Mit Autismus Stärken zeigen - Schleswig

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Mit Autismus Stärken zeigen - Schleswig
Förderschwerpunkt „Autistisches Verhalten“
Mit Autismus Stärken zeigen –
am Beispiel sprachlicher Kompetenzen
Innenwelten
IQSH
Impressum
Handreichungen Förderschwerpunkt „Autistisches Verhalten“
1. Netzwerkarbeit in Schleswig-Holstein
2. Förderliche Bedingungen für Schülerinnen und Schüler mit autistischem Verhalten
in Schulen Schleswig-Holsteins
3. Mit Autismus Stärken zeigen – am Beispiel sprachlicher Kompetenzen: Innenwelten
Herausgeber:
Institut für Qualitätsentwicklung an Schulen
Schleswig-Holstein (IQSH)
Anette Hausotter
Schreberweg 5, 24119 Kronshagen
Kontakt:
BIS-Autismus im IQSH
Anette Hausotter
Tel.: +49 (0)431 5403-196
[email protected]
Bestellungen:
Brigitte Dreessen
Tel.: +49 (0)431 5403-148
Fax: +49 (0)431 5403-200
[email protected]
www.iqsh.schleswig-holstein.de
Autorinnen und Autoren:
Anette Hausotter
Arne Andersen
Dr. Christiane Andersen
Christoph Enneking
B. Naefe-Storm
Johanna Stribrny
Schülerinnen und Schüler aus Arnes Klasse
Fotos: privat
Foto Umschlag: privat
(Arne; im Hintergrund ein von Arne gestaltetes Kunstprojekt)
Gestaltung Innenteil:
Elke Wiechering (IQSH)
Gestaltung Umschlag:
bdrops Werbeagentur, Kiel
Druck:
Pirwitz Druck & Design, Kronshagen
© IQSH 2009
Auflagenhöhe 2.000
Best.-Nr. 12/2009
Inhaltsverzeichnis
Vorwort...........................................................................................................................5
1.
1.1
Einleitung ...........................................................................................................7
Schülerinnen und Schüler mit dem Förderschwerpunkt Autismus
in Gymnasien des Landes Schleswig-Holstein (Anette Hausotter) .....................7
1.2
Autismus und Hochbegabung – Überschneidungen .........................................12
2.
2.1
Arne – Allgemeine Aussagen und Ist-Stand ...............................................13
Förderschwerpunkt Autistisches Verhalten
– Die Rolle der BIS-Autismus (Anette Hausotter)..............................................13
Arnes schulischer Werdegang (Christoph Enneking)........................................16
Asperger-Autismus und das Erleben von Welt aus meiner Sicht
– Arnes Selbstbild..............................................................................................22
Bericht von Arnes Mutter:
Arnes Autismus und ich – ein Tag aus unserem Leben ....................................33
Sicht der Schule: Die Deutschlehrerin (B. Naefe-Storm)...................................40
2.2
2.3
2.4
2.5
3.
3.1
3.2
3.3
3.4
4.
4.1
4.2
5.
Die Träumer – Ein Schulprojekt im Rahmen der AbiturVorbereitungen ................................................................................................41
Die Bedeutung der Jahresarbeit in der zwölften Klasse der
Waldorfschule (B. Naefe-Storm)........................................................................41
Erlebnisbericht mit Arne Andersen
– eine Mitschülerin als „Mentorin“ (Johanna Stribrny) .......................................42
Die Träumer – das Theaterstück 2007 (Arne Andersen)...................................44
Nach dem Stück – Feedback der Schauspieler/innen.......................................76
„Innenwelten“
– Gedanken, Gedichte und Geschichten (Arne Andersen) ........................78
Einführung in meine Texte.................................................................................78
Gedichte und Geschichten
in zeitlicher Abfolge aus den Jahren 2000 bis 2009 ..........................................85
Ausklang (Anette Hausotter) ..........................................................................128
Ausblick (Arne Andersen) ..............................................................................130
Epilog .........................................................................................................................130
4
Vorwort
Das IQSH möchte mit seinen Publikationen dazu beitragen, die Weiterentwicklung des Unterrichts in den Schulen Schleswig-Holsteins zu unterstützen. Dies
geschieht in Form von Handreichungen zu unterschiedlichen Schwerpunkten –
in der Regel didaktisch-methodisch und fachbezogen ausgerichtet. Die Publikationen der Reihe „Förderschwerpunkt Autistisches Verhalten“ verfolgt eher das
Ziel der systemischen Unterstützung. Dieses richtet sich nicht ausschließlich an
Fachlehrkräfte, sondern an das gesamte System Schule mit seinem Umfeld wie
Eltern, Schülerinnen und Schüler, außerschulisches Fachpersonal oder am
Thema interessierte Menschen.
Nachdem unsere Broschüre „Förderschwerpunkt ‚Autistisches Verhalten’ –
Netzwerkarbeit in Schleswig-Holstein“ auf große Resonanz gestoßen ist, hat
sich das IQSH mit seiner BIS-Autismus dazu entschlossen, diese Reihe fortzusetzen. Auf diese Weise sollen die Lehrkräfte unseres Landes, aber auch alle
anderen betroffenen oder involvierten Personen und Institutionen, durch Beispiele guter und gelingender Praxis ermutigt werden, sich dieser besonderen
Problematik zu stellen. Behinderungen oder sonderpädagogischer Förderbedarf
sind nicht immer gleichzusetzen mit Schwächen und Defiziten. Im Gegenteil:
Die Stärken sollten eine Herausforderung für jeden Lehrenden und Lernenden
sein! Von den Stärken ausgehen – das ist der beste Weg, mein Gegenüber
kennenzulernen und auch wertzuschätzen.
Hans Asperger, nach dem das Asperger-Syndrom 1944 das erste Mal beschrieben wurde, macht mit seiner Aussage „Es scheint uns, als wäre für gewisse
wissenschaftliche oder künstlerische Höchstleistungen ein Schuss Autismus
geradezu notwendig ...“ deutlich, dass trotz dieser Beeinträchtigung Höchstleistungen erbracht werden können.
Die „Behinderung“ beim Asperger-Syndrom ist unsichtbar. Das heißt aber nicht,
dass die Schwierigkeiten unbedeutend sind. Für viele Mitmenschen ist es unlogisch und schwer nachzuvollziehen, dass ein höflicher, freundlicher, sich sehr
klug ausdrückender Mensch nicht in der Lage ist, beispielsweise zu einer bestimmten Zeit an einen bestimmten Ort zu kommen, oder gar kein Gefühl für
Zeit und Zahlen zu haben scheint. Durch Zahlen bestimmt ist die Welt wiederum
bei anderen Betroffenen, diese verstehen nicht, was Liebe oder Traurigkeit
bedeutet. Häufig erleben sich betroffene Menschen als außerhalb der sozialen
Gemeinschaft stehend, was für ihre Mitmenschen oft unfassbar ist – teilweise
empfinden sie sich als "Fremde im eigenen Land" oder als "Außerirdische".
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Sie sehen die Welt aus einer anderen Perspektive. Aber wenn es gelingt, ihre
spezifischen Fähigkeiten, Stärken und Schwächen zu erkennen und wenn das
schulische und soziale Umfeld diese berücksichtigt, besteht eine gute Chance,
ein selbstständiges Leben zu führen.
Arne hat die Hauptrolle in diesem Werk. Er ist nicht nur derjenige, der uns
seine besonderen literarischen Fähigkeiten in Form von Gedanken, Gedichten
und Geschichten präsentiert, er führt uns auch ein Stück in seine „Innenwelt“.
Er hilft uns „Nicht-Autisten“ zu verstehen, was ihn und „seine Welt“ ausmacht.
Ein mutiger Weg, denn es ist nicht einfach, „ein Inneres nach Außen zu kehren“.
Ich möchte Arne und seiner Mutter dafür sehr danken, dass sie durch ihren
Beitrag helfen, unsere eigene Wahrnehmung für diese Problematik zu sensibilisieren!
Ich möchte aber auch der Schule und vor allem Arnes Deutschlehrerin, Frau
Naefe-Storm, und Arnes ehemaligem Klassenlehrer, Herrn Enneking, danken
für ihre Zuversicht, ihren Glauben an Arnes Fähigkeiten und die Bereitschaft,
sich auf manchmal unorthodoxe Wege einzulassen.
Ohne die konstruktive Zusammenarbeit zwischen der BIS-Autismus am IQSH
und unserem Bildungsministerium wäre Arnes erfolgreicher schulischer
Werdegang vermutlich so nicht möglich gewesen. Mein Dank gilt auch der
Oberen Schulaufsicht, die stets bemüht ist, gemeinsam konstruktive Lösungen
zu finden.
Anette Hausotter
Leiterin der BIS-Autismus
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1. Einleitung
1.1 Schülerinnen und Schüler mit dem Förderschwerpunkt Autismus in Gymnasien des
Landes Schleswig-Holstein (Anette Hausotter)
Schleswig-Holstein hat eine über 20-jährige Erfahrung mit der Integration
behinderter und nicht behinderter Schülerinnen und Schüler. Auch die Gymnasien des Landes haben in diesem Prozess integrative Erfahrungen sammeln
können. Während sich das Gymnasium in Bad Segeberg als erstes der Herausforderung stellte, auch Kinder mit dem Förderschwerpunkt „Lernen und geistige
Entwicklung“ durch zieldifferente Unterrichtsangebote zu integrieren, hat die
Integration von Sinnesgeschädigten oder jungen Menschen mit dem Förderschwerpunkt „Motorische Entwicklung“ bei zielgleichem Unterrichtsangebot
schon eine Tradition.
Der Förderschwerpunkt „Autistisches Verhalten“, insbesondere das AspergerSyndrom, stellt eine ganz neue Herausforderung an das System Schule: Diese
Form der Beeinträchtigung ist nicht auf den ersten Blick sichtbar. Im Gegenteil,
diese jungen Menschen können sich in der Regel sehr gewählt ausdrücken,
häufig mit einem über der Altersnorm liegenden Wortschatz. Sie erstaunen uns
auch immer wieder durch ein ausgeprägtes Sachwissen und hohe Gedächtnisleistung auf der Faktenebene. Im Bereich der sozialen und emotionalen Kompetenz zeigen sich jedoch deutliche Defizite, die leicht missverstanden werden
können, da diese für uns weder logisch erscheinen noch in ein Gesamtbild
passen. Auf der Erscheinungsebene wirkt dieses Verhalten häufig arrogant,
provokant, ungezogen, unangepasst, zerstörerisch, rechthaberisch oder auch
faul.
Schleswig-Holstein hat sich im Rahmen der integrativen Entwicklung dieser
Herausforderung gestellt: Im Schuljahr 1995/96 wurde ein Pilotprojekt zur integrativen Förderung von Kindern und Jugendlichen mit autistischen Störungen in
der allgemein bildenden Schule entwickelt. Nach einer dreijährigen Erprobungsphase, die der Bedarfsanalyse, der Konzeptbildung und der Erprobung dieses
Unterstützungssystems diente, wurde die „Beratungsstelle für die schulische Bildung von Kindern und Jugendlichen mit autistischem Verhalten – BIS-Autismus“
in das Bildungssystem implementiert. Örtlich eingebunden ist die BIS-Autismus
in der „Beratungsstelle Inklusive Schule“ (BIS) am IQSH, dem Institut für Qualitätsentwicklung an Schulen Schleswig-Holstein. Die 1994 durch die Kultusministerkonferenz (KMK) entwickelten Empfehlungen zur sonderpädagogischen
Förderung verfolgten die Zielsetzung, Kindern und Jugendlichen mit Behinderung durch eine verbesserte Qualität von Fördermaßnahmen in den Regel- und
Sonderschulen gleichwertige Bildungschancen zu bieten. Im Juni 2000 wurde
der Förderschwerpunkt „Unterricht von Kindern und Jugendlichen mit autistischem Verhalten“ neu mit aufgenommen. Auf diese Weise soll die Förderung
von Kindern und Jugendlichen mit autistischem Verhalten im deutschen Bildungssystem anerkannt und legitimiert werden.
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Diese Empfehlungen verfolgen das Ziel eines unterstützenden Rahmenkonzepts, um Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischen Förderbedürfnissen angemessen zu fördern. In diesem Sinne verstanden und implementiert,
bieten sie eine Grundlage für den Gemeinsamen Unterricht, indem eine Passung zwischen dem jeweiligen Lehrplan der Regelschule und dem individuellen
Förderbedarf geschaffen wird. Schleswig-Holstein ist das erste Bundesland, das
die Empfehlungen der KMK in seine Rechtsvorschriften zum 01. 08. 2002
implementiert hat (vgl. Lehrplan „Sonderpädagogische Förderung“, Kap. 4.8).
Mit Inkrafttreten dieser Verordnung haben die Kinder und Jugendlichen mit
autistischem Verhalten einen Anspruch auf eine angemessene Förderung in der
Schule. Als Konsequenz hat die Landesregierung alle Schulen dazu verpflichtet,
für Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf einen
Förderplan/Lernplan zu erstellen. Auf diese Weise ist es möglich, die individuellen Lernfortschritte dieser Kinder und Jugendlichen durchgängig und angemessen zu dokumentieren.
Heute besuchen 72 Schülerinnen und Schüler mit dem Förderschwerpunkt
Autistisches Verhalten ein Gymnasium (Stand: Januar 2009). Einige Gymnasien
verfügen über langjährige Erfahrungen mit einem kontinuierlichen Anteil an
autistischen jungen Menschen (unter anderem das Werner-HeisenbergGymnasium in Heide, die Meldorfer Gelehrtenschule, die Hermann-Tast-Schule
in Husum, die Lornsenschule in Schleswig, die Gymnasien in Rendsburg) und
konnten erfahren, dass keines dieser Kinder mit anderen mit autistischem
Verhalten vergleichbar ist – das heißt, jedes Kind muss „neu übersetzt“ werden
und benötigt individuelle Fördermaßnahmen.
Einige Gymnasien haben Lehrkräfte als verantwortliche Koordinatoren und
Ansprechpersonen für diese Schülergruppe benannt. Manche Schulen haben
sich strukturell verändert. Regelmäßig stattfindende Netzwerk- und In-ServiceRunden mit der BIS-Autismus oder kollegiumsinterne Fortbildungsveranstaltungen haben das Fachwissen und somit auch die Kompetenz für den Umgang mit
dieser Schülergruppe erweitert. Denn: Je mehr ich darüber weiß, warum
Schüler X versetzt reagiert oder auf den Arbeitsauftrag nicht reagiert, desto eher
bin ich in der Lage, mein eigenes Verhalten zu reflektieren und gegebenenfalls
anzupassen.
In Einzelfällen und auf Antrag der BIS-Autismus können die Gymnasien aus
ihrem Pool eine bis maximal zwei zusätzliche Lehrkraft-Wochenstunden
erhalten. Diese werden genutzt für regelmäßige Rückmelderunden mit der
betreffenden Schülerin beziehungsweise dem betreffenden Schüler zur Stärkung der Selbsteinschätzung und des Selbstvertrauens, zur Anbahnung sozialer
Kompetenz sowie zur Entwicklung von Problemlösungsstrategien. Weitere
Inhalte können Anregungen zur Strukturierung des Schulalltages und Hilfen zur
Orientierung sein. In einigen Fällen kann es auch Sinn machen, ab und zu eine
Stunde mit der gesamten Klasse zu nutzen.
Was bedeutet Intelligenz und wie ist diese beeinflussbar?
Intelligenz ist eine angeborene Fähigkeit, Erfahrungen zu sammeln und diese
sinnvoll auszuwerten. Sie baut auf einer Reihe verschiedener Faktoren auf und
ist in ihrer Verwirklichung abhängig von Gefühls- und Willenslage, Gedächtnis,
Fantasie und allgemeinem Antriebsgeschehen.
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Besteht eine deutliche Diskrepanz zwischen intellektuellen und emotionalsozialen Fähigkeiten, merken diese Menschen ab einem bestimmten Lebensalter, dass sie anders wahrnehmen und anders reagieren – dennoch können sie
dieses Phänomen nicht immer adäquat verändern oder beeinflussen.
Die Reaktionsmuster zeigen sich sehr unterschiedlich: Manche Menschen
reagieren mit Ängsten, andere mit Vermeidungsverhalten, manche zeigen ein
aggressives Potenzial, andere wiederum resignieren: Sie sind beeinträchtigt in
der Fähigkeit, ihr wirkliches intellektuelles Potenzial zu nutzen; viele leiden
darunter.
Was bedeutet das Asperger-Syndrom?
Das Asperger-Syndrom ist neben dem Frühkindlichen Autismus und dem
Atypischen Autismus eine Variante des Autismus-Spektrums. Autismus erfasst
ein weites Spektrum an Symptomen. Es variiert von einer vergleichsweise
milden Ausprägung bis hin zu sehr auffälligen Problemen in ihrer emotionalen
und sozialen Kompetenz. Alle haben eines gemeinsam: eine Beeinträchtigung
der sozialen Interaktion und Kommunikation mit anderen Menschen. Die
Probleme treten meist schon im frühen Lebensalter auf. Menschen mit dem
Asperger-Syndrom verfügen über eine normale bis sehr hohe Intelligenz, bei
einem häufig sehr heterogenen Leistungsprofil zwischen Handlungs- und
Verbalintelligenz. Das Asperger-Syndrom ist keine Krankheit, denn nach der
Definition des BGH „ist Krankheit eine Störung der normalen Beschaffenheit
oder normalen Tätigkeit des Körpers, die geheilt werden oder zum Tode führen
kann“. Es handelt sich um eine nicht heilbare, lebensbegleitende, tiefgreifende
Entwicklungsbeeinträchtigung.
Forscher sind sich noch nicht einig und tappen eigentlich immer noch im
Dunkeln. Eine mögliche Ursache wird in einer Veränderung der Spiegelneuronen vermutet: Die Fähigkeit der Empathie ist abhängig von speziellen Nervenzellen in der Hirnrinde. Ist dieses Netz der Spiegelneuronen gestört, weil sie
zum Beispiel in einer Dopplung auftreten, fehlt der intuitive emotionale Zugang.
Die Betroffenen versuchen, emotionale Anforderungen dann eher mit rationalen
Strategien zu lösen.
Eine weitere Möglichkeit wird zunehmend auf genetischer Ebene vermutet. Man
nimmt an, dass bestimmte Erbgutvariationen als Grund für Probleme bei der
Signalübermittlung zwischen den Nervenzellen verantwortlich sein können.
Aus diesem Grund gibt es auch weder das diagnostische Verfahren noch die
therapeutische Intervention. Eine ausführliche Differenzialdiagnose ist erforderlich. Checklisten allein ersetzen nicht die klinischen Erfahrungen und könnten so
zu Fehleinschätzungen führen. So können zum Beispiel schizoide Störungen,
psychotische Erkrankungen, Zwangsstörungen, depressive Erkrankungen,
manchmal auch reaktive posttraumatische Störungen dem Asperger-Autismus
auf der Erscheinungsebene ähneln und könnten verwechselt werden.
In einigen Fällen kann es vorkommen, dass mehrere Störungsbilder zusammentreffen, was den Umgang mit diesen Menschen und die Therapie erschwert.
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Was bedeutet diese Diagnose für die Betroffenen und deren schulischen
Alltag?
Sie weisen ein heterogenes Leistungsprofil auf. Meist ist ihre theoretische
Intelligenz gut bis sehr gut ausgeprägt, während der Bereich der Handlungsintelligenz deutliche Abweichungen erkennen lässt.
Auch Arne verfügt über eine hohe theoretische Intelligenz, die im sprachlichen
Bereich als Hochbegabung bezeichnet werden kann. Er ist in der Lage, in
herausragender Weise auf der Faktenebene oder im psychologischen oder
philosophischen Kontext Schlüsse zu ziehen, Analysen und Interpretationen zu
erstellen. Er zeichnet sich durch eine außergewöhnlich reiche Sprache und
Fantasie aus. Er hat ein fast eidetisches Gedächtnis für Fakten und Ereignisse.
Seine Handlungsintelligenz weist dagegen deutliche Schwächen auf – Arne
bezeichnet sich selbst als „Dyspraktiker“, der die täglichen Alltagshandlungen
kaum nachvollziehen kann oder diese allein bewältigen kann (vgl. Kap. 2.3).
Zahlen haben für ihn keinen sinnvollen Bedeutungswert. Alltagsrituale, wie
pünktlich aufzustehen, zu bestimmten Zeiten an vereinbarten Orten zu sein,
sich zu strukturieren und zu sortieren, scheinen ihm manchmal unleistbar.
Was bedeutet dies für den schulischen Kontext?
Wir beurteilen Schüler häufig nach ihrem Auftreten, ihrer sprachlichen Ausdrucksfähigkeit oder Wortgewandtheit und ihrem Wissen. Das bedeutet, wenn
ein Schüler oder eine Schülerin eine hohe sprachliche Kompetenz zeigt – zum
Beispiel über einen über der Altersnorm liegenden Wortschatz oder eine solche
sprachliche Ausdrucksfähigkeit verfügt (hinzu kommt möglicherweise ein
Faktenwissen, das Lehrkräfte staunen lässt), fällt es schwer, anzuerkennen und
logisch nachzuvollziehen, dass genau dieser Schüler beziehungsweise diese
Schülerin sich einfachste Handlungsanweisungen oder -abläufe nicht merken
kann – geschweige denn diese selbstständig umsetzt. Professor Volkmar von
der Yale-Universität in den USA beschrieb dieses Phänomen wie folgt: “Wir
haben es mit einem 14-jährigen Jungen zu tun, der von seiner theoretischen
Intelligenz her 18 Jahre alt ist, aber seine soziale emotionale Intelligenz entspricht der eines Achtjährigen.“
Je älter die Schüler sind, desto eher lässt sich diese Diskrepanz mit naivem
Verhalten vergleichen – aufgrund mangelnder empathischer Fähigkeiten und
der dadurch eingeschränkten Fähigkeit, das Ursache-Wirkung-Prinzip zu
verstehen, nachzuvollziehen und anzuwenden. Sie scheinen nicht über Konsequenzen, Ursachen, Begründungen und Bedingungen nachzudenken.
Manche reagieren im Hier und Jetzt.
Auf den ersten Blick scheint es schwer, dieser Herausforderung gerecht werden
zu können. Vieles erscheint uns unlogisch. Haben wir es mit einer blinden
Schülerin zu tun, ist es einleuchtend und selbstverständlich, dass diese nicht
von der Tafel vorlesen kann. Bei einem Menschen mit Asperger-Syndrom fällt
die Gewährung eines Nachteilsausgleiches schon schwerer, denn ich kann
diese Beeinträchtigung nicht wirklich sehen. So beschreibt Sean Barron
beispielsweise: „Bei Menschen passen oft die Dinge nicht zusammen, selbst
wenn ich sie oft sah, waren sie immer noch unzusammenhängende Stücke
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eines Puzzles und ich hatte keine Möglichkeit, sie zusammenzusetzen.“ (Sean
Barron und Judy Barron: „Hört mich denn niemand“, S. 28).
Die verminderte Fähigkeit, zum Beispiel Menschenmengen, Lärm, Farben und
spontane Begegnungen zu ertragen, beruht auf einer extrem empfindlichen
Wahrnehmung.
Als Lehrkräfte sehen wir es als unserer Aufgabe an, Kinder gruppenfähig zu
machen. Häufig scheitert dieser Versuch. Man könnte es mit einem Querschnittsgelähmten vergleichen, von dem wir erwarten, dass er den Rollstuhl
verlässt und die Treppe hoch geht – oder einem stummen Kind, das ein Gedicht
aufsagen soll.
An autistische Kinder werden häufig Anforderungen gestellt, die bedeuten, ihre
Beeinträchtigung einfach zu ignorieren. Dies würde man von Kindern mit sichtbaren Behinderungen nicht erwarten.
Asperger-Autisten haben manchmal einen hohen Grad an Anpassungsvermögen. (Sie möchten nicht auffallen.) Ihr starker Wille, Normalität zu lernen, lässt
sie Anforderungen erfüllen, die sie zu diesem Zeitpunkt total überfordern und
von anderen wichtigen Bereichen abhalten.
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1.2 Autismus und Hochbegabung
– Überschneidungen
Die hier beschriebenen Merkmale treffen in vielen Fällen zu, sind jedoch nicht
immer zu beobachten:
Kinder und
Jugendliche mit:
soziale
Kompetenz
Empathie
Blickkontakt
Gestik / Mimik
Hochbegabung
HB und ASS
Asperger- Syndrom / HFA
meist unauffällig,
u. U. sekundäre
Probleme
vorhanden
unauffällig
normal
eingeschränkt, kognitive
Kompensation
eingeschränkt
wenig ausgeprägt
wenig sozial moduliert
oft eingeschränkt in Verständnis
und Verwendung
Suche nach
Freunden
(auf gleicher
Entwicklungsstufe)
Sprache
Ja, i.d.R sozial
integriert
wenig ausgeprägt
wenig sozial moduliert
oft eingeschränkt in
Verständnis und
Verwendung
vorhanden, aber z.T.
eingeschränkt
sehr früh,
unauffällig
normale Entwicklung,
„erwachsene“ Sprache
normale Entwicklung,
„erwachsene“ Sprache
Prosodie
unauffällig
wenig moduliert, „roboterhaft“
Pragmatik
normal
Humor, Witze,
Ironie, Zweideutigkeiten
verstehen
Motorik
Geschlecht
gesamt - IQ
Intelligenzprofil
unauffällig bis gut
wenig moduliert,
„roboterhaft“
Probleme mit
Gesprächsregeln,
Hang zum Monologisieren
Verständnisprobleme,
Kompensation durch
Lernen
ungeschickt, steif
mehr männlich
IQ > 130
inhomogen,
charakteristisches Profil
eher unflexibel
sehr gut, bes. auf
bestimmten Gebieten
einseitig, außergewöhnlich
(aber auch wechselnd)
eher nicht
wenig Toleranz für
spontane Änderungen
teilweise, eher in Kindheit
und bei Aufregung
ungeschickt, steif
mehr männlich
IQ > ca. 80
inhomogen, charakteristisches
Profil
eher unflexibel
sehr gut, bes. auf bestimmten
Gebieten
einseitig, außergewöhnlich:
(aber auch wechselnd)
eher nicht
wenig Toleranz für spontane
Änderungen
teilweise, eher in Kindheit und
bei Aufregung
Denkstil
Gedächtnis
Interessen
Interesse an Sport
Routinen
Stereotypien
(v.a. motorische)
unauffällig
gleich verteilt
IQ > 130
inhomogen,
unterschiedlich
flexibel, kreativ
sehr gut
vielseitig,
wechselnd
normal
meist flexibel im
Alltag
keine
vorhanden, aber z.T.
eingeschränkt
Probleme mit Gesprächsregeln,
Hang zum Monologisieren
oft Verständnisprobleme
Aus Knorr: http://www.autismus-hochbegabung.de/page4.php (Zugriff: 21.01.09)
Die Zusammenstellung (Knorr, 2007) bezieht sich auf:
Burger-Veltmeijer, A.E.J. (2007). Gifted or autistic? The 'grey zone'. In: K. Tirri & M. Ubani (Eds), Policies and
programs in gifted education. Helsinki: University of Helsinki. Download: http://www.agnesburger.nl/
Gallagher S. A. & Gallagher J. (2002). Giftedness and Asperger's Syndrome: A New Agenda for Education.
Understanding our gifted, 14 (2), 7-12.
Henderson, L. (2001). Asperger's Syndrome in Gifted Individuals. Gifted Child Today, 24 (3), 28-35.
Spitczok von Brisinski, I. (2003). Asperger-Syndrom, AD(H)S, Hochbegabung – differentialdiagnostische
Aspekte. Forum der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, 13 (4) , 52-72.
12
2. Arne  Allgemeine Aussagen und Ist-Stand
2.1 Förderschwerpunkt „Autistisches Verhalten“ 
Die Rolle der BIS-Autismus (Anette Hausotter)
Im November 2007 hörte ich das erste Mal von Arne. Seine Mutter hatte sich
seinerzeit mit der Bitte um Unterstützung an unser Ministerium gewandt. Arne
besuchte die 12. Klasse und sah für sich große Probleme und Unsicherheiten –
war sein Ziel doch, auf alle Fälle das Abitur zu schaffen. Diese Unsicherheiten
ließen ihn zu diesem Zeitpunkt in tiefe Depressionen fallen, die außerdem von
Zwangsstörungen begleitet waren. Die BIS-Autismus hat sich umgehend darum
bemüht, ein Netzwerk aller Beteiligten zusammenzuführen, eine Anamnese aller
wichtigen Informationen erstellt und Arne in seiner Lerngruppe besucht, um
entsprechende förderliche Bedingungen zu entwickeln.
Das Kollegium der Waldorfschule hat gemeinsam an einer Informationsveranstaltung der BIS-Autismus beim IQSH zum Thema „Das Asperger-Syndrom und
besondere Begabungen – Arnes Anderssein“ teilgenommen. Gemeinsam mit
den Fachlehrkräften wurde der Nachteilsausgleich im Hinblick auf die Zulassung
zum Abitur beschrieben – wie zum Beispiel: Klausuren in einem reizarmen
Raum schreiben, die Gewährung eines größeren Zeitfensters, eindeutige Aufgabenstellung und Ähnliches. Die obere Schulaufsicht des Ministeriums für
Bildung und Frauen wurde in den Entscheidungsprozess für die Rahmenbedingungen mit einbezogen: So müsste Arne mindestens einen Punkt in Mathematik
erreichen, damit die allgemeine Reifeprüfung mit den entsprechenden Ausgleichen in allen anderen Fächern anerkannt werden könnte.
Für Arne wurde eine Sonderpädagogische Stellungnahme erstellt, die folgende
Bereiche berücksichtigt: Bei Arne wurde eine autistische Störung im Sinne des
Asperger-Syndroms, gepaart mit emotionalen und Zwangs-Störungen, diagnostiziert, bei gleichzeitigem Vorliegen einer überdurchschnittlichen Begabung.
Gemäß § 2 der Landesverordnung über sonderpädagogische Förderung gehört
Arne somit zur Gruppe der Schülerinnen und Schüler, die einen sonderpädagogischen Förderbedarf haben – mit dem Förderschwerpunkt „Erziehung und
Unterricht von Schülerinnen und Schülern mit autistischem Verhalten“ bei
partiell weit überdurchschnittlichen bis durchschnittlichen allgemeinen intellektuellen Leistungsfähigkeiten. Arne hat ein sehr heterogenes intellektuelles
Leistungsprofil, wie es im Zusammenhang mit dieser Diagnose häufig der Fall
ist: Es besteht eine Diskrepanz zwischen weit überdurchschnittlichen, sprachlichen Fähigkeiten (schreibt Theaterstücke, zeigt herausragende literarische
Fähigkeiten, lernt Sprachen) und gleichzeitigen Schwächen im mathematischen
Bereich sowie geringen lebenspraktischen Fähigkeiten.
„Geistig fühlt Arne sich wie ein 20-Jähriger, sein Körper dagegen ist für ihn erst
fünf Jahre alt. Er sucht eher Kinder, mit denen er philosophieren kann und über
Erich Kästner reden kann, als Kinder, mit denen er balgen und Fußball spielen
kann.“ (Auszug aus Therapie-Gutachten 12/2002).
Arne besucht den 12. Jahrgang der Freien Waldorfschule in Flensburg. Er hat
einen Anspruch auf die Gewährung eines Nachteilsausgleichs, der ihn dabei
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unterstützen soll, die Nachteile, die ihm durch seine Beeinträchtigung entstehen, auszugleichen, ohne die fachlichen beziehungsweise intellektuellen
Anforderungen geringer zu bemessen. Die Gewährung des Nachteilsausgleichs
fließt nicht in die Notengebung mit ein.
Arnes Schwierigkeiten werden überwiegend in seiner ausgeprägten Einschränkung im Bereich seiner emotionalen Störungen, verbunden mit wechselnden
Ängsten und Zwangsverhalten, der ausgeprägten Dyspraxie, geringer Empathie
und seiner oftmals unflexiblen Denkweise deutlich. Die hohe Diskrepanz
zwischen enormen sprachlichen, aber mangelnden mathematischen Fähigkeiten erschwert die schulische Arbeit und die Bewertung seiner Leistungen
erheblich. Erlebens- und Erfahrenebenen werden durch sein ausgeprägtes
Spezialinteresse für Sprache in den Hintergrund gedrängt. Das gleichzeitige
Vorhandensein ausgeprägter und zum Teil angstgesteuerter/angstauslösender
Zwangsstörungen führt dazu, dass er häufig unter extremer Anspannung steht
und sich nicht auf aktuelle Anforderungen konzentrieren kann, bis hin zu zeitweise totaler „innerlicher“ Erschöpfung.
Auf der Erscheinungsebene wird Arnes autistisches Verhalten unter anderem in
folgenden Bereichen deutlich:
•
Arne verfügt über überdurchschnittliche intellektuelle Fähigkeiten im sprachlichen Bereich – sogenannte Inselbegabungen – vor allem auf den Gebieten
Literatur, Geschichte, Philosophie und Psychologie. Hier zeigt er eine enorme Wissensfülle, die in Teilbereichen, zum Beispiel was das sprachliche
und literarische Niveau angeht, an einen „autistischen Savant“ erinnert. So
hat er ein Theaterstück geschrieben, das durch die Schule aufgeführt wurde.
•
Im krassen Gegensatz hierzu erschließt sich ihm die Welt der mathematisch-naturwissenschaftlichen Fähigkeiten kaum. Er hat kaum ein Gefühl
für Zeit, Zahlen oder Geld.
•
Er verfügt über eine erstaunliche psychologische Einschätzungsfähigkeit
von Menschen, erfasst Stärken und Schwächen. Andererseits zeigt er
erhebliche Störungen im Bereich der Empathie im emotionalen Bereich –
so ist er kaum in der Lage, Betroffenheit gegenüber anderen oder einer
emotional-sozial geprägten Situation zu zeigen. Das Ursache-WirkungPrinzip erschließt sich ihm ebenso wenig wie, „aus Erfahrungen zu lernen“.
Im Rahmen literarischer Themenarbeit ist Arne in der Lage, sich in Rollen
hineinzuversetzen, empathisch zu deuten und exakt zu beschreiben. Interpretation durch Hineinversetzen in eine fremde Rolle gelingt – während
Empathie, bezogen auf seine (reale) Person und sein jeweiliges Gegenüber,
nicht gelingt. Diese paradox erscheinenden Verhaltensweisen können bei
Menschen, die ihn nicht kennen, zu Fehleinschätzungen führen.
•
Arne ist im lebenspraktischen Bereich unselbstständig und auf die Unterstützung anderer angewiesen (Strukturen schaffen, Ablaufpläne entwickeln,
Erinnern an bestimmte Abläufe oder Vorhaben, usw.).
•
Arne hat eine sehr akzentuierte Sprache, zum Teil überbetont, manchmal
laut, dann wieder ohne Modulation, sehr leise, zu schnell oder exaltiert.
•
Seine sozialen Fähigkeiten sind eingeschränkt; in unstrukturierten, fremden
Situationen gelingt es ihm kaum, angemessene Kontakte zu knüpfen oder
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einen wirklichen Dialog zu führen – es sein denn über seine Interessengebiete.
•
Arne speichert soziale Verhaltensweisen in einer Art „Manuskript“ ab; er
lernt dies wie eine Rolle für ein Theaterstück – sodass er diese auch in
bestimmten Situationen passgenau anwenden kann, aber in anderen Situationen wiederum total aus der Rolle fallen kann. (Beispiel: Wenn er sich in
einer fremden Situation unsicher fühlt, lächelt Arne, da aus seiner Sicht
Lächeln nie verkehrt sein kann und eine höfliche Geste ist.) Im Laufe seiner
Schulzeit wurden ihm immer wieder Eigenschaften wie Abgekapseltheit,
Verträumtheit und Unangepasstheit zugeschrieben.
•
Arne hat ein geringes Gefühl für zeitliche Abläufe, kann auch sich selbst
noch nicht gut einschätzen. Sein Arbeitsstil, seine Wahrnehmungsstörungen
und sein extremer Hang zum Perfektionismus behindern ihn häufig bei
Anforderungen, die von seinen speziellen Interessen abweichen.
•
Arne ist in einigen Bereichen sehr festgefahren in seiner Sichtweise – kann
das Ursache-Wirkung-Prinzip nicht verstehen und umsetzen.
•
Wahrnehmungsstörungen zeigen sich in einer Hypersensibilität seiner Sinne
einerseits – aber auf der anderen Seite hat er nur ein gering ausgeprägtes
Körpergefühl (geringes Gespür für Wärme, Kälte, wetterbedingte Kleidung,
…). Seine motorischen Fähigkeiten sind gering, am Sportunterricht hat er
bisher kaum teilgenommen. Akzeleration ist ihm kaum möglich (Schwimmen, Ballfangen, …). Sein Schriftbild ist verkrampft, was zum Teil mit der
permanenten Anspannung, unter der er steht, erklärbar ist und bei den meisten jungen Menschen mit diesem Syndrom besteht.
•
Arne beharrt auf einem Gleichbleiben seiner Umgebung, hält an ritualisierten Abläufen fest. Diese geben ihm Sicherheit und verringern die diffuse
Angst vor Neuem. (So hat er eine Zeit lang immer mit demselben Satz
begonnen zu sprechen).
•
Sein Selbstwertgefühl schwindet mit zunehmender Ängstlichkeit. In guten
Phasen dagegen kann er ausgesprochen selbstbewusst auftreten – auf eine
Weise, dass keiner auf die Idee käme, welche Zwänge und Ängste ihn
quälen.
Arnes Stärken liegen in den sprachlich orientierten Wissensfächern und in sachbezogenen Inhalten. Hier bereichert er den Unterricht durch seine Beiträge. Er
kann Sachzusammenhänge schnell erkennen und logische Schlussfolgerungen
ziehen, wenn diese für ihn eindeutig dargeboten werden und er diese für sinnvoll hält.
Regelmäßige Rückmeldungen mit den Lehrkräften seines Vertrauens konnten
Arnes Selbsteinschätzung und Selbstsicherheit stärken helfen. Regelmäßiger
Kontakt zwischen Frau Andersen (Arnes Mutter), Arne, Frau Naefe-Storm
(seiner Deutschlehrerin) und mir trug maßgeblich dazu bei, dass Arne im letzten
Jahr zunehmend entspannter und ausgeglichener geworden ist, da er merkte,
dass er sich auf seine Lehrkräfte verlassen kann. Auf ihn zukommende schulische Abläufe wurden ihm zeitnah mitgeteilt, manchmal erklärt und begründet.
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2.2 Arnes schulischer Werdegang (Christoph Enneking)
Arne begegnete ich das erste Mal am 4. November 2002 in der Aufnahmeuntersuchung für meine damalige 7. Klasse. Von seiner Körperlänge und
-entwicklung und von seinem Gesichtsausdruck her beurteilt, hätte er in eine
vierte oder fünfte Klasse gehen können. Mit seinen wachen, großen, tendenziell
vorstehenden, blauen Augen, den langen Wimpern und den geschwungenen
dünnen Augenbrauen, der kleinen Nase, dem runden Kinn und den weichen
und glatten Gesichtszügen wirkte das Gesicht sehr kindlich. Auf den schmalen
Schultern sah sein Kopf mit den aschblonden Haaren und dem Wirbel im
Stirnbereich eher groß aus. Arne begrüßte mich mit einem schwachen, weichen
Händedruck. Seine Arme wirkten kurz, seine rosigen, feuchtwarmen Hände
klein und nicht durchplastiziert.
Erstaunlich war, wie schnell, geschickt und gewählt er redete, auch wenn er gar
nicht gefragt war. Die rhythmischen Klatsch-, Stampf- und Stabübungen im
Unterricht bewältigte Arne zufriedenstellend. Beim Singen traf er stellenweise
die Töne nicht. Beim Kopfrechnen löste er die gestellten Kettenaufgaben und
Bruchrechenaufgaben sicher, die anspruchsvolleren, schriftlich zu lösenden
Bruchrechnungen gelangen ihm gar nicht. Das Diktat schrieb er fehlerfrei. Arne
war bei allen Übungen offen und freudig dabei. Sein Blick machte nicht vor
meinen Augen halt, er forschte tiefer. Arne eroberte sich einen Platz in meinem
Herzen.
Arnes Mutter machte meine Kollegin und mich im anschließenden Gespräch
ohne Beisein von Arne darauf aufmerksam, dass Arne nur das mache, was er
für richtig hielte, durch keine Strafe zu irgendetwas zu bewegen sei und er keine
Regeln akzeptiere. Sie erwähnte Arnes Autismustherapie und dass er im
Sozialen schwierig sei. Auf der einen Seite bewegte er philosophische Themen,
auf der anderen spielte er von sich aus noch Tiger und Bär. Auch sei er
Dyspraktiker. Der Umgang mit anderen Kindern sei für ihn in traumatischer
Erinnerung; er wurde im Alter von zwei Jahren von anderen Kindern verprügelt
und war auch im Kindergarten stets der Prügelknabe. Die Mutter wünschte sich,
dass Arne in der neuen Klasse und Schule von allen anerkannt und akzeptiert
würde.
Nun, das klang nicht gerade einladend, aber das Beeindruckende war die
Offenheit und Ehrlichkeit, mit der die Mutter dies schilderte. Wäre da nicht die
persönliche Begegnung gewesen, hätte ich Arne wahrscheinlich nicht in meine
Klasse aufgenommen. Gott sei Dank war aber der Funke übergesprungen und
mein Interesse an Arnes Persönlichkeit geweckt.
Zunächst telefonierte ich mit seiner damaligen Klassenlehrerin und einer mir
vertrauten Fachlehrerin, um mein erhaltenes Bild auch von dieser Seite zu
erweitern. Nachdem ich einige Tage damit umgegangen war, ob Arne in meine
reguläre Klasse mit 30 Jugendlichen aufgenommen und von dieser getragen
werden könne oder nicht, formulierte ich für die Pädagogische Konferenz
folgende Bedingungen für eine eventuelle Aufnahme:
„Eine Aufnahme in unsere Schule bedeutet für Arne eine Aufnahme in die
Gemeinschaft der Klasse 7 B, in der gewachsene Strukturen tragend sind, und
für die Mutter eine Aufnahme in die gemeinsame pädagogische Zusammen-
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arbeit. Der schulische Rahmen gilt als Pflichtrahmen, damit Arne von Anfang an
„normal“ in die Schule gehen können wird und „die neuen Kinder ihn gleich als
neuen Arne kennenlernen werden.“ (Zitat aus Arnes Aufnahmeantrag!)
Somit wird von Anfang an auf eine Sonderrolle verzichtet. Mit Arnes Aufnahme
in die Schulgemeinschaft wird zugleich eine medizinische Betreuung durch
unseren Schularzt und unsere Therapeuten erwünscht.“
Nachdem ich Arne in der Konferenz beschrieben und die Bedingungen genannt
hatte, unterstützten die Kollegen eine Aufnahme. Als Klassenlehrer konnte ich
Arne intensiv begleiten, da ich ihn täglich in den ersten beiden Stunden, dem
Epochenunterricht und in sechs weiteren Fachstunden, wie Musik, Bildende
Kunst, Mathe- und Deutsch-Übungsstunden, begleitete.
Einen Schultag, bevor Arne am 11. 11. 2002 in meine Klasse kam, hatte ich die
Kinder auf bestimmte Besonderheiten Arnes vorbereitet, ohne jedoch das Wort
Autist in den Mund zu nehmen, um ihm die Möglichkeit zu geben, als Mensch
immer wieder neu wahrgenommen zu werden und nicht als Krankheitsbild an
der Vorstellungswand zu hängen. So erwähnte ich zum Beispiel seine Körperlänge, sein philosophisches Interesse, seine Kenntnisse in der Literatur, in der
Oper und im Theater, seine geistreiche Redegewandtheit und seine Fähigkeit
zu dichten. Ich las zwei Gedichte von ihm vor (11. September). Ebenso schilderte ich seine bisher für ihn oftmals negativen Erfahrungen mit anderen
Kindern und dass es schön wäre, wenn sich alle um ihn bemühten und ihn
gegebenenfalls schützten. Das Interesse der Klasse war geweckt und alle
erwarteten ihn mit großer Spannung.
Als Arne den Klassenraum betrat, wurde er sehr herzlich aufgenommen und ein
freudiges Schmunzeln ging durch die Klasse. Anna Lena, die bis dahin Kleinste,
sagte, als sie den einen Kopf kleineren Arne sah: „Oh, Sünde für ihn, dass er so
klein ist!“ Arne selbst strahlte die ganze Zeit; er schien sich von Anfang an wohlzufühlen.
In scheinbar für ihn gewohnter Weise holte er, als er an seinem Platz saß, seine
Lektüre hervor und las. Ich forderte ihn auf, diese beiseitezulegen und sich am
Unterrichtsgespräch zu beteiligen. Arne berief sich auf sein Gewohnheitsrecht,
folgte dann aber meiner weiteren Aufforderung und Ergänzung, dass es hier
aber anders sei.
Beim Verabschieden nach der letzten Stunde drehte er sich freudestrahlend zu
den anderen Schülerinnen und Schülern um und sagte: „Tschüss!“ Nie vergesse ich den Moment, als Arne glücklich beschwingt, zuweilen hüpfend und
sich immer wieder umdrehend, nach seinem ersten Schultag an unserer Schule
den Pausenhof verließ.
In der Musikstunde in den folgenden Tagen bekam er eine Leihblockflöte zum
Mitspielen. Als er einige Musikstunden später zum Vorspielen an der Reihe war,
bekam er plötzlich Angst, verschränkte sitzend seine Arme und sagte: „Oh, das
kann ich nicht, da muss ich streiken!“ Ich erwiderte, dass ich ihm helfen würde
und wir es bestimmt zusammen schaffen würden und außerdem Fehler erlaubt
seien, allein die Übung zähle. – Es ging erstaunlich gut.
Beim gemeinsamen Sprechen von dramatischen Balladen im sogenannten
rhythmischen Teil des Epochenunterrichtes fiel Arne durch seine engagierten
eigenen Betonungen und Rhythmen auf, die von der Klassengemeinschaft
wohlwollend mit einem Schmunzeln getragen wurden. An Arnes leicht erhobe-
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nem Blick war dabei zu erleben, dass er dabei ganz in den Bildgeschehnissen
lebte und sein Körper, ähnlich wie beim Drachenfliegenlassen, Impulse gab
oder Bewegungen ausglich. Dieses „ganz im Bilde leben“ war auch zu
beobachten, als Arne ein Referat über das Sternbild Perseus hielt. Sein
Sprechen glich einer sprudelnden Quelle, die zuweilen stockte, um hiernach
munter weiter zu springen. Der Erzählraum weitete sich unglaublich.
Außer bei den meisterhaft formulierten Nacherzählungen, Inhaltsangaben oder
selbst erfundenen Geschichten zu einem Thema, die jedes Mal für den Leser
ein Erlebnis waren, brauchte Arne regelmäßig Hilfe bei der Heftarbeit. Diese
wurde durch seinen Tischnachbarn oder durch mich gewährleistet. Dabei spielte
die Aufmunterung eine wichtige Rolle, da er schnell verzweifelte und resignierte.
Auch mussten die Aufgaben auf ihn abgestimmt werden, besonders die Hausaufgaben. Die verlässlichen Rückmeldungen seiner Mutter waren dabei sehr
hilfreich. So war mit jeder Aufgabenstellung versucht worden, ihn so weit wie
möglich an der gemeinsamen Arbeit zu beteiligen, auch wenn er sich am liebsten aus dieser herausgezogen hätte, sofern sie ihm nicht lag oder er dafür zu
ungeschickt war. Zusammen mit Arnes Mutter vereinbarten wir, wie ein gesunder Zeitrahmen für die Hausaufgaben aussehen könnte.
Zum Schuljahresende durften die Schüler auch mir ein Zeugnis schreiben. Arne
schrieb:
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1
Zeugnis für Christoph Enneking
Zeugnisspruch: Durch brausenden Wind Bei sternklarer Nacht
Segelt das Schiff geschwind Auf der Brücke Columbus wacht Nichts kann ihn erschrecken Und mag’s
ihm werden schwer: Er weiß, er wird es entdecken Das Land, weit über das Meer A. Andersen
Herr Enneking hat in diesem Schuljahr die Klasse gut geführt. Ihm gelang es, mit dem richtigen Maß an
Strenge, die Klasse zu lobenswerten Leistungen anzuspornen. Er ist offen und ehrlich mit den Schülern
umgegangen und konnte den Stoff immer spannend und interessant gestalten. Besonders gefreut hat
mich, dass er die Themen vielseitig beleuchtet hat und auch die geistige Sicht nicht vernachlässigte.
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Im letzten Quartal der siebten Klasse fiel die Entscheidung für das Theaterstück, welches in der achten Klasse zur Aufführung kommen sollte. In der
Entscheidungsrunde waren Lessings „Nathan der Weise“ und C. F. Meyers „Die
Richterin“. Bis auf vier Schüler wollten alle gerne „Die Richterin“ spielen. Bei
den Schauspielproben in der achten Klasse fiel es Arne zunächst sehr schwer,
mit seinen Mitspielern in Beziehung zu treten. Ich forderte ihn auf, seinen Mitspieler anzuschauen, Kontakt aufzunehmen, auf ihn zuzugehen und ihn anzufassen. So kam er langsam aus seiner Vorstellungswelt heraus und auch das
Sprechen bekam einen Atem. Erfreulich war in der Zusammenarbeit mit Arne,
dass er stets offen und willig die Anregungen umsetzen wollte. Bei den Aufführungen gewann Arne von Anfang an das Publikum und begeisterte dieses.
Seine deutliche Aussprache und sein Engagement, ganz in die Rolle einzusteigen, wurden bewundert. Vor den Aufführungen wirkte Arne sehr aufgeregt,
und ich war mir nie sicher, ob seine Auftritte gelängen.
Jeder Schüler musste die Schauspielarbeit dokumentieren, hier nun ein kleiner
Auszug von Arnes Dokumentation: „Ich stand auf der Seite von „Nathan dem
Weisen“, und damit, wie sich herausstellen sollte, auf verlorenem Posten ...
Lessings dramatische Geschichte „Nathan der Weise“ hielt ich aufgrund der
versöhnlichen Botschaft für wertvoller.“ Zur „Richterin“ schrieb Arne: „... So kann
einem das Stück den Mut zur Wahrheit vermitteln, welcher sich befreiend auswirken kann. In Lebenslagen, wo man sich zwischen dem edlen Mut zur Wahrheit und den vorteilhafter erscheinenden Lügen zu entscheiden hat, wirkt dieses
Stück bereichernd.“ – Nun die Charakterisierung seiner Rolle:
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„Die Bewegungen und die passenden Gesten zu finden, besonders das ruhige,
aber dennoch bestimmte Gehen und die Herausarbeitung der Dramatik in der
3. Szene des 3. Aktes, nahm viel Zeit und Geduld in Anspruch. ... Ich bemühte
mich stets, die Einfälle des Regisseurs umzusetzen. ... Die Szene in Pratum
regte in mir an, darüber nachzudenken, wo in unserem Alltagsleben noch
unterschwellig extreme Gefühle brodeln, unter einer scheinbar geordneten
Oberfläche. ... Ich sprach ohne Pausen, das heißt, ich war für das Publikum
nicht zu verstehen. Auch wurde ich auf mein eiliges, fast gehetztes Gehen
aufmerksam, welches Ausdruck von Nervosität war und auch im Alltag störend
wirkte. Diese zwei Gewohnheiten möchte ich im Alltag gerne verändern. ... Ich
fühlte mich, wenn mich Mitschüler tadelten, von ihnen abgelehnt und beleidigt,
weshalb es bei diesem Punkt einige dramatische Szenen gab. Ich reagierte
übertrieben emotional, was meine Mitschüler oft überraschte, da sie mein Spiel
und nicht meine Person kritisiert hatten. ... Leider konnte ich einige schlechte
Gewohnheiten nicht ablegen, zum Beispiel das unbewusste stille Mitsprechen.
... Ich lernte viel Neues von Herrn Enneking. ... Entwickeln möchte ich eine
größere Hilfsbereitschaft.“
Am Ende der achten Klasse machten wir eine Fahrradtour zu verschiedenen
dänischen Inseln. Trotz anfänglich großer Bedenken der Mutter durfte Arne mit.
Lasse, ein vertrauter Mitschüler Arnes, kümmerte sich vorzüglich um ihn. Dabei
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gewann Arne viel Mut und die Verbindung zur Klassengemeinschaft wuchs
noch einmal erheblich.
Zum Abschluss nun ein Ausschnitt aus dem Zeugnis, welches mir Arne zum
Schuljahresende schrieb:
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2.3 Asperger-Autismus und das Erleben von Welt
aus meiner Sicht  Arnes Selbstbild
Anette Hausotter hat mich gebeten, auf meine besondere Lage als Autist
aufmerksam zu machen. Wie alle anderen Menschen sind auch Autisten jeder
für sich einzigartig. Ich versuche im Folgenden, mein persönliches Erleben mit
meinen autistischen Symptomen anhand einiger Schwerpunkte darzustellen.
Abwesenheit
Das für mich deutlichste Zeichen meines Autismus ist meine Flucht in Fantasieund Gedankenwelten; ich besitze keine sichere Bodenhaftung. Oft werde ich
von Stimmen bedrängt, von mächtigen Gefühlen jeder Sorte überflutet, werde
von Ideen, von Gedanken und Bildern so beherrscht, dass ich alles um mich
herum vergesse. Oder ich verliere mich, meist überanstrengt von den vielfältigen Eindrücken des Lebens, in einer wohligen Trägheit, in der ich Zeit und
Raum vergesse. Meine Mutter schrieb einmal über mich: „Er ist nie wirklich da,
immer in Fantasiewelten, in Vorfreude auf etwas Kommendes, müde und
träumend, „festgesaugt“ an irgendeinem zufälligen oder gezielten Lesestoff oder
besessen von einer Idee, einem Vorhaben, das ihn wiederum seine Umwelt
komplett vergessen lässt.“
Und an anderer Stelle: „Arne befindet sich scheinbar hinter Glas, ist so abwesend und in Gedanken versunken, dass man ihn nicht erreichen kann.“
Ich selbst schrieb mit zehn Jahren in der Bonner Kinder- und Jugendpsychiatrie
in einen Fragebogen:
„Ich möchte wissen, warum ich mich so zerstreue und solche Probleme habe,
mich anzustrengen.
Ich bedauere, dass ich mich nicht konzentrieren kann, sonst hätte ich viel mehr
Freizeit. Wenn ich zu Bett gehe, finde ich das immer schade, dass so schnell
die Zeit vergeht und ich die Dinge gar nicht gemacht habe.
Ich sorge mich über meine Zeit, die mir durch meine Träumerei und Zerstreutheit so durch die Finger gleitet, obwohl ich so viele schöne Dinge machen
könnte. Ich leide an der winzigsten Selbstverständlichkeit, die mir wie riesengroße Aufgaben erscheint. Ich soll z. B. Zähne putzen. Ich träume stundenlang,
lutsche die Zahnbürste ab und wundere mich dann, wenn eine halbe Stunde
vergangen ist. Das Schlimmste ist aber für mich, dass ich meine Konzentration
nicht steuern kann und ich meine Träumerei erst merke, wenn es zu spät ist. So
kriege ich viel weniger Freizeit, als ich hätte haben können.
Das Problem ist, dass ich eigentlich alle Aufgaben gut kann, aber ich träume
und so nützt mir mein Können gar nichts.“
Ich hatte damals den Eindruck, den ganzen Tag unaufhörlich arbeiten zu
müssen, weil ich für die geringfügigste Aufgabe Stunden brauchte. Meine Mutter
versuchte, mich auf alle möglichen Arten zu motivieren, ich erinnere mich noch,
dass wir eine „Sterne-Liste“ führten, wo ich für jede gut erledigte Arbeit einen
Strich bekam und bei einer bestimmten Anzahl Striche einen Stern und eine
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besondere Belohnung. Noch zu meinem 13. Geburtstag wollte sie mir einen
Anreiz zum Erlernen der französischen Sprache geben und versprach mir für
jede erarbeitete Lektion ein Geschenk ...
Und alles war bei mir letztlich wirkungslos, weil es mir ja weniger an dem Willen
mangelte, zu arbeiten, als an der Fähigkeit, mich überhaupt erst zu sammeln.
Wie viele Auseinandersetzungen hatten ich und meine Mutter deswegen! Alle
Arbeit wuchs sich bei mir zu einer ewigen Belastung aus. Eine halbe Seite
Grundwortschatz Englisch und Französisch täglich war so anstrengend für
mich, dass mir deswegen oft die Tage ganz verdorben waren. Die Ferien waren
wunderbare Paradiese für mich, weil ich einmal frei war von dem immerwährenden schlechten Gewissen, das mich damals wegen der nicht gemachten
Aufgaben andauernd begleitete. Weil es mir nicht gelang, meine Arbeit zu
strukturieren, fühlte ich mich hilflos wie ein Schiffbrüchiger in einem Ozean aus
Aufgaben, die mir nie und nimmer erfüllbar vorkamen. An meiner Mutter blieb
die ärgerliche Pflicht hängen, mich ständig auf meine Versäumnisse aufmerksam zu machen. Sie wurde sehr enttäuscht, wenn sie sah, dass ich trotz all
ihrer Bemühungen so nachlässig war. Und ich empfand eine große Wut bei
ihren Ermahnungen, weil ich doch nicht konnte. Es war ein furchtbares
Missverständnis, wir wussten beide nicht, dass tägliche, konzentrierte Arbeit
außerhalb meiner Möglichkeiten lag.
In dieser Weise wurde die Beziehung zwischen meiner Mutter und mir oft durch
Symptome belastet, die niemand als solche erkannte. Auch meine häufige
innere Abwesenheit führte immer wieder zu Spannungen. Da ich meistens in
meinen Träumen und Gedanken, in meiner inneren Welt verschwunden war,
lebte meine Mutter wie mit einem Gespenst zusammen. Das führte – und das ist
eine weitere Facette der genannten Abwesenheit – zu ungezählten quälenden
Auseinandersetzungen mit ihr.
Was meine Mutter mir sagte, behielt ich selten. Ich hörte ihr einfach nicht wirklich zu. Und dass das so war, war mir in keiner Weise bewusst! Noch heute ist
das manchmal so: Ich bin innerlich so in meiner Welt beschäftigt, dass ich die
Worte meiner Mutter einfach ausblende, ich nehme sie dann nur noch als Laute
wahr, die gar nicht mehr in mein Bewusstsein vordringen, und gebe mechanische Antworten. Und so behielt ich natürlich nichts von dem Gesagten und
richtete mich nicht danach. Das führte zu zermürbenden Konflikten. Immer
wieder schrie meine Mutter: „Aber das habe ich dir doch tausend Mal gesagt!“
Und ich konnte mich nicht erinnern. Die Lage verschlimmerte sich in solchen
Augenblicken dann dadurch, dass ich gar keine Betroffenheit, keine Reue
zeigte. Aber wie konnte ich etwas bereuen, was ich doch nicht verbrochen
hatte, es war ja nicht meine Schuld, dass ich ununterbrochen von einer inneren
Welt so aufgesogen wurde, dass ich meine Umgebung kaum noch wahrnahm ...
Nicht einmal während eines Streits konnte ich bei klarem Bewusstsein bleiben,
im Gegenteil: Sobald ich eine Konfrontation nahen spürte, war ich sekundenschnell „in mich hinein verschwunden“. Weg. Nicht greifbar. Nicht angreifbar.
Unbetroffen. Insbesondere die Unbetroffenheit machte meine Mutter regelmäßig
sehr wütend und brachte sie an den Rand der Verzweiflung. Dabei machte ich
das noch nicht einmal absichtlich – sobald eine Lage für mich beängstigend
wurde, senkte sich wie von selbst eine “Glasglocke“ über mich: Ich nahm dann
alles nur noch verschwommen wahr, meine Augen wurden glasig, und alles,
was ich hörte, wurde ein Geräusch. Ein paar Mal versuchte ich sogar, aus
diesem Zustand selbstständig herauszukommen, aber dann war mein Kopf wie
23
benebelt. Wenn meine Mutter mich dann empört fragte „Was hast du dir denn
dabei gedacht?!“, schienen sich die Worte gegen mich verschworen zu haben,
denn in meinem Kopf ergaben sie keinen Sinn mehr.
Dabei? Wobei denn? Gedacht? Dachte ich? Woran dachte ich wobei? Vielleicht
ja an den neuen Kinofilm, der morgen anläuft ...
Die Wörter zerlegen sich in solchen Augenblicken selbst, rufen merkwürdige
Assoziationen hervor, verwirren mich ... Sobald die „Glasglocke“ über mir ist, bin
ich gesprächsunfähig.
Besessenheit
Hobbys wuchsen sich schnell zu übertriebenen Leidenschaften aus, in denen
ich ganz aufging, was bedeutete, dass sie mich ganz aufsogen, und für mich
somit auch zu Fluchtmöglichkeiten wurden. Dabei waren meine Interessen
meistens ausgefallen, sogar seltsam. Mit irgendeinem „Tick“ war ich so gut wie
immer beschäftigt, aber mir fallen jetzt nur noch wenige ein:
Eine Zeit lang war ich getrieben von dem Vorhaben, selbst einen Zeichentrickfilm zu malen, weil mich sich bewegende Bilder so faszinierten. Ich begeisterte
mich über die Maßen für Mozart und seine Musik und wollte eine eigene Oper
komponieren. Nie konnte ich von den Rollenspielen, die ich mit meiner Mutter
spielte, genug kriegen: Ich weiß noch, dort konnte ich der Tiger sein, der die
abenteuerlichsten Dinge erlebte oder ein Graf Heinrich von Hessen, der
Turniere veranstaltete, in Kriege zog und Festmahle in großem Glanz veranstaltete. Diese Rollenspiele boten einen Raum, in dem ich meine unerschöpflichen Ideen verwirklichen konnte. Wäre es nach mir gegangen, hätte ich mein
ganzes Leben in einem solchen Rollenspiel verbracht. Bis ich etwa 12 Jahre alt
war, waren diese Rollenspiele meine Lieblingsbeschäftigung. Auch von schriftstellerischen Projekten konnte ich mich derart beflügeln lassen. Dann schrieb
ich ganz beseelt von meiner Idee an einem Einfall, ohne etwas anderes zu tun,
bis die Begeisterung dann plötzlich einfach erloschen war und mich etwas
Neues fesselte. Oder ich entdeckte einen an sich ziemlich durchschnittlichen
und beinahe vergessenen Komponisten des 19. Jahrhunderts und verbrachte
Monate damit, seine Person und sein Werk genaustens zu studieren, las alle
Biografien, derer ich habhaft werden konnte, und versuchte, in der Bibliothek so
viele CDs zu bekommen wie möglich, und da war ich schon 13 Jahre alt! Das
alles waren für mich Versuche, meine große Begeisterungsfähigkeit auszuleben, der großen Kraft, die ich auch habe, aus meiner damaligen Sicht lohnende Objekte zu geben. Die Folge war natürlich, dass ich in dem namenlosen
Rausch, in den mich so ein Hobby versetzen konnte, alles andere vernachlässigte und den Kontakt zur Wirklichkeit verlor.
Soziale Schwierigkeiten
Wirklich großes Leid bereitete mir meine autistische Unfähigkeit im sozialen
Bereich. Ich fühlte mich immer zerrissen zwischen meinem übergroßen emotionalen Bedarf an Freunden und meiner autistisch bedingten Unsicherheit. Mein
ganzes Leben hindurch litt ich unter dem Gefühl, ein Außenseiter zu sein. Das
wird anschaulich in den Anfängen meines ersten Romanversuchs – „Der dunkle
Guru“ – aus der späten Grundschulzeit:
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„Im Sommer 1998 verschwand Martin M. Rosenberg, ein Mann, über den es
schon immer viel Gerede gab. (...)
Das zeigte sich schon in der Schule. Dort fiel er zunächst dadurch auf, dass er
Mozarts Musik als die „beste Musik der Welt“ betrachtete und seine für die
anderen Kinder unverständliche Meinung ungeschickterweise auch noch laut
preisgab.
Daher hatte er von Anfang an wenig Freunde. Und den wenigen, die über seine
„komischen“ Musikansichten hinwegsehen konnten, vertraute er dummerweise
sofort seine ganzen Geheimnisse an. Und so was Dummes tat er nur, weil er
meinte, er müsse ihnen danken. Danken für ein einziges nettes Wort. Das ist
vielleicht unverständlich für Menschen, denen nette Worte selbstverständlich
sind, aber das sind sie nicht für jeden, und für Martin waren sie das ganz und
gar nicht. Für die Kinder war sein Verhalten jedenfalls sehr befremdend. (...)“
In meiner Kindheit hatte ich vor Gleichaltrigen eigentlich immer nur Angst. Im
Kindergarten wurde ich von einer Gruppe von Jungen verprügelt, vor denen ich
mich sehr gefürchtet hatte. Ich erinnere mich, dass mich auch Kinder aus der
Nachbarschaft geschlagen haben. Gut verstanden habe ich mich entweder mit
Erwachsenen oder mit kleineren Kindern. Meine Lieblingsbeschäftigungen
ähnelten denen der anderen Kinder nicht: Ich konnte noch nicht richtig schreiben und hatte keinerlei Ahnung von Musik – ich habe nie auch nur ansatzweise
gelernt, ein Instrument zu spielen –, aber ich träumte davon, eine Oper zu
schreiben. Dafür lernte ich Noten und füllte damit jede Menge Notenpapier.
Dass meine Fremdheit gegenüber anderen Kindern autistisch bedingt war,
erfuhr ich erst mit zehn Jahren. Ich dachte immer, dass all meine Schwierigkeiten mit den Kindern meine eigene Schuld waren. Als ich von der Diagnose
erfuhr, beeindruckte sie mich wenig. Dass ich mich von meinen Klassenkameraden auf unbestimmte, aber deutliche Weise unterschied, war mir längst
klar, und die Wunden, die durch unsachgemäßen Umgang mit meinem
Verhalten entstanden waren, waren längst geschlagen. An die Ungeduld
mancher Lehrer, die sich über meine Langsamkeit ärgerten, und an das
Befremden meiner Klassenkameraden, die sich über meine Unsicherheit
wunderten, hatte ich mich schon fast gewöhnt. Für mich war das Wort
„Autismus“ nur ein Name, für das, was andere meinten, wenn sie sagten, ich sei
der Arne „vom anderen Stern“. Auch dazu gibt es einen Absatz im „Dunklen
Guru“:
„So hatte er während seiner ganzen Schulzeit keinen Freund. (...) Indes ging es
in der Schule immer weiter bergab. Nicht nur, dass er keine Freunde hatte, nein,
die Klasse hatte immer mehr Probleme mit ihm. (...)
Er fing an zu träumen, weil er ja in der Klasse eh nichts sah, was ihm auf irgendeine Art Freude bereiten konnte. Also machte er sich Freude in seiner
Fantasie. Er dachte dort nur noch an Zuhause, weil es ja das Einzige war, worauf er sich freuen konnte. Demzufolge passte er im Unterricht nicht auf, und
wenn sein Lehrer ihn fragte, wusste er dann natürlich nichts – und bekam eine
Sechs. So ist es kaum verwunderlich, dass er schon im ersten Schuljahr sitzenblieb.“
So hatte die Schule zunächst recht herbe Erlebnisse für mich. Meine erste
Klassenlehrerin wollte mich schon in der zweiten Klasse nicht mehr haben. Der
Grund war, dass ich mich nur sehr schwer in die Klassengemeinschaft einfand.
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Das war besonders augenscheinlich im rhythmischen Teil des Unterrichts –
„Wenn alle Kinder links herum laufen sollen, läuft Arne rechts herum!“, klagte
die Lehrerin. Auch zu diesem Unverständnis, das mir in der Schule häufig
begegnete, gibt es eine Stelle in diesem Text:
„Es gab, abgesehen von seiner Mutter, nur einen Menschen auf der Welt, der
Martin richtig verstand. Das war der alte Mathelehrer Rafaehl. Er sah als Einziger hinter der traurig-trübseligen Maske ein hellwaches Kind, das stets zu
lächeln bereit war, wenn man ihm nur Grund dazu gab. Er verstand auch als
Einziger Martins Lage in der Klasse. Er wusste auch, dass Martin nicht dumm
war, nein, im Gegenteil! Er wusste, dass Martin sehr schlau sein konnte – wenn
er nur wollte. Kurz: Er war der Einzige in der ganzen Schule, der Martin richtig
kannte. Er war auch der einzige aller Lehrer, der sich Mühe mit dem kleinen
Martin gab.“
Ungeachtet der Tatsache, dass es für mich keine bessere Schule gibt als die
Waldorfschule, war ein Lehrer, der mich verstand, tatsächlich die Ausnahme.
Es ist aber hier wichtig, darauf hinzuweisen, dass es für Lehrer, wie für alle
anderen Menschen, einfach unmöglich ist, das Verhalten eines autistischen
Kindes zu verstehen und anders zu bewerten als das anderer Kinder, wenn sie
nicht entsprechend fortgebildet werden. Und das findet an den Waldorfschulen
als privaten Schulen, welche doch hervorragende gesellschaftliche Arbeit
leisten, bedauerlicherweise im Regelfall nicht statt. Wir wussten gar nicht, dass
es das überhaupt gibt.
In der Schule hatte ich das erste Mal einen Freund, der mir bald sehr wichtig
war. Ich habe schon immer eine übergroße Sehnsucht nach Freunden gehabt,
welche ich aus purer Angst nicht ausleben konnte. Heute weiß ich auch, dass
ich schon immer im Umgang, selbst mit Freunden, sehr befangen war. Sobald
ich einen Freund hatte, war meine größte Sorge, ihn zu verlieren.
Diese Freundschaft konnte mich aber nicht darüber hinwegtrösten, dass sich
meine Lage in der Schule stetig verschlimmerte: Ich war immer sehr verletzlich
und wurde zunehmend Opfer von verbalen Übergriffen. Ich erinnere mich an
einen Religionsunterricht, in der vierten Klasse war es, glaube ich, wo jemand
sagte: „Jetzt melden sich alle, die Arne doof finden!“
Und, soweit ich mich erinnere, hoben alle die Hand, selbst der Junge, den ich
bis dahin für meinen Freund hielt ... Manchmal konnte ich meiner Verzweiflung
nur Luft machen, indem ich mich blindlings auf den Boden warf und schreiend
um mich trat. „Ach, solche Anfälle hat der manchmal“, kommentierte ein Mitschüler trocken. In dieser Zeit schrieb meine Mutter über mich:
„Arne fiel immer wieder durch seine vorlauten, kritischen Kommentare und seine
eigensinnige Art auf: Er ist unheimlich böse geworden, wenn er sich gemeldet
hat und die Lehrerin ihn gleichwohl nicht drangenommen hat. Isoliert vom Unterrichtsgegenstand hat er immer wieder versucht, sich mit seinen Interessengebieten in den Vordergrund zu spielen, z. B. hat er in jedem Fach immer einen,
wenngleich noch so fernen, Anknüpfungspunkt für seine Geschichtskenntnisse
gefunden. Viele Kinder mögen ihn deshalb und wegen seiner kontaktmäßigen
Unfähigkeit nicht und greifen ihn immer wieder verbal und physisch an. Solche
Attacken führen immer wieder zu Schrei- und Kreischanfällen, von denen Arne
selbst sagt, dass er dann durchtickt, weil er sich nicht zu wehren weiß. Bei
26
anderen Gelegenheiten rächt er sich an der Klasse, indem er immer das
Gegenteil von dem, was die anderen bevorzugen, macht oder sagt.“
In der vierten Klasse eskalierte die Situation, und ich ging beinahe ein Jahr nur
zu den ersten beiden Stunden. Danach beruhigte sich die Lage, aber fremd
fühlte ich mich immer noch.
In der sechsten Klasse spielten wir beispielsweise ein Theaterstück – „Emil und
die Detektive“ – und bekam keine Rolle innerhalb der „Bande“, offenbar, weil ich
weiterhin große Schwierigkeiten damit hatte, mich ungezwungen und unauffällig
in einer Gruppe Gleichaltriger zu bewegen. Es war damals ein großer Wunsch
von mir, ein Kind aus der Bande zu spielen. Wenigstens auf der Bühne, zumindest als Rolle, wollte ich einmal dazugehören, wollte ich einmal Teil einer Clique
sein, von den anderen angenommen und gemocht. Es war sehr schlimm für
mich, dass ich eine solche Rolle nicht bekam.1 Und das Ausgeschlossensein
war nicht nur innerhalb der Schule so, wie meine Mutter notierte:
„Er geht gerne in die Theatergruppe, aber wenn man ihn dort beobachtet, ist er
meistens alleine, nie richtig „dazwischen“. Ein größeres Mädchen – mit denen
scheint er immer noch am ehesten zurechtzukommen – erzählte mir, dass Arne
so oft angeschrien werde, weil er nicht tue, was er tun solle. Aber sie wunderte
sich, dass er das gar nicht übel zu nehmen scheine.“
Ich erinnere mich nur noch daran, dass ich mich auch in dieser Theatergruppe
ausgeschlossen fühlte; dass ich oft angeschrien wurde, weiß ich gar nicht mehr.
Ich vermute, dass ich mir gegen die häufigen Zurechtweisungen nicht anders zu
helfen wusste, als dass ich mich zum Selbstschutz, wie so oft, in mich hinein
flüchtete und so nach außen unempfindlich wurde.
Dyspraxie
Ein weiteres Handicap, welches mir den Alltag erschwert, ist meine Unfähigkeit
im alltagspraktischen Bereich.
Im Kindergarten hatten wir eine Zeit lang sehr strenge Erzieherinnen. Die
schimpften mit mir, weil ich nicht anständig genug aß, und setzten mich regelmäßig an den Katzentisch. Da saß ich dann alleine und wiederum ausgeschlossen. Weil ich mich nach dem Mittagschlaf nicht selbst wieder anziehen konnte,
ließen sie mich auf der Matratze sitzen, bis ich abgeholt wurde. Stundenlang.
Dabei war beides nicht mein Fehler, sondern reine Unfähigkeit.
In der Folgezeit machte sich die Dyspraxie vor allem in scheinbaren Nachlässigkeiten bemerkbar, die mir alltäglich passierten: Ich vergaß alles, täglich etwas
anderes: Jacken, Mützen, Mäntel, Handschuhe, meinen Ranzen, meinen
Schlüssel, mein Fahrrad, meine Federtasche, Schulhefte, Besorgungen, Einkäufe ... Anlässlich meines Geburtstags gab mir meine Mutter einmal einen
Beutel selbstgebackene Plätzchen für meine Klasse mit und befestigte diesen
am Lenker meines Rads. Dort hing er immer noch, als ich wieder nach Hause
1
Was man möglicherweise einem autistischen Kind nicht zutraut: Ich war und bin schauspielerisch begabt,
habe in dieser Zeit den Raben Abraxas aus der „Kleinen Hexe“ vor Hunderten von Zuschauern mit Erfolg
gespielt. Auch andere Rollen. Allerdings mussten mir immer einige autistische „Macken ausgetrieben“
werden.
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kam. Alle Termine vergaß ich, und als ich einen Kalender bekam, um dort
meine Termine einzutragen, vergaß ich, in den Kalender zu gucken. Meine
Mutter führte Strukturzettel und später ein Buch ein, in dem sie alle anstehenden Erledigungen für mich mit Datum und Tageszeit notierte, und ich
konnte mir lange nicht angewöhnen, diese zu beachten. Ich vergaß einfach,
hineinzusehen. Und so etwas ist heute auch noch an der Tagesordnung. Nie
konnte jemand mich einkaufen schicken, ohne dass ich stundenlang wegblieb
und dann meistens noch die Hälfte der – auf dem Einkaufszettel notierten –
Dinge vergessen hatte. Wegen meiner vergesslichen Nachlässigkeit und meiner
Ungeschicklichkeit ging mir auch andauernd alles kaputt: Mein Füller lief immer
wieder aus und versaute meine Hefte. Mein Fahrrad war so häufig defekt, dass
der Fahrradhändler sagte, er habe so etwas noch nie erlebt. „Was macht der
bloß damit?!“ Auch die liebevoll von mir gemalten Bilder aus dem Kunstunterricht – die meine Mutter gerne für mein Zimmer einrahmte – kamen immer
zerrissen und zerknickt zu Hause an. Diese – wie Nachlässigkeit wirkende –
Zerstreutheit fiel auch in der Schule auf: Unsere Klassenlehrerin hatte in der
ersten Klasse einen Trick, die Schüler zu disziplinieren. Die Stuhlreihe, die als
Erste nach dem Unterricht mit dem Einpacken der Sachen fertig war, durfte als
Erste in die Pause. Bei dieser Methode hatte ich bei meinen Mitschülern einen
schweren Stand: Ich konnte einfach nicht mithalten und hielt immer meine
ganze Reihe auf.
Heute noch bestimmt diese aus Zerstreutheit herrührende Dyspraxie oft meine
Tage: Ich brauche phasenweise täglich ganze Vormittage, um ein wenig Ordnung in mein Zimmer zu bringen. Da ich immer wieder innerlich „abdrifte“, ist
das ein außerordentlich anstrengendes Unterfangen, ich muss mich für jede
Ecke meiner Räume neu sammeln: Schreibtisch, Regale, Bett ... Meistens übersehe ich Dinge einfach, die am falschen Platz sind, und bemerke es noch nicht
einmal, wenn ich genau hinsehen will. Schulbrotbeutel im Bücherregal sind nur
ein Beispiel dafür: Immer noch bin ich hilflos, wenn ich meine Bekleidung selbst
auswählen soll, und schaffe es regelmäßig, bei warmem Wetter winterlich und
bei Kälte sommerlich herumzulaufen. Beschäftigt in meiner inneren Welt, ziehe
ich mechanisch an, was gerade zur Hand ist. Aus dem Fenster zu gucken, welches Wetter gerade ist, konnte ich bisher nicht lernen.
Ein anderer Aspekt der Dyspraxie tritt in den Schwierigkeiten zu Tage, die mir
feste Werte, Maßstäbe und Größen verursachen. Dazu gehört das Rechnen,
und zunächst das Einmaleins. Ewigkeiten musste sich meine Mutter mühen,
diese Zahlen in meinen Kopf zu bekommen. Es waren für uns beide quälende
Zeiten. Wir waren im Urlaub in einem dänischen Ferienhaus und ich hatte mich
darauf gefreut, auf langen Spaziergängen viel Zeit für meine geliebten Rollenspiele zu haben, ich war vielleicht acht Jahre alt. Statt zu spielen jedoch verbrachten wir unsere Spaziergänge damit, mir das Einmaleins einzutrichtern.
Das war in etwa so, als ob ich einen Text in einer fremden Sprache hätte auswendig lernen sollen, ohne auch nur die Bedeutung der Wörter ansatzweise zu
kennen. Es wollte mir nicht in meinen Kopf. Ich glaube, ich kam damit deshalb
so schwer zurecht, weil ich mir unter Zahlen nie etwas vorstellen konnte. In der
neunten Klasse musste ich einsehen, dass ich dem Mathematikunterricht
schlicht nicht mehr folgen konnte. Ich saß in der Stunde mit dem Gefühl, die
Ziffern an der Tafel seien rätselhafte Hieroglyphen.
Was meine Orientierung in „Zeit und Raum“ anbetrifft, bin ich noch heute überfordert. Neulich erfuhr ich davon, dass ein Bekannter 200.000 Euro Verlust
gemacht hatte, und überlegte ernsthaft, ob ich meine Ein-Zimmer-Wohnung
28
- welche 250 Euro kostet - nicht einen Monat untervermieten könnte, um diesem
Bekannten die Summe wiederzugeben ... Aus diesem Grund habe ich in der
Vergangenheit auch schon oft Geld verloren, weil ich mir des Wertes nicht
bewusst war und ich dementsprechend nicht darauf achtete. Zu schaffen
machte uns auch immer mein fehlendes Zeitempfinden. Da ich so oft, beschäftigt mit Zwängen oder auch einfach in Gedanken, alles um mich herum vergaß,
verfloss mir die Zeit unentwegt, und später vermochte ich über sie nicht
Rechenschaft zu geben.
Weitere Symptome
Seit der Pubertät bereitet mir meine Zwangsstörung die heftigsten Schmerzen.
Diese psychische Krankheit begleitete mich, solange ich zurückdenken kann.
Ich habe deutliche Erinnerungen an meine Erlebnisse, die ich als vielleicht Dreioder Vierjähriger mit dieser Krankheit hatte:
Damals hatte ich seltsame Spielkameraden: Es waren Wesen mit regenbogenbunt schillernden, geschuppten Körpern, und eine ganze Gruppe von ihnen
umgab mich damals immer. Sie konnten so tun, als seien sie gute Freunde,
aber insgeheim waren sie falsch, bedrohlich und böse, und ich fürchtete mich
vor ihnen. Ich weiß noch, dass ich unentwegt versuchte, sie loszuwerden.
Einmal gab ich in meinem Kinderzimmer ein Abschiedsfest für sie, und sie
hatten mir versprochen, danach zu gehen, aber sie blieben einfach da.
Manchmal zwangen sie mich, Dinge zu tun. Ich musste beispielsweise ein
bisschen Salz holen und den gegen die Bilder werfen, die an der Wand hingen.
Mehr Angst als vor ihnen hatte ich aber vor dem „Weißen Mann“. Das war eine
große, nebelweiße Gestalt, eigentlich nur ein Umriss, ohne Haare, ohne
Gesicht. Er hatte einen bedrohlichen, schweren Gang und versteckte sich in
unserem Keller. Auch in meinen Träumen tauchte er regelmäßig auf. Als ich
einmal meiner Mutter von diesen Wesen erzählte, verstand sie nicht sofort, wie
viel Furcht ich hatte. Sie antwortete, dass es Menschen gäbe, die über solche
Figuren Geschichten schrieben, und dass ich vielleicht einmal so etwas machen
würde ... Erst später konnte ich ihr meine Ängste deutlich machen, und wir
sprachen dann viel darüber. Ich glaube, dieser weiße Mann spielte für mich
noch im Alter von acht Jahren eine so große Rolle, dass ich meinem ersten
Psychologen davon erzählte, der mir aber nicht geholfen hat.
Im Sommer 2002 brach die Zwangsstörung besonders heftig aus. Ich weiß noch
genau, ich war mit meiner Mutter im Urlaub in unserem kleinen Wohnmobil, und
nachts sah ich Skelette, die mich umstellten und nach mir griffen. Ich wusste,
wie es bei meinen Zwangsbildern immer war und noch ist, im gleichen Augenblick, in dem ich diese Skelette sah, dass es sich um eingebildete Bilder handelte, und trotzdem machten sie mir fürchterliche Angst und nötigten mir Zwangshandlungen ab, ich musste mit den Fingern schnippen, im Kreis laufen, später
bestimme Wörter in einer bestimmten Reihenfolge immer wiederholen – nur so
konnte ich mich eine Weile beruhigen. Seitdem bin ich an dieser Zwangsstörung
erkrankt – bis heute.
Natürlich lösen die unterschiedlichsten Dinge meine Zwänge aus, die Skelette
waren nur ein Beispiel aus jener Zeit, an das ich mich noch erinnere. Als ich im
neuen Schuljahr in die siebte Klasse kam, fielen meine Zwänge natürlich auch
29
meinen Klassenkameraden auf: Ich schloss die Augen, schnitt unfreiwillig
Grimassen – ich sagte dann immer zur Erklärung, ich hätte gerade an etwas
Ärgerliches gedacht. Auch meine Mutter litt unter den „Anfällen“, wie ich meine
Zwänge ihr gegenüber nannte – sie bekam ja das meiste davon mit. Eine Zeit
lang habe ich sie unentwegt gefragt: „Mama, die Ängste haben doch nicht
Recht?“ Und sie musste antworten: „Nein, Arne, die Ängste haben nicht Recht.“
– Dann hatte ich eine Weile Ruhe.
Die Zwänge prägen meinen Alltag: Beispielsweise muss ich sie nach dem
Aufstehen sofort als Erstes „bearbeiten“, auch wenn ich noch nicht richtig wach
bin. Aber ich bin diese Zwänge inzwischen so gewohnt, dass ich sie schon
beinahe automatisch behandle. Man könnte sich das vielleicht wie das
Programmieren eines Computers vorstellen. Ich versuche mich mit den
Zwängen selbst zu regeln, mich selbst einzustellen.
Ich beginne also nach dem Erwachen, eine festgelegte Reihenfolge Wörter
innerlich herunterzubeten. Darin enthalten sind unter anderem Sätze, ohne die
ich mich nicht traue, das Radio einzuschalten: „Egal, was ich im Radio höre, es
hat nichts mit mir zu tun.“ Wenn ich das nicht sage und die Nachrichten von
einem Mord melden, dann flüstern mir die Stimmen: „Du wirst auch ein Mörder!“
So etwas macht mich ganz panisch, und dann muss ich lange und heftig
innerlich auf mich einreden und viele Zwangshandlungen ausführen, bevor ich
mich wieder beruhige. Wenn ich mich aber vor dem Einschalten des Radios
darauf vorbereite, fühle ich mich sicher. Und so betreffen alle Sätze, die ich mir
nach dem Erwachen aufsage, verschiedene Situationen, auf die ich mich
innerlich vorbereite, damit ich mich geschützt fühle.
Seit ich etwa zwölf Jahre alt war, kämpfe ich auch gegen extreme Stimmungsschwankungen. Selten erlebe ich inneren Frieden, meistens fühle ich entweder
ein überdrehtes, rauschhaftes Glücksgefühl oder tiefe Traurigkeit. Das Bezeichnende und Angsteinflößende an diesen extremen Gemütszuständen ist: Wenn
ich niedergeschlagen bin, dann sehe ich oft gar keine Hoffnung mehr, keinen
Trost, und kann mir gar nicht mehr vorstellen, dass ich vor kurzem noch guter
Laune war. Seit Langem kann ich mich dann kaum anders trösten als mit regelrechten Fressanfällen. Ich fühle mich dann so angespannt, so ausgebrannt, so
zermürbt, dass ich mich richtig zustopfe. In solchen Augenblicken empfinde ich
Essen als etwas Beruhigendes und kann gar nicht mehr damit aufhören. Das
Essen rettet mich dann: Ich entspanne mich, mir wird leichter um das Herz. Und
im umgekehrten Fall: Bin ich fröhlich, liegt mir die Welt zu Füßen, und ich bin
mir sicher, für immer so ausgelassen zu sein. Meine Stimmungen erfordern
keinen Anlass, sie wechseln oft vollkommen grundlos und überraschen mich;
ich bin hin- und hergeworfen und fühle mich demgegenüber machtlos.
Das Schreiben hilft mir meistens, in allen Verfassungen.
In den hoffnungslosen ...
Der Nebel zieht, der alles weiß verwischt.
Mein Herz, das ist so leer ... ein Kerkerraum ...
Ein kleiner Schritt nur und die Welt erlischt,
ein kleines Gift, in meinen Trank gemischt,
und alles wär’ zerstoben, wie ein Traum.
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... wie in den übermütigen:
Ich tanz so froh, ich lache und ich lebe.
Ich fliege durch mein Leben, singe Lieder.
Nun liegen andere im Schmerz danieder ...
Derweil ich heiter schwebe, heiter schwebe.
Und immer wieder beschleicht mich ein verstörendes Gefühl der Entfremdung,
innerhalb dieses wilden Tanzes der Gefühle. Weil ich oft wie ein Clown durch
das Leben hüpfe und mich manchmal im nächsten Augenblick schon wieder
melancholisch fühle, weiß ich gar nicht, wer ich selbst bin.
Ich denke manchmal: Tausend Masken
und dahinter bin nicht ich.
Tausend Narren voller Faxen
allesamt umringen mich.
Tausend Spiegel, mich zu täuschen,
zeigen deutlich mein Gesicht –
ganz betäubt von den Geräuschen –
bin ich's wirklich? Bin ich's nicht?
Das Leben kommt mir immer wieder wie ein Traum vor. Nicht unbedingt beängstigend, aber unwirklich. Diesen verstörenden Eindruck, von dem mir gesagt
wurde, dass er eines der typischsten Kennzeichen von Autismus ist, beschrieb
ich einmal so:
„Das Leben ist leise. Manchmal ist es so still, dass man hinhören muss, um es
zu vernehmen. Es verflüchtigt sich wie Rauch. Und es geschah mir manches
Mal, dass ich mein Leben nicht mehr finden konnte in dem Wirbel der Welt.
Wenn ich andere Menschen, die ich nicht kenne, erblicke auf der Straße oder
wo immer, fühle ich Angst, weil sie mir wie Puppen erscheinen, wie Marionetten
in einem Puppentheater. Oder wie Wolken. Mir ist oft so, als ob alle Menschen
Wolken wären, die sich nach geheimen Gesetzen, von denen sie selber nichts
ahnen, teilen und zusammenfinden, die sich vereinen und auseinandergleiten,
getrieben vom Wind, willenlos. ...
Die Welt ist leer. Das heißt, die Welt quillt über von Pracht, von Himmel, Nacht
und Wind, aber mir erscheint sie leer, weil ich keine Geborgenheit darin finde
und ich deshalb die Schönheit der Welt letztlich nicht schätzen kann. Neulich
Abend stand ich vor einer Wiese, auf der eine Herde Kühe im Abendlicht
weidete. Es dämmerte bereits und da fühlte ich: Diese Welt ist leer, wunderschön und leer. Für mich, denn ich bin allein auf der Welt, getrennt von der Welt.
Weil ich keinen Bezug zur Welt habe, keine Berührung mit ihr. Ich sitze im Kino
und sehe einen schwermütigen Film. Das ist mein Gefühl von der Welt. Das
Leben zieht an mir vorbei wie bunte Gemälde in einer Ausstellung; und so, wie
man die Blumen auf den Bildern der Maler nicht berühren kann, kann ich die
Steine, die Bäume, die Blätter nicht berühren. Ergreife ich einen Kiesel und
wiege ihn in meiner Hand, so will es mir scheinen, als wöge ich einen magischen Gegenstand – ich bin unfähig, den Kiesel zu halten und ihn einen Kiesel
sein zu lassen.“
31
Mit 17 Jahren hatten sich alle diese Herausforderungen meines Lebens so
verschlimmert, dass ich in äußerster Not einen – so qualvollen wie erfolglosen –
Psychiatrieaufenthalt antrat. Danach brauchte ich ein Dreivierteljahr, um wieder
zu mir selbst zu finden. In der Psychiatrie war das Schlimmste geschehen, was
ich nie für möglich gehalten hatte: Mein Lebenswille war erlahmt, meine
Lebensfreude, die mich alle Jahre hindurch aufrechterhalten hatte, war verschwunden, mein Kampfgeist, um dessen Willen ich nie aufgegeben hatte, war
erloschen. Am Ende dieser Zeit war ich nur noch zutiefst traurig, gefangen in
einer quälenden Apathie. Ich hatte nicht einmal mehr genug Motivation, nach
Hause zu gehen. Zu meinem Glück holte meine Mutter mich daraus und dank
ihrer Pflege gelang es mir langsam, zu meinen Kräften zurückzufinden.
Dazu hat natürlich auch meine Klasse beigetragen, die mir sehr an das Herz
gewachsen und für mich wie eine Familie geworden ist – und das ist eine sehr
beglückende Erfahrung, weil ich mich ja immer nach Freunden gesehnt habe,
die mich trotz meiner Andersartigkeit mögen. In der vierten Klasse, wo ich
solche Angst vor meinen Klassenkameraden hatte, hätte ich nie für möglich
gehalten, dass für mich die Schule einmal einer der schönsten Orte der Welt
werden würde!
Ich habe beschlossen, die Schwierigkeiten meines Lebens als Herausforderungen anzunehmen, und will es schaffen, trotz aller Probleme nun ein gutes Abitur
zu machen. Darauf freue ich mich jetzt. Dabei hilft es mir natürlich sehr, dass ich
im Sinn des Nachteilsausgleiches von dem Fach Mathematik befreit wurde.
Ich habe meinem Lebenswillen wieder gefunden. Ich will mich von nichts mehr
unterkriegen lassen.
Arne Andersen
Flensburg, 02. 11. 2008
32
2.4 Bericht von Arnes Mutter:
Arnes Autismus und ich1 – ein Tag aus unserem
Leben
Mein Tagebucheintrag vom 18. September 20042
Am Morgen stehe ich ganz wohlgemut auf. Es ist Samstag. Wir wollen heute
Arnes Sachen für das Forstpraktikum, die ich schon seit einiger Zeit zusammengetragen habe, sichten und anprobieren, damit Arne weiß, was er zu welcher
Gelegenheit anziehen muss. Er will außerdem noch immer fleißig Französisch
lernen.
Ich gehe also in die Küche und will uns ein feines Frühstück machen. Arne isst
zurzeit gerne ein Bananenmüsli. Ich bereite Tee für mich und frage ihn, als er
verschlafen in die Küche kommt und sich erstmal in meine Arme kuschelt, ob er
auch süßen Tee haben möchte. Das möchte er! Er geht ins Badezimmer und
kommt gleich wieder. Ich will gerade die Tüte Müsli aus dem Küchenschrank
holen, und da trifft mich der Schlag. Ich hatte sie vorgestern gekauft, es waren
500 g. Davon sind jetzt noch wenige Esslöffel übrig.
– Das kann ja wohl nicht wahr sein – sage ich und setze mich mit der Tüte in
der Hand auf meinen Küchenstuhl. – Du hast gestern, als ich weg war, nahezu
ein Pfund Müsli genascht! So fängt mein Tag schon wieder an! Ich hatte dir
gestern doch gerade vor dem Weggehen ein Müsli gemacht. Und zwei dicke
Brote für den Abend!
In seinem Gesicht geht jene Veränderung vor, die ich schon so lange kenne,
und mit der ich immer noch nicht umzugehen weiß. Es wird irgendwie zu etwas
Vordergründigem, hinter dem ich es arbeiten sehe. Angst steht in seinen Augen
und ich weiß um seinen fieberhaften Versuch, jetzt etwas zu finden, mit dem er
sich rausreden und mich beruhigen kann.
– Ich musste mich irgendwie trösten beim Arbeiten – sagte er schließlich. – Das
Französisch war so schwer. Ich dachte, ich könnte dann besser weiterarbeiten.
– Das hatten wir schon so oft – schreie ich – das ist Sucht, und du weißt das.
Suchtmittel muss man meiden. Ich gebe mir so viel Mühe, dich so zu ernähren,
dass du aufgrund der Vollwertigkeit deiner Nahrung kein nennenswertes
Bedürfnis nach Süßkram hast. Und kaum verlasse ich das Haus, da stopfst du
es massenhaft in dich hinein. Kann es denn nicht einmal einen Tag ohne irgendwelche bösen Überraschungen geben?
- Doch, Mama. Heute mache ich alles gut. Und ich werde auch nicht mehr
1
2
Christiane Andersen, [email protected]
Bei der Lektüre dieses Tagebuchauszugs bitte ich zu bedenken, dass Arne mir vor nunmehr vier Jahren
noch nicht erklären konnte, was mit ihm abgeht. Mir selbst war das damals auch nicht so klar wie heute.
Außerdem war ich mit Burnout-Symptomen in einer sehr schlechten körperlichen und seelischen
Verfassung. Wenn ich heute diesen Text lese, weiß ich natürlich, dass ich anders mit Arne hätte umgehen
müssen. Schon lange denke ich das und immer wieder. Dabei gelingt es sogar heute noch nicht immer.
Arne und ich haben schon lange das Gefühl, dass unsere so genannten Dramen – dazu unten auch noch
mehr – musterhaft und in gewisser Weise in unser Zusammensein eingewebt sind. Wir empfinden nicht
nur seinen Autismus als schicksalhaft, sondern auch die Verfassung gerade meiner sehr verletzten Seele,
für die Arnes Sosein oft verheerend war und ist. Das ist auch der Grund, warum ich ein lange geplantes
Buch über mein Leben mit meinem autistischen Kind noch nicht schreiben konnte. Wie kann ich Arnes
Autismus von meiner verletzlichen Seele und ihren Traumata trennen?
Arne ist vierzehn Jahre alt und sieht aus wie zehn. Er hat noch seine kindlich hohe Stimme – von Pubertät
ist äußerlich noch wenig zu spüren.
33
naschen. Gestern hatte ich das nicht im Griff, aber in Zukunft gelingt mir das.
Ganz bestimmt. – Er glaubt, was er da sagt. Er geht lieber in den Wahn1, als
dass er seine Felle oder, wie in diesem Fall, das Fell eines schönen Tages mit
mir, und das ist ihm sehr wichtig, davon schwimmen sieht.
– Du gehst in den Wahn – schreie ich. Und er:
– In den Wahn gehe ich nur, weil du so ein Drama machst!
Ich weiß, dass daran etwas Wahres2 ist. Gleichwohl: Es tut mir weh, alles. Ich
habe immer so schöne Bilder. Heute waren das die von einem schönen gemeinsamen Frühstück zum Wochenendbeginn. Und nun wieder diese Enttäuschung
und dieser Schmerz. Immer ist irgendetwas anderes. Immer ein anderes Symptom, das zutage tritt. Beängstigende Symptome, die ich immer wieder aushalte,
obwohl sie auch mir Angst machen, so wie jetzt diese Fressanfälle. Wie oft
waren es seine Ängste und die von ihnen hervorgerufenen Zwangshandlungen.
Zeitweilig hat er den ganzen Tag gesagt:
– Mama, die Ängste haben doch nicht Recht? – Und ich musste immer sagen:
– Nein, die Ängste haben nicht Recht. – Oft kam dann noch:
– Die Ängste sagen, dass die Ferien nicht schön werden, dass du stirbst,
dass.... Das stimmt doch nicht?
– Nein, Arne, das stimmt nicht.
Ich war die Einzige, die seine Ängste aushebeln konnte. Mit diesem einen rituellen Satz. Gleichwohl ist er dann immer ins Badezimmer gegangen und dreimal
im Kreis gelaufen, hat mit den Fingern geschnippt und was der Dinge sonst
noch waren, die seine Ängste ihm diktierten. Zurzeit ist das Grimassenschneiden besonders heftig. Er nennt das „gute Energien sammeln“. Er schließt dann
beispielsweise die Augen, und man sieht, wie sich hinter seinen geschlossenen
Lidern die Augäpfel verdrehen. Dabei nimmt er eine Kopfhaltung ein, als wollte
er den Himmel anflehen und wird dann ganz starr. Ich erschrecke mich jedes
Mal, wenn ich das sehe. Oft habe ich ihn gefragt, was er da macht und ob das
sein muss. Es muss sein. Er muss gute Energien sammeln.
Schon vor Jahren sollte Arne wegen dieser Ängste und Zwangshandlungen in
die Psychiatrie, schon vor Jahren sollte er chemische Medikamente3 dagegen
bekommen. Ich habe mich immer dagegen gewehrt. Er hat bis heute nicht ein
einziges Mal solche Medikamente bekommen. Nur Homöopathie. Und ich habe
auch nicht zugelassen, dass er eingewiesen wird. Wenn ich Menschen, die Arne
kennen, erzähle, dass er in die Psychiatrie überwiesen werden sollte, wollen sie
es nie glauben. Gut, von seinen Ängsten und all den anderen Symptomen
haben wenige etwas wirklich mitbekommen. Er ist so intelligent, dass er das
außen zum großen Teil verstecken kann. Hier zuhause ist es dann umso schlimmer. Gleichwohl: Wie viele Menschen werden wohl in Psychiatrien gehalten, um
die es nicht anders steht als um Arne? Eine grausame Vorstellung. Arne lebt bei
mir – bei allem täglichen Auf und Ab und bei allem täglichen Drama – ein glückliches und erfülltes Leben. Ein Leben, das er in einer solchen Einrichtung niemals führen könnte.
Nun also wieder das Thema Sucht. Nicht nur dass er eine Milcheiweiß-, eine
1
2
3
34
So nenne ich seine Ausflucht in Illusionen.
Siehe dazu auch unten, Fußnote 7.
Als er solche dann 2007 in der Psychiatrie – ich wusste keinen Ausweg mehr – bekommen hat, waren die
Folgen verheerend.
Eiklar- und diverse Getreideallergien hat, er reagiert auch süchtig auf Mehlspeisen und Zucker. Er weiß das alles. Und er hat von mir auch erfahren, was
die Folgen sind. Und das hat er auch verstanden. Es gibt auch lange Zeiten, in
denen er anwenden kann, was unsere gemeinsamen Grundsätze sind. Dann
kommt er nach Hause von einer Schulveranstaltung und sagt:
– Den Süßkram habe ich heute nicht gegessen, es gab auch gesunde Sachen,
die habe ich genommen.
In diesen Zeiten kann ich auch steuern, was er hier isst. Nun scheint aber
wieder eine seiner schwachen Zeiten zu sein. Dann nutzt er jede Gelegenheit
und geht in die Küche und nascht. Massenhaft. Müsli am liebsten, Rosinen,
Nüsse, Honig, aber auch Butter. Er liebt Butter über alles und kann sie so essen
wie andere Leute Eis.
An diesem Morgen stehe ich schließlich wieder auf von meinem Küchenstuhl
und mache aus dem Rest des Müslis sein Frühstück. Dann will ich mir ein Brot
schmieren, und da trifft mich der Schlag ein weiteres Mal: Das Butterfass ist
auch leer! Die Diskussion geht von vorne los mit demselben Ergebnis. Danach
habe ich Kopfschmerzen und mein Mut und meine Kraft1 sind für diesen Tag
erstmal hin. Es geht nicht um die vernaschten Lebensmittel. Es geht darum,
dass er mir das wenigstens sagt und ich nicht so ahnungslos überrascht werde.
Und es geht darum, dass ich panisch werde, weil ich all der Symptome nicht
mehr Herr werden kann. Ich habe einfach Angst, es nicht mehr zu schaffen. Es
hört nie auf. Wenn uns nicht das eine Symptom zu schaffen macht, ist es das
andere. Ich frühstücke appetitlos und mache dann die Küchenarbeiten, während
er ins Bad geht.
Anschließend gehen wir in die Stube, wo ich alle seine Sachen „aufgebaut“
habe, die er mitnehmen soll in das Forstpraktikum, das zwei Wochen lang in
einem entsprechenden Heim auf dem Lande abgehalten wird. Dazu hole ich
meine vorbereitete Liste. Wir gehen sie Stück für Stück und Anlass für Anlass
durch und probieren alles an. Ich erkläre und rede unentwegt, damit er sich
einprägt, was er bei welchem Wetter und welcher Gelegenheit anziehen soll.
Dabei lässt er sich von mir anziehen, wie eine Schaufensterpuppe. Das
Geschehen geht vollkommen an ihm vorbei. Aber er sagt immer:
–Ja, Mama, das mache ich. Das mache ich so. – Aber ich sehe an seinem Gesicht, dass er es nicht wirklich aufnimmt.
– Arne, wo bist du?
– Ich bin hier, Mama! – Und dann betet er mir den letzten Satz, den ich gesagt
habe, aus dem Nachhall in seinem Gedächtnis wieder runter:
– Ich soll die Regenhose und die Regenjacke anziehen, wenn es gießt. Das
mache ich, Mama!
Seine Antworten sind mechanisch – immer wieder macht er seine Grimassen.
Als wir schließlich fertig sind, ist es gegen Mittag und ich bin sehr erschöpft. Wir
sind die Liste durchgegangen und haben alles besprochen. Danach gibt es viele
hingeworfene Kleiderhaufen auf dem Boden, welche ich alle ordne, falte und
wieder sorgfältig hinlege. Arne kann das nicht. Wir haben es geübt. Er braucht
für ein Kleidungsstück unvorstellbar viel Zeit. Und Übung scheint hier – wie bei
allen seinen dyspraktischen Fehlleistungen – nicht den Meister nicht zu
machen. Einen Pullover zusammenzulegen ist und bleibt für ihn ein Kraftakt.
1
Meine Vorräte an Kraft verbrauchen sich immer schneller, schon 2004 war ich seit Jahren ausgebrannt.
35
Irgendwann habe ich beschlossen, seine ohnehin minimierten Kräfte und seine
ständig fehlende Zeit für noch Wichtigeres zu verwenden. Und mache diese
Dinge selbst. Was nicht heißt, dass es mir nicht wehtut, wenn er seine Hilfe
nicht wenigstens anbietet. Und das tut er nicht. Wobei – es geht wohl nicht um
sein Hilfsangebot. Es geht darum, dass er mich und das, was ich tue, wahrnimmt. Und das tut er auch nicht. Nie. Er ist an seinen Schreibtisch gegangen.
Mein Rücken tut so weh. Ich war noch nicht im Bad und trage immer noch mein
Schlafzeug. Als ich wieder Ordnung in unserer Stube habe, gehe ich nach ihm
sehen. So, wie die Tür zu seinem Zimmer aufgeht, sehe ich ihn zusammenzucken und sich eilig seinem Buch zuwenden. Auf mein Herz fällt ein weiterer
Schatten. Das bedeutet, er arbeitet nicht. Seit Wochen ist vereinbart, dass ich
ihn morgen in Französisch prüfe, und er hatte gesagt, dass er noch daran arbeiten müsse.
– Arne, hör auf. Das hat keinen Zweck. Ich sehe es dir an.
– Doch, Mama! Ich arbeite! Stör mich nicht!
Ich müsste ihn zwingen, den Schreibtisch zu verlassen. Ich sehe es seinem
Gesicht an, dass er nicht arbeiten kann. Wenn Arne gerne und gut lernt, dann
leuchten seine Augen, dann hört man ihn mit Papier und Gerät rascheln, dann
spricht er – nicht nur bei den Sprachen – oft laut vor sich hin. Heute sind seine
Augen stumpf, das Gesicht leblos und in unseren Diskussionen kalt und abwesend. Er wirkt träge und dumpf. Seine Antworten sind mechanisch. Ich müsste
ihn zwingen rauszugehen. Ich schlage es ihm auch vor:
– Geh jetzt zum Bäcker, das wird dir gut tun! – Aber er will nicht. Und gegen
seinen Dickkopf anzugehen, ist mir nicht immer gegeben. Heute jedenfalls nicht.
Nicht in meiner Verfassung nach dieser schrecklichen Woche. Also resigniere
ich und lasse ihn da sitzen. Ich bitte ihn nicht einmal, mit mir in den Keller zu
gehen und die Reisetasche heraufzuholen. Ich mache das allein. Ich bin zu
erschöpft, um ihm überhaupt zu erklären, was zu tun ist. Meine Kopfschmerzen
werden schlimmer. Gegen 1 Uhr, als ich sein Zimmer betrete, um Wäsche
hereinzubringen, finde ich ihn einen Roman lesend.
Der Punkt X ist da. Mich durchfährt ein wahnsinniger Schmerz. Meine Kopfschmerzen brüllen, ich könnte alles kaputt schlagen, schreien wie am Spieß, ich
würde ihm am liebsten in seine Eisfresse schlagen, und zwar solange, bis er
Berührung zeigt. Was ich in solchen Augenblicken durchmache, entzieht sich
jeder Beschreibung. Ein physischer Schmerz zwischen Herz und Magen, der
mich zu zerreißen droht. Ich habe das Gefühl, dass der Schmerz mich umbringt.
Und habe nur einen Gedanken:
– Ich kann nicht mehr. Er muss ins Heim. Da nimmt niemand persönlich, wenn
er sein Ding nicht macht. Jedenfalls halte ich es nicht mehr aus. – Ich gehe in
die Küche und nehme einen Schluck aus der Wodkaflasche und kippe das Zeug
mit Todesverachtung in mich hinein. Wenn es mir nur den brennenden Schmerz
ein wenig nimmt. Das tut es nach einer Weile und einer Zigarette auf dem
Balkon.
Ich komme wieder in sein Zimmer. In seinen Augen steht Angst1. Sein Gesicht
1
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Bei autistischen Kindern „dringt wenig oder gar nichts nach außen, und auch kein äußeres Ereignis dringt
in ihre Eingeschlossenheit in den Wassern der Gebärmutter. Keine emotionale Erfahrung überwindet ihre
Barrieren, wo sie außer panischer Angst oder Wut noch andere erkennbare Reaktionen bewirken könnte.“
So Liz Greene, Neptun, 1996, 419. – Heute, im September 2008, als ich diesen Artikel für die INNENWELTEN vorbereite, ist mir klarer als damals, dass dies die Grundlage unserer langjährigen, sich immer
wiederholenden Dramen beschreibt. Arne hat sich bei dem geringsten Anlass emotional manipuliert
gefühlt und dann immer nur Angst gezeigt und Wut unterdrückt. Ich aber wollte, je nach täglich vielfälti-
ist blass und kalt, abweisend und erstarrt. Es zeigt verhohlene Wut und eiskalte
Distanz gleichzeitig. Dieses Gesicht macht mich rasend. Da ich aber mein Beruhigungsritual gerade hinter mich gebracht habe, bin ich in der Lage, einigermaßen ruhig zu fragen:
– Arne, wo bist du?
– Ich bin gar nicht da.
– Wo bist du denn?
– Ich träume.
– Von was?
– Ich bin mit meiner Klasse beim Forstpraktikum. – Seine Antworten sind so einsilbig wie widerwillig.
– Arne, ich werde verrückt. Nicht nur, dass du wieder nicht arbeitest, du nimmst
mich auch den ganzen Morgen nicht wahr, nicht mich und nichts von dem, was
ich für dich tue und die ganze Woche für dich und diese Reise schon getan
habe.
– Das tut mir leid, kommt es aalglatt von ihm. – Aber es tut ihm nicht leid. Man
kann das sehen. Und fühlen. Es kommt nichts an ihn heran. Ich kenne das
schon. Aber ich gewöhne mich nie an den Schmerz.
– Gibt es irgendetwas, was ich für dich tun kann? – kommt es ebenso glatt von
ihm.
– Ja, geh Brot holen – sage ich müde.
Er zieht los und ich glaube es selbst kaum: Im Treppenhaus höre ich ihn singen.
Vermutlich ist er auf seiner Klassenfahrt und sie singen gerade am Lagerfeuer
... Ich nehme eine Aspirin. Dann ein Bad. Brot holen beim Bäcker kostet mich
hochgegriffen 20 Minuten. Arne wird eine Stunde brauchen. In der Zeit kann ich
baden. Es soll mich entspannen. Nach dem Bad kommt er wieder. Ich sage:
– Ich lege mich höchstens eine Stunde hin. Danach mache ich uns was zu
essen. Für den Fall, dass du es bis dahin nicht aushalten kannst, gibt es Möhren in der Küche und noch einige Scheiben Brot. Davon kannst du einen
Happen essen. – Ich lege mich hin. Als ich nach einer knappen Stunde wieder
komme, hat er jede Menge Brot gegessen, also alles, was geschnitten war, und
alle Möhren sind weg. Er ist nun satt. Enttäuscht koche nur für mich alleine.
Während ich esse, sprechen wir. Seine professorale Wortwahl ist selbst für mich
immer noch auffallend. Ich kann sie heute gar nicht wiedergeben. Er spricht im
Tonfall eines Gelehrten über sich und seinen heutigen Zustand. Und es ist
stimmig, was er sagt.
Er geht wieder an seinen Schreibtisch. Ich hole die Wäsche rein und bügele.
Etwas in mir signalisiert nach einiger Zeit, dass er nichts tut.
– Arne, ich höre nichts.
gem Anlass, Betroffenheit sehen und Mitgefühl und Anerkennung für so Vieles. Das habe ich nie bekommen. Erst in der Rückblende oder wenn er selbst nicht beteiligt ist, kann Arne solche Gefühle zeigen.
Auch ist mir bis heute nur theoretisch klar, dass er, wenn er spürt, dass er emotional gefordert wird, außer
Angst und Wut nichts fühlen kann. Meine „emotionalen Forderungen“ erscheinen mir nicht als solche. Ich
will einfach nur wahrgenommen werden. Meine Seele wird nie begreifen, dass er mich und alles, was ich
für ihn tue, nicht wahrnimmt – „das kommt bei mir nicht an“, sagt er einfach, dass er „im Paradiesgarten
eingesperrt ist und jenseits der Mauern dieses Gartens außer der Gefahr des Ausgelöschtwerdens nichts
mehr erkennen kann“. – Liz Greene, ebenda.
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– Mama, ich muss mich gerade sammeln.
Ich arbeite weiter. Das Gefühl stellt sich wieder ein.
– Arne, ich höre nichts.
– Ich muss erst wieder reinkommen, Mama!
Nach einer weiteren Weile:
– Arne, ich höre nichts!
– Mama, ich lerne!!!
Eine Stunde vergeht. Das signalisierende Gefühl ist immer noch da.
– Arne, hör auf! Hör' endlich auf! Es hat keinen Sinn!
– Nein!!!
So geht es hin und her. Ich bin erschöpft. Kann nicht mehr. Mein Rücken will
durchbrechen, meine Kopfschmerzen sind dumpf. Meine Seele fühlt sich missachtet. Er sitzt da untätig oder liest Romane und ich rackere mich mit aller Härte
gegen mich selbst für ihn und seine Reise ab. Ich habe die Mutter seines Freundes gefragt, wie lange sie gebraucht haben, die Sachen für die Reise zu richten.
– Wir haben das hier und da besprochen. Bent hat das selbst zusammengetragen. Ich hatte weiter nichts damit zu tun. – Das war ihre Antwort. Und mich
kostet das jetzt schon seit Tagen viele planerische Gedanken, Überlegungen,
mit welcher Kleidung er wohl am einfachsten zurechtkommt; Listen habe ich
erstellt, die er mitnimmt und die ihn an alles erinnern sollen, nicht zuletzt habe
ich das Fahrrad aus dem Keller geholt und überprüft und jemanden gebeten,
das Licht zu reparieren und Luft zu pumpen – und die ganze Arbeit heute.
– Arne, du arbeitest nicht und du hilfst mir auch nicht. Du vertust die ganze Zeit
und ich weiß nicht, wie ich es schaffen soll.
Er ist nicht zu bewegen. Er kann einfach nicht sehen, was mit mir ist. Ich brülle
ihn an:
– Raus! Du gehst jetzt raus. Ich halte es nicht mehr aus!
– Gut, dann nehme ich mein Buch und setze mich auf die Treppe im Hof!
– Tu, was du willst, aber geh!!
Es ist wieder so weit, dass nur eine räumliche Trennung weiter hilft. Wir wissen
das beide. Er geht nach unten und da sehe ich ihn gemütlich auf der Treppe
sitzen. Ich arbeite weiter.
Nach einer halben Stunde fängt es an zu regnen, und er kommt wieder herein.
Sein Gesicht ist belebt und seine Augen sind nicht mehr so stumpf.
– Das hat mir gut getan – sagt er aufmunternd –, jetzt kann ich hier gut weiter
machen!
Das Gefühl in mir stellt sich nach einer Weile wieder ein.
– Arne, das hört sich nicht nach Arbeiten an.
– Stimmt!
Das Telefon klingelt. Ich telefoniere eine Weile. Dann kommt er herein und will
wissen, was es Neues gibt. Ich sage es ihm und frage dann:
– Was tust du?
38
– Nichts.
– Hör jetzt endlich auf! – brülle ich wieder und er stimmt zu. Er braucht nun
45 Minuten, um seinen Ranzen für den ersten Schultag zu packen. Auf dem Klo
finde ich das Buch „Cäsar lässt grüßen“ versteckt.
Ich mache uns ein feines Abendessen. Habe zum ersten Mal heute Appetit.
Arne kommt strahlend in die Küche und isst mit Vergnügen und Genuss.
– Jetzt bist du wie ausgewechselt – sage ich erstaunt, obwohl ich das ja schon
ungezählte Male erlebt habe –, warum?
– Weil es Essen gibt, Mama! Das erdet mich! Essen bringt mich wieder in die
Welt. Ich war den ganzen Tag nicht da. Das fing schon heute Morgen an mit der
Vorstellung, dass ich heute Französisch machen musste. Ich gehe dann einfach
weg und immer weiter weg, weil es nichts gibt, das mich anmacht.
Ich muss funktionieren, auch ohne, dass mich das anmacht, aber in diesem
Augenblick bin ich nur froh, dass wir wieder Kontakt haben. Arne ist wirklich wie
ausgewechselt. Sein Gesicht ist lebendig, sein Tonfall sprühend und seine
Worte sind warm, wenn sie sich an mich richten. Da sitzt ein vollkommen anderer Junge! Er strahlt mich an und sagt voller Optimismus.
– Mama, wir schaffen das! Ich weiß das! Wir haben schon so viel geschafft.
Morgen arbeite ich noch einmal mit aller Kraft und dann bestehe ich deine
Prüfung und dann machen wir nach dem Forstpraktikum eine herrliche Reise.
Darauf freue ich mich ja schon so!
Er steckt mich an mit seiner Begeisterung1 und mir geht es viel besser. Das
erste Mal eigentlich heute, dass ich mich einigermaßen wohlfühle. Ich leide wohl
mehr, als mir selbst klar ist, wenn ich keinen Zugang zu ihm finde, wenn wir
keinen Kontakt haben. Nach dem Essen mache ich die Küche und er soll
baden. Dann haben wir das nicht morgen noch zu tun. Er richtet sich das Bad
mit meiner Hilfe und mit dem Badezettel, den ich ihm nachtrage und auf dem
notiert ist, an was er denken muss. Auf dem Zettel steht nichts von einem CDPlayer. Aber den vergisst er nie. Das erste, was er ins Badezimmer trägt, wenn
er baden will, ist sein tragbarer roter CD-Player, den er letztes Jahr zu Weihnachten bekommen hat. Dann holt er sich seine augenblickliche Lieblingsoper
und legt sie ein. Und dann braucht er bis zu drei Stunden, bis er wieder aus dem
Wasser kommt. Ich höre lauter, als mir lieb ist, seine Opernarien.
– Wenn du wüsstest, wie ich das genieße – sagt er anschließend strahlend und
sauber und entspannt zu mir.
Dann gehen wir ins Bett. In der Nacht werde ich wach von seiner liebsten Kinderstimme, die ich durch die offene Tür höre:
– Mama! – Ich komme aus dem tiefsten Schlaf:
– Was ist?
– Ich hab dich so lieb!
– Ich dich auch, mein Nasenbär – murmele ich verschlafen. Und als ich gerade
wieder in den Schlaf sinken will:
– Mama!
– Was ist, Arne?
– Ich lieb dich so!
Dr. Christiane Andersen
1
... und ich realisiere nicht, dass er mich in seine Illusionen verwickelt.
39
2.5 Sicht der Schule: Die Deutschlehrerin
(B. Naefe-Storm)
Arne kam in der sechsten Klasse in die Freie Waldorfschule Flensburg. Er kam
in eine recht große Klasse, die, wie in der Waldorfschule üblich, nicht nach Leistungskriterien ausgelesen ist. Bis heute befindet Arne sich in diesem Klassenverband.
Arne fiel von Anfang an auf, die Gestalt eher schmächtig, die Augen riesengroß,
die Stimme fast immer zu laut, überbordend, ohne erkennbaren Regulator. Sehr
schnell gelang es der Klasse, Arne zu integrieren. Man kennt ihn, weiß um ihn,
schätzt ihn, hält ihn aus, wie jeden anderen Schüler, jede andere Schülerin
auch.
Die pädagogischen Prinzipien der Waldorfschule kamen und kommen Arne sehr
entgegen. Der Klassenverband besteht von der 1. bis zur 12. Klasse und wird
in den ersten acht Jahren von ein- und derselben Lehrkraft betreut. Ab der
9. Klasse übernimmt ein Team die Klassenbetreuung, welches wiederum bis
zum Ende der Schulzeit die Klasse begleitet.
Diese stabilen Rahmenbedingungen machen es Arne möglich, sich einzustellen
und adäquate Rollenmodelle zu entwickeln. Zu den Mitschülerinnen und Mitschülern haben sich ebenso stabile Beziehungen entwickelt; Arne mag sich
zurzeit ein Leben ohne diese verlässliche und vertraute Peergroup gar nicht
mehr vorstellen.
Natürlich trägt auch seine hohe Begabung zu seiner Akzeptanz nicht unwesentlich bei. Ich begleite die Klasse seit der Neunten in Deutsch und Geschichte:
Wann immer mir etwas entfallen ist, ein historischer Zusammenhang, eine
Jahreszahl, ein Autorenname oder Werktitel, kein Problem – Arne weiß es. Er
ist akzeptiert als Instanz, sein Wissen wird geschätzt, auch bewundert.
Mag er den einen oder anderen auch mal nerven damit, dass er alles weiß:
Arne ist ein unverzichtbares Mitglied der Klasse. Ganz besonders stolz und
glücklich sind wir als Klassen- und Schulgemeinschaft, dass es mit der großartigen Hilfe von Frau Hausotter gelungen ist, Arne trotz seiner gravierenden
Teilleistungsschwäche in Mathematik in den Abijahrgang aufzunehmen.
Es ist mir und meinen Kolleginnen und Kollegen immer eine Herausforderung
gewesen, diesen so begabten jungen Menschen so zu integrieren, dass er
beschulbar ist. Dass dies so erfolgreich gelingen konnte, ist ein Glück und eine
große Bereicherung. Es wäre aber niemals gelungen, wenn nicht Arnes Klasse
als Gemeinschaft dazu in der Lage gewesen wäre, ihn anzunehmen.
Erst im Erkennen und Aushalten der Stärken und Schwächen des anderen
bildet sich wahre Gemeinschaft, in der Individuen so sein dürfen, wie sie sind.
So entwickeln sich gelebte Toleranz und Freiheit. Letztendlich verdanken wir
Arne diesen Lernprozess – aber auch einen belesenen, klugen Gesprächspartner auf Augenhöhe – für mich als Lehrerin ein Glück.
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3. Die Träumer – ein Schulprojekt
im Rahmen der Abiturvorbereitungen
3.1 Die Bedeutung der Jahresarbeit in der
zwölften Klasse der Waldorfschule
(B. Naefe-Storm)
Die 12. Klasse der Waldorfschule hat zwei Höhepunkte:
Als Kollektiv stellt sich die Klasse der Aufgabe, ein Theaterstück zu inszenieren
und zu spielen; jede einzelne Schülerin, jeder Schüler stellt sich der individuellen Herausforderung, sich ein ganzes Jahr, also seit der 11. Klasse, ein
Thema zu erarbeiten.
Egal ob das Thema eher theoretisch, handwerklich oder künstlerisch ist, die
Ausarbeitung soll auf zwei Ebenen geschehen, theoretisch und praktisch. Dies
kann z. B. heißen, das Thema „Schlaf und Traum“ wird theoretisch abgehandelt
und künstlerisch in selbst gemalten Bildern thematisiert.
Jede Arbeit wird von einer Mentorin oder einem Mentor begleitet, der über den
Fortgang der Arbeit und die Qualität wacht. Die Jahresarbeiten werden in einem
individuellen Vortrag und einer flankierenden Ausstellung der Öffentlichkeit
präsentiert. Die Beurteilung durch den Mentor fließt ins Abschlusszeugnis ein,
als besondere Lernleistung.
Der Prozess der Jahresarbeit beinhaltet alle Stufen eines Entwicklungsweges
inklusive Frust, Verzweiflung, Langeweile, Leistungsdruck, Freude, Stolz und
ein ungeheures Gefühl des Triumphes, wenn das fertige Ergebnis präsentiert
wird. Die Schülerin oder der Schüler trägt die Verantwortung für das, was sie
oder er tut, die Korrektur kommt aus der Materie selbst. Es ist eine wichtige
Erfahrung, wenn man von der Wirklichkeit korrigiert wird und nicht von abstrakten Parametern.
Wenn man an einem Werkstück zu viel abraspelt, in einem Bild die Farbe nicht
trocknen lässt – überzeugt das Ganze nicht mehr und es lässt sich nicht mit
einem Mouseclick wieder in Ordnung bringen. Dies sind geradezu heilsame
Prozesse.
Arne hat als Jahresarbeit ein Theaterstück geschrieben – „Die Träumer“, das
von einigen Mitschülerinnen und -schülern aufgeführt und inszeniert wurde.
Das Schreiben eines Stückes ist der einsame Prozess des Autors! Das auf die
Bühne Bringen des eigenen Stückes ist ein brisanter Prozess, der nicht nur für
einen autistischen Verfasser eine große Herausforderung bedeutet!
41
3.2 Erlebnisbericht mit Arne Andersen
– eine Mitschülerin als „Mentorin“ (Johanna Stribrny)
Meine ersten Begegnungen mit Arne liegen zeitlich schon etwas zurück,
genauer gesagt: vier bis fünf Jahre. Damals war es schwer, sich ein ernsthaftes
Bild von ihm zu machen, da er an dem allgemeinen Schulleben nicht besonders
auffällig teilgenommen hat – meist sah man ihn in der Pause in ein Gespräch
oder Buch vertieft oder völlig in Gedanken, teils sogar so tief, dass er kaum
ansprechbar war und oft richtig erschrak, wenn man ihn ansprach. Doch in den
nächsten Jahren bekam ich durch gemeinsame Freunde einen näheren Zugang
zu ihm; das heißt, wir sahen uns im Bus oder in der Schule öfter und kamen so
ins Gespräch.
Manches Mal erzählte er mir von den Problemen mit seiner Krankheit. In dieser
Zeit habe ich ihn, wenn er mit Freunden unterwegs und zusammen war, entspannt, interessiert und aufgeschlossen erlebt – bereicherte er doch alle
Gespräche durch sein Wissen. Oft änderte sich seine Stimmung jedoch zunehmend. Er wurde teils stiller, wirkte beinahe abweisend und zog sich in sich
zurück – kurz, er schien mit den Gedanken ganz woanders zu sein. Dieses
Phänomen der Stimmungsschwankungen habe ich bei ihm oft beobachtet.
Meist hat er jedoch eine positive, freundliche und offene Ausstrahlung, die
einige Menschen vielleicht als verträumt oder gar kindlich deuten könnten, was
es ihnen dann aber unmöglich macht, seine optimistische Grundeinstellung zu
verstehen und anzunehmen.
Diese Grundeinstellung kam ihm und mir während der Theaterproben zu seiner
Jahresarbeit, dem selbst geschriebenen Stück „Die Träumer“, zugute. Mit so
einer Einstellung lässt sich, meiner Meinung nach, nämlich viel mehr erreichen,
als mit ständiger Kritik und Stress. Die Proben waren trotzdem nicht immer
einfach, was aber hauptsächlich an der Unkoordiniertheit einiger Mitspieler und
Arne lag.
Arne fiel es oft nicht leicht, seine Ideen, Wünsche und Vorstellungen von den
Szenen des Stückes so zu formulieren, dass es allen verständlich war. Vor
allem waren die Vorstellungen davon, wie diese oder jene Person gespielt werden sollte, doch unterschiedlich, und so war es schwierig, alles unter einen Hut
zu bringen. Den Großteil der Probenzeit brachten wir mit Textproben und dem
Ausprobieren der verschiedenen Darstellungsweisen von Personen und Szenen
zu. Das alles hat sehr viel Geduld, Kraft und vor allem Nerven gekostet; doch
Arne hat das alles gut gemeistert; erst, als in der Hauptprobe die Texte immer
noch nicht richtig saßen, war auch bei ihm das Maß voll. Natürlich kam es auch
vorher hin und wieder zu Spannungen, welche sich aber bald in Luft auflösten.
Im Allgemeinen habe ich Arne als einen geduldigen, höflichen und verständnisvollen Regisseur erlebt, jedoch auch immer wieder durch seine Krankheit hilflos
und haltlos. So bat er mich nach einiger Zeit, ob ich bei den Proben mal dabei
sein könnte, da er sich teilweise nicht ernst genommen fühlte und seine Weisheit in Sachen Durchsetzungsvermögen ziemlich am Ende war. Während der
Proben war er dann ganz in seinem Element, der Sprache. Er blühte richtig auf
und zeigte soviel Begeisterung und Euphorie, dass es eine wahre Freude war.
Leider sprang dieser Funke erst spät oder schwach auf die Schauspieler über
und trotzdem gab Arne nicht auf, was ich doch sehr bewunderte, da alle Schau-
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spielerinnen und Schauspieler Laien und gleichzeitig Mitschüler waren, was
natürlich die Hürde noch größer machte, sich etwas von ihm sagen zu lassen
oder ihn, in seiner fallweise ausbrechenden Rage, wirklich ernst zu nehmen.
Nachdem ich mich in das Stück und die einzelnen Rollen und Schauspieler eingearbeitet hatte, blieb nicht mehr viel Zeit – die Aufführung stand bevor, wir
hatten noch zwei Wochen. Es wurde dann auch immer stressiger und wir hatten
große Mühe, alle Beteiligten bei Laune und vor allem bei den angesetzten
Probenterminen zu halten. Arne gelang es nun immer öfter, sich durchzusetzen,
und seine Vorschläge, sowohl für Regie als auch für Kostüme und Requisiten,
fanden immer mehr Anklang. Ich begab mich nun immer öfter in Einzelproben
und Arne übernahm die Gesamt- und Durchlaufproben.
Wirklich alles fertig war, glaube ich, erst bei der Aufführung, aber das reichte ja
nun auch. Die Aufführung wurde allerdings wegen der Realschulklausuren
verschoben und somit hatten wir wieder eine lange Durststrecke, die es durchzuhalten galt. Das ganze Stück und auch die Herangehensweise aller Beteiligten veränderten sich nun deutlich, leider nicht immer positiv, da einige schon
keine Lust mehr hatten.
Trotz allem war die Aufführung ein voller Erfolg und Arne strahlte am Ende von
einem Ohr zum andern. Letztendlich glaube ich, dass diese lange Phase des
Durchhaltens und bei einem Thema bleiben nicht nur Arne sehr viel gebracht
hat: Es hat die allgemeine Geduld doch sehr gefördert – für Arne ein wunderbarer Lernprozess fürs ganze Leben.
Ich bin sehr froh, dass ich diese ganze Zeit begleiten durfte und so viele tolle
Menschen erleben konnte. Letztendlich, denke ich, ist Arne auf einem guten
Weg und es freut mich, dass ihm nun auch die Möglichkeit gegeben wird, das
Abitur zu meistern; dabei wünsche ich ihm, dass er die Fähigkeiten, die er in
diesen Probenphasen erlangt hat, anzuwenden weiß.
43
3.3 Die Träumer – das Theaterstück 2007
(Arne Andersen)
Einführung – 21. Februar 2008
Das Theaterstück „Die Träumer“ habe ich auf Anregungen aus meiner Klasse
geschrieben. Wir suchten ein Theaterstück für die zwölfte Klasse. Einige hatten
die Idee, dass ich uns doch ein Stück schreiben könnte. Erst wollte ich nicht,
aber eines Abends habe ich mich hingesetzt. Am Mittag zuvor hatte ich die Idee
gehabt, dass das Stück von Jugendlichen handeln sollte, die sich Geld stehlen,
um sich ihre größten Wünsche erfüllen zu können.
Man hat mich gefragt, wie ich auf die einzelnen Inhalte und Gestalten gekommen bin. Darüber musste ich nachdenken. In der Tat war es so, dass – einmal
angefangen – mir die Handlung wie von selbst einfiel. Immer, wenn ich schrieb,
setzte sich die Geschichte dieser Gruppe von Jugendlichen wie ein Puzzle
zusammen. Während ich schrieb, erinnerte ich mich an viele verschiedene
Eindrücke, Nachrichten und Erinnerungen, die mich seit Längerem beschäftigten. Es entstanden Szenen vor meinen inneren Augen, die ich nur noch
beschreiben musste.
So erinnerte ich mich an einen Bericht, den ich im Radio gehört hatte und der
aufzeigte, wie viele Flüchtlinge hier in Deutschland in Asylantenheimen in
elenden Verhältnissen hausen. Es wurde auch gesagt, dass man sich angesichts der Ausweglosigkeit ihrer Lage nicht wundern müsse, wenn diese
Jugendlichen wütend und gewalttätig würden. Auf einer schulinternen Veranstaltung „Tag gegen Rechts“ stieß ich auf einen Zeitungsartikel, der von einem
Fall rechtsradikaler Gewalt handelte. Dort wurde gezeigt, wie neonazistische
Gewalttäter sich an einem kleinen Jungen ausländischer Herkunft vergingen.
Ich fragte mich, was aus dem Opfer geworden war und wie es mit seinen
seelischen Verletzungen fertig wurde. Dieses Geschehnis regte mich zu der
Figur des indischen Jungen Ravi an, der als Zwölfjähriger von zwei Skinheads
grausam verprügelt wurde und dessen größter Wunsch es ist, diese beiden für
ihre Taten büßen zu lassen. Er will es ihnen heimzahlen, er will ihnen die Qual
und damit die Entwürdigung zurückgeben. Er will so seine Würde wiedererlangen, und seine Fähigkeit, dazuzugehören.
Ein anderes Thema, welches mich während des letzten Jahres beschäftigte,
war die Sterbehilfe. Die bekannte und beliebte Barbara Rütting, die mit
80 Jahren als Abgeordnete der Grünen im Bayrischen Landtag sitzt und deren
neuestes Buch gerade wieder die Bestsellerlisten erstürmt hat, vertritt mit
Selbstbewusstsein ihre Mitgliedschaft in „Dignitas“, einer schweizerischen
Sterbehilfeorganisation. Sie möchte nicht von den Möglichkeiten der modernen
Medizin am Leben gehalten werden, um dann in einem unbrauchbaren,
leidenden Körper gefangen zu sein. In Deutschland ist es den Ärzten jedoch
verboten, Sterbehilfe zu leisten. Hier muss man sich selbst töten, wenn man
nicht mehr leben will. Darf das Gesetz einen Menschen überhaupt zum Leben
zwingen?
In meinem Stück lasse ich einen alten Mann auftreten, der zermürbt, gequält
und seines Lebens müde ist. Er hat keine Angehörigen und ist Insasse einer
44
Psychiatrie, von wo er weggelaufen ist. Er wünscht sich zutiefst, in Frieden zu
sterben. Er sehnt sich nach Erlösung. Ihm wird dieser Wunsch erfüllt – gegen
alle Gebote.
Auch andere alarmierende Nachrichten ereilen uns immer wieder: zum Beispiel
solche von Jugendlichen, die sich auf so genannten Flatratepartys um ihr Leben
trinken. In der öffentlichen Diskussion, die solchen Ereignissen zu folgen pflegt,
werden schnell Rufe laut, den Jugendlichen den Zugang zum Alkohol noch
mehr zu erschweren. So, als ob der Alkohol daran schuld sei, dass die jungen
Menschen danach greifen, und als ob man nur den Alkohol verbieten müsste,
um allen Schwierigkeiten ein Ende zu bereiten. Niemand scheint sich die Frage
zu stellen, warum Drogen unter Jugendlichen so begehrt sind und warum so
viele junge Menschen ihnen verfallen und sogar daran sterben. Vielleicht gibt es
ja so viele Unsicherheiten und Ängste in ihrem Leben, dass sie sich betäuben
müssen. Und wenn dem so ist, dann kann man ihnen doch nicht helfen, indem
man einfach nur die Drogen verbietet und sie ansonsten mit ihrer Hilflosigkeit
und Ungeborgenheit allein lässt.
So ist Jana in meinem Schauspiel ein Mädchen, welches ohne ihren Vater groß
geworden ist und welches sich zutiefst wünscht, diesem Mann einmal nur zu
begegnen. In der heutigen Zeit, wo es immer weniger intakte Familien gibt und
wo immer mehr Kinder einen ihrer Elternteile entbehren müssen, ist Vater- oder
Mutterlosigkeit eine schwere seelische Last. Jana fühlt sich unvollständig und in
gewisser Weise auch außen vor, weil Vollständigsein für sie Geborgenheit in
einer Familie bedeutet, und Familie bedeutet, einen Vater zu haben.
Mark hat zwar beide Eltern und lebt zudem in wohlhabenden Verhältnissen,
aber er wird von seinen Eltern nicht beachtet. Er ist seelisch nicht versorgt und
– trotz bestehenden Wohlstands – auch nicht materiell. Das macht ihn einsam,
ungeborgen und bitter. Er wünscht sich ein Motorrad, mit dem er fahren kann,
wohin und so schnell er will.
Julia und Aline kommen beide aus sehr ärmlichen Verhältnissen und fühlen sich
in einer Welt des Konsums, in der sie allabendlich am Fernseher so verlockende wie wirklichkeitsfremde Werbespots sehen, frustriert und von der Möglichkeit
der Teilhabe ausgeschlossen. Sie sehnen sich nach Geborgenheit im Sinne des
Dabeiseins, des Mitmachenkönnens, des Sich-etwas-leisten-Könnens: Einmal
eine richtige Reise machen. Das ist ihr Wunsch.
Auch Joel ist vereinsamt: Er ist homosexuell und fühlt sich deshalb von seinem
Umfeld ausgegrenzt. Er suchte den Anschluss an diese bunt zusammengewürfelte Gruppe, weil er als Außenseiter sich nur unter Außenseitern angenommen
fühlt, angenommen und gemocht, so wie er ist. Er wünscht sich ein Date mit
einem Strichjungen. Vielleicht, so glaubt er, geht selbst bei so einem Ersatz für
das unerreichbare Eigentliche das Gefühl der Einsamkeit einmal verloren.
Das sind also die Träumer und ihre Wünsche. Ihre Wünsche sind – auch diejenigen, die auf den ersten Blick so aussehen, wie die, ein Motorrad zu haben
oder eine Fernreise zu machen – nicht materiell. Sie sind vielmehr Ausdruck
ihrer Sehnsucht nach Geborgenheit: Jana wünscht sich einen Vater, Julia und
Aline wünschen sich die wärmende Decke materiellen Komforts, Mark wünscht
sich wahrgenommen und Joel und Ravi wünschen sich, in ihrem Anderssein
angenommen zu werden.
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Und warum sind sie Träumer? Träumer sind sie, weil sie glauben, ihre Sehnsucht nach Geborgenheit, ihre Sehnsucht nach Erlösung von ihrer Abgetrenntheit stillen zu können, indem sie sich ihre Wünsche erfüllen. Sie wissen, dass
ihnen das nicht endgültig gelingt, dass sie ja von den Folgen ihrer Taten eingeholt werden. Sie wissen, dass sie festgenommen werden.
Vielleicht ähneln wir alle ein wenig den Träumern. Vielleicht sind wir alle isoliert
und sehnen uns ein Leben lang nach einer Geborgenheit, die es nicht gibt.
Vielleicht sind wir alle hier und da Träumer und suchen, dieser Isolierung auf
untaugliche Art und Weise zu entkommen. Aber die meisten von uns können im
Allgemeinen leben mit dieser Sehnsucht und in ihrem Alltag bestehen.
Das konnten die Träumer nicht. Und das war nicht ihr Fehler.
Die Träumer sind nicht nur vereinzelt, wie letztlich vielleicht wir alle, nein, sie
sind zudem Außenseiter, sie sind heimatlos und arm, sie sind hilflos und verängstigt, mutlos und abgestumpft.
Und niemand hilft ihnen.
Und das kann nicht hingenommen werden.
Das deutlich zu machen, war mein Hauptanliegen bei den „Träumern“.
46
1. Szene
Auf der Bühne ist es dunkel.
Man hört einen Radiosprecher.
Radiosprecher: Und hier die Regionalnachrichten. Garmsdorf. – Herr Schulze
aus der psychiatrischen Klinik Garmsdorf wird vermisst. Herr Schulze ist geistig
verwirrt und benötigt dringend Medikamente. Herr Schulze trägt einen blauen
Pullover und Jeans. Wenn ihn jemand sieht, bitte umgehend die Polizei
benachrichtigen. Graunstein. – Heute Vormittag ereignete sich eine Serie von
Überfällen auf Tankstellen in der Umgebung. In allen Fällen werden Jugendliche
als Täter vermutet. Entwendet wurde Geld in noch unbekannter Höhe. Die
Straftaten scheinen miteinander im Zusammenhang zu stehen. Das Landeskriminalamt Elbershausen fahndet nach den Tätern, die bis jetzt auf freiem Fuß
sind.
Das Radio wird ausgeschaltet. Auf der Bühne geht das Licht an. Wir sehen ein
Wohnzimmer, welches stilvoll ausgestattet ist, aber augenblicklich unordentlich
und chaotisch wirkt. Sechs Jugendliche sitzen um den Tisch herum, dicht
gedrängt, vor sich einen Haufen Gegenstände – darunter bündelweise
Geldscheine – ausgebreitet. Schweigen.
Mark ein großer, dunkelhaariger Junge, blass: Scheiße.
Jana: Was hast du denn gedacht? Dass wir die ersten Einbrecher sind, die sie
nicht suchen?
Joel sehr ängstlich: Die haben uns schon. Ich geb ihnen die Nacht.
Jana: Was willst du? Wir haben das Geld. Und vielleicht 12 Stunden, was damit
zu machen. Vielleicht auch zwei Tage. So etwas gab's schon.
Alain: Dass wir danach ins Kittchen kommen, wussten wir schon, das ist Teil
des Spiels.
Tom: Die Kassiererin hat so ängstlich geguckt. Die hat sich echt erschreckt.
Mark: Denk nicht dran. Wir haben nur 12 Stunden.
Ravi: Jetzt ist es endlich so weit. Wir steigen aus. Das ganze Leben wird einem
gepredigt: Du musst gut sein. Du musst gute Noten in der Schule haben, um
einen guten Abschluss zu bekommen. Du musst einen guten Abschluss haben,
damit du einen guten Beruf bekommst. Du musst einen guten Beruf haben,
damit du genug Geld hast, um anständig leben zu können. Jetzt streiken wir.
Wir haben das Geld und jetzt werden wir uns alle unsere Wünsche einmal
erfüllen. Danach werden wir eingesperrt, das ist besser, als ein Leben als
Roboter zu verbringen.
Jana: Wie lang muss man für so was eigentlich ins Gefängnis? Nur so aus
Interesse.
Joel: Weiß nicht.
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Tom: aufgebracht: Ich will nicht ins Gefängnis! Verzweifelt. Freiheitsstrafe!
Wisst ihr überhaupt, was das heißt? Sechs Monate? Ein Jahr vielleicht? In
leeren Zellen mit winzigen Fenstern?
Mark: Jetzt mach' bloß nicht schlapp! Wir haben uns alle dafür entschieden!
Tom: Ja, schon ... Ich wollte ja auch nicht so weiterleben, wie bisher ... Ich
wollte nicht weiterhin zusehen, wie mein ganzes Leben an mir vorbeiläuft wie
auf einem Fließband ... Da ist es wirklich besser, sich seine Sehnsüchte zu
erfüllen, auch wenn der Preis dafür hoch ist und mir angst macht. Auf einmal
wütend. Was ist das für eine Welt, in der man zum Verbrecher werden muss,
wenn man keine Maschine werden will?
Die Sechs sitzen um den Tisch herum, als frören sie. Schweigen.
Alain steht auf und knallt eine Bierkiste auf den Tisch. Die anderen schrecken
zusammen.
Alain: Scheiß drauf. Jetzt wollen wir feiern.
Nimmt eine Flasche.
Tom: Ich ruf' einen Pizzaservice an und bestelle ein ganzes Blech für alle.
Tom geht zu einem Telefon im Hintergrund der Bühne und telefoniert kurz.
Mark: Hat jemand eine Zigarette?
Die anderen verneinen.
Mark: Ich geh noch mal und hol mir 'n Päckchen. Ab.
Alain dreht das Radio wieder an: Discomusik. Jana nimmt sich eine Bierflasche
und trinkt.
Jana brüllt übermütig zu Alain: Ich bin mir sicher, mein Vater wird stolz auf mich
sein!
Alain brüllt zurück: Du kennst ihn doch gar nicht!
Jana ausgelassen: Ja, eben deshalb! Welche Tochter überfällt schon erst einen
Laden, nur um herauszufinden, wer ihr Vater ist!
Tom fröhlich: Und ich fahre nach Berlin!
Ravi: Du kannst ja nach Babelsberg gehen und eine Stinkbombe in die Studios
von „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ werfen!
Tom sachlich: Das klappt nicht, so lange werde ich da nicht bleiben können.
Das ist unrealistisch. Vorher werd' ich eingebunkert.
Alain: Ist doch egal, was realistisch ist! Wir sind Träumer. Alles ist möglich. Wir
lassen uns das Träumen nicht verbieten.
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Jana, begeistert: Wir wollen doch mal sehen, was wir aus unseren Träumen
machen.
Joel macht das Radio aus und sagt ernsthaft: Ja, wir träumen, und ich habe
jetzt schon Angst vor dem Augenblick, in dem wir wieder erwachen müssen.
Das wird wehtun.
Unten klingelt es.
Jana: Das ist unsere Pizza!
Sie geht ab und kommt kurze Zeit später mit einer großen Pizzaschachtel
wieder. Dann schneidet Tom ein Paar Stücke und alle setzen sich um den Tisch
und essen.
Ravi kauend: Wisst ihr noch, wie wir uns kennen gelernt haben?
Jana kichert: Das war doch vor zwei Jahren auf dieser lächerlichen Demo in
Elbershausen, oder? Da hattet ihr euch doch mit irgendeinem Polizisten
angelegt.
Alain: Ja, der hatte was dagegen, dass wir unsere Schals und Mützen übers
Gesicht zogen.
Tom: Und schließlich hat er uns in Gewahrsam genommen.
Jana: Und ich bin mit euren Namen und Adressen zum Ermittlungsausschuss
gedackelt, damit die euch da wieder herausholen.
Alain gähnt: Ich bin auf solche Demos ohnehin nur gegangen, weil ich Krawall
machen wollte, nie aus Überzeugung. Ich bin einfach dorthin gegangen, um
meine Wut loszuwerden, meine Wut auf diese Welt, die nun mal so ist, wie sie
ist. Ich hätte insofern auch bei den Nazis mitlaufen können, aber die hätten
einen solchen Chaoten wie mich wahrscheinlich nicht in ihren Reihen geduldet.
Politische Meinungen waren mir damals egal, ich wollte nur, dass sich
irgendwas verändert.
Ravi: Das ist nicht dein Ernst! Nazis sind Verbrecher!
Jana: Mach dir keine Sorgen, Alain: Jetzt verändert sich etwas.
49
2. Szene
Ein Schrei hinter der Bühne. Die Stimme eines alten Mannes schreit. Die Tür
des Wohnzimmers geht auf. Mark kommt herein und wird von einem alten Mann
panisch umklammert. Der alte Mann weint und spricht panisch.
Mark lachend zu den anderen: Seht mal, wen ich euch da mitgebracht habe!
He, ich glaub, das ist der Typ gerade aus den Nachrichten!
Alle sehen ihn überrascht an.
Der alte Mann flehend: Bitte bringt mich nicht zurück, bitte, bitte, bitte. Dann
kommen sie wieder. Schreit. Dann kommen sie wieder. Bitte!
Jana schrill zu Mark: Spinnst du? Was wollen wir denn mit dem machen. Wir
können nicht einfach die Polizei benachrichtigen, falls dir das noch nicht klar ist.
Tom: Wo hast du ihn aufgegabelt?
Mark: Hier um die Ecke.
Alain: Ist ein weiter Weg von der Psychiatrie in Garmsdorf bis hier hin.
Der alte Mann panisch: Ihr bringt mich nicht zurück, oder? Ich bin ganz normal.
Mark schaut Jana an: Wir bringen dich nirgendwohin. Können wir ja gar nicht.
Schweigen. Joel steht auf und geht zu dem alten Mann und legt ihm den Arm
um die Schulter.
Joel zu den anderen: Natürlich bleibt er bei uns. Es muss doch furchtbar sein,
in der Psychiatrie eingeschlossen zu sein. Bei jeder Veranstaltung, bei jeder
Party, bei jedem Fest sind Menschen außen vor – aber nicht hier. Wir schließen
niemanden von unserem Traum aus. Zum alten Mann: Willkommen im Verein
der Träumer.
Der alte Mann blickt ihn verständnislos an.
50
Alain laut: Ja, wir sind alle Träumer. Zum alten Mann. Wir halten alle den Alltag
nicht mehr aus. Und jetzt leben wir unsere Träume. Für 24 Stunden.
Tom: Wir sind alle pleite. Unsere Eltern haben selber kein Geld.
Mark: Meine Eltern haben es sogar, aber sie geben es mir nicht.
Alain stellt dem Mann die Gruppe der Reihe nach vor.
Alain: Das ist Tom, der will unbedingt mal nach Berlin, da fährt er morgen hin.
Und das ist Joel, der will einmal mit einem Stricher – du weißt schon. Und das
ist Jana. Die hat nie einen Vater gehabt. Und wir suchen ihr jetzt ihren. Das ist
Ravi. Dem wurde mal der Unterkiefer von 'nem Skin zertreten. Der möchte
Rache. Und Mark will ein Motorrad. Und ich will an die Südsee oder wenigstens
nach Sylt.
Der alte Mann blickt ihn weiterhin verständnislos an. Dann schreit er wieder.
Der alte Mann schreit: Sie kommen, sie kommen! Sie finden mich! Ich halt das
nicht aus! Eher sterb ich.
Jana: Um Gottes Willen, bei dem ist nicht alles ganz klar in der Birne. Hieß es
nicht, er braucht Medikamente?
Der alte Mann bittend: Ihr bringt mich doch nicht zurück? Tabletten sind
furchtbar. Sie vergiften mich. Ich bin wirklich ganz normal.
Jana und Mark tauschen Blicke.
Alain redet langsam und sehr deutlich: Heute darf sich jeder seinen Traum
erfüllen. Hast du auch einen Traum?
Der alte Mann antwortet nicht.
Jana: Es ist fast zehn. Machen wir uns an die praktischen Vorbereitungen.
Jeder bekommt nur soviel Geld, wie er wirklich braucht - den Rest spenden wir
an die CDU.
Sie kichert.
Jana: Vergiss nicht, wir werden bald eingelocht. Also, hopp, hopp. Mark, du bist
der einfachste Fall. Weißt du schon, welches Motorrad du haben willst?
Mark nickt verträumt.
Jana: Okay, das kaufst du dir morgen einfach. Dann tankst du's voll und fährst
die erste und letzte Motorradtour deines Lebens. Bin mal gespannt, wie viel
Kilometer du geschafft hast, bis sie dich anhalten.
Der alte Mann, ängstlich: Sie? Sie halten dich an? Sie kommen, sie kommen,
sie kommen.
Joel: Sie kommen. Aber noch nicht jetzt.
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Jana: Tom, dein Zug fährt morgen ab, 6.45 vom Bahnhof. Du bist um 11 Uhr
beim Bahnhof Zoo.
Sie lächelt.
Jana: Natürlich kaufst du dir ein 1.-Klasse-Ticket. Und du fährst ICE. Für dich
Alain gilt dasselbe. Du fliegst morgen Last Minute nach Lanzarote. Hoffentlich
schnappen sie dich nicht schon am Flughafen.
Der alte Mann: Sie schnappen uns. Sie kommen. Sie schnappen uns alle.
Mark: Du gehst mir auf den Wecker.
Der alte Mann guckt ihn verängstigt an.
Joel: Mark! Zum alten Herrn. Wir haben alle die gleiche Angst.
Mark: Die Letzten, die von uns hier im Haus sind, müssen alle Schränke
umwerfen und ein riesiges Tohuwabohu anrichten, damit meine Eltern einen
schönen Schreck bekommen.
Ravi: Wo sind die eigentlich?
Mark: Sie machen einen Kurzurlaub in der Schweiz. Mein Vater hat mir immer
gepredigt, ich solle ein nützliches Mitglied der Gesellschaft werden. Tja, jetzt bin
ich ein Verbrecher.
Er lacht.
Jana: Immerhin kennst du deinen Alten.
Alain: Glaub mir, man kann Väter haben, die will man gar nicht kennen.
Joel: O. K., Jana, wir finden deinen Daddy. Irgend 'ne Ahnung, wo er sein
könnte oder was mit ihm passiert ist?
Jana: Meine Mutter hat nie über ihn gesprochen.
Alain: Und du hast nichts herausgefunden?
Jana: Ich glaub, er ist Soldat gewesen. Er hat mich wahrscheinlich einfach so
zwischendurch gezeugt.
Mark: Jana, bist du dir sicher, dass es ihm gefällt, eine pazifistische Tochter zu
haben? Soldat!
Ravi: Alle Väter freuen sich, ihre Kinder wiederzusehen.
Tom: Was ist mit dem Internet. Wer weiß, vielleicht ist dein Papi inzwischen
Bestsellerautor? Weißt du, wie er heißt?
Jana: Major Georg Friedrichstein.
Tom: Mark, oben habt ihr doch 'n Rechner stehen. Gleich guckt irgendwer mal
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nach Major Georg Friedrichstein, oder so.
Er lacht.
Jana: Ravi. Du musst auch jemanden identifizieren. Ohne Wiedererkennung
keine Rache.
Ravi: Ich will nicht darüber reden.
Peinliche Stille. Die anderen sehen sich an.
Jana: Ravi, du kannst es ihnen jetzt heimzahlen.
Joel: So etwas Grausames kann man niemandem heimzahlen. Egal, wie hart
man sich rächt.
Ravi verzweifelt: Hört auf! Vergesst die ganze Sache! Ich halte es einfach nicht
mehr aus!
Stille, dann schreit er plötzlich:
Ravi: Ich hasse sie, ich hasse sie, sie haben mein Leben zerstört.
Der alte Mann leise: Ich hasse sie auch. Aber sie kommen trotzdem.
Ravi: Ich war erst 12 Jahre alt und erst seit sechs Jahren in Deutschland. Wisst
ihr, was die mit mir gemacht haben? Die haben mich gezwungen, ihnen ihre
dreckigen Springerstiefel abzulecken. Ich hasse sie.
Schweigen. Auf einmal weint Ravi. Alle stehen hilflos und sehen ihn an.
Jana wütend: Wir finden die Wichser. Weißt du was? Wir zwingen sie dazu,
dass sie dir deine Schuhe ablecken, bis deine Sohlen wie frisch geputzt
aussehen!
Ravi weint leise.
Der alte Mann: Ich hab ja so eine Angst. Sicher kommen sie bald.
Ravi verlässt leise den Raum. Joel steht auf und folgt ihm.
Mark: Noch jemand 'ne Flasche Bier?
Der alte Mann bedeutungsvoll: Als ich jung war, war ich genau wie ihr. Ich habe
mich immer mit dem Wachtmeister des Dorfes angelegt. Ich war nämlich ein
Kommunist. Und das war damals verboten. Bekommt plötzlich wieder Angst.
Jetzt verfolgen sie mich wieder.
Alain: Wie wohl das Leben im Gefängnis ist?
Jana: Ist doch so egal. Ich sag dir was: Bis vor zwei Tagen war mein Leben
jeden Tag das Gleiche: Ich ging zur Schule. Ich kam nach Hause. Ich aß was
und setzte mich vor den Fernseher. Und dann ging ich irgendwann ins Bett. Ich
glaube, das Furchtbarste war die Langeweile. Und die Einsamkeit. In zwei
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Tagen werden sie mich holen und dann wird es genauso sein: ein fest gefügter
Alltag im Gefängnis mit irgendwelchen Pflichten und immer und immer das
Gleiche. Mir kann niemand meine Freiheit nehmen, ich war nie frei.
Mark: Dafür haben wir jetzt ein paar schöne Stunden. Vielleicht sind wenige
schöne Stunden jahrelanges Gefängnis wert. Wer kann das sagen.
Der alte Mann: Ich war auch gefangen. Gefangen zwischen Pflegern und
Ärzten. Die holen mich aber schon noch.
3. Szene
Ravi kommt mit Joel wieder hinein.
Ravi: Ich brauch jetzt 'ne Mische.
Jana: Mach dir doch gleich 'n Joint.
Alain: Der kann keinen Joint drehen. Lass mich mal.
Jana: Der Letzte, Joel. Auch du bekommst dein heiß ersehntes Ziel.
Sie seufzt.
Jana: Joel, im Budget ist alles drin, was sich deine jungfräuliche Seele nur
erträumen kann. Du musst uns nur ein paar Angaben machen, in welche
Richtung deine Wünsche gehen.
Joel grinst.
Mark: Deine große Stunde, Mann.
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Jana: Wie alt soll der Boy sein? Eher 16 bis 20 oder 30 bis 40? Mit oder ohne
Brusthaar? Es gibt natürlich auch gänzlich rasierte Kerle.
Sie kichert.
Tom: Typ, ich begreif dich immer noch nicht. Wieso gehst du nicht auf 'ne
stinknormale Schwulenparty und schleppst einen ab.
Alain: Dann fändest du deine große Liebe und ihr könntest zusammen eine
Regenbogenfamilie aufmachen!
Joel: Das ist ganz einfach: weil ich einen Traum habe, einen Traum, der leider
unerfüllbar ist, egal, wie viel Geld man hat.
Jana; Himmel, jetzt wird’s schnulzig.
Joel ohne sie zu beachten: Ich träume davon, einem Jungen zu begegnen, ihn
zu umarmen und nie wieder loslassen zu müssen. Einmal im Leben sich
beschützt und geborgen fühlen. Ein für alle Mal und für immer getröstet sein.
Jana verständnislos: Und wieso soll es so was nicht geben?
Joel traurig: Das ist so. Träume, die man sich nicht erfüllen kann, soll man sich
wenigstens nicht zerstören. Natürlich könnte ich mit irgendwem eine Beziehung
haben, und nach drei Tagen würde er wahrscheinlich Schluss machen, weil er
niemanden ertragen könnte, der sich so an ihn klammert. Er zuckt die
Schultern. Und wenn es wirklich einen Jungen geben sollte, der jede Minute mit
mir verbringen würde und der immer bei mir wäre, würde ich nach drei Tagen
weglaufen – weil ich mich langweilen und mich belästigt fühlen würde. Für
manche Menschen ist der Traum von Liebe einfach unerfüllbar, und deshalb
bleibe ich eher mein Leben lang alleine, als dass ich mir diesen Traum von der
Wirklichkeit zerstören lasse.
Alain: Du hast ganz einfach einen Schuss weg!
Joel: Vielleicht. Aber deshalb will ich einen Stricher. Das ist das Einfachste. Du
bezahlst etwas, du bekommst etwas. Erledigt. Ich habe so eine Angst, Angst
davor, verletzt zu werden. Versteht ihr nicht.
Mark: Nee, tun wir nicht.
Jana: Gibt's nicht Callboyagenturen auch im Internet? Da kannst du dir einen
aus Bildern auswählen. Und wo soll der Typ hinkommen? Hier hin? Oder gehst
du in sein Etablissement? Überleg's dir.
Alain: Okay, alle Mann hoch zum Computer.
Ravi bleibt sitzen.
Alain: Was ist, kommst du?
Ravi schüttelt den Kopf. Alle außer ihm und dem alten Mann ab. Er kauert sich
in die Ecke und zittert. Dann schläft er ein.
Es wird dunkel.
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4. Szene
Der Vorhang schließt sich wieder, ein gedämpftes Licht scheint.
Wir sehen Ravis Traum. Zunächst nur zwei laute Männerstimmen.
Die Männerstimmen: Sieh dir den schwarzen Drecksjungen an. Lauter. Der hat
'ne Tracht Prügel verdient. Hämisch. Damit er ein braver Junge wird.
Es treten zwei Skinheads auf. Zwischen ihnen auf dem Boden liegt Ravi und
windet sich. Die Szene ist grausam, aber wirkt nicht ganz realistisch, es ist ein
Traum.
Die Männerstimmen während sie zutreten: Dir Dreckskanacke sollte man doch
gleich den Hals umdrehen. Pass auf, wenn du groß bist, bringen wir dich um.
Die Stimmen werden immer lauter.
Die Männerstimmen: Los, leck uns die Stiefel, das ist eine Ehre für dich!
Es ertönt ein gellender Schrei. Das Licht geht aus, der Vorhang geht auf, es war
Ravi, der im Traum geschrien hat. Er setzt sich auf und sieht mit glasigen
Augen um sich. Es dauert, bis er wieder zu sich gefunden hat. Der alte Herr, der
über ihm steht und sich zu ihm hinunterbeugt, fasst ihm besorgt an die Stirn.
Der alte Mann: Mich verfolgen sie ja auch.
Vorhang.
5. Szene
Das Zimmer der ersten Szene. Es ist dunkel. Ein Wecker piept. Jemand
stellt ihn aus. Man hört ein Gähnen, das Geraschel von Stoff – von
Bettdecken – und einen Menschen, der sich tastend umherbewegt.
Schließlich findet er den Schalter und knipst das Licht an. Schlagartig ist
es hell. Es ist Ravi. Er ist in T-Shirt und Boxershorts und hält sich den
Kopf. Auf dem Boden des Wohnzimmers liegen Matratzen, auf denen die
Jugendlichen schlafen. Mark stolpert über einen von ihnen.
Jana verschlafen: Du Volltrottel! Mach das verdammte Licht wieder aus.
Ravi: 'Tschuldigung. Muss auf Klo.
Jana: 2. Tür rechts im Flur. Licht aus!!
Das Licht erlischt wieder. Schweigen. Man hört die Tür zu- und wieder
aufgehen.
Ravi leise: Alain! Du musst aufstehen! Dein Flug geht in drei Stunden von
Hannover!
Alain müde: Klar. Komm gleich.
Ravi rüttelt Tom wach: Du musst auch zum Bahnhof, Tom!
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Tom: Was? Jetzt schon?
Man sieht ein Handy in der Dunkelheit aufblinken.
Tom: Gott, es ist tatsächlich schon sechs.
Schweigen. Tom und Alain ziehen sich an.
Alain: Verdammt, ich brauch Licht. Sonst find ich hier gar nichts.
Jana entnervt: Na gut! Alle Mann aufstehen, ein schöner, neuer, frischer
Tag liegt vor euch, der letzte in Freiheit, vergesst das nicht. Wie kommst
du zum Flughafen, Alain?
Die Bühne wird ganz hell. Mark setzt sich auf und reibt sich die Augen.
Alain: Bus.
Tom: Fährt um?
Alain: Haben wir ausgedruckt, um sieben, glaub ich.
Jana zu Mark: Deine Eltern werden sich freuen, wenn sie nach Hause
kommen. Die Bude im Chaos und der Sohn im Knast.
Sie lacht.
Joel setzt sich auf.
Jana: Joel, bleib liegen. Dein Macker kommt erst um elf. Da könnt ihr
euch das Ehebett von Marks Eltern teilen.
Joel: Will noch Tschüss sagen.
Joel steht schwerfällig auf.
Jana zu Alain und Mark: Stimmt, wir sehen uns wahrscheinlich nie wieder.
Ich komm in'en Frauenknast und sehe keine Männer mehr in den
nächsten Jahren.
Es herrscht plötzlich Stille.
Tom: Ja, dann.
Der alte Mann geht gebückt durch das Zimmer. Alle gucken ihn überrascht
an. Sie hatten ihn vergessen.
Der alte Mann leise zu Alain und Tom und Jana: Abschiednehmen ist
etwas sehr, sehr Schweres. Ich habe einen Freund im Krieg verloren. Er
starb im Lazarett. Als ich ihn das letzte Mal besuchte, war es klar, dass er
sterben würde und ich ihn nie wiedersehen würde. Verächtlich: In seinem
Krankenzimmer saß noch so ein Priester, der meinen Kameraden bedrängte, irgendwelche Sünden zu bereuen. Den habe ich aber hinausgezerrt! Der wollte meinen besten Freund in der Stunde seines Todes mit
der Bibel quälen!
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Ravi; Wir geben auch nichts auf die Bibel. Irgendwo im Alten oder Neuen
Testament steht nämlich in etwa: Wer nicht arbeitet, der soll auch nicht
essen! Na – wir arbeiten hier alle nicht und wir essen nicht nur, sondern
wir erfüllen uns auch noch unsere Träume!
Jana blickt ihre beiden Freunde an. Dann umarmt sie beide.
Jana: Glücklicherweise haben wir hier ja keine Priester. Mark hat gestern
zu mir gesagt: Wer kann sagen, ob ein paar schöne Stunden es nicht wert
sind, jahrelang im Gefängnis zu sein. Und wer kann schon sagen, welche
Menschen in dem eigenen Leben wirklich wertvoll waren? Vielleicht sind
Menschen, die man nur ganz kurz kannte, manchmal wichtiger als irgendwelche, mit denen man schon immer zu tun hatte.
Joel steht auf und umarmt die beiden auch.
Joel: Ich wünsch euch ein paar wirklich schöne Stunden. Fangt eure
Träume ein.
Auch Mark und Ravi verabschieden sich.
Jana: Ich begleit euch noch ein Stück. Ihr anderen macht Ordnung!
Jana ab mit Alain und Tom.
6. Szene
Die Übrigen beginnen, aufzuräumen. Matratzen werden herausgetragen,
Bettdecken gefaltet und so weiter. Die Drei sind müde. Mark dreht einen
Joint. Die Drei setzen sich auf den Boden und lassen den Joint herumgehen.
Mark spöttisch: Morgens 'n Joint und der Tag ist dein Freund.
Joel: Der Tag heute ist sowieso unser Freund.
Ravi: Was glaubt ihr, wie sie aussehen, wenn sie uns sehen. Ich kenne
die beiden ja, es sind Brüder. Als ich in die Grundschule ging, kam ich
immer an ihrem Haus vorbei. Tage, bevor sie mich verprügelten, drohten
sie mir schon, wenn ich sie auf der Straße sah. Ich hatte so eine Angst.
Er beißt sich auf die Unterlippe.
Mark: Wieso wohnen die eigentlich noch bei sich zuhause? Die sind doch
mindestens seit vier Jahren mit der Schule fertig.
Joel: Du weißt doch, wie das mit solchen Typen ist. Hauptschule ohne
Abschluss, dann zwei bis drei abgebrochene Ausbildungen, zwischendurch ein paar Mal ins Gefängnis.
Ravi: Ich hasse sie!
Mark: Wieso sind deine Eltern nie zur Polizei gegangen?
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Ravi schweigt. Er schluckt.
Ravi: Ich habe es ihnen nie erzählt.
Die anderen schweigen fassungslos.
Ravi: Ich hatte solche Angst. Die Wichser hatten mir gesagt: "Wenn du
es irgendwem sagst, verprügeln wir auch noch deine Schwester." Meine
Schwester war damals erst vier.
Er schweigt.
Ravi: Damals wären wir ohnehin fast nach Indien zurückgebracht worden.
Meine ganze Familie lebte in der Angst, zurück nach Bombay abgeschoben zu werden. Ein Jahr lang fürchteten wir ständig, die Koffer
packen zu müssen. Wir lebten in so einem Asylantenheim, die ganze
Familie, vier Menschen, in einem Zimmer. Dass ich überhaupt zur Schule
gehen durfte, habe ich meiner Mutter zu verdanken – mein Vater sah das
zuerst gar nicht ein. „Was soll der Junge Deutsch lernen“, fragte er, „wo
wir doch ohnehin wieder abgeschoben werden?“ Er wollte, dass ich mit
ihm mitkomme und ihm bei der Arbeit helfe.
Mark: Solltet ihr denn einfach so wieder zurückreisen?
Ravi: Das hätten wir beinahe gemusst. Wenn wir Pech haben, müssen wir
das sogar heute noch, wenn die Aufenthaltsgenehmigung abläuft ... Die
Behörden fragen nämlich nichts danach, ob du dich inzwischen hier
eingelebt hast. Die würden mich nach Indien zurückschicken, auch wenn
ich kein Wort Indisch mehr sprechen würde. In der ersten Zeit war ich so
unsicher. Alles war fremd und bedrohlich.
Er raucht.
Ravi: Ich hatte damals keinen einzigen Freund. In der Schule wurde ich
gehänselt und zu Hause musste ich auf meine Schwester aufpassen,
damit meine Eltern arbeiten konnten.
Die Tür geht auf. Herein kommt Jana.
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Jana schwungvoll: So haben wir es gern, meine Herren, was? Kaum
aufgestanden, schon der erste Joint.
Sie nimmt sich den Joint und inhaliert tief.
Mark: Wie geht's unseren beiden Zugvögeln?
Jana: Sind auf ihrem Weg. Ich glaube, beide freuen sich sehr. Am
Bahnhof hätten sie trotzdem fast geweint.
Sie lacht. Ihr Blick fällt auf den alten Mann, der friedlich auf einem Stuhl
schläft.
Jana: Was machen wir eigentlich mit dem? Lassen wir den ganz alleine
hier zurück?
Mark: Sollen wir ihn etwa zur Polizei bringen? Oder ihm sagen: Los, lauf
zurück zur Klapse?
Joel: Wir fragen ihn, was er sich am meisten wünscht. Das erfüllen wir
ihm. Das Geld reicht.
Jana geht vorsichtig zum alten Herrn und schüttelt ihn sanft.
Der alte Mann aufwachend: Geht ... geht ... geht weg ... Wo bin ich ...
Panisch. Ihr bringt mich nicht wieder zurück, oder?
Jana: Nein, wir bringen dich nicht zurück. Was wünscht du dir am meisten
auf der Welt?
Der alte Mann: Wünsche ... Früher hieß es immer in den Märchen: In
einer Zeit, in der das Wünschen noch geholfen hat ...
Joel: Das Wünschen hilft wieder, ab heute.
Der alte Mann: Früher, ganz früher, hätte ich gesagt: Am allermeisten
wünsche ich mir die Weltrevolution, damit es Gerechtigkeit für alle gibt ...
Alles nichts als Schwindel ... Herrje, was hat man nicht alles für Träume,
wenn man jung ist.
Mark: Du hättest dir auch einfach Geld klauen sollen! Dann hättest du dir
damals auch deine Träume erfüllen können! - Was wünschst du dir jetzt
am allersehnlichsten?
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Der alte Mann: In Frieden sterben. Weit weg von den lächelnden
Schwestern und den geduldigen Ärzten. Umgeben von Leuten, denen ich
wertvoll bin. Das wünsche ich mir. In Frieden und ohne Schmerzen. Weit
weg von ihnen. Ich will sie nie, nie, nie wiedersehen!
Jana beruhigend: Du siehst sie nie wieder.
Zu den anderen.
Jana: Was bietet sich hier an? Schlaftabletten?
Mark: Schlaftabletten. Dann schläft man ganz friedlich ein.
Jana: Wir werden bei ihm sein. Wir alle. Und werden ihm die Hände
halten und ihn verabschieden.
Der alte Mann: Ich komme nämlich in die Hölle. Ängstlich. Ich habe nie
auf unseren Pastor gehört. Ich habe so viele Menschen unglücklich
gemacht.
Joel lächelnd: Wir kommen alle in die Hölle. Wir haben einen Laden
ausgeraubt. Und eine Kassiererin zu Tode erschreckt.
Mark: Meine Mutter hat einen Medizinschrank oben im Bad. Ich will
gucken, was sich finden lässt. Sonst müssen wir noch eine Apotheke
ausrauben.
Mark ab.
Es wird dunkel.
7. Szene
Es wird wieder hell. Es ist das Zimmer. In der Mitte der Bühne liegt
eine einzelne Matratze. Darauf liegt der alte Mann, auf viele Kissen
gestützt. Um ihn herum sitzen die Vier. Jana hält eine Wasserflasche
in der Hand.
Jana: Fünfzig müssten genügen.
Der alte Mann: Und ich werde keine Schmerzen leiden müssen? Mein
Freund, damals im Lazarett, der ist so qualvoll gestorben.
Ravi: Du schläfst nur ein.
Der alte Herr seufzt.
Der alte Mann: Es ist so schön, das alles vorbei ist. Ich sehe, wie die
Welt verschwindet, wie ein Leuchtturm an der Küste, wenn man aufs
offene Meer hinausschwimmt.
Er ruft froh.
Der alte Mann: Sie bekommen mich nicht mehr.
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Joel: Was war das Wichtigste in deinem Leben?
Der alte Mann: Ich bin desertiert. Es war vor der großen Schlacht. Ich
war ein junger Soldat, und uns jungen Soldaten wurde erzählt, es sei
eine Ehre, fürs Vaterland zu sterben. Gebt euer Leben dem Führer,
hieß es! Und ich bin abgehauen! Ich habe meinen Freund sterben
sehen, und da wusste ich: Das ist kein Vaterland wert. Kein Ziel ist es
wert, das eigene Leben dafür zu lassen. Wir standen mit unseren
Truppen in Frankreich und es war so sinnlos. Wir wussten nichts
Genaues, aber alle wussten wir: Deutschland wird verlieren. Da bin ich
getürmt. Bei Nacht und Nebel floh ich aus dem Lager und ins nächste
französische Dorf. Dort habe ich einen Bauern kennen gelernt. Und
von da aus zum Rhein. Da war ich so stolz auf mich. Das war das
Beste in meinem Leben!
Jana: Hast du wirklich Angst vor der Hölle?
Der alte Mann guckt sie lange an, dann spricht er.
Der alte Mann: Wir Soldaten hatten einen Eid auf Hitler geschworen.
Ich bin abgehauen. Kommen Eidbrüchige nicht in die Hölle?
Joel: Mach dir nichts draus: Schwule kommen auch in die Hölle. Für
Papst Benedikt sind sie nämlich das Böse in Person. Und Gott hat
ganz Sodom und Gomorra wegen ein paar Homosexuellen dem
Erdboden gleichgemacht.
Mark zum alten Mann: Du mischst die Hölle ein bisschen auf!
Joel: Heiß uns willkommen, wenn wir dort ankommen.
Jana schüttet die Tabletten aus kleinen Dosen in eine Schale. Dann
öffnet sie die Wasserflasche.
Jana zum alten Mann: Ich geb dir jetzt einen Löffel Tabletten, dann
trinkst du einen großen Schluck Wasser. Das machen wir so lange, bis
die Schale leer ist.
Sie gibt ihm behutsam einen Löffel und hält dann die Flasche an seine
Lippen. Während sie das immer wieder macht, spricht sie.
Jana: Du bekommst ein schönes Grab, im Garten. Einen Grabstein
besorgen wir auch noch. Wie heißt du eigentlich?
Der alte Mann: Ich heiße ... Plötzlich voller Angst. Ich weiß es nicht
mehr! Sie haben mir meinen Namen gestohlen! Sie haben mir alles
gestohlen!
Jana gibt ihm einen weiteren Löffel.
Joel: Wir schenken dir deinen Namen wieder. Du heißt Felix. Das
bedeutet "Der Glückliche".
Jana füttert den alten Herrn weiter. Schweigen.
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Jana: Die Schüssel ist leer. Leg dich zurück.
Der alte Mann lässt sich in die Kissen sinken.
Der alte Mann: Jetzt können sie mich nicht mehr finden! Ich bin
gerettet! Sie finden mich nicht mehr.
Ravi: Hast du Lieblingsblumen?
Der alte Mann leiser werdend: Lilien. Sie finden mich nicht mehr, ich
bin erlöst ...
Ravi: Du bekommst Lilien auf dein Grab.
Der alte Mann: Sie finden mich nicht mehr ...
Der alte Mann schläft ein. Das Licht wird gedämpft. Eine Kerze wird
angezündet. Der Vorhang fällt.
8. Szene
Vor dem Vorhang. Jana, Joel, Ravi und Mark treten, mit Baseballschlägern bewaffnet, auf.
Die Bühne ist leer, am Rand steht eventuell eine Straßenlaterne, um
anzudeuten, dass die Szene auf einer Straße spielt.
Jana zählt Straßennummern ab.
Jana: 13, 15, 17, 19. Nummer 19 war es, hast du gesagt.
Ravi nickt.
Mark: Und was, wenn ihre Alten öffnen?
Joel: Dann sollen die ihre Söhne holen. Sonst bekommen die auch
was ab.
Ravi stellt sich vor den Vorhang und drückt den Klingelknopf. Es
schrillt eine Klingel hinter der Bühne. Man hört Schritte. Der Vorhang
öffnet sich einen Spalt. In dem Spalt steht ein junger Mann, ungefähr
23 Jahre alt, mit Glatze und Bomberjacke. Ravi holt mit seinem
Schläger aus und trifft den Mann am Kopf. Der sinkt zusammen.
Ravi grimmig: Das ist der Jüngere.
Jana: Dann suchen wir jetzt den anderen.
Sie gehen durch den Spalt hinter die Bühne. Man hört hinter der
Bühne einen Schrei. Kurz darauf schleifen sie einen zweiten Mann
aus dem Haus heraus.
Joel: Wir sollten sie fesseln. Damit sie keine Probleme machen.
Haben sie so praktische Gürtel?
63
Die beiden werden mit ihren Gürteln an den Oberkörpern gefesselt.
Joel gehässig: Okay, wir halten jetzt Lynch-Justiz.
Mark: Oder doch lieber Gericht? Darf ich der Verteidiger sein? Mit
verstellter Stimme, boshaft. Euer Ehrwürden, Einspruch, Einspruch,
die beiden hatten eine traumatische Kindheit!
Jana: Sie kommen schon wieder zu sich.
Die beiden gefesselten Männer regen sich und öffnen die Augen. Sie
wirken verwirrt.
Jana zeigt ihnen ihren Baseballschläger.
Jana: Ihr bleibt schön liegen, sonst bekommt ihr einen vornüber,
okay? Ravi, bring dich ihnen in Erinnerung.
Ravi guckt den Männern ins Gesicht, wütend: Erinnert ihr euch noch
an mich? Den kleinen ausländischen Jungen, den ihr misshandelt
habt? Oder habt ihr so viele kleine Kinder gequält, dass ich euch nicht
mehr einfalle?
Pause.
Ravi: Ich war 12 Jahre. Das erste Mal, als ich euch gesehen habe,
musste ich einkaufen gehen. Als ich aus dem Supermarkt kam, war ich
in Eile, weil ich den Bus noch kriegen wollte. Da habt ihr mich
eingeholt und angepöbelt. Ich wollte vor euch weglaufen, und ihr seid
immer hinterher, wisst ihr noch? Dann habt ihr mir hinterhergerufen,
dass ihr mir mein Zuhause anzünden werdet. „Damit deine ganze
Drecksfamilie verbrennt“, habt ihr gebrüllt, wisst ihr noch? Ich habe
nächtelang danach nicht mehr geschlafen und traute mich nicht, das
meinen Eltern zu erzählen, um denen nicht noch mehr Sorgen zu
machen. Pause. Und dann kam dieser furchtbare Tag. Es war ein
heißer Mittag im Juni. Ich kam von der Schule. Ihr standet da vorne an
der Ecke. Ich hatte euch nichts getan, ich bin nur an euch vorbeigelaufen. Da habt ihr mich an meinen Haaren zurückgezerrt.
Ravi sieht auf die Männer.
Ravi: Wisst ihr, was ihr zu mir gesagt habt? Ihr habt mich einen
schwarzen Drecksjungen genannt. Warum? Was war an mir
schmutziger als an euch? Ihr habt Freude an meiner Angst gehabt.
Und dann habt ihr mich verprügelt. Warum? Ich war ein kleiner Junge.
Ich hatte euch nichts getan.
Auf einmal schallen, aus dem Nirgendwo, die grausamen Männerstimmen, die Ravi im Traum gehört hat, über die Bühne.
Die Männerstimmen laut und brutal: Dir Drecksjungen sollte man
doch gleich den Hals umdrehen! Pass auf, wenn du groß bist, bringen
wir dich um!
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Jana, Joel und Mark werden von einer plötzlichen Wut ergriffen und
schlagen die beiden brüllend zusammen. Ravi steht daneben und
schaut mit weiten Augen in die Ferne. Das Licht erlischt.
Stille.
Dann scheint das Licht noch einmal auf und lässt die Zuschauer die
beiden Männer sehen, die übereinander in dem Vorhangsspalt liegen.
Ihre Kleidung ist rot von Blut.
9. Szene
Das Zimmer. Mark kommt mit Joel herein, sich die Hände an der Hose
abwischend.
Mark: Verbrecherblut! Bekommt man gar nicht abgewaschen.
Joel: Jetzt kann die Polizei uns noch besser finden. Jugendliche
Verbrecherbande begeht Diebstahl und Körperverletzung.
Mark: Sei's drum.
Pause.
Mark grinsend: Du, meinst du nicht, wir sollten das Bett mit Handtüchern auslegen für gleich?
Joel grinst ebenfalls: Was, du hast Angst, dass wir das Bett deiner
Eltern beschmutzen? Das Bett wird hinterher ohnehin nicht besonders
ordentlich aussehen.
Jana kommt mit einem Glas Orangensaft herein.
Jana: Erst die Arbeit, dann das Spiel, Joel. Du hilfst uns jetzt noch bei
der Beerdigung.
Jana zeigt auf den alten Mann, der immer noch auf der Matratze liegt.
Jana: Du kannst den Pfarrer spielen, Joel, du kannst doch so gut
predigen.
Mark: Was is' eigentlich mit Ravi?
Jana: Er wollte ein bisschen alleine sein. Nicht allzu schwer verständlich, oder?
Sie taucht ihre Finger in den Orangensaft und tropft damit auf den
Kopf des alten Mannes.
Jana: Das war das Weihwasser. Joel, du bist dran.
Joel stellt sich würdevoll hinter den alten Mann und wendet sich an
das Publikum als Gemeinde.
65
Joel: Liebe Gemeinde, liebe Trauernde, liebe Angehörige und
Freunde. Heute ist Felix nach langer Gesundheit friedlich und auf
eigenen Wunsch von uns gegangen. Er war kein guter Mensch
gewesen. Er hat Hitler nicht die Treue gehalten und seine Kameraden
vor einer entscheidenden Schlacht einfach im Stich gelassen.
Joel muss lachen.
Joel: Dafür möge er auf ewig in der Hölle schmoren – da ist es
sowieso viel schöner als im Himmel. Immerhin gibt's da keine Engel.
Möge er in unserem Garten in Unfrieden ruhen und täglich um
Mitternacht dieses Haus aufsuchen und Marks Eltern aus dem Schlaf
reißen. In spätestens 50 Jahren besuchen wir ihn alle in der Hölle, das
versprechen wir hiermit. Amen.
Joel lacht aus vollem Hals.
Joel: So, und jetzt fährt die Trauergemeinde mit zum Friedhof und
singt einen ergreifenden Choral dazu. Ich schlage "Durch den
Monsun" vor. Zum Publikum. Alle mitsingen!
Jana macht eine Tür auf. Zu dritt hieven sie, laut singend, den alten
Mann hoch und schleppen ihn heraus. Man hört hinter der Bühne
Gelächter. Die Drei kommen wieder hinein.
Mark: Schüppen sind im Schuppen. Was nehmen wir als Grabstein?
Und was ist mit den Lilien?
Jana: Die Lilien hol ich. Und als Grabstein legen wir ihm meinen
Kuscheltierhasen aufs Grab. Der heißt auch Felix.
Hinter der Bühne läutet es.
Jana im Abgehen: Das wird dein Typ sein, Joel!
Mark schlägt Joel auf die Schulter: Vergraben tu ich unseren Freund.
Kümmer du dich um deine Angelegenheit.
Mark geht ab. Joel steht einen Moment lang unschlüssig.
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Es läutet wieder. Ravi kommt in das Zimmer. Er sieht immer noch
mitgenommen aus und ist ganz ernst.
Ravi: Warum öffnest du denn nicht?
Joel zuckt mit den Schultern. Es läutet zum dritten Mal. Ravi dreht sich
um und rennt hinaus. Man hört ihn hinter der Bühne reden. Es vergeht
eine kleine Weile. Joel läuft unruhig auf und ab. Die Tür geht wieder
auf. Herein kommt Ravi und hinter ihm ein schüchtern wirkender,
hübscher Junge.
Ravi zu dem Jungen mit einem Anflug von Lächeln: Du weißt ja, was
zu tun ist. Lass ihn ganz dabei, wir brauchen ihn noch.
Der Junge geht auf Joel zu und hängt sich bei ihm ein. Joel blickt auf
Ravi zurück. Der nickt ihm aufmunternd zu. Joel geht mit dem Jungen
zu einer anderen Tür hinaus. Ravi blickt ihnen hinterher und dreht sich
dann um und geht ab.
Es wird dunkel.
10. Szene
Jana, Mark und Ravi treten auf, Jana hat einen Geldbeutel und einen
Helm in der Hand. Sie händigt Mark den Geldbeutel aus.
Jana: So, jetzt kannst du dir dein Prachtstück kaufen und los geht es!
Sie denkt nach. Du kannst aber fahren? Wenn die Polizei dich
irgendwann anhält, ist das zu erwarten, aber wenn du dich von selbst
aufs Gesicht legtest, das wäre bedauerlich.
Mark: Mach dir darum mal keine Sorgen.
Ravi: Wo willst du hinfahren?
Mark: Nach Sizilien natürlich! Da werd ich Pate!
Jana: Wenn du die ganze Unterwelt Italiens unter Kontrolle hast, rufst
du an!
Mark: Was wird das für ein Vergnügen sein! Nur das Motorrad und die
Straße. Alles rauscht vorbei, es ist ein Gefühl wie fliegen. Was meint
ihr, ob ich mir noch eine Verfolgungsjagd mit der Polizei liefern werde?
Jana: Wenn es dir Freude macht. Hab ich eigentlich deine Handynummer? Ich ruf alle Stunde an, und wenn du nicht mehr abnimmst,
haben die Bullen dich schon oder du steckst noch in der Verfolgungsjagd. Und wenn ich mit dem Anrufen aufhöre, haben die Bullen mich.
Mark: 0170778524. Soll ich sie dir aufschreiben?
Jana reicht ihm ein Papier und einen Kuli. Er schreibt, an eine Wand
gelehnt.
67
Ravi: Du hast noch 100 Euro zum Nachtanken und zum Fressen und
zum Saufen. Flieg davon! Berühr die Erde nie wieder! Die Erde zu
berühren, tut weh.
Jana: Hopp, stell einen Geschwindigkeitsrekord auf. Jetzt bloß nicht
sentimental werden.
Jana setzt Mark einen Motorradhelm auf.
Jana: Macht sich super! Jetzt aber!
Mark: Adios, Amigos! Ab.
Jana: Möge er Rückenwind haben und weit kommen!
Ravi: Quatsch, er braucht Gegenwind, damit es ihm richtig Spaß
macht.
Sie gehen gemeinsam ab.
11 . S z e n e
Joel und der Junge stehen an der Tür. Sie sind beide wieder
angezogen, nur Joel hat noch einen freien Oberkörper.
Joel: Möchtest du noch was trinken?
Der Junge: Gib mir 'ne Cola. Ich muss wach bleiben.
Joel: Du bist müde, nicht wahr?
Der Junge: Ich bin's gewohnt.
Joel gibt ihm ein Glas mit Cola. Die beiden schweigen unsicher.
Der Junge geschäftsmäßig: War es wenigstens gut?
Joel: Wie alt bist du?
Der Junge: 18. Warst du zufrieden?
Joel lächelt: Es war schön. Wenn du mit jedem so lange machst, lässt
du dich schlecht bezahlen.
Der Junge: Es ist ganz selten ein erstes Mal. Meistens sind es
Fünfzigjährige.
Joel: Fällt es dir dann schwer?
Der Junge: Gewöhnungsfrage.
Joel: Wieso –
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Der Junge unterbricht ihn: Hör' bloß auf: Das hat dich doch auch nicht
interessiert, bevor du mit mir ins Bett gegangen bist! Ich mache da
einen Scheißjob, ich fertige täglich sieben fette, impotente Opas ab,
die alle nach dem Orgasmus plötzlich sentimental werden und ihre
Menschlichkeit entdecken. Dann fragen sie mich mitfühlend: „Wieso
arbeitest du eigentlich auf dem Strich, so jung wie du bist?“ Denen
würde ich am liebsten entgegenschleudern: „Wegen solcher Tattergreise wie euch arbeite ich auf dem Strich!“ Es gäbe keine Prostitution,
wenn es keine Kunden gäbe, die sich dort bedienten! Er seufzt.
Ich hatte eine beschissene Jugend und dachte mir, dass ich so Geld
verdienen kann. Und wenn du einmal damit angefangen hast, kommst
du da nicht mehr raus, egal, wie sehr du willst! Ist eben Schicksal.
Joel geht zu einem Regal und kramt ein Bündel Geld heraus und gibt
es dem Jungen.
Joel: Das Schicksal schämt sich. Und deshalb hat es mich beauftragt,
dir aus der Misere zu helfen.
Er drückt ihm das Geld in die Hand.
Joel: Ich komm bald ins Gefängnis und hab keine Zeit mehr, es
auszugeben. Gib es an meiner Stelle aus.
Der Junge verblüfft: Was soll –
Joel hält ihm den Mund zu: Psst! Dem nächsten 50-Jährigen trittst du
einfach in die Eier!
Joel hat ihm den Arm um die Schulter gelegt und führt ihn zur Tür.
Joel: Ich werd dich nie vergessen. Das erste Mal hat man nur einmal.
Mach's gut.
Er schiebt den Jungen heraus und schließt die Tür hinter ihm. Er holt
sich irgendwoher ein T-Shirt und streift es über.
Jana kommt mit Ravi schwungvoll zur Tür herein.
Jana strahlend: Na – wie war's?
Joel: Gut – schließlich war er professionell. Der arme Junge war aber
kaum älter als ich.
Jana: Das schlechte Gewissen kommt ohnehin erst, nachdem man
gekommen ist.
Joel: Ich hab ihm noch ein bisschen von unserm Geld gegeben, weil
er mir so leidtat.
Jana mit gespielter Trauer: Jetzt bleibt ja gar nichts mehr für die CDU
übrig.
Ravi: Wir haben immer noch ein bisschen. Und die sind schließlich für
jede Spende dankbar. Die bekommen unsere letzten 20 Cent.
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Jana: Ich ruf mal Mark an.
Sie zieht ihr Handy aus der Tasche und wählt eine Nummer. Dann
wartet sie.
Jana: Der geht nicht dran. Ach, Mark, für mich solltest du dein Fahrvergnügen unterbrechen! Bin ich dir das nicht wert? Pause. Dann hellt
sich ihr Gesicht auf. Hallo? Mark? Hey! Wie geht's? Hab' ich mir
gedacht! Du, Joel ist fertig geworden! Ja, er war zufrieden. Nein, hab
ich mir noch nicht angeguckt. Ist doch auch egal. Wo bist du denn?
Sie pfeift. Dein Verkehrsverhalten genügt wahrscheinlich, um die
Bullen auf dich zu hetzen. Und das auf der Landstraße. Ja, mach ich.
Okay, in einer Stunde wieder? Ciao. Zu den anderen. Er ist schon in
Schwernhausen. Und hat noch keinen Unfall gebaut. Ich soll euch
grüßen.
Joel: Ja, Jana, jetzt bist du dran.
Jana traurig: Ich weiß es schon.
Ravi: Was?
Jana: Er ist tot.
Schweigen. Jana setzt sich auf einen Stuhl.
Joel: Woher?
Jana mit Kopfnicken nach oben: Internet. Mein Vater, also falls
dieser Major Georg Friedrichstein mein Vater war, aber das ist sehr
wahrscheinlich, das Alter kommt hin und so viele Major Georg
Friedrichsteins wird's nicht geben, mein Vater hat in irgend 'nem
Laiensoldatenorchester gespielt. Und auf der Homepage von diesem
Orchester hab ich 'ne Notiz gefunden, dass er vor 'nem Jahr gestorben
ist.
Als die anderen sie enttäuscht ansehen.
Jana: Scheiß drauf. Ich hab meinen Vater gefunden. Der alte Mann,
den wir heute Vormittag umgebracht haben, der war auch Soldat. Und
der war mir richtig sympathisch. Das war mein Daddy. Lächelt. Wenn
ich aus'm Knast wieder 'raus bin, werde ich immer frische Lilien auf
sein Grab stellen. Und jedes Jahr bekommt er 'n neuen Stoffhasen von
mir.
Ravi umarmt sie.
Jana: Lass nur. Mein Vater hätte sowieso nicht mein Vater mehr sein
können. Dafür ist einfach zu viel Zeit vergangen. Felix war ein guter
Papa. Wahrscheinlich viel besser als mein richtiger. Laut und
strahlend. Ich habe einen Vater, der Hitler boykottiert hat. Wer kann
das schon von sich sagen!
70
Ein Telefon klingelt.
Jana holt einen Apparat und geht heran.
Jana: Hier Jana Rehl bei Korn. Guten Tag. Nein, Mark ist gerade nicht
da. Holt sich Zigaretten. Ich bin nur 'ne Schulfreundin von ihm. Ja. Ja.
Nein, nur zu Besuch. In zehn Minuten sicher. Ja. Okay, bis dann.
Pause.
Jana: Scheiße, wär' ich doch nicht drangegangen. Das waren Marks
Eltern.
Ravi: Stöppsel's Telefon aus.
Joel: Was machen wir, wenn Marks Eltern unerwartet zurückkehren?
Ravi: Beichten wir ihnen alles und lassen sie die Polizei rufen. Oder
wir mieten uns in ein Hotel ein.
Jana: Ihr macht euch zu viele Gedanken. Ich bin mir ganz sicher: Die
Polizei lässt nicht mehr lang auf sich warten.
Es wird dunkel.
12. Szene
Es wird hell im Zuschauerraum.
Vor der Bühne, also direkt vor dem Publikum, steht rechts der Tisch
eines Cafés, links zwei Sonnenstühle. An dem Tisch sitzt Tom, auf der
Sonnenliege liegt, in Badehose und Sonnenbrille, Alain.
Dann geht das Licht auf der Bühne an.
Rechts am Rand steht Mark an eine Wand gelehnt, den Motorradhelm
in der Hand.
Auf der Bühne ist das Zimmer, da sitzen Ravi, Joel und Jana am
Tisch. Jana und Mark haben ihre Handys in der Hand, sie telefonieren
miteinander. Unten kommt ein Kellner herein und bringt eine Speisekarte an den Cafétisch.
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Kellner zu Tom: Hier ist die Speisekarte. Wissen Sie schon, was sie
trinken möchten?
Tom: Ja. Bringen Sie mir ein Alsterwasser.
Jana auf der Bühne zu Mark ins Handy: Aber wie konnte das denn
passieren? So brutal kannst du doch gar nicht gefahren sein – es war
doch neu.
Mark ebenfalls ins Handy, dabei an seinem Motorrad arbeitend: Weiß
auch nicht, der Motor hörte sich schon die ganze Zeit komisch an. Und
hier gibt es nicht mal 'ne Werkstatt.
Alain erhebt sich von seiner Liege und geht ab.
Jana: Du wirst zu schnell gefahren sein. Irgendwann war der Motor
überfordert.
Mark: Soll das heißen, du verstehst mehr von Motorrädern als ich?
Tom winkt. Der Kellner tritt wieder auf.
Tom: Bringen Sie mir doch bitte die Pizza Livorno.
Kellner: Welche Nummer?
Tom schaut in die Speisekarte.
Tom: Das ist 25.
Der Kellner notiert sich die Bestellung.
Jana: Und was machst du jetzt?
Mark: Das ist die Frage. Ich trotte hier schon die ganze Zeit durch die
Landschaft. Das Motorrad liegt hinten an einer Straßenecke. Hier
gibt’s nicht mal einen Kiosk.
Alain kommt triefend nass wieder herein. Er nimmt sein Handtuch und
trocknet sich ab.
Ravi zu Jana, die inzwischen ihr Telefonat beendet hat: Was is' los mit
ihm?
Jana: Er hat 'ne Panne.
Joel: Wo ist er jetzt?
Jana: Er weiß es selber nicht. Irgendwo in der Pampa.
Der Kellner tritt wieder auf und balanciert ein Tablett mit einer Pizza
und einem Glas und stellt es vor Tom.
Tom: Dankeschön.
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Der Kellner: Guten Appetit.
Mark läuft über die Bühne rüber auf die andere Seite. Sein Motorrad
lässt er liegen. Alain setzt sich in seiner Liege auf, holt einen Stift
heraus und schreibt auf ein Blatt Papier. Er spricht das, was er
schreibt, und seine Stimme hallt, durch Lautsprecher, geisterhaft über
die Bühne.
Alain: Liebe Jana, lieber Tom, lieber Ravi, lieber Mark, lieber Joel, ich
schreibe diesen Brief an euch, auch wenn ich weiß, dass er euch nie
erreichen wird. Was heißt nie? Vergesst nicht, wir sind Träumer. Für
kurze Zeit lebten wir einen Traum. Wer träumt, darf an Wunder
glauben. Vielleicht kriegt ihr den Brief ja doch. Ihr wart mir die besten
Freunde, die ich je hatte. Ich möchte euch nur schreiben, dass ich
euch nie vergessen werde. Das Schönste an unserem Traum war
nicht die Erfüllung unserer Wünsche, sondern dass wir uns
gemeinsam daran gemacht haben, uns unsere Wünsche zu erfüllen.
Vielleicht war das die schönste Erfahrung unseres Lebens.
Seine Stimme verhallt. Er steht auf, lacht und faltet das Papier und
steckt es in eine große Weinflasche. Dann guckt er in die Kulissen,
zielt, und wirft die Flasche hinter die Bühne.
Ravi: Was wohl mit Alain jetzt ist? Und mit Tom?
Jana: Alain lässt sich jetzt die Sonne auf den Bauch scheinen. Und
Tom sitzt bei irgendeinem superteuren Italiener und isst seine
Lieblingspizza, wie ich ihn kenne.
In dem Augenblick schrillt eine Klingel hinter der Bühne. Jana, Joel
und Ravi fahren zusammen. Die Stimme des alten Mannes hallt über
die Bühne.
Die Stimme des alten Mannes: Sie schnappen uns. Sie kommen. Sie
schnappen uns alle.
Es schrillt zum zweiten Mal.
Ravi: Jetzt Haltung bewahren.
Jana: Sie sind es.
Man hört im Flur eine Tür gewaltsam aufbrechen. Dann geht die Tür
auf und zwei Polizisten kommen herein. Zeitgleich fliegen rechts und
links im Zuschauerraum die Türen auf und jeweils zwei Polizisten
treten zu Alain und Tom. Auch zu Mark kommt ein Polizist. Das
geschieht so plötzlich, dass das Theater auf einmal mit Polizisten
überschwemmt zu sein scheint.
Die 1. beiden Polizisten zu Jana, Joel und Ravi: Jana Rehl, Joel
Jorg, Ravi Gajare?
Die 2. beiden Polizisten zu Tom: Tom Kelzler?
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Die 3. beiden Polizisten zu Alain: Alain Torn?
Der einzelne Polizist zu Mark: Mark Korn?
Die Polizisten legen allen Jugendlichen Handschellen um.
Alle Polizisten sagen nacheinander: Bitte folgen Sie mir.
Das Licht erlischt, während die Jugendlichen abgeführt werden.
13. Szene
Der Vorhang ist geschlossen. Davor stehen Regale, mit Waren gefüllt.
In der Mitte eine Theke mit einer Kasse, hinter der eine dicke Frau
steht. Es ist eine Tankstelle, irgendwo an einer Landstraße. Wir sehen
einen der Überfälle, mit denen alles begann. Ist es ein Traum, den
einer der Sechs im Polizeigewahrsam träumt? Oder eine Erinnerung?
An der Theke steht ein Kunde, ein alter Mann. Er plaudert mit der
Verkäuferin.
Der Kunde: Ein schreckliches Wetter draußen. Seit Wochen grau und
kein einziger Strahl Sonnenschein.
Die Verkäuferin: Seien wir froh, dass es nicht regnet! Letztes Jahr um
diese Zeit war dieser Orkan.
Der Kunde: Ja, ja das Klima spielt verrückt. Das haben wir jetzt
davon. Na ja. Geben Sie mir noch ein bisschen Tee, ist gut gegen die
Kälte.
Sie gibt ihm eine Packung.
Die Verkäuferin: Ja, Herr Hofmeier. Das macht dann 3 Euro.
Er zahlt.
Die Verkäuferin: Und grüßen Sie Ihren Hund lieb. Vielleicht begegnen
wir uns ja mal, wenn Sie mit ihm Gassi gehen.
Der Kunde: Auf Wiedersehen, haben Sie noch einen schönen Tag.
Er verlässt die Tankstelle. Pause. Die Verkäuferin geht Rechnungen
durch. Plötzlich wird die Tür aufgestoßen. Zwei maskierte Menschen
stürmen den Laden und umstellen die Verkäuferin. Sie sind mit
Baseballschlägern bewaffnet. Die Verkäuferin stößt einen schrillen
Schrei aus.
Eine Mädchenstimme eiskalt: Alles Geld, was in der Kasse ist, und
zwar schnell. Sonst –
Das maskierte Mädchen droht mit einem Baseballschläger.
Verängstigt gibt die Verkäuferin der Gruppe bündelweise Geldscheine.
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Das Geld wird von behandschuhten Händen in Jackentaschen
gestopft. Die Verkäuferin sinkt hinter der Theke zusammen.
Eine Jungenstimme höhnisch: Ihnen noch einen schönen Tag! Zu
seiner Komplizin: Ob es bei den anderen auch so einfach lief?
Die beiden verlassen die Tankstelle. Eine Kundin betritt den Laden.
Eine ältere Dame. Sie sieht sich erst verwundert nach der Verkäuferin
um, bis sie sie entdeckt.
Die Kundin: Um Gottes Willen, Frau Lerch! Was ist passiert?
Die Verkäuferin matt: Ich ... wurde ... bestohlen ... Man ... hat ...
mich ... soeben ... bestohlen ...
Die Kundin: Um Gottes Willen! Ich hole sofort den Notarzt. Und die
Polizei! Das ist ja fürchterlich!
Sie eilt zum Telefon und telefoniert. Kurz darauf hört man die Alarmsignale eines Notarztwagens. Es wird dunkel.
14. Szene
Man hört einen Radiosprecher.
Radiosprecher: Und hier die Regionalnachrichten. Graunstein. Eine
Gruppe jugendlicher Verbrecher wurde heute von der Polizei festgenommen. Nach Angaben der Polizei waren die Täter von 16 bis
18 Jahre alt. Die Bande überfiel vergangenen Freitag mehrere Tankstellen in der Innenstadt. Die Jugendlichen sind geständig und gaben
an, das Geld zur Erfüllung ihrer Träume ausgegeben zu haben. Zwei
von ihnen waren mit dem Geld verreist. Außerdem haben die Jugendlichen zugegeben, am Samstag zwei Azubis aus Graunstein angegriffen und schwer verletzt zu haben. Die beiden mussten wegen
schwerer innerer Blutungen zeitweilig auf die Intensivstation, befinden
sich aber auf dem Wege der Genesung. Außerdem fand die Polizei im
Garten der Wohnung eines der Täter einen alten Mann vergraben,
möglicherweise handelt es sich dabei um den seit Freitag vermissten
Herrn Schulze. Er ist, ersten Untersuchungen zufolge, an einer
Überdosis Schlaftabletten gestorben. Die Polizei machte keine
Angaben darüber, in welchem Zusammenhang Herr Schulze mit der
Bande stand.
Das Radio verstummt.
Stille.
75
3.4 Nach dem Stück – Feedback der
Schauspielerinnen und Schauspieler
„Die Arbeit mit Arne und den anderen an den „Träumern“ war oft nicht einfach
für mich. Die Gruppe bestand aus den unterschiedlichsten Menschen und
Gemütern. Arne hat bei unseren Besprechungen immer versucht, alle in ein
Boot zu bringen; stets hat er auf die Bedürfnisse von einzelnen aufmerksam
gemacht, die im Strom der Arbeit und des Geschehens sonst leicht untergegangen wären. Dies verlängerte den Prozess, letztendlich wurde aber jeder
auf seine Weise von Arne wertgeschätzt und angehört. Beeindruckt hat mich
der ungeheure Wille Arnes, ein Stück auf die Bühne zu bringen. Wir, das
Ensemble, standen einmal kurz vor der Auflösung. Es war hauptsächlich Arnes
Verdienst, dass wir Probenzeit und Aufführung so verschieben konnten, dass
alle Bedürfnisse berücksichtigt werden konnten.“
„Die Zeit der Proben zu den „Träumern“ wird mir wohl ewig in Erinnerung
bleiben aufgrund der Tatsache, dass es oft ein heilloses Durcheinander war.
Trotz alledem war es wunderbar, dieses Stück von Arne auf die Bühne zu
bringen. Er versuchte, alle Wünsche und Gedanken sowie Vorschläge seiner
Schauspieler zu berücksichtigen, was die Sache natürlich um einiges erschwerte und Arne oftmals Kopfzerbrechen bereitete. Doch er hat es geschafft,
sich durchzusetzen und dies fantastische Stück auf die Bühne zu stellen –
dafür vielen Dank, Arne!“
„Das Wichtigste für mich war, wenn ich an die Probenarbeit zurückdenke, dass
aus den vielen Proben eine gelungene Aufführung resultierte. Die Reaktionen
des Publikums haben die eigene Zufriedenheit bestätigt. Für mich war es ganz
wichtig, dass bei den Proben Harmonie herrschte, dies war selten so. Es
entstanden Reibereien, bis zu dem Punkt, wo wir hinschmeißen wollten. Eine
Pause brachte jedoch neuen Wind in das Vorhaben, sodass wir uns über ein
76
gelungenes Ende freuen konnten. Das Schönste war für mich zu erleben, wie
nach der Aufführung von der jetzt zusammengeschweißten Gruppe die große
Anspannung abfiel und sich in pure Freude verwandelte.“
„Ich stieß erst später zu der Theatercrew und erlebte eine zum Teil sehr unorganisierte Arbeit. Arne hatte Mühe, sich durchzusetzen, da er immer auf alles,
was kritisiert wurde, einging. Das machte die Probenarbeit teilweise sehr nervig.
Trotzdem hat es sehr viel Spaß gemacht, in totaler Selbstverwaltung ein Stück
auf die Bühne zu stellen.“
„Die Proben mit Arne waren nicht immer leicht. Er versuchte, es allen recht zu
machen und auf jeden einzugehen. Dadurch wurden die Proben manchmal
chaotisch. Man hat deutlich gemerkt, dass Arne eine tiefe Bindung zu den von
ihm geschaffenen Figuren hat, er legte viel Wert auf Details und ließ nicht
locker. Es waren spannende Proben und ich danke Arne sehr dafür, dass ich
daran teilnehmen konnte.“
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4. „Innenwelten“ –
Gedanken, Gedichte und Geschichten
(Arne Andersen)
4.1 Einführung in meine Texte (2000, 10 Jahre)
Schon als ich erst wenige Monate alt war, begann meine Mutter, mir jeden
Morgen ein Märchen zu erzählen, ein einfaches in kindlicher Sprache. Sie hatte
sich von Grimms Märchen die Geschichte von den Sperlingen ausgesucht, die
durch einen großen Sturm aus ihrem Nest geworfen und auseinandergeweht
wurden. Die Familie traf sich später auf dem herbstlichen Stoppelfeld wieder
und die vier Spatzenkinder berichteten ihrem Vater von ihren Erlebnissen und
wie sie es geschafft hatten, ganz ohne ihre Eltern den Sommer zu überleben.
Diese Geschichte, sagt meine Mutter, hat mich über Monate immer mehr
begeistert, es wurde mir einfach nie langweilig, immer dieselbe zu hören. Und
eines Abends, ich war etwa zwei Jahre alt, flüsterte ich meiner Mutter beim
Einschlafen die Fabel Wort für Wort zu – in einer Säuglingssprache, die jeder
andere für unverständliches Gebrabbel gehalten hätte; aber meine Mutter sagt,
sie habe jedes Wort verstanden und es sei auch noch druckreif gewesen. Das
kann nur daran liegen, dass ich diese Geschichte allmorgendlich gehört und
offenbar präzise abgespeichert hatte. In derselben „Langsamkeit“ folgten mit der
Zeit viele andere Märchen.
In meiner Kindheit war es das größte Glück für mich, wenn ich Geschichten
hören konnte: So gab es neben der Morgen- auch eine Abendgeschichte, neben
der Weihnachtsgeschichte auch solche über andere christliche Feste, und es
gab besonders ritualisierte Geschichten. Jahrelang war es nicht möglich, mich
zu baden, ohne dass dabei der Froschkönig zunächst erzählt und später gespielt wurde.
Aus den Geschichten wurden bald Gewohnheiten, die ich einforderte. Um die
Weihnachtszeit, also den ganzen Dezember und den ganzen Januar, wollte ich
jeden Tag aufs Neue von der Geburt des Christkinds hören. Und meine Mutter
erzählte mir dieses Geschehnis in einer selbst erfundenen Fassung aus der
Sicht von Öchslein und Eselchen, die im Stall froren und ungeduldig auf den
Frühling warteten und dann von Maria und Josef besucht wurden, welche eine
Herberge für die Nacht suchten. Das Erlebnis von der Geburt des Jesuskindes
machte sie selig.
Bald genügte es mir nicht mehr, Geschichten nur erzählt zu bekommen; ich
wollte sie selbst erleben: Es war an einem Weihnachtstag, berichtete mir meine
Mutter, dass ich verkündete: „Ich bin jetzt der Josef und du unsere Maria und
das ist unseres kleines Jesuskind!“ Und dann wurde die ganze Weihnachtsgeschichte Szene für Szene nachgespielt. Und das ging so: Ich spielte meine
Rolle mit Leib und Seele, also mit den erforderlichen Bewegungen, und oft mit
aus Seidentüchern oder Ähnlichem schnell gezauberten Kostümen, und meine
Mutter – häufig bei der Hausarbeit – übernahm immer die nächste Rolle als
Sprechrolle. Die „Besetzung“ der Figuren wechselte nötigenfalls automatisch.
Damit war geboren, was dann sicher zehn Jahre lang mein Lieblingsspiel war
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und sich auf alles erstreckte, was mich beschäftigte: Märchen zunächst, von
Elfen und Zwergen, von Engeln und Heiligen, das Leben auf dem Bauernhof,
Rittersagen, Piraten- und Indianergeschichten, um nur einige zu nennen.
Als ich das Buch „Oh wie schön ist Panama“ von Janosch geschenkt bekam,
entzündete sich meine Fantasie an den bunten Bildern; die Geschichte dazu
musste ich gar nicht erfahren, und ein neues Spiel war geboren: Tiger und Bär.
Zu diesem Spiel, welches über Jahre meine Lieblingsbeschäftigung werden
sollte, schrieb meine Mutter in ihr Tagebuch:
„Juni 1994
Von einem weiteren Rollenspiel ist zu berichten: Eine der fest eingerichteten
Spielserien mit endlosen Fortsetzungen und Varianten ist auch die von Tiger
und Bär. Sie basiert auf den Bildern des Kinderbuches „Wie schön ist Panama“
von Janosch, das Arne im Alter von etwa zwei Jahren geschenkt bekam. Den
Text habe ich Arne nie vorgelesen und so haben ihn alleine die Bilder zu einer
eigenen Geschichte inspiriert.
Sie beginnt immer mit Tigers Frage: „Bär, wie geht es dir heute?“, worauf der
nächste Satz aber durchaus lauten kann: „Jetzt spielen wir alles von Anfang an,
wo Tiger und Bär sich freunden!“
Dann treffen sich Tiger und Bär im tiefen Wald, beide sind einsam, und der Bär
wünscht sich schon lange einen Tiger zum Freund. Als der Tiger zu ihm sagt,
wollen wir uns nicht „freunden“, kann er sein Glück kaum glauben. Sie bauen
sich ein muckeliges Häuschen am Fluss, reetgedeckt mit Sonnenblumen am
Zaun und einem Schaukelstuhl im Garten, geradeso, wie es die gemütlichen
Bilder im Buch zeigen. Der Bär brät am eisernen alten Herd Fische. Überhaupt
ist der Bär zuständig für die Küche und alles Geregelte und Vernünftige, der
Tiger ist hauptsächlich „rebelli“, das heißt, er macht die unmöglichsten Sachen
oder besser solche, die der Bär unmöglich findet. Während nämlich der Bär ein
geruhsames Leben mit Gärtchen und Angeln und schönen Mahlzeiten und
trauter Zweisamkeit führen möchte, ist der Tiger unentwegt damit beschäftigt,
ein aufregendes Abenteuer nach dem anderen zu erleben und den Bär mal in
Staunen, mal in Angst, mal in Schrecken, aber immer in tiefe Bewunderung für
den Tiger zu versetzen.
Zurzeit schafft der Tiger – ohne das Wissen vom Bär – ein Haustier nach dem
anderen an. Er geht in Tierhandlungen, auf Bauernhöfe, in den Wald, ja sogar in
den Urwald und schleppt dem Bär alle möglichen und unmöglichen Tiere an,
weshalb der dann buchstäblich jedes Mal aus allen Wolken fällt: „Tiger, nein,
das geht wirklich nicht!“ Was der Tiger natürlich überhört und sich daran macht,
den nächsten Stall zu bauen. Das begann mit einem verlaufenen Huhn, „Perli“
genannt. Der Tiger liebt Perli über alles. Ich fühle noch heute die kleinen Bubenarme um meinen Kopf, mit denen der Tiger sein Huhn zärtlich umschloss. Es
folgten weitere Hühner, und der Bär musste zu dieser Zeit unentwegt Eiergerichte kochen. Dann kamen Schafe, Stute und Fohlen, Hund, Katze, Zebra,
Känguru und ein Pfau – kurzum, in dem kleinen Gärtchen am Fluss entstand mit
der Zeit eine bunte Mischung aus Zoo und Bauernhof. Der Tiger ging samstags
immer zum Tierpflegerseminar und imponierte dort mit seinen vielen Tieren und
seinem großen Wissen, während der Bär zuhause die Ställe sauber machte und
die Tiere versorgte!
Überhaupt überlässt der Tiger dem Bären fröhlich die Arbeit und den Routinekram, während er sich damit begnügt, Abwechslung und Abenteuer in dessen
sonst wohl eintöniges Leben zu bringen.“
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Bis ich zwölf Jahre alt war, spielte ich „Tiger und Bär“ mit Begeisterung. Rückblickend erkenne ich, dass ich mir auf diesem Wege als kleines Kind schon
unbewusst soziale Kompetenzen aneignete, die mir als Autisten nicht ohne
weiteres zu Gebote standen. So lernte ich als Tiger telefonieren, einkaufen und
plauschen, kurz, kommunikative Fähigkeiten, die im Alltag erforderlich und den
meisten Menschen selbstverständlich sind. Derlei Errungenschaften haben
wesentlich dazu beigetragen, dass ich verhältnismäßig unauffällig innerhalb
meines Umfeldes leben konnte. Ich habe mein Sozialverhalten als Rolle erlernt.
Abgesehen davon beflügelten diese Beschäftigungen auch meine Fantasie, und
innerhalb meiner selbst erfundenen Welten konnte ich mich – sogar alleine –
unermüdlich vergnügen. Dass es bei uns zuhause keinen Fernseher gab, hat
mir dabei natürlich auch geholfen.
Zufällig hörte ich eines Abends einmal Mozarts „Zauberflöte“ am Radio. Das hat
mich für die Oper begeistert. Meine Mutter notierte sich dazu in ihr Tagebuch:
„Eines Abends – es muss im Winter vor unserer Reise nach Dänemark und
Arne gerade drei Jahre alt gewesen sein – wurde im Radio im Anschluss an die
Nachrichten die „Zauberflöte“ gesendet. Arne stand da und lauschte. Das ganze
Kind eine einzige entzückte Entrückung: „Mama, sas ist das, Mama, sas ist
das?“ Ich brachte es nicht fertig, ihn von diesem sinnlich-geistigen Erlebnis
höchster Güte zu trennen, und so haben wir an diesem Abend einen guten Teil
dieses Kunstwerks gehört. Arnes Begeisterung veranlasste mich, Musik und
Libretto zu besorgen und mich damit zu beschäftigen. Den Inhalt habe ich Arne
dann Stück für Stück in Märchenform nahegebracht: „Es war einmal ein Prinz,
der hieß Tamino ...“ Wochenlang gab es nur den ersten Teil des ersten
Aufzugs, an dessen Ende sich Tamino und Papageno, ausgerüstet mit Silberglöckchen und Zauberflöte, auf den Weg machen, Pamina zu retten: „Lebt wohl,
lebt wohl, auf Wiedersehen, auf Wiedersehen!“ Ungezählte Male hat er diese
Szene gespielt und zum Abschied gesungen und mit den Ärmchen gewinkt.“
In dieser Zeit waren Opern – zunächst die „Zauberflöte“, dann die „Entführung“
und auch „Le nozze di Figaro“ – für mich Rollenspiele mit wunderschöner
Musik. Als ich einen Spielständer geschenkt bekam, benutzte ich diesen bald
als Bühne und begann mit Feuereifer, alle Geschichten und Opern, die ich
kannte, darauf mit meinen Ostheimer Holzfiguren1 zu spielen und meine Leidenschaft für das Theater war geboren.
Die Märchen, die unendlichen Rollenspiele und die Zauberwelt der Bühne: Das
alles hat mich zutiefst geprägt und mir ermöglicht, Fantasie, Redegewandtheit
und intellektuelle Fähigkeiten zu entwickeln. Außerdem fand ich damit feste und
gleichzeitig schöne Rituale, die, so weiß ich rückblickend, für mich als Autisten
lebenswichtig waren. Heutzutage setzt sich immer mehr die Erkenntnis durch,
dass sich die grundlegendste und bedeutendste Prägung der Menschen in den
ersten sechs Lebensjahren vollzieht. Sicher ist mein Werdegang dafür ein gutes
Beispiel.
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Von der Krippe über die Märchen bis zum Bauernhof hatte ich zu allen Jahresfesten diese Figuren
bekommen, so dass ich gut ausgestattet war und sie für meine Aufführungen nach Belieben einsetzen
konnte.
Als ich in die Schule kam, konnte ich sehr bald eine erste kleine Ernte dieser
Samen einfahren. Das Lesen und Schreiben war ein Geschenk für mich. Da ich
für meine Fantasie Nahrung brauchte, wurden Bücher für mich magische Tore
zu anderen Welten. Meine Mutter hat mir erzählt, dass ich schon mit sieben,
acht Jahren bei den Bibliothekaren in der Stadtbücherei bekannt war. Ich begann Geschichten zu schreiben, ganz mühsam in Druckbuchstaben, die ich vor
der Schreibschrift gelernt hatte. Eine der frühesten Erinnerungen, die ich an die
erste Klasse habe, war, dass die Aufgabe gestellt wurde, einen Satz zu schreiben. Begeistert krakelte ich mein Blatt voll, und mein Sitznachbar sagte: „Wir
sollen nur einen Satz schreiben, aber Arne schreibt gleich ein ganzes Buch!“
In der Folgezeit schrieb ich gern und viel, allerdings immer nur Anfänge. Wenn
mir ein neuer Einfall kam, war ich Feuer und Flamme und dachte die ganze Zeit
an nichts anderes mehr. Aber innerhalb von wenigen Tagen war die Begeisterung vorbei, und ich ließ die Sache fallen. Inzwischen habe ich viele unvollendete Manuskripte. Eins davon ist mein erster Romanversuch. Ich war wohl
neun. Das Buch sollte „Der dunkle Guru“ heißen, warum, weiß ich heute selber
nicht mehr. Es begann:
„Im Sommer 1998 verschwand Martin M. Rosenberg, ein Mann, über den es
schon immer viel Gerede gab. Er war nie ein Mann wie alle anderen, er war
auch nie ein Kind wie alle anderen gewesen ...“
Mit zehn schrieb ich erste Gedichte, die meinen Kameraden so gut gefielen,
dass sie sich welche bei mir bestellten. Als ich dann am Mittag in den verkehrten Bus stieg und mich lange durch irgendwelche fremden Gegenden fahren
ließ, schrieb ich auf dem Rücken meines Ranzens kleine Reimereien.
Zwei Beispiele:
Die Katze
Die Katz’ ist schön und elegant
und als königlich bekannt.
Sie ist graziös und ist auch schlau.
Ihr sagt, ihr mögt sie, und sie sagt „miau“!
Roboter
Roboter haben nicht viel Grips,
denn sie essen Mikrochips.
Doch sie können manches machen,
Fronarbeit und läst’ge Sachen.
Und dass sie das können, das ist gut,
weil diese Arbeit man nicht gerne tut.
Wir sollten in der Schule mit Worten malen und diese Aufgabenstellung machte
mir große Freude:
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Ein Weg führt durch die Dünen hin.
Die Wolken ziehen ohne Sinn.
Die Vögel singen,
die Mücken springen.
Die Sonn’ scheint heiß,
der Wind geht leis’.
Die Dünen wiegen sich im Wind,
das nahe Meer wogt hin gelind.
Ich ließ mich immer wieder anregen von Unterrichtsstoff, den wir in der Schule
durchnahmen. Als wir uns mit Griechenland beschäftigten und über Homers
Epen sprachen, beeindruckte mich das so, dass ich mich prompt hinsetzte und
eine eigene Mythologie verfassen wollte. Ich erfand die Welt von „Heklios“ in
acht „Gesängen“, das war 2000:
Ich soll erzählen von meiner Reise gen Heklios.
Ich soll erzählen von Rhidio und Rhodius, den Gründern des heiligen Heklios.
Ich soll erzählen, doch ich werde nicht erzählen.
Mag es Adrion tun, der Sänger der heiligen Lande.
Lauschet ihm, wie ich ihm gelauschet habe.
a. Erster Gesang
Und er hob zu singen an, sang eine alte Weise.
Und mir war, als ob die Götter sangen,
als ob alle seligen und unsterblichen Götter sangen:
„Es ward geschehen in dem Nichts,
in hellweißem, tiefschwarzem Nichts
und alles war in diesem Nichts,
und das Nichts war alles.
Alle Geister schlummerten in diesem Nichts,
alles, was wird,
alles, was war ...
Denn obwohl noch nichts erschaffen war,
war alles immer schon da:
Alle Geister, alle Dinge träumten einen tiefen Traum.
Alle Geister, alle Dinge sehnten sich nach endlichem Erwachen.
Doch erst musste noch viel Zeit vergehen,
viel Zeit in langen Träumen,
viel Zeit – und keine Zeit;
denn im Nichts gibt’s keine Zeit.
Alle Geister, alle Dinge schlummerten in keiner Zeit.
Alle Geister, alle Dinge sehnten sich nach endlichem Erwachen.
Da! Ein Feuer ist entflammet.
Dieses Feuer lässt sie all’ erwachen!
Und alle Dinge, alle Geister wachen auf aus tiefem Schlummer –
dies ward die Geburt der Welt.
Es ward geschehen im Nichts,
im hellweißen, tiefschwarzen Nichts.
Es ging weg vom Nichts, es geht hin zum Nichts.
Es ist Nichts und es bleibt Nichts,
....
82
Es folgte meine Erich-Kästner-Zeit. Die Gedichte von ihm gefielen mir, sie
waren witzig und provokativ. Kurz nach dem 11. September 2001 verfasste ich
zwei Gedichte zu diesem Ereignis. Da ich mitbekommen hatte, was meine
Mutter dazu dachte, verarbeitete ich dies kurzerhand im Stil der Gebrauchslyrik
der Zwanziger Jahre:
Mich beunruhigt das Weltgeschehen.
Hast du’s auch im Fernsehen gesehen?
Wie die großen Flieger rasten,
und die World Trade Center zerbarsten?
Bleiben die Terroristen Sieger?
Oder finden wir uns bald im Kriege wieder?
2002 habe ich als mein letztes unbeschwertes Kindheitsjahr in Erinnerung.
Nach einer glücklichen Kindheit im Rheinland zogen wir um nach Flensburg. In
der neuen Stadt und insbesondere in der neuen Schule fühlte ich mich sehr
wohl. Im nächsten Sommer schrieb ich Kurzgeschichten, und dieses Genre kam
meiner Art entgegen: Ich konnte eine solche Geschichte im Augenblick des
Einfalls niederschreiben und war fertig, bevor eine neue Idee mich ablenken
konnte. Im neuen Schuljahr, der achten Klasse, genoss ich es denn auch sehr,
zu dem Unterrichtsstoff Geschichten verfassen zu dürfen und die meiner Klasse
vorzutragen.
Im Winter 2006/2007 versuchte ich mich erstmals an einem Theaterstück – „Die
Träumer“.1 Es geht um eine Jugendbande, die Tankstellen überfällt. Die Teenager wollen sich mit dem gestohlenen Geld ihre größten Träume erfüllen. Das
Stück ist erfüllt von einer verzweifelten Wut über ein leeres Leben, welches uns
alle umgibt: Leer, weil die meisten Menschen in der vorgezeichneten Alltagsmaschinerie trotten, ohne ihr Leben zu hinterfragen. Leer, weil wir in einer
Gesellschaft leben, die uns kaum eine andere Möglichkeit lässt: Die meisten
Menschen müssen dem kollektiven Leistungszwang gehorchen, weil sie sonst
untergehen würden. Die Jugendlichen begehen ihr Verbrechen, um aufzubegehren. Das Theaterstück ist Ausdruck eines Lebensgefühls, das ich selbst in
jener Zeit stark empfand und das ich in meiner Umwelt beobachten konnte. Ich
wollte dem Überdruss Ausdruck verleihen, dem Überdruss gegen ein gewöhnliches Leben, das die allermeisten führen, voller Langeweile und ohne eine
Möglichkeit, Erfüllung zu finden.
Mit 14 Jahren habe ich einige Szenen aus Max Frischs2 „Graf Öderland“ gelesen, die mich zutiefst beeindruckten, da sie von diesem Überdruss handeln und
mir aus der Seele sprechen:
Ein Mensch von siebenunddreißig Jahren, Kassierer bei einer Bank, brav,
gewissenhaft zeit seines Lebens, gewissenhaft und bleich, und eines schönen
Abends nimmt er die Axt und erschlägt einen Hauswart, der nichts dafürkann.
Warum? (...) Es gibt Augenblicke, wo ich ihn begreife ... (...) ... vierzehn Jahre
an der Kasse, Monat um Monat, Woche um Woche, Tag für Tag, ein Mann, der
seine Pflicht erfüllt, wie wir alle. Schau ihn dir an! Ein Mensch ohne Laster, alle
1
2
Zum Theaterstück gibt es eine Einführung, welche ich als Referat anlässlich der geplanten – und später
erfolgten – Aufführung gehalten habe.
aus: Max Frisch „Graf Öderland“, edition suhrkamp, Suhrkamp Verl., Frankfurt/Main, Ausg. 1966, S. 8 - 11
83
Zeugen bestätigen es, ein stiller und friedlicher Mieter, Naturfreund, Fußgänger,
unpolitisch, Junggeselle, seine einzige Leidenschaft war das Sammeln von
Pilzen, ein Mensch ohne Ehrgeiz, scheu und arbeitsam, ein geradezu vorbildlicher Angestellter. (...) Es gibt Augenblicke, wo man sich wundert über alle, die
keine Axt ergreifen. Alle finden sich damit ab, obschon es ein Spuk ist. Arbeit
als Tugend. Tugend als Ersatz für die Freude. Und der andere Ersatz, da die
Tugend nicht ausreicht, ist das Vergnügen: Feierabend, Wochenende, das
Abenteuer auf der Leinwand. (...) Hoffnung auf den Feierabend, Hoffnung auf
das Wochenende, all diese lebenslängliche Hoffnung auf Ersatz, inbegriffen die
jämmerliche Hoffnung auf das Jenseits; vielleicht genügte es schon, wenn man
den Millionen angestellter Seelen, die Tag für Tag an ihren Pulten hocken, diese
Art von Hoffnung nehmen würde – groß wäre das Entsetzen, groß die Verwandlung. Wer weiß! Die Tat, die wir Verbrechen nennen, am Ende ist sie nichts als
eine blutige Klage, die das Leben selbst erhebt. Gegen die Hoffnung, ja, gegen
den Ersatz, gegen den Aufschub ...
„Die Träumer“ begehen ihre Verbrechen in vollem Bewusstsein, dass sie dafür
gestellt und inhaftiert werden. Für sie sind wenige Augenblicke Glück wichtiger
als die Jahre, die sie im Gefängnis verbringen werden ...
Arne Andersen
84
4.2 Gedichte und Geschichten
in zeitlicher Abfolge aus den Jahren 2000 bis 2009
2000, 10 Jahre
Vielztunbaldzrücks
Sie gehen, sie laufen,
sie stehen in Haufen.
In all den Gassen kann man sie finden,
dazu noch in Massen unter den Linden.
Sie laufen und treten und haken das Kinn,
doch was sie tun, es macht keinen Sinn.
Selbst wenn sie lachen und Lustiges machen,
können sie nicht glücklich sein,
denn sie fühlen nur zum Schein.
Der Adler
Aus hohem Wolkenhimmel
stürzt sich ein gewaltig Schatten,
und im Bruchteil der Sekunde
saust er durch die Täler schon,
lässt Wald und Wiese hinter sich,
dem Ziel entgegen.
Schrille Pfiffe,
laute Schreie,
große Panik –
sieh!
Schon hat er eins gefangen,
ein Murmeltier, das zappelnd will entfliehn,
hält er in seinen Fängen.
Oh goldener Vogel!
Du König der Lüfte!
Du Bild der Menschen,
da du aus aller Tiefe wieder schwingst
der Sonne zu.
85
2001, 11 Jahre
Es beginnt – ein historisches Ereignis
Heute wurd’ ein mächt’ges Wort gesprochen
von George W. Bush:
“Entweder ihr seid mit uns oder mit den Terroristen!
Alle ihr Extremisten geht – kusch!
Hier spricht George W. Bush,
verschwindet all’ ihr Fundamentalisten!“
Das mag der Anfang des Dritten Weltkrieges sein,
denn die geh’n nicht „kusch!“ –
auch wenn hier spricht George W. Bush.
Und die Deutschen sollten’s doch eigentlich wissen!
Stattdessen machen sie fröhlich mit:
Sie springen auf und schreien beflissen:
„Wir fühlen uns auch angegriffen,
und deshalb bombardieren wir mit!“
Ich weiß, ihr macht euch keine Sorgen,
ihr denkt nicht so viel an Morgen,
ihr macht eure Augen ganz fest zu,
und bildet euch ein, dann habt ihr Ruh.
Ihr sagt: „ Es wird schon nichts passieren!“
und seid bestürzt, wenn sie euch bombardieren.
In Afghanistan rufen sie den Heiligen Krieg aus.
Tausende von Menschen wandern zur Grenze hinaus.
Sie rennen um ihr Leben oder erstreben,
in Gräben mit Blechdächern zu überleben.
Den Israelis kommt diese Stimmung nur recht,
sie nutzen die Chance und machen Jassir Arafat schlecht:
„Jassir Arafat heißt unser Osama bin Laden!“
erklärt Sharon. Und übersieht den verursachten Schaden.
Ach ja, und in Frankfurt die Börse stürzt,
sie rauscht buchstäblich in den Keller –
sie hat das ganze Drama noch richtig gewürzt.
Die Welt wird dunkler statt heller.
Jetzt kommt der Terrorismus richtig in Fahrt:
Der Kölner Dom wird wohl nicht mehr lange stehen,
der Eiffelturm auch nicht – es sei denn, sie schießen daneben.
Die Terroristen werden auf ihre Art
auch ein Ende des Krieges erstreben.
Sie werden’s den Amis schon zeigen –
aber zu welchem Preise!
Die Amerikaner schlagen zurück und der teuflische Reigen,
der circulus vitiosus, dreht sich im Kreise.
Das nennt man Krieg, und das wird es werden,
denn man unterliegt nur über seine Leiche.
Das wird der Dritte Weltkrieg auf Erden
und das Ende von Amerikas stolzem Reiche.
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So begraben wir dieses Amerika – laut oder still.
Es hat’s nicht anders gewollt.
In einem großen Geschichtsbuch wird es zusammengerollt
für den Fall, dass die Zukunft noch etwas von ihm wissen will.
Vielleicht kann sie aus seinen Fehlern lernen –
das Morgen wird dann viel besser werden.
Ein Brief
Liebe, allerliebste Tante,
wie geht es dir dort in Kassel?
Hörtet ihr auch von dem Schlamassel?
Und was sagen die Verwandten?
Mich beunruhigt das Weltgeschehen.
Hast du’s auch im Fernsehen gesehen?
Wie die großen Flieger rasten,
und die World Trade Center zerbarsten?
Bleiben die Terroristen Sieger?
Oder finden wir uns bald im Kriege wieder?
Auswandern will die Familie Schmidt,
nach Kanada zu ihren Bekannten.
Doch Kanada will keine mittellosen Immigranten.
Wär’ das nicht so – ich ginge mit.
Auch Karsten ginge gern weg von hier,
denn wir leben in Köln – einer Großstadt, das wissen wir.
Und Karsten meint, Köln wird bombardiert,
wollen wir hoffen, dass er sich irrt.
Sonst gehen wir vielleicht in die Berge –
die Alpen werden nicht so leicht abgeknallt.
Mein Traum wär’ ja ein Häuschen am See,
inmitten von einem kleinen Wald.
Hättest du nicht auch Lust dazu?
Überleg’ dir das mal in Ruh:
Du kämst mit und gäbst uns ein bisschen Geld,
und wir fürchteten uns nicht mehr vor’m Geschehn in der Welt.
Na, was hältst du davon?
Kann dich das nicht begeistern?
Dort könnten wir das Kriegsgeschehen meistern.
Nun mach’ schon mit, komm!
So, nun mach’ ich Schluss für heute.
Und hör’ nicht auf die Reden der Leute,
es ist nämlich oft dumm, was sie sagen,
und dummes Zeug macht immer Schaden.
Ich hoffe auf ein Häuschen am See,
in diesem Sinne, dein René !
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Morgenspaziergang im November
Es riecht nach Schnee.
Der Raureif schimmert glitzernd-kalt,
und Eiskristalle schwimmen auf dem See.
Das Jahr wird alt.
Frische Luft bläst mir ins Gesicht.
Ich geh auf alten Pfaden.
Die Sonne verbreitet gold'nes Licht
und geht im Himmelsblauen baden.
Die Nebel lichten sich am Horizont.
Die Luft ist klarer als Kristall.
Man lächelt, während man sich sonnt
und findet Freude überall.
Alles ist so wunderbar,
dass man das Übrige vergisst.
Man ist so glücklich, wie man niemals war,
und schreibt zu Hause ein Gedicht.
2003, 13 Jahre
Eine Geschichte aus dem Sommer 2003
Was wirst du tun, Ali Bey?
Ich lernte ihn im „Gyrros“ kennen, einem jener schrecklichen, verrauchten
türkischen Imbisse, die nichts als Pommes frites und Döner anzubieten haben.
Damals war ich dreißig und hatte eine tiefe seelische Krise. Ich – der äußerlich
erwachsen aussah und mich innerlich doch noch so kindlich fühlte – passte
nicht in die ernsthafte Umgebung voller Höflichkeit und ohne Freundschaftlichkeit, in der ich als Übersetzer arbeitete. Ich wollte so gerne Schriftsteller werden
und traute mir das nicht zu.
Damals ging ich manchmal an einsamen, verregneten Tagen über die Straße,
um im „Gyrros“ eine Portion Pommes frites zu essen. Und so machte ich die
Bekanntschaft mit Ali. Die Bekanntschaft – und die Freundschaft. Ich war so
einsam mit meinen dreißig Jahren, mit einer Arbeit, bei der ich nicht ich selbst
sein konnte. Auch Ali war einsam in seiner kleinen Wohnung im heruntergekommenen Norden der Stadt. Familie hatte er nicht, er, der Sohn eines
türkischen Ehepaares aus Istanbul, das 1962 nach Deutschland emigriert war.
Dort wurde er in ein Kinderheim in Münster abgeschoben. In seiner unglücklichen Jugend fiel er immer wieder durch sein aggressives Verhalten auf.
„Ich wollte mich einfach bemerkbar machen!“, erzählte er mir später. „Ich wurde
wie Luft behandelt. Oder besser gesagt: wie eins von 150 Kindern, die ihren
Betreuern vollkommen gleichgültig sind.“ Er wurde erst haschisch-, dann
ecstasyabhängig, nur um das Elend zu vergessen. „Ich träumte immer davon,
ein Europäer zu sein. Jetzt weiß ich, dass auch nicht jeder Deutsche eine
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glückliche Jugend hatte, aber alle Kinder, die ich sah, waren glücklich und
wohlbehütet, gingen ins Kino oder ins Theater, studierten oder verdienten Geld.“
Drogenabhängig und unglücklich, mit gerade mal 16 Jahren ging er in die Lehre
als Kfz-Mechaniker. Das war 1975. Er bekam keine Anstellung und wurde
arbeitslos. In diesem Zustand sah er sich gezwungen, Aushilfsstellen anzunehmen. Schon als er noch in der Lehre war, war er, um Münster den Rücken
zu kehren, nach Hamburg gegangen. Wie glücklich war er gewesen, als er,
nach mehr als sechs Jahren Unsicherheit, im „Gyrros“ eine feste Anstellung
gefunden hatte. „Ich hasste den Beruf als Kellner in einem solch heruntergekommenen Haus, aber alles, was ich bisher erlebt hatte, hasste ich noch
mehr. Mein Gott, ich war 26 Jahre und noch nie glücklich gewesen. Dabei hatte
ich doch – zumindest äußerlich gesehen – alles, was ich brauchte, um ein
normales, zufriedenes Leben zu leben. Aber in mir klafften Wunden aus meiner
Kindheit, die ich nicht sehen wollte und die mich die ganze Zeit über quälten. Ich
hatte mich durch eine geistige Mauer zwar geschützt, aber auch eingeschlossen.“
Im Sommer des nächsten Jahres traf ich ihn. Sein Gesicht sah auf den ersten
Blick hart und kalt aus, wären da nicht diese Augen gewesen, die so traurig
aussahen und zu sagen schienen: „Hättest du dasselbe erlebt wie ich, würde
dein Gesicht auch so hart aussehen.“ Auch ich war unzufrieden, wünschte mir
aber etwas ganz anderes als er: Er wollte weg von der Kindheit mit ihren
verhassten Erinnerungen von Kinderheim und Drogen. Ich aber wollte zurück in
die Kindheit, wo ich noch träumen konnte und glauben, meine Träume gingen in
Erfüllung. Ich wollte wieder Schule schwänzen, Streiche machen und abends
mit der unschuldigen Miene der Jugend beten können: Breit aus die Flügel
beide, o Jesu, meine Freude ... Immer, wenn ich die Orgelkonzerte von Mozart
höre, breche ich in Tränen aus. Heute noch. Ich wollte diese Konzerte immer
wieder hören und träumte davon, Opernregisseur zu werden. Ja, ich konnte
noch träumen. Doch als ich dann 30 war, schien es aus mit allen Träumen.
Und so trafen wir uns als Zwei, die sich auf dem Wege zu sich selbst verirrt
hatten. Oft kam er nach Ladenschluss noch hoch zu mir und trank noch etwas.
Dann saßen wir in meiner Stube, dem größten Raum in meiner Drei-ZimmerWohnung, und sahen uns schweigend an, zu erschöpft, um uns irgendetwas
erzählen zu können, aber trotzdem war jeder froh, nicht alleine sitzen zu
müssen.
An einem dieser Abende gab ich ihm einen Kosenamen, mit dem ich ihn noch
heute anrede: Ali Bey. Nach dem ehrlichen, gerechten und ernsten Kurden aus
Karl Mays Erzählung „Durchs wilde Kurdistan“, die mich in meiner Jugend so
begeistert hatte. Und ich las sie ihm vor, meine Lieblingsstelle, aus diesem
Buch. Und wenn ich fertig war, sah mich Ali Bey mit einem lachenden und
einem weinenden Auge an.
Das ist nun mehr als 30 Jahre her, und wir haben viel erlebt: Erfolge und Misserfolge, Kriege, Hungersnöte und Terroranschläge sind gekommen und wieder
gegangen. Aber unsere Freundschaft blieb. Ich bin inzwischen Opernregisseur
und Ali Bey hat in seiner Heimat, der Türkei, wenn auch nicht seine Eltern, so
doch Familie wieder gefunden und wurde freundlich aufgenommen. Ja, 30 Jahre sind nun herum, und das Wertvollste und Wichtigste ist mir rückblickend die
Freundschaft mit diesem Türken, den ich vor 30 Jahren im „Gyrros“ kennen
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lernte. Ich habe begriffen, was es heißt, dass alle Menschen Brüder sind. An dir
habe ich es gelernt, mein lieber, lieber, Ali Bey – vielen Dank.
Und als ich dich das letzte Mal gesehen habe, habe ich dir einmal mehr meine
Lieblingsstelle aus Karl Mays Buch „Durchs wilde Kurdistan“ vorgelesen. Hier ist
sie:
-Was wirst du tun, Ali Bey? Du bist der Ältere und der Weisere, ich komme, mir
deinen Rat zu erbitten.
-Du sagst, ich sei der Ältere. Das Alter liebt die Ruhe und den Frieden. Du
sagst, ich sei der Weisere. Die größte Weisheit ist der Gedanke an den Allmächtigen und Allgütigen. Er macht die Schwachen stark, er beschützt die
Unterdrückten, er will nicht, dass der Mensch das Blut seines Bruders vergieße.
Heute wirst du 64 Jahre alt, Ali Bey. Diese Erzählung ist mein Geburtstagsgeschenk für dich.
Winter 2003
Der lange Peter
Wenn ich mal wieder in München wäre – ich meine, so ohne Arbeit und Auftrag,
einfach nur in München –, wenn ich mal wieder die heißen Sonnenstrahlen im
Nacken fühlen könnte, mir mal wieder das überteuerte Großstadteis schmecken
lassen könnte, wenn ich wieder bei Freunden kostenlos in Planegg wohnen
dürfte, dann würd’ ich mir wohl dafür frei nehmen. Das deutsche Haus, der
Hugendubel, der lange Peter ... Die Erinnerungen befallen mich mit sehnsüchtigen Gefühlen ... Der Sehnsucht nach Ausbruch aus dem tristen Alltag einmal
nachgeben – was will ich im Norden? In dieser Stadt? Ich gehöre hier nicht hin!
Es gab eine goldene Figur, ich erinnere mich nicht mehr, wen sie darstellte, ich
weiß nur noch, wie sie im Sonnenlicht leuchtete, auf dem Platz ... Vor dieser
prächtigen Kirche stand sie, ach was, es war das Neue Rathaus, ja genau ...
Dieser Figur sollte ich meine Memoiren widmen und dann verscheiden! Ach
nein, das ist ja unmöglich, ich weiß den Namen der Figur ja nicht, wie soll ich
die Memoiren ihr dann widmen? Trübselige Gedanken! Lasst mich los!
Im Hugendubel, ich erinnere mich gern daran, gibt es einen Fahrstuhl, der die
Gäste in die höheren Etagen bringt, freilich, doch seine Außenwand war aus
Glas, und man konnte im Hochfahren das Rathaus und den Marienplatz
beobachten, zuerst zu ebener Erde und nach und nach aus der Luft, der
Hugendubel war ein hohes Haus, selbst im Maßstab des Rathauses ... Und das
Ganze ganz und gar kostenfrei! Es sollte als soziale Vergnügung, ehrenamtlich
bereitgestellt, prämiert werden! Auch in meiner Stadt in dem hässlich-modernen
Rathaus gibt es einen solchen Lift, doch das gar kein Vergleich ... Trübselige
Gedanken! Welche Gefühle! Was soll ich sagen? Lasst mich los? Nein, bleibt
da! Lasst mich träumen ...
Der lange Peter! ... Ich erinnere mich ganz klar! Ewige Stufen schritt ich
frohgemut hinauf – und begann, diese Stadt zu lieben! Von jeder Seite des
Turms liebte ich München! Ich wurde gleichsam eins mit dieser Stadt! Ach,
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ihr Erinnerungen! Und an der hölzernen Treppe stand ein Automat, wo man ein
5-Cent-Stück einwerfen konnte, welches dann zu einem Miniatur-Bild des
langen Peter geprägt wurde. Das Kupfer ist noch heute in meiner Brieftasche
als Talisman. Ich nehme es oft, wie jetzt, hervor, um es liebevoll zu betrachten.
Ach ihr Erinnerungen! Ich liebe euch!
Sylvester
Die Neujahrsglocken läuten,
das alte Jahr ist ein verklungen Lied.
Da gibt es viele, die, was sie getan, bereuten,
und manche, die es wundert, was geschieht.
Sanft fällt der Schnee,
zur Erde wirbeln weiche Flocken.
Das alte Jahr war Freud', war Weh –
vergessen ist's: Es läuten Neujahrsglocken!
Das alte Jahr wollt' uns was lehren
und mahnt uns: Macht es klüger in der neuen Zeit!
Das alte Jahr als einen Weisen ehren,
dazu sind wir oft nicht bereit.
Wenn wir unsre alten Fehler fliehen und vergessen,
wird auch das Neue Jahr uns in die alten Fallen locken.
Nein, an den alten Fehlern sollten wir uns messen!
Und wissend fröhlich sein beim Schall der Neujahrsglocken!
2004, 14 Jahre
Januar
Der Wind, ein klirrend kalter Hauch,
flüstert in meine Ohren,
und leise zittern Baum und Strauch.
Der Boden ist gefroren.
Der Sonnenschein, ein matter Glanz,
strahlt wie durch Nebel nieder,
das Laub, bewegt in leisem Tanz,
raschelnd singt es Lieder.
Voll Frieden fühl ich mich in Frost und Wind.
In leeren Straßen Stille schwinget,
die grauen Wolken ziehn gelind,
des Windes Lied nur klinget.
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Ein Baum
Baum.
Blätterbaum.
Oh bunter Blätterbaum.
Du machst ...
Oh bunter Blätterbaum.
Du machst
die Welt
taumelbunt.
Wie Welt
wie Baum
wie Blätterbaum.
Wie bunt.
Sommer 2004
Pfau und Pelikan
Pfau. Wenn er sein schillerndes Rad schlägt. Bunt und feierlich. Wie ein heiliges
Ritual. Ich sah ihn im Tierpark, als Kind. Neben den Rehen. Manchmal überflog
er den Zaun und trippelte gemächlich die Fußgängerzone entlang. Er trippelte
am „Restaurant Pfau“ entlang, das fand ich als Sechsjähriger besonders witzig.
Er schenkte dem noblen Haus keinen Blick. Es schien ihn nicht zu beeindrucken, dass das Café nach ihm benannt worden war. Er bewegte sich mit
einer so natürlichen Eleganz und hatte soviel Weisheit in den Augen, er wirkte,
wie ich mir einen König im Märchen vorstellte: weise und gerecht, Ehrfurcht
gebietend und unglaublich erhaben. Und als mir meine Mutter einmal erzählte,
dass, wenn man stürbe, die Seele einfach den Körper, dieses Stück Erde,
verließe und in ein großes Licht flöge, stellte ich mir meine Seele immer als
einen großen, prächtigen Pfau vor, der aus meinem Körper ausbrach und
strahlend, im vollen Ornat seiner Pracht, ein Rad schlug. Es gab ein Gemälde,
was immer zur Osterwoche aufgehängt wurde, welches Jesus Christus zeigt,
wie er strahlend und gewaltig über seinem Sarg schwebt, wiederauferstanden.
92
Der Hexenmeister
I.
Zaubern, was heißt das? Was? Du weißt's? Lächelnd sagst du mir, es heißt,
Tricks zu vollführen, Wunder vorzutäuschen? So, wie wir als Kinder spielten, mit
Papas Zylinder und dem schwarzen Umhang? Hokus-Pokus-Fidibus – und weg
war das Buch?
Zaubern? Wunder vorzutäuschen? Nein, Freund. Zaubern heißt, Wunder
vollbringen. Wende nicht ein, das sei nicht möglich. Ich will es dir zeigen.
Wunder vollbringen. Was ist ein Wunder? Ein Wunder ist es, Freund, wenn die
Knospe einer Rose aufgeht oder wenn der, der dich liebt, dich anlächelt. Ein
Wunder ist es, wenn die Sonne morgens über dem Meer aufgeht. Es ist ein
Zauber. Und zaubern? Das heißt, eine Rose wachsen zu lassen und einen
Menschen zum Lächeln zu bringen. Zaubern, das heißt, einen Sonnenaufgang
zu genießen.
Liebe ist wohl der größte Zauber – lieben heißt zaubern.
Das wusstest du nicht? Freund, so begleite mich. Ich will es dir entdecken. Auch
mir will ich es entdecken. Folge mir. Wir wollen sie sehen und lieben, die Sonne.
Folge mir. Lass uns schauen, wie sie sich aus den Fluten des Meeres erhebt.
II.
Wenn du sagst, du hast schon mal einen Menschen geliebt, so geliebt, dass er
dir alles war, dann kannst du mich verstehen. So geliebt, dass du sein Lachen
in der Sonne sahest und seine Augen in Sternen. So tief geliebt, dass du selbst
dir entschwandest, als der Geliebte von dir ging. Wenn du das erlebt, durchlitten
hast, so weißt du um die Verzweiflung und um das Leben.
Sterne funkelten. Der samtblaue Himmel war übersät mit Sternen. Im See
spiegelte sich jeder einzelne Stern, und wenn eine Brise aufkam, war es, als
würden die Sterne tanzen, würde der Himmel kreisen, so sehr war das Wasser
bewegt.
„Bring mir Zaubern bei“, bat ich den alten Mann, der mit mir am See stand.
„Lass mich verstehen, wie man lebt. Leben heißt Zaubern, nicht wahr?“
Der alte, bärtige Mann lächelte.
„Ja“, antwortete er mit einer leisen, geschmeidigen Stimme. Sie klang wie das
Schnurren eines Katers. Der Mond fiel auf das silberne Haar des Mannes. Es
war Vollmond. Groß und rund stand er am Himmel und ich liebte ihn, den Mond,
weil er der Nacht sein Licht schenkte.
Das war ein Wunder. Alles schwieg.
Und ich stand und sah und war voll Gewissheit, dass dieser Traum Wahrheit
war.
III.
Groß und golden schien die Sonne auf die ehernen Pyramiden, die die Strahlen
der Sonne zurückwarfen ...
(unvollendet)
93
Herbst 2004, Bad Neuenahr-Ahrweiler
Heimkehr
Ich war in der Fremde manches Jahr:
Nun bin ich Heim gekommen.
Ich stehe wieder an der Ahr
und bin vor Freude ganz benommen.
Die Erinnerungen füllen
mir wieder Herz und Sinn.
Und ich frage mich im Stillen,
ob ich noch derselbe bin.
Sag mir, Freund, was ist die Ferne?
Warum lockt sie uns mit bunten Farben?
Die Erinnerungen sind wie Narben.
Und am dunkelblauen Himmel funkeln Sterne.
Ich geh den Weg am Fluss,
wo ich früher oft gegangen.
Als kleines Kind dacht' ich, ich muss
den lauen Wind einfangen.
Ringsum die Weinberge stehen.
Erinnerung tut wohl und weh:
Ach, ich könnte ewig gehen
den Fluss entlang, die „Ahrallee“.
Sag mir, Freund, was ist die Ferne?
Warum lockt sie uns mit bunten Farben?
Die Erinnerungen sind wie Narben.
Und am dunkelblauen Himmel funkeln Sterne.
94
Winter 2004
Die letzte Fahrt
Über das plätschernde dunkelblaue Meer,
das, von einer unfühlbaren Brise bewegt,
zu tanzenden, leichten Wellen wurde erregt,
der schwarze, trauernde Kahn glitt her.
Das Boot wiegte langsam in seinem tiefen Innern
den König, an den man sich ewig wird erinnern,
verletzt und alt liegt im Schiffe er.
Drei trauernde Feen in lilanem Kleid
schwingen die Ruder langsam und leise,
als wie ein Harfenspiel, auf der Reise
von dieser grausamen Welt ins Jenseits weit.
Ins selige Avalon, dem Land der Träume,
dem Lande des Friedens und der Apfelbäume,
dass für jede reine Seele steht bereit.
Artus, der König, lebte in dem Glanz
und ewig ihn rühmen wird die Kunde
seiner Ritter, seiner Tafelrunde.
Sie siegten in des Kampfes wildem Tanz
und, ewig wird das Lied davon erklingen,
sie zogen aus, den Gral bald zu erringen.
Doch sollte die Runde zerbrechen ganz.
Den Gral sollte finden Sir Galahad.
Den edlen Ritter doch fuhren bald schon
die trauernden Feen nach Avalon.
Es war des kühnen Helden letzte Fahrt.
Doch die Ruder nun schnell eilen,
die mächt'gen Nebel sich zerteilen,
seht, Avalon naht!
Sommer 2005, 15 Jahre
Frieden
Ich war auf langer, ferner Reise, doch
ich bin heut' heimgekehrt. Zurück bin ich.
Ich seh im Abendlichte wieder froh
der lieben Heimatfestung Zinnen hell.
Wie friedlich, festlich war es mir zumut,
als ich der Pforte Brücke überschritt.
Ich bin daheim. Und wenn die Tore schließen,
dann bin ich sicher vor der wilden Welt.
95
Die Geschichte des Königreiches Dänemark
Prolog
Als im Herbst 2003 der dänische Kronprinz Frederik sich mit seiner australischen Freundin Mary Donaldson verlobte, wurde auf Schloss Rosenborg
eine große Pressekonferenz gegeben. Viele nationale und internationale
Journalisten stellten dem jungen Paar Fragen. Eine Reporterin wollte von der
zukünftigen Kronprinzessin Mary wissen: “Was wussten sie von Dänemark,
bevor sie Kronprinz Frederik getroffen haben?” Mary antwortete: “Nicht viel.
Ich wusste, dass es ein Wikingerland war, ich kannte die Märchen von
H. C. Andersen, und ich wusste, dass ein Däne das Opernhaus in Sydney
entworfen hatte.” Den Menschen auf dieser Welt ist Dänemark wohl unter
diesen Stichworten geläufig: Wikinger, H. C. Andersen und, wenn man
Australier ist, das von einem Dänen entworfene Opernhaus in Sydney.
Das ist schon mal ein guter Anfang. Das, was sonst noch über die Geschichte
dieses Landes wissenswert ist, kommt hier:
Die Geschichte Dänemarks
Am Anfang jedes Buches über die dänische Geschichte kommen Details, die
recht langweilig sind, und die mit der Geschichte des Landes Dänemark
eigentlich kaum etwas zu tun haben: wann welche Urmenschen mit Feuersteinwerkzeugen irgendwelche Küsten des heutigen Dänemarks besiedelten, wann
erste Bauern des Neolithikums das Land bebauten, wie die Erfindung der
Eisensense eine Innovation der Landwirtschaft zur Folge hatte und wann die
ersten Menschen von Jütland westwärts zu den Inseln auswanderten. Wir
überspringen also diese Ouvertüre und lassen gleich den ersten Akt beginnen:
Vorhang auf, das Jahr ist 793 nach Christus und soeben hat die Wikingerzeit
begonnen. Sie begann übrigens nicht sehr zivilisiert: Ein Haufen skandinavischer Trunkenbolde hatte sich offenbar auf der Nordsee verirrt, und ehe ihr
Kater abgeklungen war, erkannten sie erstaunt, dass die Küste am Horizont
Britannien war. Northumberland, um genau zu sein. Dort machten sie sich dann
prompt ans Werk, plünderten ein paar Klöster und jagten den Briten und kurze
Zeit danach auch den Bretonen auf dem Festland riesigen Schrecken ein. Wenn
das die Geburtsstunde des dänischen Volkes sein soll, so passt das ziemlich
schlecht zu dem friedlichen, kleinen Völkchen, das sie später werden sollten.
Wikinger. Wilde rothaarige Kerle, drei Fässer Met als ständige Begleiter und
unerschrockene, weil permanent betrunkene Seefahrer. So kamen sie weit
herum, auf den Balkan genauso wie nach Grönland und sogar bis nach
Amerika. Sie führten sich wie richtige Kolonisten auf und kehrten oft gar nicht
mehr heim, sondern siedelten in der Fremde. Hätten sie etwas mehr Grips
besessen, hätten sie damals schon die Entdeckung Amerikas verkündet, und
die Welt hätte darauf nicht bis 1492 warten müssen.
Es lebte sich gut. Man fuhr mit stolzen Schiffen, die mit bedrohlichen Drachenschnitzereien verziert waren, und wo man segelte, flohen die Leute und ließen
ansehnliche Sümmchen zurück. Da die Wikinger selten nüchtern waren, ist es
erstaunlich, mit welcher Präzision die Angriffe geplant wurden. Man hatte
schnell spitz, wo das meiste zu holen war, und wo die größten Angsthasen
saßen. Beispielsweise die Handelsstadt Dordrecht in den heutigen Nieder-
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landen, wo der große Karl Münzen prägen ließ, überfiel man mit schöner Regelmäßigkeit jedes Jahr. Erst allmählich wurde man mutiger. Fahren wir doch mal
die Seine herab, und siehe da, Paris bibbert und bebt und bezahlt 7000 Pfund
Silber, um verschont zu werden. Da war die Normandie gewitzter. Die bezahlte
sich ein Wikingerheer, das die Aufgabe hatte, Wikinger fernzuhalten. Auch das
war ein guter Job mit einem netten Monatsgehalt, sehr empfehlenswert für die
älteren Segler, die das andauernde Überfallen und Plündern satthatten.
Dieses fidele Leben hörte leider schon 960 n. Chr. auf, denn der König Harald
Blauzahn beging die Dummheit, sich taufen zu lassen, und befahl zu allem
Überfluss auch noch seinen Untertanen, es ihm gleich zu tun. Nun ist das
Christentum an sich eine wirklich feine Sache, aber es billigt keine Raubüberfälle, so, wie es der alte heidnische Glaube tat. Insofern schon sehr
unbequem. Und hier, und um einiges feierlicher, setzen die Dänen selber die
Geburtsstunde ihres Landes an. Dieser König Blauzahn, über den wir im
Übrigen gar nichts wissen, leider auch nicht, warum man ihn “Blauzahn” nannte,
ließ sich zu seinen Ehren einen recht mysteriösen Grabstein errichten, auf den
er schrieb: “Von dem Harald, der die Dänen zu Christen machte.”
Leider muss an dieser Stelle auch jeder fromme Christ enttäuscht werden, der
glaubt, König Harald hätte aus ehrlicher Überzeugung dem Heidentum abgeschworen. Viel wahrscheinlicher ist es, dass er glaubte, die jütländische Horde,
seine Untertanen, dadurch besser beherrschen zu können.
Und jetzt expandiert Dänemark erstmal. In der einzigen Zeit von weltpolitischer
Bedeutung, die es je haben wird, erobert es England. Noch heute träumen
einige sentimentale Volkslieder, die in der klaustrophobischen Enge des
dänischen “Vaterlandes” treuherzig gesungen werden, von der damaligen,
großen Zeit. Holstein, Mecklenburg und Estland werden bald erobert. Für ein
Land, das notorisch unter mangelndem Selbstvertrauen und dem Gefühl, vom
Rest der Welt nicht ernst genommen zu werden, leidet, war es eine herrliche
Zeit. Man war was. Die Alten trauern zwar noch den guten alten Zeiten nach:
Stellt euch vor, erzählen sie ihren Enkeln, Paris hatte damals solche Angst vor
uns, dass es uns 7000 Pfund Silber gab ..., aber die neue Generation hört
Beatles und Hip-Hop und ist mit der Lage der Welt zufrieden. Das war 1286.
Jetzt kommt ein außerordentlich tristes Kapitel, das Reich zerfällt, und eine
Menge selbsternannter Könige, die nicht mal im Lexikon aufgeführt wird, setzt
sich selbst auf den Thron und lässt sich dann ermorden, um dem nächsten auch
mal eine Chance zu geben. Mit vereinten Händen wird das stolze Vaterland
zerbröckelt, es bleibt ein kümmerliches Restchen zurück: ungefähr das heutige
Dänemark. Das ist außerordentlich bedauernswert; hätte Dänemark seine
Eroberungen halten können, wer weiß, wie jetzt die Weltgeschichte aussähe.
Andererseits wäre dann wahrscheinlich jetzt Dänisch die Weltsprache und
jeder, der diese mit schier unaussprechlichen Rülps- und Zischlauten gespickte
Sprache kennt, wird dankbar sein, dass ihr Sprachgebiet auf Dänemark
beschränkt blieb.
Also, Dänemark wird nach Kräften gedemütigt, besonders die Hanse hat es auf
das nun ziemlich wehrlose Land abgesehen. 1370 wird der Stralsunder Friedensvertrag unterschrieben, der mit den Versailler Verträgen die Ähnlichkeit hat,
dass er die Verlierer wütend und gedemütigt zurückließ. Inzwischen gibt’s auch
wieder einen halbwegs soliden König, König Valdemar, die dänischen Patrioten
gaben ihm später den Zunahmen “Atterdag”, das bedeutet “Wiedertag”. Es war
97
wieder Tag geworden. Valdemar war es auch, der zu Propagandazwecken eine
goldene Gans auf den Turm seiner Residenz setzen ließ: Die Gans guckte in
die Richtung der Hanse, die Valdemar mit Gänsen verglich. Man kann sie, auf
einer Fahrradtour durch Seeland beispielsweise, immer noch besichtigen. Heute
steht Valdemars Burg in einem verschlafenen Städtchen in Südseeland, in
Vordingborg, und guckt immer noch verhöhnend in Richtung Deutschland, das
inzwischen mehr als einmal Gelegenheit hatte zu beweisen, wie gänsrig es ist.
Ansonsten hat allerdings auch Valdemar nicht besonders viel verändert. Sagen
wir es geradeheraus: Die Männer sind gescheitert. Dieses eigensüchtige
Geschlecht, was sich seit geraumer Zeit auf dem Papststuhl und den Thronen
Europas behauptet, hielt sich merkwürdigerweise immer für das überlegene.
Jetzt folgt ein Lehrbeispiel, dass es nicht überlegen war. Denn der Herrscher,
der Dänemark einigermaßen wieder auf die Beine hilft, war eine Frau.
Wie zu erwarten war, war sie Witwe (wie sonst konnte eine Frau in die Nähe der
Macht kommen?), sie war Frau des Königs Oluf, der seinem Vaterland den
großen Gefallen tat und früh genug starb, damit Dänemark den Segen der
klugen Politik seiner Frau erleben durfte. Sie war wirklich ungeheuer glücklich,
denn auch ihr Sohn, als dessen Mündel sie zunächst fungierte, starb mit 17,
was ihr persönlich sicher Trauer bereitet, ihren politischen Plänen aber gut
gepasst hat. Und jetzt vollbringt sie ein Wunderwerk: Sie reist in ganz Skandinavien umher, plaudert mit diesen, plaudert mit jenen, ein Lächeln hierzu, ein
Lächeln dazu, und irgendwann finden sich Schweden, Norwegen und Dänemark in Kalmar ein und unterschreiben, dass sie ab jetzt ein Land sind: die
berühmte Kalmarer Union. Es ist geradezu ein Jammer, dass diese außerordentlich geschickte und schlaue Frau nicht Königin in Frankreich oder
Russland geworden ist, dort hätte sie sicher für die Weltpolitik wichtige Dinge
vollbracht. In Dänemark wurde sie zwar hoch geehrt, aber ihr Schaffen blieb
ohne weltpolitische Bedeutung. Einige Jahrhunderte später bestieg allerdings
eine Frau den russischen Zarenthron, die Margrethe so sehr ähnelt, dass sie
geradezu als Reinkarnation der dänischen Königin angesehen werden kann:
Katharina die Grosse. Sie hat dann gezeigt, zu was Frauen vom Schlage
Margrethes fähig sind.
Jetzt bricht wieder das übliche Chaos aus, was so schrecklich ermüdend zu
beschreiben und zu lesen ist. Selten dumme Könige, die auf gute, alte dänische
Namen wie Christian, Erik oder Frederik hören, machen sich daran, Margrethes
Arbeit zu zerstören, und 1520 ist es dann so weit. Schweden tritt aus, und das
ist der Anfang vom Ende. Dazwischen kommt noch ein bisschen Reformation,
weil sich die dänischen Bürger auch sehr gerne scheiden lassen können möchten, und weil die dänischen Mönche das Zölibat leid sind; also, machen wirs wie
Luther, und seitdem sind 98 Prozent der dänischen Bevölkerung evangelisch.
Wäre Dänemark ein menschlicher Körper, so gäbe es ein Gebiet, das es sicher
als seinen Augapfel betrachten würde, entsprechend wollte es seinen Augapfel
behüten, und nur so ist zu erklären, warum soviel Trara um die Sache mit
Schleswig-Holstein gemacht wurde. Es ist absolut unwürdig, wie viele Kriege,
Besetzungen und Vereinnahmungsversuche von beiden Seiten um dieses
winzige Fleckchen Erde gemacht wurden, an dem Dänemark so klammerte.
Es scheint geradezu, als hätte Dänemark seine nationale Ehre davon abhängig
gemacht, das Herzogtum Schleswig zu besitzen – mit dem Erfolg freilich, dass
es es verlor.
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Um eine Sache gleich zu klären: Wenn es darum geht, wer das “Recht” auf
Schleswig-Holstein hat, dann haben Deutschland und Dänemark gleichermaßen
Anspruch darauf. Schier undurchschaubare verwandtschaftliche Verhältnisse,
die den Hof Schleswig-Glücksburg mit dem dänischen Königshaus verbinden,
sorgen dafür, dass die Dänen Schleswig-Holstein eigentlich als einen Teil von
Dänemark betrachten. Ansonsten übrigens ein völlig absurder Gedanke zu
überlegen, wer Anspruch auf welches Land hätte, da fragten erobernde Könige
doch sonst nicht nach. Die leidige Geschichte beginnt noch mit Margrethes Tod,
die es sich kurz vor ihrem Ableben bei einem Anfall von Altershysterie in den
Kopf gesetzt hatte, dass die dänische Grenze bis hinunter nach Altona reichen
sollte. Und die Sache wurde bis 1945 nicht geklärt. Um es kurz zu machen: Die
Dänen verloren Schleswig-Holstein.
Als Nächstes kommt König Christian IV. an die Reihe. Kriegswütig, bauwütig,
politisch kurzsichtig (führte drei Kriege, die er alle verlor) und trotz allem bis
heute von dem dänischen Volk geliebt. Er hat vor allem ganz Nordeuropa
gestalterisch verschönert, ihm verdanken wir den runden Turm in Kopenhagen,
Glücksstadt in Schleswig-Holstein und Kristiania (Oslo) in Norwegen. Und er
war ein Weiberheld; böse Stimmen behaupten, er habe das gesamte weibliche
Schlosspersonal geliebt, von der Zofe bis zur Putzfrau. Nach diesem freundlichen, lebenslustigen König war Dänemark erstmal bankrott.
Während der Regierungszeit der nächsten Könige wird Dänemark von allen
Seiten angeknabbert, besonders Schweden hat einen gesegneten Appetit und
nimmt sich Schonen, Halland und Blekinge östlich des Öresund. Nun macht
Dänemark all die Stadien durch, die alle Länder in ihrer Pubertät durchmachen:
Absolutismus, Aufklärung, Revolution. All das durchläuft das immer kleiner
werdende Land friedlich, ohne große Tumulte und Skandale. Schon hier wird
das aufkommende Phlegma erkennbar, das später bezeichnend für das gemütliche dänische Volk werden sollte. Nach ungefähr 1000 Jahren Geschichte
wurde man schläfrig.
Die Aufklärung wurde in Dänemark von einem bemerkenswerten Mann vorangetrieben, es war der königliche Leibarzt Johann Struensee. Sein König war
Christian VII., ein Mann, der geisteskrank war, und sein Leibarzt war ein Mann,
wie er Friederich dem Großen gefallen hätte: durch und durch aufgeklärt, pompund prachtfeindlich, langweilig und fantasielos. Mit kompromissloser Penetranz
setzte er seine Vorstellung von einem modernen Staat um und schaffte es, sich
dabei die Feindschaft des gesamten dänischen Volkes zuzuziehen. Er entließ
nämlich haufenweise Hof- und Zeremonienmeister, verbot jegliche royalistische
Eleganz und verkündete dann Pressefreiheit, welche von allen Zeitungen
einhellig dazu genutzt wurde, über den blöden Politiker Struensee herzuziehen:
Dessen Schuld war es nun, dass das Königshaus seinen Glanz verloren hatte
und der Alltag so unfeierlich geworden war. Die Zeitungen erreichten ihr Ziel:
Struensee wurde irgendeines absurden Verbrechens angeklagt, in einem
Schauprozess für schuldig befunden und hingerichtet.
Das ist interessant und sagt viel aus über das dänische Volk: Dass ihm nämlich
ein bisschen festliche Hofzeremonie wichtiger ist als grundlegende Rechte wie
die Pressefreiheit. Noch heute schwelgt das ganze Volk, wenn ein adliges
Großereignis ins Haus steht, beispielsweise eine königliche Hochzeit.
Nur, damit wir die Jahreszahlen nicht aus dem Kopf verlieren: Struensee wurde
1772 hingerichtet.
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Auf die Bühne der Weltgeschichte tritt jetzt ein kleiner Mann, an dem man nicht
mal in der dänischen Geschichte vorbeikommt und der überall Ärger macht. Es
ist der Herr aus Korsika, dem sich auch Dänemark anschließt. Die Bevölkerung
des Landes war inzwischen dank der andauernden Kriege auf circa eine Million
herabgesunken, was bekanntlich den Kriegswillen der Machthaber nicht
dämpfte. Außerdem waren irgendwelche Minister auf die glorreiche Idee
verfallen, den Krieg gegen England so zu finanzieren, wie 1923 die Deutschen
den Ruhrstreik bezahlten: Man druckte zusätzliches Geld. Die Inflation wuchs;
in Norwegen, was damals noch ein Teil Dänemarks war, starben die Menschen
des Hungers, und 1815 stand man mit einem Scherbenhaufen da.
Ein wieder anderer König, Frederik VII., verkündete 1849 in Dänemark die
Demokratie. Die Dänen behaupten bis heute, er sei ein besonders kluger und
weitsichtiger Monarch gewesen. Mir kommt es eher so vor, als habe der König
unter einem akuten Müdigkeitsanfall gelitten. Er sah ja, wie es ringsherum,
beispielsweise in Deutschland, aussah und hatte keine Lust auf Scherereien.
Am Horizont tauchte bereits Bismarck auf, ein weiteres sehr unerfreuliches
Phänomen, und der liebe Frederik war richtig froh, die Verantwortung an andere
delegieren zu können. Es wird überliefert, dass er die Verfassung unterzeichnete, ohne sie vorher durchzulesen. Ich könnte mir vorstellen, dass er dabei
sogar gegähnt hat.
Tja, jetzt sind schon fast in unserer Zeit angelangt. Darf ich dem Leser noch
eine kleine Erfrischung anbieten, bevor sich der Vorhang zum letzten Akt hebt?
Es sind noch 150 Jahre bis zu uns; einiges streift Dänemark noch, ohne dass es
sich wecken lässt: Bismarck, Industrialismus, 1. Weltkrieg, 2. Weltkrieg und
„Nein” zum Euro – es ist eine Gutenachtgeschichte.
Bismarck machte sich bei den Dänen unbeliebt, indem er Dänemark durch
einen kurzen, präzisen Chirurgenschnitt um 19.000 qkm kleiner machte, die
neue Grenze verlief bei Kolding. Im Zuge des drastisch verkleinerten Landes
verbreitete sich unter den Dänen eine Epidemie, die bis heute keiner ganz
ausgerottet hat, es ist die Nationalromantik. Diese hat in Dänemark erschreckende Blüten getrieben, noch heute ist es Brauch, beim Geburtstag das ganze
Haus mit tausend dänischen Flaggen zu schmücken, und der Weihnachtsbaum
wird anstatt mit Weihnachtskugeln mit “Dannebrog”-Wimpeln verziert.
1920 kam das nervige Thema Schleswig-Holstein noch mal auf, und es wurde
salomonisch getrennt: Dänemark bekam den nördlichen Teil, Deutschland den
südlichen; auf beiden Seiten gibt es Minderheiten, dänische auf der deutschen,
und deutsche auf der dänischen, die existieren noch heute.
Gegen die nationalsozialistische Besetzung, 20 Jahre später, kämpften die
Dänen typisch dänisch: Sie sangen aus volle Kehle und zu jeder möglichen und
unmöglichen Zeit nationale dänische Lieder, so dass die deutschen Soldaten
einen Tinitus bekamen. Als dann am 4. Mai 1945 die Deutschen wieder
abzogen, machte man drei Kreuze in den Kalender und ging zur Tagesordnung
über.
Und jetzt wird’s richtig gemütlich. Eine Art Epilog. Was gibt’s Neues in Dänemark? In den 60er Jahren steigt die Zahl der Frauen auf dem Arbeitsmarkt, in
den 70ern gründen ein paar verrückte Jugendliche den “Freistaat Christiania”,
wo man inzwischen den billigsten Hasch Nordeuropas bekommt, in den 90ern
werden alle die vielen, vielen Inseln Dänemarks mit Brücken verbunden, Anfang
100
des 21. Jahrhunderts lehnt Dänemark den Euro ab. Auch dazu gab’s viele
Theorien, warum den Dänen der Euro suspekt ist, aber ich möchte wetten, dass
ich den Grund weiß: Mit der Krone verbindet der Däne sein Land, seine Heimat.
Für ihn ist diese Geldeinheit ein Symbol.
Und wer ein echter Däne ist, trennt sich niemals von einem geliebten Symbol.
Schulaufsatz 2005
Die Jugend Adolf Hitlers
Möchte man sich als unvoreingenommener Leser über die deutsche Geschichte
zwischen 1933 und 1945 informieren und möchte man auch etwas über den
Lebensweg des Diktators, welcher Deutschland in dieser Zeit beherrschte,
erfahren, steht man in einer Bibliothek oder auch in einer Buchhandlung alleingelassen zwischen Regalen voller Lektüre zu diesem Thema. Biografien zu
jeder Haupt- und Nebenperson des Führerstaates, Analysen über Hitlers
Anhänger und Feinde, Erinnerungen von Opfern und von Tätern, psychologische Untersuchungen über die Nazi-Ideologien und haufenweise Bücher über
den Politiker Adolf Hitler: Adolf Hitlers Berlin, Adolf Hitlers Wien, Stalin und
Hitler, Hitlers Jugend, Anmerkungen zu Hitler ... Es ist schwer, sich zu orientieren. Vertrauenswürdiges steht neben Reißerischem; dieses Buch behauptet,
Hitler hätte unter Parkinson gelitten; jenes Buch will beweisen, Hitler wäre
homosexuell, gewesen – inzwischen habe ich sogar ein Buch gefunden, dass
es sich zur Aufgabe macht, Stellung zu den vielen Büchern über dieses Thema
zu nehmen ... In der Not, in der man bei diesen vielen Darstellungen ist, beginnt
man die Bücher nicht nach Inhalt, sondern nach Breite zu sortieren und
entscheidet sich für das Dünnste: Es ist eine kleine Rowohlt-Monografie von
172 Seiten, geschrieben von Harald Steffahn, auf die ich mich im Folgenden
stütze.
Ich glaube, der markanteste Charakterzug Hitlers war seine Selbstüberhöhung,
ja, seine Selbststilisierung. Das ist eine Eigenschaft, die wir schon bei dem
halbwüchsigen Adolf beobachten können und die sich noch in Form von
vollkommen realitätsfernen Militäroperationsplanungen in den letzten Monaten,
ja Wochen des Krieges zeigt. Er sah sich selbst als Notwendigkeit an, als einen
Erretter der ganzen Welt, der sie aus den Klauen des “Ostvolkes” befreite; ohne
ihn, das war seine Überzeugung, würde die Welt in den Händen der Juden und
Bolschewiken zugrunde gehen. Intellektuell war dieses Weltbild gar nicht
untermauert, Hitler war das Gegenteil eines Intellektuellen. Er besaß eine mehr
als ungenügende Halbbildung. Er empfand auch nicht die Notwendigkeit einer
Logik, eines Beweises; ihm genügten sein schwärmerischer Traum und die
dunkle Ahnung, zu Großem berufen zu sein.
Liest man sein Pamphlet “Mein Kampf”, so kommt er aus einer arischen
Idealfamilie; er hatte eine Mutter, die in Haushalt und Kindererziehung aufging,
101
und einen Vater, den er verehrte. Die Wahrheit, die Historiker in mühevoller
Kleinarbeit herausgefunden haben, sah bedrückend aus. Wie es scheint, war
Hitler ein äußerst sensibles Kind, was seinem tyrannischen Vater die Gefolgschaft verweigerte. In der Familie Hitler gab es nur eine Meinung, die Geltung
hatte, nur ein Gebot, dem gefolgt wurde: dem des Vaters. Nicht zu Unrecht
weist Alice Miller darauf hin, dass die Familie Hitlers ein Führerstaat im Kleinen
war. Alois Hitler, Adolfs Vater, setzte seine Meinung kompromisslos durch;
denen, die ihm Paroli boten, drohten bestialische Strafen. Einem seiner Freunde
hat Hitler später anvertraut: „32 Schläge hat mir der Vater gegeben”. Das ist
sadistisch. Es bedurfte also einiger Standfestigkeit, sich einem solchen Vater zu
widersetzen, was Hitler schließlich tat, in dem er sich für den Malerberuf
entschied.
Zu dieser Zeit war er 16 Jahre alt und schon sehr absonderlich. In der Schule
fiel er durch einseitige Leistungen auf, er vernachlässigte die Naturwissenschaften, Französisch und Mathematik. Diese Fächer verlangten systematisches Arbeiten, eine Disziplin, die Hitler zeit seines Lebens nicht entwickeln
wird. Hitler war ein notorischer Tagträumer, er nahm allzu oft den Wunsch als
Realität und konnte die Realität nicht vertragen, wenn er mit ihr konfrontiert
wurde. Auch das kennzeichnet ihn bis in seine letzten Tage, wo er mit Divisionen, die es nicht mehr gab, Fronten aufbauen wollte, die längst überrannt
waren. In seiner Jugend bildete er sich etwa ein, den großen Gewinn in einer
Lotterie zu machen und malte sich sein ganzes Upperclass-Leben, welches
er mit dem gewonnenen Geld führen wollte, bis in die Tapetenmuster seiner
zukünftigen herrschaftlichen Villa aus. Als das große Geld ausblieb, verlor er nie
wieder ein Wort über diese Angelegenheit. Genaugenommen hatte Hitler auch
nur einen Freund, einen gewissen August Kubizek, der nur deshalb sein Freund
war, weil er Hitler geduldig zuhörte, wenn dieser von seinem Aufstieg zum
Malgenie des Jahrhunderts fantasierte. Die Seifenblase platzte, als er kühl von
der Kunstakademie in Wien abgewiesen wurde, doch das konnte Hitler wenig
anhaben; denn in dem Augenblick, in dem er die Absage in den Händen hielt,
kam er zu der Erkenntnis, dass er als Architekt noch viel genialer würde, denn
als Maler.
Zunächst gab es aber leider niemanden, der an den bombastischen Bauten,
die Hitler errichten wollte, Interesse hatte, und Hitler führte das Leben eines
Bohemiens, was ihn schließlich ins Obdachlosenasyl führte. In diesen Jahren
soll seine Weltanschauung entstanden sein.
Wie gesagt, Hitler verfügte über keine nennenswerten Kenntnisse auf irgendeinem Gebiet, solche hätten ihn in seiner simplen, aber von Donnerhall und
Sturmgebraus erfüllten Ideenwelt auch nur gestört. Dagegen ließ er sich gerne
durch die Groschenheftchen eines gewissen Georg Lanzes, der sich klangvoll
von Liebenfels nannte, anregen: Dieser predigte den stolzen, blonden, blauäugigen Arier, welcher sich gegen finstere (wahrscheinlich braunäugige und
schwarzhaarige) Gestalten behaupten müsse, und letztlich, nach geglückter
Mission, zum Engel erhoben wird. Eines der Hefte trägt die Überschrift:
“Theozoologie oder die Kunde von den Sodoms-Äfflingen und dem Götterelektron”. Doch lange wird sich Adolf bei einer solchen Überschrift nicht
aufgehalten haben. Er gewann aus solcher Lektüre die Erkenntnis, dass die
ganze Welt in höchster Gefahr schwebe, weil das Ostvolk binnen Kurzem alle
Arier eliminiert haben würde, und dass die Welt nur durch einen Menschen
gerettet werden konnte: durch ihn. Es war seine Verantwortung, die Welt vor
ihrem Untergang zu bewahren, und alle Juden mussten vernichtet werden;
102
sie waren eine Seuche, die das stolze Germanengeschlecht im Begriff war,
dahinzuraffen. Und er musste möglichst schnell an die Macht, weil, so fand er,
keiner in diesem Punkt so klarsehend war wie er.
In nächster Zeit siedelte er nach München über, wo er, wie schon in Wien,
anspruchslose Souvenirillustrationen malte, um seinen Lebensunterhalt zu
verdienen. Nach München war er übrigens gezogen, um dem österreichischen
Militärdienst zu entgehen, denn es stand unter der Würde des edlen Herrn
Hitler, für ein Land zu kämpfen, in dem so viele Völker vereint waren. Als die
Fahndung den Herrn Kunstmaler in seinem Münchner Domizil schließlich
entdeckte, bot er eine schmierig-unterwürfige Farce gegenüber der Kommission, welche ihm den Gefallen tat und ihn für wehrdienstunfähig erklärte. Nun
war er frei und konnte für sein Deutschland kämpfen, und ihm war, so komisch
das klingt, das Wort deutsch keine Auskunft, sondern eine Auszeichnung.
Als am Münchner Odeonsplatz die Kriegserklärung proklamiert wurde, stand
Hitler verzückt in der Menge. Er war aus zweierlei Gründen entzückt: Einerseits
erhoben sich die Germanen einig, um zum Sieg zu schreiten; andererseits –
und viel wichtiger für ihn – hatte er endlich wieder etwas zu tun. Die letzten
Jahre hatte er als Prophet im Wartestand verbracht. Gewiss meinte er, auserwählt zu sein, aber das allein bringt kein rechtes Monatsgehalt zusammen.
Nun ging er als Freiwilliger an die Front und machte sich um sein Deutschland
verdient.
Für Hitler wird das zur prägenden Erfahrung. Vergessen wir nicht, in ihm steckt
immer noch das sensible Kind, das sich nach Geborgenheit sehnt und diese nie
bekommen hat. Hier empfindet er sie zum ersten Mal.
Ich glaube, er blieb immer zu einem Teil dieser sensible Junge, so provokant
diese These klingen mag. Seine grauenhaften Verbrechen an den Juden
waren keine Affekthandlungen, für ihn waren es Dienste am Vaterland. Juden
waren für ihn keine Menschen, sondern eine Krankheit. Für ihn stellte sich die
“Endlösung” der Judenfrage genauso dar, als wenn er von der endgültigen
Ausrottung der Cholera gesprochen hätte. So entsetzlich und schrecklich das
ist, es ist die einzige Möglichkeit, zu verstehen, wie der im Kern weiche und
verträumte Hitler zum durchorganisierten Massenmörder wurde. Und dieses
Beispiel belegt die These, dass vielleicht gar nicht die offensichtlich aggressiven
und gewalttätigen Menschen die wirkliche Gefahr darstellen, sondern vielmehr
die Schwachen, die ihre Schwäche unbewusst auszugleichen gezwungen sind.
Hitler erlebt zum ersten Mal ein Zugehörigkeitsgefühl an der Front. Zum ersten
Mal hat er das Gefühl, angenommen zu werden, nachdem sein Vater ihn fast
aus dem Haus geworfen hätte, als er ihm seinen Berufswunsch anvertraute.
Die Kameradschaftlichkeit der Soldaten, das Aufeinanderangewiesensein, erfüllt
ihm seine Sehnsucht nach Geborgenheit.
Hitler hat in dieser Zeit ein Gedicht geschrieben, und wüssten wir nicht, dass es
von dem Diktator Adolf Hitler ist, wäre dieses Gedicht sicher oft zitiert worden
und hätte in die großen Anthologien der Kriegsgedichte Eingang gefunden. Uns
begegnet dort ein ganz anderer Adolf Hitler, einer, der in einem Gedicht über
Mitleid und Nationen übergreifende Menschlichkeit schreibt. Es geht um einen
deutschen Soldaten, der verwundet im Niemandsland zwischen deutschem und
französischem Lager liegen geblieben ist. Er schreit um Hilfe. Endlich hört man
ihn:
103
“Zwei Männer nahen seinem Schmerzenslager
Ein Deutscher ists und ein Franzos.
Und beide betrachten sich mit argwohnscharfem Blick
Und halten drohend das Gewehr im Anschlag.
Der deutsche Krieger fragt:
“Was tust du hier?”
“Mich hat des Ärmsten Hilferuf getroffen.”
“Es ist dein Feind!”
“Es ist ein Mensch, der leidet!”
Und beide senken wortlos das Gewehr
Dann flochten sie die Hände ineinander
Und hoben sorglich mit gestrammten Muskeln
Den wunden Krieger, wie auf eine Bahre,
Und trugen ihn selber durch den Wald,
bis sie zur deutschen Postenkette kamen.”
Ist das Hitler? Natürlich ist es ein Dilettant, der das schrieb; niemand würde
diesen Text mit echter Lyrik verwechseln. Aber können wir uns Hitler vorstellen,
der ein Gedicht über Versöhnung zwischen Feinden im Angesicht eines leidenden Kameraden schreibt? Wir sehen Hitler als von Nietzsche beeinflusst, was er
sicher auch war; aber hier hat er ein Gedicht über das Mitleid geschrieben,
jenes Mitleid, das Nietzsche so verhasst war.
Für Hitler hätte dieser Krieg nie zu enden brauchen. Er schreibt rückblickend, es
sei die schönste Zeit seines Lebens gewesen, und wenn man es näher untersucht, ist man geneigt, ihm zu glauben. Das erste Mal in seinem Leben fühlte er
sich wertvoll, fühlte er sich gebraucht. Er wurde wegen seines Mutes und seiner
Einsatzbereitschaft geschätzt, er taumelte sich in eine schwärmerische Ekstase
hinein, für ihn bekam der Kampf fürs Vaterland religiöse Dimensionen. Er war
weit davon entfernt – vielleicht fehlten ihm sogar die geistigen Mittel dazu –,
die reale Sinnlosigkeit und Grausamkeit der Schlachten und des Schlachtens
zu erkennen. Das Militär war auch das Einzige, dem er sich unterzuordnen
gewillt war. Im Nürnberger Prozess antwortete der Regimentsadjutant Fritz
Wiedemann, auf die Frage, warum man Hitler nicht zum Unteroffizier befördert
hätte, dass Hitler das nicht gewollt habe. Er gefiel sich offenbar in der bescheidenen Rolle im Hintergrund.
Der Krieg endete aber – unrühmlich, und Hitler behauptet, er habe nach dem
Tod seiner Mutter das erste Mal geweint. Wenn wir uns ansehen, dass es für
ihn eine heilige Aufgabe war, sein deutsches Vaterland zum Sieg zu führen,
können wir die rührselige Schilderung aus “Mein Kampf” vielleicht sogar
glauben.
Nun endet die Vorgeschichte und es beginnt der Aufstieg Hitlers. Er konnte
reden. Er hatte eine Art, so eindringlich und suggestiv die Zuhörer mitzureißen,
dass diese ihm alles aus der Hand fraßen. Er hätte auch von rosaroten Krokodilen sprechen können, das wäre – dank seines rhetorischen Naturtalents –
genauso gut angekommen. Es ist ein erheiternder Gedanke, wie glücklich Hitler
gewesen sein muss, als er an sich selbst entdeckte, dass er ein Talent hatte. Er
redete und die Menschen hörten zu. Und applaudierten. Bis dahin hatte er sich,
trotz all seiner fantasiebeflügelten Anstrengungen, nicht einmal selbst wirklich
davon überzeugen können, dass er eine Begabung besaß. Die schlichte
Malerei, derer er sich vor dem Krieg bedient hatte, war wirklich nichts, womit
man prahlen konnte.
104
Er hatte auch für sein Redetalent nie wirklich etwas getan. Er hatte es zufällig
entdeckt und es war das Einzige, was er je wirklich beherrschte.
Hitler ist alles andere als ein hochintelligenter Verbrecher. Er ähnelt Nero
oder dem literarischen Don Quichote. Er war ein Verrückter, ein Fantast, ein
Träumer. Voller giftiger Ideen zwar, aber an sich vollkommen ungefährlich.
Ohne die Möglichkeiten zur Macht und ohne ein so selten dummes deutsches
Volk wäre er ein unverbesserlicher Spintisierer geblieben und wäre vielleicht, in
aller Ruhe, 1967 in einem Münchner Altersheim gestorben.
Insofern ist er ein Ergebnis Deutschlands: Von Deutschen zum Führer gemacht,
von den Deutschen umjubelt, hat er die Deutschen in den Abgrund gezogen.
Erich Kästner1 sah das 1933 in seinem Gedicht voraus:
Ganz rechts zu singen
Stoßt auf mit hellem, hohen Klang!
Hier kommt das 3. Reich!
Ein Prosit unserm Stimmenfang!
Das war der erste Streich!
Wir brauchen kein Brot, und nur eines ist Not:
Die nationale Ehre!
Wir brauchen mal wieder den Heldentod
und schwere Maschinengewehre.
Die deutsche Welle, die wächst heran
als wie ein Eichenbaum.
Und Hitler ist der richtige Mann.
Der schlägt auf der Welle den Schaum.
Ihr Mannen, wie man es auch dreht,
wir brauchen zunächst einen Putsch!
Und falls Deutschland daran zugrunde geht,
juvivallera, juvivallera,
dann ist es eben futsch.
1
aus: Erich Kästner „Gesammelte Schriften für Erwachsene“, Droemer Knaur, Atrium Verlag Zürich,
1969, S. 296
105
Ballade
Geritten war in wildem Trab der Reiter,
gezwungen hat er lang sein müdes Ross.
Nun wird es Nacht und er kann nicht mehr weiter,
er sehnt sich so ins heimatliche Schloss.
Der Nebel wallt, am Himmel glänzen Sterne,
er hält an einem See, wo sein Pferd trinkt,
und seine Augen wandern in die Ferne,
ganz still er in Erinnerung versinkt.
Der See braust auf, es rauschen wilde Wellen,
der Nebel wird so dicht wie graues Tuch,
von Ferne klingen geisterhafte Schellen,
es naht der Nymphen zauberischer Zug.
Es gluckert, gurgelt, spritzt – die Seejungfrauen
umgaukeln keck den jungen Reitersmann.
Gebannt steht der, er kann nur staunend schauen
und jäh fühlt er, greift kalte Furcht ihn an.
Er nimmt sein Tier, er flieht, stürmt in die Winde:
“Trag' mich”, ruft er, “so weit du kannst, mein Ross!
So eil' mit mir, geschwinde, oh geschwinde!
Bring' mich zum Schutz ins heimatliche Schloss!”
2006, 16 Jahre
Der Weise
Wahre Worte sind nicht schön, schöne Worte sind nicht wahr. Tüchtige Worte
sind nicht beredt, beredte nicht tüchtig. Und: Wissende Worte sind nicht gelehrt,
gelehrte Worte nicht wissend.
Wer könnte das besser wissen als ich, Laotse, der Archivar des Fürsten DjingWang! In meinem Leben habe ich mehr schöne Worte, die nicht wahr waren,
gehört, als ich zu Papier bringen könnte. Ich bin müde, ein alter Mann, der sich
nach Einsamkeit sehnt. Seit drei Tagen lasse ich mich von diesem dicken Büffel
nach Westen tragen, in die Berge, wo ich mir meine Klause einrichten und das
Leben eines Eremiten führen möchte. Menschen sind anstrengend, ihre Gesellschaft ist ermüdend. In den Bergen begegne ich vielleicht hin und wieder einem
Tier, einem Adler, einer Ratte, mag sein, aber nie wieder werde ich einen
Menschen zu Gesicht bekommen. Die Menschen benehmen sich so unsinnig:
Sie nehmen denen, die zu wenig haben, noch mehr weg und geben denen, die
zu viel haben, noch mehr und damit den Rest.
Ich weiß das. Ich war dreißig Jahre lang Bediensteter des Fürsten Djing-Wang
und habe hautnah mitbekommen, wie die Menschen miteinander umgehen. Und
jetzt mag ich nicht mehr. Ich will meine Ruhe. Dabei haben mir alle gesagt, was
für ein unsagbar großes Glück es für mich gewesen war, dass der reiche Fürst
Djing-Wang mich zu sich an seinen Hof geholt hat, denn ich bin das Kind armer
Bauern. Hätte mich dieser Fürst doch auf den Reisfeldern meiner Familie ge-
106
lassen, statt mich in sein Schloss zu rufen, mir wäre es dort besser gegangen.
Arme Leute sind klüger als reiche, das habe ich gemerkt. In unserem Dorf
daheim, da waren alle Reisbauern arm, aber keiner hat dem anderen etwas
weggenommen, keiner gestohlen, keiner hat gelogen. Im Gegenteil, meine
Großmutter hat bis ins hohe Alter jeden Tag einen Teller Suppe mehr gekocht
und einem Straßenkind, das kein Zuhause hatte, damit eine Freude gemacht.
Am Hof bei Djing-Wang waren alle reich, alle verlogen, alle waren sie heimliche
Diebe, versessen auf den Besitz ihres Nachbarn.
Djing-Wang hatte mich an den Hof geholt, weil einer seiner Boten einmal durch
unser Dorf gekommen war und im Hause meines Vaters Unterkunft erhalten
hatte. Doch der Bote war arrogant und unhöflich gegenüber meinem Vater und
dem Rest des Dorfes, und die zornigen Bauern hätten ihn fast aufs offene Feld
gescheucht und mit ihren Mistgabeln verdroschen, hätte ich nicht Mitleid mit
diesem dummen, stolzen Mann gehabt. Ich war damals ein kleiner Junge, doch
meine Seele hatte ein scharfes Auge und war unverdorben, dafür war ich im
ganzen Dorf bekannt.
„Haltet ein“, rief ich den wütenden Bauern zu, „seht ihr denn nicht, dieser Mann
ist wehrlos und dumm! Wenn ihr euch über seine Reden aufregt, so ist es, als
würdet ihr den Worten eines Dreijährigen Beachtung schenken!“
Dann ging ich zu dem Boten hin, der verängstigt im Schlamm kauerte, half ihm
auf die Füße und verschaffte ihm einen Esel, auf dem er unbehelligt davonreiten
konnte. Daraufhin kam der Fürst Djing-Wang selbst in das Dorf, um den kleinen
Jungen, der seinen Kurier vor den Ausschreitungen der Bauern bewahrt hatte,
mit eigenen Augen zu sehen. Er fand Gefallen an mir und nahm mich mit,
obwohl meine Familie mich nicht gerne ziehen ließ. Ich weiß noch, an jenem
Nachmittage, an dem ich mich von meinen Eltern verabschiedete, waren
schwarze Wolken am Himmel, es war kalt und Graupel fielen. Mutter weinte und
wollte mir aber nicht den Mut nehmen, sie verbarg ihre Tränen. Ich versprach,
sobald wie möglich zurückzukommen, was man eben sagt, als kleiner Junge,
der das erste Mal das heimatliche Dorf verlässt.
Und dann begann meine Zeit bei Djing-Wang. Zuerst war ich sein Berater,
so jung ich war, doch meine Ratschläge wollte er nicht hören, denn er war
wankelmütig und machtsüchtig. So wurde ich dann sein Archivar. Zuletzt
mochte mich Djing-Wang nicht mehr, weil ich ihm gesagt hatte: Vortrefflich
handelnde Führer sind nicht kriegerisch, vortrefflich kämpfende Führer sind
nicht wutentbrannt, vortrefflich die Menschen verwendende Führer wirken unter
ihnen. Ich sagte ihm auch: Durch rechtschaffende Leitung des Reiches, durch
seltenen Gebrauch der Waffen, durch Ungeschäftigkeit erobert man die Welt.
Er wollte nicht hören. Also begann ich, sein Archiv zu verwalten, und er schaffte
sich einen Berater an, der ihm um den Bart ging und all seine waffenklirrenden
Vorhaben guthieß.
Und letztes Jahr fielen die Tartaren in sein völlig marodes Reich ein und
verwüsteten es. Da schnürte ich mein Bündel, kaufte mir diesen Büffel hier und
nun reite ich in die Berge. Die Menschen wollen es nicht hören: Nämlich, dass
sie durch Nachgeben stärker sind als das Wasser, welches das Weichste und
107
Nachgiebigste der Welt ist und doch selbst große Gebirge aushöhlen kann.
Die Menschen wollen sich lieber an ihrer Kraft berauschen und sinnlos wie Eber
gegen Wände anstürmen. Und die Menschen sind so versessen auf die Moral:
Dass dieses böse und jenes gut ist! Djing-Wang ließ jeden Tag auf dem Platz
vor seinem Schloss Hunderte Verbrecher, Diebe, Lügner, Hehler köpfen und
glaubte, so Recht und Ordnung aufrechtzuerhalten. Ich sagte ihm: Wenn auf der
Welt jeder weiß, dass des Guten Wirken gut ist, dann ist das Böse da; wenn
jeder weiß, dass des Tüchtigen Wirken tüchtig ist, dann ist das Untüchtige da.
Wenn es kein Böse gäbe, mein lieber, guter Djing-Wang, woran wolltest du
denn das Gute erkennen? Gäbe es keine Faulen, wer wäre fleißig? Du hast
mich wütend angefunkelt, Djing-Wang, aber eine Antwort hast du mir nicht
gegeben.
„Nein, ich habe nichts zu verzollen, guter Mann.“ Ein Zöllner. Und dabei habe
ich geglaubt, ich hätte schon jetzt den letzten Menschen meilenweit hinter mir
gelassen. „Sie brauchen mein Gepäck nicht zu durchsuchen, guter Mann. Ich
habe nichts, was sich verzollen ließe. Das hier ist also die Grenze, die Sie den
ganzen Tag bewachen?“ Vielleicht hätte ich Zöllner werden sollen statt Bediensteter bei Djing-Wang. „Wo ich hin will, wollen Sie wissen? Ich will dahin,
wo ich nie wieder einen Menschen sehe. Warum? Weil mich die Menschen ein
Leben lang missverstanden haben und ich den Rest meines Lebens in Frieden
verbringen will. Ich bin ein Lehrer, wissen Sie, jedenfalls hab ich immer einer
sein wollen, einer, der den Menschen beibringt, wie sie richtig leben. Aber ich
hab’s nur bis zum Archivar bei Fürst Djing-Wang gebracht. Jetzt fragen Sie
mich, ob ich mich nicht zu Ihnen ins Zöllnerhäuschen setzen und Ihnen beim
Abendbrot Gesellschaft leisten will. Sie sind neugierig? Nein, ich bin so müde,
dass ich mit niemandem mehr reden kann, mit gar niemandem. Aber wissen Sie
was? Schaun Sie mal hier. Das sind hundertzwanzig Blatt, von denen ich mich
jetzt auch trennen möchte. Diese Papiere sind das Letzte, was mich an meine
Zeit bei Djing-Wang erinnert. In den schlaflosen Nächten, die ich in DjingWangs Schloss verbrachte, wenn ich unglücklich war, dass mich niemand
verstand, habe ich diesen Blättern meine Ansichten von einem erfülltem Leben
und einem klugen Handeln anvertraut. Lesen Sie's, wenn es Sie interessiert,
sonst benutzen Sie's als Brotpapier.
Auf die letzte Seite habe ich die Quintessenz meines Lebens geschrieben,
schauen Sie mal, Spruch 81: Wahre Worte sind nicht schön, schöne Worte sind
nicht wahr. Tüchtige sind nicht beredt, beredte nicht tüchtig. Wissende sind
nicht gelehrt, Gelehrte nicht wissend. Der Weise häuft nichts auf: Indem er so
für andere wirkt, mehrt sich ihm selbst sein Besitz. Indem er so den andern gibt,
bleibt für ihn selbst das Meiste.
Was halten Sie davon? Wenn das Ihr augenblickliches Fassungsvermögen
übersteigt, denken Sie noch mal darüber nach. Und wenn Ihnen das zu lästig
ist, wie gesagt, nehmen Sie die Blätter als Brotpapier! Leben Sie wohl! Auf,
meine Ochsen, jetzt geht's in die hohen Berge, auf uns wartet Schnee und Eis!
Ach ja, Zöllner: Versuchen Sie nie, diese Blätter irgendjemandem zu zeigen –
die versteht eh niemand!“
108
Ecke Johannistrasse
Noch ein Kuss. Ihn noch ein letztes Mal an mich pressen. Ja, jetzt wein ich
sogar. Noch einmal: Ich liebe dich. Geflüstert. Ganz leise und geschluchzt. Du
weinst auch, wie kommst du denn dazu, wir sehen uns doch morgen. Da haben
wir dann die ganze Nacht für uns. Ich mag gar nicht sehen, wie du weinst, diese
wunderschönen braunen Augen weinen sehen, das darfst du nicht. Du musst
immer tapfer bleiben. Wir lieben uns doch. Warum muss man da weinen? Wir
heulen ja richtig. Ich will gar nicht von dir weg. Aber ja, ich muss. Das war doch
klar und da hilft’s Weinen gar nicht. Guck mal, so wurde ich erzogen. Was
nichts hilft, muss nicht sein. Wie komm ich denn jetzt darauf? Ach Gott, manchmal geht mir das alles auf die Nerven. Nein, ich kann es gar nicht haben, alles,
was mich von dir wegzieht, kann ich nicht haben. Du darfst mich jetzt nicht noch
mal in den Arm nehmen, weißt du, worauf du dich da einlässt? Dann geh ich gar
nicht mehr weg. Du bist so warm und hast mich so fest im Arm. Dein Hemd ist
schon ganz durchnässt von meinen Tränen. Das wirkt ja fast, als kämst du aus
dem Regen. Ich bin bei dir so geborgen, warum muss ich mich immer wieder
losreißen? Man, was heul ich. Wie wir wohl aussehen? An die schmutzige
Hauswand gepresst, hier, wo alles so grau ist. Wir sollten zufrieden sein. Siehst
du, wieder meine Erziehung. Sei zufrieden mit dem, was du hast. Aber ich hab
ja gar nicht, was ich hab, ich verlier es ja immer wieder. Ich press dich an mich,
warum kann ich dich jetzt nicht loslassen? Dann seh’ ich dich auch an, du
senkst deine Stirn auf meinen Kopf. Manchmal, wenn du mich im Arm hast,
weißt du, werden wir zu Stein, bewegungslos, und, weißt du, dann hab ich das
Gefühl, die Welt dreht sich um uns herum, ohne uns. Nun schaukelst du mit mir,
wie mit einem ganz kleinen Kind und streichst mir durchs Haar. Ich hab keine
Tränen mehr. Die hab ich jetzt alle dir gegeben. Stell dir vor, du hast jetzt meine
Tränen, das passt doch, wo du alles andere auch schon von mir hast, mein
Herz, meine Seele, ach klingt das alles so aufgeblasen, guck mal, so wurde ich
erzogen. Wieso rede ich eigentlich immer über meine Erziehung, geht dir das
auf die Nerven? Ob wir auch mal so sein werden wie unsere Eltern? Ach
stimmt, das können wir ja gar nicht. Wir beide werden immer am Rand der
Gesellschaft stehen, aber weißt du, das stört mich gar nicht, ich hab doch dich.
Tatsächlich, ich heul schon wieder. Also hast du noch nicht alle meine Tränen.
Du bekommst jetzt den Rest. Du lächelst. Ach, ich liebe dein Lächeln so. Ich
lehne meinen Kopf an deinen Hals und du flüsterst mir irgendetwas zu, du hast
ja recht, wir sehen uns ja schon morgen wieder. Was? Ja, die Nacht feiern wir
durch. Jetzt kichere ich sogar. Weißt du, warum? Weil ich mich darauf freue,
übermorgen so unausgeschlafen glücklich zu sein. Den ganzen Tag werd ich
müde und glücklich sein und du auch. Ich küss dich. Deine Lippen sind so weich
und du bist so warm, die Geborgenheit ist eine Droge, weißt du das? Du bist
eine Droge. Ich krieg die schrecklichsten Entzugserscheinungen. Du bist so
wunderbar. Ich könnte alles an dir aufzählen, ganz besonders deine Arme,
diese starken Arme ... Immer wieder kommen Tränen, dass es so viele davon
gibt. Sind Verliebte eigentlich verrückt? Ich lächele aber auch, irgendwie sind
wir schon sehr glücklich, oder? Ich bin es, ich hab dich. So schmalzig klingt das.
Mir wurde beigebracht: Gefühlsduseleien bitte vermeiden, dir auch? Wir sind ja
Jungen. Wir dürfen ja nicht weinen. Aber ich weine, ich weine, weil ich dich hab.
Weißt du, manchmal kommt es mir so vor, als könnest du mich gegen die
ganze, böse Welt beschützen. Manchmal genieße ich es, dich mitten auf der
Straße zu küssen, weil mir keiner von den Leuten, die mich dann böse
109
angucken, etwas kann. Weil du da bist. Wir sind zwei gegen die Welt, weißt du
das? Zwei, denen die Welt nichts kann. Weil wir zusammen sind. Ich komm
immer noch nicht von dir los. Du bist so groß, dass ich dich wert bin ... Ist dir
das peinlich, dass ich so ein Zeug rede? Weißt du was? Du bist der Erste, dem
ich wertvoll bin. Ich kann das irgendwie gar nicht verstehen. Du nimmst mich
wieder in den Arm, du sagst mir, wie wundervoll ich sei ... Ach, was hab ich
denn geredet. Du lächelst mich an, du hast so ein liebevolles Lächeln. Warum
sind wir eigentlich unnatürlich? Nein, ich schneid dieses Thema nicht schon
wieder an. Alle, denen ich von dir erzählen würde, würden sagen, wir wären
unnatürlich. Ich find das so schrecklich. Aber ich bin auch dankbar, weißt du?
Es ist ein tolles Gefühl, gegen die ganze Welt zusammenzuhalten, gegen diese
ganze beschissene Gesellschaft. Weißt du, früher wollte ich nicht so sein, wie
ich bin, aber jetzt bin ich froh, so zu sein ... nicht nur froh, weil ich dich hab,
sondern froh, dass ich Liebe erleben kann, die sich um gar nichts schert. Weißt
du, die andern Jungen, die ihre ganz normale Freundin kriegen, wissen ja gar
nicht, wie es ist, sich zu umarmen und ringsherum schauen alle feindlich. Oder
irritiert. Oder ärgerlich. Uns wird es schwerer gemacht, zu uns zu stehen, und
wir stehen zu uns, und zueinander. Darauf bin ich stolz, weißt du. Liebe hat
auch etwas mit Trotz zutun, das hätte ich vorher gar nicht gedacht. Aber es
stimmt. Du hast Recht, ich muss jetzt wirklich los. Aber es fällt mir gar nicht
mehr so schwer. Du lächelst. Morgen Abend gucken wir dann noch mal Titanic
zusammen, okay? Das müssen wir unbedingt machen. Der Film passt irgendwie zu uns, findest du nicht? Auch wir zwei lieben uns, über alle Vorurteile
unserer Gesellschaft hinweg. Ich lächele und hab immer noch Tränen in den
Augen. Du auch. Wir beide sind tapfer, da kann man gar nichts sagen. Was
meinst du, noch einen letzten Kuss? Es beginnt zu regnen, man müsste ein
Foto von uns machen. Im Nieselregen in irgendeiner grauen Industriesiedlung
lehnen zwei Jungen an der Wand und küssen sich. Ach, weißt du, du machst
mir Mut. Vielleicht sollte ich es den ganzen Arschlöchern auch einfach sagen,
was meinst du? Du hast Augen, die müssten verboten werden, so schön sind
die. Weißt du was? Wir feiern irgendwann mal Hochzeit. Nur um diese ganzen
Idioten zu schockieren. Nein, war nicht ernst gemeint, aber warum nicht? Ich lad
meine gesamte Spießer-Familie zu dem Fest, damit sie was haben, worüber sie
sich’s Maul verreißen können. Das würde ein Spaß. Ich muss jetzt los, wo ist
mein Fahrrad. Es dämmert schon. So ein Herbstwetter. Grau, Nieselregen und
Dämmerlicht. Na, mach’s dann gut, Süßer. Mir fällt eine Zeile aus “My heart will
go on” ein: “Love can touch us one time and last for a life time. And never let go
till we're gone.” Ach, weißt du, das ist so wahr. Das man so verliebt sein kann.
Ich lieg die ganze Nacht wach und denk an dich. Mach ich wirklich. Wird mir das
morgen lang werden bis zum Abend. Komm doch lieber um halb Fünf, ja? Ich
krieg meinen Alten schon irgendwie aus der Wohnung geschubst. O Gott,
manchmal hasse ich ihn. Dieser blöde Macho. Was der wohl machen würde,
würde ich’s ihm sagen? Na gut, ich schwing mich aufs Fahrrad, halt die Ohren
steif, du auch. Tschüss. Halt, warte, meine Mütze! Die muss hier irgendwo
rumliegen. Das kommt raus bei soviel Küsserei. Hier, danke. Ich hab mich zu
was entschieden: Ich geh gleich in die Küche, wo mein liebenswerter Vater sein
Abendessen einnimmt, und erzähl ihm, dass ich gar nicht bei der Handball AG
war, hm? Ich sag dann: Weißt du was, Papa, dein Sohn ist eine Schwuchtel,
oder wie immer du das nennst, na, Papa, was sagst du jetzt? Genau so mach
ich das.
110
Sommer 2006
Farben
Die Nacht, der Tod sind schwarz und Leben, das ist grau.
Die Schlösser haben Glanz und Maibäume sind grün
und ein Skelett ist weiß und weiße Wolken ziehn ...
Das All ist dunkel nur und lieblich ist die Au.
Bunt ist Mittsommernacht, mit Schmetterlingen blau.
Der Herbst ist braun, ist gelb, die Blätter raschelnd flieh'n –
dann ist der Tag vorbei, der uns so strahlend schien.
Oh nichts ist ewig hier, kein Gold, kein Morgentau.
Genieß die Zeit, die bleibt, sie ist so schnell vorbei.
Lass alles Wünschen sein – dem Leben nur verzeih',
verzeih' dem Trug der Welt, verzeih' dem Farbenrausch.
Denn alles Bunte täuscht, es ist ja doch kein Trost.
Vertrau' dem Stein dich an, der alt und grün bemoost.
Der Stein ist klug wie du, nur seinen Worten lausch'.
Die Liebe
Was ist dies tiefste Hoffen? Was ist dies Paradies?
Vermag uns noch zu trösten in finsterstem Verließ.
Ein Durst, der ganz unstillbar. Ein Hunger, der uns treibt.
Verleiht uns goldne Flügel, wenn nichts zurück mehr bleibt.
Wer kann es schon erklären? Wer fasst es in ein Wort?
Wodurch er wird zum Schlosse, für uns, der dunkle Ort.
Wonach wir ewig streben, was uns am Leben hält,
vermag uns nicht zu schenken die graue leere Welt.
Was wir für immer wünschen, es ist so flüchtig nur ...
Die goldnen Atemzüge ... Ein ewiglicher Schwur ...
Der Zauber muss verfliegen. Kein Glück, das immer währt.
Und es ist diese Wahrheit, die mir mein Herz beschwert.
Die Sehnsucht, unerfüllbar ist sie und wird sie sein.
Denn Nähe ist unmöglich. Wir bleiben doch allein.
Es ist die tiefe Trauer, die uns ins Herz sich gräbt,
wir sehnen uns nach etwas, was nie ein Mensch erlebt.
111
Wunsch
Ich wünsch dir, dass du jedes Spiel gewinnest,
dass du dich retten kannst aus jeder Flut,
dass du dich auf die eigne Kraft besinnest,
ich wünsche dir vor allen Dingen Mut!
Erlaube niemandem, dich zu verwirren.
Hör auf dein Herz: Du musst nach vorne sehn!
Lass dich von niemandem darin beirren:
Du findest deinen Weg und wirst ihn gehn!
Vor dir da liegt ein Kampf, und du wirst siegen!
Und ist der Drache groß und fürchterlich
und speit er Feuer: Dir muss er erliegen!
Du kannst dir sicher sein: Ich glaub an dich!
Mond am Meer
Im Meer versunken ist das gold'ne Licht.
Das Himmelszelt wird samtenblau umspannt.
Die Flut am grauen Sand sich zischend bricht,
die ersten Sterne blitzen über'm Land.
Und rund und voll beglückend strahlt der Mond.
Die Nacht beschattet Dünen schwarz und weich,
der Wand'rer wird mit stillem Glück belohnt,
er sieht das Meer, fühlt sich beschenkt und reich.
Ein Frieden legt sich leise auf die Welt,
voll Liebe segnet jeden Mensch die Nacht,
ja, jeder wird umarmt vom Himmelszelt,
mit stiller Freude jeder wird bedacht.
112
Sahara
Ein Wind, der wirbelnd durch die Wüste geht,
der wütend heiße sand'ge Nebel haucht,
die tanzend gelbe, glüh’nde Wolke weht
und Karawanen ganz in Staub eintaucht.
Viel höher, überm Sandgestöber, zieht
ein müder Adler Runden leis und stolz.
Hungrig, traurig, lauscht er des Windes Lied,
er sehnt sich nach dem Horst aus altem Holz.
Er sehnt verzweifelt sich nach Schatten kühl,
ihn dürstet nach dem klaren, frischen Quell.
Sein Blick irrt in des Windes Sandgewühl,
die Sonne brennt und ist so strahlend hell.
Die Kraft in ihm lässt nach, er fällt, er sinkt,
es wirft ihn hin und her der Flammenwind.
Ganz still er im lodernden Brand versinkt,
es quält das Feuer ihn – und er wird blind.
Der Abgrund
Ich falle
Und nichts kann mich halten
Alle Menschen sind nur Gestalten
Sie kennen mich nicht
Sie alle
Ich aber falle
Alle Menschen sie sind nur Schatten
Alles Leben es ist Traum
Ich falle durch lichtlosen Raum
Wir alle weinen
Wir alle ermatten
Ich falle
Ich bin auf der Welt auf die du mich zwangst
Wir alle gehen gebeugt
Uns treibt Angst
Die Menschen sie sind nur Gestalten
Sie kennen mich nicht
Sie alle
Ich fühl es
Nichts kann mich halten
Ich falle und falle
113
Das leise Leben der Wolken
Das Leben ist leise. Manchmal ist es so still, dass man hinhören muss, um es
zu vernehmen. Es verflüchtigt sich wie Rauch. Und es geschah mir manches
Mal, dass ich mein Leben nicht mehr finden konnte in dem Wirbel der Welt.
Wenn ich andere Menschen, die ich nicht kenne, erblicke auf der Straße oder
wo immer, fühle ich Angst, weil sie mir wie Puppen erscheinen, wie Marionetten
in einem Puppentheater. Oder wie Wolken. Mir ist oft so, als ob alle Menschen
Wolken wären, die sich nach geheimen Gesetzen, von denen sie selbst nichts
ahnen, teilen und zusammenfinden, die sich vereinen und auseinander gleiten,
getrieben vom Wind, willenlos.
Manchmal beobachte ich die bunten Autos, die über die Straße fahren, und mir
wird klar, dass in jedem der Autos Menschen sitzen, Menschen mit Freude und
Liebe, Trauer und Hass. Manchmal möchte ich den ersten Menschen, der mir
begegnet, fragen, ob er glücklich sei, denn ich wüsste es so gerne. Ich kenne
manche Menschen, manche genauer, manche nur vom Sehen. Kenne ich auch
nur einen so gut, dass ich ihn verstehen könnte? In den Zeiten der Angst glaube
ich das nicht. Ich begegne öfter einer Kassiererin in einem Geschäft, wo ich
einkaufe. Als ich neulich meine Einkäufe aufs Band legte, sagte sie zu dem
Kunden, der vor mir in der Reihe war: Ich sitze jetzt seit sieben Uhr hier und
muss noch bis acht Uhr arbeiten. Und morgen um sieben komme ich wieder. Da
hätte ich weinen mögen, weil es mir so leer erschien, das Leben dieser Frau,
und ich bangte um mein eigenes Leben. Würde es auch einmal so leer sein?
Nun ist es Herbst und die Blätter treiben auf den Straßen. Für mich ist Herbst
wie nach Hause kommen, es kündigt sich der dunkle Winter an, und wenn ich
durch das Laub gehe, kommen mir Kindheitserinnerungen und ehemalige
tröstliche Hoffnungen auf längst vergangene Weihnachtsfeste. Ich spüre auch
die Kälte an meinen Schultern, die jeden Oktober wieder neu ist nach der lauen
Luft des Sommers. Ich versuche zu begreifen, was für mich von Wert ist:
Welche meiner Taten werde ich gutheißen, wenn ich zurückblicke? Was werde
ich verdammen? Manchmal plagt mich der brennende Wunsch, mir als
Dreißigjährigem zu begegnen und von mir zu erfahren, wie ich handeln soll.
Die Welt ist leer. Das heißt, die Welt quillt über von Pracht, von Himmel, Nacht
und Wind, aber mir erscheint sie leer, weil ich keine Geborgenheit darin finde
und ich deshalb die Schönheit der Welt letztlich nicht schätzen kann. Neulich
Abend stand ich vor einer Wiese, auf der eine Herde Kühe im Abendlicht
weidete. Es dämmerte bereits und da fühlte ich: Diese Welt ist leer, wunderschön und leer. Für mich, denn ich bin allein auf der Welt, getrennt von der Welt.
Weil ich keinen Bezug zur Welt habe, keine Berührung mit ihr. Ich sitze im Kino
und sehe einen schwermütigen Film. Das ist mein Gefühl von der Welt. Das
Leben zieht an mir vorbei wie bunte Gemälde in einer Ausstellung; und so, wie
man die Blumen auf den Bildern der Maler nicht berühren kann, kann ich die
Steine, die Bäume, die Blätter nicht berühren. Ergreife ich einen Kiesel und
wiege ihn in meiner Hand, so will es mir scheinen, als wöge ich einen magischen Gegenstand – ich bin unfähig, den Kiesel zu halten und ihn einen Kiesel
sein zu lassen.
Nun, da ich diese Seiten fülle, fühle ich die Angst stärker denn je: Sie ist wie Eis
in meiner Seele. Mich ängstigt mein Alleinsein so sehr und die Zeit. Die Zeit,
weil sie nie ruht, weil jeder Augenblick ein weiterer Augenblick einer endlosen
114
Reihe von Augenblicken ist, weil jeder Augenblick für mein ganzes Leben
bedeutsam ist. Die Anwesenheit der Zeit quält mich ununterbrochen, weil sie
auf jede Sekunde pocht, weil jede Sekunde einmalig ist und keine Sekunde,
kein Augenblick sich je wiederholt und ich mich vielleicht einmal sehr nach
diesen Augenblicken zurücksehnen werde, welche ich jetzt so unbesonnen
verstreichen lasse. Und ich weiß doch nicht, wie ich mich der Augenblicke
würdig erweisen kann. Ich weiß nicht, wie ich diese Augenblicke so mit Sinn
füllen kann, dass ich später mit mir zufrieden sein werde.
Neulich sah ich den „Besuch der alten Dame“ und was mich zutiefst beschäftigte, war die Erkenntnis in diesem Werk, dass nämlich das Entscheidende,
alles Verändernde, alles für immer Prägende in der Jugendzeit geschieht,
dass einen die Folgen des jetzigen Handelns später unerbittlich einholen
werden. Ich fürchte mich. Es gibt eine Stelle in diesem Stück, wo sich Alfred
damit entschuldigt, dass er jung und unbesonnen gewesen sei, aber diese
Entschuldigung zählt nicht vor dem Schicksal. Das dachte ich bereits, als ich
Werfels „Abituriententag“ las: Sobald der Mensch imstande ist, bewusst
Entscheidungen zu treffen, ist er voll und ganz für diese Entscheidungen
verantwortlich. Mir macht das Angst.
Ich schreie um Hilfe, würde es jedenfalls tun, wüsste ich nicht, dass es keine
Hilfe gibt. Ich habe oft das Gefühl, der einzig Lebendige zu sein. Alle anderen
Menschen kommen mir fremd vor, eilig und beschäftigt, wie aufgezogenes
Spielzeug, und alle sind von der Sinnhaftigkeit ihres Tuns überzeugt. Bei mir
gibt es kaum etwas, was mir nicht zutiefst widerwärtig und sinnlos vorkommt,
weil es kein Licht ist. Gleichgültig, was ich tue, ob ich für die Schule arbeite oder
mich anders beschäftige, alles, was mir keine Antwort, keinen Trost gibt – und
nichts gewährt mir Antworten oder Trost –, erscheint mir sinnlos. Das macht
mich mürbe und müde, unendlich müde. Das Gefühl, dass nur eine Erklärung
für das Leben, so wie es ist, mir helfen könnte, und die tiefe Überzeugung, dass
es eine solche Erklärung nicht gibt, zerfressen mich innerlich.
Es stimmt ja: Als ich einmal versuchte, jemandem diesen meinen inneren Kampf
zu beschreiben, meinte dieser, in meinen Gedanken kreiste ich schließlich
immer nur um mich selbst – ich solle aus diesem Kreiseln herauskommen und
mich für etwas außerhalb meiner selbst einsetzen. Das traf mich, denn es
stimmt ja: Ich betrachte mich in fast schon manischer Weise andauernd selbst.
Vielleicht ist mein Leid meine Schuld. Vielleicht würde alles enden, wenn ich
meine Kräfte in andere Vorhaben steckte. Dann ist das alles also meine Schuld.
Meine Schuld. Das Wort Schuld bestürmt mich. Meine Schuld, Schuld, Schuld.
Wieso tue ich das nicht, wieso laufe ich nicht hinaus und gründe eine AmnestyGruppe und arbeite dafür?
Weil in mir ein Sog ist, weil in mir ein Vakuum besteht, das mich kaum für
andere Bereiche freilässt, ein Vakuum, das mich zusammenzieht, das mich
täglich unsägliche Kraft kostet. Ein Vakuum, das mich immer fürchten lässt,
dass ich irgendwann zusammenbreche. Ich kämpfe täglich um mich selbst,
gegen den übermächtig erscheinenden Drang, aufzugeben, mich dem Sog zu
überlassen. Ich muss durchhalten, weitergehen. Ich will herausfinden, ob es
nicht irgendetwas gibt, weswegen es sich zu leben lohnt, irgendeinen Trost auf
dieser Welt.
Ich will es herausfinden, ich darf nicht aufgeben.
115
Weitergehen
Du wirst sehen
sag ich mir manchmal
du wirst sehen
tröst ich mich manchmal
du wirst sehen es wird gehen
Die Tage gleiten vorüber
ich laufe durch sie hindurch
früher wenn du traurig warst
sag ich mir manchmal
gingst du auch weiter
Du wirst sehen du wirst sehen
du wirst auch diesmal weitergehen
ich bin leer in einem leeren Land
so fühl ich manchmal
du musst gehen du musst gehen sag ich mir dann
du musst immer weitergehen
Nur vielleicht
fürchte ich manchmal
wenn ich immer weitergehe stirbt mein Herz
im Weitergehen im Weitergehen
Und doch: Ich weiß
ich versink in der Trauer
ich ertrink in dem Schmerz
bleib ich stehn
ich muss weitergehen
weitergehen
Glaub mir
Glaub mir die Welt ist bunt
ist bunt und schön
glaub es mir nur
wenn du's nicht siehst
ich glaub’s mir auch
und seh es nicht
Erinnere es vielleicht
aus goldnen Augenblicken
die Welt ist bunt und schön
Glaub mir
selbst ein Winterabend
und ein grauer Regentag
sind schön – einmalig schön
Du wirst dich einmal
nach Winterabenden sehnen
und nach den grauen Regentagen
deiner Jugend
glaube mir
116
Augenblick
Ich schau zum Fenster hinaus
und seh wie der Wind
durch die Bäume weht
ich fühle: Welch ein Augenblick
Die Wände sind weiß und hart
doch draußen ist die Luft weich
ich schau zum Fenster hinaus
und fühle: Welch ein Augenblick
Ich staune: Wie lange wie lange
dieser Augenblick währt
er hält mich gefangen
Ich schaue zum Fenster hinaus
seh auf die Wolken
auf das wehende Laub
welch ein Augenblick
Blind
Ich sehe wie das Licht erlischt
die Sonne versinkt im Horizont
in der Dunkelheit weiß ich
bin ich einsam
weil meine Augen die Anderen nicht mehr sehen
Ich wandere im Zwielicht
bis der letzte helle Schein vergeht
bis die Nacht mich ganz umgibt
dann sehe ich den Weg nicht mehr
dann finde ich den Weg nicht mehr
Dann lauf ich blind
über Hügel durch die Felder
meine Schritte werden schwer
dann seh ich den Weg nicht mehr
Dann stürze ich wohl
über einen Stein
bin ich an einer Küste
lauf ich vielleicht ins Meer
denn in der Nacht seh ich den Weg nicht mehr
117
Ich und das Meer
Ich bin zu weit hinausgeschwommen
ich sehe die Küste nicht mehr
jetzt sind wir allein
ich und das Meer
Am Himmel drohen graue Wolken
im Wasser gehen Wellen schwer
ich bin so allein
so allein im Meer
Ich darf mich nicht treiben lassen
darf mich dem Wasser nicht überlassen
ich bin so müde
so müde und schwer
Die Wellen tosen und türmen sich
ich darf mich nicht aufgeben
ich will überleben
ich kämpf mit dem Meer
kämpf gegen das Meer
Die Wellen rollen und rauschen
ich darf nicht lauschen
denn ich kämpf mit dem Meer
kämpf gegen das Meer
2007, 17 Jahre
Die Götter
Kengiz, mein Freund, hat eine Idee. Ein großes Boot müsste es sein. Nein,
habe ich gesagt, die Alten sind schon gefahren, mit viel größeren Booten und
sind nie zurückgekehrt. Kengiz meint: Vielleicht seien sie ja da geblieben, in
dem verwunschenen Land hinter dem Meer. Aber das kann nicht sein, habe ich
ihm geantwortet: Sie hätten Sehnsucht nach uns gehabt. Sie wären
zurückgekommen. Die Alten sind nicht angekommen. Die Alten sind im Meer
verloren gegangen. Kengiz und ich sitzen am Brunnen unter einer Palme. Ein
heißer Tag. Wüstenstaub in der Luft. Wie viele, Kengiz, haben sich das schon
vor uns gefragt: Was mag wohl hinter dem Meer sein. Wir kennen die Oasen
und die Wüste, in der wir umherirren – aber stets nur bis an die Küste. Was mag
hinter dem Meer sein?
Meinen Vater hatte ich das mal gefragt. Hinter dem Meer liegen Berge, sagte er.
Ich verstand nicht. Das sind hohe Steine, sagte er. Zehnmal höher als die
höchsten Palmen seien die kleinsten, sagte er. Ich fragte ihn, ob er je Berge
gesehen habe. Nein. Aber sein Vater habe ihm das erzählt.
Ich bin zum Ältesten gegangen. Was ist hinter dem Meer, habe ich gefragt. Der
Älteste war kleiner als ich und ging gebückt. Er lächelte. Hinter dem Meer. Da
wohnen die Götter, Kind. Deshalb darf niemand dorthin gelangen. Außer mit der
118
letzten Barke, mit der wir alle die letzte Fahrt antreten, mit der vielleicht. Er
strich mir über den Kopf.
Es ist Mittag und gewittert. Kengiz tanzt im Regen. Ich habe Angst vor dem
Donner. Ich erzähle Kengiz von dem Ältesten. Die Götter, staunt Kengiz. Ja, die
wohnen gewiss über dem Meer. Plötzlich strahlt er mich an. Lass uns die Götter
suchen, sagt er. Das geht nicht, meine ich. Kein Mensch könne zu den Göttern
gelangen. Kengiz bleibt stehen und schaut mich an. Dann fährt er fort, sich im
Regen zu drehen.
Mutter, was ist jenseits des Meeres? Sie schaut mich an und runzelt die Stirn.
Ungeheuer, sagt sie. Die kleine Jungen essen, die nicht ins Bett gehen wollen.
Dann lacht sie. Sie weiß es nicht.
Ich kann nicht einschlafen. Die Götter sind gefährlich. Ihr Zorn kann die Winde
entfesseln, die dann den Sand aufwirbeln und die Menschen jagen. Aber die
Götter lieben starke Menschen, die tapfer sind. Ich kenne die Geschichte von
Tarnuk, dem Göttergast:
Vor langer Zeit lebte Tarnuk in Malwit, der Wüstenstadt. Eines Abends, als er
den Sonnenuntergang beobachtete, erschien ihm die Göttin des Todes. Verlass
die Stadt, sagte sie zu ihm, und suche Bergo, den Feuergott. Er hat meinen
Sohn verletzt. Wenn du ihn nicht in zwei Monden findest, wird Malwit aussterben.
Tarnuk ging auf Wanderschaft. Am dritten Tag erreichte er das Meer. Es war
wild und schäumte und kein Schiff hätte es befahren können. Da trank Tarnuk
es aus. Aber damit nicht genug – eine Seeschlange, die er am Grunde des
Meeres aus einem hundertjährigen Schlaf erweckt hatte, besiegte er heldenhaft.
Dann wanderte er einen Mond durch das Meeresbecken. Am anderen Ufer
warteten die Götter auf ihn. Er wurde fürstlich empfangen und bekam ein königliches Geschenk: Ihm wurde das Feuer geschenkt.
Ich sehe durch die Nacht und wälze mich: was für eine schöne Geschichte. Ich
und Kengiz wären den Göttern gewiss auch willkommen. Wenn wir nur zu ihnen
kämen. Das Meer austrinken. Das müsste man können.
Was ist hinter dem Meer, frage ich Kogo, mein Äffchen. Aber Kogo antwortet
nicht.
Die Frauen sitzen am Brunnen und klatschen. Man erfährt viel, wenn man
einfach dabeisteht und zuhört. Sie lachen, wenn ich sie frage, was hinter dem
Meer ist. Das wollen alle Kinder wissen, sagen sie. Komm aber bloß nicht auf
die Idee, es herausfinden zu wollen. Sonst schwimmst du uns noch davon. Sie
scherzen.
Früher wollten ich und Kengiz schwimmen. Aber so klein sind wir nicht mehr.
Wer das Meer nicht austrinken kann, der kann erst recht nicht durchschwimmen.
Eine Brücke bauen, Kengiz. Wir sitzen wieder am Brunnen. Kengiz schüttelt den
Kopf. Er ist ungeduldig. Und eine Brücke zu bauen kostet viel Zeit.
Wir haben ein Floß gebaut. Aus Bambusstöcken. Wir müssen uns fortschleichen, wenn wir fahren wollen. Ich habe ja die Frauen gehört: Sie sind
so ängstlich.
119
Plötzlich will Kengiz nicht mehr. Wir wollten morgen Abend aufbrechen. Bei
vollem Mond. Kengiz ist ein Angsthase.
Mutter ist sehr wütend auf mich. Das kam so: Ich habe unseren Geheimplan
Kilia erzählt, das ist meine Schwester. Sie ist noch ganz klein. Ich war nämlich
aufgeregt letzte Nacht und konnte nicht schlafen. Wie Götter wohl aussehen
mögen? Da wollte Kilia mitkommen. Das geht aber nicht. Denn der Älteste
hat mir erzählt, dass keine Frau zu den Göttern gelangen kann, und das
kam so:
Eine Menschenfrau hat einmal den Silberschatz der Götter geklaut. Und
seitdem sind die Götter sehr misstrauisch gegenüber Frauen. Ich find es ein
bisschen schade, wegen Mutter und Kilia. Aber so ist das eben. Und genauso
hab ich das Kilia auch erklärt, aber sie hat mir gar nicht zugehört, sondern
geweint. Und heute hat sie es Mutter erzählt. Ich musste das Floß meiner
Mutter zeigen und die hat es kaputtgemacht – mit drei Fußtritten. Und ich
musste ihr schwören, dass ich nie wieder versuche, über das Meer zu kommen.
Dabei will ich doch nur die Götter sehen. Sie meinte nur, das fehlte ja noch.
Sie ist ungerecht.
Habe Kengiz zwei Tage nicht gesehen. Wo steckt er bloß?
Kengiz ist todtraurig. Das schöne Floß. Aber ich glaube: Er wäre doch nicht
mitgekommen. Die letzten zwei Tage hat er sich versteckt. Wahrscheinlich
muss ich irgendwann alleine fahren.
Ein Wüstenwind zieht herauf. Die Angst ist groß. Es gab Winde, nach denen
alle Hütten im Sand versunken waren und die Menschen gestorben sind.
Der Älteste betet. Er bittet den Sturm, einen anderen Weg zu nehmen.
Kengiz meint, man bräuchte nur Flügel. Dann würde einen der Wind davontragen – bis zu den Göttern.
Ich spüre, wie der Wind kommt. Er rüttelt an den Dächern und pustet Sand. Der
Älteste betet. Auf dem Meer ist der Sturm auch. Die Wellen brausen.
Wir sind im Haus des Ältesten, das ist das größte Haus. Auf einer Düne. Der
Wind tobt. Die Frauen singen. Sie singen, um den Wind zu besänftigen. Sie
singen, um uns Mut zu machen. Sie singen, damit ihre Kinder sich nicht
fürchten müssen.
Ich erwache im Haus des Ältesten. Vor der Tür ist alles voll Sand, aber kein
Wind mehr. Die Sonne leuchtet. Alles ist hell. Das Dorf sieht arg mitgenommen
aus. Aber es steht noch. Der Älteste betet wieder. Er dankt dem Wind.
Die Götter waren da. Das sagt sogar der Älteste. Ich glaube, er hat Angst. Ich
hätte das nie gedacht. Dass die Götter zu uns kommen. Kengiz meint, sie
wollten gar nicht zu uns. Kengiz weiß alles besser. Kengiz meint auch, dieses
Gefährt, was wir am Strand gefunden haben, sei kein Schiff. Dabei ist es das
Schiff der Götter. Götter fliegen, sagt Kengiz. Die schwimmen nicht übers
Wasser. Kengiz meint, es sei ein verstorbener Luftelefant, mit dem die Götter
durch die Lüfte reiten. Warum sollten sie denn ihren Elefanten fallen lassen,
frage ich ihn. Das weiß er auch nicht.
120
Aber auch der Älteste ist sich sicher: Das ist ein Schiff. Aber so eines, wie wir
noch nie gesehen haben. Es muss von den Göttern sein. Eigentlich ist es
wirklich ein Elefant. Aber aus Holz. Alle Männer klettern jetzt darauf herum.
Wunder über Wunder. Ich habe zwei Steine gefunden, die haben an den
Rändern gelb geglänzt, an der Oberseite waren sie weiß, und in diesem Weiß
waren schwarze, sich drehende Stöckchen. Sicher Zaubersteine. Ich gab sie
dem Ältesten.
So viele Dinge, für die wir keine Namen haben. Große Fetzen von etwas, was
aussieht wie Affenfell, aber weiß und ohne Haare. Dieser Stoff ist um Baumstämme gewickelt, die aus dem Götterschiff hervorragen.
Es muss Krieg sein bei den Göttern. Das sagt der Älteste. Das letzte Mal war
Krieg bei den Göttern, bevor es die Menschen gab. Dann erschufen sie Keto,
den Gott des Friedens, der den Streit schlichtete und die Götter versöhnte. Er
sollte verhindern, dass die Götter je wieder zornig aufeinander würden. Ob
diesem guten Gott etwas zugestoßen war?
Krieg, das meint auch Kengiz: Die Götter lassen ihre Zauberdinge nicht einfach
auf die Erde fallen. Ich habe Angst. Der Älteste betet. Er hat auch Angst.
Dieses Götterding ist wie das Haus des Ältesten: Es hat mehrere Räume. Ich
und Kengiz steigen hier herum. Man muss sehr aufpassen, denn das Götterhaus hat dünnes und geborstenes Holz, an dem man sich verletzen kann. Man
kann sich toll verstecken hier.
Ich erwache vom Geschrei. Sie haben Götter gesehen, rufen sie im Dorf. Sie
haben große Angst. Es müssen sehr wütende Götter sein. Ich laufe hinaus.
Meine Mutter brüllt mir zu, ich soll zu ihr gehen. Ich höre viel Gerede. Diese
Götter sind weiß – so weiß wie die Affenhaut ohne Haare an ihrem Schiff. Und
sie sind sehr wütend. Der Älteste betet und die Frauen singen. Um den Brunnen
sind alle geschart.
Die Götter haben Blitze mit sich, die sie aus der Hand werfen können. Einer
dieser Blitze hat Tono getroffen: Er ist sofort gestorben. Dann sind alle weggelaufen. Tono war ein Freund von mir. Ich weine. Mutter auch.
Dass die Götter wütend sind, wussten wir schon immer. Wir haben solche
Angst.
Den ganzen Tag singen die Frauen. Güte und Erbarmen, singen sie, Güte und
Erbarmen.
Abends kommen die Götter. Sie reden laut in fremden Sprachen. Aber sie
werfen diesmal nicht mit ihren Blitzen nach uns. Vielleicht zeigen sie Einsicht.
Wir umringen sie. Tanzen vor Dankbarkeit. Ein paar von ihnen lachen. Der eine
da ist sicher der Feuergott. Ich zeige ihn Kilia. Sie staunt.
Wir bewirten die Götter. Kengiz fürchtet, die Todesgöttin ist mit den übrigen
Göttern nicht gekommen. Wir können sie nicht finden. Sie wird von den anderen
Göttern übergangen worden sein, denkt Kengiz. Das würde ihr gar nicht
gefallen.
Am nächsten Morgen werde ich wieder von Schreien geweckt. Ich laufe hinaus,
finde Mutter. Was die Götter nur wollen. Sie treiben uns zusammen, wie
Kamele. Wollen sie uns mit sich nehmen? Was Kengiz dazu sagen würde?
Wo war Kengiz?
121
Am Strand steht einer ihrer Elefanten. Sie wollen wirklich mit uns schwimmen.
Der Elefant ist größer als der andere. Und strahlt weiß in der Sonne. Und mit
Booten bringen sie uns hinüber. Sie fahren wirklich mit uns hinaus – hinaus in
die Welt der Götter.
Auf dem Schiff fand ich Kengiz – seine Wangen waren gerötet vor Aufregung.
Er umarmte mich und wies mit großen Augen auf das offene, weite Meer vor
uns.
Die Frauen singen wieder. Ein frohes Lied. Ihre Stimmen hallten durch den
Morgennebel und erfüllten die ganze Bucht.
Philadelphia, 19. 4. 1834.
Die Stimmen der Frauen erfüllten die ganze Bucht ...
Der alte Diener, den die Weißen „Jack“ nennen, wacht auf. Er bleibt mit geschlossenen Augen liegen. Er will noch nicht erwachen. Er möchte noch in
seinem Traum bleiben. Durch die Läden seines halb geöffneten Fensters hört er
Pferdegetrappel. Es sind die Kutschen der Händler.
Er will noch nicht aufwachen. Auf einmal sieht er alles vor sich: Kengiz und sich
vor dem Brunnen. Das Götterschiff. Er glaubte, vergessen zu haben ...
Die Ana schleicht durch den Flur. Er will nicht erwachen. Was ist hinter dem
Meer. Der Älteste sagte: Die Götter. Der Älteste! Er hatte gebetet.
Das Sonnenlicht! Die Hütten! Warum jetzt? Warum nach so langer Zeit. Die Ana
schlurft. Auf einmal geht es nicht. Er denkt, er kann nicht. Aufstehen und in der
Küche Feuer machen. Es geht nicht. Er ist bei Kengiz und bei Kilia.
Dann sagt er sich: Was soll's. Er hört die Ana. Es ist dieselbe Sonne, denkt er.
Dieselbe Sonne, die damals schien. Er öffnet die Läden. Auf den Dächern der
Häuser sieht er den orangeroten Schein.
In der Küche steht die Ana. Sie ist stumm geworden. Und alt. Als er hierher
kam, war sie Dienstmädchen und hat jede Nacht nach ihrem Kind geschrien.
Sie schreit schon lange nicht mehr. Er weckt die Kinder. Sind die jetzt in dem
Alter, in dem er damals war?
Es ist Sonntag. Jack muss die Droschke bereit machen. Mr. White fährt jeden
Sonntag mit seiner Familie aus. Wenn die Herrschaften weg sind, will er zurück
in seine Kammer. Er will sich erinnern.
Es ist laut. Es ist Mittag und die Straße vor seinem Fenster ist belebt. Frauen in
bunten Kleidern und großen Hüten spazieren schwatzend durch die Stadt.
Was ist hinter dem Meer?
Hinter dem Meer waren Städte.
Die Städte der Götter. Und es waren Orte, die wahrhaft Göttern gebührten.
Zauberstädte. Und auf einmal war Jack allein. Allein gelassen, in den Händen
der grausamen Götter, denen er dienen sollte.
Kengiz! Du hättest nie so neugierig sein dürfen. Jack streckt sich auf seiner
Pritsche aus. Götter kommen nur, wenn man sie ruft.
Dann denkt er: Das kann nicht wahr sein. Der Älteste hatte gesagt: Hinter dem
Meer, da wohnen die Götter. Er hatte keine Götter kennen gelernt. Zauberer
vielleicht. Aber keine Götter.
Vielleicht leben die Götter auf einer Insel. Einer Insel mitten im Meer. Mit den
weißen Zauberern war er einfach an ihr vorbeigefahren. So musste es sein:
Dass die Zauberer die Insel nicht gesehen hatten, verwundert ihn nicht weiter.
In den langen Jahren, die er bei ihnen zugebracht hatte, hat er gelernt:
122
Die Zauberer sehen nur, was sie sehen wollen. Und sie sind viel zu eilig, um
ihre Augen einmal richtig zu öffnen.
Die Götter – sie leben auf einer Insel. Ob Keto sie immer noch im Zaum hält?
Jack lächelt in die Dunkelheit: Kengiz, komm, wir müssen die Götter finden.
Kengiz, mein Freund, lass uns die Insel suchen ...
An einen Freund
Ich habe heut an dich gedacht ...
Du bist dort draußen in der Ferne.
Ich laufe einsam durch die Nacht –
ein schwarzer Himmel ohne Sterne.
Ich irre blind durch Tal und Hain.
Ich lass mein Windlicht für dich stehen.
Im Finsteren ein kleiner Schein ...
kommst du vorbei, wirst du es sehen.
Und während ich es niederleg,
fühl ich, dass ihr, du und die andern,
hier seid, auf diesem Zauberweg.
Ich weiß, ihr werdet mit mir wandern.
Im Dunkeln kann ich euch nicht sehen,
und doch – ihr schützt und haltet mich.
Ich muss nie mehr alleine gehen.
Und heute dachte ich an dich ...
Wir wandern – auch durch Schnee und Eis ...
Mein Windlicht, es wird ewig stehen –
bis du es findest. Und ich weiß:
Du kommst vorbei und wirst es sehen.
Brand
Am Abend saß ich einsam am Kamin,
als ich das Holzscheit aus dem Feuer griff.
Ich hielt den Ast, der war so hell am glühn,
er flammte auf, eh ich mein Tun begriff ...
Mir war's als hielte eine Fackel ich.
Die Funken sprangen, wie im wilden Tanz,
die Schatten an den Wänden krümmten sich mich blendete der helle Feuersglanz.
Ich war im Traum, ich warf das große Licht,
ich warf es irr im Taumel an die Wand.
Dann war es mir, als ob mein Traum zerbricht – –
ich ging vor's Haus und sah den großen Brand.
123
April 2007
Andere
Ich tanz so froh, ich lache und ich lebe.
Ich fliege durch mein Leben, singe Lieder.
Nun liegen andere im Schmerz danieder ...
Derweil ich heiter schwebe, heiter schwebe.
Ich breit die Arme aus, ich fühl das Glück.
Nun stehen andere voll Angst allein ...
Warum darf ich so sorglos glücklich sein?
Ich seh die andern, ihren Trauerblick.
Die Andern, sie sind Sklaven, sind gefangen.
Ich fühl den warmen Wind, ja, ich bin frei!
Den andern ist ihr Leben einerlei!
Weil sie sich so sehr fürchten, weil sie bangen.
Um mich herum erstrahlt das helle Licht.
Doch and're sind vor Unglück lahm.
Ich habe so ein Glück – fast fühl ich Scham.
Denn ich verdien es nicht, verdien es nicht.
Abschiedsstunden
Ich will ganz leise, still, des Nachts verschwinden ...
Und muss jetzt warten, weil noch Sonne scheint.
Des Nachts, damit sie mich nicht zu schnell finden ...
weil – niemand soll den Jungen seh’n, der weint,
der feige ist ... und doch nicht springen will.
Denn, wenn’s drauf ankommt, bin ich angeleint –
ans Leben, wie ein Hund. Ich werd dann still
und sehe jeden Traum vorüberzieh’n.
Und soviel Sehnsucht, die nicht sterben will.
– Es gab mal Stunden, wo das Licht mir schien ...
Und heute Nacht ist alles aus, vorbei?
Ich will ja gar nicht sterben, will nur flieh’n ...
Vor all’ dem grauen, leeren Einerlei.
Doch was ist’s, das vor meiner Flucht dann flieht?
Ich weiß, nicht mal zum Sterben bin ich frei ...
Was ist’s, das mich zurück ins Leben zieht?
Ich werde lange an dem Fenster steh’n
voll Willen, jetzt für immer wegzugeh’n.
Und weiß schon jetzt: Es wird mir nichts geschehn.
Wie gut, dass niemand mich dort oben sieht.
124
Verzweiflung
Das Leben – eine Rose, blutig rot ...
Geschnitten werde ich von jedem Dorn ...
Bin so allein mit meiner ganzen Not
Und fühle mich so unsagbar verlor’n.
Ich komme nicht zurück, kann nicht nach vorn,
Ich kann nicht leben und krieg’ mich nicht tot.
Der Nebel zieht, der alles weiß verwischt.
Mein Herz, das ist so leer ... ein Kerkerraum ...
Ein kleiner Schritt nur und die Welt erlischt,
ein kleines Gift, in meinen Trank gemischt,
und alles wär’ zerstoben, wie ein Traum.
So warte doch, mein Freund, ich komme gleich ...
Ich kannte niemals Frieden, niemals Ruh’.
Ich könnt’ die Welt zerstör’n, mit einem Streich –
Ich frage mich, warum ich’s nur nicht tu’.
So esse ich der Tage bitt’res Brot.
Ich kann nicht leben und krieg mich nicht tot.
Mutter
Warum, sag’ Mutter, stolperst du und wankst?
Es ängstigt dich das Leid? Die Qual? Der Wahn?
Es ist nun nicht mehr lang, hab’ keine Angst,
verschlingt uns beide doch der Ozean.
Du ängstigst dich: Das Leid wird weitergeh’n ...
Ich sehe die Leuchttürme nicht mehr blinken.
Es dauert nicht mehr lang, du wirst schon seh’n –
Wir müssen schließlich irgendwann ertrinken.
Das Wasser ist so leise, kalt und weich ...
Du weißt ja: Uns’re Herzen sind gestohlen.
Und was wir jetzt noch tun, es bleibt sich gleich.
Ich weiß: Das Nichts wird kommen und uns holen.
Wie’s gestern war, so ist es heut’ und morgen,
weil alle Schreie ungehört verhallen ...
Niemand ist ewig, habe keine Sorgen.
Bald werden auch wir fallen, fallen, fallen ...
Wir können nichts erhoffen, nichts erzwingen ...
Nur immer geh’n, die endlos graue Bahn.
Ich weiß, er wird uns irgendwann verschlingen –
Der weite, blaue, tiefe Ozean.
125
Gefährten
Der Weg zieht über Felsen und Gestein.
So schwer, so kalt, so einsam ist die Nacht.
Wir haben uns verlorn, sind so allein –
es ist so anders, als von uns gedacht.
Der Nebel fließt, wir haben uns verirrt,
am Himmel ist kein Licht, kein einz’ger Stern –
wir hätten nie geglaubt, dass es so wird.
Der nächste Tag, er scheint so fern, so fern.
Wohin, wie weit noch sollen wir denn gehn?
Wie ein Gerippe steht ein jeder Baum. – –
Doch hast du nicht den Morgen schon gesehn –
vielleicht den Morgen in dem letzten Traum?
Wohin auch immer dieser Weg uns führt ...
wie lang wir hier noch stehn vom Wind umtost:
Du hast den Morgen doch im Traum gespürt –
das ist uns doch ein Trost, vielleicht ein Trost –.
Vielleicht
Ich hörte einst von einem weisen Mann,
ein Wanderer, der durch die Länder zieht.
Man sagt, dass er es uns erklären kann:
Warum uns so ein schweres Leid geschieht.
Er soll allein durch jede Gegend gehen –
kaum jemand aber hat ihn selbst gesehn.
Ein jeder Tag ist eine solche Qual.
Um uns herum: Nur sternenlose Nacht –
ein jeder Tag: so kalt und grau wie Stahl,
so sinnlos und so sorgenvoll verbracht.
Und dennoch kann es jeden Tag geschehn:
Vor deiner Türe kann der Wandrer stehn.
Den meisten Menschen doch erscheint er nicht.
Mag sein, dass es ihn nie gegeben hat ...
Doch denk an ihn bei jeder bittren Pflicht. –
Bei jedem Blatt im Wind, bei jedem Blatt ...
Es mag ja sein, dass er dich nie erreicht.
Doch denk an jedem Tag: Vielleicht, vielleicht ...
Es mag ja sein, dass du umsonst ausharrst ...
Dass du umsonst durch diese Gitter starrst ...
Doch wenn es dann geschieht, dann musst du fragen:
„Wozu das Leid?“ Vielleicht kann er es sagen ...
126
2008, 18 Jahre
Frühlingstag
Ich denke manchmal: Tausend Masken
und dahinter bin nicht ich.
Tausend Narren voller Faxen
allesamt umringen mich.
Tausend Spiegel, mich zu täuschen,
zeigen deutlich mein Gesicht –
ganz betäubt von den Geräuschen –
bin ich's wirklich? Bin ich's nicht?
Durch die lauen Winde sink' ich,
sink' ich leise auf das Feld
und die Welt vergessend trink ich
blauen Dunst vom Himmelszelt.
27. 4. 2008
Zauber
Was sind meine Stunden denn mehr als fallende Lichter,
fließende Träume, verlorne Gesichter,
durch die ich fliege und fliehe
und weiter – und weiterziehe.
Was sind meine Tage denn mehr als offene Räume,
blühende Gärten, eiserne Zäune
durchweht von den Winden.
Ich will Sterne und Blumen finden.
Und das alles wird schwinden.
Doch solange der Zauber noch hält,
solang ich im Schlaf mich noch wiege,
solange gefällt mir die Welt,
in der ich fliehe und fliege.
127
5. Ausklang
Anette Hausotter
Es waren herausfordernde Zeiten – für alle Beteiligten –, am schwierigsten
sicherlich für Arne und für seine Mutter, die all die Jahre kämpfte, bis endlich
eine klare Diagnose gestellt war, das Leben mit dieser Diagnose, das Leben
mit Arnes Besonderheiten in seinem Verstehen von Welt, das nicht immer mit
unserer Logik nachvollziehbar war. Erschwerend erwies sich auch immer wieder
von Neuem der Kampf mit den unterschiedlichen Behörden, wenn es um Anerkennung seiner speziellen Bedarfe ging. Es ist nicht auszuschließen, dass sich
dies auch in Zukunft fortsetzen wird.
Mutter und Sohn haben in den Jahren gemeinsam gelernt, einander zu „übersetzen“ und Wege des gemeinsamen Umgangs miteinander zu finden – obwohl
dies nach wie vor nicht immer reibungslos abläuft. Arne verfügt zwar über ein
zum Teil weit überdurchschnittliches Begabungsprofil, aber sein autistisches
Syndrom und seine phasenweise extremen Zwangsstörungen lassen ihn häufig
scheitern, wenn es um die praktische Umsetzung der täglichen Alltagspraxis
geht. Arne benötigt im übertragenden Sinn Gehhilfen oder einen Rollstuhl, um
das tägliche Leben alleine zu bewältigen. Diese Rolle hat seine Mutter übernommen; sie war bisher seine Struktur, seine Orientierung – seine Gehhilfe.
Nach vielen Unsicherheiten in Schulen, Zeiten des Gemobbtwerdens, des
Missverstandenwerdens hat Arne das Glück gehabt, in seiner Flensburger
Schule auf Lehrkräfte zu stoßen, die seine Stärken und sein Potenzial erkannt
haben. Sie waren darum bemüht, diese zu fördern. Das Zusammenspiel und die
gute Kooperation mit der Schule, Arnes Mutter, den Lehrkräften, seinen Klassenkameraden, dem Ministerium, der BIS-Autismus und nicht zu vergessen:
mit Arne selbst, waren wesentliche Gelingensfaktoren.
Durch die Gewährung des Nachteilsausgleichs ist es gelungen, für Arne
adäquate, förderliche Bedingungen zu entwickeln, die seiner Beeinträchtigung
Rechnung trugen – ohne intellektuelle Anforderungen geringer zu bemessen.
So durfte Arne die Klausuren in einem Extraraum schreiben, und ein höherer
Zeitfaktor wurde genehmigt. Auf diese Weise konnte er seine Zwänge gut
bewältigen, ohne Angst haben zu müssen, andere zu stören durch seine
ritualisierten Fingerklopfabfolgen. Für ihn bedeutete der reizarme Raum eine
Beruhigung, denn so wurde er nicht durch andere Reizfaktoren abgelenkt.
Der Ablauf der Aufgaben wurde mit ihm zeitnah und eindeutig besprochen,
so konnte er sich innerlich darauf einstellen, was sich positiv auf sein Zwangsverhalten auswirkte.
Neben seiner autistischen Störung leidet Arne unter starken Zwängen, die ihn
plötzlich „gefangen“ halten, zu Panik führen können – sogar bis hin zur totalen
Blockade seiner steuerbaren Aktivität. In der Phase der schriftlichen und mündlichen Prüfungen drohten immer mal wieder derartige Einbrüche! Aber Arne
hat es geschafft! Arne musste für die Anerkennung des Abiturs in Mathematik
einen Punkt erhalten. Dies ist ihm gelungen. Mit seinen guten Leistungen in den
Sprachen, 14 und 15 Punkte in Französisch und Englisch, hat er sein Abitur
mit 2,0 bestanden! Ich bin stolz auf Arne und dankbar für das konstruktive Miteinander aller Beteiligten in diesem Prozess.
128
Dieses Beispiel verdeutlicht zum einen, was es bedeutet, mit einer Beeinträchtigung aus dem Autismus-Spektrum in „unserer“ Welt zu bestehen: Selbstzweifel von Betroffenen und auch ihrem jeweiligen Gegenüber, Unsicherheiten
als Lehrkräfte, dieser Beeinträchtigung gerecht werden zu können, Unsicherheiten des Systems und der Gesellschaft, etwas zu akzeptieren, was nicht
„sichtbar“ ist und unlogisch erscheint. Andererseits macht diese Darstellung
jedoch auch deutlich, dass es sich lohnt, sich auf Herausforderungen einzulassen – auch wenn es auf den ersten Blick nicht umsetzbar erscheint. Aus der
Erfahrung wissen wir, dass in diesen jungen Menschen häufig weit mehr
schlummert, als wir vermuten. Wir lernen von Menschen wie Arne, der uns
„seine Welt“ versucht zu beschreiben. Je mehr wir bereit sind, uns über dieses
Autismus-Spektrum zu informieren, desto eher sind wir in der Lage, unsere
eigene Wahrnehmung zu reflektieren, um letztlich unser Gegenüber besser zu
verstehen und entsprechend adäquate Aktions- und Reaktionsmuster zu
entwickeln. Toleranz, Geduld und eine eindeutige, klare Sprache sind hierbei
hilfreich. Ferner bietet die Netzwerkarbeit zwischen allen am Prozess Beteiligten
eine gute Chance, unmöglich und unlogisch Erscheinendes nach und nach
besser zu verstehen und gemeinsam entsprechende, konstruktive Strategien
zu entwickeln (siehe auch: Förderschwerpunkt „Autistisches Verhalten“, Band 2
– Förderliche Bedingungen für Schülerinnen und Schüler mit autistischem
Verhalten in Schulen Schleswig-Holsteins).
Deutschland hat in diesem Jahr die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ratifiziert. Ministerin Ute Erdsiek-Rave (Ministerium
für Bildung und Frauen des Landes Schleswig-Holstein bis Juli 2009), hat dieses Jahr 2009 zum Jahr der inklusiven Bildung erklärt: „Wir brauchen bundesweit einen Wechsel in der pädagogischen Blickrichtung. Denn inklusive Bildung
meint: Nicht das Kind muss sich an die bestehenden Schulen anpassen, es
muss umgekehrt sein. Eine inklusive, allgemein bildende Schule heißt jedes
Kind willkommen, auch und gerade wenn es gesundheitliche, soziale oder Lernund Leistungsprobleme hat.“ (Zitat Erdsiek-Rave aus: „besser zusammen“ –
2009 ist das „Jahr der inklusiven Bildung“: Alle Kinder haben ein Recht auf
hochwertige Bildung. Medien Information MBF, 2/2009)
Das Leitmotiv, besser zusammen, zeigt uns: Wenn alle gemeinsam an einem
Strang ziehen, in den gemeinsamen Dialog treten, ist es auch möglich, konstruktive Lösungsstrategien zu entwickeln und umzusetzen.
Vermutlich wird das Kämpfen für Arne nicht aufhören. Jede neu beteiligte
Institution muss bereit sein, verstehen zu lernen, was Arne ausmacht. Nur so
kann, entsprechend seinen Fähigkeiten und Stärken, das uneingeschränkte
Recht auf Bildung, Ausbildung und ein eigenständiges Leben gewährleistet
werden. Arne benötigt für die alltägliche eigene Strukturierung und Orientierung
eine Unterstützung durch eine Assistenz. Dies kann nicht mehr die Rolle seiner
Mutter sein! So strebt Arne erst einmal eine berufliche Orientierung mit der
Unterstützung durch AUREA (Autismus, Rehabilitation und Arbeit) an, in der er
Erfahrungen durch Praktika sammeln kann. Arnes Langzeitziel und Traum ist
ein Hochschulstudium. Ich wünsche Arne, dass er sein Ziel irgendwann in die
Tat umsetzen kann und darf.
Ich möchte mich bei den Leserinnen und Lesern dieser Publikation bedanken
und hoffe, dass es uns gelungen ist, Mut zu machen, sich auf zukünftige Herausforderungen dieser Art einzulassen! Es lohnt sich!
129
Ausblick
Arne Andersen
10. Juli 2009
Ich bin mir des großen Glückes – das den Einsatz vieler Menschen erforderte,
denen ich nicht genug danken kann – bewusst, welches mir ermöglichte,
mit meinem Autismus Abitur zu machen. Dies ist leider nicht allen Autisten
vergönnt.
Autisten werden, wie andere Behinderte auch, zu oft an den Rand der
Gesellschaft gedrängt, werden zu oft nur unter dem Aspekt ihrer Behinderung
wahrgenommen.
Es ist höchste Zeit für einen Bewusstseinswandel. Endlich müssen alle
verstehen, dass Menschen, die bis jetzt Außenseiter waren – Behinderte,
Ausländer, Homosexuelle – unsere Gesellschaft nicht stören, sondern zu ihrer
Ganzheit auf unverzichtbare Weise beitragen.
Ich wünsche mir die Ankunft eines neuen Zeitalters, wo Achtung gegenüber
jedem Menschen gezeigt wird, ganz gleich, ob er der herrschenden
gesellschaftlichen Norm entspricht oder nicht, wo es für wirklich alle Menschen
die gleichen Chancen gibt. So dass dann auch alle Autisten – und überhaupt
alle Menschen mit Handycap – die Möglichkeit haben, sich selbst zu
verwirklichen und so ein wahrhaft erfülltes Leben zu führen.
Ich hoffe, dass die gegenwärtigen Krisen einen neuen Zeitgeist bringen,
welcher das Bewusstsein hervorruft, dass wir eine neue Welt zu erschaffen
haben, mit einer gesunden Natur, mit einem gerechten ökonomischen
System und mit einer Einstellung, welche Achtung vor der Würde eines
jeden einzelnen Menschen hat. Das wird die Erkenntnis mit sich bringen,
dass wir nicht getrennt sind, dass alle Menschen einen gemeinsamen Weg
gehen und dass jedes Wesen auf ihm seinen unverzichtbaren Platz hat.
Epilog
Anette Hausotter
Oktober 2009
Während Arne und ich den Text zum Ausklang dieses Buches schrieben, war
Arne bereits damit beschäftigt, seine Abiturrede zu verfassen. Es war ihm ein
großes Bedürfnis, seinen Mitschülerinnen und Mitschülern sowie seiner Schule
auf diese Weise Dank zu sagen.
Ich persönlich war seinerzeit von seiner Abiturrede sehr beeindruckt. Mittlerweile wurde sie in der Zeitschrift ErziehungsKUNST, Stuttgart, veröffentlicht
- Arnes erste Veröffentlichung! Wir haben uns entschlossen, unseren Leserinnen und Lesern diesen Text nicht vorzuenthalten
– mit freundlicher Genehmigung von ErziehungsKUNST:
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Institut für Qualitätsentwicklung
an Schulen Schleswig-Holstein (IQSH)
Schreberweg 5 · 24119 Kronshagen
Tel. 0431 54 03 - 0 · Fax 0431 54 03 - 101
E-Mail: [email protected] · Internet: www.iqsh.schleswig-holstein.de