielmehr meldet sich in dieser leiblichen, anthropomorphen
Projektion ein legitimes, wenn auch falsch realisiertes Interesse zu Wort: die
notwendige ‘Welthaltigkeit’ auch des religiösen Bewusstseins.
Unter dieser Rücksicht enthalten zentrale Motive der christlichen Theologie wie
die Menschwerdung Gottes und die Auferstehung des Fleisches für Feuerbach
durchaus einen Wahrheitskern, denn „der menschgewordene Gott ist nur die Erscheinung des gottgewordenen Menschen, was freilich im Rücken des religiösen
Bewußtseins liegt“596. Die Inkarnation ist „ein Akt der Barmherzigkeit Gottes“,
welche zugleich die Chiffre für die Liebe des Menschen ist. Gott „anthropomorphiert sich, indem er liebt“597. So ist das Christentum für Feuerbach dicht an der
Wahrheit Gottes, die keine andere ist als die des Menschen, der in Gott sich vergegenständlicht. Insofern kann Feuerbach zugleich mit und gegen Hegel „die
christliche Religion die absolute nennen. Daß Gott, der an sich nichts andres als
das Wesen des Menschen ist, auch als solches verwirklicht werde, als Mensch
dem Bewußtsein Gegenstand sei, das ist das Ziel der Religion.“598 Ist dieses Ziel
im Christentum erreicht, so ist zugleich jede andere Religion in ihre anthropologische Wahrheit gesetzt.
Eine neue Form der Religionskritik tritt nach Kant und Hegel hier auf den Plan;
sie repräsentiert nicht mehr ein Bürgertum, das, wie das französische des 18.
Jahrhunderts, Theologie, Religion und Kirche als Verbündete des Feudalismus
energisch bekämpft, sondern schon eines, das seine ökonomische Macht etabliert hat und seines Sieges gewiss ist: es tritt bereits ein Erbe an. Die Kritik wird
moderater und entdeckt neue Schichten an der Religion, die Voltaire, Diderot
oder Holbach verschlossen waren. Freilich: Im Unterschied zu Schopenhauer599
ist Feuerbach höchst optimistisch, was die Beerbung der Religion, ihre Übersetzung in profane Kategorien betrifft. Religion wird überführt in die Utopie
menschlicher, innerweltlicher Selbsttranszendenz und emphatischer Sinnlichkeit. So tauchen Leid und Tod – Inbegriff der Nichtidentität – nur am Rande auf.
Die Individuen müssen sich mit der Dauer der Gattung begnügen. Das Gat595
Feuerbach, Werke 9: 256; siehe auch Winiger 2011: 138-142.
Feuerbach, Werke 9: und 322f.
597
Feuerbach, Werke 5, 106.
598
Ebd. 256.
599
Vgl. hierzu Schopenhauer, Werke 5, 279f, 287ff.
596
190
tungswesen, in welchem somatisch-geistige Intersubjektivität verwirklicht sind,
steht über dem Einzelnen. Ist jenes Gattungswesen noch ein Erbe Spinozas?
„Feuerbach’s kind of materialism“ bemerkt Yirmiyahu Yovel, „preserves the
element of spritit within matters“ und gehört in die engere Rezeptionsgeschichte
Spinozas600. Feuerbach dürfte Spinoza sowohl in der Ablehnung eines Schöpfungsaktes, der zugleich die Differenz von Gott und Welt impliziert, zugestimmt
haben als auch in der Kritik einer strikten Trennung von Geist und Materie, wie
eine Stelle aus dem Wesen der Religion belegt:
„Gott, als Urheber der Natur, wird zwar als ein von der Natur unterschiednes Wesen vorgestellt, aber als das, was dieses Wesen enthält und ausdrückt, der wirkliche Inhalt desselben, ist nur die Natur. … Zwar wird der Urheber der Natur mit Verstand und Willen belegt, aber das, was eben dieser Wille will, dieser Verstand denkt, ist gerade das, wozu kein
Wille, kein Verstand erfordert wird, wozu bloße mechanische, physische, chemische, vegetabilische, animalische Kräfte als Triebfedern hinreichen.601“
Bei genauerer Lektüre dieses Passus zeigt sich allerdings, dass hier nicht Spinozas in sich differenzierte Identität von Gott und Natur gemeint ist, sondern die
Argumentation legt das ganze Gewicht auf die Seite der Natur. Nach Feuerbach
ist die Natur selbst schöpferisch und braucht weder einen ‚externen Baumeister‘
noch eine sie hervorbringende göttliche Substanz; die natura naturans, die
schöpferische Seite der Natur ist hier bereits im Sinne einer dem 17. Jahrhundert
noch fremden Evolution gedacht, und es zeigt sich, dass Feuerbach offenbar auf
dem aktuellen Stand der damaligen Forschung war:
„Die Erde ist nicht immer so gewesen, wie sie gegenwärtig ist; sie ist vielmehr nur nach
einer Reihe von Entwickelungen und Revolutionen auf ihren gegenwärtigen Standpunkt
gekommen, und es ist durch die Geologie ermittelt, daß in diesen verschiedenen Entwicklungsstufen auch verschiedene, jetzt oder schon in früheren Perioden nicht ,mehr vorhandene Pflanzen und Tiere existierten. … Wenn daher die Erde kraft ihrer eigenen Natur im
Laufe der Zeit sich so entwickelt und kultiviert hat, daß sie einen mit der Existenz des
Menschen verträglichen, dem menschlichen Wesen angemessenen, also sozusagen selbst
menschlichen Charakter annahm, so konnte sie auch aus eigner Kraft den Menschen hervorbringen.“602
Die Idee der Schöpfung als Tätigkeit eines ‚Weltbaumeisters‘ ist damit ausgeschlossen. Die Erkenntnisse, welche die Erforschung der Erdgeschichte zutage
förderte, Theorien zu einer Evolution des Lebens – die prominentesten Vertreter
waren Jean-Baptiste Lamarck (1744-1829) und Charles Darwin (1809-1882)603
600
Yovel 1989b: 74.
Feuerbach, Werke 10: 15 (Das Wesen der Religion, 1845, zuerst publiziert 1846, Nr. 12, in der dritten Auflage 1849 Nr. 11).
602
Ebd.: 19f. (Nr. 17 = 31849, Nr. 16).
603
Jean-Baptiste Lamarck: Philosophie zoologique (1809) / Charles Darwin: On the Origin of Species (1859).
Darwin schlug allerdings mit seiner nicht-teleologischen Theorie der Auslese (survival of the fittest) einen anderen Weg ein als Lamarck und setzte sich letzterem gegenüber durch.
601
191
– zeigten klar, dass die Natur keines ‚äußeren Handwerkers‘ bedurfte, sondern
die Entstehung der Erde und der unterschiedlichen Formen des Lebens immanent („aus eigner Kraft“, „mechanische, physische, chemische, vegetabilische,
animalische Kräfte als Triebfedern“) zu erklären waren. Diese Bewegung auf
eine rein immanente Erklärung der Natur könnte als Bestätigung der Sicht
Spinozas gedeutet werden, wenn denn überhaupt noch von Gott in diesem Zusammenhang die Rede wäre. Nicht mehr Deus sive natura, sondern nur noch
natura, freilich keine mechanisch klappernde wie im 17. und 18 Jahrhundert,
sondern eine über alle bisherigen Vorstellungen hinaus produktive, schöpferische, sich wandelnde Natur, wie Feuerbach ausdrücklich feststellt: „Spinoza
macht das Wesen der Natur zum Wesen Gottes. … Nicht ‚Deus sive Natura‘,
sondern ‚Aut Deus aut Natura‘ ist die Parole der Wahrheit. Wo Gott mit der Natur oder umgekehrt die Natur mit Gott identifiziert oder konfundiert wird, da ist
weder Gott noch Natur, sondern ein mystisches, amphibolisches Zwitterding.“604
So stößt gerade der Pantheismus Spinozas auf Feuerbachs Reserven; während er
dem Tractatus theologico-politicus mit seiner strikten Trennung von Religion
und Politik, Religion und philosophischer Wahrheitssuche sowie den im engeren
Sinne ethischen Passagen des zweiten Hauptwerks Spinozas durchaus Anerkennung zollt.
In der Sekundärliteratur nicht immer genügend beachtet ist das negative Urteil,
das Feuerbach über die jüdische Religion fällt605. Diese kenne nur einen Gott,
„der sich um nichts als Israel kümmert, nichts ist als die personifizierte Selbstsucht des israelitischen Volkes, mit Ausschluß aller andern Völker, die absolute
Intoleranz – das Geheimnis des Monotheismus“606. Kein Wort von dem schon
im Alten Testament formulierten Universalismus. Der Gott der Juden „ist das
praktischste Prinzip der Welt – der Egoismus und zwar der Egoismus in der
Form der Religion“607. Diesem in Gott hypostasierten Egoismus ist auch die Natur nur noch Mittel, „ein bloßes Willensobjekt“608. Hegel sah es als die spezifische Leistung der jüdischen Religion an, „daß Gott nicht ein Naturwesen, nicht
das Sichtbare, Sinnliche ist“; sie steht damit für den Umschlag „von der Natur
zum Geist“609. Was Hegel im Sinne der idealistischen Antithese von Natur und
Geist positiv wertet, stößt auf Feuerbachs vehemente Kritik. Er übernimmt die
604
605
606
607
608
609
Feuerbach, Werke 2: 454; vgl. auch Feuerbachs kritische Ausführungen zum Pantheismus: Werke 9: 285299; siehe ferner Kohut 1909: 91-96 und Winiger 2011: 95f..
Vgl. aber Manfred Vogels Essay Feuerbachs Religionskritik: die Frage des Judaismus, in: Braun u.a. 1990:
217-242; ferner Katz 1989: 161-164 sowie die Beiträge in Reitmeyer / Shibata / Tomasoni 2009.
Feuerbach, Werke 5, 20
Ebd. 210.
Ebd. 212.
Hegel 1996: 267.
192
Feststellung Hegels und wendet sie negativ: Das Judentum wird ihm zu einer
Quelle der idealistischen Herabsetzung der Natur und zum Ursprung der Naturvergessenheit. Der griechische Polytheismus war demgegenüber „der offene,
neidlose Sinn für alles Schöne und Gute, ohne Unterschied, der Sinn für die
Welt, für das Universum“610. Die idealismuskritische Parteinahme für die somatische und naturale Basis des Menschen, die auch in den kulturellen Schöpfungen nicht verschwindet, begnügt sich keineswegs mit einer Kritik der philosophischen und theologischen Tradition, sondern entwickelt im Urteil über das
Judentum ein besonderes Feindbild. Unbekümmert greift Feuerbach bekannte
Klischees auf, die bis heute in das Arsenal des Antijudaismus gehören. Marx
wird in seiner Schrift Zur Judenfrage (1843)611 diese Vorurteile ungeprüft übernehmen und weitere hinzufügen. Ungeachtet der kontrovers diskutierten Frage,
ob sich bei Feuerbach ein ausgeprägter Antisemitismus findet, zeigt sich auch
hier, dass antijüdische Klischees keine bedauerlichen Ausnahmeerscheinungen
sind, sondern bis heute auf eine schwer entwirrbare Weise in den kulturellen
Code Europas verwoben sind. Biographisch war Feuerbach Juden verbunden:
Sein Hebräisch-Lehrer war sein Altersgenosse Moses Wassermann (1811-1892),
der Sohn des Ansbacher Rabbiners Salomon Wassermann 612. Konnten die persönlichen Beziehungen keineswegs von Ressentiments gekennzeichnet sein und
mochte Feuerbach gegen die restaurativen Strömungen seiner Zeit sich nachdrücklich für die jüdische Emanzipation einsetzen (was auch eine breitere jüdische Feuerbach-Rezeption begünstigte), so unterlag er in seinen religionsphilosophischen Ausführungen den Vorurteilen der theologischen Tradition, die ansonsten Gegenstand seiner Kritik war.
Die antijüdischen Untertöne Feuerbachs störten hingegen kaum die theologischen Stellungnahmen zu seiner Religionsphilosophie mit ihrem Anspruch einer
vollständigen „Auflösung der Theologie in der Anthropologie“ 613 . Der Kritik
entging nicht der apodiktische Ton, mit dem die Gottesidee auf das sich selbst
noch dunkle menschliche ‚Wesen‘ zurückgeführt wird. Wenn irgend, so sind die
Reste der Identitätsphilosophie von Spinoza bis Hegel hier zu finden. Dass die
Betonung Gottes als eines transzendenten Wesens nichts sei als Projektion, und
610
611
612
613
Feuerbach, Werke 5, 210.
1843, MEW 1, 347-377.
Vgl. Kohut 1909: 29-32; Winiger 2011: 47; Michael Brocke / Joseph Carlebach, Biographisches Handbuch
der Rabbiner, Teil 1: Die Rabbiner der Emanzipationszeit in den deutschen, böhmischen und großpolnischen
Ländern 1781-1871. Bearbeitet von Carsten Wilke, München 2004: 879-882.
Feuerbach, Werke 9: 335. – Für das 20. Jahrhundert vgl. Karl Barth, Feuerbach (1922), in: Barth 1990: 6-13
sowie die ausführliche Studie von Xhaufflaire 1972. Einen Überblick vermitteln Post 1969: 91-98; Zirker
1995: 78-105; Schaeffler in HFth 1, 124f; Waldenfels 2005: 41f. Fries, Artikel Feuerbach, in: Weger 1979:
78-92; Walter Jaeschke, Feuerbach und die aktuelle religionsphilosophische Diskussion, in: Braun 1990:
113-134, besonders 129-134
193
die angemessene philosophische Antwort nur in der Auflösung dieser Projektion
in das wirkliche, ganze, geistig-sinnliche Wesen des Menschen bestehen könne,
bleibt mehr Behauptung als wohlbegründete These und weist eben jenem (Gattungs-) Wesen des Menschen – trotz seiner Brechungen im Somatischen – eine
an Hegels Weltgeist erinnernde Bedeutung zu. „Hier bricht“, wie Hans Zirker
einwendet, „das abstrahierende und spekulative Denken ein, das Feuerbach gerade dem religiösen Glauben vorwirft und von dem er sich absetzen will“614. Gerade die Differenz von Gott und Mensch bzw. Schöpfung, so ließe sich auch hier
mit Hermann Cohen antworten, eröffnet die Möglichkeit einer gottmenschlichen Korrelation, in der die Menschen überhaupt erst mündig und erwachsen werden, ohne ihre eigenen Attribute gleichsam als ‚anthropologischen
Kredit‘ Gott zu leihen, um sie schließlich im Prozess wachsender Mündigkeit
und Erkenntnis mit Zinsen wieder für sich zurückzufordern. Natur und menschliche Geschichte werden vielmehr in eine Eigenständigkeit entlassen, die erst im
Laufe einer längeren Entwicklung zu Bewusstsein gelangt und den Abschied
von älteren Vorstellung fordert. Demgegenüber dürfte es kaum zureichen, mit
Barth die Religion(en), das empirische Christentum eingeschlossen, als Selbstbehauptung des menschlichen Willens der Religionskritik zu überantworten und
den Rückzug in den Glauben an Gottes Offenbarung anzutreten, wie Karl Barth
es versuchte615. Einmal abgesehen davon, daß Barth einen Offenbarungsbegriff
verwendet, welcher der an Hegel geschulten Feuerbachschen Kritik als willkürliche Setzung erscheinen müsste, wird deren materialistische Seite ignoriert, die
gerade Sinnlichkeit und ‘Welthaltigkeit’ einklagt. Der ‚Glaube‘ als Gegenbegriff
zur stets zweideutig bleibenden empirischen Religion, die Menschenwerk sei,
bleibt aus der Perspektive Feuerbachs ein leerer Begriff, eine Abstraktion von
den wirklichen Menschen und ihrer spezifischen Verfassung. Jeder Sprung in
ein Unmittelbares, sei es die sinnliche Anschauung, das Erlebnis oder der reine,
von allen Zweideutigkeiten freie Glaube, kreiert Chimären im Interesse der Unangreifbarkeit: „Immer wenn der christliche Glaube religionskritisch zur Rede
gestellt werden soll, antwortet er hier: ‚Ich bin das nicht, von dem da die Rede
ist, sie meint die anderen, ich brauche mich nicht betroffen zu fühlen.‘“616
Aber nicht nur von Barth wird die materialistische Vermittlung der Feuerbachschen Kritik kaum beachtet. Selbst Zirker, der für den „Aufweis des Zusammenhangs von Theologie und Anthropologie“ plädiert617 – ein Programm, das
nicht nur einzelne Aspekte, sondern die Gesamtheit der Theologie Karl Rahners
614
615
616
617
Zirker 1995: 103.
Vgl. Barth 1990 9; Kraus 1982: 4-60; kritisch zu Barth: Zirker 1995: 54-56; Pannenberg 1988a: 116 - 121.
Zirker 1995: 56.
Zirker 1995: 105.
194
bis in die kleinsten Artikel und Essays hinein bestimmte – streift die ‚naturgeschichtliche‘ Seite eben dieser Anthropologie nur, fügt sie aber nicht als konstituierenden Teil in ein fundamentaltheologisches Konzept ein.
b) Marx: imaginäre Blumen und abgeworfene Ketten „Für Deutschland ist
die Kritik der Religion im Wesentlichen beendigt und die Kritik der Religion ist
die Voraussetzung aller Kritik“, konstatiert 1844 ein gründlicher Leser der
Schriften Feuerbachs: Karl Marx. „Das Fundament der irreligiösen Kritik“, heißt
es im übernächsten Absatz, „ist: Der Mensch macht die Religion, die Religion
macht nicht den Menschen. … Aber der Mensch, das ist kein abstraktes, außer
der Welt hockendes Wesen. Der Mensch, das ist die Welt des Menschen, Staat,
Societät. Dieser Staat, diese Societät
produziren die Religion, ein verkehrtes
Weltbewußtsein, weil sie eine verkehrte Welt sind.“ 618 Ein paar Kleinigkeiten möchte der Fortführer und Kritiker
Feuerbachs also doch noch anmerken
und diesem das letzte Wort nicht überlassen. Feuerbachs Rede vom Wesen
des Menschen oder von dem Menschen bleibt nämlich aus der Sicht
Marxens immer noch recht abstrakt619.
Die wichtige Einsicht in die soziale
Konstitution des Individuums wird
von Feuerbach nicht für seine gesamte
Philosophie fruchtbar gemacht. Noch
in der Feuerbachschen Terminologie
Karl Marx (1818-1883)
sich bewegend, geht Marx in der Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie einen entscheidenden
Schritt über den Linkshegelianismus hinaus. Das emphatische Ich-Du-Verhältnis
Feuerbachs wird erweitert zur gesellschaftlichen Vermittlung, die allerdings in
nuce bei Feuerbach angelegt war. Die auch von Marx nachdrücklich festgehaltene sinnliche Konstitution des Menschen muss begriffen werden als Praxis; eine Praxis freilich, die nicht die des Einzelwesens ist, sondern gesellschaftliche
Auseinandersetzung mit Natur. Das ‚Wesen‘ des Menschen ist kein zeitloses
618
619
MEGA I/2: 170 (MEW 1: 378); vgl. auch Zirker 1995: 110-113. Die Rede von der ‚verkehrten Welt‘ verweist, wie Sarah Kofman zeigte, auf die Metapher der die Gegenstände umgekehrt (‚verkehrt‘) präsentierenden camera obscura, die Marx in der Deutschen Ideologie verwendet (vgl. MEW 3: 26). Zu den Grenzen
solcher Metaphorik im Kontext der Ideologiekritik vgl. Kofman 2014: 13-35.
Vgl. Xhaufflaire 1972: 193-196, 201-228.
195
Fixum, nicht ein je schon Gegebenes, sondern es konstituiert sich durch Praxis,
als „die praktische menschlich-sinnliche Tätigkeit“620 . Sinnlichkeit aber verweist auf ein auch innerhalb der Praxis unauflösliches naturales Moment des
Menschen, und zwar als innere (als Trieb, Bedürfnis, Lust und Leiden) wie äußere, gegenständliche Natur. Eben die von Feuerbach so sehr betonte Sinnlichkeit ist es, die zur sozialen Lösung der durch sie aufgegebenen Probleme zwingt:
„Sinnlich sein ist leidend sein. Der Mensch als gegenständliches sinnliches Wesen ist daher ein leidendes und weil sein Leiden empfindendes Wesen ein leidenschaftliches Wesen. Die Leidenschaft, die Passion ist die nach seinem Gegenstand energisch strebende Wesenskraft des Menschen.“621 Zunächst sind es
die elementaren Bedürfnisse nach Nahrung, Kleidung, Unterkunft und die Sexualtriebe, die den Menschen ‘energisch streben’ lassen. Freilich reicht das Streben
für sich genommen nicht aus; es bedarf des Nachdenkens über die Mittel und
der umsichtigen, arbeitsteiligen Realisierung der Pläne im sozialen Verband.
Ohne Aufschub der Triebbefriedigung ist dies aber unmöglich; Zivilisation auch
in ihren rudimentären Formen beginnt mit einer Pause, die notwendig ist für ein
planendes, rationales und effizientes Vorgehen. Die fortschreitende Beherrschung der Natur und deren gesellschaftliche Organisation gestatten längere
Atempausen, eine differenzierte Entfaltung der geistigen Fähigkeiten, die nicht
mehr nur im Dienste der unmittelbaren Triebbefriedigung stehen, und führen zu
weiterreichenden, komplexeren Bedürfnissen. Zur Kultur gehört wesentlich,
dass sie nicht nur Bedürfnisse befriedigt, sondern auch produziert, sie kultiviert
und den Horizont des Interesses erheblich erweitert. Gesellschaftliche Differenzierung und Arbeitsteilung bedeutete aber bislang stets auch eine unterschiedliche Partizipation an den Segnungen der Kultur, und ob (und für wen) sie mehr
Segen als Fluch ist, hängt ab von der vernünftigen Einrichtung der Produktion,
während bisher – und dies ist der Kern der Marxschen Kapitalismuskritik – „der
Produktionsproceß die Menschen, der Mensch aber noch nicht den Produktionsproceß bemeistert“622. Die Änderung dieser Verhältnisse steht nun auf der Tagesordnung. Nachdem mit der Kritik der Religion „die imaginären Blumen an
der Kette zerpflückt“ sind, kommt es nun darauf an, dass der Mensch „die Kette
abwerfe“623. Die Kritik der Religion, heißt es bereits 1844, endete mit der Einsicht, „daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem
categorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch
ein erniedrigtes, geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist, Ver620
621
622
623
MEW 3: 6 (5. Feuerbach-These).
MEGA I/2: 409 (MEW 40: 579).
MEGA II/6: 111 (MEW 23: 95).
MEGA I/2: 171 (MEW 1: 379).
196
hältnisse, die man nicht besser schildern kann, als mit dem Ausruf eines Franzosen bei einer projektirten Hundesteuer: Arme Hunde! Man will euch wie Menschen behandeln!“624
Die Hinwendung der Kritik zur revolutionären Praxis verbindet Marx mit der
radikalen Aufklärung, nicht aber übernimmt er von ihr den mechanistischen Naturbegriff. Der Marxsche Materialismus ist, wie schon der Feuerbachsche, kein
Reprint des dogmatischen Naturalismus eines Holbach. Weder Natur und Materie, noch die soziale Verfassung des Menschen sind im Prozess der fortgeschrittenen arbeitsteiligen Produktion invariante Größen. Durch die gesellschaftlichen
Vermittlungen hindurch vollzieht sich das, was Marx später im Kapital den
„Stoffwechsel mit der Natur“ nennen wird625. Arbeit, Produktivität ist ein soziales Phänomen, so dass uns nur sozial vermittelt Sinnlichkeit und Natur erscheinen. Schon in den philosophisch-ökonomischen Manuskripten wird dieser Gedanke klar formuliert: „Weder die Natur – objektiv – noch die Natur subjektiv
ist unmittelbar dem menschlichen Wesen adäquat vorhanden.“ Die Vermittlung
von Mensch und Natur vollzieht sich gesellschaftlich und geschichtlich, ja „Geschichte ist die wahre Naturgeschichte des Menschen“626, in welcher die Gattung
sich selbst produziert. Der ‚historische Materialismus‘ Marxens kreiert also, einer verbreiteten Auffassung zum Trotz, „weder eine identitätsphilosophische
noch eine materialistische ‚prima philosophia‘“, wie Matthias Lutz-Bachmann
zutreffend feststellt627. Allerdings ist nicht zu übersehen, dass Marx selbst zu
missverständlichen Formulierungen griff, die eine ‚metaphysische Lesart‘ des
historischen Materialismus nahelegen. So schreibt er im Nachwort zum ersten
Band des Kapital (21872): „Für Hegel ist der Denkproceß, den er sogar unter
dem Namen Idee in ein selbstständiges Subjekt verwandelt, der Demiurg des
Wirklichen, das nur seine äußere Erscheinung bildet. Bei mir ist umgekehrt das
Ideelle nichts andres als das im Menschenkopf umgestaltete und übersetzte Materielle.“628 Jene Umkehrung Hegels soll gerade nicht bedeuten, dass das ‚Wirkliche‘ oder ‚Materielle‘, wie es vage genannt wird, den Status der Idee oder des
Weltgeistes erhält. Das Materielle, wie es später bei Engels heißt (s.u.), ist ein
Begriff, der von allen sinnlichen, gesellschaftlichen und gedanklichen Vermittlungen abstrahiert. Mit Feuerbach verbindet Marx die Rettung der sinnlichen
Wirklichkeit, diese aber ist, wie immer wieder betont wird, kein je schon Gegebenes, sondern etwas, das gesellschaftlich konstruiert ist. Wenn sie also in den
624
625
626
627
628
MEGA I/2: 177 (MEW 1: 385).
MEGA II/6: 192 (MEW 23: 192); vgl. zu dieser von Marx öfter gerbrauchten Formulierung vom „Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur“ auch MEGA II/6: 76 (MEW 23: 57).
MEGA I/2: 409 (MEW 40: 579).
Lutz-Bachmann 1988: 210; das gilt auch für die Geschichtsphilosophie, vgl. Eagleton 2012: 45-82.
MEGA II/6: 709 (MEW 23: 27).
197
Köpfen ‚umgestaltet‘ oder ‚übersetzt‘ wird, wie Marx versichert, so ist die differenzierte Welt der materiellen Erscheinungen kein ‚Ding an sich‘, sondern bereits Produkt menschlicher Tätigkeit. Die Formulierung von der Umkehrung
Hegels ist ungenau, die einprägsame Metapher verdeckt eher das Gemeinte; es
geht gerade nicht darum, eine materialistische Weltanschauung als Alternative
zur idealistischen oder religiösen zu konstruieren, in welcher der abstrakt begriffenen ‚Materie‘ oder der ‚Natur‘ die Funktion eines absolut Ersten zuerkannt
wird, sondern ‚Materie‘ und ‚Natur‘ sind für uns nur als sinnliche Konkretion in
der praktisch-sozialen Vermittlung zugänglich oder ‚vorhanden‘. Diese Sicht
bestätigt Friedrich Engels in seinen Vorarbeiten zum Anti-Dühring:
„NB. Die Materie als solche ist eine reine Gedankenschöpfung und Abstraktion. Wir sehen
von den qualitativen Verschiedenheiten der Dinge ab, indem wir sie als körperlich exitirende unter d[en] Begriff Materie zusammenfassen. Materie als solche, um Unterschied
von den Bestimmten, existirenden Materien, ist also nichts Sinnlich-Existirendes.“629
Auch Feuerbach hätte diesem Passus beipflichten können mit der Marxschen
Ergänzung allerdings, dass die Konkretionen erst das Ergebnis des ‚menschlichen Stoffwechsels mit der Natur‘ darstellen, kein absolut Erstes, das innerhalb
der dialektischen Denkbewegung kritisch aufgelöst wird. Wenn dagegen Yirmiyahu Yovel noch von „Marx’s ontology“ spricht, so ist dies zumindest unpräzise angesichts des auch von ihm selbst mit Recht betonten spezifisch nichtontologischen Charakters des Marxschen Materialismus630. Auch der Gedanke,
dass in der Selbsterzeugung der Gattung Spinozas Bestimmung Gottes als causa
sui variiert wieder aufgegriffen werde, ist nur dann haltbar, wenn diese Variante
nicht ontologisch verstanden wird, sondern als Interaktion der Menschen mit
einer Natur, die in den Formen ihrer Bearbeitung nicht schlechthin aufgeht, so
dass alle menschliche Produktivität und ‚Selbsterzeugung‘ im Rahmen des „historical universe“631 (ein eher unscharfer Begriff) endlich ist.
Diese Überlegungen zum nichtmetaphysischen Charakter des ‚historischen Materialismus‘ haben Konsequenzen auch für die Marxsche Religionskritik. Jede
Bestimmung des Menschen und seiner sinnlichen Konstitution jenseits dieser
sozial vermittelten Praxis ist nach dem bisher Gesagten unzulänglich. Feuerbachs Religionskritik aber bleibt, so Marx, auf ‚den Menschen‘ in seiner abstrakten Gestalt fixiert und übersieht die gesellschaftliche Genese der Religion,
die ihr Dasein nur in einer Gesellschaft hat, die, obwohl menschliche Hervor629
630
631
MEGA I/27: 118.
Yovel 1989b: 84f und 89; vgl. Schmidt 1962: 12-41. Der Befund überrascht umso mehr, da Yovel Schmidts
grundlegende Arbeit zum Naturbegriff Marxens kennt (vgl. Yovel 1989b: 204f) und er konstatiert, „human
sensibility itself is not a fixed and timeless factor, but evolves in history along with ist objects and as a result
of its relation with them“ (ebd.: 88f). Dem ist uneingeschränkt zuzustimmen.
Ebd.: 88.
198
bringung, sich selbst nicht durchschaut und den Menschen als äußere, fremde
Macht gegenübertritt. „Seine [Feuerbachs. R.B.] Arbeit“, schreibt Marx in der
vierten Feuerbach-These, „besteht darin, die religiöse Welt in ihre weltliche
Grundlage aufzulösen. Aber daß die weltliche Grundlage sich von sich selbst
abhebt und sich ein selbständiges Reich in den Wolken fixiert, ist nur aus der
Selbstzerrissenheit und Sichselbstwidersprechen dieser weltlichen Grundlage zu
erklären.“632 Erst die verzerrte gesellschaftliche Wirklichkeit bringt nach Marx
die Religion als verzerrtes Bewusstsein hervor. Dass die Menschen ihr eigenes
Wesen nicht anders als in der Gottheit vergegenständlicht denken können, ist
bedingt durch eine Gesellschaftsform, in der die Menschen selbst ein verdinglichtes, entfremdetes Leben zu führen genötigt sind. Zugleich – dies ist Marx
nicht entgangen – meldet sich in der Religion ein Protestmoment:
Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die
Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüth einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das
Opium des Volkes.“633
Die Religion entspringt nicht dem Irrwitz und Wahn einzelner Geister, sondern
ist Ausdruck von irrationalen Verhältnissen und hat hier ihren objektiven Grund.
Der in nuce enthaltene, ohnehin nie die Gesellschaft auf ihren Begriff bringende
Protestcharakter religiösen Bewusstseins schlägt nur selten in revolutionäre Praxis um, zumeist handelt es sich um unreflektierte Ausbrüche des Unmutes, es
überwiegt die sedierende Funktion. Die ausgebeuteten Massen erhoffen vom
Jenseits das Glück, das ihnen im Diesseits vorenthalten wird – ein Gedanke, der
schon bei Holbach anklang. Es kommt nicht darauf an, die Menschen zynisch
auf ihr tristes Dasein zu fixieren, sondern ihnen die praktische Veränderbarkeit
der Gesellschaft bewusst zu machen, so dass sie auf die religiöse Illusion des
Glücks verzichten können, da ihnen die praktische Möglichkeit des irdischen
aufging634. Engels wird später rückblickend Feuerbach mit Strauß, Bauer und
Stirner unter „die Ausläufer der Hegelschen Philosophie“ rechnen, „soweit sie
den philosophischen Boden nicht verließen“635. Engels spricht hier den die philosophische Spekulation transzendierenden Grundzug des Materialismus an, der
in der Marxschen Theorie mit ihrem Nachdruck auf der praktischen Vermittlung
von Mensch und Natur zu sich selbst kommt. Materialismus in diesem Sinne ist
keine reine Denkbewegung und erst recht keine umfassende Weltanschauung,
sondern fordert den Übergang zu einer Praxis, welche die Menschen aus ihren
scheinbar schicksalhaften Abhängigkeiten befreit.
632
633
634
635
Ebd (4. These über Feuerbach).
MEGA I/2: 171 (MEW 1: 378).
Vgl. ebd.: 171 (379).
MEW 21, 291. Zu den Berliner Linkshegelianern vgl. Mayer 1934a: 57-118.
199
Schon dem frühen Marx erweist sich aber auch die politische Emanzipation, die
für Edgar und Bruno Bauer im Vordergrund steht, als unzureichend. Nicht die
Freiheit der Religion, des Eigentums oder des Gewerbes kann das Ziel sein,
sondern die Freiheit von den versklavenden Mächten, die von der bürgerlichen
Gesellschaft jedoch nicht mehr zu erhoffen ist. Die Religion als Ausdruck dieser
verkehrten Verhältnisse, geht ohne jeden Rest in ihren gesellschaftlichen Bedingungen auf. Marx, in anderen Fragen wesentlich kritischer, teilt Feuerbachs reduktionistische Terminologie und erweitert sie lediglich um die praktischgesellschaftliche Vermittlung. „Ob Religion Wahrheit und Bedeutung enthält“,
moniert Werner Post, „steht nicht mehr zur Debatte, vielmehr ist diese Frage
längst negativ entschieden...“636 Eben dies erwies sich bei der Diskussion um
Bruno Bauers Schriften zur Emanzipation der Juden als misslich, insofern Marx
unbesehen die antijüdischen Vorurteile Feuerbachs und Bauers übernahm und
sich so den Vorwurf des Antisemitismus eintrug. Zwar haben die verfehlten Urteile über die jüdische Religion keine zentrale Bedeutung für das Marxsche
Œuvre und werden in den späteren Schriften weder wiederholt noch korrigiert –
aber es findet sich auch keine Distanzierung von den früheren Äußerungen637.
Die Marxsche Religionskritik wird jedoch nicht mehr wesentlich modifiziert. Im
berühmten Fetischkapitel des Kapital weicht Marx in die „Nebelregion der religiösen Welt“638 aus, um zu erläutern, dass die Warenform „den Menschen die
gesellschaftlichen Charaktere ihrer eignen Arbeit als gegenständliche Charaktere
der Arbeitsprodukte, als gesellschaftliche Naturprodukte zurückspiegelt“639. Die
Religionskritik der Frühschriften wird ohne Änderung übernommen. In der Religion „scheinen die Produkte des menschlichen Kopfes mit eignem Leben begabte, untereinander und mit den Menschen in Verhältnis stehende selbständige
Gestalten. So in der Warenwelt die Produkte der menschlichen Hand. Dies nenne ich den Fetischismus, der den Arbeitsprodukten anklebt, sobald sie als Waren
produziert werden, und der daher von der Warenproduktion unzertrennlich
ist.“640 Religion als die Urform der Verdinglichung vermag die säkulare Entfremdung im Kontext der Warenproduktion zu veranschaulichen. Religion und
Ware sind also (wenn auch nicht auf gleicher Ebene) Formen der Entfremdung,
wie sie Marx bereits in den ökonomisch-philosophischen Manuskripten (1844)
636
Post 1969: 153.
Vgl. etwa MEGA I/2: 184 (MEW 1: 372): „Welches“, schreibt Marx, „ist der weltliche Kultus des Juden?
Der Schacher. Welches ist sein weltlicher Gott? Das Geld. Nun wohl! Die Emancipation vom Schacher und
vom Geld, also vom praktischen, realen Judenthum wäre die Selbstemancipation unsrer Zeit.“ Vgl. hierzu
auch Katz 1989: 170-174.
638
MEGA II/6: 103 (MEW 23, 86).
639
Ebd.
640
Ebd. (MEW 23: 86f).
637
200
beschrieb641. Erst auf diesem Hintergrund gewinnt die Analogie von Warenproduktion und ‘Religionsproduktion’ für Marx ihre Plausiblität – bis zum christlichen „Kultus des abstrakten Menschen“642. Man wird übrigens vor diesem Hintergrund kaum in einem affirmativen Sinne von Religionsproduktion in der Moderne sprechen können, ohne contre cœur die Kritik Marxens zu bestätigen.
Religion ist Ausdruck und oft genug auch Instrument der versklavenden Verhältnisse, und nicht zuletzt der Schöpfungsglaube scheint Marx zu bestätigen,
dass die Menschen als autonome Wesen negiert werden: „Ein Wesen gilt sich
erst als selbständiges, sobald es auf eignen Füssen steht, und es steht erst auf
eignen Füssen, sobald es sein Dasein sich selbst verdankt. Ein Mensch, der von
der Gnade eines andern lebt, betrachtet sich als Abhängiges Wesen.“643 Schöpfungs-, Offenbarungs- und Erlösungsglaube sind gleichermaßen Ausdruck von
gesellschaftlichen Abhängigkeitsverhältnissen, so dass ihnen nach Marx kein
immanenter Wahrheitsanspruch zukommt. Der Hinweis auf die ‘Geognosie’ soll
schließlich noch andeuten, dass der gesamte Schöpfungsglaube mit dem Stand
der Naturforschung unvereinbar ist: Die Erforschung der Erdgeschichte erweist
für Marx – wie vor ihm schon für Feuerbach – eindeutig, dass die Erdbildung in
einem Prozess der Selbsterzeugung erfolgte, also keines Eingriffes von außen
bedurfte644. In den späteren Schriften und Briefen verfolgt Marx aufmerksam,
zuweilen auch mit beißenden Kommentaren, die Diskussion um die Theorie
Darwins. So zeigt ein Blick auf die Naturwissenschaft, dass die Erde und das
Leben auf ihr sich einem Prozess verdanken, der keinerlei Hinweis auf einen
Schöpfungsakt gibt, wie die Tradition ihn sich dachte. Die Erzeugung und die
Erlösung durch eine transzendente Macht gehören vielmehr einem Bewusstsein
an, das noch der ‘Vorgeschichte’ zuzuordnen ist645, das heißt einer Geschichte,
in welcher der Mensch sich noch nicht als Urheber der geschichtlichen und gesellschaftlichen Vorgänge begriff und darum auch nicht die notwendigen praktischen Konsequenzen daraus ziehen konnte. Soweit die religiösen Vorstellungen
der Menschen zugleich die ‘herrschenden’ waren, gilt auch für sie: „Die herrschenden Ideen einer Zeit waren stets nur die Ideen einer herrschenden Klasse.“646 So darf erwartet werden, dass Religion mit der Herstellung einer vernünftigen Gesellschaft, die allen ihren Mitgliedern jederzeit durchsichtig ist, ohne
641
Vgl. MEGA I/2: 395 (MEW 40, 542f).
MEGA II/6: 109 (MEW 23, 93). „Die religiösen Vorstellungen, Produkte des menschlichen Gehirns“, erläutert Sarah Kofman, „wie die Waren, Produkte der menschlichen Hand, erwecken die Illusion, selbständig zu
sein, wenn sie von ihrem Entstehungsprozess abgetrennt sind.“ (Kofman 2014: 22) Vor allem das protestantische Christentum ist in seiner Unsinnlichkeit die Religion der fortgeschrittenen Tauschgesellschaft.
643
MEGA I/2: 397 (MEW 40, 544).
644
Vgl. ebd.
645
Vgl. auch Post 1969: 207. ders., Artikel Marx, in: Weger 1979: 218-231.
646
MEW 4: 480.
642
201
Zwangsmaßnahmen absterben wird: „Der religiöse Widerschein der wirklichen
Welt kann überhaupt nur verschwinden, sobald die Verhältnisse des praktischen
Werkeltagslebens den Menschen tagtäglich durchsichtig-vernünftige Beziehungen zueinander und zur Natur darstellen. Die Gestalt des gesellschaftlichen Lebensprozesses, d.h. des materiellen Produktionsprozesses, streift nur ihren mystischen Nebelschleier ab, sobald sie als das Produkt frei vergesellschafteter
Menschen unter deren bewußter planmäßiger Kontrolle steht.“ 647 Dass Herrschaftsverhältnisse religiös legitimiert wurden, lässt sich schwerlich bestreiten
und gilt bis in die Gegenwart hinein. Marx kommentierte dies bissig als die ‘sozialen Prinzipien des Christentums’, welche auch Sklaverei und Leibeigenschaft
rechtfertigten648. Die Ordnung menschlicher Gesellschaft spiegelt sich nicht selten in den himmlischen Hierarchien wider; religiöse Bedürfnisse - und hier wird
man wohl die moderne ‘Religionsproduktion und -konsumtion’ einschließen
müssen – sind keineswegs unabhängig von der gesellschaftlichen Konstitution
der Individuen, d.h. der konkreten Ausbildung ihrer Denk- und Wahrnehmungsstrukturen, nicht zuletzt auch ihrer Sinnlichkeit. An einer Stelle der ökonomischphilosophischen Manuskripte hatte Marx auf die Verkümmerung der Sinnlichkeit und der gesamten Wahrnehmung von Menschen und Dingen unter dem
Diktat des Tauschprinzips und des von ihm bedingten Utilitarismus hingewiesen. Eine Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse lässt darum eine positive
Wandlung der Wahrnehmung erwarten649. Die Formen menschlicher Wahrnehmung und Erkenntnis sind nicht indifferent gegenüber dem Stand gesellschaftlicher Praxis.
Auffallend ist Marxens „große methodische Unbekümmertheit“ in der Religionskritik650. Sie ignoriert weitgehend den sonst sorgfältiger gewahrten heuristischen Charakter des historischen Materialismus: Marx verzichtet gerade darauf,
aus dem Fluss der Erscheinungen ein überzeitliches Wesen herauszupräparieren.
So ist auch der Primat der Ökonomie keine anthropologische Invariante. Dass
nicht das Bewusstsein der Menschen ihr gesellschaftliches Sein, „sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein das Bewußtsein bestimmt 651, ist gewiss eine
erklärungsbedürftige These Marxens und „vielfach als quasi-ontologische, positive Bestimmung seines historischen Materialismus mißverstanden“ worden 652.
Die Kritik einer „Schein-Autonomie des Bewußtseins“653 zielt auf die Abschaf647
MEGA II/6: 110 (MEW 23: 94).
Vgl. MEW 4: 200.
649
Vgl. MEW 40: 540.
650
So Post 1969: 307.
651
MEW 13: 9.
652
Lutz-Bachmann 1988: 127.
653
Post 1969: 233.
648
202
fung eines falschen Vorrangs des Objekts. Kunst, Politik, Recht und Philosophie
sind zwar nicht schlechthin autonome Sphären, bilden aber „durchaus eigenständige, d.h. nicht aufeinander oder auf die Ökonomie reduzierbare Weisen der
geistigen Verarbeitung der gegebenen materiellen Produktion.“654 Diese relative
Selbstständigkeit ermöglicht einen – mitunter geradezu utopischen – Überschuss, der über die gesellschaftlichen Bedingungen erheblich hinausgeht. Nur
nebenbei sei bemerkt, dass damit in der Marxschen Lehre auch ein liberaler Aspekt aufbewahrt ist, der oft übersehen wird. Der Marxsche Materialismus intendiert, wenn man so will, seine Abschaffung, die Herstellung von Verhältnissen,
in denen die Abhängigkeit der Menschen von einer undurchschaubaren Gesellschaft sich auflöst und Freiheit von der Verfassungsgarantie erst zur Verfassungswirklichkeit wird. Adorno hatte diesen Aspekt in seiner Philosophischen
Terminologie pointiert: „Wenn die materiellen Bedingungen der Menschheit zu
sich selbst kommen, das heißt, wenn die Reproduktion der Gattung Mensch und
die Befriedigung der Bedürfnisse der Menschen von dem Tauschwert, von dem
Profitmotiv endlich einmal befreit werden, dann wird die Menschheit aufhören,
unter dem materiellen Zwang zu existieren; die Erfüllung des Materialismus
wird zugleich das Ende des Materialismus sein.“655 Für Marx ist dies nicht die
Befreiung des Menschen von seiner Endlichkeit, Bedürftigkeit und Vulnerabilität. Anders als manche Interpreten meinen, steht Marx nicht in einer säkularisierten Tradition der Heilsgeschichte. Auch das erhoffte und mögliche Reich der
Freiheit, in welchem die Menschheit aus ihrer bisherigen „Vorgeschichte“ endlich heraustritt656, trägt noch die Narben der Vergangenheit. Wichtig in in diesem Zusammenhang ist eine Stelle am Ende des dritten Bands des Kapital:
„Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt also der Natur der Sache nach jenseits
der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion. Wie der Wilde mit der Natur ringen
muß, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, um sein Leben zu erhalten und zu reproduzieren, so muß es der Zivilisierte, und er muß es in allen Gesellschaftsformen und unter allen
möglichen Produktionsweisen. Mit seiner Entwicklung erweitert sich dies Reich der Naturnotwendigkeit, weil die Bedürfnisse; aber zugleich erweitern sich die Produktivkräfte,
die diese befriedigen. Die Freiheit in diesem Gebiet kann nur darin bestehn, daß der vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Na654
Lutz-Bachmann 1988: 128.
Adorno 1974: 277.
656
MEW 13: 9. Mit dem Begriff der ‘Vorgeschichte’ ist nicht die archäologisch rekonstruierbare Frühgeschichte
der Menschen gemeint, sondern der Befund, dass Geschichte nach wie vor den Menschen als etwas Fremdes,
als Naturmacht, gegenübertritt, obwohl sie doch von ihnen selbst hervorgebracht wurde. Geschichte und Gesellschaft sind ‚zweite Natur‘, aber noch nicht das Reich der Freiheit. „Für Marx“, schreibt Heinz Dieter Kittsteiner, „hat die eigentlich große Zäsur in der Geschichte der Menschheit noch gar nicht stattgefunden; sie
wird identifiziert mit dem Übergang von einer unbewußt-naturwüchsigen Zeit des Kapitalismus zu einer
planbaren historischen Zeit im erreichten Endzustand des geschichtlichen Prozesses.“ (Kittsteiner 1998: 120;
vgl. auch Schmidt 1962: 33f).
655
203
tur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als von
einer blinden Macht beherrscht zu werden; ihn mit dem geringsten Kraftaufwand und unter
den ihrer menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen vollziehn. Aber
es bleibt dies immer ein Reich der Notwendigkeit. Jenseits desselben beginnt die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der Freiheit, das
aber nur auf jenem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis aufblühn kann. Die Verkürzung des Arbeitstags ist die Grundbedingung.“657
Die Reduzierung der Arbeitszeit bleibt für Marx ein wichtiges Merkmal des
Reichs der Freiheit; eine Einsicht, die aller Fetschisierung der Arbeit widerspricht658, aber auch der Vorstellung, hier werde ein irdischer Himmel versprochen. Die Reduzierung des Arbeitstages, die vernüftige Einrichtung der Produktion unter der freien Assoziation der Produzenten ist nicht schon die erlöste
Menschheit. Die utopische Emphase von 1844, wo Marx den Kommunismus
„als die wahrhafte Auflösung des Widerstreits des Menschen mit der Natur“ und
als „das aufgelöste Räthsel der Geschichte“ bezeichnete659, ist einer gewissen
Ernüchterung gewichen und konzediert eine bleibende Nichtidentität von
Mensch und Natur. Es ist also unzutreffend, wenn Karl Löwith, dessen Urteil
nicht wenige Theologen folgten, den historischen Materialismus als „Heilsgeschichte in der Sprache der Nationalökonomie“ bezeichnet und als sein Ziel die
eher idealistische „Einheit von Vernunft und Wirklichkeit“ ansieht660. Die emphatischen Formulierungen des Kommunistischen Manifests (1848) sind weniger
heilsgeschichtlich oder eschatologisch zu deuten, sondern als Erwartung der
zum damaligen Zeitpunkt keineswegs unrealistischen Revolution. Im Kapital
weicht der Überschwang nüchternen Analysen. Das Reich der Notwendigkeit
wird nicht verschwinden, die Menschen müssen auch weiterhin ihre Bedürnisse
durch Produktion von Gütern und Dienstleistungen befriedigen. Eine ungebrochene Einheit von Vernunft und Wirklichkeit wird nicht verheißen, gerade darin
stimmt, auch hier ist Löwith zu korrigieren, Marx keineswegs mit der Hegelschen Geschichtsphilosophie überein661; sondern weist eher eine Nähe zu den
geschichtsphilosophischen Überlegungen Kants auf:
„Entgegen der Hegelschen Geschichtsinterpretation hat die Geschichte für Marx und Kant
‚an sich‘ keinen Sinn. Doch gilt dies nur solange, als die handelnden Menschen der Geschichte nicht selbst Sinn, Zweck und Inhalt geben, den sie praktisch bewähren müssen.“662
657
658
659
660
661
662
MEW 25, 828.
Vgl. auch Marxes Kritik des Gothaer Programms = MEW 19: 13-32.
MEGA I/2: 389 (MEW 40: 536).
Löwith 1990: 48 und 52.
Vgl. ebd.: 54; kritisch zu Löwith auch Schmidt 1962: 114 und 171f, Anm. 21.
Matthias Lutz-Bachmann: Marx und Kant. Geschichtsphilosophische Analogien in ihrem Denken = Schweppenhäuser/zu Klampen/Johannes 1987: 77-89, hier: 86; vgl. auch Eagleton 2012: 83-129. Das schließt, wie
Heinz Dieter Kittsteiner zeigte, teleologische ‚Restbestände‘ bei Marx nicht aus; vgl. Kittseiner 1998: 127f.
204
Jede heilsgeschichtliche oder ontologische Garantie eine Sinnes der Geschichte
als versöhnter Totalität oder als Einheit von Vernunft und Wirklichkeit ist damit
ausgeschlossen. Der Gedanke einer säkularisierten Heilsgeschichte, wie er von
Löwith formuliert wird, ist für Theologen wohl deshalb besonders verlockend,
da er dem Christentum gleichsam die Urherberrechte für heilsgeschichtliche
Spekulationen zuspricht, während die moderne säkulare Geschichtsphilosophie
sich diese bloß anmaßt. Anstelle einer Beerbung der Religion durch Emanzipation reklamiert die christliche Theologie als legitimer Inhaber der ‚Copyrights‘
die Heilsgeschichte für sich, wobei übersehen wird, dass Marx sie ihr getrost
überlassen hätte. Andererseits, und dies mochte Löwith zu seiner These bewogen haben, gibt es keine Utopie, die nicht ihre ‚regulative Idee‘ in eben jenem
aufgelösten Rätsel der Geschichte hätte, einer Geschichte, die sich dem kritischen Blick als prekäre Einheit von Determinismus und Freiheit darbietet. Die
Marxsche Theorie lässt sich also nicht nur als eine gewichtige Kritik des ‚Kapitalismus als Religion‘ lesen663; sondern ihre Geschichtsphilosophie ist mit der
Perspektive einer messianischen Erlösung, wie Matthias Lutz-Bachmann vorsichtig andeutet, „nicht unvereinbar“, denn, so heißt es weiter, „ die von ihr geforderte praktische Antizipation von deren vollem, ausstehenden Gehalt veranlaßt die Handelnden durchaus zu einer universalistischen Praxis, die sich der
Aufhebung von Unfreiheit, Ausbeutung und Entfremdung sowie den Postulaten
von Freiheit, Gleichheit und Solidarität verpflichtet weiß“664. Bleibt die messiansiche Perspektive nur Idee im regulativen Gebrauch, so ist alle Hoffnung letzten Endes Trug. Es gäbe für die unendlichen Opfer der Geschichte – man denke
an Walter Benjamins Rede vom ‚Anspruch der Vergangenheit‘ an uns 665 – in
Wahhreit keine Hoffnung und alle Praxis bliebe vergeblicher Protest gegen den
Weltlauf; wird sie aber im Sinne einer säkularisierten Heilsgeschichte durch einen gesetzmäßigen Gang verbürgt oder gar mit einem bereits erreichten Stand
identifiziert, so schlägt die regulative Idee um in Ideologie und neuen Zwang.
In der Religionskritik sind Marx freilich alle Differenzierungen fremd; zuweilen
fällt er in eine Sprache, die auf die bisherigen Präzisierungen wenig Rücksicht
nimmt und die theologische Rezeption zu ontologischen Missverständnissen
verleitete. Wie stark für Marx Religion eben doch nur der bornierte Ausdruck
der bornierten Verhältnisse ist, zeigt die Erwartung, dass in einer wahrhaft
663
664
665
Vgl. Christoph Türcke: Über die theologischen Wurzen der Marxschen Kritik = Schweppenhäuser/zu Klampen/Johannes 1987: 22-36.
Matthias Lutz-Bachmann: Marx und Kant. Geschichtsphilosophische Analogien in ihrem Denken = Schweppenhäuser/zu Klampen/Johannes 1987: 77-891, hier: 87.
Vgl. Benjamin 2010: 94.
205
emanzipierten Gesellschaft Religion absterbe. Diese These hält aber schon einer
immanenten Kritik kaum stand, wie Alfred Schmidt betont:
„Solange die wirklich menschliche Ordnung noch nicht hergestellt ist, bewahrt das Christentum namentlich in Gestalt der negativen Theologie, indem es darauf verweist, daß das
letzte Wort über das Schicksal der Menschen noch nicht gesprochen ist, in welch mystifizierter Form auch immer, das Gedächtnis daran, daß das menschliche Wesen in seinen bisherigen historischen Erscheinungen nicht sich erschöpft.“666
Die Aufhebung der Ideologie – auch der religösen – als verkehrte Welt oder
Bild der camera obscura kann, worauf Sarah Kofman mit Recht verwiesen hatte, in letzter Instanz nicht die Wissenschaft, sondern nur die veränderte Praxis
bewirken. „Die Camera obscura wird niemals von einer Camera lucida abgelöst“667 Eben darum ist über die Religion noch kein abschließendes Urteil möglich, d..h. ihre Wahrheit oder Unwahrheit enthüllt sich unverstellt erst einer Zeit,
in der die Menschen einer Vetröstung nicht mehr bedürfen. Im Grunde bedient
sich Marxes Religionskritk der von ihm verachteten metaphysischen Sprache.
Gegen Marxens vorschnelle Prognose hatte Henri de Lubac umgekehrt festgestellt, dass „die wachsende Entwurzelung, das Kennzeichen proletarischer Zustände“ im Begriff sei, „das Interesse an der Religion zu erwürgen“668. In diesem
Zusammenhang stellt de Lubac eine beachtenswerte These auf: „Die Abschaffung des Proletariats wird Gott den Menschen nicht automatisch zurückgeben;
aber sie ist gewissermaßen Voraussetzung dafür, daß Gott ihm zurückgegeben
werden kann.“669 In der Tat fragt es sich, ob in der einstigen Sche’ol der Fabriken und und in der abstrakten Funktionalität heutiger Arbeitsverhältnisse Religion eine Zukunft habe – ihre derzeitige von Theologen vorschnell gefeierte
‚Rückkehr‘ stellt sich in ihrer kulturindustriellen und fundamentalistischen Gestalt doch eher als Fratze und Gespenst dar, welche geeigent ist, die gesamte Religionskritik von der Frühaufklärung bis in die Gegenwart zu bestätigen670.
Wirkungsgeschichtlich hat das Marxsche Verdikt über Religion eine höchst ungute Rolle gespielt in der Religionspolitik der realsozialistischen Staaten, die
freilich nicht umstandslos aus der Marxschen Religionskritik abgeleitet werden
darf. Als verhängnisvoll erweist sich jedoch der Umstand, dass auch Marx, darin
Feuerbach ähnelnd, „unhinterfragt ein Religionsverständnis voraussetzt, das in
Hegels Identitätsphilosophie seinen Ursprung hat“671. Im Unterschied zu Hegel
befasste Marx sich jedoch kaum mit der Religionsgeschichte. Die herrschafts666
Schmidt 1962: 121f.
Kofman 2014: 32-35, hier: 33.
668
Lubac 1992: 148.
669
Ebd.
670
Vgl. hierzu Buchholz 2011.
671
Kern 1992: 337.
667
206
und sozialkritischen Tendenzen der biblischen Tradition sind Marx entweder
gänzlich unbekannt oder werden von ihm bewusst ignoriert. Der eklatante Mangel an historischen Argumenten ist später sehr wohl erkannt worden. Religion ist
doch mehr als nur der ‚Geist geistloser Zustände‘; sie enthielt auch herrschaftskritische Elemente, welche in einem emanzipatorischen Interesse zu beerben
waren. Bereits Marx hatte, wie erinnerlich, der Religion bescheinigt, nicht nur
Ausdruck, sondern auch ‚Protest gegen das wirkliche Elend‘ zu sein. Anders
jedoch als Marx und manche heutigen Vertreter des ‚neuen Atheismus‘ hatte
Engels ein reges Interesse an Fragen der Bibelkritik und der religionsgeschichtlichen Entwicklungen, freilich ohne die frühere Religionskritik abzuschwächen
oder gar zu widerrufen672. Er widmete 1894 in seiner Schrift Zur Geschichte des
Urchristentums dem „Seufzer der bedrängten Kreatur“ mehr Aufmerksamkeit
und bescheinigte ihm einen überschüssigen, die bloße Verklärung des irdischen
Elends überschreitenden Zug. Es waren, anders als in der damaligen Exegese,
vor allem die proletarischen Anfänge und nonkonformistischen Elemente des
frühen Christentums, die apokalyptisch gefärbten Texte mit ihrer ‚GegenGeschichte‘ und nicht zuletzt der so genannte ‚urchristliche Kommunismus‘, die
das besondere Interesse Engels‘ auf sich zogen; ja Engels erklärte gar, die „Geschichte des Urchristentums bietet merkwürdige Berührungspunkte mit der modernen Arbeiterbewegung. Wie diese, war das Christentum im Ursprung eine
Bewegung Unterdrückter: es trat zuerst auf als Religion der Sklaven und Freigelassenen, der Armen und Rechtlosen, der von Rom unterjochten oder zersprengten Völker. …In der Tat, der Kampf gegen eine anfangs übermächtige Welt und
der gleichzeitige Kampf der Neuerer untereinander, ist beiden gemeinsam, den
Urchristen wie den Sozialisten. Beide große Bewegungen sind nicht von Führern und Propheten gemacht – obwohl Propheten genug bei beiden vorkommen
–, sie sind Massenbewegungen.“673 Engels widerspricht hier der Idee des ‚Religionsstifters‘, als wären einzelne Personen in der Lage, eine ganze Bewegung
ins Leben zu rufen. Diese entstehen auf der Basis objektiver gesellschaftlicher
Bedingungen, und es bedarf lediglich einer charismatischen Figur oder einer
Lehre, welcher es gelingt, diese Bedingungen über einen Kreis von Intellektuellen hinaus transparent zu machen. Ersteres träfe nach Engels auf das frühe
Christentum zu, letzteres auf den Marxismus und die Arbeiterbewegung. Ähnlich urteilte 1895 Karl Kautsky im ersten Teilband seiner Vorläufer des neueren
Sozialismus. Allerdings unterschied sich nach Kautsky der ‚urchristliche Kommunismus‘ vom modernen schon dadurch, dass er – entsprechend dem damali672
673
Vgl. Mayer 1934b: 321f.
MEW 22: 449 und 460.
207
gen Stand der Produktion – „Privateigenthum und Kommunismus miteinander“
vereinigte: Man beließ es beim Privateigentum an Produktionsmitteln und forderte „blos den Kommunismus des Genießens und Gebrauchens“674. Auch das
frühe Christentum konnte nicht einfach die ökonomischen Bedingungen seiner
Zeit ignorieren; zugleich aber fehlt ihm jede Fetischierung der Arbeit, wie sie
das moderne Bürgertum kennt und die von Teilen der Sozialdemokratie übernommen wurde. Was Kautsky in der früheren Schrift nur grob umrissen hatte,
gewann in der Monographie Ursprung des Christentums (1908) deutlichere
Konturen. Ausführlich werden die gesellschaftlichen, kulturellen und religiösen
Bedingungen des frühen Christentums dargestellt, um erst im letzten Kapitel
sich der urchristlichen Gemeinde und der Verkündigung Jesu zuzuwenden 675.
Dass im Zentrum seiner Predigt die zeitliche Nähe des Gottesreiches stand (Mk
1,15), das im Gegensatz zu Harnacks Deutung nicht spiritualisiert werden darf,
stand für Kautsky ebenso außer Zweifel wie der (später notdürftig übermalte)
rebellische, ja revolutionäre Charakter seiner Lehre, die schließlich auch zu seiner Hinrichtung führte 676 . Die oft ins Heterodoxe verdrängte nonkonformistische, rebellische Seite des Christentums interessierte Kautsky auch über die religionsgeschichtlichen Ursprünge hinaus bis hin zu den Wiedertäufern und
Thomas More677. Wenn später Ernst Bloch im Rückblick die allzu schematische
Anwendung marxistischer Kategorien in Kautskys Schriften mit Recht rügt678,
so ist doch nicht zu übersehen, dass auch Engels und Kautsky sich als ‚Erben‘
zumindest der kritischen Traditionen des Frühjudentums und des frühen Christentums sahen, ein Aspekt, der auf Blochs Projekt der Beerbung der Religion
vorausweist.
c) Atheismus im Christentum? Ernst Blochs Strategien der Beerbung religiöser Traditionen. Indessen führt kein gerader Weg von Engels und Kautsky
zu Ernst Blochs Geist der Utopie und zum Prinzip Hoffnung. Nicht nur war
Blochs anspruchsvolles Projekt breiter angelegt, es war, im Unterschied zu den
marxistischen ‚Klassikern‘, von Anfang an auch zu messianischen und mystischen Motiven vermittelt. So gehörten zu Blochs Gewährsleuten sowohl Autoren der Romantik wie Baader und der späte Schelling, als auch eher unorthodoxe Sozialisten wie der frühe Georg Lukács, Martin Buber und Gustav Landauer,
674
675
676
677
678
Kautsky 1895: 21-39, hier: 26.
Kautsky 1908: 338-493. Zum Thema Christentum und Sozialdemokratie äußert sich Kautsky, Gedanken
Friedrich Engelsʼ aufgreifend, am Schluss des Buches, vgl. ebd.: 493-508.
Vgl. ebd.: 374-392.
Vgl. Kautsky 1895: 239-436; 437-511; ders. 1907.
Vgl. Bloch 1972: 387-389; ders. 1970: 28-30.
208
dem die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft 679 ebenso
suspekt blieb wie der Technik- und Fortschrittsglaube der Sozialdemokratie seiner Zeit680. Über diese verschlungenen Pfade und nicht etwa über frühe religiöse
Sozialisation gelangte Bloch zum jüdischen Messianismus. Nicht nur Bloch entdeckte „le messianisme et la mystique juive par la médiation d’un Baader, d’un
Schlegel ou d’un Molitor“, und diese Umwege kennzeichnen, wie Michael Löwy schreibt, das Denken vieler jüdischer Intellektueller, „issue de familles entièrement assimilées“ 681 . Auf die assimilierten Elternhäuser reagierten Autoren
wie Gershom Scholem, Walter Benjamin oder Ernst Bloch mit Ablehnung und
Kritik, doch hatte biographisch und philosophisch diese Kritik unterschiedliche
Konsequenzen. Während Scholem sich bewusst dem Judentum und seiner Geschichte zuwandte, inspirierten die eher diffusen religiösen Motive bei Bloch
eine Philosophie der Hoffnung, die aus unterschiedlichen Quellen schöpfte und
1918 in der ersten Fassung seines Buches Geist der Utopie ihren das gesamte
spätere Werk prägenden Ausdruck fand:
„Denn das, was ist, kann nicht wahr sein, aber es will durch die Menschen zur Heimkehr
gelangen. Was also darin wirkt und arbeitet, fortarbeitet, nach dem Grundsatz aller kategorialen Anwendung und transzendentalen Beziehung: ‚begonnen ist der Weg, vollende die
Reise!‘, ist nicht mehr die Frage, was die Dinge im jeweils Gegenwärtigen seien, in ihrer
empirischen Verhaltungsregel und deren einzelwissenschaftlicher Kodifizierung, sondern
es ist, anders betont, und mit dem nicht Entsagenwollen religiöser Art, die Frage, was die
Dinge, Menschen und Werke in Wahrheit seien, nach dem Stern ihres utopischen Schicksals, ihrer utopischen Wirklichkeit gesehen.“682
Hatte nach der marxistischen Wendung Blochs – die auch eine Antwort war auf
den schon im Utopie-Buch konstatierten Konkurs der bürgerlich-liberalen Ära
im I. Weltkrieg683 und den Aufstieg der extremen Rechten – das Utopie-Buch in
der Fassung von 1923 eine nicht unerhebliche Überarbeitung erfahren, so blieb
er doch den hier ausgedrückten Motiven mehr oder weniger treu 684. Er sammelt
schon in seinem frühen Utopie-Buch wie später im opus magnum die verstreuten Hinweise auf eine erfüllende Zukunft ein wie die heiligen Funken in der
679
680
681
682
683
684
Französischer Text (1880) in MEGA I/27: 545-580; deutscher Text (1882) in MEGA I/27: 583-627 (MEW
19: 177-228); zur Entstehung und Überlieferung siehe den Apparatband, 1307-1341.
Vgl. Landauer 1919: 129-139. vgl. auch den Nachruf Margarete Susmans, in: dies. 1992: 129-139.
Löwy 1988: 179; vgl. auch Habermas 1969: 336-351, hier: 342-344. Dieses Unterkapitel ist die gekürzte und
überarbeitete Fassung von Buchholz 2014.
Bloch 1971: 338f.
Vgl. ebd.: 9.
Theodor W. Adorno, der den Geist der Utopie 1921 mit siebzehn Jahren las, nannte mit Recht das Buch
„Blochs erstes und alles Spätere tragendes“; es sei „eine einzige Revolte gegen die Versagung, die im Denken, bis in seinen pur formalen Charakter hinein, sich verlängert. Dies Motiv, allem theoretischen Inhalt vorausgehend, habe ich mir so sehr zugeeignet, daß ich meine, nie etwas geschrieben zu haben, was seiner
nicht, latent oder offen, gedächte.“ (ders. GS 11: 557) Vgl. auch Schweppenhäuser 1986: 206-221.
209
lurianischen Kabbala685. „Wir müssen“, schreibt 1919 Margarete Susman in ihrer Rezension des Werkes, „darauf hinleben, daß die Welt für die messianische
Tat reif werde. Wir müssen trachten, alles in uns mitzunehmen, überall auf
Wahrheit drängen, nichts darf uns zu gering sein, es zu begreifen und mit emporzuführen; und da alles in der Zeit ist, kommt uns auch alles hier entgegen.
‚Jedes Ding hat seinen utopischen Stern im Blut‘“686 Susman bezeichnet hier ein
Motiv, das über das Frühwerk hinaus noch das Prinzip Hoffnung beseelt. Was
Susman eine „treibende, reißende, rufende Kraft ohnegleichen“ nennt, die sich
nach Bloch „durch die Welt“ bewege 687 , deutet für einen anderen Leser der
Schriften Blochs, Gershom Scholem, auf eine apokalyptisch-messianisch gefärbte Mystik. Kabbalistische Texte und Vorstellungen waren, wie nicht erst der
Schluss von Geist der Utopie zeigt, Bloch – wenn auch keineswegs aus erster
Hand – vertraut688. Sie spielen zusammen mit den messianischen, wie Scholem
zeigte, vom Frühwerk Blochs bis zu den marxistisch geprägten späteren Schriften teils offen teils subkutan eine nicht zu unterschätzende Rolle 689. Seit der ersten Fassung vom Geist der Utopie (1918) schenkten Scholem und Benjamin den
Publikationen Blochs ihre Aufmerksamkeit und kommentierten sie kritisch 690.
Der junge Bloch war, so Scholem, „ein das Barocke nicht scheuender Stürmer in
die Apokalypse und in die Vision“ und der Geist der Utopie „war ein überwältigender Einbruch der Mystik in die philosophische Weide, mit der Bloch deren
Hüter ansprang“691. Wie schon angedeutet, ist für den späteren Bloch diese Phase nicht einfach abgetan, sie wird aber in das marxistische Denken auf unorthodoxe Weise integriert. Mit Scholem mag man zweifeln, ob die religiöse Valenz
der Begriffe und Vorstellungen vollständig auch in einen nicht doktrinär verhärteten Marxismus übersetzt werden kann; Bloch war offenbar von der Realisierbarkeit dieses Projekts überzeugt. Ähnlich wie bei Benjamin muss auch nach
Bloch der emanzipatorische, durchaus aufklärerische Gehalt religiöser und ästhetischer Bilder der reaktionären, auf Betäubung und Rausch zielenden Instrumentalisierung abgerungen werden. Kunst692 und Religion mögen Schein sein,
685
686
687
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692
Zur lurianischen Kabbala vgl. Scholem 1957: 267-314.
Susman 1992: 22-30, hier: 25f.
Ebd., 26. – Zu Susmans Beziehung zu Bloch vgl. Klapheck 2014: 193-198.
Bloch 1971: 444f
Vgl. Gershom Scholem, Wohnt Gott im Herzen eines Atheisten? Zu Ernst Blochs 90. Geburtstag, in: Der
Spiegel, Heft 29 vom 28. Juli 1975, 110-114; Auszüge in Scholem 1999: 379f, Anm. 4 und 7. Die englische
Übersetzung findet sich in Scholem 1997: 216-223; vgl. Löwy 1988: 179-183.
Vgl. schon Walter Benjamins Brief an Gershom Scholem vom 15. September 1919, in: ders. 1996: 43-45.
Scholem 1999: 379 / engl.: Scholem 1997: 217f. „Die elaborierte marxistische Montage seines zweiten Werkes [des Prinzip Hoffnung, R.B.]”, heißt es an anderer Stelle, „steht in schlechtverhohlenem Widerstreit zu
der mystischen Inspiration, der Blochs beste Einsichten im wesentlichen verpflichtet sind und die er durch
einen wahren Dschungel marxistischer Rhapsodien nicht ohne Mut hindurchgerettet hat.“ (Scholem 1963:
13, Anm. 1).
Vgl. Bloch 1959: 242-258
210
so sind sie doch Vorschein eines Anderen, Besseren. Das Substrat der Kunst
(und ähnliches ließe sich auch von der Religion sagen) ist „utopischer Natur und
kein anderer als der utopisch konkrete Begriff wird ihr gerecht; die Kunst ist
durchaus nicht nur Ideologie der jeweils herrschenden Klasse oder gar ihre propagandistische Magd“693. Dass sich im Schein das Scheinlose verspricht, wie
Adorno in der Negativen Dialektik schrieb694, wird für Bloch weit über das Versprechen hinaus zur Gewissheit. Nicht zu erschüttern blieb sein Vertrauen in den
„wirklichen Gang der Dinge“: dass er nämlich doch noch „gut zu werden verspricht“695
Blochs Spurensuche reicht freilich noch weiter: von den Hoffnungsgestalten der Musik,
das „Hellhören“, das bereits im Geist der Utopie einen breiten Raum einnimmt 696 , über
Kunst, Literatur, die religiösen, mystischen,
philosophisch-rationalistischen und nicht zuletzt die politischen Emanzipationsbestrebungen bis zur Dynamik der Materie, die ihm weder bloß mechanisch klappernde Bewegung
ist, noch reine Passivität, sondern „ebenso der
Schoß wie der unerledigte Horizont ihrer Gestalten“697. Materie ist auf der Seite der PotenErnst Bloch (1875-1977)
tialität niemals nur leere, abstrakte Möglichkeit; sie ist „unvollendete Entelechie“ oder „Materie nach vorwärts“ 698 . Die
Terminologie verweist schon auf Blochs Sympathien für die von ihm so genannte „aristotelische Linke“ wie Avicenna oder Averroes und den dynamischen Materiebegriff eines Ibn Gabirol699. Nicht dem mechanischen Materialismus des 18.
Jahrhunderts oder dem Büchnerschen Materialismus des 19. Jahrhunderts 700
dämmerten diese entscheidenden Aspekte, sondern dem Idealismus Schellings.
Materie – wie Natur insgesamt – entfaltet nach Bloch ihr Potential nicht in einem subjektfreien Automatismus, sondern erst im Prozess bewusster menschlicher Praxis701. Nur in diesem Sinne kann Bloch sagen, „die Weltmaterie ist selber noch nicht abgeschlossen, befindet sich in utopisch-offenem, das heißt, noch
693
694
695
696
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698
699
700
701
Bloch 1970: 101.
Vgl. Adorno GS 6: 397.
Bloch 2000: 170.
Vgl. Bloch 1971: 79-234, hier; 233.
Bloch 1972: 469; 1959: 271.
Bloch 1972:, 470-478; PH, , 1970: 202-209; 1959: 802-813, zweites Zitat: Bloch 1959: 241.
Vgl. Bloch 1972: 470-546.
Vgl. hierzu Bayertz/Gerhard /Jaeschke 2007a.
Vgl. Bloch 2000: 235.
211
nicht selbstidentisch manifestiertem Stand“702. Trotz dieser an den bereits näher
erläuterten nicht-onto-logischen Materialismus Marxens gemahnenden These ist
das spekulative Moment unübersehbar, so dass Jürgen Habermas zutreffend
Bloch einen „marxistischen Schelling“ nannte703, und in der Tat erhalten sich bis
in letzten Schriften Blochs hinein Motive Schellings und der Romantik, die
Georg Lukács in seinem späten Werk Die Zerstörung der Vernunft orthodoxmarxistisch pauschal der Reaktion und dem Irrationalismus zuwies704. Bloch
mied derart klare Fronten in der Philosophiegeschichte, die vielleicht die Zensurbehörden, nicht aber den autonomen Gedanken zufriedenstellen mochten,
und erkannte im Denken dieser ‚Reaktionäre‘ ein subversives Hoffnungspotential, das es präzise herauszuarbeiten galt.
Blochs Interesse an den unausgeschöpften Bildern und Wünschen nicht nur der
Religion ist abzugrenzen von der Archetypenlehre eines Carl Gustav Jung.
Scharf wandte sich Bloch – darin einig mit Walter Benjamin – gegen Jungs Archaisierung von Geschichte, Religion und Kultur. Über Jung, der das Unbewußte Freuds auf der ganzen Linie generalisiert und archaisiert“ hat705, leert Bloch
die Schalen seines Zorns. Wenn irgend Bloch dem Vorwurf des Irrationalismus
uneingeschränkt zustimmte, dann im Falle Jungs. Der antirationalistische Affekt, die „‘heilig dunkle Urnacht‘, gefüllt mit Blutschein und Bildorgie“, das
affirmative Verhältnis zum „Archaisch-Kollektiven“706, weist in Blochs keineswegs unbegründeter Deutung auf die Nähe zu zeitgenössischen autoritären Ideologien, Bloch kennt durchaus „Archetypen, die nicht im Abgrund hausen“; während aber „der faschistisch-mystifizierende Jung“ 707 sie in eine schicksalhafte
Vergangenheit projiziert, versucht Bloch deren Hoffnungsgehalt transparent zu
machen. Geschichte und Vorgeschichte generierten ein großes Reservoir an Bildern, die bis heute zu uns sprechen und darauf warten, gedeutet zu werden. Ihre
Deutung bezieht sich aber nicht auf in ihnen angeblich enthaltene zeitlose kollektive Strukturen, welche die Geschichte verzaubern oder vielmehr den Bann,
der auf ihr liegt, verstärken, sondern umgekehrt auf ein Erwachen. Es sind
„nicht nur archetypische Bilder immer wieder neu der Geschichte entsprungen
(man denke an den Tanz auf den Trümmern der Bastille), sondern auch die
wirklich alten zeigen oft mitten im Mythischen einen völlig hellen, drängend702
703
704
705
706
707
Bloch 1970: 102.
Vgl. Habermas 1969: 344-347; Gershom Scholem nennt das Prinzip Hoffnung paradox eine „Theosophie des
Bolschewismus“ (Scholem 1999: 379).
Vgl. Lukács 1962, zu Schelling ebd.: 114-172. Die frühen Schriften Lukács‘wiesen durchaus Einflüsse der
später als irrationalistisch verfemten Autoren auf; vgl. auch die harsche Kritik Theodor W. Adornos an Georg
Lukács: Adorno GS 11: 251-280, bes. 251f.
Bloch 1959: 69; vgl. 1962a: 344-351.
Bloch 1959: 70.
Ebd.: 197 und 70.
212
utopischen Sinn (man denke an die verklärte Erinnerung: goldenes Zeitalter, als
verschüttetes oder aber von der Zukunft noch zukommendes gedacht). Letztere
Art Archetypen ist an sich schon deutlich utopisch …Eine große Zahl anderer
verkapselter Archetypen ….muß auf ihren Utopischen Gehalt gleichsam erst
aufgeknackt werden.“708 Während Walter Benjamin gegen Jung seine Theorie
des dialektischen Bildes pointierte709, überprüft Bloch die Bilder des Vergangenen auf ihr nicht ausgeschöpftes Potential: Das unerfüllte Imperfekt erheischt
ein es erfüllendes Futurum. Statt die prekären Zustände auf die Vorgeschichte zu
verweisen, betreibt Bloch eine Spurensuche des Noch-Nicht: „Die Menschen
sind nicht fertig, also auch ihre Vergangenheit nicht. …Die Entdeckung der Zukunft im Vergangenen, das ist Philosophie der Geschichte, also auch der Philosophiegeschichte.“710 – und fügen wir im Sinne Blochs hinzu: der Religionsgeschichte.
Erst in diesem Zusammenhang lässt sich die hohe Bedeutung der Religion für
Bloch angemessen interpretieren. Sie ist, wie schon der Hinweis auf die teleologische Struktur materieller Dynamik zeigt, nicht der einzige Topos der Hoffnung, wohl aber ein besonders ausgezeichneter. 1964 hatte Bloch, schon im
Rückblick auf sein Werk, in einem Interview mit Jürgen Rühle betont, Religion
sei „der stärkste Protuberanzenausbruch von Hoffnung und war es immer, mit
vielen Optativen, mit viel Wunschträumen, Wunschzeiten, Wunschräumen, die
Platz hatten“711. So heißt es auch in seiner Studie Atheismus im Christentum:
„Wo Hoffnung ist, ist auch Religion; nicht gilt freilich, in Ansehung der von
Himmel und Obrigkeit verhängten Religion, die Umkehrung: Wo Religion ist,
ist auch Hoffnung.“712 Die wichtige Einschränkung dieser „Exodus-Losung“713
macht deutlich, dass Bloch die Religionskritik von der Aufklärung bis zu Feuerbach und Marx nicht einfach revoziert. Der Verdacht, Religion diene der Vertröstung der unmündigen Massen, findet vielfach Nahrung. Aber dies ist nicht
das letzte Wort; Religion verdient vielmehr eine über Marx hinausgehende potenzierte Kritik: Die Aufgabe besteht darin, das auch von Marx übersehene aufklärerischere Potenzial der biblischen und nachbiblischen Traditionen herauszuarbeiten – eben „jenen Schatz der Bibel, der nicht von Rost und Motten, am wenigsten vom Lessinglicht der Aufklärung gefressen worden ist“714 – und gegen
708
709
710
711
712
713
714
Bloch 1970: 99f.
Vgl. Tiedemann 2002: 163f; Buchholz 2003: 170f
Bloch 1962b: 517.
Bloch 1978: 347.
Bloch 1968: 23; 1978: 347, dort ohne den kritischen zweiten Teil des Zitats und dem Prinzip Hoffnung zugeschrieben.
Bloch 1968: 23.
Ebd.
213
die konformistische Lesart zu pointieren, was Blochs Aufmerksamkeit wie
schon im Utopie-Buch auch auf heterodoxe Autoren lenkt715.
Dass „der Blick nach vornhin den Blick nach Oben“ ablöst716, ist ein Prozess,
der bereits in den biblischen Schriften begann. Sie als bloß ‚faulen Zauber‘ und
‚Opium‘ anzusehen, greift zu kurz; „aller geglaubte Zauber wäre ja unter flachen
Betriebmachern verwunderlicher als der Zauber selbst“, wie Bloch konstatiert717. Etwas in ihnen muss über bloße Jenseits-Vertröstung hinausweisen. Die
Exodus-Tradition, das Murren und Hadern des Volkes mit seinem Gott, die eschatologische Predigt und Praxis Jesu und die „apokalyptische Weltverwandlung“ sind religionsgeschichtlich exzeptionell und konterkarieren eine affirmative Lektüre der Bibel718. Sie weisen, wie die messianische Idee insgesamt, nicht
nach oben, sondern nach vorne in die Zukunft. Dabei konstatiert Bloch auf den
ersten Blick einen geradezu gnostisch anmutenden Dualismus zwischen Schöpfung und Exodus; erstere steht für einen „Herrengott“, letzterer für einen „Äon
ohne Elend und Herrschaft“ und den auf Zukunft ausgerichteten „Gott des
Dornbuschs“719. Schöpfung steht hier für die Festsetzung einer göttlich legitimierten Ordnung und für die scheinbar unaufhebbare ‚Rück-Bindung (re-ligio)‘
alles Seienden an eine transzendente Macht, die immer nur überwältigende und
knechtende Macht ist: Rudolf Ottos mysterium tremendeum et fascinosum 720 .
Demgegenüber ist das Exodus-Motiv darauf angelegt, diese Scheinordnung, die
sich in den Köpfen als unwandelbar festgesetzt hat, zu sprengen, und zwar mit
der Perspektive einer künftigen (innerweltlichen) Vollendung: „Subversive, eschatologische Finalwelle genug, mit unternommenen Exodus, utopisches Reich
am vollen Novum des Ufers.“721
Was zu Beginn der Schrift Atheismus im Christentum programmatisch formuliert wurde, jenes Transzendieren ohne Transzendenz722, hebt im Alten Testament an, erfährt aber einen Kulminationspunkt im Neuen. Die Gestalt Jesu ist
für Bloch über jeden historischen Zweifel an ihrer Existenz erhaben. „Der Stall,
der Zimmermannssohn, der Schwärmer unter kleinen Leuten, der Galgen am
Ende,“ heißt es im Prinzip Hoffnung, „das ist aus geschichtlichem Stoff, nicht
aus dem goldenen, den die Sage liebt.“723 Jesus als Menschensohn und inner715
716
717
718
719
720
721
722
723
Dies schloss auch Autoren wie Marcion ein. Blochs Sympathien für Marcion (vgl. Bloch 1959: 1499f) provozierte mit Grund Kritik; vgl. Brumlik 1992: 90f.
Bloch 1968: 346.
Ebd.: 38.
Bloch 1959: 1504; vgl. 1968: 57f.
Zitate: Bloch 1968: 61 und 24.
Vgl. ebd.: 23; Otto 1936, 13-37, 42-52.
Bloch 1968: 24f.
Ebd.: 23.
Bloch 1959: 1482.
214
weltliche Transzendenz löst den Gottessohn ab. In der Tat ist in Jesus von Nazareth Gott Mensch – respektive Fleisch – geworden, aber so, dass alle Projektionen in eine dinglich-überweltliche Transzendenz der menschlichen Geschichte
zurückerstattet werden. Die von der Priesterschrift festgehaltene Gottebenbildlichkeit des Menschen wird in der Menschensohn-Idee (einschließlich der Bilderwelt von Auferstehung und Himmelfahrt) in ihre Wahrheit gesetzt724, indem
der Mensch Züge des transzendenten Gottes als die eigenen, noch unvollendeten
erkennt. Dieses ‚Beerbungsprojekt‘ sieht sich auch als kritische, d.h. nachidealistische Fortsetzung der Hegelschen Religionsphilosophie; sie „betrachtet ihren
Gott nicht als Geist jenseits der Sterne, von außen stoßend, gar als Furchtgötzen
aus der Barbarei. Sondern sie deklariert ihn als Geist in den Geistern, in der Tiefe der menschlich erlangten Subjektivität wohnhaft, statt in einer äußerlichen
Höhe.“725 Die Mediatisierung des Absoluten in den Prozess der menschlichen
Geschichte war nach Spinoza der bedeutendste Akt der Entmythologisierung
des weltjenseitigen Herrschers, vor den der Mensch nur zitternd treten konnte.
Die konservative Kritik der Hegelschen Religionsphilosophie warf ihr bekanntlich pantheistische Tendenzen vor, „während sie doch bedeutend mehr mit der
Menschwerdung Gottes Ernst macht, mit dem, was Feuerbach nachher als
‚Anthropologisierung‘ der Religion vorgetragen hat“ 726 . Blochs Atheismus im
Christentum ist der Versuch, diesen kritischen Anfang fortzuschreiben, ja zu
vollenden, ohne die subversiven Potentiale der Religion zu vergessen. Dass im
religionsphilosophischen Hauptwerk Blochs das Christentum schon im Titel besondere Aufmerksamkeit erhält, hat seinen tieferen Grund, rückte es doch die
Menschwerdung Gottes ins Zentrum seines Bekenntnisses. Der weltjenseitige
Gott wird Mensch, und zwar, in Blochs Deutung, ohne jeden Rest, damit der
Mensch nicht etwa Gott, sondern wahrhaft Mensch werden kann; ein Projekt,
das seine Voraussetzungen bereits im Alten Testament hat und im Neuen weiter
ausgeführt wird. Die späteren dogmatischen Entfaltungen mögen prima facie
dahinter zurückfallen, doch eignet auch ihnen ein utopisches Potential. Bloch
intendiert die Inversion, nicht die abstrakte Negation der orthodoxen Christologie; dies geschieht, indem die Menschwerdung Gottes ‚zu Ende‘ gedacht und die
Differenz der Naturen, wie sie das Chalkedonense festhält, im Geist Feuerbachs
zugunsten der menschlichen Natur aufgelöst wird. Einer ‚Natur‘ allerdings, die
sich selbst noch nicht genügt, nicht sich im biologischen Befund erschöpft, ohne
doch ihrerseits göttliche Attribute zu erhalten. Während bei Feuerbach die ge724
725
726
Vgl. ebd.: 194f.
Bloch 1962b: 317.
Ebd.
215
schichtlich-gesellschaftliche Dynamisierung weitgehend fehlt 727 , ist für Bloch
die Überführung von Theologie / Religion in Anthropologie ein Projekt, das jene
eschatologisch-apokalyptische Dimension einbeziehen muss, welche Teile des
Frühjudentums, die Predigt Jesu und das frühe Christentum prägte728.
Wenig kann Bloch den damals aktuellen Formen dialektischer Theologie abgewinnen: Karl Barths Modell steht für die Konstruktion eines autoritären, heteronomen und ungeschichtlichen Offenbarungsbegriffs, der „gegen alle Humanisierung des Glaubens, gegen alle ‚Sprech- und Denkbewegung der Kreatur‘ das
schlechthin theonome, das den Menschengeist schlechthin negierende Wort Gottes“ setzte729. Für Bloch gehören Offenbarungsbegriff und Anthropologie Barths
zu den autoritären Diskursen des frühen 20. Jahrhunderts. Immerhin weist Bloch
der Theologie Barths gerade die Funktion eines „Antidoton“ zu. Sie hat nämlich
– wenn auch um den Preis ihres despotischen, antiliberalen Charakters – „das
Humanum, das Cur Deus homo, vor der Trivialität geschützt, in das es ein allzu
umgänglicher Liberalismus gebracht hat“730. Barth mobilisiert gegen die liberale
Theologie den nonkonformistischen Zug Kierkegaards und schützt so die christliche Theologie (freilich: indem er sie ins Absurde führt) vor der Akkomodation
an das bürgerliche Selbstbewusstsein und damit vor ihrer Neutralisierung. Dieses kritische Element vermisst Bloch an Rudolf Bultmanns Programm der Entmythologisierung. Sie gibt den zeitlichen Charakter der Eschatologie zugunsten
einer präsentischen preis. In seiner Kritik aller objektivierenden – eben mythischen – Rede von Transzendenz entgeht Bultmann der rebellische Charakter
mythischer Sprache im Neuen Testament, und so wird gleichsam das Kind mit
dem Bade ausgeschüttet. Eschatologie ist Bultmann nicht etwa das Kommende,
die Öffnung auf Zukunft hin, sondern die Gegenwart als Augenblick der Entscheidung, in welchem der Glaubende der Welt entnommen ist. So holt er das
Eschaton „aus dem historisch-kosmischen Sprengraum und dem Christus, der so
hochexplosiv darin eingelassen ist, gleichfalls in die einsame Seele und ihren
Bürgergott zurück“731. Der Radikalismus existenzialer Interpretation des Neuen
Testaments – von Bloch „individualistische Heideggerei“ genannt – unterscheidet sich im Ergebnis nicht sonderlich von der Exegese der liberalen Väter. Es
bleibt die Frage, ob Bultmanns „‘Entweltlichung‘ bei Belassung höchst unchrist-
727
728
729
730
731
Vgl. Bloch 1968: 282 und 281.
Vgl. hierzu auch Moltmann 1966: 313-317.
Bloch 1962b: 316; vgl. 1968: 72-86.
Bloch 1959: 1405.
Bloch 1968: 70. – Es ist verwunderlich, dass selbst ein kritischer Geist wie Herbert Schnädelbach noch jenem existentialistischen Glaubensbegriff verhaftet ist (vgl. Schnädelbach 2011: 236-240).
216
licher Weltzustände nicht zum Schlupfwinkel, auch Alibi dessen gerät, was man
heute einen Christen nennt“732.
Dies wäre für Bloch die böse Parodie dessen, was in den biblischen Schriften
seinen hoffnungsvollen Anfang nahm: die Vollendung des noch offenen zur
Welt vermittelten menschlichen Wesens, „denn der Mensch ist etwas, was erst
noch gefunden werden muß“733. Weil er bei aller Verwiesenheit auf seine physische Basis sich in dieser doch nicht erschöpft, sondern das Hic et Nunc transzendiert, ist sein ‚Wesen‘ noch nicht, vielmehr wird es noch. Das gilt allerdings
nicht nur für den Menschen, sondern für die Welt, die sich ‚als ganze‘ noch
nicht hat. Wie das Christentum bei allem Akzent auf der Gegenwärtigkeit des
definitiven Anfangs doch das noch ausstehende Ende nicht aus dem Blick verliert und das Schicksal des Menschensohnes mit demjenigen der Schöpfung verbindet, so muss sich auch seine emanzipatorische Beerbung des noch unvollendeten Charakters der Welt bewusst bleiben. „Das Eigentliche oder Wesen“, heißt
es im Prinzip Hoffnung, „ist dasjenige, was noch nicht ist, was im Kern der Dinge nach sich selbst treibt, was in Tendenz-Latenz des Prozesses seine Genesis
erwartet; es ist selber erst fundierte, objektiv-reale Hoffnung.“734 Damit kehren
die Überlegungen zurück zum Schöpfungsgedanken, zur Genesis. „Die wirkliche Genesis“, betont Bloch, „ist nicht am Anfang, sondern am Ende, und sie beginnt erst anzufangen, wenn Gesellschaft und Dasein radikal werden, das heißt
sich an der Wurzel fassen. Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende,
schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch.“735
Die Philosophie Blochs, die in den sechziger Jahren auch von Theologen wie
Jürgen Moltmann, Karl Rahner und Johann Baptist Metz diskutiert wurde, dürfte
heutige Rezipienten nicht nur wegen ihres Pathos befremden, mit dem sie vorgetragen wird; ebenso fremd ist inzwischen auch die Idee einer Hoffnung, die weit
über die kleinen Ziele des Lebens hinausweist und gegen den Weltlauf am aufrechten Gang des Menschen festhält736. In einer Epoche, in der jedes Unternehmen eine eigene ‚Philosophie‘ hat und die Strategien der Profitmaximierung zur
Vision werden; in welcher das Subjekt als Verkaufsagentur mit dem Reich der
Freiheit verwechselt wird und keine Innovation die von Markt und Konkurrenz
bestimmte Welt transzendiert, scheint ein Buch wie Blochs Prinzip Hoffnung
aus einer fernen Zeit zu stammen. Das beflügelt die wohlfeile Kritik jener, die
mit beiden Beinen fest auf dem Boden der Tatsachen stehen und sich jeden Ge732
733
734
735
736
Bloch 1968: 72.
Bloch 1969: 32.
Bloch 1959: 1625.
Ebd.: 1628, vgl. ebd.: 310.
Vgl. Bloch 1976: 13.
217
danken an deren Veränderung verbieten. Diesen Dogmatismus zu verflüssigen,
die Möglichkeit eines anderen nicht bloß zu wünschen, sondern auch zu denken,
bleibt die Leistung Blochs angesichts einer Gegenwart, in der die aktuelle Soziodizee (P. Bourdieu737) sich durch keine Krise erschüttern lässt. Denken, das
mehr sein möchte als bloße Nachkonstruktion dessen, was ist, kann immer noch
von Bloch lernen. Das gilt auch für die Theologie; Blochs „Phänomenologie des
Hoffens“, schreibt Jürgen Moltmann, kann selbst noch in der „Hellsichtigkeit
ihres Mißverständnisses“ der christlichen Hoffnung dazu verhelfen, „ihre eigene
Sprengkraft und Sprengintention wiederzufinden“738. Solche Sätze klingen heute, fast fünfzig Jahre später, nachdem die einstigen Aufbrüche evangelischer wie
katholischer Theologie erlahmt sind, ungewohnt und (wieder) neu.
Indessen wird man zögern, Blochs Vertrauen in den Gang der Geschichte oder
in die „Tendenz des Weltgeschehens“739 zu teilen. Seine Spurensuche erweckt
zuweilen den Eindruck, als habe der Suchende immer schon gefunden; als müssten die Details in ein größeres Ganzes nur noch eingefügt werden. Die Ankunft
jener Heimat, die, wie es in Aufnahme eines Motivs aus der ersten Fassung des
Utopie-Buches am fulminanten Ende des Prinzip Hoffnung heißt, „in die Kindheit scheint und worin noch niemand war“740, ist ihm allzu gewiss. Wird hier,
wie Adorno, der ebenso emphatisch die uneingelösten Versprechen der Kindheit
gegen den resignierten Konformismus der Erwachsenen festhielt, einwandte,
Utopie nicht auf den Allgemeinbegriff abgezogen, „der jedes Konkrete subsumiert, das allein doch Utopie wäre“741? So nachdrücklich – mit Walter Benjamin
– die Unabgeschlossenheit der Geschichte ausgesprochen wird, so gering ist, –
im Unterschied zu Walter Benjamin – das Gewicht der Details historischer Erfahrung für die Entfaltung des Ganzen. Das Prinzip Hoffnung gewann Gestalt
unbeeindruckt von den Katastrophen des 20. Jahrhunderts, die den Glauben an
das Telos der Geschichte hätten erschüttern können. „Hoffnung“, so nochmals
Adorno, „ist kein Prinzip.“742 Jenseits persönlicher Rivalitäten und Kränkungen
ist damit die Differenz in der Sache zwischen Bloch und Adorno bezeichnet,
wobei Adorno den Denk-Impuls des frühen Bloch gegen den späten verteidigt.
Wie Hegel geht Blochs teleologische Dynamik „hinweg über das, woran seine
737
738
739
740
741
742
Die Soziodizee „legitimiert ein Herrschaftsverhältnis, indem sie es einer biologischen Natur einprägt, die
selbst eine naturalisierte gesellschaftliche Konstruktion ist“ (Bourdieu 2005: 44). Die Funktion einer ‚naturalisierten gesellschaftlichen Konstruktion‘ konnte in vormodernen Gesellschaften auch eine göttlich sanktionierte Ordnung übernehmen.
Moltmann 1968: 175.
Bloch 1959: 285.
Ebd.: 1628.
Adorno GS 11: 247.
Ebd.: 248. An diesem Punkt und weniger in der fehlenden „Arbeit am Begriff“ oder dem verweigerten „Gang
durch die Eiswüste der Abstraktion“, wie Schmied-Kowarzik meint (vgl. seinen Bloch-Beitrag in Fleischer
1991: 238), wird man Adornos Differenz zu Bloch festmachen können.
218
Erfahrung ihr Substrat hat, insofern ist er Idealist malgré lui. Seine Spekulation
will, nach einer älteren Formulierung, Luftwurzeln treiben, ultima philosophia
sein und hat doch die Struktur von prima philosophia, ambitioniert das große
Ganze.“743 Nicht die spekulative, über das scheinbar Gegebene hinaustreibende
Kraft seines Denkens wäre ihm vorzuwerfen, sondern die quasi-metaphysische
Absicherung der Hoffnung, die, trotz seiner Kritik am Hegelschen Idealismus744
auf die vorschnelle Versöhnung von Subjekt und Objekt, Natur und Kultur, Individuum und Gesellschaft im Prozess der Geschichte hinausläuft. Diese „Ontologie des Noch-Nicht-Seins“, wie es in der Tübinger Einleitung zur Philosophie
heißt745, ist vom Gedanken der vollendeten Totalität – dem „Totum“ als Telos
dessen, was Bloch das „transzendenzlose Transzendieren“746 nennt – schwerlich
zu lösen. Das Prinzip Hoffnung ist fundiert in der Konstruktion eines „universalen materiellen Agens“747 oder eines ‚Natursubjekts‘748. Mit Marx bedarf dieses
„materielle “ 749 der menschlich-tätigen Vermittlung, ohne von ihr
gänzlich absorbiert zu werden. Bloch geht aber über Marx hinaus, insofern diese
Basis den quasi-metaphysischen Grund objektiver Hoffnung bildet. Dem ‚Natursubjekt‘ wird die Aufgabe übertragen, die einst das Proletariat als historisches
Subjekt und dessen Partei, der Bloch spät erst die Gefolgschaft kündigte, übernehmen sollte. Dass Hoffnung, wie Bloch in seinen Spätschriften einräumt, auch
„enttäuscht werden kann“, gilt eher für ihre bestimmte Gestalt, und selbst die
„Hoffnung mit Trauerflor“750 zweifelt nach der kurzen Zeit ihrer Shivah nicht
ernsthaft an ihrem Ziel. Sie ist weit entfernt von Walter Benjamins Einsicht in
den katastrophischen Charakter der Geschichte oder Max Horkheimers metaphysischer Trauer, die vor ihm schon als Subtext das emanzipatorische und religionskritische Pathos der Neuzeit begleitet: das Bewusstsein darum, „daß die
Gebete der Verfolgten in höchster Not, daß die der Unschuldigen, die ohne Aufklärung ihrer Sache sterben müssen“751, unerhört bleiben. „Was den Menschen,
die untergegangen sind, geschehen ist“, heißt es im Bergson-Aufsatz (1934),
„heilt keine Zukunft mehr“ 752, und kein Prinzip Hoffnung bietet ihnen Trost.
Das Hoffnungspotential der Neuzeit ist schmaler als Bloch dachte und haarscharf an dem von ihm wenig geschätzten Pessimismus angesiedelt. Dieser Ein743
744
745
746
747
748
749
750
751
752
Adorno GS 11: 248; vgl. auch Schmidt 1962: 135-141.
Vgl. Bloch 1962b: 453-473.
Bloch 1970: 212-242
Bloch 1959: 326 und 241.
Bloch 1959: 287
Bloch 2000: 421; 1975: 223-230.
Bloch 2000: 421: 1978: 208f
Bloch 1978: 336.
Horkheimer GS 4: 99.
Horkheimer GS 3: 247.
219
sicht folgend bleibt Adornos Begriff der Hoffnung negativ bestimmt. „Ist Rettung der innerste Impuls jeglichen Geistes“, schreibt Adorno in der Negativen
Dialektik, „so ist keine Hoffnung als die der vorbehaltlosen Preisgabe, des zu
rettenden wie des Geistes, der hofft.“753 Die Preisgabe des Prinzips der Selbstbehauptung um der Hoffnung willen intendiert kein sacrificium intellectus, sondern den Verzicht auf Herrschaft, welche Hoffnung in ihren Dienst nimmt und
so ins Gegenteil verkehrt.
Die Kritik an Blochs identitätsphilosophischen Affinitäten im entfalteten Begriff
der Hoffnung lässt auch die Integration der biblischen Religionsgeschichte in
das Prinzip Hoffnung als „Religion im Erbe“754 nicht unberührt. So fruchtbar es
ist, biblische Texte in emanzipatorischem Interesse gegen den damaligen wie
heutigen Mainstream der Forschung zu lesen und subversive Tendenzen aufzudecken, so frappiert zuweilen Blochs exegetische Unbekümmertheit: man denke
etwa an die Deutung der Schöpfungsnarrative oder die Bewertung der Gottesund Menschensohn-Terminologie in biblischen und außerbiblischen Schriften755.
Die religionsgeschichtlichen Befunde bilden lediglich das historische Material
für die Füllung jenes Rahmens, der vom Geist der Utopie bis zum Prinzip Hoffnung entworfen wurde. Die biblischen Schriften sind jedoch zu lesen nicht auf
ein einziges, schon festgelegtes Ziel hin, sondern primär als theologische Kommentare zur Geschichte, als Geschichtsmidraschim, um einen Begriff Yosef
Hayim Yerushalmis hier einzuführen756. Der Verzicht auf alles Abschlusshafte,
Vorentschiedene kennzeichnet diesen, Bloch keineswegs fremden experimentellen oder modellhaften Charakter der unterschiedlichen Traditionen und Textstrata. Diese, sich an der Geschichte und aneinander abarbeitenden Traditionen treten nicht die Flucht ins Jenseits an, vielmehr artikuliert sich hier ein ethischer
und politischer Widerstand gegen die infame Wirklichkeit, der theologisch motiviert ist. Schöpfung und Erlösung sind nicht einander entgegengesetzte Größen. Schöpfung setzt sich in menschlicher Praxis fort; während das dam bve am
Anfang (Gen 1,31) zugleich unabgegoltene Verheißung ist. Der Shabbat mit seinen unterschiedlichen Begründungen in Ex 20 und Dtn 5 verbindet schließlich
beides und bietet einen Vorgeschmack des Kommenden, ohne die Nöte der Gegenwart vergessen zu machen. Der aufrechte Gang des Menschen muss nicht
753
754
755
756
Adorno GS 6: 384.
Bloch 1959: 1521
Zur neueren Diskussion vgl. Helmut Merklein: Zur Entstehung der urchristlichen Aussagen vom präexistenten Sohn Gottes, in: ders., Studien zu Jesus und Paulus (WUNT 43), Tübingen 1987, 247-276; Rudolf Laufen
(Hrsg.): Gottes ewiger Sohn. Die Präexistenz Christi, Paderborn u.a. 1997; Daniel Boyarin: The Jewish Gospels. The Story of the Jewish Christ, New York 2012, bes. 25-101.
Vgl. Yerushalmi 1993: 92.
220
gegen Gott durchgesetzt werden, sondern wird von Ihm trotz der Rückfälligkeit
der einstigen Sklaven bereits innerweltlich ermöglicht (vgl. Lev 26,13).
Bloch unterschätzte, wie vor ihm schon Feuerbach und Schopenhauer, die
‚Beerbungsresistenz‘ von Judentum und Christentum. Der Anspruch, die theologisch-eschatologische Tradition ohne unerfüllten Rest in ein säkulares Projekt
zu transformieren (und nicht, wie in der ersten geschichtsphilosophischen These
Benjamins, in Dienst zu nehmen757), verkennt das Gewicht der historischen Negativität und der Not in der Natur als Kostenseite der Evolution. Sie ist von der
‚hurrapantheistischen Alternative‘ 758 nicht gar so weit entfernt, wie Bloch es
möchte. Auf dieses Problem macht Johann Baptist Metz aufmerksam, wenn er
die Naturgeschichte des Menschen als „seine Passionsgeschichte“ bezeichnet759.
In der Tat besitzt die Rede von der Einheit zwischen Mensch / Geschichte und
Natur einen utopischen Überhang760, dessen negativer, uneingelöster Teil von
Bloch zwar wahrgenommen, aber nicht konstitutiv wird für das Prinzip Hoffnung. Die Dynamik in Geschichte und Natur, die Bloch zum Fundament der
Hoffnung macht, fordert ihre Opfer und verfährt mit den Individuen nicht schonender als der Hegelsche Weltgeist. Davon lenken auch Gedankenspiele mit
Unsterblichkeit und Seelenwanderung kaum ab 761 . Sie nehmen, wie Jürgen
Moltmann einwendet, die „Tödlichkeit des Todes“762 nicht ernst und fallen hinter Blochs eigene Einsicht zurück, dass „der Schlund der Verwesung … jede
Teleologie“ frisst763. Aus Moltmanns Einwand gegen Bloch wird aber erst dann
ein Argument, wenn er nicht zum Tod als letzte Bastion theologischer Apologetik seine Zuflucht nimmt, sondern auf die Unvereinbarkeit von Todeserfahrung
und identitätsphilosophischen Restbeständen bei Bloch aufmerksam macht. Kein
Hinweis auf die Evolution des Kosmos und des Lebens oder den geschichtlichen
Fortschritt, der, worauf Horkheimer hinwies „teuer erkauft“ wurde, mindert oder
rechtfertigt das Leiden der Kreatur. „Die heutige Kultur, so nochmals Horkheimer, „ist das Resultat einer entsetzlichen Vergangenheit.“ 764 Das prima facie
pauschal anmutende Urteil Horkheimers erinnert an den Preis, um den auch die
heutige Kultur erkauft wurde und den weder sie noch eine künftige, humane Gesellschaft den vergangenen Generationen jemals wird zurückerstatten können.
Philosophisch ist zudem kaum zu entscheiden, ob jener „Spediteur der organi757
758
759
760
761
762
763
764
Vgl. Benjamin 2010: 16 / 30 / 69 / 82 / 93 (These I).
Bloch 1970: 219.
Metz 1992: 108-111, hier: 110.
Vgl. ebd.: 109.
Vgl. Bloch 1959: 1391
Moltmann 1966: 326-330, hier: 329,
Bloch 1959: 1301.
Zitate: Horkheimer GS 8: 343.
221
schen Welt … zu ihrer Katastrophe“ nicht diese als ganze, den Menschen eingeschlossen, an das Anorganische zurückgibt, so dass nicht nur, wie bei Marx, die
Gattung über das Individuum765, sondern das Anorganische über die Gattung
siegt.
Der Schmerz dieser Nichtidentität – in der außermenschlichen Kreatur stumm
oder dumpf erduldet, im Menschen zu sich selbst kommend – kollidiert hart sowohl mit einer teleologisch interpretierten Hoffnung als auch mit einer philosophisch-emanzipatorischen Beerbung biblischer Traditionen. Es ist fraglich, ob,
wie Bloch versichert, „die Logik dieses dreitausendjährigen besonderen VorScheins gottfrei ebenso wie durchaus religions-philosophisch aufgeht“ 766 .
Blochs Reserven gegenüber einem göttlichen Despoten, der seine Dekrete erlässt und Unterwerfung fordert, sind durchaus begründet. Die fatale Renaissance
autoritärer Religions- und Offenbarungsmodelle in der Gegenwart ist durchaus
geeignet, seinen Verdacht zu bestärken. Aber die von ihm selbst herausgearbeitete subversive Kraft des ‚Exodus-Paradigmas‘ geht nicht integral ein in ein ausschließlich diesseitiges Emanzipationsprojekt. „Daß keine innerweltliche Besserung ausreichte, den Toten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen“, schreibt Adorno über Kants Postulatenlehre, „daß keine ans Unrecht des Todes rührte, bewegt die Kantische Vernunft dazu, gegen Vernunft zu hoffen.“767 Adornos dialektische Formulierung, dass Vernunft dazu bewogen werde, gegen Vernunft zu
hoffen, zeigt die prekäre Lage umfassender Hoffnung angesichts eines Weltlaufs
etsi deus non daretur an. Der Sprung oder Riss inmitten aller Versicherung eines
gegebenen oder für die Zukunft verbürgten, sich realisierenden Sinnes ist ebenso
wenig zu eskamotieren wie die Weigerung des Denkens, das herrschende und
vergangenen Unrecht als endgültig hinzunehmen. „Die Entdeckung der Zukunft
im Vergangenen“768 bedeutet auch, dass das Vergangene an die Zukunft einen
Anspruch hat, den Blochs Utopie ohne idealistische Hochstapelei schwerlich
wird einlösen können. Das Motiv der Gerechtigkeit, das den Einspruch gegen
die innerweltlichen Verhältnisse bis hin zum Protest gegen den Tod speist,
kommt in Blochs zum Prinzip erhobener Hoffnung zu kurz. Es bildet aber ein
rationales Motiv für die Persistenz der Religion und ihre Resistenz gegenüber
religionsphilosophischen Beerbungsansprüchen. Adorno und nicht minder Max
Horkheimer hielten gegen Hegels und Marxens Spott über das bloße Sollen769
am moralischen Motiv fest, das durch keine ‚historische Tendenz‘ und kein ‚Na765
766
767
768
769
Vgl. MEGA I/2: 392.
Bloch 1968: 25.
Adorno GS 6: 378.
Bloch 1962b: 517.
Vgl. etwa Horkheimer GS 7, 173-196, 269-294, 385-404.
222
tursubjekt‘ gedeckt ist und doch zu einem emphatischen, über die Ordnung der
Tatsachen hinausgehenden Vernunftbegriff wesentlich gehört.
Mit dieser Kritik ist allerdings Blochs Insistenz auf gesellschaftliche Veränderung und Vernunftimmanenz der Hoffnung nicht schon erledigt. Denn es sind,
und dies ist auch theologisch relevant, die Veränderbarkeit der bestehenden
Welt und die Relativierung der Gegenwart Bedingungen dafür, dass ein Bewusstsein bleibt von Transzendenz, die ihrer Erfüllung harrt und sich nicht in
der leeren Unendlichkeit verliert. Ob die Menschen sich, wie es bei Karl Rahner
heißt, zu findigen Tieren zurückkreuzen770 oder sich wenigstens ein Bewusstsein
des leeren Throns Gottes erhält, ist abhängig von der vernünftigen Einrichtung
des Diesseits. Wo religiöse Hoffnung explizit bleibt, steht sie heute, wie der
slowenische Philosoph Slavoj Žižek schreibt, vor der Frage, ob sie eine therapeutische oder kritische Funktion haben soll. „Entweder“, so Žižek, „hilft sie
den Menschen dabei, im Rahmen der existierenden Ordnung besser zu funktionieren, oder sie versucht, sich als kritische Institution zu etablieren, die das, was
mit der Ordnung an sich nicht stimmt, zur Sprache bringt und einen Raum für
abweichende, kritische Stimmen bietet. Im zweiten Fall tendiert die Religion als
solche dazu, die Rolle einer Häresie zu spielen.“771 Ernst Bloch hätte nicht gezögert, letzteres zu raten, und eine Theologie, die nicht die Rolle der Vertröstung und Kompensation übernehmen, sondern das rationale und kritische Potential ihrer eigenen Traditionen entfalten möchte, sollte diesem Rat folgen.
770
771
Vgl. Rahner 1976: 58.
Žižek 2003: 7.
223
224
6. „Ressentiment gegen das Leben“:
Nietzsches Kritik
des biblischen Monotheismus
Friedrich Nietzsche (1844-1900)
225
226
a) Dialektik der Kultur Nietzsches Philosophie hat sich innerhalb des philosophischen Diskurses der Moderne als einflussreich erweisen772. So unterschiedliche Autoren wie Heidegger, Adorno, Foucault, Derrida und selbst Buber rezipierten kritisch das entfant terrible des 19. Jahrhunderts. Seine Kritik des Christentums, die noch bis in die aktuellen kultur- und religionskritischen Debatten
reicht, hat auf andere Weise als Marx die Widersprüche auch der modernen Zivilisation in die Reflexion aufgenommen. Das Christentum ist ihm ein zentraler
Faktor und Exponent dieser Widersprüche. Nietzsches Kritik galt, was auf theologischer Seite häufig übersehen wird, keineswegs nur dem Christentum, sondern bereits jenem Monotheismus, wie er sich in der Religionsgeschichte Israels
entwickelt hat und über die jüdisch-christlichen Traditionen die abendländische
Kultur entscheidend prägte.
Die Entwicklung zum Glauben an den einzigen und universalen Gott vollzieht
sich für Nietzsche im Zeichen einer radikalen „Fälschung aller Natur, aller Natürlichkeit, aller Realität“. Das Christentum, „aus jüdischer Wurzel und nur verständlich als Gewächs dieses Bodens“ 773 , bezeichnet den Kulminationspunkt
jener folgenreichen „Entnatürlichung der Natur-Werthe“774, so dass Nietzsche
den verbreiteten Nihilismus-Vorwurf postwendend an das Christentum zurückgeben kann: „Nihilist und Christ: das reimt sich, das reimt sich nicht bloss...“775.
Jürgen Werbick ist zuzustimmen, wenn er feststellt, dass es nicht primär der seit
der Aufklärung verbreitete Intoleranzverdacht ist, der Nietzsches Religionskritik
motiviert, sondern der Vorwurf, das naturale, vitale Element unterjocht und das
Leben in allen seinen Facetten entwertet zu haben776. Das Christentum steht, anders ausgedrückt, für die repressive Seite der Kultur, für ihren Preis. Nietzsches
Parteinahme gegen den biblischen Gottesglauben und für die ‘verfälschte’ und
‘herabgesetzte’ Natur steht jedoch nicht im Dienste einer späten Naturromantik;
vielmehr deutet sich hier die Einsicht in die Dialektik der Kultur an. Die Monotheismus-Kritik ist zentraler Teil seiner kritischen ‘Archäologie’ der Zivilisation
und muss in diesem Zusammenhang gedeutet werden. Dass Kultur – Wissenschaft, Kunst, Religion – keine rein für sich bestehende Sphäre darstellt, sondern
772
773
774
775
776
Vgl. Habermas 1986: 104-129.
KSA 6: 191 und 101.
KSA 6: 191.
KSA 6, 247.
Vgl. Jürgen Werbick, Absolutistischer Eingottglaube? Befreiende Vielfalt des Polytheismus?, in: Söding
2003: 142-175, bes. 147-151.
227
eine materielle Basis besitzt, ohne die sie sich weder individuell noch gesellschaftlich entfalten kann, dämmerte auch den Vertretern der idealistischen Philosophie. Die Bezeichnung der bürgerlichen Gesellschaft als ‘Reich der Bedürfnisse’ in der Hegelschen Rechtsphilosophie und der illusionslose Blick auf die
sozialen ‘Kollateralschäden’ der kapitalistischen Produktionsweise belegt
dies777. Was jedoch schon die Philosophie Schopenhauers vom Denken Hegels
(und Spinozas) grundlegend unterscheidet, ist die Inversion des okzidentalen
Rationalismus: „Der Intellekt nämlich“ – das Organon von Kultur, Wissenschaft
und Fortschritt – „ist, von Hause aus, ein sauerer Arbeit obliegender Manufakturlöhnling, den sein vielfordernder Herr, der Wille, vom Morgen bis in die
Nacht beschäftigt hält.“778 Der Wille, den Schopenhauer in einem kühnen Gewaltstreich mit dem Kantischen ‘Ding an sich’ identifiziert und zum Ursprung
des Intellekts und aller Vorstellungen erhebt, ist „ein blinder Drang, ein völlig
grundloser, unmotivierter Trieb“779. Georg Simmel hatte das Provokative dieses
Gedankens herausgearbeitet und gezeigt, inwiefern Nietzsche ihn sowohl aufgriff als auch, indem er den Willen positiv besetzte, modifizierte780.
Bereits in einem frühen erkenntnistheoretischen Fragment stellt Nietzsche den
Intellekt in den Dienst der Selbsterhaltung. Denn dem physisch schwachen
Menschen ist ein „Kampf um die Existenz mit Hörnern und scharfem RaubthierGebiss versagt“781. Die Welt symbolisch, d.h. in Begriffen als Abbreviaturen der
individuellen Eindrücke und Reize zu ordnen, ist Aufgabe des Intellekts. Er
vermittelt uns kein ‘Ding an sich’, sondern „Metaphern der Dinge, die“ – wie
Nietzsche in erkenntnistheoretisch nicht mehr gedeckter Gewissheit konstatiert „den ursprünglichen Wesenheiten ganz und gar nicht entsprechen“782. Nominalistisch ist das Band zwischen Erkenntnis und Welt durchschnitten; die begrifflichen ‘Metaphern’ erweisen sich nicht als ‘wahr’, sondern für die Selbsterhaltung
als zweckmäßig. „Der schaffende Leib“, heißt es in einer späteren, an Schopenhauer erinnernden Formulierung, „schuf sich den Geist als Hand seines Willens.“783 Nietzsche verweist mit Nachdruck auf die „Gewalt der Triebe im Erkennen“784 und damit auf die Naturwüchsigkeit des menschlichen Geistes. Wie
müsste wohl eine Neugier erschrecken, die auch nur ein wenig „aus dem Bewusstseinszimmer“ herausblickte und „ahnte, dass auf dem Erbarmungslosen,
777
Vgl. Hegel 1999b: §§ 189ff.
Schopenhauer Werke V: 70.
779
Schopenhauer Werke II: 417.
780
Vgl. Simmel 1920: 38-42.
781
KSA 1: 876.
782
KSA 1: 879; 2: 36-38. – Auch wo die Wissenschaften glauben, ‘objektive’ Naturgesetze zu verstehen, handelt
es sich in Wahrheit um Deutung; alle Wissenschaft ist „Interpretation, nicht Text” (KSA 5: 37).
783
KSA 4: 40.
784
KSA 3: 470.
778
228
dem Gierigen, dem Unersättlichen, dem Mörderischen der Mensch ruht, in der
Gleichgültigkeit seines Nichtwissens, und gleichsam auf dem Rücken eines Tigers in Träumen hängend“785.
Das abgründige Bild vom träumenden Ritt auf dem Tiger ebenso wie die Fundierung der Erkenntnis im vitalen Interesse, überschreitet die Grenzen der Erkenntniskritik und antizipiert Aspekte der Freudschen Kulturtheorie. Der Wille
zur Wahrheit wird gebunden an den Willen zur Macht, mit dem Nietzsche an
anderer Stelle das Leben identifiziert. Dieses ist „wesentlich Aneignung, Verletzung, Überwältigung des Fremden und Schwächeren, Unterdrückung, Härte, ...
Einverleibung“, kurz: „Wille zur Macht“786. Nietzsche nennt hier Merkmale, die
auch dem Geist keineswegs fremd sind. Noch die Formen, in denen sich nach
Hegel der Weltgeist ungeachtet aller (im Grunde ohnmächtigen) Moral gegenüber den partikularen Interessen von Individuen und Völkern geschichtlich realisiert, sind von Gewalt geprägt und besitzen geradezu vitalistische Züge, die
Nietzsche allerdings auf eine materialistische Basis stellt787. „Fast Alles, was wir
‘höhere Cultur’ nennen“, konstatiert Nietzsche in Jenseits von Gut und Böse,
„beruht auf der Vergeistigung und Vertiefung der Grausamkeit - dies ist mein
Satz; jenes ‘wilde Thier’ ist gar nicht abgetödtet worden, es lebt, es blüht, es hat
sich nur – vergöttlicht.“788 Archaische Gewalt wird auf allen Stufen der Kultur –
in Moral, Religion und Fest – ‘gezähmt’ und zugleich reproduziert. „Die Grausamkeit gehört zur ältesten Festfreude der Menschheit“789. Nietzsche verklärt die
Negativität jedoch nicht als notwendiges Mittel zur Selbsterschließung des Absoluten: Einen Gesamtsinn des Wirklichen erkennt er so wenig wie die radikale
Aufklärung, Schopenhauer oder Marx; „es giebt in der Natur weder Mittel, noch
Zwecke“790. Die qualitative Steigerung des Lebens aber ist dem Menschen qua
Bewusstsein möglich; ein Gedanke, der, wie Simmel zeigte, durchaus normative
Implikationen besitzt791. Zu diesem Gedanken einer Steigerung und autonomen
Gestaltung der vitalen Kräfte, der in die Utopie des Übermenschen mündet792,
steht die naturbeherrschende, repressive Seite der Kultur - die „Zähmung“ der
Natur – in Spannung793. Ist diese als Triebverzicht- und -sublimierung einerseits
Bedingung der Kultur, so bewirkt sie zugleich bei den Menschen einen zerstöre785
KSA 1: 877.
KSA 5: 207f.
787
Vgl. Hegel 1996: 57-72.
788
KSA 6: 166. – Dieser Gedanke taucht bereits in der Baseler Zeit auf: vgl. KSA 1: 783-785; hierzu Safranski
2000: 55ff.
789
KSA 3: 30.
790
KSA 9: 235.
791
Vgl. Simmel 1920: 236ff. Gleichwohl zögert Nietzsche, dies in eine geschichtsphilosophische Konstruktion
zu transformieren; vgl. auch Kittsteiner 1998: 132-149.
792
Vgl. KSA 4: 356ff; Safranski 2000: 274-276; Kittsteiner 1998: 147f.
793
Vgl. Schweppenhäuser 1986: 178-205.
786
229
rischen „Hass gegen die Antriebe zum Leben“794, einen Untertanengeist, der mit
tiefem Ressentiment auf das blickt, was er ohne Unterlass begehrt. In der von
Nietzsche verachteten ‘Sklavenmoral’795, die vom Christentum gefördert werde,
meldet sich das, was Freud am Vorabend der nationalsozialistischen Barbarei als
„Unbehagen in der Kultur“ (1930) analysierte796. Die Unterdrückung des Somatischen, Libidinösen, die verinnerlichte gesellschaftliche Ratio, führt, wie Nietzsche erkannte, zur Selbstverachtung der Menschen.
Die problematische Rolle von Religion, Recht und Moral in diesem Zusammenhang ist von Nietzsche ausführlich erörtert worden. Die Internalisierung der
Normen vollzog sich, wie das ältere Strafsystem zeigt, mit äußerster Brutalität.
Der Schmerz, so Nietzsche, ist „das mächtigste Hülfsmittel der Mnemotechnik“,
denn „nur was nicht aufhört weh zu thun, bleibt im Gedächtnis“797. Die Herren
der Welt, von deren Machtentfaltung auch Nietzsche zuweilen fasziniert war,
machten von dieser Didaktik reichlichen Gebrauch. Aber auch die weiter fortgeschrittene „industrielle Cultur“, d.h. die moderne bürgerliche Gesellschaft, basiert auf einem - freilich arbeitsvertraglich geregelten - Gewaltverhältnis, denn
„man will leben und muss sich verkaufen, aber man verachtet Den, der diese
Noth ausnützt und sich den Arbeiter kauft“. In der „Fabrik-Sclaverei“ werden
die Arbeiter „als Schrauben einer Maschine und gleichsam als Lückenbüsser der
menschlichen Erfindungsgabe verbraucht“798. Die Sklavenmentalität, auf welche
nach Nietzsches Ansicht der Adel von Geburt noch zurückgreifen konnte,
schlägt angesichts der „Fabricanten-Vulgarität“799 in Aggressivität und Aufruhr
um. Wie im Nominalismus die Begriffe, so sind im Kapitalismus die angeborenen Vorrechte entzaubert: Im Verhältnis von Arbeiter und „Fabricanten“ steht
die Gewalt nackt da. Ob Nietzsches Idee des Übermenschen demgegenüber egalitäre Züge besitzt, ist jedoch zweifelhaft. Gerade die den Stärkeren bindende
Idee der Gleichheit - und hier zeichnen sich die Grenzen seiner Einsicht in die
Dialektik der Kultur ab - ist Nietzsche mit seiner Tendenz zur Naturalisierung
sozialer Differenzierungen suspekt: „Die Ordnung der Kasten, das oberste, das
dominierende Gesetz, ist nur die Sanktion einer Natur-Ordnung, NaturGesetzlichkeit ersten Ranges, über die keine Willkür, keine ‘moderne Idee’ Gewalt hat.“800 Die demokratischen Bestrebungen sind noch Säkularisate der im
794
KSA 6: 99.
KSA 5, 208-212.
796
Vgl. Freud GW XIX: 419-506.
795
797
KSA 5: 295.
798
KSA 3: 407 und 183.
Ebd: 407.
KSA 6: 242.
799
800
230
Zeichen des einen und einzigen Gottes sich entwickelnden jüdisch-christlichen
Moral, gegen die Nietzsche die ganze Schärfe seiner Kritik richtet.
b) Monotheismus als Ressentiment
Am Ende der Götzen-Dämmerung
(1888) bescheinigt Nietzsche dem Christentum ein „Ressentiment gegen das
Leben“ und wirft ihm vor, es habe „aus der Geschlechtlichkeit etwas Unreines
gemacht: es warf Koth auf den Anfang, auf die Voraussetzung unseres Lebens“801. Wie vor ihm Schopenhauer802 sieht Nietzsche hier in der Sexualität die
Manifestation des ‘Willens’, der in den dionysischen Mysterien geheiligt, aber
vom Christentum, in dessen Nachfolge er auch noch Schopenhauer sieht, verraten wurde. Eingeschlossen in diesen Vorwurf ist der im Alten Testament bezeugte Monotheismus, wie er sich erst seit dem Exil herauskristallisierte. Dem
aufmerksamen Leser Wellhausens entging nicht, dass „der Monotheismus dem
alten Israel unbekannt“ war und sich erst nach dem Exil durchsetzte803. Während
Wellhausen den im Zuge der ‘prophetischen Reformation’ sich entwickelnden
‘ethischen Monotheismus’ positiv wertet, interpretiert er mit vielen liberalen
Autoren die nachexilische Zeit ab Esra und Nehemia als Epoche der ‘gesetzlichen Erstarrung’, die erst vom Christentum überwunden wurde 804. Demgegenüber rückt, wie auch Franz Overbeck mit kritischem Blick auf Wellhausen in
seinem ‘Kirchenlexicon’ notierte, Nietzsche das Christentum in große Nähe zum
nachexilischen Judentum mit seinem ‘großen Stil in der Moral’, ja es ist nur dessen konsequente Fortentwicklung805. Ursprünglich jedoch, „vor allem in der Zeit
des Königthums, stand auch Israel zu allen Dingen in der richtigen, das heisst
der natürlichen Beziehung. Javeh war Ausdruck des Machtbewusstseins, der
Freude an sich, der Hoffnung auf sich, in ihm erwartete man Sieg und Heil, mit
ihm vertraute man der Natur, dass sie giebt, was das Volk nöthig hat - vor allem
Regen. Javeh ist der Gott Israels und folglich der Gott der Gerechtigkeit: die Logik jedes Volks, das in Macht ist und ein gutes Gewissen davon hat.“ 806 Der
noch einem polytheistischen Referenzsystem angehörende Gottesbegriff der
Königszeit stellt sich hier als Projektion des noch weitgehend ungebrochenen
Lebenswillens eines Volkes dar. Nietzsches Hochschätzung des Alten Testaments, in welchem es „Menschen, Dinge und Reden in so grossem Stile“ gibt,
801
802
803
804
805
806
KSA 6: 160; vgl. auch ebd. : 159.
Der Geschlechtstrieb ist nach Schopenhauer „der Kern des Willens zum Leben, mithin die Koncentration
alles Wollens“ (Schopenhauer Werke II: 596).
Wellhausen 1958: 29. – Für Nietzsche ist zumindest die Lektüre der Geschichte Israels (1880) anzunehmen.
Seine Wellhausen-Rezeption ist belegt in den Nachlass-Bänden: KSA 10: 494; 11: 352 und 13: 169 bzw.
172; vgl. ferner Perlitt 1965: 214-223.
Vgl. Wellhausen 1958: 106-115, 122-132; ders. 1927: 420-424.
KSA 5: 192; 6: 101; vgl. Overbeck 1995: 213.
KSA 6: 193.
231
„dass das griechische und indische Schriftenthum ihm nichts zur Seite zu stellen
hat“807, gründet nicht zuletzt in dessen Bejahung des Lebens, die nach Schopenhauer sogar den optimistischen „Grundcharakter“ des Judentums ausmacht, von
dem er das Christentum als pessimistische, asketische Religion scharf abgrenzte808.
Diese lebensverneinenden Züge jedoch erblickte Nietzsche schon in der nachexilischen jüdischen Religionsgeschichte. Die ‘Verfälschung des Gottes- und
Moralbegriffs‘809 sei das Resultat einer von der jüdischen Priesterschaft vorangetriebenen Entwicklung. Diese habe die bisherige Geschichte Israels „gegen
jede Überlieferung, gegen jede historische Realität ins Religiöse übersetzt, das
heisst aus ihr einen stupiden Heils-Mechanismus von Schuld gegen Javeh und
Strafe, von Frömmigkeit gegen Jahve und Lohn gemacht“810. Nietzsche denkt
hier an die Gegen-Geschichte des deuteronomistischen Geschichtswerks, dem
auch das Deuteronomium vor seiner Integration in den Pentateuch noch angehörte und dessen Normen zum Kriterium dieser Geschichtskonstruktion wurden811. Die Geschichte Israels erscheint aus dieser Perspektive als Abfall von
JHWH und als eine Kette von Verfehlungen, deren Konsequenz schließlich der
Verlust der staatlichen Existenz und des Tempels ist. Mit dieser Sicht auf Geschichte, ob nämlich der Wille Gottes getan wurde oder nicht, beginnt für Nietzsche die décadence. Die Konstruktion einer ‘sittlichen Weltordnung’ verleugnet
und unterdrückt den „Instinkt des Lebens’812; mehr noch: „der Glaube an einen
Normalgott, neben dem es nur noch falsche Lügengötter giebt – war vielleicht
die grösste Gefahr der bisherigen Menschheit“. Weil die „Vielzahl von Göttern
und Individuen“ und mit ihr die „wundervolle Kunst und Kraft, Götter zu schaffen – der Polytheismus“ verschwanden, kam es zum Stillstand und zum Ideal
eines vom Egalitätsideal geleiteten, kraftlosen ‘Normalmenschen’813. Nietzsches
Ablehnung des ‘Normalgottes’ und Normalmenschen bleibt ambivalent: Die
ihm vor Augen stehende Gleichheit als konformistische, um die freie Entfaltung
der emotionalen und intellektuellen Fähigkeiten gebrachte Subjektivität ist nur
die Fratze einer egalitären Gesellschaft; ohne die Idee der Gleichheit aber, die
807
KSA 5: 72.
Schopenhauer Werke V: 332-340, hier: 332.
809
KSA 6, 194.
810
KSA 6, 195.
811
Vgl. hierzu Zenger u.a. 1998: 180-190 (Georg Braulik).
812
KSA 6, 194.
813
Zitate: KSA 3: 490. – In der gegenwärtigen Monotheismus-Diskussion ist zu beachten, dass Nietzsche weniger die angebliche Gewaltbereitschaft des biblischen Monotheismus, das Freund-Feind-Schema der ‘mosaischen Unterscheidung’ (vgl. Assmann 1998: 17-23; ferner seinen Beitrag in Manemann 2003:122-132), kritisiert, sondern die ‘Entwertung des Lebens’, das durchaus seine gewaltsamen Seiten hat und zu denen nach
Nietzsche gerade der Polytheismus ein unbefangeneres Verhältnis hatte. Während der Monotheismus den vitalen Willen zur Macht moralisch zu zähmen trachtet, verleiht ihm der Polytheismus Ausdruck.
808
232
bereits im Bekenntnis zum einzigen, keineswegs ‘normalen’ und alltäglichen
Gott erste Konturen gewann, bleibt aller Fortschritt bestenfalls ästhetisierte Barbarei, unter deren glanzvoller Oberfläche Verfall und darum Modergeruch
herrscht. Die Terminologie ist zu beachten: Wie Wellhausen spricht Nietzsche
für die nachexilische Zeit nicht mehr von einer israelitischen, sondern von einer
jüdischen Geschichte, die vor allem unter priesterlicher Herrschaft steht. Historisch unzutreffend verleiht Nietzsche dem nachexilischen Priestertum ausgesprochen asketische, naturfeindliche Züge. „Der Priester“, erklärt Nietzsche,
„entwerthet, entheiligt die Natur: um diesen Preis besteht er überhaupt.“ 814
Reinheit und Unreinheit, Heiligung und Kult stehen nicht im Interesse einer
Abwertung der Natur, sondern sie beerben weitaus ältere Tabus, die gerade den
von Nietzsche hochgeschätzten vormonotheistischen Zeiten entstammen.
Die Heiligung auch des Alltags steht eher im Zeichen einer umfassenden ‘Entbanalisierung’ eines Lebens, das keineswegs in Freudlosigkeit versinkt. Die generalisierende, abwertende Formulierung ist nicht nur selbst Ausdruck eines
Ressentiments, sie verweist auch auf eine tiefere Schicht der Kritik Nietzsches:
Im Bilde des Priesters ist für ihn die Dialektik der Kultur, die prekäre Einheit
von Freiheit und Unterdrückung, Erhebung des Geistes und Erniedrigung der
Natur repräsentiert 815 . Es gibt keine Kulturleistung, die sich nicht der gesellschaftlich geregelten Beherrschung der inneren und äußeren Physis verdankt,
also dem gegen sich selbst gerichteten, gezähmten ‘Willen zur Macht’. Geist,
gezügelte Aggression und Bewusstsein der Schwäche gegenüber der Naturgewalt, erweist sich mittels seiner begrifflichen Apparatur und seines Abstraktionsvermögens als das Stärkere. Noch in der Kunst muss dem Stoff, wie der von
Nietzsche wenig geschätzte Hegel in der Ästhetik darlegte, „Gewalt angetan
werden“816, als zahlte er der Natur die erlittene Gewalt heim. So ist das ‘Ressentiment’ dem Geist und seinem Verhältnis zur Natur immanent und bestimmt alle
Bereiche der Kultur. Das Physische wird zum Inferioren - ein Vorgang, der sich
kulturgeschichtlich und anthropologisch ausdrückt in der „gänzlich irrthümlichen Scheidung von ‘Geist’ und ‘Körper’“817, metaphysisch in der platonischen
Ideenlehre als Konstruktion von ‘Hinterwelten’818 und religionsgeschichtlich –
nach Nietzsche - im biblischen Monotheismus. Letzteren interpretiert er mit vielen Zeitgenossen als ‘Vergeistigung’ der Religion Israels, was für ihn gleichbedeutend ist mit ‘Entnatürlichung’. Ohne weitere Bedenken verbindet er die
814
KSA 6: 196.
Vgl. Vattimo 1992: 39-52; Christoph Türcke 1999: 89-99.
816
Vgl. Hegel 1998: 154.
817
KSA 1: 843.
818
Vgl. KSA 4: 35-38.
815
233
nachexilische Religionsgeschichte Israels mit dem platonischen Idealismus und
fragt ironisch, ob Platon nicht gar „bei den Juden in Ägypten“ „vermoralisirt“
und „präexistent-christlich“ wurde819 . Umgekehrt ist ihm das Christentum als
potenziertes Judentum zugleich „Platonismus für’s Volk“ 820. Der Pascalschen
Scheidung des biblischen Gottes vom ‘Gott der Philosophen’ in apologetischem
Interesse ist damit der Boden entzogen worden. Soweit im ‘priesterlich’ verfälschten Gottesbegriff die Trennung von Natur und Geist, Leben und Moral
ihren höchsten Ausdruck findet, ist im Interesse des herabgesetzten Lebens Gott
zu negieren; „damit erst“, so Nietzsche, „erlösen wir die Welt“821. Souverän ignoriert er, dass auch den Spätschriften des Alten Testaments eine platonische
Trennung von Geist und Körper fremd ist und alle Hoffnung auf Erlösung der
Erde treu bleibt.
Die Antithese zum biblischen Monotheismus und zum Judentum, „der Religion
des Schreckens, der Verachtung und gelegentlich der Gnade (wie alte Patriarchen)“ bildet das Griechentum: „eine Religion der Freude und der Kraft an der
eigenen Vollkommenheit, gelegentlich eine Religion des Neides gegen die Allzuhochhinauswollenden (Agamemnon, Achill).“822 Auch hier ist das Christentum die konsequente Vollendung des Judentums; dem griechischen „Maass“
steht christlich die Erniedrigung des Menschen, seine Vernichtung und Betäubung gegenüber, kurz, das Christentum „ist im tiefsten Verstande barbarisch,
asiatisch, unvornehm, ungriechisch“ 823 . Nietzsches historisch problematisches
Bild des Heidentums erscheint zuweilen als der Negativabdruck des verhassten
Christentums: „Heidnisch“, heißt es in einer Notiz aus dem Nachlass (Herbst
1887), „ist das Jasagen zum Natürlichen, das Unschuldsgefühl im Natürlichen,
‘die Natürlichkeit’ Christlich ist das Neinsagen zum Natürlichen, das Unwürdigkeits-Gefühl im Natürlichen, die Widernatürlichkeit“824 Die durchaus berechtigte Kritik Nietzsches an leib- und naturfeindlichen Zügen christlicher Traditionen verkennt, dass auf ‘Natur’ nicht unmittelbar rekurriert werden kann; es gibt
kein naives, ‘unschuldiges’ Verhältnis zur Natur jenseits kultureller Überformung. In den angeblich lebensbejahenden, vitalen heidnischen Mythen erscheint
das individuelle und gesellschaftliche Leben der Menschen versteinert: als
schicksalhaft gefügt, eben als unveränderliche Natur. Diese wieder geschichtlich
zu verflüssigen, gehört nicht minder zur Aufgabe einer Kritik, die Nietzsche nur
819
820
821
822
823
824
KSA 6: 155.
KSA 5: 12.
KSA 6: 97.
KSA 9: 353; Vgl. auch Hubert Cancik, Nietzsches Antike. Vorlesung, Stuttgart-Weimar 22000.
KSA 2: 118.
KSA 12: 571f.
234
zur Hälfte leistet. Sein Zweifel an der sittlichen Weltordnung geht über in die
Affirmation von Herrschaft, die als ‘natürlich’ verklärt wird.
Aber auch Nietzsches Bild des Griechentums wandelt sich: Repräsentierten einst
noch das Maß und die homerischen Götter als anzustrebende Ideale (und nicht
als Herren) des Menschen den tiefen Gegensatz zum Christentum, so übernimmt
diese Rolle im Spätwerk gerade der dionysische Kult der ‘ewigen Wiederkehr
des Lebens’ 825 , dessen Ungezähmtheit er in seinen orgiastischen Zügen ausdrückt. Er wird zugleich zum Symbol für die Selbstrechtfertigung des Lebens,
für einen ungebrochenen Willen zum Leben und die „Unschuld des Werdens“826
– jenseits aller kontrollierenden, schuldzuweisenden Moral, die das Böse erfand.
Die an diese dionysische restitutio in integrum erinnernde naturale Symbolwelt
musste einer intoleranten Monolatrie, wie sie sich, anders als Nietzsche dachte,
schon im vorexilischen Israel herausbildete, verdächtig werden. Aus dem Jerusalemer Tempel, auf den sich nach Dtn 12,2ff der Kult zu konzentrieren hatte,
wurde sie darum verbannt827.
Die Entwicklung der Thora seit der späten Königszeit bis in die priesterschriftlichen Bearbeitungen nach dem Exil wertet Nietzsche als „Sklaven-Aufstand in
der Moral“828. Nietzsche denkt hier nicht nur an die Exodus-Tradition, sondern
auch an die egalitären Züge des Bundesbuches oder der deuteronomischen Kontrastgesellschaft, an das Mitleid mit den Schwächeren und die Kontrolle der –
ökonomisch und politisch – Stärkeren829. Die ‘Unschuld des Werdens’ und das
Recht des Stärkeren, ‘Vornehmen’ wurde durch die sorgfältig festgehaltene Erinnerung an den eigenen Sklavendienst fragwürdig. Eben dieser Moral wirft
Nietzsche Lebensfeindlichkeit vor, „denn jede gesunde Moral ist von einem Instinkte des Lebens beherrscht“ 830 . Im Interesse einer „gesunden Aristokratie“
nimmt sie „mit gutem Gewissen das Opfer einer Unzahl von Menschen“ hin, die
„zu Sklaven, zu Werkzeugen herabgedrückt“ werden müssen831. Judentum und
Christentum - als „die letzte jüdische Konsequenz“832 , das „als Religion zum
825
826
827
828
829
830
831
832
Vgl. KSA 2: 117 und 6: 159.
KSA 6: 96.
Dass für die Durchsetzung des Ausschließlichkeitsanspruch JHWHs und die kultische Reinheit kein geringer
Preis gezahlt wurde, arbeitete die feministische Theologie, der zuweilen Nietzsches Affekte gegen den Monotheismus nicht fremd sind, heraus; vgl. Marie-Theres Wacker/Erich Zenger (Hrsg.): Der eine Gott und die
Göttin. Gottesvorstellungen des biblischen Israel im Horizont feministischer Theologie (QD 135), FreiburgBasel-Wien 1991; Luise Schottroff/Silvia Schroer/Marie Theres Wacker, Feministische Exegese. Forschungsbeiträge zur Bibel aus der Perspektive von Frauen, Darmstadt 1995.
KSA 5: 117.
Vgl. Crüsemann 1997: 132ff u. 235ff.
KSA 6: 85.
KSA 5: 206.
KSA 6: 192 – „Man ist“, heißt es an anderer Stelle, „unter Juden: erster Gesichtspunkt, um hier nicht völlig
den Faden zu verlieren. Die hier geradezu Genie werdende Selbstverstellung ins ‘Heilige’, unter Büchern und
Menschen nie annähernd sonst erreicht, diese Wort- und Gebärden-Falschmümnzerei als Kunst ist nicht Zu-
235
vulgus“ gehört833 - negieren mit ihren tiefen Ressentiments gegen alles Hohe und
Vornehme den ‘Lebensinstinkt’ selbst, der frei ist von sentimentalen Rücksichten. Nietzsches imperiale Töne sind diejenigen seiner Epoche 834 ; inzwischen
fragt es sich allerdings, ob nicht die Menschheit eher an der von ihm gepriesenen Gesundheit zugrunde gehen könnte.
Eugen Biser hat mit Recht darauf aufmerksam gemacht, dass „Nietzsche die
Person Jesu aus dem Schußfeld seiner Christentumskritik auffällig herausnimmt“835; zugleich distanziert er sie aber vom Judentum, der kirchlichen Überlieferung und von Paulus, dem „jüdischen Pascal“ und ‘ersten Christen’836, den
er für die Ausbildung einer Christologie und Eschatologie verantwortlich macht.
Wird Nietzsche einerseits nicht müde, das Christentum in Kontinuität zum
Frühjudentum zu sehen, so weist er doch andererseits in Einklang mit dem historisch-kritischen Befund die traditionelle christliche Lesart des Alten Testaments,
dieses „unerhörte philologische Possenspiel“, zurück; die Texte enthalten keinerlei Hinweise und Verheißungen auf Jesus von Nazareth. Unredlich ist darum
der „Versuch, das alte Testament den Juden unter dem Leib wegzuziehen, mit
der Behauptung, es enthalte Nichts als christliche Lehren und gehöre den Christen als dem wahren Volke Israel“837. Während aber jüdische Theologen seit Abraham Geiger und Samuel Hirsch Jesus ins Judentum seiner Zeit heimholten, ist
Nietzsche eher um Distanzierung bemüht „Dieser ‘frohe Botschafter’“, versichert Nietzsche, „starb wie er lebte, wie er lehrte – nicht um ‘die Menschen zu
erlösen’, sondern um zu zeigen, wie man zu leben hat.“. Mit dem Himmelreich
habe Jesus ein „Glück auf Erden“, kein Jenseits, gemeint: „Nicht ein Glauben,
sondern ein Thun“, stand im Mittelpunkt der Botschaft Jesu, und zwar eine Praxis jenseits von Sünde und Vergebung, kurz: „die ganze jüdische Kirchen-Lehre
war in der ‘frohen Botschaft’ verneint“838. Denn „Sünde ist ein jüdisches Gefühl
und eine jüdische Erfindung“, wie es in der Fröhlichen Wissenschaft heißt839,
während Jesus „den Begriff ‘Schuld’ selbst abgeschafft“ habe und mit ihm „jede
Kluft zwischen Gott und Mensch“ „Dieser heilige Anarchist, der das niedere
Volk ... zum Widerspruch gegen die herrschende Ordnung aufrief“840 endete als
fall irgend welcher Einzel-Begabung, irgend welcher Ausnahme-Natur. Hierzu gehört Rasse. Im Christentum
als die Kunst, heilig zu lügen, kommt das ganze Judenthum, eine mehrhundertjährige jüdische allerernsthafteste Vorübung und Technik zur Meisterschaft. Der Christ, diese ultima ratio der Lüge, ist der Jude noch
einmal – drei Mal selbst...“ (KSA 6: 219) Zu Nietzsches Kritik der ‘Heiligkeit’ vgl. Safranski 2000: 196-198.
833
KSA 12: 512.
834
Vgl. hierzu auch Safranski 2000: 277-280; Adorno 1996: 256f.
835
Biser 1982: 72-85 hier: 74; vgl. Türcke 1999: 150-162.
836
KSA 3: 65.
837
Beide Zitate: KSA 3: 79.
838
Zitate: KSA 6: 207, 215, 211 und 206.
839
KSA 3: 486.
840
KSA 6: 215 und 198.
236
Verächter des Gesetzes am Kreuz841. Erst die Krise des Kreuzestodes und dessen
paulinische Interpretation machten aus Jesus den Erlöser und Messias, mit dem
sich eine schaurige, ja ‘heidnische’ Opfer-Theologie verband. Der Jesus, den
Nietzsche konstruiert, kennt auch keinen Messianismus, keine Apokalyptik. In
„Überlegenheit über jedes Gefühl von Ressentiment“ 842 lebt und lehrt er ganz
im Hier und Jetzt, wo das ‘ewige Leben’ einzig zu suchen ist. Das Reich Gottes
ist eher eine Metapher für die „Sprengung des Himmels durch gesteigerte
Menschhaftigkeit“, wie Walter Benjamin Nietzsches Utopie des Übermenschen
charakterisierte843. Am Ende der Monotheismus-Kritik steht nun eine Nietzsche
faszinierende Gestalt, ein ‘freier Geist’, der im Gegensatz zu den Paulinischen
Verfälschungen die Welt nicht verneint, sondern, „jenseits von Formel, Gesetz,
Glaube, Dogma“844, wie Nietzsches Zarathustra die Liebe zum „Fernsten und
Künftigen“ 845 , zum Übermenschen, lehrt. Freilich: „Nietzsche liefert keinen
Beweis für die doppelte Fälschung der Heiligen Schriften. Es bliebe nachzuweisen, daß die Priester und der heilige Paulus den bewußten Willen zu täuschen
hatten, und daß der historische Christus dem Porträt entspricht, das Nietzsche
von ihm zeichnet.“846
c) Und „wenn sich Gott selbst als unsere längste Lüge erweist?“
Nietzsches Stellung zur jüdisch-christlichen und zur metaphysischen Tradition ist jedoch keineswegs so eindeutig, wie die Polemik gegen den biblischen Monotheismus es auf den ersten Blick suggeriert: Nach Nietzsche besitzt nämlich der
jüdische Gottesbegriff all jene Eigenschaften, welche der Mensch aus sich heraus in ein Jenseits seiner selbst projizierte: „Die Juden“, heißt es in der Fröhlichen Wissenschaft, „haben an ihrem göttlichen Monarchen und Heiligen einen
ähnlichen Genuss wie der war, welchen der französische Adel an Ludwig dem
Vierzehnten hatte. Dieser Adel hatte sich alle seine Macht und Selbstherrlichkeit
nehmen lassen und war verächtlich geworden: um diess nicht zu fühlen, um
diess vergessen zu können, bedurfte es eines königlichen Glanzes, einer königlichen Autorität und Machtfülle ohne Gleichen, zu der nur dem Adel Zugang of-
841
Vgl. KSA 5: 101.
KSA 6: 214f und 213.
843
Benjamin GS VI: 101. – „Dieser Mensch der Zukunft“ schreibt Nietzsche in der Genealogie der Moral“ ,,der
uns ebenso vom bisherigen Ideal erlösen wird, als von dem, was aus ihm wachsen musste, vom grossen Ekel,
vom Willen zum Nichts, vom Nihilismus, dieser Glockenschlag des Mittags und der großen Entscheidung,
der den Willen wieder frei macht, der der Erde ihr Ziel und dem Menschen seine Hoffnung zurückgiebt, dieser Antichrist und Antinihilist, dieser Besieger Gottes und des Nichts - er muss einst kommen... (KSA 5:
336)
844
KSA 6: 204.
845
KSA 4: 77.
846
Kofman 2002: 83.
842
237
fen stand.“847 Müssen aber nicht, wenn dies einmal erkannt wurde, die Verhältnisse, wie es auch schon Feuerbach forderte, nun geradezu revolutionär umgekehrt werden? Hält das jüdische Bewusstsein der Erwählung, das Nietzsche
stark beschäftigte, nicht in Wahrheit stellvertretend diejenige des Menschengeschlechts fest? Die religiöse und moralische ‘Avantgardefunktion’ mit ihrem
kryptischen Willen zur Macht848 wäre dann die auf den Kopf gestellte Bestimmung der Menschen zu einem Höheren, die unverstellt auszudrücken Nietzsche
sich berufen fühlt. In einem Aphorismus aus der Morgenröthe will es scheinen,
als weise Nietzsche dem über sich selbst aufgeklärten und zu seiner ursprünglichen Größe zurückgekehrten Judentum als „Erfinder und Wegzeiger Europas“849
eine Führungsrolle zu, was freilich in Deutschland mit seinem „nationalen Nervenfieber“ und seiner „Antisemiterei“ verkannt wird. Vielleicht ahnt Nietzsche,
dass der Antisemitismus nicht nur die eigenen üblen Absichten und Untugenden
ins Judentum projiziert, sondern auch das Ersehnte regressiv als Objekt des Hasses festhält850. Er ist Ausdruck des Ressentiments derer, die sich unterlegen fühlen, was sich nicht nur auf die unteren Schichten beschränkt. Sein Rat fällt
knapp aus: Es sind „die antisemitischen Schreihälse des Landes zu verweisen“851. Wenn Israel als das einst verachtete, stets aber seine Selbstachtung wahrende Volk „seine ewige Rache in eine ewige Segnung Europas verwandelt haben wird: dann wird jener siebente Tag wieder einmal da sein, an dem der alte
Judengott sich seiner selber, seiner Schöpfung und seines auserwählten Volkes
freuen darf – und wir Alle, Alle wollen uns mit ihm freuen!“852
Ist aber der eine und einzige Gott nur eine Chiffre für die unentwickelten, in ihn
projizierten menschlichen Potenziale, und lässt sich ohne substantiellen Verlust
Gott von seinem Thron stürzen und seine Allmacht in diejenige der Menschen
überführen? Zwar stützt sich Nietzsche auf die seit Beginn der Aufklärung geleistete kritische Arbeit, insbesondere auf die kulturhistorische Ableitung des
Gottesglaubens853, so dass der ‘tolle Mensch’ als Schlusswort den Tod des in
seiner ‘Zähmungsfunktion’ überflüssig gewordenen Gottes verkünden kann854;
847
848
849
850
851
852
853
854
KSA 3: 487.
Vgl. KSA 9: 21f.
KSA 3: 182.
Vgl. Horkheimer GS 5 (Dialektik der Aufklärung): 229 = Adorno GS 3: 225.
Zitate: KSA 5: 192f und 194.
Vom Volke Israel = KSA 3, 180-183 (Aph. 205), hier: 183. Allerdings fragt es sich, ob Nietzsche in diesem
Text nicht vielen rassistischen und antisemitischen Mustern verhaftet bleibt (das Klischee von der jüdischen
Rachsucht, Zudringlichkeit und Anpassungsfähigkeit, das angebliche Streben nach Vorherrschaft in Europa)
und einige davon lediglich positiv besetzt. Die Interpretationen gehen hier auseinander; vgl. Yovel 1989b:
131; Kofman 2000: 39-46, anders Taureck 2000: 35-58, der zwar Nietzsches tiefe Verachtung des Antisemitismus mehrfach belegt, aber mit Recht auf die Persistenz rassistischer Stereozype verweist.
KSA 3, 86.
Ebd.: 480-482; vgl. Montinari: 77f; Vattimo 1997: 21f; Eugen Biser, Flamme bin ich sicherlich! Der abschüssige Denkweg Friedrich Nietzsches, in: Lebendiges Zeugnis 55 (2000), 85-93. Den Begriff der ‘Zäh-
238
doch verschweigt er nicht, dass damit alles Denken ins Bodenlose fällt. Das
Messer der Kritik, das schließlich gegen sich selbst gerichtete christliche Wahrheitspathos, mit dem Gott ermordet wurde, wird nach seinem Tode selbst
stumpf, denn mit Gott stürzt auch der Wahrheitsbegriff, an dem das kritische
Geschäft sich bislang immer noch ausrichtete. So ignoriert Nietzsche keineswegs, „dass auch wir Erkennenden von heute, wir Gottlosen und Antimetaphysiker, auch unser Feuer noch von jenem Brande nehmen, den ein Jahrtausende
alter Glaube entzündet hat, jener Christen-Glaube, der auch der Glaube Plato’s
war, dass Gott die Wahrheit ist, dass die Wahrheit göttlich ist ...“855 Lassen wir
einmal dahingestellt, ob der „Christen-Glaube“ umstandslos mit jenem ‘metaphysischen Glauben’ Platos zu identifizieren ist, so fragt es sich doch, ob angesichts dieses Befundes Nietzsche noch so unbekümmert Schopenhauers Begriff
des ‘metaphysischen Bedürfnisses’ 856 beiseite schieben kann. Jedenfalls lässt
sich das, „was in Urzeiten zur Annahme einer ‘anderen Welt’ führte“, nicht bloß
einem „Irrthum in der Auslegung bestimmter Naturvorgänge“ zuschreiben. Nur
unter dieser, freilich kaum überzeugenden Voraussetzung hätten wir mit dem
Fortschritt der Wissenschaft Gott getötet857. Das Denken und Handeln der Menschen scheint jedoch tiefer mit dem Gottesbegriff verbunden zu sein: Jeder Gedanke, der über das unmittelbar Vorfindliche hinausgeht, die Welt nicht nur katalogisiert, besitzt eine metaphysische Schwerkraft. Was aber, so wendet Nietzsche ein, wenn der Wahrheitsanspruch, „wie ihn der Glaube an die Wissenschaft
voraussetzt“ und mit ihm „Gott selbst sich als unsre längste Lüge erweist?“858
Aber auch die Lüge setzt Wahrheit ebenso voraus wie die Desillusionierung859.
Nietzsches Argwohn wird dort geweckt, wo der Wahrheitsbegriff sich idealistisch erfüllen soll: in der Totalität eines Systems, dessen Fundament der Gottesbegriff ist. Mit Nachdruck macht Nietzsche geltend, „dass die Art des Seins
nicht auf eine causa prima zurückgeführt werden darf; dass die Welt weder als
Sensorium, noch als ‘Geist’ eine Einheit ist“. Der Wille zum System ist der vergeistigte Wille zur Macht. „Ich misstraue allen Systematikern“, erklärt Nietzsche, „und gehe ihnen aus dem Weg. Der Wille zum System ist ein Mangel an
mung’ übernahm Nietzsche von Schopenhauer, der den Menschen als ein wildes Tier bezeichnete, das der
‘Zähmung’ seiner destruktiven Kräfte bedarf (vgl. Schopenhauer Werke V: 193). Gerade jener religiös forcierte ‘Zähmungsprozess’ wird von Nietzsche mit stärkstem Argwohn betrachtet. Deutlicher als Schopenhauer erkennt Nietzsche die dialektische Seite dieses Prozesses.
855
KSA 3, 577; 5, 401.
856
Schopenhauer bestimmt den Menschen sogar als ‘animal metaphysicum’: „Tempel und Kirchen, Pagoden
und Moscheen, in allen Landen, aus allen Zeiten in Pracht und Größe, zeugen vom metaphysischen Bedürfniß des Menschen, welches stark und unvertilgbar, dem physischen auf dem Fuße folgt.“ (Schopenhauer
Werke II: 185 und 186)
857
Zitate: KSA 3: 495 und 480f.
858
Ebd.: 577.
859
Vgl. Schweppenhäuser 1986: 201.
239
Rechtschaffenheit.“860 Der Aphorismus als philosophische Form und der Essay
tragen diesem Vorbehalt Nietzsches Rechnung861. Der biblische Monotheismus
mit seiner polemischen Negation aller anderen Götter, aber auch die frühesten
philosophischen Bemühungen seit Thales und Parmenides sind für Nietzsche
Ausdruck des Bestrebens, „das Reich der Vielheit zu simplificieren“862. Gott (als
der einzige) wäre damit der ins Jenseits projizierte Wille zum System, in welchem die metaphysische mit der moralischen Weltordnung vereinigt ist. Nietzsches Kritik der Identitätsphilosophie entfaltete im 20. Jahrhundert eine beachtliche Wirkung863; theologisch wurde sie indessen nur zögernd rezipiert, jedoch
zwingt diese Vernunftkritik die Theologie zu einer Überprüfung ihres eigenen
Vernunftbegriffs, ihrer Begründungs- und Argumentationsverfahren. Wie eine
Antwort auf Nietzsches systemfeindliche Skepsis gegenüber dem Gottesbegriff
liest sich Emmanuel Lévinas’ Gedanke, die Idee einer creatio ex nihilo drücke
„eine Mannigfaltigkeit aus, die nicht in einer Totalität geeint ist. ... Die Schöpfung aus Nichts zerbricht das System, sie setzt ein Seiendes außerhalb jeden
Systems, d.h. dort, wo seine Freiheit möglich ist.“864 Dies kennzeichnet zugleich
eine Theologie, die, wie er auf Nietzsche anspielend formuliert, „aus keinerlei
Spekulation über das Jenseits der Hinterwelten hervorgeht“865.
Aber das Wahrheitspathos, der ‘Wille zur Wahrheit’, besitzt auch eine moralische, normative Seite: „ich will nicht täuschen, auch mich selbst nicht“866, ein
Anspruch, der sich, wie Nietzsche feststellte, durchaus gegen den Instinkt des
Lebens, das seine großen und kleinen Täuschungen zuweilen braucht, richten
kann. Der Wille zur Wahrheit kennt damit noch eine andere Welt, so Nietzsche,
als „Leben, Natur und Geschichte“, die insgesamt ‘unmoralisch’, d.h. ethisch
indifferent sind867. Nietzsche integriert den Willen zur Wahrheit in eine Konzeption, die ihrerseits nicht frei ist von starken identitätsphilosophischen Affinitäten: „Die Welt von innen gesehen, die Welt auf ihren intelligiblen Charakter hin
bestimmt und bezeichnet – sie wäre eben ‘Wille zur Macht’ und nichts ausserdem.“868. Das Individuum ist lediglich Teil eines Lebens, das vom Willen zur
Macht mehr noch bestimmt wird als vom Streben nach Glück869. Dies ist aber
860
Zitate: KSA 6: 97 und 63. Hier findet möglicherweise Nietzsches Nähe zu Spinoza ihre Grenze, trennen sich
der ‚conatus sese conservandi‘ und der ‚Wille zur Macht‘ (vgl. Yovel 1989b: 110-113).
861
Vgl. hierzu Krüger 1988: 76ff sowie Adorno GS 11: 9-33.
862
KSA 1: 821.
863
Vgl. Habermas1986: 104-157.
864
Lévinas 1993: 149.
865
Ebd. 11.
866
KSA 3, 576.
867
Ebd.: 577.
868
KSA 5: 55.
869
KSA 6: 96. - „In fact, life does not in the least tend towards the pursuit of happiness but rather seeks power“,
resümiert Vincenzo Ferrone (Ferrone 2015: 29).
240
gerade jene Reduktion, die er dem metaphysischen Gottesbegriff vorwirft.
Nietzsches Rebellion im Namen des unterdrückten Lebens, dessen Instinkte
normativ überhöht werden, steht noch im Banne der Willensmetaphysik Schopenhauers. Wegen dieser problematischen „Reduktion auf einen Effekt der Stärke (die Wahrheit als ‘Wille zur Macht’)“ verbleibt auch Nietzsche noch „im
Dunstkreis der begründenden Metaphysik“ 870 . Damit verbindet sich die Tendenz, die Differenz von Wahrheit und Schein aufzugeben; dies trifft den kritischen Impuls zentral und erweist, was mit dem Gestus illusionsloser Aufklärung
vorgetragen wird, als Rechtfertigung des Bestehenden: eine Kosmodizee ohne
Gott.871.
d) Amor fati oder ‚Sabotage des Schicksals? Auch im Lob des Stärkeren,
in der ewigen Wiederkehr des Lebens, und in der Aufforderung, sein Schicksal
zu lieben872, schmiedet Nietzsche jene Kette neu, die seine Kritik zu zerreißen
versuchte. Die Kritik des Systems schließt die Demontage des Schicksals ein.
Endlicher Geist jedoch, als vom ‘Lebensinstinkt’ abgezweigt, ist nicht mehr auf
den Willen reduzierbar, sondern greift über zirkuläre Natur hinaus. Geist, die
aufgeschobene Handlung, ist wesentlich Bewusstsein der Differenz, und so hat
mit dem Faktum des Bewusstseins die Welt ihre Unschuld verloren. Im Geist
drückt sich auch die Not des Lebendigen aus, die Nietzsche zum Schicksal verklärt, und ohne Anstrengung des von Natur differierenden Geistes ist diese Not
nicht zu lindern. Jenes Ressentiment, das alles Geistige bisher kennzeichnet,
verschwände wohl erst in einer Kultur, die nicht mehr auf blinder Unterwerfung
basierte. Aber auch hier bliebe ein Rest an Nichtidentität, den zu leugnen noch
die fortgeschrittenste Kultur der Lüge überführte: Ressentiment verwandelte
sich in Trauer über das unwiederbringlich Verlorene; sie verschwände erst in der
erlösten Welt. Darin liegt in der Tat die von Nietzsche erkannte Affinität jedes
kritischen, sich in der Wiederholung des Bestehenden nicht erschöpfenden Gedankens zum Gottesbegriff, der Nietzsche als Basis der ‘moralischen Weltordnung’ verdächtig war873. Die Hoffnung auf eine Erlösung des Vergangenen874
ebenso wie die Lust, die nach Zarathustras Nachtlied Ewigkeit will875, verweisen
auf ein Leben, das nicht mehr Raub und Vernichtung ist. Der leibhafte Impuls
870
871
872
873
874
875
So Vattimo 1997: 124.
Vgl. KSA 6: 81.
„Meine Formel für die Grösse am Menschen ist amor fati... Das Nothwendige nicht bloss ertragen, noch
weniger verhehlen..., sondern es lieben.“ (KSA 6: 297) - Vgl. hierzu die Kritik Adornos: GS 4: 106-108;
ders. 1996: 255-260; Schweppenhäuser 1993:156-173.
Dass allerdings die Moral – und zwar auch die ‘von unten’ – keine ‘Erfindung’ des Nietzsche suspekten
Monotheismus ist, hatte Jan Assmann (2003: 74f) gegen Nietzsche mit Recht betont.
KSA 4: 399; 6: 348.
KSA 4: 286, 404.
241
und der Wille zur Wahrheit konvergieren im Protest gegen ein Dasein, das
Nietzsche zugleich durchschaute und in seiner ‘Kosmodizee’ ideologisch überhöhte. „Auf welche Ansprüche an die Welt“, fragt Susan Neiman präzis, „müssen wir verzichten, um uns in ihr zu Hause zu fühlen?“876 Nietzsche war eher
bereit, nachdem die von Leibniz bis Hegel behauptete Einheit von Vernunft und
Wirklichkeit sich als unhaltbar erwies, den ethischen Impuls des Denkens als
das dem starken Leben gegenüber Schwächere zu opfern. Das Modell der ewigen Wiederkehr aber, - „Alles in der selben Reihe und Folge“ - und die Forderung, dem ‘Leben gut zu werden‘, „um nach Nichts mehr zu verlangen, als nach
dieser letzten ewigen Bestätigung und Besiegelung”877, scheitern vorab an der
Weigerung, das Grauen des 20. Jahrhunderts noch einmal durchmachen zu müssen; Versöhnung bleibt bei Nietzsche wie bei Hegel Schein, weil sie um den
Preis einer Affirmation des Leids erkauft wird878. Die Utopie des Übermenschen
schließlich, die den Tod Gottes fordert und zugleich kompensiert 879, oszilliert
zwischen der uneingeschränkten Bejahung des perennierenden Grauens und dem
Bild des endlich zur Ruhe gelangten Lebens. Die Dialektik der Kultur, in welche
Nietzsche die Genese und Fortentwicklung des Monotheismus einordnete, wurde von ihm nicht vollständig entfaltet: Gewalt als kulturell reproduzierter Naturzwang stieß ihn nicht nur ab, sie faszinierte ihn auch. Dies hindert ihn daran, die
Abschaffung der Not und die „höhere Kultur“, in welcher Vernunft, Gefühl und
Natur annähernd versöhnt sind880, nicht nur für die happy few anzustreben. Solange Glück nur mit Vergessen bezahlt wird, bleibt es schal. Die Höherentwicklung auf Kosten des Schwächeren, von ihm selbst, der die Notwendigkeit des
historischen Philosophierens unterstrich881, zum Schicksal verklärt, gehört selbst
noch zur autodestruktiven Dialektik des Zivilisationsprozesses.
Der monotheistische „Sklaven-Aufstand in der Moral“882 durchstieß wenigstens
im Ansatz den Panzer der Selbstbehauptung und enttarnte den Kampf ums Dasein, der bis heute als blinder Naturzwang den Zivilisationsprozess bestimmt, als
gravierende Entwertung des Lebens. Die prophetische Kritik, in deren Kontext
die Entmythologisierung der Herrschaft sich vollzog, hatte weder „‘reich’ ‘gottlos’ ‘böse’ gewalttätig’ ‘sinnlich’ in Eins Geschmolzen“, noch wurde durch sie
„zum ersten Male das Wort ‘Welt’ zum Schandwort gemünzt“883. Welt, Leben,
876
877
878
879
880
881
882
883
Neiman 2004: 163.
KSA 3: 570 / 9: 523.
Siehe hierzu Montinari 1991: 85-91; Vattimo 1992: 68-76; Schweppenhäuser 1986: 203f; Sonnemann 1969:
308f; Neiman 2004: 385-391.
Vgl. KSA 4: 331 und 357.
Vgl. KSA 2: 208f.
Vgl. KSA 1: 249f und 25.
KSA 5: 117.
Ebd.
242
Natur, kurz: die gesamte materielle und geschichtliche Wirklichkeit erfährt im
biblischen Urteil keine platonische Degradierung zugunsten des Unveränderlichen und Geistigen. Es ist darum auch problematisch, den Monotheismus, wie
es von Kant bis Freud geschah, primär unter dem Gesichtspunkt einer fortschreitenden Vergeistigung der Religion zu sehen884.
Der von Nietzsche teils beargwöhnte, teils bewunderte ‘große Stil in der Moral’ 885 verurteilte nicht das von seiner sinnlichen Komponente untrennbare
Glück, das im Bilde vom Land, „in dem Milch und Honig fließen“ (Dtn 11, 9),
geradezu fokussiert ist, wohl aber dessen am aristokratischen Ideal orientierte
Privilegierung886. Nietzsche adelt die faule Existenz; die ‘Vornehmen’ wären es
in Wahrheit erst, wenn sie ihr Dasein nicht mehr an Unterdrückung binden
müssten. „Der Adel von Geburt“, heißt es bei Max Horkheimer, „wird wieder
eingeführt, wenn sein Gegenteil, die Gleichheit der Menschen, aus einer Ideologie zur Wahrheit wird.“ 887 Die Idee der Gleichheit ist vom monotheistischen
Gottesbegriff ebenso wenig zu trennen wie diejenige der Freiheit, der Aufhebung aller Sklaverei. Mit dem Tod Gottes verbindet Nietzsche im Zarathustra
nicht zufällig das Ende der Gleichheitsidee888. Vor dem einzigen Gott hört gesellschaftliche Differenzierung auf, Schicksal zu sein; sie wird als menschliche
Setzung begriffen und problematisiert. „Die Verheißung von Milch und Honig
zieht“, wie Michael Walzer betont, „so etwas wie eine negative Gleichheitslehre
nach sich: Sie richtet sich gegen die maßlose Ungleichheit von Tyrann und Untertan, Fronvogt und Sklave.“ 889 Die positive Seite dieser Kritik wird ausgedrückt in der Idee des priesterlichen Volkes: „In GOTTES Königreich werden alle
Hebräer Priester und das Volk als Ganzes wird heilig sein.“890 Die nachdrückliche Forderung nach Heiligkeit – das Gegenteil des von Nietzsche verachteten
Mittelmaßes891 - richtet sich also nicht bloß an eine Priesterkaste, sondern an das
ganze Volk: „Seid heilig, denn ich, der Herr, euer Gott, bin heilig!“ (Lev 19, 2)
Sie schließt nicht nur kultische, sondern auch soziale Bestimmungen ein. Freiheit ist nicht identisch mit der uneingeschränkten Freiheit des Stärkeren; sie be884
885
886
887
888
889
890
891
Vgl. Zirker 1995: 166f. Wenig überzeugend ist auch Jan Assmanns These von der ‘Weltverneinung’, welche
die ‘mosaische Unterscheidung’ kennzeichne, (vgl. Assmann 2003: 63f). Negiert wird nicht die Welt, sondern eine in Wahrheit von Menschen hervorgebrachte und zum Schicksal erhobene Ordnung; siehe auch
Buchholz 2001: 311ff.
KSA 5: 192.
„In seinem Kultus der Vornehmheit und der Tugenden einer neuen aristokratischen Moral ist die Kritik bestehender Moralvorstellungen in die affirmative Vision gesellschaftlicher Unrechts- und Gewaltverhältnisse
umgeschlagen, die nur noch als eine um die Privilegien philosophierender Herrscherkasten vermehrte
schlechte Alternative zum Bestehenden bezeichnet werden kann.“ (Schweppenhäuser 1993: 171)
Horkheimer GS 3: 271; vgl. auch Schweppenhäuser 1986: 191-193.
KSA 4: 356.
Walzer 1995: 117.
Ebd.
KSA 5: 217.
243
ginnt vielmehr jenseits des animalischen struggle for existence und schließt darum Gerechtigkeit notwendig ein: Die Bibel ist das Buch des zerbrochenen
Jochs und des aufrechten Ganges (vgl. Lev 26,13).
Die „Sabotage des Schicksals“ (Ulrich Sonnemann) gehört zu den spezifischen
Merkmalen des biblischen Monotheismus. Weder duldet der ‘eifersüchtige’ Gott
das Schicksal als weitere Gottheit neben sich, noch verblasst er selbst zum anonymen Verhängnis; „Gott ist“, wie Hermann Cohen betonte, „kein Schicksalsbegriff“892. Nietzsches Forderung, sein Schicksal nicht nur resigniert hinzunehmen, sondern zu lieben893, besitzt demgegenüber regressive Züge. Sie erweist
sich vor der Kritik, wie Susan Neiman es treffend formulierte, als „Sklavenmoral für Herrenmenschen“894, die den angeblichen Priesterbetrug durch stoischen
Selbstbetrug ersetzt. Die Herausführung aus Ägypten, „dem Sklavenhaus“ (Ex
20,2), ist die göttliche Negation nicht nur des Schicksals, sondern auch der Herrenmoral, deren Kehrseite die ‘Sklavenmoral’ ist, jene Hassliebe auf das versperrte Privileg und die eigentümliche Mischung aus Unterwürfigkeit und folgenlosem Aufbegehren. Die Bibel unterschlägt übrigens die sklavische ‘Furcht
vor der Freiheit’ nicht, sondern thematisiert sie als „gleichzeitige Bereitschaft
und Unwilligkeit der Menschen, Ägypten hinter sich zu lassen“ 895. Die Sehnsucht nach den ‘Fleischtöpfen’ Ägyptens (die im Rückblick immer voller wurden) gipfelt im „Murren gegen Gott und Moses“896. Die Befreiung von Sklaverei
und Sklavenmoral wird in der Ausbildung des Kultes, der Gestaltung des Rechts
und des sozialen Zusammenlebens sorgfältig erinnert; viele Bestimmungen mit
egalitärer Tendenz enthalten zur Begründung den Hinweis auf die eigene Verknechtung in Ägypten. So bilden auch die avodah für Gott und im verheißenen
Land einen strikten Gegensatz zu derjenigen für Pharao. „Man hat ein feines
Ohr für Kettengeklirr“, wie auch Nietzsche wusste, „wenn man jemals eine Kette getragen hat.“897. Die spezifische Gestalt, die diese Erinnerung annimmt, ist
nicht unabhängig von der Entwicklung des Monotheismus und den geschichtlichen Erfahrungen, die er verarbeitet898. Religionsgeschichtlich ist der Monothe892
893
894
895
896
897
898
Cohen 1929: 26. „Der einzige Gott“, heißt es an anderer Stelle, „hat nicht bloß kein Schicksal über sich,
sondern auch nicht in sich.“ (ebd.: 222); René Buchholz: Offenbarung als Entmythologisierung? Anstiftung
zur theologischen „Sabotage des Schicksals, in: Heino Sonnemans / Thomas Fößel (Hrsg.), „Faszination
Gott“. Hans Waldenfels zum 70. Geburtstag, Paderborn 2002, 79-102.
Vgl. KSA 6: 297.
Neiman 2004: 350.
Walzer 1995: 83.
Ebd. – „Nietzsche hat verkannt“ bemerkt Adorno, „daß die von ihm kritisierte Sklavenmoral in Wahrheit
immer Herrenmoral, nämlich die von Herrschaft den Unterdrückten aufgezwungene, gewesen ist.“ (Adorno
1996: 258)
KSA 9: 661.
Vgl. Assmann 1999: 196-228. 196-228. Zur Diskussion um die Entstehung und Bedeutung des biblischen
Monotheismus vgl. Fritz Stolz, Einführung in den biblischen Monotheismus, Darmstadt 1996; Marie-Theres
244
ismus nicht selbstverständlich. Sein herrschaftskritisches, kontrafaktisches Profil
– Gott tritt ja nicht an die Stelle des Pharao - gewinnt er, um eine Formulierung
Nietzsches zu verwenden, am Gedächtnis dessen, „was nicht aufhört weh zu
thun“899. Schon lange vor Metz und seiner Wiederentdeckung des ‘pathischen
Monotheismus’900 hatte Nietzsche die „Leid- und Reizfähigkeit“ des Monotheismus thematisiert901. Er ist in hohem Maße mit einem Krisenbewusstsein fusioniert, das allem Lob von Stärke und Gewalt als Repräsentation verwilderter
Selbsterhaltung das Urteil spricht. Dass man, was fällt, noch stoßen solle902, diese „urbürgerliche Maxime“903, die Nietzsche offen ausspricht und affirmiert, ist
dem biblischen Monotheismus fremd; sie verwechselt den zwanghaften Zirkel
von Herrschaft und Untergang mit dem befreiten Leben.
Nicht jedoch ist jeglicher ‘Wille zur Macht’ negiert: Die ‘Sabotage des Schicksals’ findet nicht nur mental statt, sondern hat auch ihre kämpferische, offensive
Seite. Die geschichtlichen Taten Gottes, mit denen Israel, aber auch das frühe
Christentum den eigenen Glauben verbindet, sind Machttaten. Die Durchsetzung
der Königsherrschaft Gottes ist wesentlich an seine Macht gebunden, auch dann,
wenn die Formen, in welchen diese Macht sich äußert, allen menschlichen Erwartungen widersprechen. Ein schlechthin ohnmächtiger Gott kann weder
Schöpfer noch Befreier und Erlöser sein. Das von Deuterojesaja unter dem Eindruck des Exils vermittelte Bild vom einzigen Gott, der Herr über Schöpfung
und Geschichte ist, hat angesichts des perennierenden Unheils bis zur Gegenwart einen enormen eschatologischen Überschuss. Die davon schwer zu trennende Kehrseite dieses nicht nur pathischen (Metz), sondern auch polemischen
Monotheismus ist, wie Aufklärung es ihm teils vorhielt, teils nachahmte, seine
bis ins Autodestruktive reichende eschatologische und politische Ungeduld. Die
„Sprengkraft“, die Henri de Lubac dem biblischen Monotheismus bescheinigte904, führte mitunter auch zu Detonationen im Binnenbereich. Die eschatologische Spannung birgt schließlich die Gefahr einer Entwertung der Gegenwart und
eines „Lebens im Aufschub“, wie Gershom Scholem es nannte905.
Wacker, „Monotheismus“ als Kategorie der alttestamentlichen Wissenschaft. Erkenntnisse und Interessen, in:
Manemann 2003: 50-68; Erich Zenger, Der Monotheismus Israels = Söding 2003: 9-52.
899
KSA 5: 295.
900
Vgl. Metz 1997: 160-162.
901
KSA 6: 200.
902
Vgl. KSA 4: 261f.
903
Adorno 2001: 54.
904
Lubac 1992: 24f; vgl. auch Buchholz 2001: 298-308.
905
Vgl. Scholem 1963: 74. – Die von Jan Assmann (2003: 70) mit Recht hervorgehobene „Trennung von Herrschaft und Heil“ verbietet im Grunde jede Identifizierung gegenwärtiger irdischer Herrschaft mit dem göttlichen Heil. Die Gefahr eines auf Dauer gestellten ‘Lebens im Aufschub’ (und nicht die Intoleranz) bei stärkerer oder geringerer Distanz zum status quo müsste dann wohl als Preis nicht nur des Messianismus, sondern
schon des Monotheismus angesehen werden.
245
Die an Leid- und Befreiungserfahrungen gebundene Erinnerungsgestalt bestimmt auch das Christentum. Dessen Erlösungsbegriff umfasst die Befreiung
nicht nur vom schicksalhaft verhärteten Schuldzusammenhang, den Nietzsche
im Namen des Lebens dementierte, sondern auch vom Tod als letzter Schicksalsmacht906. Verdrängt wurde jedoch im Christentum - soweit es sich mehr und
mehr als Religion der Herrschenden und ‘Vornehmen’ etablierte -, dass die Einlösung dieser Verheißung für alle im Irdischen beginnen muss. Tiefer als meist
zugegeben wird, war das Christentum in die Dialektik der Kultur verflochten
und neutralisierte die eigenen kritischen Potenziale. Im Zuge einer Rechtfertigung der herrschenden Gesellschaft etablierte es im Dienste der Herrenmoral
jene Sklavenmoral neu, der Nietzsche mit Grund misstraute, ohne ihre Genealogie bis in die Urgeschichte von Herrschaft hinein voranzutreiben. Wurde auf
christlicher Seite oft genug Gottes Ratschluss vorschnell mit dem gesellschaftlichen Schicksal von Individuen und Gruppen identifiziert, so rechtfertigt Nietzsche den historisch entsprungenen Status der Herren mit dem Hinweis auf eine
unhintergehbare ‘Naturordnung’. Unter Berufung auf die angeblichen ‘NaturWerte’ verfällt auch das im Alten Testament fundierte Mitleid (das ja zugleich
imitatio dei ist) dem Verdikt Nietzsches907. Auch wenn, wie Adorno einräumt,
im Begriff des Mitleids „stillschweigend der negative Zustand der Ohnmacht, in
dem der Bemitleidete sich befindet, aufrechterhalten, sanktioniert“ wird 908, so ist
Kompassion doch ein zentraler Impuls der Kritik und schwacher Hoffnungsschimmer in einer Welt, die eher der Hölle gleicht als dem Stande der Erlösung.
Nietzsches Kritik der repressiven Seite christlicher Moral ist freilich durch den
Hinweis auf die reaktionäre Tendenz seines Gesellschaftsmodells nicht schon
abgetan; Theologie darf hinter seine Einsichten in die gewaltsame, destruktive
Seite der Kultur, an der auch Religion partizipiert, nicht zurückfallen. Unverkennbar, dass die stoffliche, somatische Seite des Menschen der kirchlichen Morallehre und ihrer theologischen Auslegung trotz der antignostischen Polemik
der Kirchenväter eher suspekt war. Der somatische Impuls wurde einer sorgfältigen Kontrolle unterworfen, die seine Interventionen nach Möglichkeit abzuschwächen und in vertraute Bahnen zu lenken versuchte. Einem solchen lustfeindlichen Christentum ist in der Tat „jene frohe Botschaft“ nicht gerade „in’s
Gesicht geschrieben“ 909 . Diesen wenig erhebenden Befund aber lediglich auf
906
Dass allerdings die christliche Soteriologie sich mit einem stark interpretationsbedürftigen Opferbegriff verband, den die philosophische Kritik von Nietzsche bis Adorno als Rückfall ins „schauderhafte Heidenthum“
(KSA 6: 214f) wertete, sollte auf theologischer Seite nicht übersehen werden. Vgl. Adorno GS 4 (Minima
Moralia): 107f.; GS 13 (Mahler): 207; Horkheimer GS 5 (Dialektik der Aufklärung), 72ff; 206ff.
907
KSA 6: 172-174.
908
Adorno 1996: 257; vgl. auch Schweppenhäuser 1993: 162f.
909
KSA 2: 418.
246
den Machtinstinkt einer Priesterkaste zurückzuführen, griff schon im Kontext
der radikalen Aufklärung zu kurz; der kritische Gedanke muss Herrschaft über
Natur und Menschen selbst auf allen Stufen der kulturellen Entwicklung zu seinem Gegenstand machen. Die von Nietzsche gefeierte ‘gesunde Moral’ ist aus
der Perspektive derjenigen, die die Spesen der Vornehmen und Starken zu zahlen haben, der christlichen Moral kaum vorzuziehen; fruchtbar wären beide erst
als Instanzen gegenseitiger Kritik.
Nietzsches Versuch, „nicht mehr den Kopf in den Sand himmlischer Dinge zu
stecken“910, sondern dem bislang unterdrückten Leben hier und jetzt sein Recht
zu verschaffen, endet am Mythos der ewigen Wiederkehr, vor dem auch die genealogische Methode kapituliert. Nach dem mehr postulierten als begründeten
Tod Gottes versteinert Geschichte, und es verewigt sich das stets wiederkehrende Grauen, von dem die Mythen erzählen. Das Projekt, das verkümmerte, mit
sich selbst im Widerstreit liegende Leben zu erwecken, misslingt, weil der neue
Mensch, dem Nietzsche im Zarathustra – seinem fünften ‚Evangelium‘911 – den
Weg bereiten möchte, immer noch im Banne des Mythos steht912. Ist es Zufall,
dass eine neue Faszination von der Idee der ewigen Wiederkehr gerade auf dem
Höhepunkt der liberalen Warengesellschaft ausgeht? „Die Essenz des mythischen Geschehens“, schreibt Benjamin in einer Notiz zum Passagen-Werk, „ist
Wiederkehr. Ihm ist als verborgene Figur die Vergeblichkeit einbeschrieben, die
einigen Helden der Unterwelt ... an die Stirne geschrieben steht.“ 913 Auch Nietzsches Übermensch, der doch zum Inbegriff der befreiten, über sich selbst hinauswachsenden Menschheit werden sollte, trägt solche Züge. Keine Utopie
überlebt auf Dauer den Tod Gottes.
Theologie, die der monotheistischen Dekonstruktion der schicksalhaft geschlossenen Immanenz treu bleiben möchte, muss gegen Nietzsches naturalisierende,
den mythischen Bann verstärkende Tendenz die genealogische Methode kritisch
fortführen: Es kommt darauf an, Herrschaft, die als Natur erscheint, in Geschichte zu übersetzen. Aber auch Geschichte ist kein Letztes, sondern harrt ihrer Erlösung als der endgültigen Erweckung des Lebens, die nicht erst in einem
Jenseits Konturen gewinnt. Darin bleibt die monotheistische Tradition den auf910
KSA 4: 37.
Vgl. hierzu Sloterdijk 2001: 25-39. „Nietzsches Evangelismus bedeutet …: sich im Gegensatz zu wissen zu
den Verkehrungsmächten von Jahrtausenden, in Opposition zu allem, was bis dahin Evangelium hieß, er
sieht sein Schicksal darin, ein froher Botschafter sein zu müssen ‚wie es keinen gab‘.“ (ebd.: 32; Sloterdijk
zitiert aus KSA 6: 366)
912
„Der Mythos“, resümierte Adorno treffend, „trennt Nietzsches Kritik an den Mythen von der Wahrheit.“
(Adorno GS 4: 108).
913
Benjamin GS V: 173-178, hier: 178. - Den Zusammenhang einer Renaissance des Mythos mit der zirkulären,
bei aller Dynamik auf der Stelle tretenden, den Naturzwang verlängernden Warengesellschaft hatte Benjamin
im Passagen-Werk angesprochen: „Der Kapitalismus war eine Naturerscheinung, mit der ein Traumschlaf
über Europa kam und in ihm die Reaktivierung mythischer Kräfte.“ (ebd: 494)
911
247
klärerischen Intentionen Nietzsches tiefer verbunden als dieser wohl ahnen
mochte. Angesichts einer kritikimmunen, veränderungsresistenten Gesellschaft,
einer neuen Faszination des Archaischen, Gewaltsamen, Zyklischen und Schicksalhaften hat Theologie sowohl an das Offene und Unabgegoltene als auch an
das Marginalisierte und Unscheinbare mit Nachdruck zu erinnern, ohne den erstaunten Zeitgenossen ein systemisch geschlossenes, irritationsfestes, verdinglichtes ‘Sinnangebot’ zu unterbreiten. Wie auch immer die Zukunft des biblischen Monotheismus in der resignierten Moderne aussehen wird, zu der katastrophengesättigten Normalität, die die von Nietzsche bewunderten Starken und
Tüchtigen geschaffen haben, und zur Abdankung der Vernunft angesichts der
irrationalen geschichtlichen Mächte bietet jener amour fou zwischen Gott, seinem Volk und der heillos zerstrittenen Menschheit nach wie vor eine ernst zu
nehmende Alternative – gerade im Interesse des beschädigten Lebens, das seine
Unschuld verlor, als es zum Bewusstsein erwachte.
248
7. Wiener Mélange:
Neurosen, Illusionen und sinnlose Sätze
Sigmund Freud (1856-1939), 1920
249
250
a) Seelische Unterwelten und das gefährdete Projekt der Kultur „Zwei große Kränkungen ihrer naiven Eigenliebe“, sagt Freud in den Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, „hat die Menschheit im Laufe der Zeiten von der
Wissenschaft erdulden müssen. Die erste, als sie erfuhr, daß unsere Erde nicht
Mittelpunkt des Weltalls ist, sondern ein winziges Teilchen eines in seiner Größe kaum vorstellbaren Weltsystems. Sie knüpft sich für uns an den Namen Kopernikus… Die zweite dann, als die biologische Forschung das angebliche
Schöpfungsvorrecht des Menschen zunichte machte, ihn auf seine Abstammung
aus dem Tierreich und die Unvertilgbarkeit seiner animalischen Natur verwies.
Diese Umwertung hat sich in unseren Tagen unter dem Einfluß von Ch. Darwin,
Wallace und ihren Vorgängern nicht ohne das heftige Sträuben der Zeitgenossen
vollzogen. Die dritte und empfindlichste Kränkung aber soll die menschliche
Größensucht durch die heutige psychologische Forschung erfahren, welche dem
Ich nachweisen will, daß es nicht einmal Herr im eigenen Hause, sondern auf
kärgliche Nachrichten angewiesen bleibt von dem, was unbewußt in seinem
Seelenleben vorgeht.“ 914 Freud erforscht unbekannte Regionen der seelischen
Immanenz, aber dieses ‚Abenteuer der Immanenz‘ endet nicht einfach mit der
Selbstbestätigung des Kritikers, der sich souverän auf seine klaren und deutlichen Erkenntnisse berufen kann. Das Seelenleben lässt sich nicht more geometrico konstruieren und die mühevoll errungenen Erkenntnisse zerstören die Illusion der Existenz eines souveränen Bewusstseins; sie vertreiben das Ich aus seiner innersten Domäne und machen es gleichsam heimatlos. Freud weiß sehr
wohl, das er damit „die bösesten Geister der Kritik gegen die Psychoanalyse
aufgerufen“ hat 915 ; einer Kritik, die weniger argumentativ begründet ist als
vielmehr in Affekten, in der Abwehr dessen, das geeignet ist, das Selbstwertgefühl zu beeinträchtigen. Freud sollte in diesem Punkt Recht behalten. Dabei war
diese Kränkung keineswegs präzedenzlos; man denke an Nietzsches Bild vom
Ritt auf dem Tiger und Schopenhauers Degradierung des Intellekts zum „Manufakturlöhnling“ des Willens916. Freud war sich dieser Ahnen durchaus bewusst
und schämte sich ihrer nicht, ja er sprach sogar von den „weitgehenden Übereinstimmungen der Psychoanalyse mit der Philosophie Schopenhauers“ 917 .
914
915
916
917
Freud GW XI, 294.
Ebd.: 294.
Nietzsche KSA 1: 877 und Schopenhauer Werke V: 70.
Freud GW XIV: 86; vgl. außerdem GW XIII: 53, 110, 251.
251
Dabei hatte Freud weniger die Erhebung des Willens zu einer quasimetaphysischen Größe (als Kantisches Ding an sich) im Blick, sondern die Einsicht darin, dass sich das Seelische keineswegs auf das Bewusste beschränkt.
Freud bestreitet „die Identität von Bewußtsein und Seelenleben“; ja die entscheidenden Vorgänge spielen sich ‚hinter der seelischen Fassade’ab, so dass
„die bewußten bloß einzelne Akte und Anteile des ganzen Seelenlebens“ ausmachen. Hinter dieser Fassade geht es keineswegs ruhig und diszipliniert zu; die
Psychoanalyse erkennt die unterschiedlichen psychischen Erscheinungen vielmehr „als Anzeichen eines Kräftespiels in der Seele“ oder „als Äußerung von
zielstrebigen Tendenzen, die zusammen oder gegeneinander arbeiten“918. Freud
veranschaulicht das Seelenleben durch
die Vorstellung dreier Räume. Das dem
Bewusstsein durch bloßen Willen nicht
erschließbare Unbewusste bildet den
großen Vorraum zum ‚Salon‘, in welchem das Bewusstsein residiert. Der Inhalt des Vorraums ist dem Bewusstsein
entzogen. Zwischen dem großen Vestibül und dem kleineren Salon aber befindet sich ein Wächter, „der die einzelnen
Seelenregungen mustert, zensuriert und
sie nicht in den Salon einläßt, wenn sie
sein Mißfallen erregen … Wenn sie sich bereits bis zur Schwelle vorgedrängt
haben und vom Wächter zurückgeweisen worden sind, dann sind sie bewußtseinsunfähig; wir heißen sie verdrängt.“ Aber selbst wenn sie über die Schwelle gelangen, so haben sie noch nicht den Salon erreicht, sondern werden noch in
einem weiteren Vorraum, der näher zum Bewusstsein ist, aufgehalten. Erst wenn
sie es vermögen, das Bewusstsein auf sich aufmerksam zu machen, können
ihnen die Wächter nichts mehr anhaben und so kommen sie schließlich zum
Ziel919. Das Bild, das in seiner Vereinfachung rein didaktischen Zwecken dienen
soll, wie Freud eigens hervorhebt, erinnert ein wenig an Kafkas Parabel Vor dem
Gesetz, wo mächtige und immer mächtigere Wächter den Eintretenden – hier:
die verdrängten Seelenregungen – daran hindern, bis zum Gesetz zu gelangen920,
und für viele ist es ganz unmöglich; der Durchgang wird geschlossen, und es
bedarf des ganzen Aufwands der Analyse, ihn wieder zu öffnen. Für den Psychoanalytiker Sandor Ferenczi (1873-1933) war Freuds besondere Leistung ge918
919
920
Freud GW XI: 12-15 und 62; siehe auch GW X: 265-303 (Das Unbewußte); GW XVII: 143f.
Freud GW XI: 305f, vgl. auch Zirker 1995: 179-182.
Vgl. Kafka 1994.
252
rade die „Erforschung der Unterwelt der Seele“921, wobei die ‚Unterwelt‘, den
weitaus größeren Teil des Seelenlebens beansprucht. Die Forschungsmethode,
hier sind Freud und Ferenczi durchaus einig, ist am Ideal der Naturwissenschaft
ausgerichtet und von ihm her bezieht die Psychoanalyse ihre Legitimation als
eine Wissenschaft, welche die metaphysische Seelenlehre ablöst, ohne das Moment der Deutung, des Sinnverstehens oder, wie Freud es nennt, den „spekulativen Überbau“ ganz zu verdrängen922.
Die zweite Zumutung der Psychoanalyse an das traditionelle Verständnis des
Seelischen besteht in der Einsicht, dass innerhalb dieser Dynamik die Triebe
eine grundlegende Bedeutung haben und hierbei dem Sexualtrieb die entscheidende Funktion zukommt, und zwar nicht nur „in der Verursachung der Nervenund Geisteskrankheiten“, sondern auch bei „den höchsten kulturellen, künstlerischen und sozialen Schöpfungen des Menschengeistes“923. Spinozas „conatus“
wird, so könnte man etwas pointiert formulieren, bei Freud konzentriert auf den
Sexualtrieb als dem mächtigsten. Er erscheint freilich nicht als unvermittelte Natur, sondern im Zusammenhang des seelischen Kräftespiels; für Freud wie für
Marx ist uns Natur nicht unmittelbar ‚gegeben‘, wobei – auch hier eine formale
Parallele zu Marx – die Triebe eine unaufhebbare physische Basis haben und
von der „Organlust“ nicht schlechthin zu trennen sind924. Im Verhältnis von Ich
und Es sowie im Hinweis auf die körperliche Basis des Trieblebens ist eine gewisse Affinität der Freudschen Theorie zu einem – allerdings ‚undogmatischen‘
– Materialismus kaum zu übersehen925. Freud meidet sorgfältig jede vorschnelle
Naturalisierung, zumal das Es als „der dunkle, unzugängliche Teil unserer Persönlichkeit“926 in den Katergorien eines starren ‚metaphysischen Materialismus‘
nicht beschreibbar ist. „Wir nähern uns dem Es mit Vergleichen, nennen es ein
Chaos, ein Kessel voll brodelnder Erregungen. Wir stellen uns vor, es sei am
Ende gegen das Somatische offen, nehme da die Triebbedürfnisse in sich auf,
die in ihm ihren psychischen Ausdruck finden, wir können aber nicht sagen, in
welchem Substrat.“ 927 Im Psychischen repräsentiert sich ein Physisches: die
Triebe, und das Es bezeichnet jenen Bereich des Psychischen, in welchem der
somatische Impuls sich manifestiert. Freud denkt das Es, um eine Formulierung
Kants aufzugreifen, als eine ‘ungeordnete Mannigfaltigkeit’ von Triebimpulsen,
welche, ungeachtet ihrer Kompatibilität, nach Befriedigung streben. Das Prinzip
921
922
923
924
925
926
927
Ferenczi 1964c: 26-32 (Zur Erkenntnis des Unbewussten (ca. 1911), hier: 30.
Freud GW XIV: 58, dazu Schmidt/Görlich: 1995: 79-81.
Freud GW XI: 15.
Vgl. Freud GW XI: 355f.
Vgl. hierzu Schmidt/Görlich: 1995: 75-97.
Freud GW XV: 80.
Ebd..
253
des verbotenen Widerspruchs hat hier keine strukturierende Geltung. „Ließe
man den Grundtrieben des Menschen die Freiheit, ihre natürlichen Ziele zu verfolgen“, schreibt Herbert Marcuse zur Freudschen Triebtheorie - „so wären sie
unvereinbar mit allem dauerhaften Zusammenschluß, jedem Fortbestehen: selbst
wo sie vereinten, würden sie zerstören. Der ungezügelte Eros ist ebenso verderbenbringend wie sein tödlicher Widerpart, der Todestrieb.“ 928 Es stellt die
spezifische Leistung und zugleich die Problematik der Kultur dar, diese destruktiven Tendenzen zu bändigen, wobei Kultur jedoch von einem naturalen Substrat nicht schlechthin abziehbar ist.
Allein auf der Basis des Es sind weder die Individuen noch ist die Gattung überlebensfähig: Sie müssten an den Bedingungen der Außenwelt scheitern, auf die
sie nicht angemessen reagieren könnten. Die Organisation des Es, seine Strukturierung übernimmt das Ich. Dieses ist nach Freud keine unabhängige zweite Instanz im Seelenleben, sondern vom Es abgezweigt und steht in dessen Dienst:
„Die Beziehung zur Außenwelt ist für das Ich entscheidend geworden, es hat die
Aufgabe übernommen, sie beim Es zu vertreten, zum Heil des Es, das ohne
Rücksicht auf diese übergewaltige Außenmacht im blinden Streben nach Triebbefriedigung der Vernichtung nicht entgehen würde.“ Die Realitätsprüfung, d.h.
die Kontrolle darüber, daß weder die Triebe untereinander, noch diese mit der
Macht der Außenwelt in einen tödlichen Konflikt geraten, ist Aufgabe des Ich,
und dieser Funktion verdankt sich das Denken als Aufschub der Triebbefriedigung. „Das Ich ist“, versichert Freud, „doch nur ein Stück vom Es. Ein durch die
Nähe der gefahrdrohenden Außenwelt zweckmäßig verändertes Stück.“929 Entsprechend ist das Ich weder eine dem Es gegenüber gleichursprüngliche Instanz,
noch kann es vom Es streng abgegrenzt werden, vielmehr sind die Übergänge
fließend. Noch die Denkfähigkeit ist zum Triebleben vermittelt, nämlich als
„Sublimierung erotischer Triebkraft“930. Freud nimmt hier in durchaus souveräner, der Bedeutung seiner eigenen Disziplin bewussten Weise an einer Disskussion teil, welche der Begründer des Empiriokritizismus, der Physiker und Philosoph Ernst Mach (1838-1916), Ende des 19. Jahrhunderts schon angestoßen hatten, nämlich die Problematisierung eines selbstständigen, von der Physis ontologisch unterschiedenen und alle Veränderungen des Körpers überdauernden Ich:
„Als relativ beständig“, so Mach, „zeigt sich … der an einem besonderen Körper (den
Leib) gebundene Komplex von Erinnerungen, Stimmungen, Gefühlen, welcher als Ich bezeichnet wird. Ich kann mit diesem oder jenem Ding beschäftigt, ruhig und heiter oder aufgebracht und verstimmt sein. Doch bleibt (pathologische Fälle abgerechnet) genug Bestän928
929
930
Marcuse 1979: 19; zu Freuds Annahme eines ‚Todestriebes‘ siehe unten.
Beide Zitate: Freud GW XV: 83; vgl. auch GW XIII: 253.
Freud GW XIII: 274.
254
diges übrig, um das Ich als dasselbe anzuerkennen. Allerdings ist auch das Ich nur von relativer Beständigkeit. Die scheinbare Beständigkeit des Ich besteht vorzüglich nur in der
Kontinuität, in der langsamen Aenderung. … Das Ich ist so wenig absolut beständig wie
der Körper.“931
In einer allzu kurzschlüssigen Folgerung wird das Ich zu einer Substanz, die allen Wandel der physischen Welt überdauert. Die relative Kontinuität des Ich
wird verwechselt mit seiner absoluten Konstanz. Das Psychische ist jedoch von
seinen physiologischen Grundlagen funktional, nicht aber substantiell zu unterscheiden „Gibt es keine Wesensverschiedenheit des Physischen und Psychischen, so wird man denselben exakten Zusammenhang, den man in allem Physischen sucht, auch in den Beziehungen des Physischen und Psychischen vermuten. Man erwartet dann zu allen Einzelheiten, welche die physiologische Analyse der Empfindungen zu entdecken vermag, ebenso viele Entsprechungen
des physischen Nervenprozesses aufzufinden.“ 932 Das Ich bietet wohl eine Kontinuität
der Empfindungen und Gedanken, aber auf diese Inhalte kommt es an (und sie allein ‚überleben‘ den Tod des Individuums, insofern sie sich
Ernst Mach (1900)
in anderen Individuen erhalten), nicht jedoch
auf das Ich als etwas Beständiges, seine Dauer ist Schein: „Das Ich“, so Machs
Résümé ist unrettbar“, und die Furcht vor dieser Einsicht führt „zu den absonderlichsten pessimistischen und optimistischen, religiösen, asketischen und philosophischen Verkehrtheiten“ 933. Empiriokritizismus und Positivismus mit ihrer
strikten Stellung gegen Metaphysik und Theologie bilden das Klima im Wien
der Jahrhundertwende, in welchem auch die Psychoanalyse entwickelt wurde,
ohne dass Freud diesen Tendenzen unkritisch gefolgt wäre. Mögen Machs Ausführungen zur Fragilität des Ich den Psychoanalytiker interessiert haben, so
macht Freud aus seiner Distanz zu Mach keinen Hehl: „Ich hatte“, schreibt
Freud 1916 an den Sozialphilosophen und Schriftsteller Josef Popper-Lynkeus,
„leider von meinem engeren Standpunkt keinen Weg zu ihm gefunden und mußte seine Art, von psychischen Dingen zu handeln, unpsychologisch finden. Der
Physiker und der Psychologe kommen doch schwer zusammen.“934 Machs Be931
932
933
934
Mach 1922: 2f.
Ebd.: X (Vorrede zur vierten Auflage von 1902); zur Stelle vgl. Schmidt/Görlich 1995: 81f; siehe auch die
erhellenden Ausführungen Max Horkheimers in seinen philosophiegeschichtlichen Vorlesungen zur Einführung in die Philosophie der Gegenwart: GS 10: 340-353.
Mach 1922: 18-23, hier: 20.
Freud 1980: 330. Allgemeiner äußert sich 1912 Sabina Spielrein zu Mach, wobei Ich, Psyche und Individuum
begrifflich noch unscharf bleiben; vgl. Spielrein 2002: 105f.
255
griff der Seele bleibt bei aller Radikalität doch der Oberfläche verhaftet und
ahnt kaum etwas von der darunter liegenden Dynamik. Gewiss, das zwischen
Außenwelt, Es und Über-Ich vermittelnde Ich lässt sich auch für Freud von der
Physis nicht schlechthin trennen, ist aber, als einmal vom Es abgespaltene Größe, mit dieser nicht schlechthin identisch935. Insofern stellt die Psychologie als
Untersuchung der seelischen Dynamik
bis in die Schichten des Unbewussten
und des Es hinein nicht einfach die
Fortsetzung der Physiologie mit anderen
Mitteln dar.Außenwelt, Es und Über-Ich
(internalisierte Normen und Wertvorstellungen bzw. das Ich-Ideal 936 ), dessen
Genese in die frühe Kindheit fällt937, bilden eine dynamische Beziehung, welche
die Psychologie zu erhellen hat. Sie stellen für das Ich eine erhebliche Bedrohung dar, da es stets den schwierigen
Versuch anstellen muß, die Ansprüche
aller drei Instanzen erfolgreich zu synthetisieren und ihnen eine Gesamtrichtung
zu geben. So nennt Freud das Ich in einer an Schopenhauer erinnernden Formulierung ein „armes Ding“, das „unter dreierlei Dienstbarkeiten steht und demzufolge unter den Drohungen von dreierlei Gefahren leidet, von der Außenwelt
her, von der Libido des Es und von der Strenge des Über-Ich“938. Die Wahrscheinlichkeit, dass diese Vermittlung nicht oder nur unzureichend gelingt, ist
also nicht gering. Die beiden Grundtypen psychischer Erkrankung, die sich aus
dieser prekären Konstellation ergeben können – Neurose und Psychose – erklärt
Freud bekanntlich dahingehend, „daß bei ersterer das Ich in Abhängigkeit von
der Realität ein Stück des Es (Trieblebens) unterdrückt, während sich dasselbe
Ich bei der Psychose im Dienste des Es von einem Stück der Realität zurückzieht. Für die Neurose wäre also die Übermacht des Realeinflusses, für die Psychose die es Es maßgebend“939. Die Neurose ist das Resultat missglückter Verdrängung, kommt aber nach Freud mit der Psychose im Realitätsverlust überein;
präziser formuliert: Jener Teil der Realität, der die missglückte Verdrängung
935
936
937
938
939
So mit Recht Adorno GS 8: 84.
In seiner Studie Zur Einführung des Narzißmus hat Freud dem Ichideal breiteren Raum gewidmet. Nicht
eigentlich das Ich, sondern das narzisstisch bestimmte Ichideal spielt bei der Verdrängung die entscheidende
Rolle, es bezeichnet, so Freud, die „Selbstachtung des Ich“ (vgl. Freud GW X: 160).
Vgl. Freud GW XIII: 256-267.
Freud GW XIII: 286; vgl. Auch Zirker 1995: 182-187.
Vgl. Freud GW XIII: 363; siehe auch ebd.: 387-391.
256
auslöste, wird vom Neurotiker gemieden, vom Psychotiker ‘umgebaut’. „Normal oder ‘gesund’ heißen wir ein Verhalten, welches bestimmte Züge beider
Reaktionen vereinigt, die Realität so wenig verleugnet wie die Neurose, sich
aber dann wie die Psychose um ihre Abänderung bemüht. Dies zweckmäßige,
normale Verhalten führt natürlich zu einer äußeren Arbeitsleistung an der Außenwelt und begnügt sich nicht wie bei der Psychose mit der Herstellung innerer
Veränderungen; es ist nicht mehr autoplastisch, sondern alloplastisch.“940.
Um dies jedoch leisten zu können, ist es Aufgabe der Therapie, das Ich zu stärken, „es vom Über-Ich unabhängiger zu machen, sein Wahrnehmungsfeld zu
erweitern und seine Organisation auszubauen, so daß es sich neue Stücke vom
Es aneignen kann. Wo Es war, soll Ich werden. Es ist Kulturarbeit etwa wie die
Trockenlegung der Zuydersee.“ 941 Fast scheint es, als würde hier das ‚arme
Ding‘ Ich wieder inthronisiert und im Gegensatz zu Mach ‚gerettet‘, allerdings
nicht als eine von Es und Über-Ich unabhängige Größe, sondern als bewusste
und geglückte Auseinandersetzung mit beiden Instanzen Es und Über-Ich / IchIdeal. Eine solche Stärkung des Ich aber wäre unmöglich, wenn, wie Hans Zirker meint, „Freud den Menschen von seinen Vorgaben her determiniert sieht“;
zumindest wird man nicht942 von einem ausweglosen Determinismus sprechen
können – weder individual- noch sozialpsychologisch.
Der berühmte Vergleich mit der Trockenlegung der Zuydersee reicht weiter, als
es auf den ersten Blick scheinen mag. Nicht nur, dass hier auf den naturalen, libidinösen Unterbau der Kultur verwiesen wird, der im Laufe der Kulturgeschichte seine Organisation und darin auch seine Unterdrückung erfährt; thematisiert werden hier mit den Triebschicksalen, wie Marcuse es ausdrückt, „die
Schicksale der psychischen Apparatur in der Kultur“ 943 . Das hat bedeutende,
über die Individualpsychologie hinausweisende Konsequenzen: Die „Vergangenheit“ formuliert Marcuse in einer Benjaminschen Reminiszenz, „fährt fort,
einen Anspruch auf die Zukunft zu erheben“; entsprechend rückt die Erinnerung
„in den Mittelpunkt der Psychoanalyse“944. Die biographischen hängen mit den
historischen Triebschicksalen eng zusammen, und insofern kann auch Yosef
Hayim Yersushalmi konstatieren, dass – im Unterschied zur Verhaltenstherapie
– „die ‚historische‘ Orientierung sowohl theoretisch als auch therapeutisch zum
innersten Wesen der Psychoanalyse gehört“945. Freud erblickt den Ursprung der
Kultur nicht in einem von allen physischen Vermittlungen unabhängigen Geisti940
941
942
943
944
945
Vgl. ebd.: 363-368, hier: 365f.
Freud GW XV: 86. vgl. auch Ferenczi 1964c: 31.
Zirker 1995: 185.
Marcuse 1979: 19; zu den Triebschicksalen vgl. auch Freud GW X: 210-232.
Marcuse 1979: 25.
Yerushalmi 1992: 39.
257
gen, sondern in der Lebensnot, verklärt aber andererseits die historisch gewordene Organisation der Triebe nicht zu anthropologischen Invarianten. Alle Errungenschaften der Kultur entspringen einer Notwendigkeit: sie sollten ursprünglich den Menschen „gegen die Gewalt der Naturkräfte schützen“946. Weit
davon entfernt, in einer harmonistischen Sicht, die heute mit dem Begriff der
‘Ganzheitlichkeit’ sich verbindet, den massiven Konflikt von Mensch und Natur, der die Menschen angehören und von der sie sich zugleich unterscheiden,
auszublenden, beschreibt Freud in seiner Schrift
„Das Unbehagen in der Kultur“ (1930) nicht nur
die Triebschicksale, sondern auch die in der Kultur selbst nur bedingt gebändigten destruktiven
Tendenzen. Die Vergesellschaftung vollzieht
sich im Interesse der Selbsterhaltung jedes Einzelnen zur besseren Beherrschung der Außenwelt: „Der erste Kulturerfolg war, daß nun auch
eine größere Anzahl von Menschen in Gemeinschaft bleiben konnten.“947 Der Preis, der dafür
gezahlt wurde, ist die Unterdrückung oder Ablenkung von Trieben, die fortan als ‘böse’ und
‚aggressiv‘ gelten, da sie, wenn sie sich ungehemmt entfalten, das Zusammenleben der Menschen gefährden. Die Kontrolle von Sexualtrieb und Aggressivität gehört schon
zu den frühesten Phasen der Kultur. „Von Seiten der Kultur ist die Tendenz zur
Einschränkung des Sexuallebens nicht minder deutlich als die andere zur Ausdehnung des Kulturkreises. Schon die erste Phase innerhalb der Evolution von
Kultur und Religion, die des Totemismus, bringt das Verbot der inzestuösen Objektwahl mit sich, vielleicht die einschneidendste Verstümmelung, die das
menschliche Liebesleben im Laufe der Zeiten erfahren hat. Durch Tabu, Gesetz
und Sitte werden weitere Einschränkungen hergestellt, die sowohl die Männer
als auch die Frauen betreffen.“948 Die Kontrolle des Eros: die Triebverschiebung
und Sublimierung, bezeichnet nach Freud aber nur eine Seite der notwendigen
repressiven Funktion der Kultur949. Denn der Mensch ist, wie Freud mit Nach946
947
948
949
Freud GW 14: 449.
Freud GW XIV: 460.
Ebd.: 463; vgl. auch die Zusammenfassung der Totemismus-Theorie bei Küng 1987: 34-42.
Nur für einen Augenblick erwägt Freud die Möglichkeit, „daß eine Kulturgemeinschaft aus solchen Doppelindividuen (die als Paar die innere Absicht des Eros darstellen, R.B.) bestünde, die, in sich libidinös gesättigt, durch das Band der Arbeit und Interessengemeinschaft miteinander verknüpft sind. In diesem Fall
brauchte die Kultur der Sexualität keine Energie zu entziehen.“ (GW XIV: 467) Die weiteren Ausführungen
werden zeigen, weshalb Freud dieser Möglichkeit keine Chance auf Verwirklichung gibt.
258
druck betont, „nicht ein sanftes, liebebedürftiges Wesen“, vielmehr muss man
„zu seinen Triebregungen auch einen mächtigen Anteil an Aggressionsneigung
rechnen.“950 Was deren Genese betrifft, so glaubt Freud, sie bis auf die frühesten
organischen Prozesse zurückführen zu können. Mit dem Destruktions- oder Todestrieb bezeichnet Freud die zweite, mächtige Triebart, die nicht Teil des Eros
ist oder aus ihm entwickelt werden kann. Während Sabina Spielrein, einst Carl
Gustav Jungs Patientin, nun selbst Analytikerin, schon früher als Freud eine
„Destruktionskomponente der Sexualiät“ annahm, spricht Freud demgegenüber
von ‚zwei Grundtrieben‘951. Er hatte mit einer gewissen Hartnäckigkeit gegen
Kritiker und in Abgrenzung von Jung an der These eines vom Eros verschiedenen Todestriebes festgehalten; sie war für ihn mehr als nur Teil des ‚spekulativen Überbaus‘ der Psychoanalyse. Der Todes- / Destruktionstrieb ist fester Bestandteil des menschlichen Trieblebens, so „daß es keine Aussicht hat, die aggressiven Neigungen des Menschen abschaffen zu wollen“ 952 Damit ist nicht
ausgeschlossen, dass beide Triebformen sich überlagern, wie im Sadismus und
Masochismus. Freud spricht hier von einer „Legierung des Liebestriebes mit
dem Destruktionstrieb“953. Es ist sogar fraglich, ob der Destruktionstrieb faktisch je ohne solche ‘Legierung’ vorkommt, was umgekehrt die hier nicht weiter
zu verfolgende Frage „einer – mehr oder weniger vollständigen – Entmischung“ beider Triebe aufwirft954. Jedenfalls fällt der Kultur auch die Kontrolle
des Destruktionstriebs zu, eine Kontrolle, welche auf gesellschaftlicher Ebene
ebensolche Schwierigkeiten bereitet wie auf der individuellen. Freud kann zur
traurigen Illustration dieser These die unendliche Zahl vor allem kollektiver
Grausamkeiten anführen.
Es ist gefragt worden, ob Freuds Trieblehre vielleicht inspiriert worden sei von
der Unterscheidung eines guten (bveh rxy) und eines bösen Triebs (irh rxy), wie
sie sich in der rabbinischen Literatur findet. Gegenüber einer gnostischdualistischen Sicht begründete der Babylonische Talmud beide Triebe in ein und
demselben Schöpfungsakt, wobei der Mensch durchaus die Möglichkeit hat, den
bösen Trieb zu meistern955, eine Arbeit, die Freud der Kultur zuschreibt. Freud
950
951
952
953
954
955
Freud GW XIV: 470.
Spielrein 2002: 141; vgl. Freud GW XV: 115. „Unsere Auffassung“, heißt es in Jenseits des Lustprinzips
(1920), „war von Anfang an eine d ua li st i sc he und sie ist es heute schärfer denn zuvor, seitdem wir die
Gegensätze nicht mehr Ich- und Sexualtriebe, sondern Lebens- und Todestriebe nennen.“ (GW XIII: 57; siehe auch Die beiden Triebarten = GW XIII: 268-276)
Freud GW XVI: 23.
Freud GW XIV: 478.
Freud GW XIII: 269f.
Vgl. BT Ber 61a: „R. Nahman b. Hisda trug vor: Es heißt [Gen2,7]: und der Herr, Gott, bildete den Menschen
(das Wort rxyyv / vajetzer) hat zwei Jod, weil der Heilige, gepriesen sei er, [im Menschen] zwei Triebe schuf,
einen guten Trieb und einen bösen Trieb.“ (= BT Übers. Goldschmidt: 273; hierzu Oberhänsli-Widmer 2007:
19-27, dort mit weiteren Belegen).
259
gibt keinen Hinweis auf mögliche rabbinische Quellen seiner Theorie, wohl aber
wird man vorsichtig sein, das Es ohne Einschränkung mit dem ‚bösen Trieb‘ zu
assoziieren956. Wenn es eine bis in Talmud und Midrasch reichende ‚Erinnerungsspur‘ in der Freudschen Triebtheorie gibt, so bietet sich als Vergleich auch
die Dualität von Eros und Todestrieb an, wobei nicht zu übersehen ist, dass in
rabbinischer Zeit der ‚böse Trieb‘ eine breitere Bedeutung hatte als bei Freud
und gerade den unkontrollierten Eros – dessen destruktive Macht auch Freud
unterstrich – einschloss. Rabbinische Reminiszenzen bei Freud bleiben jedoch
Spekulation, während seine Prüfung christlicher Ideale eine breitere Textbasis
zur Verfügung hat und nicht auf Vermutungen angewiesen ist. Das Gebot der
Nächsten-, ja Feindesliebe, welches das Christentum auf seine Fahnen schrieb,
hat nach Freud wenig zur Begrenzung und Kontrolle des Destruktionstriebes
beigetragen und bestenfalls Aggressionspotentiale der eigenen Gruppe nach außen abgelenkt, wie etwa die mittelalterlichen Pogrome und Kreuzzüge zeigen,
und noch der moderne Antisemitismus übernimmt solche Funktionen der Ablenkung957. Die unterschiedslose Liebe kann nicht realisiert werden, denn die
„Inflation der Liebe“ führt zu ihrer Entwertung und Herabsetzung. „Und weiter:
es sind nicht alle Menschen liebenswert.“958 Die Bedeutung der Nächsten- und
Feindesliebe, eben weil deren Forderung an der spezifischen Triebdisposition
vorbeisieht, sollte demnach nicht zu hoch veranschlagt werden. Sie verursacht
zwar – wegen ihrer Undurchführbarkeit – starke Schuldgefühle, kann aber nur
einen sehr begrenzten Beitrag zum Kulturprozess leisten. Das unbegrenzte, darum abstrakt bleibende Liebesgebot verstärkt gerade jenes Problem, als dessen
Lösung sich das Christentum präsentiert. Das Thema hatte Freud bereits in der
1921 publizierten Studie Massenpsychologie und Ich-Analyse beschäftigt. Das
Liebesgebot ist bei näherem Hinsehen keineswegs so universal wie es sich gibt;
es scheitert nämlich auch an den Strategien des eigenen religösen Kollektivs, das
seinen Zusammenhalt einerseits durch die affektiv starke Bindung der Individuen an Christus, andererseits durch Abgrenzung nach außen sichert. Christus (oder eine Christus-Imago) übernimmt die Funktion eines libidinös besetzten Objekts an Stelle des Ich-Ideals und vermag so auch die Masse der Gläubigen an
sich zu binden. Die katholische Kirche ist für Freud das Beispiel für eine religiöse Massenbildung. Weil weder eine hinreichende Distanz zum Ichideal noch
zum Objekt besteht, regrediert das Ich jedes Einzelnen in dieser Masse auf einen
früheren Zustand seiner Entwicklung959; im Extremfall wird das Ich selbst (und
956
957
958
959
So Oberhänsli-Widmer 2007: 40-43.
Vgl. Freud GW XIII: 269-275; GW XIV: 473f.
Ebd.: 461 und 503. Dieser Kritik hatte Adorno ausdrücklich zugestimmt (vgl. Adorno GS 8: 85).
Vgl. auch Brumlik 2006: 201. Zu Freuds Theorie des Christentums vgl. ebd.: 249-253.
260
nicht nur das Ich-Ideal) ganz vom Objekt absorbiert. Freud könnte als Beleg eine interpretationsbedürftige Stelle aus dem Galaterbrief anführen: „nicht mehr
ich lebe, sondern Christus lebt in mir“ (Gal 2,20960). Eine solche Totalidentifikation, hat zur Kehrseite die scharfe Abgrenzung: Zum äußeren feindlichen Bereich dieser um Christus zentrierten Gruppe (von Masse konnte zu Zeiten des
Paulus schwerlich die Rede sein) können heterodoxe Kreise – der Feind im Inneren – ebenso gehören wie „jene Individuen, die nicht zur Glaubensgemeinschaft Christi gehören, die ihn nicht lieben und die er nicht liebt; darum muß
eine Religion, auch wenn sie sich die Religion der Liebe heißt, hart und lieblos
gegen diejenigen sein, die ihr nicht angehören. Im Grunde ist ja jede Religion
eine solche Religion der Liebe für alle, die sie umfaßt, und jeder liegt Grausamkeit und Intoleranz gegen die nicht Dazugehörigen nahe.“961 Vielleicht ist diese
Formulierung zu allgemein, um uneingeschränkte Zustimmung zu finden, aber
dort, wo die Religion entweder die Funktion der Kohäsion einer von Antagonismen geprägten Gesellschaft übernimmt oder sich ihre Anhänger in der Position einer mit Misstrauen beobachteten Minderheit befinden (was wohl für die
Anfänge aller Religionen zutrifft), ist ihre Haltung zu jenen, die ihr nicht angehören abwertend, zuweilen auch offen aggressiv. Wenn die Religionen in der
Moderne toleranter erscheinen, so wird man nach Freud nicht etwa „auf eine
Milderung in den Sitten der Menschen schließen dürfen“, sondern man hat die
Ursache „in der unleugbaren Abschwächung der religiösen Gefühle und der von
ihnen abhängigen libidinösen Bindungen zu suchen“962. Es scheint, als habe der
moderne Nationalismus diese frei gewordenen libidinösen Bindungen auf die
eigene Nation, Ethnie oder den nationalen Führer umgelenkt – mit allen destruktiven Folgen, die im 19. und 20. Jahrhundert zu verzeichnen waren. Wie schnell
sich die Situation ändern kann, zeigen die aktuellen aggressiven fundamentalistischen Gruppen nicht nur in den monotheistischen Religionen. Die Liebe lässt
sich also nicht gebieten, und das christliche Liebesgebot wird für Freud zum Inbegriff einer kulturellen Neurotisierung (also eines misslungenen ‚Triebmanagements‘), die eher dafür spricht, dass die Aufgabe der Kultur, Eros und Todestrieb zu bändigen, d.h. umzulenken und zu sublimieren, nicht realisiert wurde.
Es ist nach Freud „unmöglich zu übersehen, in welchem Ausmaß die Kultur auf
Triebverzicht aufgebaut ist, wie sehr sie gerade die Nichtbefriedgung (Unterdrückung, Verdrängung oder sonst etwas?) von mächtigen Trieben zur Vorausset-
960
961
962
Zur religionsgeschichtlichen und psychologischen Rolle des Paulus nach Freud vgl. GW XVI (Der Mann
Moses und die monotheistische Religion): 244f.
Freud GW XIII: 107.
Ebd.: 107f.
261
zung hat.“963 Diese Kostenseite aber, Versagung statt Sublimierung, verursacht
jenes ‘Unbehagen in der Kultur’, das in dem Maße anwächst, in welchem Triebverzicht oder -aufschub einerseits und gleichberechtigte Partizipation an den
Segnungen der Kultur andererseits sich sozial höchst ungleich verteilen. „Wenn
die Kultur nicht allein der Sexualität, sondern auch der Aggressionsneigung des
Menschen so große Opfer auferlegt, so verstehen wir es besser, daß es dem
Menschen schwer wird, sich in ihr beglückt zu finden.“964 Freuds pessimistische
Sicht auf die Kultur angesichts ihres unversöhnten naturalen Ursprungs, der stets
in ihr präsent bleibt, geht nicht in die Verklärung kruder Natur über. Hat Kultur
sich oft genug als die schwächere Seite gezeigt, so muss sie doch nicht letztendlich unterliegen. Anders als in den naturromantischen und kulturmorphologischen Modellen im Sinne Spenglers geht Freud nicht über zu einer Diffamierung
der Kultur und der Verherrlichung von Kraft und Stärke. Der einmal erreichte
Stand der Naturbeherrschung, der nicht nur segensreiche Resultate hat, sondern,
wie Freud die Situation realistisch beurteilt, den Menschen auch die Möglichkeit
bietet, „einander bis auf den letzten Mann auszurotten“965, nötigt zu einer veränderten Praxis. Wie stark die heraufziehenden Gefahren den Menschen sich aufdrängen, glaubt Freud an der Angststimmung und Unruhe seiner Zeit erkennen
zu können. Diese Angst ist kein menschliches Existential, sondern auf das geschichtliche und gesellschaftliche Triebschicksal zu beziehen. „Und nun ist zu
erwarten, daß die andere der beiden ‘himmlischen Mächte’, der ewige Eros, eine
Anstrengung machen wird, um sich im Kampf mit seinem ebenso unsterblichen
Gegner zu behaupten.“ Mit Blick auf den heraufziehenden Faschismus setzte
Freud 1931 hinzu: „Aber wer kann den Erfolg und Ausgang voraussehen?“966
Die schlimmsten Befürchtungen Freuds, wie sie schon in Massenpsychologie
und Ichanalyse anklangen, sind in den kommenden Jahren übertroffen worden.
Unter äußerstem gesellschaftlichem Druck und der schwindenden Macht des Ich
wurden Eros und Thanatos in den Dienst der Barbarei gestellt, während irdische
und himlische Mächte zusahen.
Gerade die Freudsche Kulturtheorie, die über die individualpsychologischen
Analysen hinausweist, wirft die Frage nach dem Verhältnis von Soziologie und
Psychologie und schließlich nach der Notwendigkeit des repressiven Moments
der Kultur auf. Diese Notwendigkeit stand für Freud kaum in Zweifel. Immerhin
hatte er die offensichtlichen Errungenschaften einer auf strikter Beherrschung
963
964
965
966
Freud GW XIV: 457.
Ebd.: 474.
Ebd.: 506.
Ebd. – In welchem Maße Freud die autoritären Bewegungen seiner Zeit vor Augen hatte, zeigte Micha Brumlik 2006: 195-208.
262
der Triebe und Maximierung der Leistung beruhenden Kultur bis 1933 vor Augen. Die auf Dauer gestellte Auseinandersetzung von Eros und Todestrieb sollte
durch eine rationale Organisation der Gesellschaft zugunsten des Fortbestandes
der Menschen gelöst werden. Mehr und mehr zeigten sich aber die problematischen Seiten dieses Kulturprozesses, wie es Herbert Marcuse in seiner Schrift
Eros and Civilization / Triebstruktur und Gesellschaft (1955) konstatiert:
„Überall in der Welt der industriellen Zivilisation ist die Beherrschung des Menschen
durch den Menschen nach Ausmaß und Wirkung im Wachsen begriffen. Auch erscheint
diese Tendenz nicht als ein zufälliger vorübergehender Rückschritt auf dem Weg des Fortschritts. Konzentrationslager, Massenvernichtung, Weltkriege und Atombomben sind kein
‘Rückfall’ in die Barbarei’, sondern die hemmungslose Auswirkung der Errungenschaften
der modernen Wissenschaft, Technik und Herrschaftsform über Menschen. Und diese erfolgreichste Unterwerfung und Vernichtung des Menschen durch den Menschen geschieht
auf der Höhe der Kultur, in einem Zeitpunkt, wo die materiellen und intellektuellen Errungenschaften der Menschheit die Schaffung einer wirklich freien Welt zu erlauben scheinen.“967
Zu beachten ist am Ende dieses Zitats der Ausblick auf eine weitgehende Minimierung des repressiven Moments der Kultur, deren Möglichkeit auf dem augenblicklichen Stand der Produktivkräfte auch jetzt schon in die Wirklichkeit
überführt werden kann – woran Freud zweifelte. Marcuse ist um den Nachweis
bemüht, daß die „Gleichsetzung von Kultur und Unterdrükkung“ keineswegs
unvermeidlich ist, ja „die Unterdrückung wird vielleicht um so nachdrücklicher
geübt, je unnötiger sie wird.“ 968 Wichtige Voraussetzungen dieser Erkenntnis
sind, wie Marcuse betont, in der Freudschen Theorie selbst angelegt. Der Gedanke, dass sie „in ihrer eigentlichen Substanz ‘soziologisch’ ist“, möchte die
Trennung von Psychologie und Soziologie nicht revozieren. Entschieden wendet
sich Marcuse dagegen, die kulturelle Fassade, hinter die Freud zurückgegangen
war, erneut zur Substanz zu erheben. „Freuds ‘Biologismus’“ – so Marcuse –
„ist Gesellschaftstheorie in einer Tiefendimension, die von den neo-freudianischen Schulen konsequent verflacht worden ist.“969
Gerade der materialistische Gehalt der Freudschen Psychoanalyse, d.h. die Betonung der biologischen Ursprünge des Trieblebens, scheidet sie von den revisionistischen Varianten. Die Unterdrückung der Triebe über jenes Maß hinaus,
das vom Stand der Produktivkräfte her notwendig ist – jene ins Subjekt eingewanderte ‘Surplus-Herrschaft’ –, führt zu einem außerordentlich gespannten
Verhältnis des Menschen zu seinen eigenen naturalen Voraussetzungen, welche
in den Trieben sich deutlich manifestieren. Die spezifische Modifikation der
967
968
969
Marcuse 1979, 11f.
Ebd. 12.
Beide Zitate: ebd.: 13.
263
Triebe - ihre Geschichte - ist das Produkt äußerer Einwirkung und nicht rein
biologisch zu erklären. Die moderne westliche Zivilisation hat nach Marcuse
unter dem Leistungsprinzip „einen Stand der Produktivität mit sich gebracht,
angesichts dessen die Ansprüche der Gesellschaft auf Verausgabung von Triebenergie in entfremdeter Arbeit um ein Beträchtliches vermindert werden könnte“970. Im Interesse der Aufrechterhaltung von Herrschaft wird der ‘Kampf ums
Dasein’ mit seinen Leiden und Versagungen künstlich verlängert. Richtig erkennt Marcuse, dass Freud das Realitätsprinzip mit dem Leistungsprinzip identifizierte. Diesen – noch bis in die Religionskritik sich auswirkenden – affirmativen Zug der Lehre Freuds hatte auch Adorno kritisiert: „Das realitätsgerechte,
‘gesunde’ Individuum ist so wenig krisenfest wie das rational wirtschaftende
Subjekt ökonomisch.“971 Es kann nicht umstandslos zum Ziel erhoben werden,
solange die Realität selbst fragwürdig ist, welcher das Triebleben untergeordnet
wird. Ist aber das Realitätsprinzip keine anthropologische Invariante, sondern
historisch entsprungen – und mit ihm die wesentlich auf Herrschaft ausgerichtete Form der Rationalität –, so ist zumindest ein Zustand denkbar, in welchem
Trieb und Rationalität in ein anderes Verhältnis zueinander treten. Unter dieser
Voraussetzung hält auch eine veränderte Triebdynamik für möglich. Dies hat
besonders auf die Beziehung von Eros und Todestrieb Auswirkungen. Ist der
Destruktionstrieb mit dem Eros stets verbunden, so hängt das Schicksal des Destruktionstriebes „von dem der Libido ab. Infolgedessen muß eine qualitative
Veränderung in der Entwicklung der Sexualität notwendigerweise die Manifestation des Todestriebes ändern.“972 Freuds vage Hoffnung, dass Eros sich gegen
seinen Gegner behaupten werde, hätte hier einen begründeten Anhalt. Diese
Utopie, deren Realisierung nach Freud von mächtige Tendenzen gerade in seiner
Gegenwart bedroht sah, rückt nach Marcuse in greifbare Nähe angesichts der
möglichen Minimierung von Herrschaft und der Entfaltung einer Vernunft, die
nicht primär repressiv ist, sondern auch die Momente der „Rezeptivität, Kontemplation und Freude“ kennt, welche die bürgerliche Vernunft ausschied und
verketzerte, die gleichwohl die andere Seite okzidentaler Rationalität bilden973.
Davon, dass diese Möglichkeit Wirklichkeit wird, hängt das Überleben der
Menschheit auf unserem Planeten ab.
b) Illusionen und infantile Wünsche „Freud is the greatest Jewish heretic of
our century. Spinoza, three centuries earlier, was his foremost ‘brother in non970
971
972
973
Ebd.: 115.
Adorno GS 8: 57.
Marcuse 1979: 123.
Ebd.: 115.
264
faith’ (a term coined by Heine and used by Freud).” Yirmiyahu Yovel scheut,
wie man sieht, Pointierungen nicht, wobei der ‚Unglaubensgenosse‘, den Freud
zitiert, nicht Spinoza (sein Name fehlt in der Zukunft einer Illusion), sondern
Heine ist974. Freuds kritische Stellung zur Religion ist im Kontext seiner Triebund Kulturtheorie bereits angeklungen, wobei er für seine Religionskritik – ähnlich wie Marx – keineswegs Originalität beansprucht: „Alles, was ich hier gegen
den Wahrheitswert der Religion gesagt habe, brauchte die Psychoanalyse nicht,
ist lange vor ihrem Bestand von anderen gesagt worden. Kann man der Anwendung der psychoanalytischen Methode ein neues Argument gegen die Religion
gewinnen, tant pis für die Religion, aber Verteidiger der Religion werden sich
mit demselben Recht der Psychoanalyse bedienen, um die affektive Bedeutung
der religiösen Lehre voll zu würdigen.“975 Blickt man auf die bisherige Entwicklung der Religionskritik zurück, so kann Freud auf eine beachtliche Ahnengalerie von Spinoza bis Nietzsche blicken. Gegen die Religion lassen sich aber nicht
allein die schon bekannten Argumente ins Feld führen, sondern auch die neueren
Entdeckungen der Wissenschaften seit Galilei. Das Universum besitzt eine Ausdehnung und ein Alter jenseits aller Vorstellungen der Antike. Die Erforschung
der Erdgeschichte entwirft ein völlig anderes Bild von der Entstehung und weiteren Entwicklung unseres Planeten als die biblischen Traditionen. Die Evolutionstheorie Darwins, auf welche Freud ebenfalls ausdrücklich verweist, integriert
die Krone der Schöpfung in die Republik des organischen Lebens und scheint
mit einem teleologischen Begriff der Natur unvereinbar zu sein976. Beide Entdeckungen sind nicht nur narzisstische Kränkungen, sie stellen die Schöpfungstheologie vor neue Aufgaben, die im Rahmen einer wörtlichen Interpretation der
Schrift unlösbar sind. Freud traut ihr offenbar nicht zu, die durch die Wissenschaft aufgeworfenen und sich verschärfenden Probleme bewältigen zu können.
Was ist nun gegenüber Aufklärung, Feuerbach, Marx, Nietzsche und Darwin das
‚neue Argument gegen die Religion‘, das sich auf Ergebnisse der Psychoanalyse
stützen kann? Freud bezieht – und dies ist auch theologisch bedeutsam – Religion in die Genese der Kultur ein und würdigt in diesem Kontext deren Leistung.
Die Bändigung des Eros und ebenso des Thanatos, d.h. deren Sublimierung zugunsten der Selbsterhaltung sowohl des Subjekts als auch der Gattung, vollzieht
sich zu einem nicht erheblichen Teil über das religiöse Tabu. Religion gewährt
aber auch Trost nicht nur für die Versagungen, welche Kultur auferlegt, sondern
974
975
976
Yovel 1989b: 136; vgl. Freud GW XIV (Die Zukunft einer Illusion, 1927): 374.
Freud GW XIV: 360; vgl. auch ebd: 358, wo Freud ebenfalls auf die ‚Ahnenreihe‘ der radikalen Aufklärung
verweist. So spricht Peter Gay von Freund als dem ‚letzten philosophe‘ (Gay 1988: 52).
Ob dies für die den heutigen Stand der Diskussion noch zutrifft, ist eine andere Frage, zumal der naturwissenschaftliche Begriff des Zufalls sobald man ihn mit einem erweiterten Modell evolutionärer Möglichkeiten
verbindet, eine Bedeutung jenseits von strenger Teleologie und Beliebigkeit erhält; vgl. Küng 2006: 164-170.
265
ebenso für die kulturell unaufhebbare Negativität des Daseins. Wie sich schon
bei der Betrachtung des Liebesgebotes zeigte, sind die Leistungen der Religion
für die Kultur allerdings begrenzt. In einem fiktiven Streitgespräch über das Für
und Wider der Religion heißt es:
„Sie hat durch viele Jahrtausende die menschliche Gesellschaft beherrscht; hatte Zeit zu
zeigen, was sie leisten kann. Wenn es ihr gelungen wäre, die Mehrzahl der Menschen zu
beglücken, zu trösten, mit dem Leben auszusöhnen, sie zu Kulturträgern zu machen, so
würde es niemand einfallen, nach einer Änderung der bestehenden Verhältnisse zu streben.
Was sehen wir anstatt dessen? Daß eine erschreckend große Anzahl von Menschen mit der
Kultur unzufrieden und in ihr unglücklich ist, sie als ein Joch empfindet, das man abschütteln muß, daß diese Menschen entweder alle Kräfte an eine Abänderung dieser Kultur setzen oder in ihrer Kulturfeindschaft so weit gehen, daß sie von Kultur- und Triebeinschränkung überhaupt nichts wissen wollen. … Es ist zweifelhaft, ob die Menschen zur Zeit der
uneingeschränkten Herrschaft der religiösen Lehren im ganzen glücklicher waren als heute, sittlicher waren sie gewuß nicht. Sie haben es immer verstanden, die religiösen Vorschriften zu veräußerlichen und damit deren Absichten zu vereiteln-“977
Dies klingt keineswegs nach einer Erfolgsbilanz, abgesehen von der Frage, ob
das religiöse Bewusstsein mit dem fortgeschrittensten Stand der Wissenschaften
noch vereinbar ist. Die Kulturleistung der religiösen Tabus, deren Genese Freud
ausführlich in Totem und Tabu – hier aber mit Blick auf den Totemismus – darlegte978, hält sich in engen Grenzen, oft gab es auch von der Religion eröffnete
Möglichkeiten sie zu unterlaufen oder gar zeitweise außer Kraft zu setzen. Dass
jene Zeiten, in denen Glaube und Religion noch unbestritten galten, auch die
glücklicheren waren, bezweifelt Freud wohl mit Recht. Krankheit, materielle
Not, Unterdrückung und Kriege trugen schwerlich zum Wohlbefinden der Menschen bei, und es ist nicht sicher, ob die Verankerung dieser Nöte in Gottes unerforschlichen Willen auf alle Menschen tröstend wirkte. Die von Freud in Massenpsychologie und Ichanalyse beschriebenen Ausgrenzungstendenzen religiöser Gruppen (s.o.) tendierten außerdem dazu, die zivilisierenden Effekte der Tabus wieder zunichte zu machen. Mit der wachsenden Erklärungskraft wissenschaftlicher Methoden schwindet auch die Glaubewürdigkeit religiöser Welterklärungen und Trostversprechen. Der Fortschritt der Wissenschaften ist für die
Religionen von fataler Wirkung; „je mehr Menschen die Schätze unseres Wissens zugänglich werden, desto mehr verbreitet sich der Abfall vom religiösen
Glauben, zuerst nur in den veralteten, anstößigen Einkleidungen desselben, dann
aber auch von seinen fundamentalen Voraussetzungen“979. Die Unfähigkeit, Natur exakt zu erklären, mochte einen beachtlichen Anteil an der Genese der reli977
978
979
Ebd.: 360f.
Vgl. Freud GW IX: 10-25, 145-194. Mord- und Inszestverbot entstanden nach Freud „auf dem Boden des
Totemimsus“ (vgl. Freud GW XIV: 345).
Freud GW XIV: 362.
266
giösen Vorstellungen haben, gab aber wohl nicht den Ausschlag. Einer unverstandenen, blind zuschlagenden und damit bedrohlichen Natur nahm einst die
Religion ihren Schrecken und vermittelte dem angeschagenen Selbstgefühl der
Menschen Trost. Anders als die modernen Naturwissenschaften gelang es der
Religion mit der Vorstellung numinoser Mächte
„die Natur zu vermenschlichen. An die unpersönlichen Kräfte und Schicksale kam man
nicht heran, sie bleiben ewig fremd. Aber wenn in den Elementen Leidenschaften toben
wie in der eigenen Seele, wenn selbst der Tod nichts Spontanes ist, sondern die Gewalttat
eines bösen Willens, wenn überall in der Natur Wesen um sich hat, wie man sie aus der eigenen Gesellschaft kennt, dann atment man auf, fühlt sich heimisch im Unheimlichen,
kann seine sinnlose Angst psychisch bearbeiten.“980
Diese Substitution der anonymen Naturmacht durch personal gedachte Mächte
hat nach Freud ihr ontogenetisches Vorbild in der frühen Kindheit, nämlich in
der doppelten Funktion der Eltern als Mächte des Schutzes und der Bedrohung.
Sie übetragen diese Funktion auf himmlische Mächte, Götter oder schließlich,
wie im Monotheismus, auf den einzigen Gott und seinen Hofstaat. Gewiss erkannten die Menschen durch Beobachtung allmählich die Eigengesetzlichkeit
der Natur, aber die Götter als deren Herren wirkten durch Wunder weiterhin und
demonstrieren so ihre Macht, die sich als Garanten der Moral auch auf die Sphäre der Kultur ausdehnt, die gleichsam ‚entfatalisiert‘ werden – bis in die Überwindung des Todes hinein. Als Garanten nicht nur der natürlichen, sondern auch
der moralischen Weltordnung verfügen die Götter auch über das postmortale
Schicksal des menschen: „Alles Gute findet endlich seinen Lohn, alles Böse seine Strafe, wenn nicht schon in dieser Form des Lebens, so in den späteren Existenzen, die nach dem Tod beginnen.“981 So entsprang also die Religin wie die
Kultur insgesamt „der Notwendigkeit, sich gegen die erdrückende Übermacht
der Natur zu verteidigen“, wobei das Individuum in die jeweilige kulturelle und
religiöse Welt hineingeboren wird, sie unter Absehung ihrer Genese als
schlechthin ‚gegeben‘ ansieht oder als geoffenbart 982. Die Religion entspringt
also einer Sehnsucht: dass Natur kein anonymer Zusammenhang sei, sondern
das Produkt eines schaffenden, den Menschen zugewandten Geistes und dass es
für die ergangenen Leiden, sei an der Natur, sei es an der Kultur, einst eine
Kompensation gebe, die fehlende irdische Gerechtigkeit durch eine himmlische
einst kompensiert werde.
Während die Natur- Geschichtswissenschaft diese Vorstellungen in ihrem wörtlichen Sinne als falsch erwies, so die moderne Psychologie als Illusion. Die Illu980
981
982
Ebd.: 338.
Ebd.: 338-341. Hier: 341.
Ebd.: 343.
267
sion ist nicht notwendigerweise falsch, sie „ist nicht dasselbe wie ein Irrtum“;
vielmehr entspringt sie dem bloßen Wunsch; „das Geheimnis ihrer Stärker ist
die Stärke ihrer Wünsche“983. Ihre Einlösung in der Realität mag nicht schlechterdings unmöglich sein, wohl aber ist sie höchst unwahrscheinlich:
„Ein Bürgermädchen kann sich z.B. die Illusion machen, daß ein Prinz kommen wird, um
sie heimzuholen. Es ist möglich, einige Fälle dieser Art haben sich ereignet. Daß der Messias kommen und ein goldenes Zeitalter begründen wird, ist weit weniger wahrscheinlich;
je nach der persönlichen Einstellung des Urteilenden wird er diesen Glauben als Illusion
oder als Analogie einer Wahnidee klassifizieren.“984
In eben diesem Sinne sind die religiösen Lehren, wie Freud verischert, „Illusionen, unbeweisbar, niemand darf gezwungen werden, sie für wahr zu halten, an
sie zu glauben“985. Sind die Gehalte der Religion nicht beweisbar, so ist auch
ihre Widerlegung von einer einzigen Basis ausgehend im strengen Sinne kaum
durchführbar. Erst die Gesamtheit aller Argumente, die auch schon lange vor
Freud formuliert wurden, entzieht ihr die Glaubwürdigkeit. Zu den Argumenten,
welche die Psychoanalyse hinzufügen kann, gehört der infantile und illusorische
Charakter der Religion, ihrer Verheißungen und Hoffnungen986. Von aller Negativität befreit und für das ergangene Leiden gleichsam entschädigt zu werden, ist
ein infantiler Wunsch, den die Religion angeblich befriedigt um den Preis eines
verkehrten Verhältnisses zur Realität. Es zeugt von einem regressiven Bewusstsein, Wünsche und Realität nicht unterscheiden, Wahrscheinlichkeiten nicht einschätzen zu können. Glück gibt es für uns nicht im umfassenden Sinne, und es
ist irrational, dieses Glück von Gott oder von seinem Messias zu erwarten. In
seiner drei Jahre später erschienenen Studie Das Unbehagen in der Kultur verschärft Freud seine Kritik. Wir können, heißt es dort, nicht „alles, was wir begehren, erreichen. Das Glück in jenem ermäßigten Sinn, in dem es als möglich
erkannt wird, ist ein Problem der individuellen Libidoökonomie.“987 Wir müssen
zwischen unterschiedlichen Möglichkeiten auswählen, Risiken einschätzen, oder
gar uns den unveränderbaren Realitäten anpassen, und genaue hier wirkt Religion regressiv.
„Die Religion beeinträchtigt dieses Spiel der Auswahl und Anpassung, indem sie ihren
Weg zum Glückserwerb und Leidensschutz allen in gleicher Weise aufdrängt. Ihre Technik
besteht darin, den Wert des Lebens herabzudrücken und das Bild der realen Welt wahnhaft
zu entstellen, was die Einschüchterung der Intelligenz zur Folge hat. Um diesen Preis,
durch gewaltsame Fixierung eines psychischen Infantilismus und Einbeziehung in einen
983
984
985
986
987
Ebd.: 352.
Ebd.: 353.
Ebd.: 354.
Vgl. hierzu auch Zirker 1995:187f.
Freud GW XIV (das Unbehagen in der Kultur): 442.
268
Massenwahn gelingt es der Religion, vielen Menschen die individuelle Neurose zu ersparen.“988
Freuds Feststellung, die Religion entwerte das Leben, erinnert an Nietzsche. Ein
Leben, das nicht alles Glück auf Erden bietet, das Versagungen und eine komplexe Sublimierung der Triebe zumutet, Scheitern kennt und nicht jedes Leid
verhindert, gilt als wertlos. Religionen aber bieten nach Freud nur einen schlechten Trost und fordern einen hohen Preis: die Aufgabe der Reflexion und „die
bedingungslose Unterwerfung“ unter den Willen Gottes, von dessen „unerforschlichem Ratschluss“ das Leben abhängt. Solche fragwürdigen Weisheiten
zeigen aber, dass auch die Religion „ihr Versprechen nicht halten“ kann und an
die Stelle des Glücks das Leiden setzt989.
Aber erinnern wir uns: Hatte Freud nicht der Religion einen gewissen Beitrag
zur Kultur bescheinigt, der sich in ihrem illusionären Charakter nicht völlig erschöpft? Indessen ist es auch da, wo Religion das Verhalten der Menschen leitet,
ältere Tabus übernimmt, neue aufrichtet, ethische Regeln einschärft, um die
Mündigkeit der Menschen schlecht bestellt. Wo, wie im instruktionstheoretischen Offenbarungsmodell, der allmächtige Vater seine Gebote einzeln erlässt,
wird es schwierig, zwischen Wandelbarem und Unwandelbarem zu unterscheiden. Freud plädiert dafür, diese Untersacheidung ganz fallen zu lassen, und den
kulturellen, also menschlichen Ursprung der Normen anzuerkennen, denn „mit
der beanspruchten Heiligkeit würde auch die Starrheit und Unwandelbarkeit dieser Gebote und Gesetze fallen. Die Menschen könnten verstehen, daß diese geschaffen sind, nicht so sehr um sie zu beherrschen, sondern vielmehr um ihren
interessen zu dienen, sie würden ein freundlicheres Verhältnis zu ihnen gewinnen, sich anstatt ihrer Abschaffung nur ihre Verbesserung zum Ziel setzen. Dies
wäre“, fügt Freud hinzu, „ein wichtiger Fortschritt auf dem Wege, der zur Versöhnung mit dem Druck der Kultur führt.“990 Mit dieser allein auf rationaler Basis stehenden Begründung der Kultur verbindet sich ein weiteres Programm, das
auf die völlige Überwindung der Religion hinausläuft: „die Erziehung zur
Realität“, denn „der Infantilismus ist dazu bestimmt überwunden zu werden“.
Das „süße – oder bittersüße – Gift“ der Religion ist für die Menschen, sofern sie
einmal mündig geworden sind, entbehrlich, sie bedürfen des falschen Trostes
nicht mehr991. Erneut wird die Religion mit einer Droge, einem Gift verglichen,
denn Drogen entfernen uns von der Realität und in hoher Dosis schaden sie uns
langfristig. Statt auf das Gift Religion zu setzen sollen die Menschen auf die
988
989
990
991
Ebd. 443f.
Ebd.: 444.
Freud GW XIV (Die Zukunft einer Illusion): 365
Alle Zitate ebd.: 373.
269
schwache Kraft unseres Intellekts vertrtauen, denn über stärkere Kräfte gegenüber den Trieben verfügen wir nicht. „Der Primat des Intellekts liegt gewiß in
weiter, weiter, aber wahrscheinlich doch nicht in unendlicher Ferne.“ 992 Von
ihm ist die Verbesserung der Verhältnisse zu erhoffen, nicht sofort und auch
nicht im Rahmen unserer kurzen Lebensspanne. Insofern fordert der Intellekt
von dem Einzelnen zunächst ein höheres Maß an Geduld und Einsicht in das
kurzfristig nicht zu Ändernde, d.h. die Realisierung von vielen Wünschen muss
aufgeschoben werden. „Unser Gott  wird von diesen Wünschen verwirklichen, was die Natur außer uns gestattet, aber sehr allmählich, erst in unabsehbarer Zukunft und für neue Menschenkinder.“ So ist „unser Gott “, wie
Freud mit leiser Ironie hinzufügt, „nicht sehr allmächtig, kann nur zu einem
kleinen Teil von dem erfüllen, was seine Vorgänger versprochen haben“, kommt
dafür aber ohne Illusionen aus und ist offen für Korrekturen 993 . Der „Gott
“ muss weder getötet noch auferweckt werden; er ist in Wahrheit nur ein
Mittel, mit dem sich die schwache Spezies homo sapiens ihr Überleben sichert
und im Rahmen unserer natürlichen Umwelt, deren Teil wir selbst sind, komfortabler macht. Aus Freuds Äußerungen spricht kein Glaube an die Allmacht der
Wissenschaft – Allmachtsphantasien projizieren die infantilen Anhänger der Religion in ihren Gott –, aber, so schließt Freud, es wäre eine Illusion zu glauben,
„daß wir anderswoher bekommen könnten, was sie uns nicht geben kann“994.
c) Eine mörderische Geschichte: Der Ursprung des biblischen Monotheismus Mit dem letzten Satz von Die Zukunft einer Illusion scheint Freud über
die Religion ein Schlusswort gesprochen zu haben. Schlussworte über die Religion hat es aber seit Feuerbach genügend gegeben, sie galten immer nur bis zum
nächsten Schlusswort. Freud selbst hatte drei Jahre später, in Teilen seiner Studie Das Unbehagen in der Kultur zumindest ein kleines Postskriptum angefügt
und zwischen 1934 und 1939 in einer seiner letzten Schriften – Der Mann Moses und die monotheistische Religion – noch einmal weit zu einer historischpsychologischen Studie ausgeholt995. Als Teil der Kultur hat auch die Religion
ihre Geschichte ‚unter‘ der Geschichte. Wie es eine Unterwelt der Psyche gibt,
so auch eine der Kultur, und beides hängt eng miteinander zusammen. Schon
Totem und Tabu bezeichnete Freud als Versuch, „die Ergebnisse der Psychoana992
993
994
995
Ebd.: 377.
Alle Zitate ebd.: 378f.
Ebd.: 380.
Vgl. Freud GW XVII: 101-246. Ein 1934 verfasstes Manuskript als Einleitung (Ein historischer Roman) ist
nie publiziert worden (vgl. Yerushalmi 1992: 35-40, 161f). Der erste Teil der Moses-Studie erschien 1937
unter dem Titel Moses ein Ägypter, der zweite Teil, Wenn Moses ein Ägypter war, im gleichen Jahr. 1939
wurde die dreiteilige Endfassung unter ihrem bekannten Titel in Amsterdam veröffentlicht.
270
lyse auf ungeklärte Probleme der Völkerpsychologie anzuwenden“ 996 . In Der
Mann Moses begibt er sich als Psychologe nicht nur offen auf das Terrain historischer Forschung, sondern betritt auch das verminte Gelände kultureller und
religiöser Identität997. Es wundert von daher nicht , dass Freuds Buch eine bis
heute anhaltende Diskussion auslöste, wie er selbst schon ahnte: „Einem Volkstum den Mann abzusprechen, den es als den größten unter seinen Söhnen rühmt,
ist nichts, was man gern und leichthin unternehmen wird, zumal wenn man
selbst diesem Volke angehört.“998 Wenn Freud schreibt, dass Moses in Wahrheit
ein „– wahrscheinlich vornehmer – Ägypter“ gewesen sei, „der durch die Sage
zum Juden gemacht werden soll“ und dass „die Religion, die Moses seinem Judenvolke gab, doch seine eigene war, eine ägyptische Religion, wenn auch
nicht die ägyptische“, sondern „die Atonreligion“999, so ist dies keine neue Behauptung und begründet für sich allein noch nicht die heftige Ablehung, die das
Buch teilweise erfahren hat. Immerhin befasst es sich mit der schon damals in
der Forschung viel diskutierte und bis heute noch nicht in allen Details geklärte
Frage nach den Anfängen des biblischen Monotheismus. Erst die Verbindung
der Ägypter-These mit dem in Totem und Tabu entwickelten Modell des Vatermordes führt geradewegs zu einer Inversion des biblischen Narrativs und macht
aus dem Moses-Buch „die vierte Kränkung“, um eine gelungene Formulierung
Yerushalmis aufzugreifen1000. Martin Buber rechnete es nicht zu jenen „Büchern
über Mose, denen wissenschaftliche Bedeutung zukommt“ und fügt in einer
Fußnote verägert (oder gekränkt?) hinzu: „Daß ein auf seinem Gebiet so bedeutender Forscher wie Sigmund Freud sich entschließen konnte, ein so völlig unwissenschaftliches, auf grundlosen Hypothesen haltlos gebautes Buch wie ‚Der
996
997
998
999
1000
Freud GW IX: 3.
Vgl. Yerushalmi 1992: 42.
Freud GW XVI: 103. Nebenbei und ganz selbstverständlich identifiziert sich Freud hier – wie schon bei
anderer Gegelgenheit – mit dem Judentum als Volk und kultureller Größe (vgl. auch Freud 1980: 380382; Gay 1988: 125-130). Die kulturelle Erbschaft, eine Tendenz zur Desintengration und zum Nonkonformismus verband ihn mit seiner jüdischen Herkunft, jedoch, wie er eigens anmerkte, „nicht der Glaube“
(Freud 1980: 381). Er bezeichnete sich selbst als „an infidel jew“ (Freud GW XIV: 394). „Freuds Bekentnnis zum Judentum blieb“, wie Peter Gay doch etwas überspitzt formuliert, „aggressiv säkular“ (Gay
1988: 131). Freuds Säkularität hinderte ihn nicht an einer ausdrücklichen Identifikation mit dem Judentum, wie auch ein Brief an Sabina Spielrein vom August 1913 belegt: „Wir sind u[nd, R.B.] bleiben Juden. Die Anderen werden uns im̄er nur ausnützen und uns nie verstehen oder würdigen.“ (in: Spielrein
1986: 124)
Zitate bei Freud GW XVI: 112, 118 und 123. Ein wenig kühn spekuliert Freud über das Shema Jisrael in
Dtn 6,4f: „Wenn der Name des ägyptischen Aton (oder Atum) nicht nur zufällig an das hebräische Wort
Adonai und den syrischen Gottesnamen Adonis anklingt, sondern infolge urzeitlicher Sprach- und Sinngemeinschaft, so könnte man jene jüdische Formel übersetzen: Höre Israel, unser Gott Aton (Adonai) ist
ein einziger Gott.“ (ebd.: 123) Glücklicherweise fügt Freud sogleich hinzu: „aber wahrscheinlich darf
man es nicht so leicht machen“ (ebd.: 123f); man ist geneigt, ihm zuzustimmen.
Yerushalmi 1992: 15-38.
271
Mann Moses und die monotheistische Religion‘ (1939) zu veröffentlichen, ist
verwunderlich und bedauerlich.“1001
Nun hatte Freud Vorgänger von der Antike über die Aufklärung bis in das 20.
Jahrhundert, auf die er sich bezieht, die Buber übergeht und denen sich Jan
Assman in einer Studie ausführlich widmete1002. Dass Mose – schon der Name
verweist auf Ägypten – den allem Bilderkult und aller Magie feindlichen Momotheismus aus Ägypten – als Nachhall der radikalen Reformem eines Amenophis IV. – ins Judentum importierte, ist dem ägyptischen Stifter der neuen Religion übel bekommen, er bezahlte die Neuerung mit seinem Leben. Offenbar war
Mose kein guter Didakt, und die Gewalt, mit welcher er den anspruchsvollen
Glauben seinem Volk aufdrängte, fiel auf ihn zurück. „Das Judenvolk des Moses war ebensowenig imstande, eine so hoch vergeistigte Religion zu ertragen,
in ihren Darbietunge eine Befriedigung ihrer Bedürfnisse zu finden, wie die
Ägypter der 18ten Dynastie.“ 1003 Das Volk entledigte sich des unerträglichen
Tyrannen, der es mit Ansprüchen konfrontierte, die weit über seine Fähigkeiten
gingen. Murrte das Volk nicht oft genug gegen Mose und gab es nicht Versuche,
sich seiner zu entledigen? Ex 32 schließlich wird Freud zum Beleg dafür, dass
das Volk sich vom neuen Glauben abwandte und zum alten zurückkehrte 1004.
Der Stifter ermordet, die neue Religion beiseite geschoben: Wie kann man sich
dann noch die Entstehung des Monotheismus und der biblischen Texte, die ihn
einschärfen, erklären? Die Lösung ist die Verdoppelung der Mose-Gestalt, wobei der zweite Mose auf Midian und hvhy verweist. Die ferne, blasser werdende
Erinnerung an den ägyptischen Mose und seine monotheistische Aton-Religion
verschmolz mit dem midianitischen, „auf dem Götterberg hausenden Dämon
Jahve“ und seinem gehorsamen Diener, wobei diese Fusion rund ein Jahrhundert nach dem Mord in Kadesch stattfand. Die aus Ägypten geflohene Gruppe
verband sich mit den hvhy-Verehrern;
„man ließ Jahve nach Ägypten übergreifen und, der auf einem Berg in Midian hauste, und
Moses‘ Existenz und Tätigkeit dafür nach Qadeš und bis ins Ostjordanland. Er wurde so
mit der Person des späteren Religionsstifters, dem Schwiegersohn des Midianiters Jethro
verschmolzen, dem er seinen Namen Moses lieh. Aber von diesem anderen Moses wissen
wir nichts Persönliches auszusagen, – er wird durch den anderen, den ägyptischen Moses
so völlig verdunkelt.“1005.
1001
1002
1003
1004
1005
Buber 1966: 9. Der Alttestamentler Rudolf Smend wies auf die überwiegend kritische Rezeption der
Ägypterthese durch die neuere alttestamentliche Wissenschaft hin (vgl. Smend 1987: 83f und 108).
Der Gedanke findet sich schon bei antiken Autoren in der Rezeption des – im zweiten Kapitel in anderem
Kontext erwähnen – Manetho und reicht über die Aufklärung bis in das 20. Jahrhundert; vgl. Assmann
1997, besonders: 54-60, 173-186.
Freud GW XVI: 148.
Vgl. ebd.: 148f.
Ebd.: 135-141, Zitate: 135 und 141.
272
Schon vor Kadesch hatte man nach Freud den Mord an den ägyptischen Moses
beadauert und war bestrebt, ihn zu vergessen. Die allmähliche Fusion des midianitischen hvhy mit Aton, dem wahren Gott des Exodus1006, und die Identifizierung der beiden Mose-Figuren waren geeignet, die peinigende Tat aus dem Gedächtnis zu tilgen oder vielleicht besser: zu verdrängen1007. Die frühe und die
spätere Geschichte der jüdischen Religion, ihrer Texte und Traditionen standen
im Interesse dieser Verdrängung.
Die These einer Ermordung des Mose ist nicht zuerst von Freud entwickelt worden; sondern vom Berliner Alttestamentler Ernst Sellin, der sie 1922 in seinem
Buch Mose und seine Bedeutung für die israelitisch-jüdische Religionsgeschichte publizierte. Freud hatte Sellins Buch ausführlich studiert und als wissenschaftliche Basis seiner Überlegungen genutzt1008: „Ihn dürften die entscheidenden Elemente von Sellins Rekonstruktion gefesselt haben. Die Entsprechungen
zu Der Mann Moses sind so auffällig, daß man sich fragt, ob Sellins Werk für
Freud nur eine Bestätigung früherer Intuitionen war oder ob er erst durch die
Lektüre zu eigenen Überlegungen angeregt wurde.“ 1009 Wenn Sellins Buch
Freud zu derart weit reichenden Überlegungen motivierte, so könnte umgekehrt
die Vatermord-Hypothese aus Totem und Tabu (1912/13) ihn für die Ausführungen des Alttestametlers in besonderer Weise sensibilisert haben. Wie Freud
in Totem und Tabu detailliert ausführt, tritt in der Urhorde der tyrannische Vater
in sexuelle Rivalität zu seinen Söhnen, indem er „alle Weibchen für sich behält
und die heranwachsenden Söhne verteibt“. Diese nutzen die mit fortschreitendem Alter zunehmende Schwäche des Vaters aus, um ihn schließlich zu beseitigen:
„Eines Tages taten sich die ausgetriebenen Brüder zusammen, erschlugen und verzehrten
den Vater und machten so der Vaterhorde ein Ende.Vereint wagten sie und brachten zustande, was dem einzelnen unmöglich geblieben wäre. … Sie haßten den Vater, der ihrem
Machtbedürfnis und ihren sexuellen Ansprüchen so mächtig im Wege stand, aber sie liebten und bewunderten ihn auch. Nachdem sie ihn beseitigt, ihren Haß befriedigt und ihren
Wunsch nach Identifizierung mit ihm durchgesetzt hatten, mußt sich die dabei überwältigten zärtlichen Regungen zur Geltung bringen. Es geschah in der Form der Reue, es entstand ein Schuldbewußtsein, welches hier mit der gemeinsam empfundenen Reue zusam-
1006
1007
1008
1009
„Gott Jahve war zu unverdienten Ehren gekommen, als man von Qadeš an die Befreiungstat des Moses
auf seine Rechnung schrieb, aber er hatte die Usurpation schwer zu büssen. Der Schatten des Gottes, dessen Stelle er eingenommen, wurde stärker als er; am Ende der Entwicklung war seinem Wesen das des
vergessenen mosaischen Gottes zum Vorschein gekommen.“ (Freud GW XVI: 152)
Vgl. ebd.: 149.
Vgl. Freud GW XVI: 135f und 148f.
Yerushalmi 1992: 46-49, hier 49. Bei Sellin spielte die Stilisierung des Mose zum Vorbild und Vorläufer
der Gestalt Jesu eine zentrale Rolle; Yerushalmi bezeichnet dies als den ‚“christlich-theologischen Subtext Sellins (ebd.: 48), der Freud allerdings weniger interessierte haben dürfte.
273
menfällt. Der Tote wurde nun stärker, als der Lebende gewesen war; all dies, wie wir noch
eute an Menschenschicksalen sehen.“1010
Erleichterung, Reue und Enttäuschung sind die Folgen des Aktes, der wie im
Mythos ‚wiederkehrt‘ und bewältigt werden muss. Die Erleicherung währt nicht
lange; Reue und Sehnsucht nach dem Vater oder nach einer Vatergestalt bewirken im Laufe der Zeit – gleichsam als Sühneversuch – „die Erhöhung des einst
gemordeten Vaters zum Gott, von dem nun der Stamm seine Herkunft ableitete“1011. Die Enttäuschung hingegen gründet darin, dass keiner der Brüder die
Rolle des getöteten Vaters übernehmen kann, sondern ein neues Konfliktfeld
entsteht: die Konkuurenz der Brüder. Reue, Schuld und Konkurrenz erzeugten
eine ‚Lösung‘, die darin bestand, dass sie auf die Früchte ihrer Tat verzichteten
und „sich die freigewordenen Frauen versagten“. Damit zollte man dem Vater
nachträglich Gehorsam, zugleich verzichtete man auch auf die Wiederholung
der Tat im Ritus, d.h. das für den Vater eingesetzte Totemtier wurde nicht getötet. Zugleich sind die Brüder bestrebt, dass sich das Schicksal des Vaters nicht
wiederhole; das Leben des je anderen Bruders wurde tabuisert. Freud erblickt
hier den Ursprung zwei religiös verankerter zentraler Tabus: Das (zunächst auf
den eigenen Clan beschränkte) Tötungsverbot und das Inzestverbot1012. Vergöttlichung des getöteten Vaters und die beiden ersten Tabus bilden nach Freud den
Anfang der Religion(en), wobei nur angedeutet wird, wie die Erinnerung an den
Mord des Urvaters im kollektiven Gedächtnis bleibt1013. Sicherlich ist auch diese
These, die Freund weiterverfolgt bis zur Entstehung des Christentums, in welchem das Vergehen gegen Gottvater mit dem Opfer des Sohnes gesühnt wird1014,
kühn und provozierte Widerspruch. Auch hier sind es ethnologische und religionshistorische Studien, auf die Freud in seinem Versuch, den ödipalen Konflikt
auf die Religions- und Kulturgeschichte auszudehnen, sich beruft. Der Kränkung der jüdischen Identität im Mose-Buch ging Jahrzehnte vorher die Kränkung des religiösen Bewusstseins voraus, denn nicht der Sehnsucht nach Transzendenz oder einer wie immer zu denkenden Offenbarung, sondern dem ödipal
motivierten Mord am Vater (mit Reue und Enttäuschung als Folge) entspringen
die Religionen – keine Ahnen, die man gerne vorzeigt.
Ein „Vatervorbild“ war es nach Freud auch, „das sich in der Person des Moses
zu den armen ägyptischen Fronarbeitern herabließ, um ihnen zu versichern, daß
1010
1011
1012
1013
1014
Zitate aus Freud GW IX: 171 und 173.
Ebd.: 179. – In seinem Mose-Buch verweist Freud auf eben diese Ausführungen (vgl. GW XVI: 239f).
Freud GW IX: 173; siehe auch 176.
Vgl. auch Freud GW XVI: 207f. Freud scheint eine Speicherung im biologischen ‚Substrat‘ anzunehmen.
Mit Recht machte Micha Brumlik darauf aufmerksam, dass er „mit seiner Spekulation über evolutionäre
Lernprozesse im Bereich der Moral“ nicht nur in starke Nähe zu Lamarck gerät, sondern selbst Jungs Archetypenlehre überbietet (Brumlik 2001: 83f).
Vgl. Freud GW IX: 185f.
274
sie seine lieben Kinder seien. Und nicht minder überwältigend muß die Vorstellung eines einzigen, ewigen, ewigen, allmächtigen Gottes auf sie gewirkt haben,
dem sie nicht zu gering waren, um einen Bund mit ihnen zu schließen, und der
für sie zu sorgen versprach, wenn sie seiner Verehrung treu bleiben.“1015 Fatal
war freilich, dass Moses seine eigenen Züge – Zorn und Unerbittlichkeit – dem
einzigen Gott unterlegte, „und wenn sie einmal diesen großen Mann erschlugen,
so wiederholten sie nur eine Untat, die sich in Urzeiten als Gesetz gegen den
göttlichen König gerichtet hatte und die, wie wir wissen, auf ein noch älteres
Vorbild zurückging.“1016 Aber lässt sich der Vatermord in der Urhorde auf die
Tötung des ägyptischen Moses umstandlos übertragen? Freud selbst scheint gezögert zu haben, denn das Motiv dieses Mordes war nicht sexuelle Konkurrenz,
sondern der mit Nachdruck vorgetragene hohe moralische Anspruch zusammen
mit der Unsinnlichkeit dieses Gottes: Unter den Vorschriften der MosesReligion findet sich eine, die bedeutungsvoller ist, als man zunächst erkennt. Es
ist das Verbot, sich ein Bild von Gott zu machen, also der Zwang, einen Gott zu
verehren, den man nicht sehen kann.“ Dieser an Strenge noch die Aton-Religion
überbietende Monotheismus bedeutet nach Freud „ein Triumph der Geistigkeit
über die Sinnlichkeit, streng genommen einen Triebverzicht mit seinen psychologisch notwendigen Folgen.“1017 Die Entwicklung von der ungezügelten Sinnlichkeit zur Geistigkeit erinnert an den ethischen Monotheismus eines Hermann
Cohen, der die Bedeutung des Judentums, darin Hegel folgend, gerade in der
fortschreitenden Emanzipation von der Sinnlichkeit sah. Freuds Versuch, das
Ich gegenüber den Ansprüchen des Es zu stärken, besitzt auf psychoanalytischer
Basis durchaus eine Affinität zu den religionsphilosophischen Überlegung
Cohens mit der entscheidenden Einschränkung, dass die Befriedigung der Triebe
zwar umgelenkt, aufgeschoben, sublimiert oder gar versagt werden kann, doch
die Basis des Ich im Es lässt sich niemals völlig aufheben. Eine dauerhafte und
völlige Unterwerfung des Sinnlichen unter das Geistige bliebe Illusion. Der
„Fortschritt in der Geistigkeit“ wurde in der frühen Phase Israels erkauft mit einem höheren Maß an Triebverzicht. Weder das Bewusstsein der Erwählung,
noch die Verankerung der ethischen und kultischen Normen in Willen und Offenbarung des göttlichen Vaters vermochten zu verhindern, dass die wachsenden
Aggressionen sich gegen Moses und seinen Gott kehrten, der alle diese Zumutungen verordnet hatte. Das, was Freud in einer früheren Schrift als Unbehagen
in der Kultur bezeichent hatte, scheint bereits hier einen aggressiven Ausdruck
gefunden zu haben, so dass das Modell des Vatermords aus Totem und Tabu al1015
1016
1017
Freud GW XVI: 217.
Ebd.: 217f.
Beide Zitate ebd.: 220 (Kursivierung: R.B.).
275
lein kaum zureicht, den Gewaltakt gegen Moses und seinen Gott – dem in
Wahrheit die Aggression gilt – zu erklären, vielmehr scheinen beide Theorien
hier zusammenzufließen. Und wie schließlich vermittelt durch Schuldgefühle
nach dem Vergehen der ermordete Vater gestärkt aus dem Geschehen hervorging, so auch Moses und sein Gott. Gerade die Verdrängung der Tat, die im Unterschied zum Vergessen eine Verstärkung (wenn auch nicht auf der Ebene des
Bewusstseins) bedeutet, verhalf dem Gott des (ägyptischen) Moses zur dauerhaften Präsenz in der kollektiven Erinnerung des Judentums 1018. Die Etablierung
einer Vaterreligion verweis auf die ‚mörderischen Anfänge‘; sie perpetuierte
„das schlechte Gewissen, man habe sich gegen Gott versündigt und höre nicht
auf zu sündigen“1019. Das hohe Maß an Vergeistigung, an ethischem Bewusstsein, welches dem Judentum eignet, ist von diesem Schuldgefühl, das die religiöse Praxis sowohl des rabbinischen Judentums als auch des Christentums neurotisch prägt, nicht schlechthin ablösbar1020.
Das Christentum stellt an einem historisch entfernteren Punkt in der Lesart
Freuds einen Lösungsversuch dar, das Schuldgefühl zu überwinden; ein Versuch, der sich aus dem Judentum entwickelte und dessen Züge trotz mancher
Legierungen mit Elementen anderer antiker Religionen und seiner Ausweitung
auf die Völkerwelt behielt. Was im Judentum Schuld des Einzelnen und des
Volkes vor Gott war; eine Schuld, die in jenem verdrängten und wiederkehrenden Urmord gründete, wird im Christentum zur Erbschuld, welche in Rückprojektion von Adam her die Gemeinschaft mit dem Vater zerstörte. Die Sühne dieses schweren Vergehens erfolgte durch den Opfertod des Sohnes, dessen theologische Ausgestaltung ein Werk des Paulus war: „Wir sind so unglücklich, weil
wir Gottvater getötet haben und es ist überaus verständlich, daß er dies Stück
Wahrheit nicht anders erfassen konnte als in der wahnhaften Einkleidung der
frohen Botschaft: Wir sind von aller Schuld erlöst, seitdem einer von uns sein
Leben geopfert hat, um uns zu entsühnen.“1021 Auf die auch von Paulus nicht
erwähnte, sondern auf die Sünde Adams verschobene Urschuld, die Ermordung
des Vatergottes, deutet noch die ungeheure Sühne, eben der Opfertod des Sohnes. Aber sowohl die Lehre von der Erbsünde als auch das Selbstopfer des Sohnes erwiesen sich nur bedingt als Lösung des Problems. Insofern der Sohn die
Sühne für das einstige Verbrechen übernommen hat, wurde er zum Gegenstand
der Verehrung und selbst Gott neben dem Vater. „Aus einer Vaterreligion her1018
1019
1020
1021
Vgl. Freud GW XVI; Assmann 1997: 234f.
Ebd.: 243.
Zum Zusammenhang von Zwangshandlungen und Religionsübungen vgl. Freud GW VII: 129-139; siehe
auch Ferenczi 1964b: 32f. (Zwangsneurose und Frömmigkeit)
Ebd.: 244; vgl. auch Brumlik 2006: 249-253.
276
vorgegangen, wurde das Christentum eine Sohnesreligion. Dem Verhängnis, den
Vater beseitigen zu müssen, ist es nicht entgangen.“ 1022 Ja mehr noch: Die
Schuld am Gottesmord erneuert sich als Tötung des Sohnes Gottes, die das
Christentum auf das Judentum übertrug; das Verdrängte kehrt auch im Christentum wieder und wird an dem Schicksal, das es den Juden bereitete, ablesbar. Die
Erlösungsbotschaft, die ohnehin nur „ein Teil des jüdischen Volkes“ annahm,
erweist sich als Trug, der den Fortschritt, „den das Bekenntnis zum Gottesmord
bei aller Entstellung enthielt“, tendentiell wieder zurücknimmt 1023. Das Judentum hat die christliche Erlösungs-Illusion nicht geteilt; vielleicht, wie Yerushalmi in seinem Monolog mit Freud vermutet, weil sich die Juden „zwar an die
Lehre der Vaterfigur Mosess erinnerten, nicht aber in einen weiteren ‚Schritt‘
auch an seine Ermordung. Könnte es daran liegen, daß es … überhaupt keinen
Mord und also in dieser Hinsicht nichts zu verdrängen und nichts zu erinnern
gab?“ Yerushalmi erwägt noch eine andere Möglichkeit: „Vielleicht waren den
Juden die rigorosen Vorschriften des Gesetzes lieber als die subjektiven Tröstungen der Gnade?“1024 In lezterem Fall könnte man Micha Brumliks Deutung
ergänzen, dass es sich nach Freud bei dem ‚Fortschritt in der Geistigkeit‘, den
das Judentum darstelle, „um ein Amalgam aus einem durch Verdrängung von
Schuld begründeten Über-Ich, der Unfähigkeit, sich dieses Schuldgefühls durch
eine Lüge zu entledigen, und erfahrener Feindschaft handelt“ 1025. Die „Lüge“
stellte die christliche Lösung dar, die Schuld wäre aber nicht der Mord am ägyptischen Moses, sondern der Abfall von Gott und – vielleicht – die uneingestandene Absicht, Ihn zu töten.
Der Mord an Gott hat nachchristlich einen offenen Bekenner gefunden, und es
verwundert, dass Freud ihn am Ende seines Moses-Buches nicht erwähnt: Friedrich Nietzsche. In der Fröhlichen Wissenschaft verkündet der tolle Mensch, dass
Gott tot sei und wir alle werden zu seinen Mördern erklärt. Die schwindende
Bedeutung der Religion in der Moderne konstatierte auch Freud; für Nietzsche
aber schlug mit den Fortschritten der Wissenschaft und der Tendenz, sein Leben
säkular, d.h. ohne Blick auf einen alles kontrollierenden Gott einzurichten, Gottes letzte Stunde1026. Was Freuds Interesse hätte wecken können, ist die normative Wendung, welche dieser Befund im Zarathustra nimmt: „Aber er musste
sterben: er sah mit Augen, welche Alles sahn – er sah des Menschen Tiefen und
Gründe, ale seine verhehlte Schmach und Hässlichkeit … Er sah immer mich:
1022
1023
1024
1025
1026
Freud GW XVI: 245.
Beide Zitate ebd; vgl. die alternative Deutung bei Žižek 2012: 42-50.
Beide Zitate aus Yerushalmi 1992: 139.
Brumlik 2006: 253, vgl. ders. 2001: 80-84.
Vgl. Nietzsche KSA 3: 480 (Aph. 125).
277
an einem solchen Zeugen wollte ich Rache haben – oder selbst nicht leben. Der
Gott, der Alles sah, auch den Menschen: dieser Gott musste sterben! Der
Mensch erträgt es nicht, dass solch ein Zeuge lebt.“ Der Mord an dem übermächtigen Vater, dessen zudringlichem Blick nichts entging und dessen Mitleid
noch die „schmutzigsten Winkel“ aufdeckte, war also Notwehr1027. Totale Kontrolle und Mitleid sind oft nicht weit voneinander entfernt. Anders aber als in der
Urhorde befällt diesen Sohn keine Reue, kein Schuldgefühl, dieser Mord nämlich soll der endgültige sein: der Schlag, der, Judentum und Christentum hinter
sich lassend, von aller Schuld und jeglicher Reue befreit, der den den geduckten
Menschen aufrichtet und den Weg zum Übermenschen bahnt. Oder schenkte
Freud Nietzsches Emphase keinen Glauben? War zuletzt auch Nietzsches Bekenntnis zum Gottesmord nur eines mehr, welches das schlechte Gewissen langfristig nicht heilen konnte? Dass Gott tot sei, bliebe also nur ein Gerücht, das ein
verzweifelter Neurotiker in die Welt setzte, und der diesen Gott immer wieder
töten musste: in der Fröhlichen Wissenschaft, im Zarathustra, im Antichrist. Die
ärztliche Prognose Freuds wäre eher ungünstig.
Ungünstig für Freud und dessen breit entfaltete Hypothese sind sowohl die
schon zu seinen Lebzeiten vorgenomme Kritik an der Totemismus-These, der
man „leicht Mythenbildung aus spekulativer Phantasie vorwerfen kann“1028, als
auch die Befunde der Monotheismus-Forschung seit Ende der siebziger Jahre
des letzten Jahrhunderts. Demnach kann man von einem frühen, noch in die Zeit
des Exodus reichenden strengen Monotheismus nicht sprechen. Wenn es im Judentum eine Erinnerungsspur geben sollte, die bis zu den Reformen Echnatons
reicht – und dafür spricht wenig – so ist sie stets blass geblieben. Unklar ist
überhaupt, welchen historischen Stellenwert den Moses- und Exodusüberlieferungen beanspruchen können. Wird hier sehr alte historische Erfahrung legendarisch ausgeschmückt oder muss die gesamte frühe Geschichte Israels, wie sie die
Bibel erzählt, ins Reich literarischer Fiktion verweisen werden1029? Sie könnte
auch in diesem Falle als fundierender Narrativ theologische Bedeutung haben –
aber eben nicht als historische Quelle für jene Zeit, von der sie erzählt. Ein
strenger, theoretisch formulierter Monotheismus lässt sich erst in der späten
Exilszeit nachweisen und setzt sich gegen Widerstände in der nachexilischen
Zeit durch. Archäologie und religionsgeschichtliche Forschungen zeigen inzwischen, in welch hohem Maße „die Religion des biblischen Israel bis in die Mitte
1027
1028
1029
Beide Zitate aus Nietzsche KSA 4: 331.
Zirker 1995: 191; vgl. auch Küng 1987: 62-70. Denkbar ist auch, Freuds Theorie als ‚Narrativ‘ zu deuten,
der die Entstehung der Religion aus einem ödipalen Konflikt erklärt, der nicht an einem bestimmten historischen Zeitpunkt greifbar wird, sondern die Entwicklung sowohl des Individuums als auch der Gattung
bestimmt.
Vgl. Lemche 1996: 218-220.
278
des 1. Jahrtausends v. Chr. mit der polytheistisch dominierten altorientalischen
Religionsgeschichte verwoben ist“1030. Für die späte Königszeit kann allenfalls
von einer Tendenz zur ‚intoleranten Monolatrie‘ gesprochen werden, d.h. hvhy ist
der für Israel allein zuständige Gott, und nur er darf verehrt werden, was aber
die Existenz anderer Götter mit Zuständigkeiten für andere Völker nicht ausschließt. Im Schema‘ Israel (Dtn 6,4-9) und in der Einleitung und Anfang der
beiden Dekalogfassungen (Ex 20,1f / Dtn 5,6f: „Ich bin hvhy dein Gott, der dich
aus Ägypten, dem Sklavenhaus, befreit hat [und weiterhin befreien will] Darum
sollst du keine anderen Götter haben neben mir.“) findet diese exklusive Bindung an hvhy ihren Ausdruck und die einprägsamen Formulierungen1031. Parallel
dazu war auch – trotz prophetischer Kritik – ein ‚diplomatischer Polytheismus‘
möglich, der auch kultisch Rücksicht auf Israels Bündnispartner nahm. Religion
und Politi waren eng miteinander verknüpft. Erst nachdem in nachexilischer Zeit
der Glaube an den einzigen Gott sich als normativ durchsetzen konnte, werden
Dekalog und Schema Israel auch monotheistisch gelesen. Sie repräsentieren ein
Stück politischer Theologie, in der die Thora als ‚Staatsverfassung‘ Israels verankert wird und hvhy sich gegen die altorientalischen Großmächte als der einzige,
wahre und gerechte Herrscher durchsetzt, der nicht Freiheit und Gleichheit kassiert, sondern ermöglicht und ein entsprechendes Verhalten von Israel auch fordert1032. Wenn sich innerhalb der Geschichte des Judentums ein die kollektive
Erinnerung prägendes Schuldbewusstsein herausbildete, so gründete es nicht,
wie Freud annahm, in der Ermordung des ägyptischen Moses, ein Akt, der sich
aus den biblischen Texten nur schwer und nicht ohne Willkür herauslesen lässt,
sondern in der prophetischen Deutung des Exils als Strafe, die eine verändeerte
Sich der der Geschichte Israels nach sich zog. Nicht waren die Götter der orientalischen ‚Supermächte‘ stärker als hvhy, sondern hvhy strafte das Volk für seine
Untreue. Von Sanherib über Nebukadnezar waren die Herrscher und Feldherrn
der Völker Instrumente des einzigen Gottes, der in der weiteren Deutung nicht
nur zum Schöpfer, sondern auch zum Herrn der Geschichte aufrückte. Israel
aber ist von ihm abgefallen und lief anderen Göttern nach, übertrat die kultischen wie ethischen Gebote und brach somit den Bund, den Gott gestiftet hatte.
Diese Schuld lastete schwer, auch wenn Gott sein Volk schließlich aus dem Exil
führen würde wie einst aus Ägypten, wo seine Macht sich bereits als weit stärker
erwiesen hatte als diejenige Pharaos. Das Exodus-Modell wurde zum Prototyp
der künftigen Befreiungen, zur narrativ gestalteten ‚Gegengeschichte‘ und zum
1030
1031
1032
Zenger in Manemann 2003: 160-163, hier: 160.
Ebd.: 161.
Vgl. ebd.: 161f.
279
Grund der Hoffnung inmitten einer desolaten Lage. Wie erinnerlich ist die biblische Erzählung nicht Historiographie, sondern Geschichtsdeutung (Geschichtsmidrasch1033), die auch für den Ausblick auf die Zukunft relevant ist. Geschichte
wird ‚entfatalisiert‘, sie ist das Ergebnis menschlicher Praxis und unterliegt damit auch Verantwortung. Zu ihr gehören der Protest, die Anklage und die Aufforderung, nicht der normativen Kraft des Faktischen zu erliegen. In dieser bereits biblisch anhebenden ‚Entzauberung der Geschichte‘ liegt zumindest ein
Grund der Resilienz gegenüber blinder Herrschaft, die Freud in einem Brief an
die Mitglieder des B‘nei B’rit 1926 dem Judentum attestiert: der Mut „in die
Opposition zu gehen und auf das Einverständnis mit der ‚kompakten Majorität‘
zu verzichten“1034. Ist aber Geschichte kein Schicksal, so rückt die Schuld mehr
und mehr in den Blickpunkt der Kritik, und es überrascht nicht, dass in den prophetischen Reden Gericht, Schuldbekenntnis und Umkehr der abermaligen Befreiung aus dem Exil vorausgehen. Man hatte Gott nicht ermodert, aber die starken Bilder, welche die Propheten gebrauchen, zielen auf ein extrem belastetes
Gewissen gegenüber hvhy, dessen Wohltaten man vergessen, dessen Liebe man
nicht erwidert und dessen Gesetz man missachtet hatte. Es ist die keineswegs
rein akademische Frage, ob man ohne die Konfrontation mit Verantwortung und
Schuld erwachsen werden kann – individuell wie kollektiv. Insofern ist Jan
Assmanns Schlussüberlegung anregend: „Freuds Theorien – überholt oder problematisch, wie sie vielleicht erscheinen – haben das Verdienst, die Rolle von
Schuld, Gedächtnis und Verdrängung in der Religionsgeschichte herausgestellt
und alle unilinearen, auf Evolution und Tradition gegründeten Rekonstruktionen
als unhaltbar erweisen zu haben.“1035 Assmans Interesse galt primär einer Rekonstruktion der Spur des ‚ägyptischen Mose‘ im kulturellen Gedächtnis, aber
gerade der Zusammenhang von Schuldbewusstsein, Monotheismus und Erinnerung ist auch theologisch von Interesse – jenseits der problematischen PsychoHistorie Freuds, wie er sie in der Vatermord-Hypothese oder der These von der
Ermordung und Verdopelung der Mose-Gestalt entwickelte. Dass Archaisches,
wie es nach Freud durch die Despotie des ‚Urvaters‘ repräsentiert war, sich in
die Kultur- und Religionsgeschichte verlängert, dort immer wieder durchbricht
und als das Verdrängte wiederkehrt, ist ein Gedanke, dessen Aktualität noch
durch die perennierende Barbarei des 20. und 21. Jahrhunderts bestätigt wird1036.
1033
1034
1035
1036
So der schon erwähnte Begriff Yerushalmis (1993: 92).
Freud 1980: 382; Freud spielt in der Formulierung auf Ibsens Ein Volksfeind an.
Assmann 1997: 235.
Vgl. Marcuse 1979: 57f.
280
d) Prosaisches Ende der Aventure? Realitätsprinzip und Protokollsätze
Freuds eigener Beitrag zur Kritik der Religion stützt sich auf zwei historischpsychologische Befunde, deren Gültigkeit für ihn außer Frage steht: a) der vorgeschichtliche Ursprung der Religion im Vatermord und dem daraus sich ergebenden Schuldgefühl, b) der illusionäre Charakter der Religion als Ausdruck
infantiler Wünsche und eines neurotisch gestörten Verhältnisses zur Realität.
Die historische Basis Freuds hat sich als wenig tragfähig erwiesen, auch wenn
die Frage nach dem Verhältnis von Religion und Schuldgefühl damit keineswegs erledigt ist. Die psychlogische Basis ist ebenfalls nicht so stabil wie Freud
annahm, zumal, wie Hans Küng richtig sieht, der Atheismus für Freud „vor allen
psychologischen Entdeckungen feststand“, so dass er sich, „als reine Hypothese,
als unbewiesenes Postulat, als dogmatischer Anspruch“ erweist1037. Freud könnte entgegenen, dass der Atheismus seine hohe Plausibilität nicht allein der modernen Psychologie verdankt, sondern der Konvergenz aller religionskritischen
Argumente von der Aufklärung bis Nietzsche, die in der Zukunft einer Illusion
nicht erneut geprüft, sondern ausdrücklich vorausgesetzt werden. Diese aber waren, wie wir sahen, schon für sich genommen, keineswegs zwingend und gewinnen auch nicht in der Zusammenschau an Überzeugungskraft. Vielleicht sind es
aber auch nicht erster Linie die Argumente mit ihren unterschiedlichen, keineswegs durchweg miteinander kompatiblen Voraussetzungen, sondern es ist die
Macht und Härte der von uns erlebten Wirklichkeit, die für Freud jede weitergende Hoffnung als illusionär erscheinen lässt. Seine Kritik der Religion besitzt
resignative Züge; sie steht im Zeichen des Realitätsprinzips und einer „Erziehung zur Realität“, deren Geltung und Ansprüche nicht weiter zur Disposition
stehen. Jeder Versuch, Fragen und Ansprüche zu formulieren, die möglicherweise über die Grenzen der bestehenden, wissenschaftlich rekonstruierbaren Realität hinausgehen, stehen im Verdacht einer pathologischen Depravation des
Seelenlebens: „Im Moment, wo man nach Sinn und Wert des Lebens fragt“,
schreibt Freud im August 1937 an Marie Bonaparte, „ist man krank, denn beides
gibt es ja in objektiver Weise nicht; man hat nur eingestanden, daß man einen
Vorrat an unbefriedigter Libido hat, und irgend etwas anderes muß damit vorgefallen sein, eine Art Gärung die zur Trauer und Depression führt.“1038 In der Tat
sind ‚Sinn und Wert des Lebens‘ weder evident, noch als Objekt unter Objekten
in der Anschauung gegeben. Aus diesem wissenschaftlich nicht gerade revolutionären Befund folgt aber schwerlich, dass die Frage selbst Ausdruck einer Depression ist, verursacht durch ‚unbefriedigte Libido‘. Freud ermahnt die Men1037
1038
Küng 1987: 75.
Freud 1980: 452.
281
schen wie einst der bürgerliche Vater seine Kinder, „auf ein gutes Stück unserer
infantilen Wünsche zu verzichten“ und sich mit dem zu begnügen, was unter der
Anleitung unseres Intellekts realisierbar ist1039.
Es scheint, als endeten die Abenteuer der Aufklärung im wohlgeordneten Vormarsch einer Menschheit, die sich aller angeblichen Illusionen und Kindheitsneurosen begeben hat und ihre Kräfte auf das zunächst Realisierbare richtet;
man wird bei der Lektüre der Schlusspassagen von Freuds Zukunft einer Illusion
an Auguste Comtes Motto ordre et progrès erinnert. Vernunft ist weitgehend
formalisierte, instrumentelle Vernunft, als wäre ausgerechnet sie in der Lage,
jenem Grauen, das Freud Ende der zwanziger Jahre heraufziehen sah, besser zu
widerstehen als die ohnmächtigen Religionen. Freuds illusionslos sich in die
Brust werfende Kritik setzt den heillos geschlossenen Weltlauf voraus und erklärt ihn noch zur Norm für das am Druck der Negativität verzweifelnde Bewußtsein. Die wenig erbauliche Einsicht in die tiefe Abhängigkeit der Menschen
von ihren naturalen Voraussetzungen und in die Dialektik auch der sublimsten
kulturellen Erscheinungen geht über in die Empfehlung, sich in das, was Kultur
und Wissenschaft nicht abwenden und ins Recht setzen können, zu schicken.
Solcher mit Trauer und Resignation versetzte ‘Realismus’ ist freilich nicht
schlechthin identisch mit dem Verzicht auf infantile Wünsche, sondern geht
über in das Verbot, mehr zu denken und zu erhoffen als das, was in der menschlichen Reichweite liegt. Das Freudsche Verdikt über die ‘intelligiblen Welten’
ist schärfer noch als das Kantische: Es dehnt sich auf die Hoffnungen, ja Wünsche aus und verkennt, was Kant durchaus noch bewusst war, dass nämlich die
Vernunft selbst ohne die Idee einer vollendeten, mit sich selbst versöhnten und
zur Ruhe gelangten Welt sich selbst zerstört. Die Desillusionierung im Namen
der Wissenschaft – im Grunde eine nur dürftig übermalte metaphysische Trauer
– greift auf diese selbst über und eliminiert noch deren nonkonformistischen
Zug1040. Der Blick auf die Opfer der Geschichte und die Hoffnung, dass ihnen
noch Gerechtigkeit werde, kann im übrigen schwerlich als ‘infantil’ abgefertigt
werden. „Ist die Weigerung, fragt Hans Zirker mit Recht, „sich mit einer sinnlosen Welt abzufinden, nicht auch ein entscheidendes Stück der Menschheitskultur? Müßte man die Religionen nicht wenigstens darin gerechtfertigt sehen, daß
sie die Sehnsucht nach einer äußersten Zukunft wachhalten, die in der sich
schließlich Wunsch und Realität doch treffen?“1041. Die Anamnese reicht bedeutend weiter als es in den individualpsychologischen Studien Freuds scheint. Die
Erinnerung an vergangenes Unrecht, an Unterdrückung, Leid und depraviertes
1039
1040
1041
Zitate aus Freud GW XIV: 373 und 378.
Vgl. Freud 1980: 381.
Zirker 1995: 199.
282
Leben ebenso wie an die Möglichkeit des Glücks umfasst auch das kollektive
Gedächtnis. Die verdrängten Tramata kehren historisch wieder, woauf Johann
Baptist Metz unter Rückgriff auf Überlegungen Benjamins, Adornos und Marcuses aufmerksam machte1042. Mit Grund bezweifelt Freud, „daß der Mensch
den Trost der Religion nicht entbehren kann, daß er ohne sie die Schwere des
Lebens, die grausame Wirklichkeit nicht ertragen würde“1043. Religion ist jedoch
nicht bloß Trost angesichts eines unbewältigten und beschädigten Lebens, als
solche wäre sie nur zu schnell Vertröstung, ein Betäubungsmittel, das den Menschen verabreicht wird1044. Sie ist der Protest gegen eine Verfassung der Welt,
die der Vernunft spottet und widerspricht „der rationalisierenden Einebnung der
Diskontinuitäten und geschichtlichen Brüche im Interesse der identitätssicherung der gegenwärtig Lebenden“ 1045 . Insofern hält – zumindest der biblische
Monotheismus – gegen eine Reduzierung der Aufklärung auf ‚Protokollsätze‘
(s.u.) und die technische Bewältigung einiger Probleme einen emphatischen Begriff von Denken und Vernunft fest: Vernunft erschöpft sich nicht in der Beschreibung des Vorhandenen, sie ist nicht bloße Nachkonstruktion und Katalalogisierung unserer Erfahrungen, sondern stellt die analysierte und konstruierte
Realität zur Disposition. Denken impliziert als Denken eine Distanz zur Wirklichkeit, ist also Nichtidentiät mit dem Erfahrenen und Erlebten, in welchem für
uns das ‚Wirkliche‘ ist. Das ‚Realitätsprinzip‘ bewahrt uns davor, Wunsch und
Wirklichkeit zu verwechseln, infantil in eine Welt zu flüchten, wie sie vielleicht
sein soll; als verabsolutierte Norm eines angeblich gesunden Seelenlebens aber
gerät es zum Denkverbot, schließlich zur Zerstörung eben jenes Denkens, das
auch in seiner Analyse der seelischen Dynamik die Kraft bezeugte, das bloß Erscheinende zu überschreiten und hinter die – gar noch von ihm selbst errichtete
– Fassade zu schauen.
Das Vertrauen auf die beachtliche Problemlösungskapazität der Wissenschaft
und die Relevanz der Empirie teilte Freud mit vielen Zeitgenossen, darunter
auch die Autoren des so genannten Wiener Kreises, zu dem Moritz Schlick, Otto
Neurath oder Rudolf Carnap gehörten, dem aber auch die Philosophie des frühen
Wittgenstein kritisch verbunden war. Kennzeichned für den logischen Positivismus ist die Beschränkung philosophischer Reflexion auf den Raum der Empi1042
1043
1044
1045
Vgl. Metz 1989: 735-737; Taubald 2001: 49-57, 76-114.
Freud GW XIV: 372f.
„Daß die Wirkung der religiösen Tröstungen der eines Narkotikums gleichgesetzt werden darf, wird
durch einen Vorgang in Amerika hübsch erläutert. Dort will man jetzt den Menschen – offenbar unter
Einfluß der Frauenherrschaft – alle Reiz-, Rausch- und Genußmittel entziehen und übersättigt sie zur Entschädigung mit Gottesfurcht. Auch auf den Ausgang dieses Experiments braucht man nicht neugierig zu
sein.“ (Freud GW XIV: 372)
Metz 1989: 737.
283
rie und mathematischer Symbolisierung: „Die wissenschaftliche Weltaufassung
kennt nur Erfahrungssätze über Gegenstände aller Art und die analytischen Sätze der Logik und Mathematik.“1046 Die Funktion und Gültigkeit dieser Sätze ist
zu überprüfen, d.h. dass alle Philosophie, wie Wittgenstein auch feststellt,
Sprachkritik ist. Erstes Ziel dieser Kritik ist, wie schon in den erkenntniskritischen Modellen eines Bacon und Hume, weniger die Religion als vielmehr die
Metaphysik. Die gesamte metaphysische Denktradition von Platon über die mittelalterliche Aristotelesrezeption bis zu Fichte und Hegel verfällt dem Verdikt
der Unwissenschaftlichkei, mehr noch: ihre Sätze sind unsinnig. Ihr Denken beruht auf Scheinproblemen und selbst die apriorischen Grundlagen der metaphysikkritischen Kantischen Erkenntnistheorie „sind sinnlos, weil nicht verifizierbar, nicht sachhaltig“1047. Als ‚sachhaltig‘ können nur solche Sätze gelten, die
auf Erfahrung zurückführbar sind und diese in einer allgemeingültigen logischen
Form zum Ausdruck bringen. „Der Satz“, heißt es in Wittgensteins Tractatus
logico-philosophicus knapp, „ist ein Bild der Wirklichkeit. Der Satz“, wird sofort präzisiert, „ist ein Modell der Wirklichkeit, so wie wir sie uns denken.“1048
Fragen nach dem Woher der Wirklichkeit aber auch nach der ‚Erkenntnisapparatur‘ des Subjekts sind mit der sprachphilosophischen Begrenzung philosophischer Reflexion ausgeschlossen. Hinter die Erfahrung kann sinvoll nicht mehr
zurückgefragt werden, wie es ja gerade die transzendentalphilosphische Untersuchung vornimmt. Philosophie hat folglich nur die Aufgabe, eine erkenntnistheoretische und sprachphilosophische Basis einer Wissenschaft zu geben, welche die empirische Wirklichkeit in ein exaktes, eindeutiges Symbolsystem übersetzt, während alle anderen Deutungen und Bedeutungen in den Verdacht einer
wissenschaftlich unauweisbaren Metaphysik geraten1049; ein Ansatz, der im angelsächsischen Raum u.a. von Alfred Jules Ayer übernommen und fortentwickelt wurde. Es kommt darauf an, für die Wissenschaft eine verbindliche Idealsprache zu entwickeln, die der Aufgabe einer Ordnung und Analyse der erfahrung entspricht. Auch wenn Otto Neurath gegenüber Rudolf Carnap nur eine
bloße Annäherung an die (in ihrer reinen Form unerreichbaren) Idealsprache für
möglich hält, so ist doch die Reduzierung der Sprache auf ein reines Zeichensys1046
1047
1048
1049
Verein Ernst Mach: Der Wiener Kreis, in: Wiener Kreis 2013: 5-32, hier: 18. Drastisch hatte schon David
Hume am Ende seiner Untersuchung über den menschlichen Verstand formuliert: „Greifen wir irgendeinen Band heraus, etwa über Gotteslehre oder Schulmetaphysik, so sollten wir fragen: Enthält er irgend
einen abstrakten Gedankengang über Größe und Zahl? Nein. Enthält er irgend einen auf Erfahrung gestützten Gedankengang über Tatsachen und Dasein? Nein. Nun, so werft ihn ins Feuer, denn er kann
nichts als Blendwerk und Täuschung enthalten.“ (Hume 1911: 193)
Wittgenstein 1995: 26 (4.003 und 4.0031).; vgl. auch Kenny 2007: 58-71.
Wittgenstein 1995: 26 (4.01).
In diesem Sinne ist auch der berühmte Schluss des Wittgensteinschen Tractatus zu verstehen: „Wovon
man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“ (Wittgenstein 1995: 85).
284
tem, das sich am Vorbild der Physik orientiert, unverkennbar und die Differenzen sind eher gradueller als prinzipiller Art. Sowohl die Rede von der ‚Einheitswissenschaft‘ und ‚Einheitssprache‘ als auch von einer ‚wissenschaftlichen
Weltauffassung‘1050 hat, bei aller Zurückhaltung gegenüber empirisch unausgewiesenen Thesen, gleichwohl ‚metaphysische‘ und ‚weltanschauliche‘ Anklänge. Indessen lässt sich kaum ein konsensfähigens Kriterium für die ‚Einheitssprache‘ in Abgrenzung zu sinnlosen Sätzen finden. Das Ideal selbst ist fraglich,
da mit dieser Engführung die Alltagssprache, die stark kontext- und situationsnsabhängig ist, per definitionem philosophisch irrelevant wird; ein Problem, das Wittgenstein veranlasste, in den Philosophischen Untersuchungen einen anderen Weg einzuschlagen und sich auf den jeweiligen Gebrauch der Sprache (Sprachspiele) zu konzentrieren1051. Aber auch hier begnügt sich die Philosophie weitgehend mit Deskription und gibt ihren kritischen Impuls preis. Die
Abenteuer der Immanenz enden entweder in der idealsprachlichen Katalogisierung der Erfahrung oder der in der Beschreibung der Sprachspiele.
Aber genau darum wird man zögern, Freuds Religionskritik auf eine so diffuse
Größe wie das ‚intellektuelle Klima‘ Wiens an der Wende vom 19. zum 20.
Jahrhundert zurückzuführen. Es ist schwer vorstellbar, dass die Psychoanalyse
umstandslos mit der Idee einer Einheitssprache der Einheitswissenschaft kompatibel ist. Die Idealsprache exakt beschreibender Protokollsätze bietet wenig
Raum für das ‚spekulative Moment‘ innerhalb psychoanalytischer Theoriebildung. Wie im Zuge der Verhaltenspsychologie die ‚genetische‘ Methode und
Therapie Freuds als unökonomisch und sich über einen zu langen Zeitraum erstreckend eher suspekt wurde, so geraten die komplexen Prozesse der Traumdeutung oder die Analyse des dynamischen Zusammenhangs der drei psychischen Instanzen für eine an der Idealsprache orientierten Wissenschaft in die
Nähe zur Metaphysik. Der aus der Psychoanalyse nicht zwingend ableitbare Generalverdacht gegenüber der Religion als Illusion entspricht vielmehr der Skepsis bürgerlichen Denkens, das sich fest auf dem Boden der Realität zu stehen
wähnt; einer Realität, die offen oder verdeckt normativen Charakter. Indessen
wäre es voreilig, die Freudsche Religionskritik pauschal als überholt zu betrachten. Trotz der provokanten Formulierung vom ‚Gott ‘ setzt Freud keineswegs eine innerweltliche Größe auf den leeren Thron Gottes, sondern appelliert
an die Mündigkeit der Menschen. Angesichts einer heutigen Tendenz, Religion
im Sinne einer Stabilisierung der seelischen Ökonomie zu verstehen und der
Konstruktion eines Gottesbildes das entweder eine bloße Repristination des ur1050
1051
Vgl. Otto Neurath, Protokollsätze, in: Wiener Kreis 2013: 73-85, hier: 73f.
Vgl. Kenny 2007: 60-63; Zirker 1995: 225f; Wuchterl in Fleischer 1991: 49-54.
285
zeitlichen Übervaters darstellt – wie im fundamentalistischen Kontext – oder
von allem Befremdlichen und Inkommensurablen gründlich gereinigt wurde,
findet der Infantilitätsverdacht neue Nahrung. Freud erinnert die Theologie daran, das Verhältnis von Wunsch und Wirklichkeit kritisch in seinen jeweiligen
historischen, sozialen und psychosozialen Zusammenhängen zu rekonstruieren.
Das Denken, auch das theologische, muss sich aufs Wünschen (das nicht schon
bloßes Phantasieren ist) verstehen, wenn es nicht mit Freud vor der Übermacht
der Realität resignieren will; es muss zugleich sich davor bewahren, Wunsch
und Wirklichkeit in einem regressiven Akt zu identifizieren. Das Medium, in
dem dies geschieht, ist nach wie vor die Kritik. Entsprechnd wäre in allen theologischen Disziplinen zu zeigen, was, um eine Formulierung von Emmanuel Levinas aufzugreifen, eine ‚Religion für Erwachsene‘ genau besagt und was der
Abschied vom kindlichen Himmel bedeutet1052
.
1052
Vgl Levinas 1992: 21-37 / 2006: 25-31.
286
Epilog:
„Der kritische Weg ist allein noch offen“
Religion und Aufklärung in der späten Moderne
Max Horkheimer / Theodor W. Adorno:
Dialektik der Aufklärung (revidierte Version), Amsterdam 1947
287
288
„Warum sollten wir uns überhaupt mit der Aufklärung befassen?
Weil es gar keine andere Wahl gibt.“
Susan Neiman1053
Bilden also Realitätsprinzip und Protokollsätze den nüchternen Ausgang der
großen Aventures der Emanzipation? Alles, was sich jenseits des Realitätsprinzips bewegt, wäre demnach nichts als eine infantile Projektion, und alles, was
sich nicht auf die Inventarisierung der erfahrbaren Welt beschränkt, sinnlos.
Aber wozu noch das Pathos der Wahrheit und der Gestus des Aufklärers? Die
katalogiserte und geheimnislose Welt ist banal. Man mag sich fragen, ob der
ungeheure Aufwand an intellektueller wie libidinöser Energie nörig war, um
schließlich dieses Resulat zu zeitigen. Offenbar ist der Fortschritt der Wissenschaften keineswegs nur segensreich, und ein Bewusstsein davon, dass die Logik des Fortschritts
nicht automatisch den Zustand der Menschen verbessert, begleitete den Prozess der Aufklärung.
Das Fazit, das bereits Mitte des 18. Jahrhunderts
Jean-Jacques Rousseau zieht, ist wenig erhebend:
„Wenn indessen der Fortschritt der Wissenschaften und Künste (le progrès des sciences et des
arts) nichts zu unserer wahren Glückseligkeit beigetragen hat, wenn er unsere Sitten verdorben hat
und wenn die Sittenverderbnis (la corruption des
mœurs) der Reinheit des Geschmacks Abbruch
getan hat, was sollen wir dann erst von jener
Unmenge populärer Autoren denken, welche die
Hindernisse, welche die Natur als Kraftprobe (épreuve des forces) für die Wissendurstigen errichtet hatte, vom Tempel der Musen fortgeräumt haben, die seinen Zugang versperrten.“ 1054 Die fortschreitende Arbeitsteilung innerhalb der
menschlichen Gesellschaft verfeinerte die Techniken und Methoden, führte zu
einer weiteren Ausdiffernzierung der Kultur, bewirkte aber auch die Ausbildung
sozialer Hierarchien, die als gottgewollt oder naturgegeben legitimiert wurden.
1053
1054
Neiman 2015: 55 = Neiman 2014: 43.
Rousseau 1971: 52/53 – 54/55.
289
„Daher ist es unmöglich“, schreibt Rousseau in seinem Diskurs über den Ursprung der Ungleichheit zwischen den Menschen, „einen Menschen zu unterjochen, ohne ihn zuvor in die Lage versetzt zu haben, daß er ohne einen anderen
nicht auskommen kann. Diese Situation kommt im Naturzustand (état de nature)
nicht vor, der deshalb jeden des Jochs ledig sein läßt und das Gesetz des Stärkeren wirkungslos macht.“ 1055 Denkbar aber auch, dass gerade die rohe, unversöhnte Natur in den Formen unerhellter Herrschaft von Menschen über Menschen sich durchsetzt, ein ‚état de nature‘, den Rousseau wohl weniger im Blick
hatte. Immerhin sah er wohl früher als manche Aufklärer seiner Generation die
problematische Seite eines Fortschritts, der schon bald Anzeichen einer Indifferenz gegenüber jenen Zielen zeigte, die er doch verwirklichen sollte. Für
Rousseau war es die Entfernung von jenen Möglichkeiten und egalitären Verhältnissen, welche der état de nature – in seinem Sinne weniger ein historisch
verfizierbarer Urzustand als vielmehr die natürliche Bestimmung des Menschen
– eröffnet. Zur Aufklärung gehört die Einsicht in ihre eigene Dialektik, die freilich bei Rousseau nur in Ansätzen entfaltet wird. Denn die Geschichte der Kultur, der Wissenschaften und der Aufklärung ist weder eine Dekadenzgeschichte,
in deren Verlauf die Menschen ihre natürliche Bestimmung verfehlten (so erscheint sie bei Rousseau), noch eine mehr oder weniger geradlinige Aufstiegsgeschichte, deren guter Ausgang über jeden Zweifel erhaben ist. Kultur und
Barbarei, Fortschritt und Regression sind vielmehr durcheinander vermittelt und
bilden zusammen die Geschichte einer Zivilisation, von der keineswegs schon
entschieden ist, ob sie gelingt oder in Autodestruktion enden wird.
Die Katastrophen des 20. Jahrhunderts haben vor Augen geführt, welches Potential an Barbarei auch in der modernen Zivilisation mitgeschleppt wird und an
bestimmten geschichtlichen Punkten auf dem fortgeschrittensten Stand der
Technik wirksam wird. Unklar ist auch, ob eine rein auf die Ordnung der Wirklichkeit reduzierte Vernunft noch in der Lage ist, Ziele der technisch-ökonomischen Entwicklung anzugeben. „Hat der ‚Fortschritt‘ als solcher“ fragt mit
Grund Max Weber in seinem großen Vortrag Wissenschaft als Beruf (1917),
„einen erkennbaren, über das Technische hinausreichenden Sinn, so daß dadurch
der Dienst an ihm ein sinnvoller Beruf würde?“1056 Weder die Naturwissenschaften noch die technischen oder ökonomischen Disziplinen geben auf diese Fragen
eine Antwort. Sie sind vielmehr Teil einer Dynamik, deren Sinn und Zweck von
ihnen nicht diskutiert wird. Die Erneuerung des Schicksals im Gewande des
Fortschritts und einer säkularen Gesellschaft bleibt Zwang auf hohem Niveau.
1055
1056
Ebd.: 188/189, Discours sur l'origine et les fondements de l'inégalité parmi les hommes, 1755.
Weber 1994 = MWS I/17: 10.
290
Ebenso hellsichtig wie resigniert schreibt Weber: „Die alten vielen Götter, entzaubert und daher in Gestalt unpersönlicher Mächte entsteigen ihrer Gräbern,
streben nach Gewalt über unser Leben und beginnen untereinander ihren ewigen
Kampf. Das aber, was gerade dem modernen Menschen so schwer wird, und der
jungen Generation am schwersten, ist: einem solchen Alltag gewachsen zu sein.
Alles Jagen nach dem ‚Erlebnis‘ stammt aus Schwäche. Denn Schwäche ist es:
dem Schicksal der Zeit nicht in seine ernstes Antlitz blicken zu können.“1057 So
chimärisch, ja regressiv der Rückzug auf das ‚Erlebnis‘, auf reine Unmittelbarkeit oder Authentitizität auch ist, so begnügt sich auch Weber, darin Freud verwandt, mit dem Hinweis auf das ‚Realitätsprinzip‘ und der Empfehlung, ihm zu
folgen. Was einst als Aufbruch und Emanziption von unerhellter Autorität und
von den Schicksalsmächten – Geister, Dämonen und Götter eingeschlossen –
begann, ist selbst zum Schicksal geworden oder wird von einer wertfrei agierenden Wissenschaft zum Schicksal erklärt. „Auf dem Weg zur neuzeitlichen Wissenschaft“, schreiben Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in der Dialektik
der Aufkärung, „leisteten die Menschen auf Sinn Verzicht. Sie ersetzten den Begriff durch die Formel, Ursache durch Regel und Wahrscheinlichkeit.“1058 ‚Aufklärung‘ steht für die Autoren, wie eingans erwähnt, nicht bloß für das siècle des
lumièrs, sondern für das gesamte Projekt menschlicher Emanzipation von blinder Naturmacht, äußerer Autorität und unerhellter Herrschaft. Soweit dieser
Versuch der Emanzipation misslingt, reproduziert sich auf dem neuesten Stand
von Wissenschaft, Technik und Ökononie die alte Heteronomie, nunmehr säkularisert. Sie tritt auf nicht mehr im Namen himmlischer Mächte, sondern der Rationalität selbst, die freilich als formalisierte die Besinnung auf humane Ziele
nicht mehr kennt. Dies ist auch politisch nicht ohne Folgen, insofern Politik, wie
es sich in ersten Ansätzen schon bei Holbach abzeichente, in Sozialtechnokratie
transformiert wird. Wir stehen also wieder vor Fragen, die uns bereits in der
Einleitung beschäftigten. Dass, wie Max Weber registrierte, die mythischen
Mächte in säkularer Gestalt fröhliche Urständ als ‚Sachzwang‘ oder ‚Alternativlosigkeit‘ feiern, ist ein nach wie vor aktueller Befund. Alle Sphären des individuellen und gesellschaftlichen Lebens werden den Imperativen von Administration und Markt untergeordnet, das Selbstverständnis des Einzelnen misst sich
nach seinem Markwert wie einst nach der Gunst des Herrschers. Die objektive
Nichtigkeit des Individuums wird überspielt durch seine Selbstinszenierung, die
aber bereits auf den potentiellen Käufer seiner Arbeitskraft schielt und die damit
1057
1058
Weber 1994 = MWS I/17: 17.
Horkheimer GS 5: 27 (Dialektik der Aufklärung, 1944/21947).
291
die Fremdzuschreibung seines ‚Wertes‘ bestätigt1059. Aber die von Horkheimer
und Adorno in ihrem ‚modernen Geschichtsmidrasch‘ formulierte Einsicht in
die fatalen Wirkungen einer allen Zwecken gegenüber blind gewordenen,
schicksalhaften Logik des Fortschritts und die These, dass „sich trotz aller Umwege und Widerstände die konsequente Naturherrschaft immer entschiedener
durchsetzt und alles Innermenschliche integriert“1060 – das Gegenteul von Fortschritt im emphatischen Sinne also –, rechtfertigt nicht die Rückkehr zur angeblich harmonischen Vergangenheit. Insofern „Aufklärung der Herrschaft überhaupt entgegengesetzt“ ist1061, liefe ihre Revokation auf die Festigung und Erneuerung unerhellter Herrschaft auf der Basis moderner Überwachungstechniken hinaus, denen niemand mehr entkommen kann. Die Dialektik der Aufklärung wurde – auch von Theologen – nicht selten gelesen als resignierte Absage
an die Aufklärung im Rahmen einer „radical and definitive condemnation of the
modern world“ (Vincenzo Ferrone1062). Sie plädiert aber, wie schon eingangs
erwähnt, eher für eine Aufklärung über Aufklärung, also für deren kritische Rettung und nicht für ihre Verabschiedung. Dass der kritische Weg allein noch offen sei, gilt weit über den ursprünglich erkenntnistheoretischen Zusammenhang
hinaus, in dem Immanuel Kant den Satz formulierte1063.
So wäre es voreilig, im Sinne Gilbert K. Chestertons dem Abenteuer der Immanenz, soweit es in der Banalität der Protokollsätze endete, das Abenteuer und
„the thrilling romance of Orthodoxie“ – gemeint ist die katholische – abstrakt
entgegensetzen zu wollen1064. Der ‚thrill‘ der Orthodoxie mochte im Spanien des
16. und 17. Jahrhunderts eine besondere Note annehmen, aber eine Romanze
war es wohl nicht. Politisch entwaffnet und unter den Regeln der bürgerlichen
Gesellschaft nimmt auch die Orthodoxie andere Züge an, wobei die alte Frage
der Aufklärung, wer mit welchem Recht und welchen Argumenten darüber entscheidet, was als orthodox gilt und was nicht, nach wie vor auf eine Weise beantwortet wird, die außerhalb und selbst innerhalb der Kirche schwerlich konsensfähig ist. Chestertons Vorgehen verkennt das Problem, das aller äußeren
1059
1060
1061
1062
1063
1064
Vgl. Buchholz 2009: 99-108.
Horkheimer GS 5: 254 (Dialektik der Aufklärung).
Horkheimer GS 5: 64; vgl. auch Neiman 2015: 52-55 = Neiman 2014: 41-44.
Ferrone 2015: 33. „Horkheimer and Adorno effectively threw away the baby with the bathwater.“ (ebd.)
Ähnlich lautet auch die von Jürgen Habermas vorgetragene Kritik: Horkheimer und Adorno „haben sich,
wie der Historismus, einer hemmungslosen Vernunftskepsis überlassen, statt die Gründe zu erwägen, die
an dieser Skepsis selbst zweifeln lassen“ (Habermas 1986: 130-157, hier: 156). Ferrone wie Habermas
übersehen, dass die ältere Kritische Theorie keineswegs zu einer pauschalen – und in diesem Sinne undialektischen – Vernunftkritik übergingen. Die Hoffnung hängt an der Möglichkeit, Vernunft auf Vernunft
anzuwenden und so ihr versöhnendes Potenzial in allen ihren Gestalten – und nicht nur in der diskursiven
– freizusetzen. So hält Kunst nach Adorno das verdrängte mimetische Moment von Vernunft fest.
Kant KrV: B 884 = ders. 1911a: 552.
Chesterton 2006: 96: „There never was anything so perilous or so exciting as orthodoxy.“
292
Autorität spätestens seit Beginn der Neuzeit sich stellt und droht im schlimmsten
Fall den reaktionären Tendenzen zuzuarbeiten, die eine Lösung aller Probleme
darin erblicken, dass demokratische durch autoritäre Verfahren und Einsicht
durch Unterordnung ersetzt werden. Der Bruch jener ohnehin fragilen Einheit
von Naturerklärung (‚Weltbild‘), Autorität der Überlieferung, persönlichem
Glauben und sozialem Rahmen, welche die lebensweltliche Evidenz einer nicht
auf einen gesellschaftlichen Sonderbereich begrenzten Religion ausmachte, lässt
sich nicht mehr rückgängig machen – es denn um den Preis einer individuellen
und kollektiven Regression. Vom 17. bis zum Ende des 18. Jahrhundert gewannen jene Rechte und Partizipationsformen Konturen, die bis zur Gegenwart
Maßstab von Kritik sind und immer noch in Konflikten mit autoritären Systemen durchgesetzt werden müssen. „Without a doubt“, konstatiert mit Recht
Vincenzo Ferrone, „the defining characteristic of the late Enlightenment – and
the most positive aspect of its legacy to the Western world today – is the creation of a distinctive language of the rights of man, and the use of that language
as an instrument in its struggles, with an attendant politicization of intellectual
life in all its aspects.”1065 Eben dies ist kritisch gegen eine Form der Aufklärung
zu wenden, die Vernunft einzig noch als instrumentelle kennt, und die nicht
mehr in der Lage ist, Zwecke und die für ihre Realisierung geeigneten Mittel zu
bestimmen anstatt sich von den Mitteln, welche den Rang der Zwecke usurpierten, beherrschen zu lassen. Die Ausdifferenzierung der sozialen Sphären eröffnete einen wachsenden Freiheitsraum, der aber durch die Eigenlogik der Subsysteme zugleich bedroht ist, wobei die Unfähigkeit, die Ökonomie und in ihrem
Gefolge Technik wie Administration rationalen Zwecken unterzuordnen zu einer
ernsten Gefahr der mühsam errungenen – und vielen Teilen der Welt überhaupt
erst gegen harte Widerstände durchzusetzenden – Demokratie geworden ist.
Die religiösen Überlieferungen stehen nicht jenseits dieser widerspruchsvollen
Entwicklung und so führt auch kein gerader Weg aus der Dialektik der Aufklärung zur Renaissance der Religion. Mit dem Ende des Realsozialismus verschwanden weder Religionskritik noch Atheismus, wie vielleicht macher erhofft
haben mag. Der von aller rationalen Vermittlung freie Sprung in den Glauben
hat sehr problematische Seiten, wie sowohl die kulturindustriell aufbereiteten
Versatzstücke religiöser Traditionen in der Esoterikszene als auch die aktuellen
Formen des Fundamentalismus zeigen. Beide sind auf ihre Weise Ausdruck eines ‚Unbehagens in der Moderne‘ – aber als falsche, irrationale und im Falle des
1065
Ferrone 2015: XI. Man wird allerdings den Begriff der Spätaufklärung nur unter Vorbehalt verwenden
können, denn er suggeriert, Aufklärung sei mit Kant zu einem Abschluss gekommen. Aber deren Dynamik wirkt über Idealismus und Romantik bis heute – einschließlich ihrer Dialektik – fort und fügt sich
keinem definierten Epochenbegriff.
293
Fundamentalismus sogar nihilistische Reaktionen durchaus geeignet, die Religionskritik seit Beginn der Neuzeit schlagend zu bestätigen1066. Glaube, der sich
der Resignation oder der bloßen Unterwerfung des Denkens verdankt, ist von
innen her faul. „Das sacrificium intellectus“, mahnt Herbert Schnädelbach „ist
ein zu hoher Preis für die Glaubensgewissheit – zumindest solange, wie wir an
der Idee kritischer Vernunft festhalten.“1067
Insofern hat die neuzeitliche Religionskritik eine kathartische Funktion für das
religiöse Bewusstsein, auf das vielleicht eine neue Welle der Kritik zukommen
könnte. Denkbar auch, wie Jonathan Israel meint, dass das Verhältnis von Religion und Politik künftig neu austariert wird und das Misstrauen gegenüber politischen Ambitionen der Religion wächst. Die religiöse Aufladung einer konservativen, ja reaktionären Politik ist kein auf den Islam beschränktes Phänomen.
Die Antwort auf diese gravierenden Fehlentwicklungen wird nicht ausbleiben:
„But in response to today’s fundamentalism, anti-secularism, Neo-Burkeanism,
Postmodernism, and blatant unwillingness to clamp down on powerfull vested
interests, it is at least conceivable that the universalism and social democracy of
radical thought might advance again and this time drive the wedge home harder.“1068 Man sollte jedenfalls eine solche Entwicklung nicht ausschließen, nur
weil man auf sie – trotz der fürchterlichen Exzesse eines militanten Fundamentalismus – schlecht vorbereitet ist. Anstatt die neue Welle der Kritik bloß empört
abzuwehren, könnte die biblischen Traditionen entspringende Religion auch sich
ihrer eigenen aufklärerischen Implikationen bewusst werden und eine resignierende oder ‚halbierte‘ Aufklärung an ihre humane Bestimmung erinnern. Zu dieser gehören neben den Befreiungsnarrativen auch der Prozess der Entzauberung
im Sinne einer Kritik des falschen Absoluten und die Idee der Gerechtigkeit,
welche die Erinnerung an jene einschließt, die am Weg liegen blieben und über
die ein blind gewordener Fortschritt gleichgültig hinweggeht. Es liegt in der Dynamik eines emphatischen Vernunftbegriffs, mit Blick auf die Vergangenheit
über das hier und jetzt Machbare hinauszugreifen. Zu erinnern ist an jene Erfahrung, dass, wie Adorno es präzis formulierte, „der Gedanke, der sich nicht ent1066
Vgl. Buchholz 2009: 125-141; ders. 2011; eine erste Einführung und Analyse bietet das Skript Religiöser
Nihilismus. Fundamentalismus in den monotheistischen Religionen (WS 2012/13, aktualisiert WS
2014/15) auf der Homepage des Fundamentaltheologischen Seminars der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn: http://www.ktf.uni-bonn.de/Einrichtungen/fundamentaltheologie/server-dateiensammlung-fr.verweise-artikel-dieser-homepage/dateien/downloads-veranstaltungen-skripte-u.ae/skript-fundamentalismus-th.d.rel.-14-15 (letzter
Zugriff: 03/17/2015).
1067
1068
Schnädelbach 2009: 51. Drastischer, in ihrer abstrakten Antithetik von „höchstem technischen Know-how
und archaischem Mythos“ aber doch etwas schlicht formuliert es Michael Schmidt-Salomon (SchmidtSalomon 2006: 148). Das Pathos des illusionslosen Aufklärers, der zur Solidarität gegen die ‚infame‘ aufruft, ist dem 18. Jahrhundert entlehnt; damit überträgt er die Konflikte eines Voltaire, Holbach, Diderot
oder Condorcet auf das 21. Jahrhundert; ein Anarchonismus, der gerade mit einem aufgeklärten Bewusstsein nur schwer vereinbar ist.
Israel 2011: 951.
294
hauptet, in Transzendenz mündet, bis zur Idee einer Verfassung der Welt, in der
nicht nur bestehendes Leid abgeschafft, sondern noch das unwiderruflich vergangene widerrufen wäre.“1069 Daran blickt ein Atheismus vorbei, der entweder
Religion auf ein regressives, infantiles und autoritätshöriges Bewusstsein reduziert oder schon seinen Frieden mit der Realität machte und alles, was mit ihr
sich nicht einverstanden erklärt, als Illusion denunziert. Weder die dunklen Interessen und Machenschaften der herrschenden Klasse, noch die Unbildung der
Massen, sondern die weitaus hellere Idee der Gerechtigkeit schießt über das bloß
Gegebene hinaus und lenkt die Aufmerksamkeit nicht nur auf das bestehende
und zu beseitigende Unrecht, sondern auch auf jene, denen keine vernünftige
Gesellschaftsordnung mehr helfen kann, die aber Teil eines unzensierten kulturellen Gedächtnisses bleiben. Wird jedoch den Unterlegenen und Untergangenen
ihr Recht nicht, so bleibt alles Engagement für eine vernünftige Gesellschaft
bloße Beschäftigungstherapie einer zur Sinnlosigkeit verurteilten Spezies. Die
Idee der Gerechtigkeit ist untrennbar vom Einspruch gegen den Tod – den Tod
des Anderen wohlgemerkt (nicht der eigene, den wir nicht antizipieren können),
als Urbild der Verdinglichung, als abstrakte Gleichheit und absolute Nichtigkeit.
Gegen die Reduzierung aller Philosophie auf Protokollsätze und eine aggressive Ablehung des spekulativen Moments im Denken schließlich ist mit George
Steiner an die Transzendenz der Sprache zu erinnern, die sich keineswegs in der
Nachkonstruktion der Wirklichkeit erschöpft: „Durch das wundersame … Vermögen der Grammatiken ist es möglich“, so Steiner, „den Tatsachen zu widersprechen und ‚Wenn‘-Sätze sowie vor allem Formen des Futurums zu bilden,
die die menschliche Spezies dazu befähigen, zu hoffen und weit über das Ende
des Individuums hinauszureichen. Wir dauern fort, wir dauern schöpferisch fort
dank unserer gebieterischen Fähigkeit ‚nein‘ zur Wirklichkeit zu sagen, Fiktionen des anderen, der Erträumten, des Erwünschten und des Erwarteten zu konstruieren, um unser Bewußtsein darin heimisch zu machen. In genau diesem
Sinne sind das Utopische und das Messianische syntaktische Figuren.“1070 Im
Grunde ist also der linguistic turn nur zur Hälfte vollzogen und willkürlich im
Interesse einer bloßen Ordnung der so genannten Tatsachen abgebrochen worden. Der ganzen Wendung erst hätte sich das überschießende Potential der Sprache erschlossen. Weder Sprache noch Philosophie verschaffen allerdings Gewissheit darüber, ob jene Zukunft sich erfüllen wird, und so dürfte der Zweifel
auch heute das religiöse Bewusstein intensiver begleiten als in früheren Zeiten.
1069
1070
Adorno GS 6: 395.
Steiner 1994: VIIf. „Ich bin sicher“, schreibt Steiner, „dass nur der Mensch eine Grammatik der Zukünftigkeit zustande bringen konnte, wie immer die proto- oder metasprachlichen Signalsysteme anderer Arten beschaffen sein mögen.“ (ebd.: 175)
295
Die bestimmte Negation des herrschenden Unsinns, intensivierte Kritik also,
dürfte die wichtigste Form der von Theologen so oft beschworenen Selbsttranszendenz endlichen Bewusstseins bilden. Kein antimoderner Affekt, kein fundamentalistischer Traum von einer Rückkehr zu fiktiven vormodernen religiösen
Ordnungen, wo die Kritik der Aufklärung verbannt ist, sondern Freiheit und Gerechtigkeit bilden Basis, Kriterium und Ziel einer Religion, die, um auf Slavoj
Žižek zurückzukommen, sich nicht in einer therapeutischen Funktion erschöpfen
will, sondern selbst sich als ein kritisches Bewusstsein begreift, so dass die Kritik der Religion nicht nur den genitivus obiectivus meint, sondern, eingedenk der
eigenen rationalen Ressourcen, auch den genitivus subiectivus. Aber beide Formen der Kritik lassen zum Schrecken der Traditionalisten die Bestände der
Überlieferung nicht unverwandelt. Der Prozess der Transformation betrifft die
gesamte Überlieferung in einer heute schwer absehbaren Weise. In jeder Epoche“, schreibt Walter Benjamin, „muß versucht werden, die Überlieferung von
neuem dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriff steht, sie zu überwältigen.“1071 Einer Religion aber, die, wie der biblische Monotheismus, der Krise
und Kritik entsprang, dürfte dies nicht fremd sein, denn hier wurde im Zuge der
monotheistischen Aufklärung als Antwort auf die Katastrophe des Exils nach
587/586 v. Chr. die gesamte religiöse, kulturelle und politische Erbschaft einer
Revision unterzogen und ‚dem Konformismus abgewonnen‘. Gerade deswegen
darf man hoffen, dass von dieser Religion – jenseits eines fundamentalistischen
Nihilismus und theologischen Absolutismus – noch bis in das Selbstverständnis
der Vernunft hinein Impulse der Veränderung ausgehen, denn nur „wenn, was
ist, sich ändern lässt, ist das, was ist, nicht alles.“1072
1071
1072
Benjamin GS I: 695 = ders. 2010: 18 / 33 / 85 / 96 (VI. geschichtsphilosophishe These)
Adorno GS 6: 391.
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