Was ich von Peter Heintel gelernt habe

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Was ich von Peter Heintel gelernt habe
Roland Fischer, Klagenfurt/Wien
Was ich von Peter Heintel gelernt habe
Die Würdigung des wissenschaftlichen Werkes eines Kollegen geht meist nicht ohne
dass diese etwas über den Würdiger selbst aussagt, zumindest über seine Beziehung
zum Gewürdigten. Hin und wieder würdigt sich der Würdiger dabei selbst, mehr oder
weniger offen. Ich habe mich entschlossen, gleich über mich zu schreiben, über mein
wissenschaftliches Werk. Das geht ohnedies nur mit Bezug zu Peter Heintel.
Vorgeschichte
Der Name Heintel war mir von Kindheit an ein Begriff. Ein Onkel von mir, Franz Fischer,
hat bei Erich Heintel Philosophie studiert, war von ihm gefördert worden, ist aber unter
tragischen Umständen früh verstorben. Er wurde von einigen Philosophen posthum zum
wissenschaftlichen Leben erweckt (z. B. durch Herausgabe des Nachlasses), woran
sich auch Erich Heintel beteiligt hat. Ich selbst habe bei Erich Heintel mein Philosophicum absolviert.
Meine erste persönliche Begegnung mit Peter Heintel fand 1974 statt, bei meinem
Dienstantritt an der damaligen "Hochschule für Bildungswissenschaften" in Klagenfurt.
Peter war gerade Rektor geworden, es gab ein Vorstellungsgespräch. Peter sah mich
unverwandt an, sagte nichts oder wenig, während ich ihm erzählte, was ich vorhätte. Ich
war meiner Sache sehr sicher, sonst hätte ich verunsichert sein können. Bei meinem
50er hat Peter dann berichtet: Er hat mich mit meinem Onkel verglichen – den er auch
gekannt hatte – und Unterschiede festgestellt, v. a. im Temperament. Den Hang zur Philosophie habe ich aber auch.
Didaktik
Den ersten wissenschaftlichen Kontakt mit Peter Heintel gab es 1976. Willi Dörfler und
ich, die neuen Professoren für "Mathematik mit besonderer Berücksichtigung der Didaktik" veranstalteten eine Tagung und luden Peter Heintel zu einem Hauptvortrag ein. Peter hat daraus ein Buch gemacht: "Modellbildung in der Fachdidaktik" (1978) (in dem
übrigens auch eine Auseinandersetzung mit Franz Fischer zu finden ist). Die Kernaussage: Didaktik ist keine bloße Zutat zum Fach, sie bedeutet auch Reflexion des Faches
in seinen Grundlagen. Und diese kann nur dann praktisch wirksam werden, wenn man
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der "didaktischen Situation" "Systemfreiheit" zugesteht. Es gibt keine Möglichkeit der
Vorbestimmung einer solchen Situation, wenn reflexives Lernen möglich sein soll. Daraus folgt zumindest Gleichberechtigung von Fach und Mensch.
Ich habe diese Gedanken auf die Mathematik angewendet und in gewisser Weise radikalisiert: "Unterricht als Prozess der Befreiung vom Gegenstand" (1983) vertritt die These, dass es im Mathematikunterricht nicht nur um das Lernen von Mathematik im herkömmlichen Sinn geht, sondern auch um eine Befreiung von der Mathematik im Sinne
der Ermöglichung eines souveränen Gegenübertretens. Es ist dies auch einer der
Grundgedanken des Buches "Mensch und Mathematik. Eine Einführung in didaktisches
Denken und Handeln" (gem. mit G. Malle und H. Bürger, 1985): Es geht um die Erarbeitung einer Beziehung zwischen Mensch und Mathematik, deren Spezifität aber nicht
vorbestimmt werden kann.
In den letzten zwölf Jahren hat diese Arbeitsrichtung eine Fortsetzung erfahren, indem
ich mich um eine Bildungstheorie bemüht habe, die den individuellen in einen gesamtgesellschaftlichen Bildungsprozess einbettet. Ein erstes Produkt war "Höhere Allgemeinbildung" (1999), das vorläufig letzte ist "Gesellschaft als Bildungsprozess" (2008).
Bildung wird dabei gesehen als letzten Endes gesamtgesellschaftlicher Aushandelungsprozess über die Bedeutung von Wissensinhalten, bis hin zur These, dass Gesellschaft
selbst als Bildungsprozess zu denken ist, insbesondere wenn eine Befreiung aus der
Unmündigkeit von regelgesteuerten Selbstläufen erfolgen soll.
Peter Heintel betont immer wieder, dass konventionelle Wissenschaft für diese Art von
Bildung – und für vieles andere auch – nicht ausreicht. Er spricht und schreibt von "Prozess-" oder "Interventionswissenschaft". Mich hat das schon 1983 zu dem die FachKollegInnen irritierenden Artikel "Wie groß ist die Gefahr, dass die Mathematikdidaktik
bald so wissenschaftlich ist wie die Physik?" (1983) inspiriert.
Philosophie der Mathematik – erster Teil
Peter Heintel interessiert sich für alles, auch für die Mathematik. Er hat einen ausführlichen Text zur Philosophie der Mathematik, "Thesen zur Philosophie der Mathematik"
(1979), geschrieben, in zwei Teilen. Der zweite Teil ist verschollen, aber schon der erste
bot mir Anregungen für einen anderen als den main-stream-Zugang zur Philosophie der
Mathematik.
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Beispielsweise seine These vom Bei-sich-Bleiben der (reinen) Mathematik, dem er eine
menschheitsgeschichtlich bedeutsame Funktion bei dem Streben nach Ablösung von
"innerer und äußerer Naturbestimmung" zuschreibt. Ich habe diesen Gedanken zunächst für eine kritische Betrachtung des Mathematikstudiums verwendet: "Zur Ideologie
der Selbstbeschränkung im Mathematikstudium" (1980), spätere Anwendungen folgten.
Peter hat in seinem – übrigens leider nie publizierten – Text zur Philosophie der Mathematik diese auch als "Zwischenwelt des Verstandes bezeichnet", eine Zwischenwelt zwischen uns, den Menschen, und den Dingen, insbesondere der Natur. Sie stellt eine Vergegenständlichung der Distanz dar. Eine solche Distanz zu ihren Objekten schafft
m.o.w. jede Wissenschaft, in der Mathematik ist deren Vergegenständlichung am radikalsten. Ein erster Versuch, dies zu beschreiben, war der Artikel: "Mathematik – Zwischenwelt in Maschinen, Bildern und Symbolen" (1987).
Peter Heintel hat ein Buch über Politische Bildung geschrieben: "Politische Bildung als
Prinzip aller Bildung" (1977). Darin stellt er einerseits einen Zusammenhang von Politischer Bildung mit den konkreten Lernsituationen her, andererseits auch mit den Inhalten. In den Jahren 1984-86 habe ich mit einigen KollegInnen an einem Projekt "Mathematik und Politische Bildung" gearbeitet, das von Peters Ansatz ausging. Zu erkennen,
was die Mathematik mit uns, individuell und kollektiv macht, ist Voraussetzung für mündiges politisches Handeln. Es gibt einen Zusammenhang zwischen mathematischem
Denken und bestimmten Formen von Organisation. Dazu ist in den Projektberichten aus
dem Jahr 1986 einiges nachzulesen, sie bildeten den Anfangspunkt eines Nachdenkens
über die gesellschaftlichen Rolle von Mathematik, was aber erst später zu einem Abschluss gekommen ist – ich werde darauf noch zurückkommen. Diese Beschäftigung
war nämlich beeinflusst von einem ganz anderen Lernfeld, das mir Peter Heintel erschlossen hat: der Gruppen- und Organisationsdynamik.
Gruppen- und Organisationsdynamik
Es ist unmöglich, mit Peter Heintel in intensivem Kontakt zu sein ohne Auseinandersetzung mit der Gruppendynamik. Durch seine Vermittlung habe ich 1980 an einer T-Gruppe teilgenommen und bald darauf eine Trainer-Ausbildung begonnen. Ich habe von ihm
persönlich gelernt und später auch gelegentlich mit ihm gearbeitet. Es hat sich für mich
damit eine neue Welt erschlossen – prägend für meine persönliche Entwicklung, aber
auch für mein theoretisches Verständnis sozialer Verhältnisse im Kleinen und im Großen.
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Es hat einige Zeit gedauert, bis ich mich wissenschaftlich-literarisch mit einschlägigen
Themen auseinandersetzte. "Hierarchie und Alternative-Charakteristika von Vernetzungen" (1988 entstanden, 1991 publiziert) war ein Lehrtext, für mich eine Zusammenfassung des Gelernten. Er war auch ein Ausgangspunkt für das Unternehmen "Vernetzung
und Widerspruch" an dem ich mit vielen KollegInnen von 1988 bis Mitte der 90er Jahre
gearbeitet habe. Ursprünglich ging es mir um eine Synthese von (auch mathematischer)
Systemtheorie und dem, was ich in der Gruppendynamik gelernt hatte. (Später habe ich
lesen können, dass P. Senge am MIT mit wesentlich mehr Aufwand und Zielstrebigkeit
mit einem ähnlichen Ansatz zu großen Erfolgen gekommen ist.) An diese Ursprungsmotivation habe ich später angeschlossen – siehe Abschnitt "Dialektische Systemtheorie",
in den ersten Jahren war Vernetzung und Widerspruch "Ein Projekt zur Entwicklung von
Theorien und Organisationsformen eines neuen Lernens unter Bezugnahme auf Entwicklungen in Gesellschaft und Wissenschaft" (Projektkonzept 1988). Es ging dabei zunehmend um die Gestaltung von Wissenschaft, insbesondere auch um die Organisation
der Universitäten. Es war dies eine Zeit, als auch die Hochschulpolitik an eine Reform
der Hochschulen dachte. Eine Zeit lang hatte es den Anschein, als könnten unsere Konzepte dabei eine Rolle spielen. Es ist anders gekommen.
Ich schrieb von "unseren Konzepten", denn dies war eine Phase meiner Arbeit, in der
Peter Heintel nicht nur Ideengeber war, sondern sich aktiv beteiligte. Er machte bei Veranstaltungen mit, er verfasste Texte, z. B. für das Buch "Argumentation und Entscheidung. Zur Idee und Organisation von Wissenschaft" (1993), das ich gemeinsam mit Ada
Pellert und Markus Costazza herausgab. Die zentrale These von Peter: Organisation ist
konstitutiv auch für die Inhalte. Es sind daher Theorien zu entwickeln, die Organisationsformen und inhaltliche Strukturen in Verbindung bringen. "Vernetzung und Widerspruch"
als soziales und als Denk-Prinzip war ein Versuch in diese Richtung. 1992 habe ich im
Sinne dieser Überlegungen die Abteilung "Theorie, Organisation und Didaktik von Wissenschaft" gegründet. Es seien zwei Titel von Aufsätzen aus dieser Zeit genannt, an
denen man den Einfluss von Peter Heintel erkennen kann: "Wissenschaft, Argumentation und Widerspruch" (1993) war der Versuch, eine Wissenschaftstheorie mit sozialen
Bezügen zu entwerfen, der Titel "Unbegrenztes Netz mit Gruppen als Prinzip der Wissenschaftsorganisation" (1993) spricht für sich. In Kritik an wissenschaftstheoretischen
Positionen, die Betrachtung von Organisation ausklammern, habe ich "Wissenschaftsphilosophie ohne Organisationsgesichtspunkt: Rien ne va plus" (1994) geschrieben.
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Ich hebe zwei Besonderheiten von Peter Heintel hervor, die ich in der Zusammenarbeit
mit ihm in der Gruppendynamik erlebt habe. Erstens: Peter lässt sich ein, es gibt bei ihm
nichts Unechtes, z. B. nicht das Verhalten, das man bei Schauspielern "Schmieren"
nennt. Er kritisiert auch, wenn unechte Bedeutsamkeit erzeugt wird. Zweitens: Er verfügt
über einen enormen philosophisch-geistesgeschichtlich-literarischen Hintergrund. Eigentlich habe ich so bei ihm Philosophie gelernt: Konkrete soziale Situationen interpretierte er mit Bezügen zu philosophischen Theorien.
Ein solcher philosophischer Bezug, den er oft herstellte – beispielsweise in unserer gemeinsamen Arbeit an einer "Alternativen Ökonomie" – ist das Konzept "Systemtranszendenz".
Systemtheorie und Selbstdifferenz
Peter Heintel steht sozialen Systemtheorien kritisch gegenüber. Sie neigen dazu, das
Mechanistische des immanenten Selbstlaufes zu verabsolutieren. Demgegenüber betont er die Möglichkeit der "Systemtranszendenz", nämlich, dass Systemgrenzen (innere
und äußere) überwunden werden können, und zwar von innen. Ich folge ihm dabei. Allerdings, als Mathematiker besticht mich auch der Charme von Systemen ohne Transzendenz, die durch mathematische Modelle erfasst werden können. Ausgehend von der
weiter oben erwähnten Ursprungsmotivation von "Vernetzung und Widerspruch" habe
ich in den 90er Jahren eine "Dialektische Systemtheorie" konzipiert und in Lehrveranstaltungen vorgetragen. Schriftlich liegen nur Kurzfassungen und Bruchstücke vor, z. B.:
"Drei Paradigmen systemischen Denkens" (1994) – gemeint sind maschinelles, lebendiges und Bewusstseins-Paradigma – , "Wissenschaft und Bewusstsein der Gesellschaft"
(1998) oder "Wissenschaft und die Ethik des Anderen" (2000). In den beiden letztgenannten Texten wird der Versuch gemacht, das Konzept des individuellen Bewusstseins, oder des Gewissens, geknüpft an die Fähigkeit zur Selbstdifferenz, auf soziale
Systeme, Organisationen oder gar Gesellschaften zu übertragen. In Kurzform: Bewusstsein eines sozialen Systems ist ein Prozess von Konstruktion und Dekonstruktion von
Vorstellungen des Systems von sich selbst, wobei bei großen Systemen eine innere Differenzierung durch Ermöglichung von Aufmerksamkeits-Eliten (BeobachterInnen) nötig
ist.
Ich teile Peter Heintels kritische Position gegenüber "undialektischen" Systemtheorien.
Ein kurzer Text mit dem Titel "Die Problematik der scharfen Grenze. Oder: Was heraus-
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kommt, wenn man die Definitionen zu ernst nimmt" (2000) ist eine Auseinandersetzung
mit Luhmann/Willke.
Systemtranszendenz verunsichert, im Vergleich zum bewusstlosen Verweilen im System. Man kann es aber auch umgekehrt sehen: "Systemtranszendenz als neue Sicherheit" (1998) ist ein Interview, das ich mit Peter Heintel geführt habe, in dem dieser Gedanke zum Ausdruck kommt.
Philosophie der Mathematik – zweiter Teil
Meine in den 80er Jahren begonnene Beschäftigung mit der Frage der sozialen Rolle
der Mathematik hat sich kontinuierlich fortgesetzt. Die zunächst davon getrennte Arbeit
im Projekt "Vernetzung und Widerspruch" oder zu einer "Dialektischen Systemtheorie"
ist erst in der zweiten Hälfte der 90er Jahre und danach in meinen Überlegungen auch
für eine "Sozialphilosophie der Mathematik" fruchtbar geworden. In den "Thesen zur Philosophie der Mathematik" von Peter Heintel war Vieles im Prinzip angelegt, es hat aber
Zeit gebraucht, bis die Dinge in meinem Denken Gestalt angenommen haben.
Ein früher Versuch war der Aufsatz "Zum Verhältnis von Mathematik und Kommunikation" (1986), in dem u.a. die dialektische These, dass Mathematik Kommunikation fördert,
durch Eindeutigkeit, und behindert, ebenfalls durch Eindeutigkeit, vertreten wird. Der
umfangreiche Projektbericht "Mathematik und gesellschaftlicher Wandel" (1987) versucht u.a. die These zu stützen, dass Mathematik einerseits als Mittel verwendet wird,
andererseits damit zunehmend in das System gesellschaftlichen Lebens Eingang findet
– das Ganze kann als zirkulärer Prozess gesehen werden. Die Reflexion dieser Situation ermöglicht neue Erkenntnisse über den Menschen – Mathematik als Spiegel des
Menschen sozusagen – und kann damit neue Freiheiten eröffnen. Ich habe später diese
Gedanken noch konsequenter und radikaler formuliert, etwa in "Towards a Social Philosophy of Mathematics" (1998) oder in "Technologie, Mathematik und Bewusstsein der
Gesellschaft" (1998). Im letztgenannten Text wird eine Verbindung zum Bewusstseinskonzept der dialektischen Systemtheorie hergestellt. Der Kern ist folgendes Argument:
Die Mathematik ist im Grund undialektisch, indem sie von einer Trennung von Element
und Struktur ausgeht – eine Menge ist nicht in ihren Elementen enthalten. Ihre Stärke ist
das Festhalten, nicht das Transzendieren. Indem sie aber sehr konturiert und eindeutig
beschreibt und damit festhält, ermöglicht sie Transzendenz, verstanden als eine Überwindung gegebener Modelle. Nach dem Motto: Was man sehr klar beschreiben kann,
das kann man auch negieren. D. h. Mathematik kann eine positive Rolle im gesellschaftWas ich von Peter Heintel gelernt habe.doc
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lichen Bewusstseinsprozess spielen, wenn man sich nicht ihr ausliefert, sondern sie immer wieder überwindet. Das bedarf aber einer sozialen Organisation, die ihrerseits nicht
"mathematisch", d. h. durch Regelhaftigkeit bestimmt ist.
Das Festhalten und die Zuspitzung erreicht die Mathematik, indem sie materialisiert:
Symbole, Grafiken, Rechenmaschinen sind konstitutiv für Mathematik. Materie ist nämlich das, worüber die Menschen die höchste gemeinsame Existenzgewissheit haben.
Deswegen spielt sie auch eine so große Rolle in der Organisation von vielen Menschen
– man denke an Akten oder an Visualisierungstechniken für Großgruppen. Mathematik
ist gewissermaßen die Möglichkeit, bestimmte Abstrakta materiell zu erfassen – und
durch Manipulation des Materiellen ("Rechnen") zu neuen Erkenntnissen zu kommen. In
"Mathematik anthropologisch: Materialisierung und Systemhaftigkeit" (1998) habe ich
diese Überlegungen ausgeführt.
Eine andere Schiene geht von der ursprünglichen von Gerhard Schwarz am Beispiel
von Logik und Hierarchie festgestellten Zusammenhängen zwischen Denkprinzipien und
Prinzipien sozialer Organisation aus und versucht einen Zusammenhang zwischen Mathematik und Organisationstypen herzustellen. "Regelsysteme" heißt das Stichwort, wofür Bürokratien, aber auch der Markt, Beispiele sind.
Eine Zusammenfassung der einschlägigen Artikel sind in dem Buch "Materialisierung
und Organisation. Zur kulturellen Bedeutung der Mathematik" (2006) zu finden. Für mich
ist damit eine Denkbewegung zu einem (vorläufigen) Abschluss gekommen, die mir
Klarheit über meine wissenschaftliche Start-Disziplin gebracht hat und die in ihren wesentlichen Grundzügen von Peter Heintel initiiert und inspiriert wurde.
Das/Die IFF
Betrachter von außen werden wohl die stärkste Verbindung zwischen Peter Heintel und
mir in der gemeinsamen Tätigkeit an der IFF sehen. Organisatorisch gesehen stimmt
das auch und ausgehend von der konstatierten Bedeutung von Organisationen für Inhalte soll dieser Lernbereich nicht ausgeklammert werden. Ich habe im vorliegenden Artikel
aber absichtlich die inhaltlichen Lernbereiche in den Vordergrund gestellt, weil die für
mich besonders bedeutsam sind und weil ich glaube, dass eine Universitätsorganisation
ohne inhaltliches Interesse der Mitglieder aneinander nicht funktioniert.
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Ich möchte an dieser Stelle nicht die Geschichte der IFF darstellen – dazu gibt es inzwischen ein Buch "iff. Interdisziplinäre Wissenschaft im Wandel", sondern nur drei Aspekte
hervorheben, durch die Peter Heintel entscheidende Beiträge zum Erfolg dieses Unternehmens geleistet hat und mir gleichzeitig Lernfelder eröffnet hat.
Erstens, Peter Heintel hatte eine Idee von Wissenschaft. Es ging ihm um eine alternative Wissenschaft, Prozesswissenschaft hat er sie immer wieder genannt (siehe den Beitrag von Larissa Krainer in diesem Buch). Es ist dies eine Wissenschaft, die ein anderes
Verhältnis zu ihrer Anwendung hat als es die gängige Praxis des Wissenschaftsbetriebes zum Ausdruck bringt: Nicht Modelle entwerfen, die dann umgesetzt werden, aber
auch nicht bloß Texte verfassen, die vielleicht gelesen werden und vielleicht Einfluss
haben. Nein, in Kooperation mit außerwissenschaftlichen Partnern Situationen erforschen, Maßnahmen gestalten, dabei unterschiedliche Verantwortungen wahrnehmen.
"Transdisziplinarität" nennt man das heute, mit dem Begriff "Interventionsforschung" hat
es Peter auf den Punkt gebracht.
Zweitens hat Peter Heintel eine Kommunikationskultur begründet, vor allem in der Zeit
als er das IFF geleitet hat, das/die bis heute weiter lebt. Ich weiß nicht, wie das gelingen
konnte, dass eine Person so nachhaltig diese Kultur prägte. Es mag eine Rolle gespielt
haben, dass er bei den Personalrekrutierungen vorsichtig war und ihm soziale Kompetenz sehr wichtig war. Die so entstandene Kultur ist gekennzeichnet von Wohlwollen,
Offenheit und Interesse aneinander, kaum gibt es Beckmessertum oder unsinnige Konkurrenz. Weitere Elemente sind Bereitschaft zur Reflexion, zur übergreifenden bis hin
zur philosophischen Betrachtung. Was KollegInnen, die von außen zu uns kommen oder
phasenweise mit unseren Gremien zu tun hatten, am meisten auffiel, war die Kommunikationskultur.
Drittens: Peter Heintel arbeitete immer mit hohem Einsatz. Dies gilt zunächst für seine
Gründungs- und 11-jährige Leitungstätigkeit. Trotz vieler Tätigkeiten in seinem Fach und
außerhalb der Universität in Praxisfeldern war Peter immer präsent: für Gespräche, für
Entscheidungen, für Auseinandersetzung mit den Inhalten. Seine Leitungstätigkeit nahm
1990 durch einen Konflikt mit dem damaligen Wissenschaftsminister Erhard Busek ein
jähes Ende: Peter Heintel trat zurück. Er hat sich aber nicht schmollend zurückgezogen,
vielmehr war er von 1992 bis 2001 Vorsitzender des obersten Kollegialorgans der IFF
und leitete von 1997 bis 2001 eine Abteilung, an der er noch heute tätig ist. Daneben hat
er Projekte und Lehrgänge geleitet, Habilitationen betreut, führt ein Forschungskolloqu-
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ium, an dem sich IFFlerInnen verschiedener Institute beteiligen. Nicht nur sein früheres,
auch sein gegenwärtiges Wirken ist spürbar, die Idee von der alternativen Prozesswissenschaft lässt ihn nicht los und er steckt immer noch andere damit an.
Schlussbemerkung
Bei einer Veranstaltung, an der Peter Heintel und ich teilnahmen, wurden die Anwesenden gefragt, wen von den Anwesenden sie sich als Chef wünschen. Peter und ich haben
uns gegenseitig gewählt. Wir konnten in der Realität beides ausprobieren. Für mich war
es schön, ihn als Vorgesetzten zu haben: die Fürsorge war angenehm, die Grundlagen,
die er gelegt hat, auf die konnte ich später aufbauen. Umgekehrt hat er mich in der Zeit
meiner Leitungstätigkeit begleitet und beraten. Er hat aber auch meine Autorität akzeptiert, wenn er anderer Meinung und es für ihn unangenehm war. Das hat mich besonders beeindruckt.
Durch die Gründung und durch den Aufbau der IFF hat Peter Heintel für mich – und für
andere – eine Arbeitsumgebung geschaffen, ohne die jene Entwicklung meiner wissenschaftlichen Arbeit, die ich oben skizziert habe, nicht möglich gewesen wäre. Und da es
eine war, die für mich interessant, und wie ich glaube, auch für andere wichtig war, danke ich ihm sehr dafür.
Der wichtigste Teil unseres Verhältnisses sind aber die gemeinsamen inhaltlichen Anliegen. Peter Heintel ist jener Lehrer, der auf mein wissenschaftliches Tun den meisten
Einfluss hatte. Mehr als die Hälfte meines wissenschaftlichen Werkes hätte es ohne Peter Heintel nicht gegeben. Dabei hat meine Lernzeit bei ihm erst begonnen, als ich bereits Professor war.
Peter Heintel behauptet gelegentlich, dass unser Lehr-Lern-Verhältnis ein wechselseitiges sei. Mag sein, dass er auch von mir gelernt hat, man lernt ja auch von Schülern.
Aber es gibt einen Unterschied.
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Texte von Peter Heintel
Modellbildung in der Fachdidaktik. eine philosophisch-wissenschaftstheoretische Untersuchung. Klagenfurter Universitätsreden, Carinthia 1978
Thesen zur Philosophie der Mathematik. Unv. Manuskript, Klagenfurt 1979
Politische Bildung als Prinzip aller Bildung. Wien/München: Jugend und Volk 1977
Thesen und Fragen zur Institutionalisierung von Wissenschaft und Forschung. In: Huber, J. (Hrsg.): Gruppendynamik und Organisationsentwicklung. Wien 1981
Motivforschung und Forschungsorganisation. In: Fischer, H. (Hrsg.): Forschungspolitik
für die 90er Jahre. Wien/New York: Springer 1985
Mimesis, Macht und Wissenschaft. In: Fischer, R., Costazza, M., Pellert, A. (Hrsg.): Argumentation und Entscheidung. Zur Idee und Organisation von Wissenschaft. München/Wien: Profil 1993, S. 69-83
Zur Grundaxiomatik der Interventionsforschung. In: Heintel, P., Paul-Horn, I., Krainer, L.
(Hrsg.): Klagenfurter Beiträge zur Interventionsforschung. IFF-Abteilung für Weiterbildung und systemische Interventionsforschung, Klagenfurt 2005
Weitere zitierte Literatur:
Schwarz, G.: Die "Heilige Ordnung der Männer". Patriarchalische Hierarchie und Gruppendynamik. Opladen: Westdeutscher Verlag 1985
Arnold, M. (Hrsg.): iff. Interdisziplinäre Wissenschaft im Wandel. Wien: LIT 2009
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Schriften von Roland Fischer, die durch Peter Heintel maßgeblich
beeinflusst wurden (Auswahl)
Unterricht als Prozeß der Befreiung vom Gegenstand - Visionen eines neuen Mathematikunterrichts. Journal für Mathematik-Didaktik, Heft 1-2, 1984
Mensch und Mathematik - Eine Einführung in didaktisches Denken und Handeln. Gem.
mit G. Malle unter Mitarbeit von H. Bürger. Bibliographisches Institut: Mannheim 1985,
Übersetzung ins Slowakische 1993
Höhere Allgemeinbildung. In: Fischer, A. u. a. (Hrsg.): Situation – Ursprung der Bildung.
Franz-Fischer-Jahrbuch 2001. Leipzig: Universitätsverlag, S. 151-161
Wie groß ist die Gefahr, daß die Mathematikdidaktik bald so wissenschaftlich ist wie die
Physik? Bemerkungen zu einem Aufsatz von Hans Joachim Burscheid. Journal für Mathematik-Didaktik 3/1983, 241-243
Zur Ideologie der Selbstbeschränkung im Mathematikstudium. Mit kritischen Bemerkungen von Klaus Barner. In: Mathematik-Unterricht an Universitäten - Zweiter Teil. Sonderheft der Zeitschrift für Hochschuldidaktik, Wien 1980
Mathematik und Politische Bildung - Endbericht zu einem Projekt. Gem. m. H. Jungwirth,
E. Kotzmann und G. Ossimitz. Univ. Klagenfurt 1986
Mathematik - Zwischenwelt in Maschinen, Bildern und Symbolen. In: Bammé A., Baumgartner, P., Berger, W., Kotzmann E. (Hrsg.): Technologische Zivilisation. Profil, München 1987
Hierarchie und Alternative - Charakteristika von Vernetzungen. In: Pellert, A. (Hrsg.):
Vernetzung und Widerspruch. Zur Neuorganisation von Wissenschaft. Profil-Verlag,
München-Wien 1991, S. 121-164
Vernetzung und Widerspruch. Ein Projekt zur Entwicklung von Theorien und Organisationsformen eines neuen Lernens unter Bezugnahme auf Entwicklungen in Gesellschaft
und Wissenschaft. Gem. mit Ada Pellert. IFF-Projektzentrum St. Pölten 1988
Unbegrenztes Netz mit Gruppen als Prinzip der Wissenschaftsorganisation. In: Fischer,
R., Costazza, M., Pellert, A. (Hrsg.): Argumentation und Entscheidung. Zur Idee und
Organisation von Wissenschaft. Wien-München: Profil 1993. S. 167-190.
Wissenschaft, Argumentation und Widerspruch. In: Fischer, R., Costazza, M., Pellert, A.
(Hrsg.): Argumentation und Entscheidung. Zur Idee und Organisation von Wissenschaft.
Wien-München: Profil 1993. S. 29-43.
Wissenschaftsphilosophie ohne Organisationsgesichtspunkt: Rien ne va plus. Kommentar zu “Probleme der Bestimmung und Abgrenzung von Wissenschaft” von Elisabeth
Ströker. In: Ethik und Sozialwissenschaften. Streitforum für Erwägungskultur. 5 (1994),
Heft 3, S. 437-438.
Drei Paradigmen systemischen Denkens. In: Wissenschaftliche Blätter/Angewandte Ökologie der Wissenschaftlichen Landesakademie für Niederösterreich, Heft 1/1994,
S. 38-40.
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Wissenschaft und Bewußtsein der Gesellschaft. In: Gubitzer, L., Pellert, A. (Hrsg.): Salbei und Opernduft. Reflexionen über Wissenschaft. Zeitschrift für Hochschuldidaktik
3/1998, S. 106-120. Und in: Wallner, F.G., Agnese, B. (Hrsg.): Konstruktion und Verfremdung. Von der Wirklichkeit zur Realität. Wien: Braumüller 1999, S. 69-82
Wissenschaft und die Ethik des Anderen. In: Fischer, A., Fischer-Buck, A., Schäfer K.-H., Zöllner, D. (Hrsg.): Vom Bildungssinn der Wissenschaften und von der Ethik
des Anderen. Franz-Fischer-Jahrbuch 2000. Leipzig: Universitätsverlag, S. 153-161
Die Problematik der scharfen Grenze. Oder: Was herauskommt, wenn man die Definitionen zu ernst nimmt. (Kritik von H. Willke's "Die Gesellschaft der Systemtheorie"). In:
Ethik und Sozialwissenschaften 11 (2000), Heft 2, S. 226-228
Systemtranszendenz als neue Sicherheit. Roland Fischer im Gespräch mit Peter Heintel, dem Erfinder des Arbeitskreises "Alternative Ökonomie". In: Kitzmüller, E., PaulHorn, I. (Hrsg.): Alternative Ökonomie. IFF-texte, Bd 4. Wien/New York (1998): Springer,
S. 20-27
Zum Verhältnis von Mathematik und Kommunikation. In: A. Bammé u.a. (Hrsg.): Anything goes - Science Everywhere? Konturen von Wissenschaft heute. Hölder-PichlerTempsky, Wien, 1986
Mathematik und gesellschaftlicher Wandel. In: Journal für Mathematik-Didaktik 12
(1991), S. 323-345
Technologie, Mathematik und Bewußtsein der Gesellschaft. In: Kadunz, G., Ossimitz,
G., Peschek, W., Schneider, E., Winkelmann, B. (Hrsg.): Mathematische Bildung und
neue Technologien. Stuttgart/Leipzig: B. G. Teubner 1998, S. 85-101
Mathematik als Materialisierung des Abstrakten. In: Arnold, M., Fischer, R. (Hrsg.): Studium Integrale. IFF-texte, Band 6. Springer: Wien/New York 2000, S. 50-58
Mathematik und Bürokratie. In: Lengnink, K., Prediger, S., Siebel, F. (Hrsg.): Mathematik
und Mensch. Sichtweisen der Allgemeinen Mathematik. Darmstädter Schriften zur Allgemeinen Wissenschaft, 2001, S. 53-64
Mathematik und ökonomische Kommunikation. In: Prediger, S., Siebel, F., Lengnink, K.
(Hrsg.): Mathematik und Kommunikation, Darmstädter Texte zur Allgemeinen Wissenschaft, 2002, S. 151-160
Materialisierung und Organisation. Zur kulturellen Bedeutung der Mathematik. Profil
München-Wien 2006
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