PDF-Datei - Bundesverband evangelische Behindertenhilfe eV

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Michael Conty
Auf dem Weg zum Persönlichen Budget
Beitrag zur Fachtagung von BeB und DW EKD „Der Weg zum Persönlichen Budget“ 08.-09.09.2007 in Potsdam
Wir stehen am Ende der Tagung, die einen Blick auf den Stand der Entwicklung des Persönlichen Budgets als Instrument in der Hilfe für Menschen mit Behinderung und psychischer Erkrankung werfen
wollte. Viele Perspektiven wurden eingenommen und viele praktische und rechtliche Aspekte angesprochen. Es ist deutlich geworden, dass das Persönliche Budget noch längst nicht flächendeckend die
Serienreife erreicht hat und an vielen Punkten der praxisorientierten Weiterentwicklung unterhalb der
gesetzgeberischen Ebene, aber auch der Weiterentwicklung im gesetzlichen Rahmen bedarf.
Gleichzeitig stehen wir am Ende des Erprobungszeitraums für das Persönliche Budget, in dem das
neue Instrumentarium eingeführt und getestet werden sollte. 6 Jahre ist das Persönliche Budget jetzt
alt. Dafür ist seine Verbreitung noch eher übersichtlich. Der Zwischenbericht der Bundesregierung vom
Dezember 2006 ist in nicht nachvollziehbarer Weise vollmundig positiv ausgefallen, ohne sachgerechte
kritische Hinweise der Fachöffentlichkeit, Verbände und insbesondere der Begeleitforschung aufzunehmen. Dass die vorhandenen Schwachstellen seitens der Regierung nicht benannt werden, wirkte
wohl eher kontraproduktiv und trug nicht dazu bei, die gute Idee vom trägerübergreifenden Persönlichen Budget weiter zu befördern.
Wenn heute große Parks angelegt werden, baut man zunächst nur die Hauptwege und überlässt es
den Parkbenutzern, über Trampelpfade die Gestalt der Verkehrswege im Park zu entwickeln – eben
parknutzerorientiert. Später werden diese Trampelpfade dann durch entsprechenden Ausbau „legalisiert“. Viele gute Trampelpfade der Praxis im Zusammenhang des Persönlichen Budgets entstehen gerade, sind derzeit aber vielfach nicht rechtlich abgesichert und bergen damit auch für Budgetnehmer/innen und Dienstleistende Risiken. Wir erwarten diese Lernfähigkeit, wie sie in der Parkgestaltung
heute üblich ist, auch vom Gesetzgeber, zumal er im SGB IX-Gesetzgebungsprozess vor 6 Jahren dies
selbst vorgeschlagen und vorgesehen hat.
Ich habe den Eindruck, dass der BeB und die befreundeten Fachverbände, das Diakonische Werk und
die Freie Wohlfahrtspflege geradezu ein Feuerwerk von Aktivitäten zur Entfaltung des Persönlichen
Budgets abgebrannt haben. Viele Veranstaltungen und Diskussionen wurden durchgeführt und es
wurde mal mehr mal weniger mutig und erfolgreich, aber praxisorientiert experimentiert. Wir haben
damit auch die Bundesregierung und ihr Konzept unterstützt. Deshalb erwarten wir von dieser Seite
auch nicht weniger Unterstützung, sondern deutlich mehr Engagement. Es darf doch nicht der Eindruck entstehen, als gelte der bleierne Grundsatz: Paradigmenwechsel vielleicht – kosten darf es jedenfalls nichts und ändern soll sich eigentlich auch nichts.
Übermorgen findet in Berlin die offizielle Schlussveranstaltung zum Bundesmodellprojekt im Hause der
Bundesbeauftragten für die Belange der Menschen mit Behinderung, Frau Evers-Meyer, statt. Wir hoffen darauf, dass es morgen im Rahmen der Zusammenschau von Wissenschaft und Praxis weitere
Neuigkeiten gibt, die eine Weiterentwicklung des Persönlichen Budgets in praktischer, rechtlicher und
politischer Hinsicht ermöglichen.
Conty: Auf dem Weg zum Persönlichen Budget
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Wirksame Fortführung des Paradigmenwechsels?
Augenblicklich muss man sich fragen, ob die Bundesregierung das wichtige Reformprojekt, Selbstbestimmung und Teilhabe von Menschen mit Behinderung und psychischer Erkrankung zu stärken, in
dieser Legislaturperiode noch nachhaltig verfolgen will. Das Persönliche Budget ist hiervon ja nur ein
Element. Ich habe derzeit nicht den Eindruck, dass das Thema Behindertenhilfe eine Herzensangelegenheit der Regierung ist. Der Abbruch der Gespräche zur Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe
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zwischen den Betroffenenverbänden, den Fachverbänden und der Freien Wohlfahrtspflege und der
Bundesbehindertenbeauftragten ist dabei kein gutes Zeichen.
Das Persönliche Budget ist das Herzstück der Reform der letzten Legislaturperiode, die zum Sozialgesetzbuch IX „Rehabilitation und Teilhabe“ geführt hat. Auch wenn uns das SGB IX kein neues Leistungsgerecht beschert hat, waren die Hoffnungen behinderter Menschen und ihrer Vertrauenspersonen sowie der Verbände hoch, dass zukünftige Reformen dem Geist des SGB IX folgen, und wir mit
deutlichem politischen Rückenwind auf dem langen Weg zu einer Inklusionsgesellschaft voran kommen. Hierfür war auch ein Indiz, dass die Bundesregierung ein Gesamtkonzept zur Betreuung und
Versorgung alter, pflegebedürftiger und behinderter Menschen und zu ihrer Teilhabe am Leben der
Gesellschaft plante. „Der Ansatz der Bundesregierung, ein solches Gesamtkonzept durch den Ausbau
ambulanter Hilfen, durch ihre Verzahnung mit stationären Angeboten und durch „Hilfen aus einer
Hand“, insbesondere durch Gewährung Persönlicher Budgets, zu verfolgen, entspricht aus Sicht des
BeB dem Bedarf und Wunsch vieler behinderter Menschen nach einem möglichst normalen, selbstbe2
stimmten Leben in ihrer Kommune mit individuell bedarfsgerechten Hilfen.“ Die isolierte Betrachtung
und Favorisierung eines Instrumentariums – des Persönlichen Budgets – ohne den Rahmen zu entwickeln, greift mit Sicherheit zu kurz. Wir kommen auch mit dem Persönlichen Budget nur wirklich weiter, wenn Fragen beantwortetet werden, die sich auf die notwendige Infrastruktur, die Verzahnung
der unterschiedlichen Leistungen und auch Fragen der Leistungssystematik beziehen.
Wir erkennen derzeit keine wirksamen Aktivitäten, die zur Entwicklung eines Gesamtkonzepts führen.
Hierzu hieße es ja nicht nur alle Akteure (Bund, Länder, Kommunen, Freie Wohlfahrtspflege sowie
Verbände der Menschen mit Behinderung und ihrer Vertrauenspersonen) zu einem konzertierten Vorgehen zu gewinnen, vielmehr müsste auch innerhalb der Bundesregierung bezogen auf die Weiterentwicklung des Persönlichen Budgets und die wirksame Verzahnung unterschiedlicher Leistungsbereiche zusammengearbeitet werden. Kritisch ist aber festzustellen, dass die Bundesregierung an verschiedenen Baustellen im Bereich der sozialen Sicherung Reparaturen mit z. T. erheblichen Rückwirkungen auf die Versorgungssituation und die Leistungen für Menschen mit Behinderung vorgenommen hat bzw. beabsichtigt (z. B. SGB V, SGB XI), ohne den selbstgesetzten Anspruch hinsichtlich der
Orientierung an einem Gesamtkonzept bislang einzulösen. Am deutlichsten ist dieser Mangel im Zusammenhang der Reform der Pflegeversicherung (SGB XI) sichtbar. Ich komme darauf noch zurück.
Der BeB ist in der Vergangenheit für ein Leistungsgesetz angetreten, das Menschen mit Behinderung
und psychischer Erkrankung weiterhin Bedarfsdeckung und individualisierte Leistungen sichert, und
tritt auch weiterhin engagiert hierfür ein. Auch wenn politischer Realismus nahelegt, dass dieses Ziel
unter den Bedingungen des zergliederten Sozialleistungssystems der Bundesrepublik und den derzeitigen politischen Rahmenbedingungen nur in mehreren Schritten zu erreichen ist, bleibt letztlich doch
nur aus fiskalischen Gründen verständlich, warum die Bundesregierung die gute Initiative des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge für ein Bundesteilhabegeld bislang nicht aufgegriffen hat. Die Ausgestaltung eines Teilhabegeldes als Nachteilsausgleich mit einem pauschalen Mehrbedarfsanteil eröffnet Perspektiven für einen qualitativ anderen Zugang zum Leben in der Gesellschaft.
Eine solche Leistung dient der Gleichstellung von Menschen mit Behinderung und ist keine kompensatorische Leistung im Rahmen der Sozialleistungssystematik. Damit wäre das Teilhabegeld ein Novum
im sozialen Sicherungssystem. Der Präsident des Diakonischen Werks und wir als BeB haben wiederholt darauf hingewiesen, dass das Konzept des Teilhabegeld noch zu schärfen und weiter zu füllen ist,
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unter Beteiligung des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge und der zuständigen Bundesministerien
BeB-Diskussionspapier „Auf dem Weg zur Inklusion- Die Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe innerhalb eines
Gesamtkonzeptes zur Betreuung und Versorgung alter, pflegebedürftiger und behinderter Menschen“, Berlin,
23.03.2007
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Conty: Auf dem Weg zum Persönlichen Budget
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aber interessante Möglichkeiten eröffnet, auch die Idee des Persönlichen Budgets weiter zu beför3
dern.
„Der BeB bedauert, dass das seit langem geforderte Leistungsgesetz und das Bundesteilhabegeld für
behinderte Menschen von der Regierung derzeit nicht unterstützt werden. Das ändert nichts an der
Richtigkeit der Forderungen. Inhaltliche Einwände hat die Regierung bislang nicht erhoben. Im SGB IX
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hat der Gesetzgeber die Entwicklung auf ein Leistungsgesetz hin grundgelegt.“ Hier gilt es, jetzt konstruktiv voran zu gehen.
Wir fordern die Bundesregierung auf, die Orientierung am Nachteilsausgleich weiter zu stärken und
das Konzept eines Teilhabegelds als niedrigschwelligem Grundbaustein sozialstaatlicher Leistungen für
Menschen mit Behinderung und psychischer Erkrankung auszubauen. Gleichzeitig plädieren wir für die
Fortsetzung des Dialogs zur Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe und zur Verzahnung der unterschiedlichen Leistungsbereiche, die für Menschen mit Behinderung und psychischer Erkrankung von
Bedeutung sind.
Aktuelles Ärgernis: Verzahnung von übrigen Rehabilitations- und Teilhabeleistungen mit
Leistungen der Pflegeversicherung erleichtern, nicht blockieren!
Wenn wir zu Grunde legen, dass es ein wesentliches Anliegen der Bundesregierung ist, die Verzahnung unterschiedlicher Leistungen zu befördern, so ist festzustellen, dass die Reform der Pflegeversicherung in dieser Hinsicht nicht zu Ende gedacht worden ist. Für Menschen mit Behinderung eröffnet
sich hier im Wesentlichen nach wie vor nur die unattraktive und systemstörende „Gutscheinlösung“.
Die „Erprobung Persönlicher Budgets im Rahmen der wohnortnahen Versorgung“, wie sie § 92d des
Referentenentwurfs zur SGB XI-Reform vorsieht, steht im Widerspruch zu den Prinzipien des SGB IX (§
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17 SGB IX). Hier hat der Bundesgesetzgeber nicht aufgepasst, oder sollte man etwa vermuten, dass
zwei sozialdemokratisch geführten Ministerien sich gegenseitig (und Menschen mit Behinderung und
uns) das Leben schwer machen wollen? Da Leistungen der Pflegeversicherung für viele Menschen mit
Behinderung und psychischer Erkrankung neben Eingliederungshilfeleistungen und anderen Leistungen der Rehabilitation große Bedeutung besitzen, ist es aus unserer Sicht unerlässlich, dafür zu sorgen,
dass die Leistungen der Pflegeversicherung in der vollen Höhe der entsprechenden Sachleistung im
Rahmen der Grundsätze des SGB IX in trägerübergreifende Persönliche Budgets einbezogen werden
können.
Notwendige Weiterentwicklung des Persönlichen Budgets
Elke Bartz (Forsea) hat es sinngemäß einmal so formuliert: „das persönliche Budget ist ein schönes Instrument, wenn es richtig gestimmt ist“. Damit eine gute Musik entsteht, muss der Bundesgesetzgeber die vorhandenen und von der Fachwelt benannten Schwachstellen der gesetzlichen und untergesetzlichen Bestimmungen sowie missglückte Schnittstellenregelungen zum trägerübergreifenden Persönlichen Budget bereinigen.
Wir haben darauf hingewiesen, dass das Persönliche Budget nur dann ein Erfolg wird, wenn der vielerorts von Politik und Verwaltung hergestellte Zusammenhang mit aus ihrer Sicht notwendigen Einsparungen aufgehoben wird. Das Persönliche Budget droht mancherorts zum Sparprogramm zu verkommen. Dies hat eine nachvollziehbare Skepsis bei vielen Menschen mit Behinderung, ihren Angehörigen, aber auch bei Fachleuten der sozialen Arbeit und Trägern hervorgerufen, zumal die Bewilligungszeiträume und -praktiken keinerlei Sicherheitsgefühl entstehen lassen. Die bange Frage vieler Interessentinnen und Interessenten lautet doch: „Bekomme ich auch langfristig die Leistungen, die ich
benötige?“ Persönliche Budgets müssen in jedem Einzelfall bedarfsdeckende Leistungen sicherstellen
und eine langfristige Verlässlichkeit beinhalten.
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BeB, Nachteilsausgleich durch ein Bundesteilhabegeld - Erste Stellungnahme des Bundesverbandes evangelische Behindertenhilfe, Fulda, 03.03.2005
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BeB-Diskussionspapier „Auf dem Weg zur Inklusion...“, Berlin, 23.03.2007
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DW EKD, Erste Bewertung des Entwurfs eines Gesetzes zur strukturellen Weiterentwicklung der Pflegeversicherung - Referentenentwurf vom 10.9.2007, Berlin, 21.9.2007
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Es wird auch berichtet, dass „Zwangsbeglückung“ mit Persönlichen Budgets stattfindet. Das Persönliche Budget ist eine antragsgebundene Leistung. Hier regiert das Wahlrecht des Leistungsberechtigten
nicht das Ermessen des Leistungsträgers. Es widerspricht dem Gesetz, aber auch dem Geist (mehr
Selbstbestimmung), wenn Personen gedrängt werden, keine Sachleistungen, sondern ein gemindertes
Budget in Anspruch zu nehmen. Ich will nicht verschweigen, dass auch Beispiele ausgesprochen positiver Verwaltungspraxis bekannt sind – das müsste allerdings für einen Rechtsstaat wie Deutschland
selbstverständlich sein.
Vorrangig geht es uns darum,
•
das persönliche Budget für jeden anspruchsberechtigten Menschen erreichbar zu gestalten – also
auch für Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf,
•
die kostenbezogene Deckelung ambulanter Leistungen und die Deckelung der Leistungen im Rahmen eines trägerübergreifenden Persönlichen Budgets aufzuheben,
•
mit den Mitteln des Budgets auch wirklich wirtschaften zu können,
•
die Feststellung der Behinderung und des Hilfebedarfs zukünftig an ein einheitliches trägerübergreifendes, modernes ICF-basiertes Verfahren zu binden,
•
zur Bemessung von Budgetleistungen in Geld einen bundeseinheitlicher Anhaltskatalog zu entwi6
ckeln ,
•
Information und Erwachsenenbildung als Voraussetzung für die Gewinnung zusätzlicher Leistungsberechtigter für ein trägerübergreifendes Persönliches Budget zu stärken,
•
Budgetberatung und -assistenz als notwendige Teilleistungen des trägerübergreifenden Persönlichen Budgets anzuerkennen und bei der Budgetbemessung vollumfänglich zu berücksichtigen,
•
die „Herkunftsbindung“ der die Komplexleistung zusammensetzenden Komponenten und die
damit verbundenen Nachweispflichten aufzuheben und
•
zum Schutz von Budgetnehmern/innen Verbraucherschutzmechanismen für personenzentrierte sozial-pflegerische Dienstleistungen zu stärken und eine grundständige Leistungserbringerbefähigung zu fordern.
Herausforderung für Dienste und Einrichtungen
Diensten und Einrichtungen der evangelischen Behindertenhilfe und Sozialpsychiatrie ist seit langem
klar, dass das persönliche Budget ein neuer, konstruktiver Baustein in der Leistungslandschaft sein
kann. Vielerorts werden bestehende Angebote für Budgetnehmer und Budgetnehmerinnen geöffnet,
bzw. gänzlich neue Leistungen, die im bisherigen Sachleistungssystem in dieser Ausgestaltung nicht
vorkamen, bedarfsgerecht und individuell konfiguriert. Gerade die bedarfsgerechte Füllung von Versorgungslücken des Sachleistungssystems, das Finden von individuellen, kreativen, „einmaligen“ Lösungen, ist eine besondere Stärke des Persönlichen Budgets.
Die möglicherweise einschneidendste Veränderung für Menschen mit Behinderung und psychischer
Erkrankung seit der Einführung der Eingliederungshilfe, die das Persönliche Budget mit sich führt, ist
ist sein „Geist“, den wir in mehr selbstverantworteten Gestaltungsmöglichen und in der Festigung der
Auftraggeberfunktion sehen. Mit dem Systemwechsel in der Finanzierung geht eine Weiterentwicklung unserer Vorstellung von Teilhabeverwirklichung einher: Menschen mit Behinderung und psychischer Erkrankung können selbstverständlich über die für sie notwendigen Unterstützungsleistungen
bestimmen. Sie werden in ihrer Stellung im Geschehen der Rehabilitation und Teilhabeförderung
nachhaltig gestärkt. Das begrüßen das Diakonische Werk und der BeB ausdrücklich. Diese Veränderung wird sich nicht nur für die auswirken, die aktiv das Persönliche Budget wählen, sondern auch für
diejenigen, die aus guten Gründen weiterhin das Sachleistungsprinzip bevorzugen.
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Die Praxis der Modellversuche weist hier eine erstaunliche Vielfalt auf. Es war das erklärte Ziel der Modelle, die Bemessung zu erproben, um sie dann im Wesentlichen einheitlich zu gestalten.
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Als Einrichtungsträger und als Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter tun wir gut daran, die Leitidee des
Persönlichen Budgets als Herausforderung für die zukünftige Gestaltung aller Leistungen anzusehen
und unsere Angebote teilhabeorientiert weiterzuentwickeln: nicht Expertenstandards nicht als apodiktische Rahmensetzung für Unterstützungsleistungen, sondern als eine Orientierung in einem Aushandlungsprozess zwischen Auftraggeber und Leistungserbringer. Dies gilt unabhängig davon, ob Personen
unsere Dienstleistungen über das Persönliche Budget selbst finanzieren oder in der herkömmlichen
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Sachleistungsform in Anspruch nehmen. Wenn uns das gut gelingt, stärken diakonische Unterstützungsleistungen Menschen mit Behinderung und psychischer Erkrankung – das ist unser Ziel.
Ein Blick auf die Budgetnehmer/innen zeigt, dass sich hier eine ähnliche Entwicklung einstellt, wie
beim Einstieg in das ambulant betreute Wohnen. Es wurde doch noch vor 20 Jahren vielfach behauptet, das Wohnen in eigener Wohnung sei für viele Menschen mit Behinderung unattraktiv, berge Isolierungsgefahren usw. Wir wissen doch heute, dass kaum eine Person, die in eigener Wohnung mit
ausreichender ambulanter Unterstützung lebt, diesen Status aufgibt und aus Gründen größerer Attraktivität aktiv um eine Heimaufnahme nachsucht. Bezogen auf das Persönliche Budget doch auch bekannt, dass es keine nennenswerte Anzahl von Personen gibt, die so schlechte Erfahrungen mit dem
Persönlichen Budget gemacht haben, und dies zu Gunsten einer reinen Sachleistungslösung wieder
aufgeben wollen. Die Zufriedenheit, die sich insbesondere aus der erreichten Dispositionsfreiheit –
trotz aller noch vorhandenen Einschränkungen - ergibt, ist hoch. Das ist ernst zu nehmen. Wir müssen
jedoch mit darauf achten, dass weiterhin Bedarfsdeckung und Unterstützungssicherheit besteht.
Es ergeben sich aber auch weitergehende, neue Anforderungen an gelingende Teilhabeförderung. Bei
zunehmender Modularisierung von Leistungen steigt der Bedarf nach einer aktiven und zielorientierten
Koordination aller notwendigen Unterstützungsleistungen im Alltag. Während im stationären Kontext
dies durch den Einrichtungsträger sichergestellt wird, gibt es hierfür im ambulanten Zusammenhang
noch keine flächendeckend befriedigende Lösung. Im Idealfall übernimmt natürlich der Mensch mit
Behinderung bzw. psychischer Erkrankung die Leistungssteuerung selbst. Wir haben es aber in unserem Alltag auch immer mit Menschen zu tun, die vorübergehend oder z. T. auch dauerhaft in ihrer
Steuerungsfähigkeit eingeschränkt sind. Ich spreche von der Notwendigkeit, sozialarbeiterisches CaseManagement als Teilhabeleistung zu etablieren, das im Auftrag der Leistungsberechtigten sicherstellt,
dass alle im Einzelfall notwendigen Leistungen unter der Teilhabeperspektive gebündelt, abgestimmt
und ausgerichtet werden. Damit kein Missverständnis aufkommt: ich meine nicht, dass die Freie Wohlfahrtspflege Bedarfsfeststellung und Hilfeplanung übernehmen sollte. Hieran ist sie auf Wunsch des
Leistungsberechtigten zu beteiligen. Dies ist Zuständigkeit des Sozialleistungsträgers. Es geht mir vor
allem um die kleinteilige und alltägliche Unterstützungsplanung, -organisation und -sicherung. Hierzu
ist durch Erweiterung des Katalogs in § 54 Abs. 1 SGB XII Case-Management als eigener Leistungsanspruch im Rahmen der Eingliederungshilfe zu verankern. Damit wäre auch das Problem der Budgetassistenz einer Lösung näher gebracht. Schließlich bringt uns die sich entwickelnde neue Situation in
neuem Zusammenhang in die konkret anwaltschaftliche Position, die doch konstitutiv für Diakonie ist.
Eindeutig und im Auftrag der einzelnen Leistungsberechtigten unterstützen wir diese bei der Erlangung der für sie jeweils notwendigen Leistungen.
Was tut der BeB?
Der BeB wird in den nächsten Jahren nachhaltige Beratungs-, Bildungs- und Informationsinitiativen
zum Persönlichen Budget für Menschen mit Behinderung bzw. psychischer Erkrankung, für ihre Vertrauenspersonen und auch für Professionelle fördern.
Wir werden weiterhin ein Forum bieten für den politischen und fachlichen Diskurs und damit unsere
Mitglieder unterstützen, sich dem Wandel der Unterstützungspraxis und in Unterstützungslandschaft
aktiv zu stellen.
Gegenüber Politik und Verwaltung werden wir unsere verbandlichen Positionen im Gespräch halten
und aktiv auf die Rechtsentwicklung Einfluss zu nehmen suchen.
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vgl. sinngemäß: v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel, Positionspapier zum Persönlichen Budget, Bielefeld 2007
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Wir wollen darauf hinwirken, dass der ins Stocken geratene Gesprächsprozess zur Erarbeitung eines
Gesamtkonzepts mit der Bundesregierung wieder Fahrt aufnimmt. Wir sind dazu bereit.
Zum Schluss
Wenn diese Tagung nun zu Ende geht, dann wissen wir, dass das Persönliche Budget ein wichtiges
Mittel – aber eben auch nur ein Element – ist, Selbstbestimmung und Teilhabe und den Paradigmenwechsel in der Behindertenhilfe und der Sozialpsychiatrie zu fördern. Wir wollen, dass Menschen mit
Behinderung und psychischer Erkrankung in der Nutzung dieses Instrumentariums erfolgreich sind.
Hierzu werden wir unseren Beitrag leisten.
Wir sind längst noch nicht dort, wo wir hinwollen: in einer Gesellschaft ohne Teilhabe-Barrieren – und
zwar barrierefrei in jeder Hinsicht, auch sozial, nicht nur baulich. Das ist ein sehr weiter Weg – aber jeder Weg beginnt mit ersten Schritten.
Der in Deutschland neue, im internationalen Raum seit langem verwendete Fachbegriff „Inklusion“
weist weit über die Normalisierungs-, Selbstbestimmungs- und Integrationsdiskussion hinaus. Er ist ein
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Anknüpfungspunkt für die notwendige gesamtgesellschaftliche Entwicklung in Deutschland. Der BeB
versteht die Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe durch gemeindeintegrierter Netzwerke und
insbesondere die Stärkung ambulanter Unterstützungssegmente wie auch die Implementation des Persönlichen Budgets als wichtige Schritte auf dem langen Weg zur Inklusion. Und nebenbei: selbst
Schweden hat das Ziel dieser Wanderung nach mehr als einer Generation noch nicht erreicht. Es ist
uns aber bereits 4 Jahrzehnte voraus. Es wird Zeit, dass auch wir in Deutschland auf dem Weg voran
kommen. An manchen Stellen hat dies m. E. schon begonnen, schließt aber noch viel zu wenig Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf ein. Damit Schritte in die richtige Richtung getan werde, sind
alle: Bund, Länder und Kommunen, Menschen mit Behinderung und psychischer Erkrankung, wir Profis und alle Bürger und Bürgerinnen, gefordert, die Inklusionskultur und die Aufnahmebereitschaft unserer Gesellschaft nachhaltig zu entwickeln. Das können wir Verbände, Einrichtungen und Dienste sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht allein. Hierzu bedarf es deutlicher, parteienübergreifender
politischer Unterstützung.
Dem BeB geht es um eine Ausrichtung der Unterstützungsleistungen, die dem Selbstbestimmungsrecht von Menschen mit Behinderung mehr Spielräume eröffnet und ihnen einen Platz in der Mitte der
Gesellschaft sichert. „Unser Platz ist mitten in der Gesellschaft. Dort wollen wir zusammen leben und
arbeiten“ formuliert die Rheinsberger Erklärung (BeB, Januar 2006), die von den Teilnehmer/innen einer Arbeitstagung von Menschen mit Behinderung entwickelt wurde. Wir sind der Auffassung, dass
Teilhabe umfassend zu fördern und zu unterstützen ist, denn dies ist der Schlüssel zu Inklusion – dem
selbstverständlichen Zusammenleben aller Menschen in unserer Gesellschaft.
Michael Conty, Vorsitzender des BeB,
c/o v. Bodelschwinghsche Anstalten Bethel, Stiftungsbereich Behindertenhilfe, Maraweg 9, D-33617 Bielefeld,
0521-144 4924, [email protected], www.behindertenhilfe-bethel.de, 09. Oktober 2007
Bundesverband evangelische Behindertenhilfe e.V. (BeB),
Altensteinstr. 51, 14195 Berlin, Tel./Fax: 030/83001-270/-275, E-Mail: [email protected], Internet: www.beb-ev.de
Der Bundesverband evangelische Behindertenhilfe e.V. ist ein Fachverband im Diakonischen Werk der Evangelischen Kirche Deutschlands.
Seine rund 600 Mitgliedseinrichtungen halten Angebote für mehr als 100.000 Menschen mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen
aller Altersstufen bereit. Als Zusammenschluss von evangelischen Einrichtungen, Diensten und Initiativen fördert, unterstützt und begleitet
der BeB Menschen mit Behinderungen oder psychischer Erkrankung und ihre Angehörigen.
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„Integration steht für das Einbeziehen von etwas Außenstehendem in ein Bestehendes, das erst durch dieses Außenstehende zu einem einheitlichen Größeren und Ganzen verschmilzt. Inklusion steht – hier wird die ursprüngliche Herkunft aus der Mineralogie deutlich – für das
Einschließen eines anderen („fremden“) Materials, das im Unterschied zum Prozess der Integration nicht mit dem Größeren zu einer neuen
einheitlichen Ganzheit amalgamiert und verschmilzt, sondern in seiner Eigenart als Anderes bestehen bleibt und dennoch konstitutiver Teil
des Ganzen wird. Um es idealtypisch zuzuspitzen: Durch die Integration wird das Integrierte in seiner Substanz und in seinem Sosein grundlegend verändert und dem Ganzen angepasst. Durch die Inklusion werden das Inkludierte in das größere Ganze in seinem Sosein eingepasst
und lediglich die Wechselbeziehungen zu den anderen ‚Elementen’ grundlegend neu geordnet.“ (Andreas Lob-Hüdepohl, Inklusion nur eine
Wortverschiebung?, Behinderung & Pastoral 09, Dez. 2006, S. 3 ff.)