PDF 2009-2 Autoren pdf.indb

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PDF 2009-2 Autoren pdf.indb
Berliner Debatte
Initial
2
20. Jg. 2009
Wege aus
der Krise
Krisenverlauf und
Busch
Krisendeutung
Stroczan
Gespenst
Aktienkultur
Grüner
Willnow
New Deal
Scheer
Energiewende
international
Sport, Geschlecht
elektronische Sonderausgabe
ISBN 978-3-936382-63-1
© www.berlinerdebatte.de
und ‚Race‘
Boesenberg
Berliner Debatte Initial 20 (2009) 2
Sozial- und geisteswissenschaftliches Journal
© GSFP – Gesellschaft für sozialwissenschaftliche
Forschung und Publizistik mbH. Herausgegeben
im Auftrag des Vereins Berliner Debatte INITIAL
e.V., Präsident Peter Ruben. Berliner Debatte Initial
erscheint alle drei Monate.
Redaktion: Harald Bluhm, Ulrich Busch, Erhard
Crome, Birgit Glock, Wolf-Dietrich Junghanns,
Cathleen Kantner, Thomas Müller, Ingrid Oswald,
Dag Tanneberg, Udo Tietz, Andreas Willisch, Rudolf Woderich
Lektorat: Gudrun Richter,
Produktion: Rainer Land
Redaktionelle Mitarbeit: Karsten Malowitz
Verantwortlicher Redakteur: Jan Wielgohs, verantwortlich für dieses Heft (V.i.S.P.): Ulrich Busch
Copyright für einzelne Beiträge ist bei der Redaktion zu erfragen.
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bis 2008: 10 €, Doppelheft 20 €
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(030) 61105480.
Autorenverzeichnis
Eva Boesenberg, Prof. Dr.,
Dept. of English and American Studies, Humboldt-Universtät zu Berlin
Ulrich Busch, Dr. habil.,
Finanzwissenschaftler, Berlin
Mario Candeias, Dr.,
Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin.
Michael Jäckel, Prof. Dr.,
Soziologe, Universität Trier
Christian Kaiser, Dr.,
Sozialwissenschaftler, Hannover
Daniel Kofahl, Dipl.-Soziologe,
Universität Kassel
David Kramer, PhD,
Historiker, Professor, Alice-Salomon-Hochschule,
Berlin
Thomas Müller, MA,
Erziehungswissenschaftler, Universität Erfurt
Mariele Nientied, Dr. habil.,
Philosophin, Universität Frankfurt/Oder
Andreas Pickel, Prof. Dr.,
Centre for the Critical Study of Global Power and
Politics Trent University, Peterborough, Ontario,
Canada
Hermann Scheer, Prof. h. c., Dr. h. c., Dr.,
Mitglied des Deutschen Bundestags, Wirtschaftsund Sozialwissenschaftler
Danny Schindler, Student der Politikwiss.
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Thomas Schubert, MA,
Philosoph, Einstein-Haus Caputh
Katherine Stroczan, Dr. phil., Psychoanalytikerin, Frankfurt am Main
Rainer Land, Dr. sc.,
Philosoph und Wirtschaftswissenschaftler, Thünen-Institut e.V. Bollewick
Camilla Warnke, Dr.,
Philosophin, Berlin
Klaus Müller, Prof. Dr.,
Wirtschaftswissenschaftler, Glauchau/Chemnitz
Andreas Willnow, Dr.,
Wirtschaftswissenschaftler, Leipzig
Berliner Debatte Initial 20 (2009) 2
1
Wege aus der Krise
– Zusammengestellt von Ulrich Busch –
Thomas Schubert
„Abbau Ost“ –
Bericht von einem Abend in Potsdam
87
2
Danny Schindler
Repräsentation versus Partizipation?
Demokratietheoretische Überlegungen
95
5
Eva Boesenberg
Wie Sport Geschlecht und
‚Race‘ festschreibt
106
Michael Jäckel, Daniel Kofahl
„Man hat etwas anderes vermutet ...“
Zur Phänomenologie des
kulinarischen Geschmacks
117
SCHWERPUNKT: WEGE AUS DER KRISE
Die Finanz- und Wirtschaftskrise –
Chancen für Reformen und
für eine globale Energiewende
Editorial
Andreas Pickel
Kann der Keynesianismus die
neoliberale Weltordnung retten?
Mario Candeias
Die letzte Konjunktur:
Organische Krise und
„postneoliberale“ Tendenzen
12
Ulrich Busch
Krisenverlauf und Krisendeutung
im globalen Finanzmarktkapitalismus
25
Klaus Müller
Vom Marktversagen
zum Staatsversagen –
alles Krise oder was?
44
Katherine Stroczan
Das Gespenst der Aktienkultur
oder das Behagen in der Unkultur
55
Rainer Land
Die globale Energiewende und die
politische Agenda von Barack Obama
62
Energiewende international
Rainer Land sprach mit
Hermann Scheer
67
Andreas Willnow
„Grüner New Deal“?
75
***
REZENSIONEN UND BESPRECHUNGEN
Alfred Kosing: Innenansichten
als Zeitzeugnisse. Philosophie
und Politik in der DDR.
Besprochen von Camilla Warnke
135
Günter Butzer, Joachim Jacob (Hg.):
Metzler Lexikon literarischer Symbole.
147
Rezensiert von Mariele Nientied
Kurt Bayertz, Myriam Gerhard,
Walter Jaeschke (Hg.): Weltanschauung,
Philosophie und Naturwissenschaft
im 19. Jahrhundert.
150
Rezensiert von Thomas Müller
Colin Crouch: Postdemokratie
Rezensiert von Christian Kaiser
156
Roger Karapin:
Protest Politics in Germany.
Movements on the Left and Right.
Besprochen von David Kramer
158
2
Berliner Debatte Initial 20 (2009) 2
Editorial
Die Finanz- und Wirtschaftskrise –
Chancen für Reformen und für eine globale Energiewende
Die Weltwirtschaft befindet sich in einer dramatischen Lage. Nach dem Zusammenbruch
des US-Immobilien- und Hypothekenmarktes,
dem Kollaps von Großbanken und der Krise
auf den Finanzmärkten, welche im Herbst
2008 mit der Lehman-Pleite ihren Höhepunkt
erreichte, verzeichnet nunmehr, in den Jahren
2009 und 2010, die Produktion von Gütern
und Dienstleistungen ihren tiefsten Einbruch
seit der Weltwirtschaftskrise 1929/33. Weltproduktion und Welthandel schrumpfen in
einem bisher unvorstellbaren Ausmaß. Wie
diese Krise letztlich historisch zu bewerten
sein wird, steht heute noch aus. Auf jeden
Fall aber wird sie als eine „große Krise“ in die
Geschichte eingehen.
Deutschland ist von der Finanz- und Wirtschaftskrise in besonderem Maße betroffen,
durch den Exportrückgang ebenso wie durch
den Rückgang der Produktion und nachfolgend
der Unternehmensgewinne, der Investitionen,
der Beschäftigung, der Produktivität, der
Einkommen und des Konsums. Der Arbeitsmarkt zeigt bisher noch kaum Verwerfungen
durch die Krise. Die Experten rechnen jedoch
für 2010 mit einem deutlichen Anstieg der
Arbeitslosigkeit. Trotz massiver staatlicher
Interventionen droht eine Deflationsspirale,
deren wirtschaftliche und politische Folgen
unabsehbar sind.
Die Politik reagiert hierauf bisher vor allem
mit Maßnahmen eines konservierenden Aktionismus. Sie will „eine Brücke“ bauen, die über
die Untiefen der Krise hinwegführt, und danach
weitermachen wie vor der Krise. Je tiefer die
Krise jedoch das Leben der Menschen verändert, umso deutlicher wird, dass es danach kein
Zurück zum Davor geben wird. Die Welt wird
dann eine andere sein, in Deutschland wie im
globalen Maßstab. Dies impliziert, die Krise
nicht nur als Katastrophe, sondern zugleich
auch als Chance zu begreifen, als Chance für
wirtschafts- und gesellschaftspolitische Reformen sowie für die Lösung der anderen großen
Krisen dieser Welt, der Umweltkrise vor allem,
aber auch der Ernährungs-, der Wasser-, der
Energie-, der Rohstoffkrise usw.
Derzeit sind die Medien noch mit der
Phänomenologie der Krise befasst. Ebenso
wie die praktische Politik mit der Bewältigung der unmittelbaren Auswirkungen der
Krise beschäftigt ist. Die geistige Aufarbeitung
dessen, was da passiert ist und was die Krise
eigentlich bedeutet, ihre theoretische und
wirtschaftshistorische Interpretation, beginnt
erst allmählich und wird einen großen Zeitraum
in Anspruch nehmen. Die wirtschaftstheoretische Analyse der Ursachen der Finanz- und
Wirtschaftskrise, ihres Verlaufs und ihrer
Wirkungen, ihrer tiefen, systemimmanenten
Wurzeln, ihrer Transmissionsmechanismen,
ihrer Psychologie, die Rolle der Theorie beim
Zustandekommen der Krise und für deren
Wahrnehmung bzw. Fehlwahrnehmung, die
Rolle der Politik beim Krisenmanagement
– das alles gilt es zu ergründen.
Die Zeitschrift Berliner Debatte Initial
hat bereits 2008 mit dem Schwerpunktheft
„Endlose Depression“ (Heft 4/2008) einen
viel beachteten Beitrag zur wissenschaftlichen
Interpretation der Krise geleistet. Mit diesem
Heft soll die Diskussion über die Hintergründe,
die Deutungsversuche und die interdisziplinäre
Erklärung der Krise im Lichte der aktuellen
Editorial
Ereignisse fortgesetzt werden. Dabei wird versucht, die wissenschaftliche Interpretation der
Krise mit der Frage nach den Chancen für die
„Energiewende“ – als dem wesentlichen Ausweg
aus dieser Krise wie aus der krisenhaften Situation der Menschheit überhaupt – organisch
zu verknüpfen. Das Heft ordnet sich damit ein
in den Kanon zahlreicher Veröffentlichungen,
welche gegenwärtig versuchen, über das bloße
Entsetzten und Staunen über das Ausmaß und
die Folgen der Krise hinauszugehen, indem
sie Fragen und Konzepte aufgreifen, welche
als Lösungsansätze für die Überwindung der
Krise dienen.
Im ersten Aufsatz beschäftigt sich Andreas
Pickel mit dem gegenwärtig weltweit zu beobachtenden Rückgriff der Politik auf keynesianische Konzepte. Ohne massive öffentliche
Ausgabensteigerungen scheint die Krise nicht
beherrschbar zu sein. Die Rekapitalisierung
von Banken und Konzernen hat jedoch mit
Keynesianismus wenig zu tun. Dies wirft weitere Fragen auf: Bilden massive Staatsausgaben
wirklich den Kern des Keynesianismus? Und
unter welchen Bedingungen war keynesianische
Politik erfolgreich und unter welchen nicht? Die
Krise des Weltfinanzsystems und der Weltwirtschaft ist eine systemische Krise, die zu ihrer
Überwindung grundlegender Veränderungen
bedarf. Eine Rückkehr zum Keynesianismus
erscheint als die bestmögliche Lösung. Die
Bedingungen dafür sind heute jedoch andere
als vor 50 Jahren. Folglich werden auch die
Ergebnisse andere sein.
Mario Candeias behandelt die aktuelle Krise
als eine organische Krise des Neoliberalismus,
in deren Verlauf sich „postneoliberale Tendenzen“ andeuten. Ökonomische, ökologische,
politische und soziale Krisenerscheinungen
verdichten sich gegenwärtig zu einer strukturellen, einer organischen Krise. Staatsinterventionismus, Reregulierung, Initiativen für
einen Green New Deal und andere Projekte
markieren ein neues Feld „postneoliberaler“
Strategien. Der Neoliberalismus wird nach
wie vor als dominant angesehen, jedoch nicht
mehr als hegemonial. Die Welt beginnt sich
zu verändern.
Im folgenden Aufsatz wird die Finanz- und
Wirtschaftskrise in ihrem Kern als eine Über-
3
akkumulations- und Überproduktionskrise
behandelt, die jedoch Besonderheiten aufweist.
Diese erschließen sich, schreibt Ulrich Busch,
am besten, wenn man die gegenwärtige Wirtschaftsordnung als Finanzmarktkapitalismus
begreift und die Krise als Ausdruck der Grenzen
einer bestimmten Regulationsweise interpretiert. Die Krise bietet Chancen für Reformen
und befördert damit den gesellschaftlichen
Evolutionsprozess. Realisiert werde diese
Entwicklung jedoch auch künftig noch im
ordnungspolitischen Rahmen des globalen
Finanzkapitalismus, womit der Autor postkapitalistischen Utopien eine Absage erteilt.
Hieran an schließt sich eine ebenfalls volkswirtschaftlich argumentierende Arbeit von Klaus
Müller. Ausgehend vom inflationären Gebrauch
des Krisenbegriffs (Konjunktur-, Banken-, Finanz-, Börsen-, Immobilien-, Kredit-, Armuts-,
Umwelt-, Wachstums-, Vertrauens-, Sinnkrise
usw.) fragt er, ob sich das kapitalistische Gesellschaftssystem gegenwärtig als Ganzes in
einem akuten Krisen- und Auflösungszustand
befinde oder was diese Häufung von „Krisen“
eigentlich rechtfertige? Hat der Markt versagt?
Oder der Staat? Gibt es eine Wachstumskrise?
Vollziehen Staat und (neoliberale) Theorie
momentan einen Sinneswandel? Das sind
die Fragen, die einige Autoren angesichts der
Synchronität mehrerer Krisen nicht nur für
berechtigt halten, sondern auch bejahen. Der
Autor ist anderer Auffassung und versucht,
dies ökonomisch zu begründen.
Die Krise besitzt mehrere Facetten und
Ursachen, keineswegs nur ökonomische. Dies
zeigt sich insbesondere in ihrer Erscheinungsform als Finanzmarktkrise sowie im irrationalen
Verhalten der Akteure an den Finanzmärkten,
an der Börse. Aber letztlich war es nicht die
Irrationalität der Akteure, welche in die Krise
geführt hat, sondern die Irrationalität der Logik
der Finanzmärkte und des Finanzmarktkapitalismus, welcher sich die Akteure, die Broker
und Banker wie die Anleger, nicht entziehen
konnten. Eine Analyse des Funktionierens der
Börse lässt dies augenscheinlich werden. Katherine Stroczan setzt sich mit der Funktionsweise
der Finanzmärkte und dem Handeln der dort
agierenden Akteure aus psychoanalytischer
Sicht auseinander. Sie zeigt, dass wie in vorge-
4
Editorial
schichtlicher Zeit die Vorhersage von Naturerscheinungen aus Mangel am Instrumentarium
scheitern musste, heute die Prognosen an den
Finanzmärkten scheitern. Es ist kein Zufall, dass
die Bewegungen der Märkte wie Naturphänomene erlebt werden, wobei einem „Krach“ der
Stellenwert einer Naturkatastrophe zukommt.
Da Finanzmärkte wie die unbeherrschte Natur
funktionieren, ist es einleuchtend, dass die
Prognose der Fetisch der Börsen ist. Dabei
kommt es zur Verwechslung von Spekulation
mit Kultur. Letztlich erweise sich die „neue
Aktienkultur“ als Unkultur.
Bereits in den analytischen Texten zeigen
sich Ansätze für eine Lösung der Probleme,
wird die Krise als Chance für Reformen und
Entwicklungsfortschritt begriffen. Die „globale
Energiewende“ ist ein notwendiger Beitrag, um
das Überleben der Menschheit sicher zu stellen.
Zugleich ist sie der Schlüssel zu einem neuen
Industrialisierungs- und Entwicklungspfad.
Rainer Land zeigt, dass wir heute an einer
ähnlichen Wegscheide stehen wie vor 80 Jahren.
Wie damals kann auch heute die Finanz- und
Wirtschaftskrise zum Katalysator eines politischen Prozesses werden, der zu einem neuen
Typ wirtschaftlicher Entwicklung führt. Damit
würde ein „neues Paradigma sozioökonomischer Entwicklung“ eingeleitet werden.
Im Interview skizziert Hermann Scheer den
Weg zu einem vollständigen Ersatz der fossilen
Energieträger durch Erneuerbare Energien international und national, zeigt, daß dieser Weg
gangbar und wirtschaftlich vernünftig ist. Die
Energiewende ist Kern einer industriellen und
wissenschaftlich-technischen Revolution, die
die Welt auch sozialökonomisch und politisch
grundlegend verändern wird. Scheer erzählt
von den Auseinandersetzungen, Fortschritten
und Widerständen bei der Gestaltung dieses
Prozesses und erklärt, auf welche Weise neue
internationale Organisationen, wie die jetzt
gegründete Internationale Agentur für Erneuerbare Energien (IRENA) wirken werden.
Andreas Willnow gibt einen informativen
Überblick über den Stand der aktuellen Diskussion zur Energiewende. Er zeigt anschaulich,
wie sich vor dem Hintergrund der Finanz- und
Wirtschaftskrise die Debatte um einen „Grünen
New Deal“ als Lösungsvorschlag verstärkt hat,
welche Kräfte eine solche Lösung unterstützen
und welche sie zu blockieren versuchen.
Außerhalb des Schwerpunktes enthält das
vorliegende Heft weitere Beiträge sowie zahlreiche Besprechungen und Rezensionen. Thomas
Schubert berichtet von einer bemerkenswerten
Diskussionsveranstaltung über den „Aufbau
Ost“ und dessen Reflexion als „Abbau Ost“.
Danny Schindler diskutiert demokratietheoretische Überlegungen zum Wechselverhältnis
politischer Prinzipien. Michael Jäckel und
Daniel Kofahl entwickeln eine „Phänomenologie des kulinarischen Geschmacks“ und Eva
Boesenberg stellt am Beispiel des nordamerikanischen Basketballs dar, wie Sport Geschlecht
und ‚Race‘ festschreibt.
Ulrich Busch
Corrigendum
Im Heft 1/2009 „Konsumzeit - Zeitkonsum“ wurde versehentlich eine vorläufige Version des
Artikels von Hartmut Rosa und Stephan Lorenz „Schneller kaufen!“ (S. 10–18) abgedruckt.
Die Redaktion bedauert diesen Fehler und bittet die Autoren um Entschuldigung. Die korrekte Fassung steht auf der Homepage der Berliner Debatte Initial (www.berlinerdebatte.
de) zum Download zur Verfügung.
Die Redaktion
Berliner Debatte Initial 20 (2009) 2
5
Andreas Pickel
Kann der Keynesianismus
die neoliberale Weltordnung retten?
Kann der Keynesianismus die neoliberale Weltordnung retten? Um diese Frage drehen sich
seit Herbst 2008 die Versuche, die weltweite
Finanz- und Wirtschaftskrise unter Kontrolle
zu bringen. Die Frage wird nicht immer so
explizit formuliert wie hier, doch scheint unter
den globalen Eliten ein Konsens darüber zu
bestehen, dass der ökonomische Status quo nur
durch massive staatliche Ausgabenprogramme
gerettet werden kann.
Die Frage selbst wirft weitere Probleme auf:
Waren massive Staatsausgaben der Kern des
Keynesianismus? Unter welchen Bedingungen war keynesianische Politik erfolgreich,
und unter welchen Bedingungen wurde sie
aufgegeben? Inwieweit sind heutige Rahmenbedingungen anders, und was bedeutet
das für den Erfolg oder das Fehlschlagen
gegenwärtiger quasi-keynesianischer Politik?
Inwieweit ist die neoliberale Weltordnung für
die jetzige Systemkrise verantwortlich? Lässt
sich diese Weltordnung als ganze retten? Wenn
nicht, welche Elemente müssen verabschiedet
werden?
Die hier vorgelegte Analyse wird politische und ideologische Fragen wie die nach
der Machbarkeit bestimmter Reformen unter
den gegebenen politischen und ökonomischen
Machtverhältnissen oder die nach dem für
weitreichende Reformen notwendigen Bewusstseinswandel innerhalb der Eliten und der
öffentlichen Meinung ausklammern. Politische
und ideologische Kontinuität und Wandel
werden bei den Versuchen zur Bewältigung
der kapitalistischen Systemkrise zweifelsohne
entscheidend sein.
Auch nach nun bereits mehr als einem
halben Jahr befinden wir uns immer noch am
Anfang eines Umbruchs, auf den niemand
vorbereitet war. Eine Rückkehr zu einer Art
Keynesianismus erscheint gegenwärtig noch
als die bestmögliche Lösung, auch wenn es sich
dabei nicht um einen großen Wurf handelt.
Waren massive Ausgabenprogramme
der Kern des Keynesianismus?
Ein Großteil der von Regierungen in der ganzen
Welt seit Herbst 2008 vergebenen Billionen
Dollar besteht aus Kapitalausgaben. In einer
ersten Welle wurden Investmentbanken, deren
Marktwert eingebrochen war, massiv rekapitalisiert, um ihren völligen Zusammenbruch
sowie einen Dominoeffekt in der privaten
Wirtschaft zu verhindern. Während die meisten
Großbanken auf diese Weise bisher geschützt
werden konnten, kam es trotz dieser massiven
Kapitalinfusion zu einer Verengung auf den
Kreditmärkten, wodurch Großkonzerne wie
auch der Rest der Wirtschaft ernsthaft beeinträchtigt wurden. In einer zweiten, im Frühjahr
2009 noch anhaltenden Welle versuchen einige
Regierungen nun, die bei ihnen ansässigen
Großkonzerne der Automobilindustrie vor dem
Bankrott zu bewahren. Es handelt sich hierbei
um Maßnahmen, die dem Rest der Wirtschaft
nicht zur Verfügung stehen. Eine dritte Welle
öffentlicher Ausgaben gilt Infrastrukturprojekten, Steuersenkungen und national unterschiedlich gestalteten Ausgabenprogrammen.
Es besteht die Erwartung, dass nach der Rettung
von Banken und ausgewählten Konzernen die
eingebrochene Konsumnachfrage und negative
6
Wachstumsraten in der nahen Zukunft durch
den Stimulus staatlicher Ausgaben schnell
überwunden werden könnten. Hierbei ist
zu beobachten, dass der Zeithorizont dieser
Erwartungen im Laufe der letzten Monate
immer weiter in die Zukunft gerückt ist; ein
Trend, der trotz immer wieder kurzzeitigen
Aufflammens optimistischer Börsenwerte noch
nicht abgeschlossen ist.
Es sind insbesondere die Aktivitäten der
dritten Welle, die stark an die antizyklische
keynesianische Finanzpolitik während der
drei ersten Nachkriegsjahrzehnte erinnern.
Rekapitalisierung von Banken und Konzernen
dagegen haben mit Keynesianismus nichts zu
tun. Je nachdem, wo man die Grenze ziehen
will, kann keynesianische Politik in engerem
Sinne als nur antizyklisches Nachfragemanagement definiert oder aber, weiter gefasst,
als staatliche Intervention in die Lohn- und
Preispolitik, die Wechselkurse und die Geldpolitik angesehen werden. Die erste, begrenzte
Art von Keynesianismus wird bereits heute
wieder praktiziert, während weitergehende
Interventionspolitik (noch) nicht auf der Tagesordnung steht. Die Rekapitalisierung von
Banken und Großkonzernen dagegen war nie
Teil des keynesianischen Politikrepertoires. Sie
muss darum als neu und unerprobt gelten. Es
handelt sich hierbei um quasi-keynesianische,
das heißt defizitäre, Staatsausgaben in immenser Größenordnung, die allerdings keinen
Antrieb für neues Wachstum geben, sondern
bestenfalls eine temporäre Restabilisierung
der neoliberalen Ordnung mit sich bringen.
Es handelt sich übrigens um genau die Art von
Staatsausgaben, welche internationale Geldgeber den postkommunistischen Regierungen
nach dem Zusammenbruch der alten Ordnung
und den davon ausgelösten tiefen Rezessionen
bei Strafe von Kreditentzug ausdrücklich verboten haben, um die heilende Wirkung von
Marktkräften nicht künstlich zu unterbinden.
In der heutigen Krise, so die weitverbreitete
Hoffnung, wird die Staatsverschuldung in Billionenhöhe dagegen keine weiteren Probleme
für eine bald wiederhergestellte neoliberale
Wirtschaftsordnung schaffen. Diese hoffnungsvolle Erwartung basiert insbesondere auf zwei
Annahmen: erstens, dass sich die neoliberale
Andreas Pickel
Ordnung auf diese Weise wiederherstellen
lässt, und zweitens, dass die starken quasikeynesianischen Stimulusmaßnahmen von
einem restabilisierten System auch absorbiert
werden können. Ein kurzer Rückblick auf die
keynesianische Ära und ihren Untergang zeigt
jedoch, wie problematisch diese Annahmen
tatsächlich sind.
Unter welchen Bedingungen hat Keynesianismus funkioniert, und unter welchen Bedingungen wurde er verworfen?
Der Aufstieg des Keynesianismus zur dominanten Form der Wirtschaftspolitik in
der außersozialistischen Welt nahm seinen
Anfang in der Großen Depression der 1930er
Jahre. Er avancierte zu einem übergreifenden
gesellschaftlichen Konsens als Ergebnis des
Zweiten Weltkriegs, dessen Ausbruch mit der
ihm vorangehenden Krise des Kapitalismus und
der systemischen Herausforderung durch den
sowjetischen Sozialismus verbunden wurde.
Verstaatlichung der Großindustrie, staatliche Planung und Marktregulierung, bereits
während der Kriegszeit erprobt, wurden in
der Nachkriegszeit selbst von liberalen und
konservativen Parteien befürwortet. Diese im
Angelsächsischen oft als „postwar ideological
consensus“ bezeichnete Grundorientierung
war der Anfang der keynesianischen Wirtschaftsperiode, die drei Jahrzehnte bis in die
späten 1970er Jahre andauerte. Keynesianische
Wirtschaftspolitik bewährte sich in ganz unterschiedlichen institutionellen Kontexten – von
Nordamerika und Westeuropa bis nach Ostasien und vielen anderen Ländern der Dritten
Welt, in denen sie Bestandteil umfassenderer
Entwicklungsstrategien war. Diese Behauptung
ist empirisch relativ leicht zu erhärten, wenn
man wirtschaftliche und soziale Indikatoren
der drei keynesianischen Jahrzehnte mit denen der darauf folgenden drei neoliberalen
Dekaden vergleicht.
Die Geschichte vom Untergang des Keynesianismus ging zusammen mit dem Entstehen der OPEC und mit einer Reihe massiver
Ölpreissprünge, die zu weltweiter Inflation,
verringertem Wirtschaftswachstum und ver-
Kann der Keynesianismus die neoliberale Weltordnung retten?
schärften Arbeitskämpfen führten. Die Ideologie des Neoliberalismus, deren Grundlagen
bereits in den 1960er Jahren von Ökonomen
wie Friedrich von Hayek und Milton Friedman
entwickelt und verbreitet wurden, gewannen
innerhalb der Wirtschaftseliten zunehmend
an Einfluss, auf Kosten des keynesianischen
Konsenses. Die Wahlerfolge von Margaret
Thatcher in Großbritannien 1979 und Ronald
Reagan in den USA 1980 waren klare Anzeichen
für die – zunächst in den angelsächsischen
Ländern – wachsende politische Legitimität
des im Entstehen begriffenen neoliberalen
Politikregimes. Der kapitalistischen Klasse,
die den postwar consensus als zunehmende
Einschränkung ihrer Entscheidungs- und Profitinteressen wahrnahm, gelang es nunmehr,
mit dem neoliberalen Projekt der Befreiung
von Individuum und Markt von staatlicher
Bevormundung die politische Initiative wieder
an sich zu bringen.
Wenn der Keynesianismus über lange
Strecken so gut funktioniert hat, wäre
eine Neuauflage eine Antwort auf die
heutige Krise?
Keynesianismus bestand aus Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik, aber er war mehr
als das: ein Politikregime, das auf spezifischen
Institutionen und für deren Funktion notwendigen Ideologien beruhte, insbesondere auf
dem für Regierungen und kollektive Akteure
verbindlichen Imperativ, die Arbeitslosigkeit
auf niedrigstem Niveau zu halten. Richten
wir unseren Blick nun auf die Gruppe von
Institutionen, welche die gegenwärtige Krise
hervorgerufen haben, das heißt, auf die globalen Finanzinstitutionen. Die „Befreiung“
des Marktes durchlief mehrere Stufen und
betraf verschiedene Teilgebiete, darunter
Privatisierung, Deregulierung, interne und
externe Liberalisierung, die Aufkündigung von
Arbeitsmarktgesetzen und die Ausdünnung
sozialstaatlicher Institutionen. All diese Veränderungen fanden jedoch ihren Höhepunkt
in dem grundlegenden Umbau der globalen
Finanzarchitektur seit den 1990er Jahren.
Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs wurde
7
unter Führung der Vereinigten Staaten von
den westlichen Alliierten eine finanzielle
Weltordnung, das Bretton-Woods-System,
errichtet. Dieses verfolgte das Ziel der Regulierung internationaler Kapitalbewegungen
mit im Goldstandard verankerten festen Wechselkursen. Deren temporäre Fluktuationen
sollten durch eine neue Finanzinstitution,
den Internationalen Währungsfonds (IWF),
beschränkt werden. Als die USA das BrettonWoods-System fester Wechselkurse 1971 eigenmächtig aufkündigten und damit den vom
Goldstandard befreiten US-Dollar als Währung
der größten Weltwirtschaftsmacht de facto zur
globalen Leitwährung machten, schaffte sich
das Land für seine militärische, politische und
wirtschaftliche Vormachtstellung ein immenses
finanzielles Machtpotenzial. In den folgenden
drei Jahrzehnten wurde mit Unterstützung
durch die anderen westlichen Länder ein
globales neoliberales Politikregime errichtet,
das auf eine alle Lebensbereiche umfassende
Marktideologie und eine politische Strategie
der hemmungslosen wirtschaftlichen Ausbeutung der Welt ausgerichtet war. Praktisch
bedeutete dies die Ausgestaltung eines globalen
Handels- und Finanzsystems, welches einseitig
den Kapitalinteressen diente, auf Kosten großer
Teile der Weltbevölkerung.
Es wäre falsch, das Handeln von politischen
und wirtschaftlichen Eliten allein für diesen
unter dem Neoliberalismus stattfindenden
Regimewechsel verantwortlich zu machen.
Zweifellos wurden die meisten politischen
Maßnahmen ganz zielbewusst verfolgt, doch
waren die systemischen Folgen neoliberaler
Politik außerhalb des Verständnisses und der
Kontrolle dieser Eliten. Der die Neoliberalen
beflügelnde Glaube an freie Märkte war, wenn
auch offensichtlich eigennützig, real: Das auf
freien Märkten basierende Weltwirtschaftssystem war in der Lage, immer mehr Reichtum
zu schaffen, und das scheinbar ohne Risiko.
Doch mit dem exponentiellen Wachstum
eines insgesamt unregulierten globalen Finanzsystems, in dem täglich auf globaler Ebene
Billionen von Dollars auf der Jagd nach neuen
Profitmöglichkeiten waren und immer neue,
hypertrophe Finanzprodukte auf den Markt
kamen, waren schließlich im Herbst 2008 die
8
systemischen Grenzen erreicht. Führende
Investmentbanken kollabierten, wodurch
eine Lawine nicht intendierter und insgesamt
unvorhergesehener Konsequenzen losgetreten
wurde, welche die Regierungen in der ganzen
Welt nun versuchen, für ihr eigenes Land unter
Kontrolle zu bringen.
Das hierbei befolgte Gesamtrezept ist einfach: Erstens, rette die wichtigsten Banken des
Landes durch großzügige Zufuhr öffentlicher
Mittel. Zweitens, pumpe weitere öffentliche
Gelder in das Finanzsystem, um den Kreditstau
bei den Banken aufzulösen, die von dem allgemeinen Vertrauensverlust unter Produzenten
und Konsumenten erfasst worden sind und
diesen Prozess weiter verstärken. Drittens,
stelle weitere staatliche Mittel zur Nachfragestimulierung bereit. Wenn alles gut geht, so die
damit verbundene kollektive Hoffnung, sollten
sich die Finanz- und Wirtschaftssysteme schon
bald wieder erholen und eine Rückkehr zum
neoliberalen Regime möglich machen. Einige
dieser Krisenmaßnahmen sehen tatsächlich
ihren keynesianischen Vorläufern sehr ähnlich,
doch sind die institutionellen Bedingungen,
unter denen sie in der Mitte des 20. Jahrhunderts zur Wirkung kamen, heute nicht mehr
existent.
Inwieweit sind gegenwärtige Bedingungen anders, und welche Bedeutung hat
dies für Erfolg oder Misserfolg quasikeynesianischen Staatshandelns in der
heutigen Zeit?
In der keynesianischen Ära waren Banken noch
keine börsengetriebenen, profitbesessenen
Konzerne in einem riesigen und rasch expandierenden globalen Finanzmarkt. Ihre internationalen Aktivitäten waren vergleichsweise
gering und streng reglementiert. Sie hatten
nicht das Recht, sich als Investment-Broker zu
betätigen. Banken erhielten öffentliche Mittel
auf der Grundlage einer staatlichen Geldpolitik,
die auf einen hohen Grad von Kontrolle über
die Binnenwirtschaft zählen konnte. Unter
dem neoliberalen Regime dagegen entstand
eine völlig neue Logik: Regierungen, die große
Mengen von Geldzuflüssen in den eigen Markt
Andreas Pickel
sowie hohe Haushaltsdefizite und einen großen
Schuldenberg erlaubten, wurden umgehend
über ihren Wechselkurs und ausbleibende
ausländische Direktinvestitionen bestraft. Je
schwächer bzw. unbedeutender die Wirtschaft
eines Landes, desto härter die Bestrafung durch
globale Akteure, was einer großen Anzahl unterentwickelter Staaten dazu noch verschärfte
Kreditbedingungen von Seiten des IWF und
der Weltbank eintrug. Die große Ausnahme
bilden die Vereinigten Staaten, die an diese
Verhaltensregeln aufgrund ihrer Kontrolle der
Leitwährung nicht gebunden sind. Unter dem
keynesianischen Regime konnte vorausgesetzt
werden, dass der Finanzstimulus durch stattliche Ausgaben für Infrastruktur, wirtschaftliche
und soziale Subventionen primär heimischen
Produzenten zugute kommen würde. In einer
globalisierten Weltwirtschaft ist dies nicht mehr
der Fall – und das gilt auch für die USA.
Angesichts beträchtlicher Unterschiede in
den Rahmenbedingungen muss die Annahme,
dass die jetzt beschlossenen quasi-keynesianischen Konjunkturprogramme gute Erfolgsaussichten haben, mit Skepsis betrachtet werden.
Es ist zwar bekannt, wie keynesianische Politik
vor der Globalisierung funktioniert hat, doch
wissen wir nicht, ob und wie diese unter neoliberalen Bedingungen wirkt. Neoliberale
Kritiker, die bereits vor dem Untergang des
Keynesianismus Zweifel an seiner Effektivität
geäußert hatten, sollten heute wieder befragt
werden, was sie von den kurzfristigen konjunkturellen und längerfristigen systemischen
Wirkungen der jetzigen quasi-keynesianischen
Staatsinterventionen halten. Es stimmt, dass
in ihrem Glauben unerschütterte Neoliberale,
wie zum Beispiel die konservative kanadische
Minderheitsregierung von Stephen Harper,
durch Drohungen einer kurzfristig vereinten
Opposition erst zu neuen defizitären Staatsausgaben gezwungen werden mussten. Aber
diese Glaubensfestigkeit beruht nicht auf einem
alternativen Verständnis der gegenwärtigen
Krise, sondern resultiert aus der mangelnden
Bereitschaft, sich ihrer Realität und tatsächlichen Tiefe zu stellen.
Freilich sollten neoliberale Ideologen und
ihre Lehren vom „Übel“ der Staatsausgaben
nicht wörtlich genommen werden. In der
Kann der Keynesianismus die neoliberale Weltordnung retten?
gesamten neoliberalen Periode ergingen sich
die Vereinigten Staaten in massiven keynesianischen Ausgabeprogrammen, in deren Licht
heutige Ausgaben für Infrastruktur, Soziales und
ökonomische Subventionen verblassen. Das
Multibillionen Dollar schwere Militärbudget,
das von einem tief verwurzelten militaryindustrial-Congressional complex garantiert
wird und unter Präsident Barack Obama weiter
wächst, muss als das größte Beispiel von ungehemmter keynesianischer Ausgabenpolitik in
der modernen Geschichte gelten.1 Als Inhaber
der wichtigsten Weltreservewährung sind
die USA nie von denselben globalen Finanzmechanismen gehemmt worden, die andere
Länder in der neoliberalen Ära diszipliniert
bzw. ökonomisch geknebelt haben.
In welchem Sinne ist die neoliberale
Weltordnung für die gegenwärtige
systemische Krise verantwortlich?
Dies ist eine Kernfrage, denn von ihrer Beantwortung hängt im Großen und Ganzen ab, mit
welchen Mitteln die Krise behandelt werden
kann. Aus einer radikalen Perspektive betrachtet, sind kapitalistische Krisen nicht nur nicht
überraschend, sondern, da zyklisch, zumindest
in groben Zügen sogar vorherzusehen. Die
auf Karl Marx zurückgehende theoretische
Tradition unterscheidet zwischen zwei Arten von Krisen, der konjunkturellen und der
systemischen. Eine konjunkturelle Krise kann
zwar ernste Ausmaße annehmen, geht aber
ohne grundlegende wirtschaftliche und gesellschaftliche Veränderungen vorüber. Kleinere
Reform- und Anpassungsprogramme und ein
Aussitzen der Krise genügen in der Regel, um
das System wieder zu stabilisieren. Systemische
Krisen dagegen gehen tiefer, halten länger an
und können politische, wirtschaftliche und
soziale Katastrophen auslösen. Die imperialistischen Rivalitäten des 19. Jahrhunderts, die
in den Ersten Weltkrieg mündeten, sowie die
weltweite Depression 1929–1933, welche die
weiterhin ungelösten geopolitischen Konflikte
im Vorfeld des Zweiten Weltkriegs verschärfte,
müssen als systemische Krisen gelten. Eine
Antwort auf die systemische Krise des Kapita-
9
lismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
bestand im Übergang zum keynesianischen
Politikregime.
Die Frage, ob die Krise dieses Regimes in den
1970er Jahren, die den Aufstieg des neoliberalen
Regimes einleitete, lediglich eine länger währende konjunkturelle oder aber eine systemische
Krise war, scheint im Nachhinein müßig, denn
wurde sie in letzterem Sinne erfolgreich stilisiert
und genutzt. Die vielfachen grundlegenden
Veränderungen im Laufe dreier neoliberaler
Jahrzehnte dagegen deuteten bereits geraume
Zeit vor den Ereignissen des Herbstes 2008 auf
das Entstehen einer systemischen Krise hin.
Der Zusammenbruch des osteuropäischen Sozialismus, sich immer deutlicher abzeichnende
Umweltkatastrophen, wachsende Ungleichheit
und Armut als Resultat der Globalisierung
sowie von den Vereinigten Staaten geführte
imperialistische Angriffskriege zählen zu den
Hauptentwicklungen der letzten zwanzig Jahre,
die als Quellen systemischer Instabilität entstanden sind.2 Die größte Bedrohung für die
systemische Stabilität der neoliberalen Weltordnung stellt jedoch das globale Finanzsystem
dar, das trotz seiner zentralen Rolle innerhalb
dieser Ordnung jenseits von institutioneller
und politischer Kontrolle existiert. Durch die
weitreichenden Auswirkungen des globalen
Finanzsystems auf die gesamte globale politische Ökonomie führt seine Implosion zu tiefen
Verwerfungen in Nationalstaaten und deren
Volkswirtschaften.
Aus einer im Status quo verhafteten Perspektive erscheint die gegenwärtige Krise so
tief, dass die Mobilisierung staatlichen Kapitals zur Rettung privater Finanz- und Wirtschaftsorganisationen unabdingbar ist. Doch
nach der auf dieser Perspektive gründenden
optimistischen Sicht ist es nur eine Frage von
einem Jahr, höchstens von zwei Jahren, bis
die Notstandsprogramme fruchten und eine
Rückkehr zum Status quo ante erlauben. Diese
hoffnungsvolle Sicht bleibt innerhalb der Eliten
vorherrschend, wenn es sich hierbei auch nicht
um das Resultat ernsthafter Analyse, sondern
um reinen Zweckoptimismus aufgrund des
Mangels an alternativen Erklärungsmustern
für die Krise des Neoliberalismus handelt. Hier
sei die Vorhersage gewagt, dass diese verhalten
10
positive Zukunftshaltung zunehmend einer
negativen Sicht der Dinge weichen wird, denn
die Krisenerscheinungen werden sich weder
als leicht zu bewältigende noch als lediglich
vorübergehende Probleme erweisen.
Zwischen der radikalen und der Status
quo-Position lassen sich eine Reihe von reformistischen Akteuren und Ideen ausmachen,
die zwar den einen oder anderen Punkt der
radikalen Neoliberalismuskritik teilen, aber
überzeugt sind, dass die von ihnen präferierten
Teilreformen eine post-neoliberale kapitalistische Ordnung wiederherstellen können. Ihre
Zahl wird mit der dringlicher werdenden Suche
nach einfachen, schmerzlosen und effektiven
Lösungen weiter wachsen, während die meisten
Politiker und Meinungsmacher die Zwischenzeit mit Schuldzuweisungen an neoliberale
Exzesse zu überbrücken suchen.
Ist es möglich, die neoliberale Ordnung
als ganze zu retten? Wenn nicht, welche
Teile müssen aufgegeben werden?
Überraschte und schockierte Eliten in der
ganzen Welt versuchen, das angeschlagene
neoliberale Weltsystem wieder aufzurichten,
denn nur wenige von ihnen hegen ernste Zweifel an seiner Lebensfähigkeit.3 Es handelt sich
schließlich um ein System, das ihren Interessen
über mehrere Jahrzehnte gedient hat und das
von vielen sowieso als „natürliches“ System
erlebt wird. Dies erklärt auch die Hoffnung,
dass beschränkte Maßnahmen wie die striktere Reglementierung globaler Finanzmärkte,
größere Transparenz und Verantwortlichkeit
der großen Investmentbanken und Umweltschutzsubventionen die neoliberale Ordnung
wieder funktionsfähig machen, sobald die
gegenwärtige Rezession vorüber ist.
Eine solche Rückkehr zum alten System
als ganzem ist jedoch unwahrscheinlich, denn
der politische Druck auf Regierungen bedeutet
kurzfristige Maßnahmen und Interventionen,
die zwar gar nicht auf eine Restrukturierung
der neoliberalen Ordnung abzielen, nichtsdestoweniger aber ebensolche grundlegenden
Veränderungen bewirken werden. In der Unübersichtlichkeit der gegenwärtigen, von vielen
Andreas Pickel
Einzelmaßnahmen geprägten Situation lassen
sich die Umrisse der entstehenden „neuen“ Ordnung noch nicht ausmachen. Die noch offene
Zukunft kann die eines weiter militarisierten
und repressiven kapitalistischen Weltsystems4
oder aber auch die eines weniger rücksichtslosen und mehr institutionell gezähmten
Kapitalismus sein, wie Joseph Stiglitz und die
neoliberalisierten Mitte-Links-Parteien der
Welt ihn anstreben. Kurz: improvisierte, das
heißt planlose und unkoordinierte Versuche,
das bestehende System als ganzes zu retten,
werden weitreichende nichtintendierte Folgen
zeitigen, die eine post-neoliberale Ordnung
der einen oder anderen Art produzieren. Wie
auch die Globalisierung selbst, so wird die
gegenwärtige Krise des Weltkapitalismus je
nach Beschaffenheit der nationalen politischen
Ökonomien unterschiedliche Wirkungen auf
einzelne Staaten haben.
Wenn es also nicht möglich ist, den Status
quo zu retten, welche Elemente der neoliberalen
Weltordnung müssen dann der Schaffung eines
„besseren“ Systems weichen? Ein Hauptkandidat wäre das globale Finanzsystem, das durch
grundlegende Reformen5 so zu reformieren
wäre, dass Krisen der heutigen Art erst gar
nicht entstehen könnten. Andere Elemente für
ein reformiertes System, die weiteren Auftrieb
erhalten werden, zielen auf eine zunehmend
„grüne“ Ökonomie. Von einer radikaleren
Position könnte der corporate capitalism insgesamt als der wahre Sündenbock ausgemacht
werden6, und je mehr es um grundlegendere
und weiterreichende Veränderungsprojekte
geht, desto weniger können lediglich Anpassung oder Ersetzung einzelner Elemente der
neoliberalen Ordnung genügen.
Da die vorliegende Analyse spezifische
politische und ideologische Dimensionen der
gegenwärtigen Krise ausgeklammert hat, die
für den Verlauf des Reformprozesses ausschlaggebend sein werden, bleibt zum Abschluss
noch eine theoretische Überlegung zum anstehenden Wandlungsprozess der neoliberalen
Ordnung.
Ein Politikregime wie das keynesiansische
oder das neoliberale besteht nicht nur aus für
sie typischer Finanz- und Wirtschaftspolitik,
sondern es ist eingebettet in Institutionen wie
Kann der Keynesianismus die neoliberale Weltordnung retten?
die internationalen Finanzorganisationen,
Banken, multinationalen Konzerne usw., die
innerhalb und aufgrund des herrschenden
Politikregimes zu einflussreichen und mächtigen nicht-staatlichen Akteuren werden.
Freilich entwickeln Staaten und Regierungen
selbst zu ihrer gesetzgeberischen Rolle auch
ihr eigenes Profil sowie organisatorische
Spezialisierungen und Routinen im Rahmen
eines entstehenden Politikregimes. Dazu gibt
es viele weniger einflussreiche Akteure, wie
zum Beispiel Gewerkschaften, Verbände,
kleinere und ärmere Länder, mittelständische
Unternehmen, Wähler, Konsumenten usw., die
kleinere Rollen in einem bestimmten Regime
spielen. Weiterhin gehören etablierte öffentliche Diskurse und entsprechende Formen
öffentlichen Bewusstseins und Lebensweisen
zu einem Politikregime. Sie alle bilden gemeinsam die Infrastruktur etablierter, stabiler
Politikregime. Sie alle werden in ihrer Existenz
bedroht und infrage gestellt, wenn eine tiefe
und längere Krise auftritt. Deshalb wird es nicht
so sehr um die Frage gehen, welche Elemente
der neoliberalen Ordnung aufgegeben werden
müssen, um das System zu restabilisieren.
Vielmehr ergeben sich Strukturveränderungen
als Resultat neuer und unerwarteter kollektiver
und individueller Handlungen auf allen gerade
benannten Gebieten.
Diese Reaktionen auf die Krisenbedingungen eröffnen politische und ideologische Konflikte, die bis dahin unterdrückt oder ignoriert
werden konnten, weil das Regime als stabil und
unter der festen Kontrolle vereinigter globaler
Eliten zu sein schien. Aber selbst die dominanten
11
Welteliten werden bei ihren jetzigen Versuchen,
den Status quo wiederherzustellen, systemische
Veränderungen auslösen, die sie niemals angestrebt haben. Für die weniger Mächtigen und die
Machtlosen der Welt, welche die Begeisterung
für den Neoliberalismus nie geteilt haben, wird
die gegenwärtige Krise neue Möglichkeiten
eröffnen, für eine andere ökonomische und
politische Ordnung zu mobilisieren, in der ihre
Werte, Ziele und Hoffnungen einen zentralen
Platz einnehmen. Alte Machtkonstellationen
können aufbrechen und neue politische Konfigurationen zusammenkommen; Prozesse, die
im nächsten Jahrzehnt zu erwarten sind.
Anmerkungen
1
2
3
4
5
6
Chalmers A. Johnson: The Sorrows of Empire: Militarism, Secrecy, and the End of the Republic. New
York: Metropolitan Books 2004.
Michael Mann: Incoherent Empire. London: Verso
2003.
Eine der kritischeren Stimmen aus der globalen
Wirtschaftselite ist George Soros: The New Financial
Paradigm for Financial Markets. The Credit Crisis of
2008 and What It Means. New York: Perseus Books
2008.
So z.B. Naomi Klein: Die Schock-Strategie: Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus. Übersetzt von
Michael Bischoff, Hartmut Schickert und Karl Heinz
Siber. Frankfurt a.M.: Fischer 2008.
Vgl. beispielsweise Ngaire Woods: The Globalizers: The
IMF, the World Bank, and Their Borrower. Ithaca, NY:
Cornell University Press 2006; Joseph Stiglitz: Making
Globalization Work. New York: Norton 2006.
David C. Korten: Agenda for a New Economy: From
Phantom Wealth to Real Wealth. Williston, VT: Berrett-Koehler Publishers 2009.
12
Berliner Debatte Initial 20 (2009) 2
Mario Candeias
Die letzte Konjunktur: organische Krise
und „postneoliberale“ Tendenzen
Mittlerweile, mehr als zwanzig Jahre nach Reagan und Thatcher, ist weithin anerkannt, dass
die Ära des Fordismus passé ist und sich – je
nach theoretischem Ansatz – ein „neues Produktionsregime“ (Dörre), ein finanzmarktgetriebenes Akkumulationsregime bzw. sogar ein
Finanzmarktkapitalismus (Aglietta, Chesnais),
eine postfordistische Gesellschaftsformation
(Hirsch), ein globales Empire (Hardt/Negri)
bzw. ein transnationaler Hightech-Kapitalismus
(Haug) als neue Produktions- und Lebensweise
herausgebildet haben, die jeweils wesentlich
durch den Neoliberalismus (Harvey) geprägt
sind. Ein Versuch, diese Konstellation umfassend zu begründen, endete aber 2004 bereits
mit den Hinweis: „Es mehren sich Zeichen für
eine organische Krise des Neoliberalismus [...]
Damit deutet sich bereits der ,Postneoliberalismus‘ an.“ (Candeias 2004: 357 ) Und tatsächlich:
Seit einiger Zeit mehren sich die Krisenzeichen auf den unterschiedlichsten Feldern, es
deutet sich eine in immer kürzeren Perioden
stattfindende Häufung und Verdichtung der
verschiedenen Krisen an, nicht an den Rändern
der inneren und äußeren Peripherien, sondern
in den Zentren des neoliberalen Kapitalismus
– dies wird gegenwärtig besonders deutlich an
den sich überstürzenden Ereignissen im Zuge
der Weltwirtschafts- und Finanzkrise (vgl.
Candeias 2009b).
Es deuten sich „unheilbare Widersprüche“
(Gramsci, Gef. 7: 1557) in der Struktur der
Gesellschaft an, die zu Widersprüchen und
Blockierungen innerhalb des herrschenden
Blocks an der Macht führen. Der Neoliberalismus konnte mitnichten als reine Destruktivkraft
(Bourdieu) oder „konservative Restauration“
(Bischoff et al. 1998) begriffen werden. Marx
hatte immer die widersprüchliche Verschmelzung von Destruktiv- und Produktivkräften in
der kapitalistischen Entwicklung betont. Auch
mit dem neoliberalen Management im Übergang zur transnationalen informationstechnologischen Produktionsweise – seiner zentralen,
die Gesellschaft vorantreibenden Funktion,
die ihm zugleich als hegemoniale Basis diente
– entfalteten sich durchaus produktive Kräfte:
die Rücknahme extremer (tayloristischer)
Arbeitsteilung in der Produktion konnte die
Arbeit der Beschäftigten von Monotonie befreien, neue Produktionsformen konnten deren
Wissen integrieren, Computerisierung und
Automatisierung von schwerer körperlicher
Arbeit entlasten.
Die Internationalisierung von Kultur- und
Warenwelt brach nationale Borniertheiten auf,
Entstaatlichung die Bevormundung durch den
Staat. So griff der Neoliberalismus beispielsweise Forderungen der Frauenbewegung auf,
„befreite“ die Hausfrauen aus patriarchalischen
Familienverhältnissen und zwang sie auf den
Arbeitsmarkt. Die Früchte dieser Kräfte wurden
und werden jedoch ungleicher verteilt als jemals
zuvor seit Ende des Zweiten Weltkrieges. Seine
progressiv-vorantreibende gesellschaftliche
Funktion im Management des Übergangs zur
transnationalen informationstechnologischen
Produktionsweise hat der Neoliberalismus
bereits verloren. Letztere bietet unter neoliberalen Bedingungen kaum noch ausreichend
Expansions- und Entwicklungsmöglichkeiten,
um sowohl den Akkumulationsbedürfnissen
wie den gesellschaftlichen Bedürfnissen der
Bevölkerung nach Verbesserung ihrer Lage
Die letzte Konjunktur
nachzukommen. Die Potenziale sind da, ihre
Realisierung scheint blockiert zu sein.
Den aufbrechenden Krisenerscheinungen
und ihrer Verschränkung hat der bestehende Block an der Macht keine produktiven
Lösungen mehr entgegenzusetzen, die die
Interessen der Subalternen und damit den
aktiven Konsens zum neoliberalen Projekt
wiederherstellen könnten: beginnend mit der
weitestreichenden Finanz- und Wirtschaftskrise seit den 1930er Jahren, eng verbunden
mit Ernährungs- und Energiekrisen, mit der
Vernichtung von Arbeitsplätzen und damit der
weiteren Verschärfung einer Prekarisierung von
Arbeits- und Lebensverhältnissen, die große
Teile der Gesellschaft in wachsende Unsicherheiten stößt und zunehmend zu Revolten unter
den am stärksten Betroffenen an den äußeren
und inneren Peripherien führt. Protest und
Widerstand formiert sich auf allen Ebenen,
noch fragmentiert und ohne klare Richtung,
aber periodisch wachsend. Bereits im Alltag
manifestiert sich die ökologische Krise, die in
Form von Katastrophen nicht nur das Leben
von Millionen Menschen durch Stürme, Überschwemmungen und Dürren bedroht, sondern
auch zu einer massiven Kapitalvernichtung
führt. Insbesondere an den Peripherien, hier
vor allem in Südamerika, haben sich ganze
Bevölkerungsmehrheiten und Regierungen
vom Neoliberalismus losgesagt und suchen
nach neuen Wegen einer autonomen Entwicklung.
Der sog. Washington Consensus und seine
Institutionen, aber auch Ansätze der Good
Governance werden von immer mehr Staaten
des globalen Südens offen abgelehnt – wer es
sich leisten kann, zahlt vorzeitig seine Schulden
zurück und verabschiedet sich von der Einflussnahme des IWF. Damit verbunden sind globale
politische und ökonomische Verschiebungen
in den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen,
mit den sog. BRIC- [Brasilien, Russland, Indien,
China] und Golf-Staaten entwickeln sich neue
kapitalistische Zentren. In den alten Zentren
wiederum wenden sich wachsende Teile der
Bevölkerung von Parteien und Regierungen ab,
zum Teil sogar von der formalen Demokratie
als solcher, was zu einer anhaltenden Krise
der Repräsentation führt, die seit Längerem
13
ungelöst bleibt. International sind die Grenzen
der zwangs- und gewaltförmigen Sicherung neoliberaler Globalisierung und die Überlastung
der USA als globalem Gewaltmonopolisten, der
diese Aufgabe im Interesse des transnationalen
Blocks und des eigenen wahrnimmt, längst
sichtbar geworden: Die Niederlage im Irak ist
nur das deutlichste Beispiel.
Auch im Inneren der Staaten erweisen
sich Verstärkung von Sicherheitsdiapositiven,
Verpolizeilichung und prisonfare (Wacquant)
als unzureichend, um die gesellschaftliche
Ordnung zu gewährleisten, geschweige denn
Zustimmung der Subalternen zu organisieren. Ökonomisch für den Block an der Macht
am problematischsten ist vielleicht, dass die
Akkumulation auf erweiterter Stufenleiter
seit einigen Jahren nicht mehr gewährleistet
ist: Eine Studie der Bank für internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) zeigt, dass das
Wachstum nach jeder Krise niedriger ausfiel
als nach der letzten Krise. Beispielsweise wurde
in den USA erst 2006 wieder die ökonomische
Wirtschaftskraft erreicht, die vor der Krise der
New Economy 2001 erzielt worden war. Die BIZ
spricht vom „Mythos ökonomischer Erholung“:
„Wenn die Wirtschaftsleistung sinkt, tendiert
sie dazu, nach der Erholung weit unter ihrem
vorherigen Niveau zu bleiben“ (Cerra/Saxena
2007: 16).
Insbesondere in Ländern mit starker Liberalisierung von Kapitalverkehr und Finanzmärkten vollzog sich die wirtschaftliche Erholung
langsamer. Nach jeder Finanzkrise müsse mit
langen Erholungsphasen gerechnet werden,
oft zu lang, um zum alten Niveau zurückzukehren, bevor die nächste Krise hereinbricht.
Dieser Mythos bringt es mit sich, dass steigende Renditen nur noch durch fortwährende
Umverteilung des Mehrwerts zulasten der
Lohnabhängigen, des Staates und der national oder regional beschränkten Kapitale
realisierbar sind und immer größere Bereiche
der gesellschaftlich notwendigen Arbeit, der
öffentlichen Infrastruktur, der sozialen Dienste
austrocknen. Während die Überakkumulation
nicht nachhaltig abgebaut werden kann, sich
nicht ausreichend neue Investitionsfelder eröffnen, spitzt sich eine Reproduktionskrise des
Gesellschaftlichen zu, die auch die Grundlagen
14
kapitalistischer Akkumulation selbst gefährdet (mangelnde Infrastrukturen, mangelnde
Qualifikationen, mangelnder Zusammenhalt,
mangelnde Profitaussichten etc.).
Angesichts dieser Verschränkung tief greifender Krisenprozesse ist von einer strukturellen bzw. organischen Krise auszugehen. Die
Reserven des nach wie vor dominierenden
Neoliberalismus als organisierender Ideologie
im Übergang zur informationstechnologischen
transnationalen Produktionsweise sind erschöpft – weder ein neuer Akkumulationsschub
noch ein neuer gesellschaftlicher Konsens sind
von ihm zu erwarten. Seine Institutionen werden noch lange fortwirken (ähnlich wie nach
dem Ende des Fordismus), ihre Position ist
nur noch eine „herrschende“, keine „führende“
(Gramsci, Gef. 2: 354).
Ähnlich wie in der Krise des Fordismus
seit 1968 verdichten sich unterschiedliche Krisenmomente, denen mit einer Intensivierung
der alten Regulationsmechanismen begegnet
wird, während bereits Neues am Entstehen
ist: Der Keynesianismus kam erst im Moment
der Krise zu seiner vollen Entfaltung, während
von neoliberaler Seite bereits das Ende des
„embedded liberalism“ und seiner Institutionen
(Regime der festen Wechselkurse, Kapitalverkehrskontrollen etc.) vorbereitet und der alte
Klassenkompromiss aufgekündigt wurde. In
ähnlicher Weise werden nun die Folgen von
mehr als 30 Jahren Liberalisierung und Umverteilung von „unten“ nach „oben“ mit einer
Intensivierung dieser Umverteilung durch die
Rettung der Banken und die Sozialisierung
von Schulden und Risiken bekämpft. Zugleich
zeichnet sich noch im Krisenmanagement
ein neuer Staatsinterventionismus ab, der
bereits das Konfliktfeld um „post-neoliberale“
Regulationsformen eröffnet, denn das Krisenmanagement innerhalb des Neoliberalismus
kommt an seine Grenzen.
Auch wenn der Block an der Macht Regierungspositionen hält – die kulturelle
Hegemonie jenseits eines passiven Konsenses
und Konsumismus droht er zu verlieren. Darüber vertiefen sich Widersprüche innerhalb
des Machtblocks, die eine Neukonfiguration
erwarten lassen und Anknüpfungs- und Interventionsmöglichkeiten für linke Positionen
Mario Candeias
eröffnen können. Denn die Ablösung des
Neoliberalismus wird global durch heftigste
gesellschaftliche Kämpfe geprägt sein. Doch es
wäre vermessen, auf den Sturz des Neoliberalismus zu vertrauen und zu denken, die Krise
würde der Linken in die Hände spielen. Von
unterschiedlichster Seite wird an Projekten,
Tendenzen, Szenarien zu Wiederherstellung
und/oder Entwicklung bürgerlich kapitalistischer Herrschaft gearbeitet. Folgende Tendenzen innerhalb des Neoliberalismus, die
zugleich über ihn hinausweisen, entwickeln
sich derzeit parallel:
– Neuer Staatsinterventionismus: Die Finanzkrise brachte das Ende von Deregulierung
und Liberalisierung und gibt der Staatsintervention eine andere Richtung und Bedeutung.
Angesichts der drohenden „Kernschmelze“
des Finanzsystems werden neoliberale Glaubenssätze reihenweise über Bord geworfen:
Aufblähung der Geldmenge, Verstaatlichung
von Banken, Staats- und Zentralbankkredite
ohne Sicherheiten, antizyklische Konjunkturprogramme, Aufhebung aller staatlichen
Verschuldungsgrenzen einschließlich des
ehemals sakrosankten Stabilitätspakts und
der Maastricht-Kriterien, schärfere Kontrollen, Begrenzung von Managergehältern und
Eingriff in die Bonussysteme, vor allem aber
in Investitions- und Kreditpolitik, eventuell
Teilverstaatlichung von Industrieunternehmen
etc. Für „harte“ Neoliberale ist dies gleichbedeutend mit Sozialismus.
Tatsächlich handelt es sich eher um den
Versuch des „ideellen Gesamtkapitalisten“, für
den Kapitalismus einzuspringen. In den Worten
der F.A.Z.: „Der Staat rettet den Kapitalismus“
(5.10.2008: 38f.) – nicht ganz freiwillig, eher
gezwungenermaßen, durch den Druck von
Märkten, Kapital und die Angst vor Legitimationsverlusten. Dieser Staatsinterventionismus
funktioniert zwar nicht mehr im Sinne neoliberaler Dynamisierung der Märkte, aber doch
in guter alter Manier eines flexiblen liberalen
Keynesianismus, der Marktversagen kompensiert und die Umverteilung und Aneignung
von Mehrwert für die Vermögenden (über
die Sozialisierung von Schulden und Risiken)
zunächst weiter befördert, zugleich aber in die
Investitions- und Akkumulationsstrategien
Die letzte Konjunktur
des Kapitals direkt eingreift, insbesondere
über Kapitalbeteiligungen. Der Kampf um die
Rolle der Staatsintervention ist voll entbrannt:
die Regierenden – besonders in Deutschland
– sind unentschieden, ob die aktivere Rolle
des Staates nur vorübergehend einzusetzen sei
oder dauerhaft; die beteiligten Kräfte drängen
in unterschiedliche Richtungen. Zweifelhaft ist,
ob etwa die weitgehenden Verstaatlichungen
im Banken- und Versicherungssektor der USA
überhaupt mittelfristig rückgängig zu machen
wären; langfristige Konzepte für staatlich
geführte Finanzinstitute existieren dort aber
noch nicht.
– Relegitimierung des Neoliberalismus oder
ein Bretton Woods II: Besonders deutlich zeigen
sich Kämpfe um die Zukunft in der Suche um
Formen der Re-Regulierung des globalen Finanzsystems: Hier greifen restaurative Kräfte,
die den Staat zur Wiederherstellung der alten
Ordnung nutzen, seine Finanzen ausplündern
wollen, ineinander mit reformerischen Initiativen, die deutlich über den Status quo ante
hinausgehen. Darin manifestiert sich zugleich
der Versuch der Relegitimierung neoliberaler
Weltfinanzmärkte wie ihrer regulativen Einhegung. Als Hauptverursacher der Krise haben
die USA, aber auch die G7/G8, ihre Legitimation bei der Schaffung einer neuen globalen
Finanzarchitektur eingebüßt. Daher musste
der Kreis der Beteiligten erweitert werden:
die G20. Auch wenn es diesen nach wie vor
an einer demokratischen Legitimation (etwa
durch die UNO) fehlt, ist dies gegenüber der
kleinen Gruppe der G7/G8 doch ein erheblicher
Fortschritt: Immerhin stellen die G20 nicht nur
fast 90 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung,
sondern vor allem 63 Prozent der Weltbevölkerung und ca. 50 Prozent der Armen dieser
Welt. Klar scheint, dass die USA nach diesem
Debakel nicht mehr länger allein die Regeln des
Spiels dominieren können. Ökonomisch wird
sich das Modell hoher Konsumraten, auf Pump
finanziert durch massive Kapitalimporte aus
aller Welt, nicht restaurieren lassen (ebenso wenig wie das deutsche oder chinesische Modell,
die einseitig auf Exportwachstum setzten und
die Binnennachfrage vernachlässigten).
Der Washington Consensus für freien Kapitalverkehr nach US-Vorbild ist diskreditiert.
15
Die Europäer wiederum sind sich uneinig:
Vor allem die Deutschen bleiben immer noch
weitgehend den neoliberalen Vorstellungen
verhaftet, während die Franzosen für autoritäre Staatseingriffe plädieren. Darüber hinaus
werden nun die neuen kapitalistischen Zentren
China, Indien, Brasilien und die arabischen ÖlStaaten ein Wort mitreden – sie alle plädieren
auf unterschiedliche Art für offene, aber kontrollierte Finanzmärkte. Mit ihrer offiziellen
Einbeziehung erkennt der Westen endlich die
veränderten ökonomischen und politischen
Machtverhältnisse in der Welt an. Der IWF
hat es in diesem Prozess nicht geschafft, sich
zu relegitimieren und die zentrale Rolle bei der
Neuordnung der Finanzmärkte zu übernehmen – die BRIC-Staaten verweigern, gestützt
von den kleineren Ländern des Südens, die
Gefolgschaft. Auch wenn die Beschlüsse der
G20 bislang bescheiden ausfallen und noch
unklar ist, wie weit tatsächlich ein Bruch mit
dem Neoliberalismus vollzogen wird, stehen
die umfassendsten Reregulierungen seit 30
Jahren an. Die Unwägbarkeiten der Weltwirtschaftskrise lassen erwarten, dass der Druck
die bisher nur leichten Verschiebungen hin
zur Re-Regulierung weiter vorantreiben wird,
ebenso wie die Widersprüche zwischen den
beteiligten Staaten und Kapitalgruppen. Obama
hat sich vorgenommen, dabei die treibende
Kraft zu werden – das Ergebnis ist offen. Die
transnationalen Kapitalfraktionen fühlen sich
herausgefordert und gründen die B20, als
Versuch, eine Führungsrolle bei der Lösung
der Krise und der Gestaltung der Nachkrisenordnung zu reklamieren. Vergleichbare Kämpfe
um die Restauration des Neoliberalismus mit
nur kleinen Zugeständnissen und minimalen
politischen Veränderungen (dominant etwa
in Deutschland) versus weitergehender ReRegulierungsversuche lassen sich auch auf
nationaler Ebene beobachten. Gelingt es, den
Neoliberalismus mit nur leichten Anpassungen
und Regulierungen (auch nur vorübergehend)
zu relegitimieren und zu restaurieren und damit eine weitergehende Neukonstruktion der
Weltwirtschafts- und -finanzverhältnisse, der
Produktion und Konsumption, zu blockieren,
so wird sich die Krise weiter verschärfen.
– New Public Deal: Über den Finanzsektor
16
hinaus greift das Projekt eines New Public Deal
unterschiedliche Krisenprozesse auf. Mit der
Erneuerung und dem Ausbau des Öffentlichen,
vor allem durch die neuen Investitionsprogramme in öffentliche Infrastrukturen, Bildungs- und
Gesundheitssysteme und die Schaffung neuer
Jobs in den betreffenden Branchen, versuchen
bestimmte Gruppen um Präsident Obama den
Absturz der US-Ökonomie aufzufangen und
zugleich die (in den USA besonders tiefe) Reproduktions- und Jobkrise anzugehen, als auch
neue Konsensangebote an die Subalternen zu
unterbreiten. Die Stärkung des Staates, Steuerreformen und leichte Umverteilung nach unten
sollen Unmut, gar Revolten im Zaum halten,
die Hoffnung auf Wandel befördern und Zustimmung sichern. Darüber hinaus dienen die
Maßnahmen der Verbesserung der wirtschaftlichen Bedingungen durch Infrastrukturen und
Requalifizierung sowie der Profitmöglichkeiten
durch privat-öffentliche Partnerschaften (sog.
PPPS, bei denen der Staat als Finanzier und
Eigentümer fungiert, private Investoren den
Bau und Betrieb übernehmen, während der
Staat ihre Rendite garantiert).
Unklar erscheint, wer die Träger eines solchen Projektes sein mögen. Geht es nur um eine
neue Konjunktur des Neoliberalismus mit nur
leichten Veränderungen und Zugeständnissen
oder um ein Element „postneoliberaler“ Projekte (was mit dem Begriff New Deal ja nahegelegt
wird)? Werden die Investitionen angesichts
eines fehlenden gesellschaftlichen Drucks von
links ausreichen, auch um die Überakkumulation ausreichend zu absorbieren?
– Green New Deal: Die allgemeine Umorientierung von Investitionen in Richtung
Energieeffizienz und Reduzierung von CO2Emissionen wäre die notwendige technologische und Akkumulationsbasis zur Schaffung
von Millionen von Arbeitsplätzen und für einen
neuen gesellschaftlichen Konsens, einen bereits
lautstark geforderten „grünen New Deal“ als
Antwort auf Finanz- und Wirtschaftskrise,
Reproduktions-, Job- und ökologische Krise
– und zur Relegitimierung der Marktwirtschaft
(ausführlich Candeias/Kuhn 2008). Dieses
Projekt wurde u.a. von der Green New Deal
Group, einem Zusammenschluss von Publizisten, Partei- und NGO-Funktionären, als
Mario Candeias
Lösung einer „dreifachen Krise“ vorgeschlagen,
einer „Kombination aus kreditgetriebener
Finanzkrise, dem beschleunigten Klimawandel und steigenden Energiepreisen vor dem
Hintergrund von peak-oil“.1 Befördert wurden
diese Vorstellungen nicht zuletzt durch den
Stern-Report zum Klimawandel 2006, die
Analysen des IPCC und transnationaler Forschungsgruppen sowie die populären Aktivitäten des Nobelpreisträgers Al Gore. Verfechter
sind neben den europäischen Grünen Parteien
(die deutschen Grünen fassten im November
einen Parteitagsbeschluss, der einen grünen
New Deal zur Überwindung der Finanzkrise
forderte; zur Kritik des Konzepts vgl. Candeias
2007) große NGOs wie der WWF oder Friends
of the Earth, transnationale Netze von Umweltwissenschaftlern und die UN – und Obama,
der die drei Posten des Energieministers, der
Umweltministerin und der Vorsitzenden des
Umweltrates im Weißen Haus mit ausgewiesenen Bekennern einer ökologischen Wende
besetzte. Dahinter stehen auch Kapitalgruppen
wie Internet- und IT-Unternehmen (Google,
MySpace oder Microsoft, die zu den wichtigen
Beratern des neuen Präsidenten in diesen
Fragen zählen), Pharma-, Bio- und GentechUnternehmen, die Branche der regenerativen
Energien (einschließlich der „grünen“ Ableger
der großen Energieversorger und des Maschinenbaus), die großen Versicherungskonzerne,
Automobilkonzerne wie Toyota oder Renault,
Nanotech- und Chemieunternehmen wie
BASF (die neue, leichte und energieeffiziente
Werkstoffe entwickeln), selbst Ölkonzerne
wie BP (die sich in ‚Beyond Petrol‘ umbenannt
haben) sowie Venture-Capital Fonds oder die
kleine, aber wachsende Branche der ethischen
Investoren (einschließlich großer Pensionsfonds
und anderer Fondsgruppen).2
Ein grüner New Deal könnte mehr sein als
ein ökologisch konnotiertes, kurzfristiges Programm zur Einhegung der Krise. Er beinhaltet
vielmehr einen staatlich initiierten und massiv
subventionierten Übergang (Transformation)
zu einer „ökologischen“ Produktionsweise,
die neue Akkumulationsfelder für das nach
Investitionsmöglichkeiten suchende Kapital
erschließt: das weitere Zur-Ware-Machen
von natürlichen Ressourcen im Bereich von
Die letzte Konjunktur
Biodiversität oder Gentechnologie; Technologien zur ökologischen Effizienzsteigerung
in Produktion und Energieversorgung; neue
Investitions- und Absatzmärkte im Zertifikatsbzw. Emissionshandel und im ökologischen
Konsum (Bio-Lebensmittel, ökologischer
Hausbau, umweltfreundlichere Autos usw.).
Der Markt für Investitionen in emissionsarme
Energien und grüne Technologien verspricht auf
etliche Billionen Dollar anzuwachsen. Naturund Umweltschutz werden zur Ware, was die
Möglichkeiten zur Lösung der ökologischen
Krise beschränkt.3 Der grüne Kapitalismus ist
also nicht die Lösung der ökologischen Krise,
sondern vielmehr ihre Bearbeitung im Sinne
der Wiederherstellung von erweiterter kapitalistischer Akkumulation und Hegemonie unter
Einbeziehung progressiver oppositioneller
Gruppen und Interessen der Subalternen. Eine
Umwälzung der gesamten Produktionsstruktur,
der Praxis und Kultur des Konsumismus, der
Ökonomie der Autogesellschaft, der Struktur
unserer Städte, unseres gesellschaftlichen Verhältnisses zur Natur, ohne die kapitalistische
Produktionsweise als solche anzutasten, reproduziert deren Widersprüche (z.B. die Gefahren
einer „grünen“ Finanzblase; Janszen 2008).
Probleme: Angesichts der zu bewältigenden
Aufgaben, der schnellen Überwindung einer
Weltwirtschaftskrise und der noch gewaltigeren
Aufgabe für Industriestaaten, bis 2050 die Treibhausemission um 80 Prozent zu reduzieren, also
die gesamte Wirtschaft binnen drei Jahrzehnten
vom über 150 Jahre alten fossilistischen Zeitalter
in eine solare Zukunft zu katapultieren, wird
dies außerdem nicht ohne Brüche und Krisen
möglich sein. Dieser Zeitfaktor produziert zum
Beispiel Entscheidungsprobleme zwischen einer
konsequenten Umstellung bei Vernichtung alter
Branchen/Kapitale, der Gefahr ökonomischer
Krisen oder einer zu langsamen Umstellung
bei Verschärfung von Umwelt- und sozioökonomischen Folgekrisen. Darüber hinaus
führt die Einschließung der Ökologisierung
in die Wertform zur Begrenzung der Lösungsmöglichkeiten der Krise durch Konzentration
auf weitere Verwertung, weiteres Wachstum,
weiteren Ressourcenverbrauch und zugleich
Vernachlässigung der nicht-profitablen Bereiche.
17
– Varieties und Konkurrenz der Postneoliberalismen: Der Washington Consensus
war schon vor der Krise delegitimiert, nach
der Krise wird er verschwunden sein. Weder
können die USA oder Europa weiter allein die
Spielregeln bestimmen, noch ist ein transnationaler Konsens erkennbar. Zu deutlich
haben sich sowohl südamerikanische Länder
wie die BRIC-Staaten (jeder für sich) schon
länger auf die Suche nach „postneoliberalen“
Formen der Integration in den Weltmarkt und
der ökonomischen und sozialen Politik in den
betreffenden Ländern gemacht. In Südamerika
haben starke soziale Bewegungen Regierungen gestürzt, Mitte-Links-Regierungen an
die Macht gebracht, Ansätze partizipativer
Politiken und solidarischer Ökonomien etabliert, indigene Bewegungen einen anderen
Umgang mit Repräsentation, Öffentlichkeit und
Eigentum erzwungen. Initiativen, die auf unterschiedliche und widersprüchliche Weise von
den betreffenden Regierungen aufgenommen
wurden: von Venezuelas Öl-Sozialismus des
21. Jahrhunderts über die stark von Indigenen
getragenen linken Staatsprojekte in Bolivien
und Ecuador, die links-sozialdemokratischen
Projekte von Lula und Kirchner etc. Auf sehr
verschiedene Weise setzen sie alle – trotz zum
Teil verschärfter Exportorientierung – im Inneren auf Verschiebung der Kräfteverhältnisse,
mehr Partizipation, progressive Reformen und
stärkere Politiken des sozialen Ausgleichs, die
die Handlungsfähigkeit subalterner Gruppen
partiell erweitern – auch wenn die Probleme
von Ungleichheit, Armut und beschränkten
Entwicklungsmöglichkeiten der Menschen
fortbestehen.
Auch in Indien haben sich starke Bewegungen formiert, der Bauern, der Landlosen, der Dalits, globalisierungskritische Netzwerke. Sie sind
jedoch, abgesehen von sehr widersprüchlichen
Erfahrungen in den maoistisch kontrollierten
Gebieten oder in kommunistisch regierten
Bundesstaaten wie Kerala, nicht in Verbindung
zu einem linken Staatsprojekt. Dennoch nimmt
der Staat in Indiens Hightech-Mixed-Economy
eine andere Rolle ein als in den Neoliberalismen der USA oder Europas. Noch deutlicher
versuchen Chinas Staatskapitalismus oder die
staatlichen Investitionspolitiken der Golfstaaten
18
– sozusagen von oben – kapitalistische Dynamik
und staatlich kontrollierte Entwicklung mit
selektiver Öffnung in ein anderes Verhältnis
zu bringen und damit eigenständig(er) über
die Zukunft des Landes zu bestimmen.
Auch in Skandinavien haben sich trotz
neoliberaler Hegemonie unterschiedliche
Ansätze eines anderen Typus von Kapitalismus entwickelt. Dieser hat sich dem Trend
zur Liberalisierung nicht verschlossen, ist
vielmehr außergewöhnlich erfolgreich auf dem
Weltmarkt und hat zugleich zumindest höhere
Arbeits- und Sozialstandards aufrechterhalten.
Er legt einen stärkeren Fokus auf öffentliche und
soziale Infrastrukturen, Bildung und staatliche
Intervention als andernorts und garantiert so
für große Teile der Bevölkerung einen höheren
Lebensstandard. Die skandinavischen Erfahrungen sind mit Blick auf verallgemeinerbare
„postneoliberale“ Reformen in den Industriestaaten – auch kritisch – aufzunehmen.
International formierte sich schon vor Jahren innerhalb der WTO eine andere G20+, als
lockerer Verbund von Ländern des „globalen
Südens“, um der Verhandlungsmacht Europas,
der USA und Japans etwas entgegenzusetzen,
durch Stärkung der Position des globalen
Südens zu befördern. Nach dem Scheitern der
WTO-Verhandlungen in Cancun/Mexiko 2003
setzten Brasilien, China oder Südafrika verstärkt
auf sog. Süd-Süd-Kooperationen. Sie wollen sich
nicht abkoppeln, sondern eigenständig über die
Bedingungen und Formen der weiteren Integration ihrer Volkswirtschaften in den Weltmarkt
mitbestimmen und zugleich die Abhängigkeit
von den alten kapitalistischen Zentren reduzieren. Durch Diversifizierung des Außenhandels
konnte etwa Brasilien den Anteil des Exports in
die USA, in die EU und nach Japan in nur fünf
Jahren um 12 Prozent verringern, obwohl der
Export auch in diese Länder deutlich zunahm.
Dieses Vorgehen strahlt aus auf die kleineren,
zum Beispiel afrikanischen Länder, die sich
durch Kooperationen mit China oder Brasilien
von einseitiger Abhängigkeit gegenüber der
EU, den USA oder dem IWF befreien wollen.
Als Gegengewicht zu den transnationalen
Institutionen wie IWF, Weltbank oder WTO
werden darüber hinaus regionale Integrationsprojekte wie der Mercosur oder die ALBA in
Mario Candeias
Lateinamerika vorangetrieben, Kooperationen
zwischen China, Japan und Südkorea oder den
Asean-Staaten schrittweise vertieft, regionale
Entwicklungsbanken wie die Banco del Sur
gegründet. Nicht in jedem Fall funktionieren
die transregionalen Institutionen bereits, vor
allem in Afrika stehen Integrationsprojekte
vor schier unüberwindlichen Hürden. Gelingende Projekte werden jedoch andere nach
sich ziehen.
Die Krise der Weltwirtschaft und des Neoliberalismus befördern die Abwendung von
blinder Liberalisierung, Privatisierung und
extremer Exportorientierung sowie die Suche
nach alternativen Entwicklungsweisen. Wie
allen stark exportorientierten Ökonomien setzt
die Krise auch den genannten Ländern massiv
zu: Rückgang der globalen Nachfrage, Verfall
von Rohstoff- und Ölpreisen, Abziehen von
Kapital aus den alten kapitalistischen Zentren
etc. Umso mehr wird entscheidend sein, ob
es ihnen gelingt, den sozialen Ausgleich mit
einer Reorientierung auf die Binnenwirtschaft
voranzutreiben, deren produktive Potenziale
zu entfalten, sie zu einem selbsttragenden
ökonomischen Faktor zu entwickeln und
dafür – sofern vorhanden – ihren Ressourcenund Ölreichtum zu nutzen. Dafür bedarf es
– insbesondere in China und Venezuela (oder
den Golfstaaten) – auch einer Stärkung der
Elemente der Selbstorganisation, der Zivilgesellschaft und Demokratie. Die BRIC-Staaten
und die Länder der Peripherien müssen dies
mit Politiken der Gewährleistung von Ernährungssicherheit, konsequenten Landreformen
und ökologischer Umorientierung verbinden.
Andernfalls drohen die ohnehin scharfen
gesellschaftlichen Spannungen, ob in China,
Indien, Südafrika oder Bolivien, zu eskalieren.
Zugleich soll die Neuorientierung aus Sicht der
Regierenden erfolgen, ohne die weltmarktorientierten Kapitalgruppen und Investoren vor
den Kopf zu stoßen – angesichts der Wachstumsaussichten der BRIC-Staaten stehen die
Chancen dafür gar nicht schlecht.
– Autoritarismus: Die letzte Konjunktur
wurde bereits als autoritärer Neoliberalismus
bezeichnet: Seit Jahren lässt sich eine Hinwendung bestimmter gesellschaftlicher Gruppen
nach „rechts“ beobachten (Evangelikale in den
Die letzte Konjunktur
USA oder Rechtsextreme in Europa). Mit der
Prekarisierung von Arbeits- und Lebensweisen und der Ausdünnung der Mittelklassen
ist die Rückkehr von harten Abgrenzungsund Respektabilitätsgrenzen, autoritären
Erziehungs- und Leistungsvorstellungen, mit
der Verschärfung von Migrationspolitk und
Ausgrenzung verbunden. Mit der Regierungsübernahme durch rechtsextreme Regierungen
(Österreich, Frankreich, Italien, USA unter
Bush) wird über nationalistische Anrufungen
versucht, einen gesellschaftlichen Konsens
zwischen oben und unten zu schmieden, der
auf Abgrenzung von anderen setzt und zulasten
von Minderheiten aller Art geht. Nach außen
werden imperiale Politiken, der Kampf gegen
den Terror als Kampf der Kulturen betont
und mit der Verschärfung von Sicherheitsund Kontrollpolitiken verbunden. Repressive
Maßnahmen werden gegen Oppositionelle
(Gewalt und strafrechtliche Verfolgung) wie
in der Sozialpolitik („fordern statt fördern“)
verstärkt eingesetzt: Verpolizeilichung und
„Bestrafung der Armen“ (Wacquant) sollen
ihre Anpassung gewährleisten und Unruhen
unterbinden. Bei Krisen und wachsenden
sozialen Spannungen wächst die Neigung, sie
durch autoritäre Maßnahmen und einen national-chauvinistischen Konsens einzudämmen
bzw. international militärisch einzuhegen.
Angesichts der Schwierigkeiten einer Restauration des Neoliberalismus, aber auch
von New Public Deal und Green New Deal,
vor allem mit Blick auf globale Konkurrenzen
und ungeahnte Folgen der Krise, ist nicht
auszuschließen, dass autoritäre Tendenzen an
Bedeutung gewinnen werden – bei gleichzeitiger Rücknahme der imperialen, kulturkämpferischen oder antiterroristischen Rhetorik.
Allerdings wird die imperiale Absicherung
der ungehinderten Aneignung von Öl und
Ressourcen wesentliches Ziel der alten und
neuen kapitalistischen Kernländer bleiben.
Die ungleiche Verteilung der unvermeidlichen
Folgen von Weltwirtschaftskrise wie Klimakrise
auf die gesellschaftlichen Klassen und Gruppen
sprechen für eine Betonung von Sicherheitspolitiken von Seiten der Herrschenden: „Niemand
hat eine Ahnung“, so Mike Davis (2008), wie
„ein Planet voller Slums4 mit wachsenden Er-
19
nährungs- und Energiekrisen [...] sein reines
Überleben sichern kann“, noch wie die Menschen in den Slums reagieren werden. Er geht
eher von einer „selektiven Anpassung“ aus,
die „den Erdenbewohnern der ersten Klasse
auch weiterhin einen komfortablen Lebensstil
ermöglicht“, in „grünen, streng eingezäunten
Oasen des permanenten Überflusses auf einem
ansonsten öden und unwirtlichen Planeten“.
Für ein eigenes hegemoniales Projekt ist
der Autoritarismus sicher nicht ausreichend,
da Attraktivität und ökonomisches Potenzial
begrenzt bleiben. Schon jetzt belasten die enormen Kosten der Sicherheitsapparate, die imperiale Überdehnung und die voraussichtlichen
Kosten von Naturkatastrophen die Haushalte
mindestens so stark wie die globale Finanzkrise.
Insofern sind die Möglichkeiten eines neuen
Militärkeynesianismus für die Entfaltung einer
neuen Dynamik begrenzt. Ebenso wie ökodiktatorische Maßnahmen nur als Tendenz
innerhalb anderer hegemonialer Projekte oder
für begrenzte und umgrenzte Räume vorstellbar sind, können Militärkeynesianismus oder
generell Autoritarismen aber komplementär
zu anderen Projekten Wirkung entfalten, indem sie diese stützen. Keine wünschenswerte
Entwicklungstendenz, aber rechnen muss die
Linke mit ihr, um sich frühzeitig dagegen zu
positionieren und emanzipative Antworten
zu finden.
Sozialistische Transformation
und revolutionäre Realpolitik
Angesichts der Blockierung innerhalb und
der Ausfransung an den (globalen) Rändern
der Machtblöcke wird sich aus den unterschiedlichen, sich parallel entwickelnden
Tendenzen und Projekten voraussichtlich
eine Konstellation des Übergangs ergeben, in
der sich die Krise über längere Zeit, vielleicht
ein Jahrzehnt lang, hinziehen kann, bis sich
aus der Konkurrenz der Bearbeitungs- und
Lösungsversuche eine hegemoniale Richtung
herauskristallisiert, die eine gewisse Bandbreite
von differenten Wegen einschließt, jedoch
Terrain und Entwicklungsrichtung der varieties
weitgehend bestimmt. „Postneoliberalismus“
20
(vgl. Brand et al. 2009) bezeichnet also keine
neue Periode kapitalistischer Entwicklung,
sondern vielmehr eine Übergangsperiode, in
der vielfältige Suchprozesse stattfinden und
in welcher um die zukünftige Gestaltung der
Gesellschaft gestritten wird. Sobald sich eine
hegemoniale Richtung andeutet, muss ein neuer
Begriff gefunden werden. Meiner Ansicht nach
scheint zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur ein
Projekt hegemoniefähig, das die dafür nötigen
Ressourcen, Akkumulationsdynamiken und
Konsenspotenziale hervorbringen könnte: ein
Green New Deal, eine Periode grünen Kapitalismus’ An seiner Kritik gilt es bereits jetzt zu
arbeiten, von links Positionen zu entwickeln,
die interventionsfähig sind, und zugleich eine
radikale Realpolitik in Richtung auf sozialistische Transformation zu entwickeln. Denn noch
sind wir in einer relativ offenen geschichtlichen
Situation, in der noch keine hegemoniale Richtung eingeschlagen wurde.
Gegenüber verkürzten Vorstellungen von
Reformen auf der Ebene der Zirkulation des
Geldes warnte bereits Marx: Es sei „unmöglich“, die „Verwicklungen und Widersprüche,
die aus der Existenz des Geldes“ hervorgehen,
aufzuheben, „solange der Tauschwert die gesellschaftliche Form der Produkte bleibt. Es
ist nötig, dies klar einzusehen, um sich keine
unmöglichen Aufgaben zu stellen und die Grenzen zu kennen, innerhalb deren Geldreformen
und Zirkulationsumwandlungen die Produktionsverhältnisse und die auf ihnen ruhenden
gesellschaftlichen Verhältnisse neu gestalten zu
können“ (Marx 1983: 80). Es genügt also nicht,
länger nur eine wichtige und unverzichtbare
Re-Regulierung der Finanzmärkte zu fordern.5
Auch die Ausweitung der Akkumulation in
neue Räume, neue Branchen etc. hat in den
vergangen 30 Jahren nicht gereicht, um die
Überakkumulation nachhaltig abzubauen. Ein
marktförmiger und finanzgetriebener „grüner
Kapitalismus“ wird mit neuen Spekulationswellen einhergehen, vermutet Susan George.
Auch das deutsche Wachstumsmodell immer
weiter steigender Exporte bei dahinsiechender
Binnennachfrage wird sich ebenso wie das chinesische oder US-amerikanische nicht einfach
restaurieren lassen. Hier bedarf es deutlich
weitergehender Projekte, mithin Schritten zu
Mario Candeias
einer sozialistischen Transformation (Beispiele
in Candeias/Kuhn 2008), um dem Problem
von Überakkumulation und zahlreichen gesellschaftlichen Krisen zu begegnen.
Das Vertrauen der Bevölkerung in Märkte
und Regierungen ist deutlich angekratzt, der
Neoliberalismus ist diskreditiert, seine Dogmen zerbröckeln. Dies eröffnet diskursiven
Raum für linke Alternativen im Sinne radikaler Realpolitik, die bisher aber kaum genutzt
werden konnten. Die Linke hat in den letzten
Jahren von der sozialen Krise profitiert, von der
Finanzkrise jedoch nicht. Die globalisierungskritische Bewegung der Bewegungen, die zu
Beginn der 1990er Jahre einen neuen Zyklus
transnationaler Kämpfe und eine Suche nach
Wegen einer anderen Globalisierung anstieß,
scheint ihren Zenit überschritten zu haben bzw.
befindet sich im Moment der Krise neoliberaler
Herrschaft selbst in einer Krise (beispielhaft
etwa die Stagnation bzw. Erosion von Aktiven
bei Attac). Auch konnten zumindest in Europa
bislang in zahlreichen Ländern die alten linkssozialistischen oder kommunistischen Parteien
nicht wesentlich von den Schwierigkeiten der
Parteien des neoliberalen Blocks an der Macht
profitieren: in Frankreich, Italien oder Spanien
werden sie mit der Sozialdemokratie in den
Abgrund gerissen oder an den Rand gedrängt
und zermürbt. Eine Ausnahme bilden vielleicht
einige kleinere Länder wie die Niederlande
oder Norwegen – und die Bundesrepublik:
Auf die Erfolge der Partei Die Linke beziehen
sich zahlreiche Hoffnungen der Linken in
Europa. Insofern steht das Verständnis eines
produktiven Verhältnisses von Partei und Bewegung, von Selbstorganisation, Partizipation
und Repräsentation bzw. Zivilgesellschaft und
Staat vor ungelösten und neuen Fragen.
Doch ein „Weiter so“ mit den alten Forderungen kann es angesichts der Verwobenheit von Krisenprozessen, der drohenden
Verschlimmerung der Krise, aber auch der
vielfältigen Initiativen zur Bearbeitung der
Krise von herrschender Seite, nicht geben.6 Die
Forderungen nach mehr Geld oder simpler Verstaatlichung tragen nicht, wenn sie nicht stärker
inhaltlich gefüllt werden: zum Beispiel mit einer
Forderung nach Bindung der Rettungs- und
Konjunkturpakete an ökologische Konversion,
Die letzte Konjunktur
Ausweitung der Partizipation, Ausbau des
Öffentlichen, Verbot von Entlassungen etc.
Sie muss den Zusammenhang zwischen den
multiplen Krisen deutlich machen, zwischen
Finanz- und sozialer Krise, zwischen ökonomischer und ökologischer Krise, zwischen all
diesen Krisen und der kapitalistischen Produktions- und Lebensweise. Ein Zusammenhang,
der vom herrschenden Block immer wieder
parzelliert wird, um gesellschaftliche Probleme
und Veränderungen zu trennen, die Probleme
und sozialen Gruppen zu vereinzeln. Darüber
hinaus muss die Linke sich strategisch neu
ausrichten auf die veränderte Situation, die
weitergehende Entwürfe und Fantasie verlangt
und zugleich – aus einer Minderheitenposition heraus – realisierbare Einstiegsprojekte
benennt. Andernfalls werden die Forderungen
der Linken von den Regierenden überholt. Vor
allem muss jenseits der Größenordnungen
über inhaltliche Vorstellungen und Perspektiven in der öffentlichen Debatte interveniert
werden.
– Sozialisierung der Investitionsfunktion:
Wer entscheidet eigentlich über den Einsatz der Ressourcen in der Gesellschaft und
darüber, welche Arbeiten gesellschaftlich
notwendig sind? Der Markt als effizientester
Allokationsmechanismus für Investitionen
hat sich blamiert. Das neoliberale Kredit- und
Finanzsystem sammelt zwar noch die vereinzelten (latent produktiven Geld-)Kapitale ein,
es gelingt jedoch nicht mehr, sie in ausreichend
produktive Investitionen zu lenken. Stattdessen
produziert die Überakkumulation von Kapital
Wellen spekulativer Blasen, gefolgt von Kapital- und Arbeitsplatzvernichtung, während
immer größere Bereiche gesellschaftlicher
Reproduktion (Erziehung und Ausbildung,
Umwelt, Hungerbekämpfung, Infrastrukturen
und öffentliche Dienstleistungen) liegenbleiben
bzw. kaputtgespart werden. Dann muss auch
die Investitionsfunktion stärker zur öffentlichen
Aufgabe werden.
– Um- und Ausbau des Öffentlichen: Privatisierung als effiziente Form der Bereitstellung
öffentlicher Güter und Dienstleistungen hat
sich als untauglich erwiesen. Sie bewirkte
die Ausdünnung öffentlicher Beschäftigung,
Umwandlung von regulären in prekäre Ar-
21
beitsverhältnisse, Verteuerung notwendiger,
ehemals erschwinglicher öffentlicher Dienstleistungen, Einschränkung sozialer Rechte und
demokratischer Entscheidungsmöglichkeiten
(vgl. Candeias et al. 2009). Um der Reproduktionskrise zu begegnen bedarf es daher des
Ausbaus physischer und sozialer Infrastrukturen. Um einen Beitrag der Entprekarisierung von Beschäftigten und Arbeitslosen zu
leisten, bedarf es der Ausdehnung öffentlicher
Beschäftigung.
– Radikale Ökologisierung: Beim ökologischen Umbau der Produktion und Beschäftigungssicherung hat die private Wirtschaft
versagt, insbesondere im Verkehrs- und Energiesektor. Daher bedarf es einer radikalen
Ökologisierung der Produktions- und Lebensweise, nicht durch Inwertsetzung und damit
Privatisierung von natürlichen Ressourcen,
sondern durch Erhalt des allgemeinen und
öffentlichen Charakters der natürlichen Commons und anderer grundlegender Reproduktionsbedingungen (public goods) sowie den
Ausbau kollektiver kostenloser/kostengünstiger öffentlicher Leistungen (Ausbau eines
kostenlosen ÖPV statt einfacher Stützung der
Autokonzerne).
– Solidarische Care Economy: Bildungsmisere und mangelnde Kindergartenplätze, wachsende Armut und ökologische Degradierung
wurden weithin beklagt, aber über Jahrzehnte
verschlimmert. Die bereits angedeutete Reorientierung auf Ausbau des Öffentlichen mit
Blick auf Gesundheit, Erziehung und Bildung,
Forschung, soziale Dienste, Pflege, Naturschutz
etc. ist zugleich ein Beitrag zur Ökologisierung
unserer Produktionsweise (da diese Arbeit
mit Menschen und am Erhalt der Natur selbst
wenig Umweltzerstörung mit sich bringt) wie
zur Bearbeitung der Krisen von Arbeit und
Reproduktion, ihrer Dekommodifizierung
und zur Zurückdrängung des Marktes, wie
auch zur emanzipativen Gestaltung von Geschlechterverhältnissen durch den zentralen
Blick auf reproduktive Funktionen. Die damit
verbundene Binnenorientierung, die partielle
Tendenz zu Deglobalisierung und Regionalisierung der Wirtschaft tragen auch zum Abbau
der Exportfixierung sowie von Leistungsbilanzungleichgewichten bei.
22
– Solidarische Sozialversicherung und
globale soziale Rechte: Die staatliche Rente im
Umlagesystem ist ineffizient und teuer, daher
muss auf Kapitaldeckung umgestellt und privat
vorgesorgt werden (Riester-Rente), predigten
die Neoliberalen – die Verluste der Pensionsfonds in den USA sind allerdings noch höher als
zu Zeiten des Enron-Skandals und des Crashs
der New Economy. In Deutschland hat ohnehin
nur eine Minderheit privat vorgesorgt, und die
Euphorie über „Volksaktien“ wie Telekom oder
Deutsche Bahn ist längst verflogen. Benötigt
wird ein Rettungspaket für eine erneuerte
solidarische Sozialversicherung für alle statt
privater Eigenvorsorge, und zwar im Sinne
einer umfassende Idee eines sozialen Europa
und transnationaler sozialer Rechte, nicht nur
im nationalen Rahmen.
– Demokratisierung des Staates: Der Ausbau des Öffentlichen muss zugleich eine
partizipative Veränderung des Staates sein.
Weder der wohlmeinende paternalistische
und patriarchalisch-fordistische Wohlfahrtsstaat noch der autoritäre Staatssozialismus
und schon gar nicht ein neoliberaler Umbau
von öffentlichen Diensten auf Wettbewerb
und reine betriebswirtschaftliche Effizienz
waren besonders emanzipativ. Ein linkes
Staatsprojekt muss also die Erweiterung der
Partizipationsmöglichkeiten und Transparenz
realisieren (hin zur Absorption des Staates in
die Zivilgesellschaft). Die Entscheidungen über
öffentliche Haushalte und Finanzen müssen
stärker demokratisiert werden; partizipative
Haushalte sind ein möglicher Ansatz hierfür.
Die Repräsentations- und Legitimationskrise
des politischen Systems hat viel damit zu tun,
dass wesentliche Bedürfnisse der Bevölkerung
nicht berücksichtigt werden, die Menschen
selbst nicht mitwirken können. Daher geht
es um die Neudefinition und Neuverteilung
dessen, was wir als gesellschaftlich notwendige
Arbeit verstehen – nicht durch immer weitere
Ausdehnung warenförmiger Lohnarbeit, sondern durch Ausdehnung kollektiver, öffentlich
finanzierter Arbeit, orientiert an der Effizienz
zum Beitrag menschlicher Entwicklung, dem
Reichtum allseitiger Beziehungen, nicht an
der Produktion von Mehrwert. Wofür wollen
wir unsere gesellschaftlichen Ressourcen ein-
Mario Candeias
setzen, was halten wir für eine unverzichtbare
Grundlage, die jeder und jedem kostenlos oder
preisgünstig zur Verfügung gestellt werden
sollte, die gemeinschaftlich genutzt werden
müsste etc. – darüber sollte möglichst alltagsnah gemeinsam debattiert und entschieden
werden.
– Demokratisierung der Wirtschaft: Die
Politik sollte sich aus der Wirtschaft weitgehend heraushalten, hieß es jahrelang. Doch die
„Leistungen“ von Management und shareholder
value-Konzepten in der Unternehmensführung
sind angesichts von Kurzfristdenken, Skandalen
um Managergehälter, Steuerhinterziehung,
Pleiten und Massenentlassungen in Zweifel
geraten. Auch die klassische Mitbestimmung
konnte dem Druck transnationaler Konkurrenz,
finanzdominierter Kontrolle nicht ausreichend
begegnen, geriet manchmal selbst in Verwicklungen von Kollaboration und Korruption.
Die Umverteilung von Reichtum durch stagnierende Reallöhne und soziale Leistungen in
Richtung Unternehmen und Vermögende hat
erst die enorme Überakkumulation befördert,
die zur Finanzkrise führte. Es ist also Zeit für
eine über die klassische Mitbestimmung hinausgehende Demokratisierung der Wirtschaft,
für eine echte Partizipation von Beschäftigen,
Gewerkschaften, Bevölkerung/Konsumenten
und anderen Stakeholdern an Entscheidungen
in Betrieben (und zwar entlang der gesamten,
transnationalen Produktionskette). Denn
Unsicherheit und Kurzfristigkeit, mangelnde
Mitsprache blockieren Produktivität, Kreativität
und Entwicklung der Einzelnen und damit der
Gesellschaft.
Die Tiefe der Krise sowie der Kampf um die
Form ihrer Bewältigung werden für die nächsten
Jahre bestimmend sein. Mithin markiert die
Krise erneut einen historischen Bruch in der
kapitalistischen Entwicklung. Daher geht es
im Sinne radikaler Realpolitik um das Ganze,
um die Frage der gemeinsamen Verfügung
über die unmittelbaren Lebensbedingungen.
Diese Ausrichtung auf das Ganze ist dabei
mehr als ein Fernziel; vielmehr ist sie ein notwendiges Element, um die Verengung oder
den Rückfall auf korporativistische, also enge
Gruppeninteressen, oder auf Einzelreformen,
zu vermeiden, was regelmäßig zur Verschärfung
Die letzte Konjunktur
der Subalternität führt, die immer dann droht,
wenn Kämpfe nicht als Hegemonialkonflikte
um die gesellschaftliche Anordnung selbst
begriffen werden. Dann passiert, wie so oft, die
partikulare kompromissförmige Integration in
den herrschenden Block. Das lässt sich auch
schwer vermeiden. Bedingungen für zumindest
partielle Schritte nach links sind jedoch günstig in Momenten wie diesen, wenn der aktive
Konsens erodiert ist und Brüche zwischen den
Gruppen im herrschenden Machtblock seine
Handlungsfähigkeit blockieren oder reduzieren
und die Suche nach neuen gesellschaftlichen
Koalitionen begonnen hat. Eine Chance und
zugleich ein besonders schwieriger und gefährlicher Moment für linke Kräfte.
Anmerkungen
1
2
3
Das Schlagwort des „grünen New Deal“ bezeichnete
in der BRD allerdings schon vor mehr als 15 Jahren
den Versuch, „zu einer ‚nachhaltigen‘ ökonomischen
Expansion zu kommen, ohne die kapitalistische
Akkumulation [...] als solche aufzuheben“ (Brüggen
2002: 1063). Anfang der 1990er Jahre hofften sowohl
die Grünen als auch der sozialökologische Flügel der
SPD, mit dem grünen New Deal eine reformpolitische Lösungsstrategie für die auch damals manifeste
ökologische Krise zu entwickeln, die außerdem
die Grundlage für ein „neues Bündnis zwischen
verteilungspolitisch orientierter Arbeiterbewegung
und eher lebensweltlichen Interessen von Mittelschichten“ schaffen sollte (ebd.: 1064). Zentral für
damalige Entwürfe eines grünen New Deal waren
neben ökologischen Investitionsprogrammen und
Effizienzsteigerungen wachstumskritisch motivierte
Vorschläge einer radikalen Arbeitszeitverkürzung.
Heutige Entwürfe verzichten weitgehend auf solche Ansätze und konzentrieren sich auf Strategien
der Kapitalisierung ökologischer Ressourcen zur
Erschließung neuer Akkumulationsfelder und auf
Steigerung der Ressourceneffizienz in der Produktion
zur Verringerung der Umweltzerstörung.
Die Finanz- und Wirtschaftskrise senkt zwar vorübergehend die Emissionen und den Rohstoff- und Ölverbrauch, blockiert jedoch zugleich die ökologische
Modernisierung durch fehlende Kredite, stornierte
Börsengänge, Rücknahme von Investitionen gerade
in den Bereichen von Umwelttechnologien. So sagte
z.B. Toyota ausgerechnet den Bau einer Fabrik für
Hybrid-Fahrzeuge in den USA ab, und die Aktienkurse
im Bereich der Öko-Energien fielen schneller als der
Aktienmarkt insgesamt – vor allem aber durch Verzicht
der Regierungen auf verschärfte Umweltgesetze und
Rückfall in klassische Industrie- und Wachstumspolitiken.
Die „Lösung“ ist auch gar nicht beabsichtigt: Das
allgemeine Ziel der G8, den Anstieg der globalen
23
4
5
6
Temperatur auf ein akzeptables Maß von zwei Grad
zu beschränken, bedeutet laut „Stern-Report“, allein
in Afrika 40 bis 60 Millionen Opfer in Kauf zu nehmen – „Opfer mit minderem ökonomischen Wert“
(Kaufmann 2008: 2).
In den nächsten 40 Jahren wird laut Prognosen die
Hälfte der Weltbevölkerung in Slums leben; heute
sind es bereits mehr als eine Milliarde Menschen.
Bei Fragen der Reregulierung ist die globalisierungskritische Linke inhaltlich am weitesten (vgl. Wahl 2009)
– von der Beendigung weiterer Liberalisierungsvorhaben etwa im EU-Rahmen, der Verschärfung und
Deprivatisierung von Banken- und Finanzkontrollen,
der Schließung von Steuerparadiesen und OffshoreZentren oder der Einführung von Börsenumsatzsteuern und Kapitalverkehrskontrollen bis zur Etablierung
einer Internationalen Clearing-Union, Konzepten
für zukunftsorientierte Konjunktur- und Investitionsprogramme oder einem neuen UN-basierten
Bretton-Woods-Abkommen, das Kapital- und Technologietransfers, einen Ausgleich der Leistungsbilanzen, nachhaltige Entwicklung, soziale und politische
Mindeststandards global gewährleistet.
Noch vor Kurzem diskutierte die Partei Die Linke
heftig, ob ein 20 Mrd.-Investitionsprogramm sinnvoll
ist oder doch die Haushaltsdisziplin wichtiger, und
Attac stritt sich über Reregulierungskonzepte. Nun
sind die Neoliberalen, die heute keine mehr sein
wollen, vorbeigeprescht, haben quasi links überholt.
Rhetorisch wie praktisch kann die Linke gar nicht so
schnell etwas entgegensetzen, wie von den Regierenden Altes über den Haufen geworfen wird: restriktive
Geld- und Hochzinspolitik – passé; Stabilitätspakt
und Maastrichtkriterien – nicht so wichtig; Verstaatlichung von Risiken und Banken – warum nicht?;
Bürgschaften höher als die Staatshaushalte – machen
wir; Konjunkturprogramme – wie viel darf‘s sein?;
ein neues Bretton-Woods – mindestens; europäische
Wirtschaftsregierung – wird Zeit; Verstaatlichung
von Schlüsselindustrien – war das nicht irgendwie
sozialistisch? Die Herrschenden präsentieren sich
als Kapitalismuskritiker und beherzte Retter, scharen
die von Job- und Vermögensverlust verängstigte Bevölkerung um sich und predigen eine globale soziale
Marktwirtschaft – oder eben den grünen New Deal.
Literatur
Bischoff, Joachim/Deppe, Frank/Kisker, Klaus-Peter (1998):
Das Ende des Neoliberalismus? Hamburg
Brand, Ulrich et al. (2009): Postneoliberalism – A beginning
debate. In: Development Dialogue 51 (1), 1-212
Brüggen, Willi (2002): Grüner New Deal. In: HistorischKritisches Wörterbuch des Marxismus, hg. von W. F.
Haug, Bd. 5. Berlin
Candeias, Mario (2004): Neoliberalismus. Hochtechnologie. Hegemonie. Grundrisse einer transnationalen
kapitalistischen Produktions- und Lebensweise.
Berlin/Hamburg
Candeias, Mario (2007): Die Natur beißt zurück. Kapitalismus, ökologische Marktwirtschaft und Krise.
In: Rosa-Luxemburg-Stiftung, Geschäftsbericht.
Berlin, 38-45
24
Candeias, Mario (2008): Prekarisierung als Kampf um
soziale Rechte und Perspektiven feministisch-sozialistischer Transformation. In: R. Klautke/B. Öhrlein
(Hg.): Globale Soziale Rechte. Hamburg, 175-205
Candeias, Mario (2009a): „This party is so over ...“. Krise,
neuer Staatsinterventionismus und grüner New Deal.
In: Candeias/Rilling (Hg.), 10-37
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Candeias, Mario/Kuhn, Armin (2008): Grüner New Deal.
Ein kapitalistischer Weg aus der Krise? In: Das Argument 50, Nr. 279, 805-812
Candeias, Mario/Rilling, Rainer (Hg.) (2009): Krise. Neues
vom Finanzkapitalismus und seinem Staat (Texte der
Rosa-Luxemburg-Stiftung 55). Berlin
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Berliner Debatte Initial 20 (2009) 2
25
Ulrich Busch
Krisenverlauf und Krisendeutung
im globalen Finanzmarktkapitalismus
1. Krisenwahrnehmung
und -interpretation
Während Politik und Medien keine Scheu davor
haben, die Turbulenzen an den Finanzmärkten und den aktuellen Konjunkturabschwung
superlativisch als „Jahrhundertereignis“ (Alan
Greenspan), „Mega-Krise“ (Börsen-Zeitung)
und „größtes Desaster seit 1929/33“ (Handelsblatt) zu hypertrophieren, ist von Seiten der
Wissenschaft hierzu bisher wenig Verbindliches zu hören. Diese Zurückhaltung ist in
bestimmtem Maße der Tatsache geschuldet,
dass die Krise noch andauert, ihren Tiefpunkt
noch nicht erreicht hat. Die wissenschaftliche
Aufarbeitung hat also gerade erst begonnen.
Die Vorsicht der Wissenschaftler spricht aber
auch für eine gewisse Unsicherheit der professionellen Beobachter, was die Beurteilung
und Wertung der Krisenphänomene und des
Krisenverlaufs anbetrifft. Allzu viel ist diesmal
anders als bei früheren Finanz- und Wirtschaftskrisen. Dies betrifft vor allem die globale
Dimension der Krise, das gigantische Ausmaß
der Kapitalentwertung, die Verquickung monetärer und realwirtschaftlicher Prozesse, den
Vertrauensschwund und kaum wiedergutzumachenden Legitimationsverlust, wovon nicht
nur einzelne Investmentfonds, Finanzakteure,
Banken und Finanzplätze betroffen sind, sondern zunehmend das finanzkapitalistische
System als Ganzes, die marktwirtschaftliche
Ordnung und die neoliberalen Ideologie.
Ungewöhnlich ist diesmal auch die Krisenintervention, indem Staat und Notenbank
direkt und massiv in das Wirtschaftsgeschehen
eingreifen und dadurch die ordnungspoli-
tischen Grundlagen infrage stellen. Roland
Tichy, Chefredakteur der Wirtschaftswoche,
bringt das Entsetzten darüber zum Ausdruck,
wenn er schreibt: „Was haben wir doch alle
Angst gehabt vor Linken, vor Sozialismus
und Sozialisierung. Und jetzt? Nicht die Linke siegt, sondern Wirtschaft und Manager
kapitulieren. Ausgerechnet zum 60. Jahrestag
der Bundesrepublik steht die soziale Marktwirtschaft, Deutschlands wirtschaftliches und
ordnungspolitisches Kerninventar, vor dem
Ausverkauf …“ (Tichy 2009: 5).
Dies lässt ahnen, warum sich der wirtschaftswissenschaftliche Mainstream so
schwer tut, klare Aussagen über die Krise,
deren Verlauf und ihre Folgen zu treffen.
Die gewohnten Erklärungsmuster und Interpretationsschemata greifen nicht. Eine
Krise dieses Ausmaßes kommt in den Lehrbüchern der Orthodoxie nicht vor. Ja, streng
genommen hätte es sie nach den Regeln der
neoklassischen und neomonetaristischen
Theorie gar nicht geben dürfen. Also spielt
man sie herunter, sieht in ihr lediglich eine
unglückliche „Mischung von Staats- und
Marktversagen“, das Ergebnis „schlecht
organisierter Deregulierungsprozesse im
Bankensektor“ und den Preis für „Habgier
und überbordende Spekulation“ (Hüther
2009: 128). Diese Auslegung unterscheidet
sich kaum von einer rein psychologischen
Interpretation, welche die Krise als „Resultat
der Habsucht“ auslegt, erzeugt von geldgierigen Bankern und Spekulanten, die „nicht
genug“ bekommen konnten (Dahlke 2009:
26). Auch für Attac und viele Linke ist die
Krise eine „direkte Folge der Gier und der
26
Skrupellosigkeit der Banker und Fondsmanager“ sowie der „Tatenlosigkeit der Politik“
(Attac 2008). Mehr nicht!
Eine derartige Argumentation erlaubt es, die
Krise, statt sie ökonomisch und systemisch zu
begründen, politisch und moralisch zu werten,
sie als Ausdruck des „kulturellen Werteverfalls“
oder als „Kulturkrise“ (Richter 2009) zu deuten.
Dadurch wird ihr Charakter als „Systemkrise“
der deregulierten Marktwirtschaft und des
Finanzkapitalismus unterschätzt.
Typisch für die politische und mediale Deutung der Krise ist auch, dass sie zunächst nur
als Krise am US-Immobilienmarkt und im Hypothekenbankensektor wahrgenommen wurde.
Damit wurde der Eindruck erweckt, es handele
sich nur um eine Krise der USA. Dass ähnliche
Probleme auch in anderen Ländern auftraten,
insbesondere in Großbritannien, Irland und
Spanien, blieb ausgeblendet. Ebenso die weltweite Vernetzung der Finanzierungsstrukturen,
welche zwangsläufig die Ausbreitung der Krise
auf andere Länder nach sich zog.
Seit dem Frühjahr 2008, als die Krise
bereits bedrohliche Ausmaße angenommen
hatte, ist in den Medien von einer weltweiten
Finanzmarktkrise die Rede, mitunter auch von
einer Banken- und Finanzkrise. Obwohl viele
Volkswirtschaften, darunter auch Deutschland,
zu diesem Zeitpunkt bereits in einer Rezession
steckten, wurden die Begriffe Wirtschaftskrise und Weltwirtschaftskrise noch eine Zeit
lang tunlichst vermieden. Ganz so, als ob die
Finanzsphäre außerhalb der Wirtschaft und
unabhängig von der realen Ökonomie existierte
und eine Finanzkrise für die Realökonomie ohne
Bedeutung sei. Erst nach der Lehman-Pleite
(15.09.2008), als das Bankensystem der USA
zusammenbrach und das Weltfinanzsystem zu
kollabieren drohte, ging man dazu über, von
einer globalen Finanz- und Wirtschaftskrise
zu sprechen. In Bezug auf Deutschland blieb
es jedoch bei einer Konjunkturschwäche. Erst
nachdem die Statistik keinen Zweifel mehr daran ließ, dass sich auch die deutsche Wirtschaft
in einer Rezession befindet, wurde dies auch
sprachlich eingeräumt. Dass die Krise länger
dauern und möglicherweise in eine Depression
münden könnte, wird aber auch jetzt noch nur
von wenigen realisiert. Entsprechend dürftig fiel
Ulrich Busch
das erste Konjunkturpaket der Regierung vom
05.11.2008 aus.1 Bereits am 13.01.2009 musste
nachgelegt werden. Ein zweites, wesentlich
umfangreicheres Konjunkturpaket wurde zur
Dämpfung der Rezession beschlossen. Dieses
umfasst 50 Mrd. €, darunter 16,9 Mrd. € für öffentliche Investitionen, ferner Maßnahmen zur
Beschäftigungssicherung, Beitragszuschüsse
zur Kranken- und Arbeitslosenversicherung,
die „Abwrackprämie“, einen Kinderbonus und
die Neuregelung der Kfz-Steuer. Gemessen an
den Herausforderungen der Krise, erweist sich
aber auch dieses Paket als entschieden zu klein.
Zudem kommt es zu spät, da es größtenteils erst
im zweiten Halbjahr 2009 zu wirken beginnt.
In Medienberichten wird häufig unterstellt,
die Krise sei allein der Exportabhängigkeit der
deutschen Wirtschaft und ihrer Einbindung in
den Euro-Raum geschuldet. Wäre die deutsche
Wirtschaft weniger vom Ausland abhängig, so
würde sie nicht so stark von der Krise betroffen
sein. Dieser Argumentation, wonach die Krise
quasi importiert wurde oder durch „Ansteckung“ über den Export- und Finanzkanal
nach Deutschland gelangt sei, die deutsche
Wirtschaft selbst aber kerngesund gewesen
wäre und keinerlei Veranlassung für eine Krise geliefert hätte, kommt nicht von ungefähr.
Sie findet sich auch in wissenschaftlichen
Stellungnahmen. So sehen zum Beispiel der
Sachverständigenrat und dessen Vorsitzender
Wolfgang Franz in den „Verwerfungen an den
globalen Finanz- und Immobilienmärkten“ die
entscheidende Ursache für die Wirtschaftskrise.
Die dadurch ausgelöste Vermögenspreisdeflation sowie der Anstieg der Energiepreise seien
„externe Schocks“ für die Weltwirtschaft, in
deren Gefolge es „zu einer abrupten und allgemeinen Wirtschaftsschwäche“ gekommen sei.
Deutschland sei „über außenwirtschaftliche
Kanäle“ davon betroffen (Franz 2008: 792). Da
„externe Nachfrage- und Angebotsschocks“ als
die eigentliche Ursache für die Krise angesehen
werden, diese jedoch von den Finanzmärkten
ausgegangen sind, gilt die Krise als im Wesentlichen finanzmarktinduziert (vgl. SVR 2008).
Im Gegensatz hierzu betonen Forscher
des ifo-Instituts München, dass die Bankenund Finanzkrise als Begründung für den
dramatischen Abwärtstrend der Wirtschaft
Krisenverlauf und Krisendeutung im globalen Finanzmarktkapitalismus
nicht ausreiche: „Aus zyklischer Sicht war ein
Abschwung nach einem fast fünf Jahre währenden weltweiten Boom zu erwarten.“ Konjunkturtheoretisch erkläre sich dieser als „Folge
einer Überhitzung“ (Büttner/Carstensen 2008:
787). Die Krise am US-Immobilienmarkt war
hierfür nur der zufällige Auslöser. Letztlich sei
diese selbst nur „Symptom einer strukturellen
Fehlentwicklung“, sowohl im privaten Bereich,
wo der Konsum schuldenfinanziert und auf
Kosten der Ersparnisbildung über Gebühr
ausgeweitet worden war, als auch staatlich,
wofür das Doppeldefizit, das Budget- und das
Leistungsbilanzdefizit der USA, stehe. Damit
werden fundamentale wirtschaftliche Fehlentwicklungen und globale Ungleichgewichte
als krisenverursachend angesprochen, wobei
die Export- und Leistungsbilanzüberschüsse
Deutschlands, Japans und Chinas lediglich
das spiegelbildliche Pendant des Importüberschusses der USA sind und damit ebenso eine
Fehlentwicklung wie dieser. Die Finanzkrise
erscheint in dieser Analyse weniger als Ursache
denn als Folge realwirtschaftlicher Prozesse,
was die Erklärung vielschichtiger macht und
Wechselwirkungen zwischen monetären und
realökonomischen Faktoren impliziert.
Andere Erklärungsansätze thematisieren
vor allem die psychologische Seite der Krise.
So machen IWH-Ökonomen darauf aufmerksam, dass die gegenwärtige Krise eine „starke
Stimmungskomponente“ aufweise. Zunächst
sei amerikanisches „Vertrauenskapital“ vernichtet worden. Mit der Insolvenz von Lehman
Brothers schlug die psychologische Krise aber
international und „real durch“. In der Folge
werde „permanentes und globales Misstrauen“
gesät, wodurch „die vom Finanzsektor ausgehende Vertrauenskrise auf die reale Ökonomie
über[schwappe]“ (Blum/Ludwig 2008: 784).
Damit wird der einseitigen Kausalerklärung
noch eine außerökonomische Begründung
hinzugegeben. Phänomenologisch mag dies
angehen, aber genügt es als wirtschaftstheoretische Erklärung? War die Lehman-Pleite
nicht deshalb von so verhängnisvoller Wirkung
für Deutschland und Europa, weil Lehman
Brothers diejenige Bank war, worauf sich der
größte Teil des Europa-Geschäfts der USA
konzentrierte? Mit der Insolvenz gerade dieser
27
Bank wurde daher nicht nur „globales Misstrauen“ gesät, sondern es wurden auch Verluste
weitergegeben, echte Kosten exportiert. Was
hier stattfand, war eine Kapitalvernichtung
in großem Stil. Dabei gingen Milliarden USDollar und Euro verloren, keineswegs nur
„Vertrauenskapital“. Es ist auch fraglich, ob
die Rezession in Deutschland tatsächlich „ein
Import der Konjunkturschwäche im Ausland“,
also „nicht hausgemacht“ ist, wie Blum und
Ludwig schreiben (2008: 786). Analysiert
man den Konjunkturzyklus der deutschen
Volkswirtschaft und stellt dabei in Rechnung,
dass der Exportüberschuss Deutschlands ein
Teil des globalen Ungleichgewichts ist, welches weltwirtschaftlich krisenverursachend
wirkt, so kommt man zu einem etwas anderen
Ergebnis.2
Hinter der auffällig hinter den Ereignissen
zurückbleibenden Begrifflichkeit der meisten
Krisenkommentare verbirgt sich ein Wahrnehmungsproblem. Dieses hat seine Ursache
im Scheitern des neoliberalen Marktfundamentalismus, aber auch in Erklärungsdefiziten
der neoklassischen Ökonomie, welche die
wirtschaftliche Entwicklung als realen Wachstumsprozess auffasst, der sich wellenartig,
getragen von exogenen Schocks, um einen
Trend schwankend vollzieht. In diesem Modell
findet weder die endogene Zyklizität der Wirtschaftsentwicklung noch die funktionale Einheit
realökonomischer und monetärer Prozesse
hinreichend Berücksichtigung. Es muss daher
als Erklärungsansatz für die gegenwärtige Krise
versagen, ähnlich wie 1929/33, angesichts der
Weltwirtschaftskrise, die klassische Theorie
versagt hat.
Andere Ansätze, marxistische, keynesianische, schumpeterianische, besitzen hier möglicherweise eine größere analytische Schärfe
und Reichweite und erweisen sich damit als
geeigneter für die Formulierung wirksamer
Konjunkturprogramme. So verstehen die Forscher des IMK (Horn et al. 2008) die Krise vor
allem als Ausdruck einer Nachfrageschwäche
und Folge einer die Bezieher von Masseneinkommen jahrelang benachteiligenden Verteilungspolitik. Ähnlich wird von marxistischer
Seite argumentiert, indem die gegenwärtige
Krise in ihrem Kern als „Unterkonsumtions-
28
krise“ gedeutet wird (Sohn 2009: 51). Damit
erscheint sie durchaus als „hausgemacht“ und
mittels geeigneter Konjunkturprogramme
überwindbar.
In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass sich die momentane Krise
in zentralen Punkten von früheren Krisen
unterscheidet. Waren die Krisen in der Vergangenheit überwiegend auf Angebotsschocks
zurückzuführen, so resultiert die jetzige Krise
aus einer gegenüber der Produktion zurückgebliebenen Nachfrage sowie einem „Abheben“
der Finanzsphäre. Das sieht die Mehrheit der
Ökonomen inzwischen ähnlich und plädiert
deshalb für nachfrageerhöhende Maßnahmen,
insbesondere für eine expansive Fiskalpolitik
mit der Konsequenz explodierender Staatsverschuldung. Was wie ein Paradigmenwechsel
in der Wirtschaftspolitik aussieht, ist einem
Wechsel der volkswirtschaftlichen Herausforderungen geschuldet, der zu veränderten
wirtschaftspolitischen Empfehlungen führt
(vgl. Bräuninger 2009: 2f.).
Eine gleichfalls auf eine expansive Geldund Fiskalpolitik abzielende Position vertritt
die AG Alternative Wirtschaftspolitik. Im
jüngsten Memorandum wird davor gewarnt,
dass „ohne außergewöhnlich umfangreiche
und intensive wirtschaftspolitische Gegensteuerung“ die reale Gefahr bestehe, dass
sich die Krise „zu einer lang anhaltenden und
tiefen Depression ausweitet“ (2009: 15). Dem
hält Klaus F. Zimmermann (DIW) entgegen,
dass ein Wirtschaftsabschwung „noch nie“
durch antizyklische Maßnahmen gestoppt
worden sei. Konjunkturprogramme hätten „nur
symbolischen Charakter“: Sie seien entweder
„unnötig“, wirkten „zu spät“ oder seien „im Falle
der konjunkturpolitischen Kernschmelze nicht
umfangreich genug“ (Zimmermann 2008: 803).
Gleichwohl hält er angesichts der Nachfrageschwäche auf den Märkten „keynesianische
Maßnahmen [für] vertretbar“ (802). Zwischen
Finanz- und Wirtschaftskrise sieht Zimmermann jedoch keinen Zusammenhang: Erstere
beruhe auf einem dreifachen Staatsversagen in
den USA (Niedrigzinspolitik der Notenbank,
fehlende Regulierung der Finanzmärkte und
Verzicht auf die Rettung von Lehman Brothers)
und sollte durch „strukturelle Reformen“ be-
Ulrich Busch
kämpft werden. Letztere dagegen sei vor allem
konjunkturell bedingt. Diese Position teilen
auch andere Forscher, indem sie betonen, dass
der konjunkturelle Abschwung im Euroraum
bereits 2007 eingesetzt habe, also noch bevor
die Auswirkungen der Finanzmarktkrise überhaupt sichtbar geworden sind (vgl. Scheide
2008: 798).
2. Finanzmarktkapitalismus und Krise
Die Besonderheit der aktuellen Finanz- und
Wirtschaftskrise erschließt sich am besten,
wenn man die gegenwärtige Wirtschaftsordnung als Finanzmarktkapitalismus begreift.
Geld war für die bürgerliche Gesellschaft bekanntlich von jeher von essentieller Bedeutung.
Als „letztes Produkt der Warenzirkulation“,
schrieb Karl Marx, ist es zugleich die „erste
Erscheinungsform des Kapitals“ (Marx 1968:
161). In ihm manifestiert sich mithin, so Max
Weber, der „Geist des Kapitalismus“ (Weber
1988). Dies zeigte sich zuerst im Handelskapitalismus des 16., 17. und 18. Jahrhunderts, als
man im Geld den Reichtum an sich erblickte
und die auf dem Kapital beruhende Wirtschaft
uneingeschränkt als Geldwirtschaft galt (vgl.
Sombart 1916; Kuczynski 1960–1972, Bd. 26:
5ff.). Im 19. Jahrhundert, mit dem Aufkommen
der Industrie, prägte sich der monetäre Charakter der Wirtschaft weiter aus. An die Stelle
von Münz- und Papiergeld traten jetzt aber
Kredit und Kreditgeld: Die Kreditwirtschaft
entwickelte sich zur adäquaten Geldform des
Industriekapitalismus. Institutionell dokumentierte sich dies im Niedergang des traditionellen Kaufmanns- und Wucherkapitals und im
Aufstieg der Banken (vgl. Marx 1970: 451ff.;
Bagehot 1920). Dabei zeichneten sich bereits
frühzeitig länderspezifische Unterschiede ab.
So waren für Deutschland Kartelle und Korporationen typisch sowie Universalbanken,
die sich am stakeholder-Prinzip nachhaltiger
Gewinnerzielung und Kapitalvermehrung orientierten. Im Unterschied dazu entwickelten
sich die USA zum „Land der Trusts und der
anarchischen Konkurrenz“ (Windolf (Hg.)
2005: 13), wo sich die Unternehmen vor allem
am Kapitalmarkt über Aktien und Anleihen
Krisenverlauf und Krisendeutung im globalen Finanzmarktkapitalismus
finanzieren und das shareholde-value-Prinzip
vorherrscht.
Beide Finanzierungsmodelle, das deutsche
bzw. kontinentaleuropäische bankbasierte und
das angloamerikanische kapitalmarktorientierte, bildeten eigene Strukturen, Institutionen und
Instrumente heraus, die vom Grundsatz her bis
heute gelten. Anfangs besaß das bankbasierte
System die größere Strahlkraft und wurde
daher, ausgehend von Deutschland, in Nord-,
Mittel und Osteuropa kopiert. Seit den 1980er
Jahren gilt jedoch das marktorientierte System
als das für die Kapitalverwertung effizientere.
Die Entwicklung tendierte deshalb zuletzt
stärker in diese Richtung.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erfolgte eine
weitere bedeutsame Veränderung: Im Ergebnis
der Großen Depression (1875–1893) und unterstützt durch die elektrotechnische Revolution
der Produktivkräfte sowie die damit einhergehende Konzentration und Zentralisation des
Kapitals, wandelte sich der Kapitalismus der
freien Konkurrenz zum Monopolkapitalismus.
Damit trat der Industriekapitalismus in ein
neues Stadium ein, in dem Kartelle, Syndikate
und Konzerne den Wirtschaftsprozess dominierten. Im Zusammenhang damit vollzog
sich die wirtschaftliche und machtpolitische
Verschmelzung des Industrie- und Bankkapitals
zum Finanzkapital. Rudolf Hilferding hat diesen
Prozess 1910 eingehend beschrieben3; Lenin
führte die Analyse 1916 fort und konstatierte
schließlich ein „Übergewicht des Finanzkapitals
über alle übrigen Formen des Kapitals“, woraus
er „die Vorherrschaft des Rentners und der
Finanzoligarchie“ ableitet. Ferner „die Aussonderung weniger Staaten, die finanzielle ‚Macht‘
besitzen“ – als charakteristisches Merkmal des
„Imperialismus“ (Lenin 1981: 242).
Mit der Herausbildung des Finanzkapitals4
und dessen Omnipotenz in Wirtschaft und
Gesellschaft mutierte der Industriekapitalismus zum „Finanzmonopolkapitalismus“ (Klein
2008: 103). Ausgehend von den genannten
institutionellen Unterschieden, führte dieser
Wandel zur Etablierung zweier Varianten
finanzkapitalistischer Regulation: Einmal
beteiligen sich die Geldkapitalbesitzer durch
den Kauf von Aktien direkt am industriellen
Kapital. Die Rolle der Banken ist hier auf die
29
Vergabe von Zirkulationskrediten und die Organisation der Geldzirkulation beschränkt. Dies
ist für Großbritannien und die USA typisch.
Im zweiten Fall verfügen die Banken über das
Geld der Anleger (Sparer) und verwandeln
dieses indirekt, als zinstragendes Geldkapital,
in industrielles Kapital. In der Folge verschmelzen Bank- und Industriekapital miteinander,
und es bildet sich eine von den Banken dominierte Wirtschafts- und Machtstruktur
heraus. Praktisch bedeutete dies die Kontrolle
der Wirtschaft durch Großbanken, zugleich
aber auch deren geld- und kreditgesteuerte
Regulierung und Tendenz zur „Umwandlung
der anarchisch-kapitalistischen in eine organisiert-kapitalistische Wirtschaftsordnung“
(Hilferding 1915: 322), wie dies seit dem Ersten
Weltkrieg in Deutschland zu beobachten war.
Der damit beschrittene Entwicklungspfad
bildete zugleich aber auch einen Baustein für
die Formierung des Rheinischen Kapitalismus
nach dem Zweiten Weltkrieg.
Retrospektiv betrachtet, hat sich das kreditund bankbasierte Modell des Finanzkapitalismus für den forcierten, politisch gesteuerten
und kontrollierten Aufholprozess Deutschlands
nach dem Zweiten Weltkrieg als außerordentlich effizient erwiesen. Mit der Öffnung
der Märkte jedoch, der Liberalisierung des
Güter-, Personen- und Kapitalverkehrs, der
Einführung frei konvertierbarer Währungen
und flexibler Wechselkurse, kam es zunehmend
zu „Reibungsverlusten“. Zunächst international, dann auch national. Als Reaktion hierauf
wurden wirtschaftspolitische Veränderungen vorgenommen, die, so kompliziert und
vielgestaltig sie im Einzelnen auch waren, im
Wesentlichen eine Aufwertung marktlicher
Koordinierungsmechanismen beinhalteten.
Immer mehr Bereiche der Gesellschaft wurden „marktförmigen Steuerungsmechanismen
und Finanzkalkülen“ (Dörre/Brinkmann 2005:
86) überantwortet. Damit einher ging die
Umgestaltung der Produktionsweise von der
fordistischen Massenproduktion zur flexiblen
Fertigung diversifizierter Qualitätsprodukte
(vgl. Abelshauser 2004: 432ff.). Dieser übergreifende wirtschaftliche und gesellschaftliche
Umbruch vollzieht sich seit mehr als drei
Jahrzehnten. Ausgelöst wurde er durch die
30
Weltwährungs- und Wirtschaftskrise während
der 1970er Jahre. Die Politik in den folgenden
Jahrzehnten trug in unterschiedlichem Maße
dazu bei, die Volkswirtschaft der Bundesrepublik entsprechend umzugestalten, das heißt,
das „deutsche Modell“ des Kapitalismus in
eine stärker kapitalmarktbestimmte Form des
Finanzkapitalismus zu überführen.
Gegenüber dem traditionellen Finanzkapitalismus, wie er sich zu Beginn des 20.
Jahrhunderts durch den Zusammenschluss
von Bank- und Industriekapital herausgebildet
hatte, aber auch gegenüber dem bank- und
kreditbasierten, korporatistischen und staatlich
regulierten Kapitalismus der fordistischen Ära
der 1950er bis 1970er Jahre verkörpert der
heutige Finanzkapitalismus durchaus etwas
Neues. Sein Auftreten markiert „eine weitere
Stufe in der Evolution kapitalistischer Produktionsregime“ (Windolf 2005: 52). Ausschlaggebend dafür ist eine veränderte institutionelle
Konfiguration: Die ökonomischen Beziehungen
werden nicht mehr durch den Kredit als einen
Vertrag zwischen Bank und Unternehmen
dominiert, sondern durch die Aktie und damit
durch die Funktionsweise des Kapitalmarktes
(Börse). Zentrale Akteure in diesem System
sind mithin nicht mehr Kreditbanken, sondern
Aktionäre, insbesondere institutionelle Anleger
wie Investmentgesellschaften, Pensionsfonds
und Versicherungen. Zentrales Kontrollinstrument sind die Eigentumsrechte der Aktionäre,
welche sich bei ihren Entscheidungen von
kurzfristigen Renditeerwartungen und den
Vorgaben internationaler Rating-Agenturen
leiten lassen. Sie folgen damit dem shareholder-value-Prinzip.
Zugleich trägt diese Entwicklung ausgesprochen globale Züge und ist folglich mit
einer Entnationalisierung des Kapitals sowie
der Kapitalver- und -entwertung verbunden.
Dies impliziert, dass die Machtpositionen der
Kreditbanken, der Finanzaufsicht und des
Fiskus gegenüber früher geschwächt sind. Die
starken Positionen haben nunmehr die Akteure
an den internationalen Finanzmärkten inne,
insbesondere große und international operierende Kapitalgesellschaften, also Nichtbanken.
Dies wird auch quantitativ sichtbar, indem
die Finanzvolumina, die von diesen Akteuren
Ulrich Busch
bewegt und kontrolliert werden, den Umfang
des Budgets, ja, sogar des Nationaleinkommens mancher Staaten übersteigen. Mit dem
Übergang zu flexiblen Wechselkursen, der
Internationalisierung der Märkte, dem Handel
auf Offshore-Märkten, der Emission immer
neuer Finanzprodukte (Derivate) und der
Verbriefung von Krediten erfolgte eine Transformation des Finanzmechanismus, wodurch
der Finanzpolitik der Staaten zunehmend der
Boden entzogen wurde. Die Rolle des Staates
schien im Schwinden begriffen zu sein. Mit
dem Eintritt der Krise änderte sich dies jedoch
wiederum: Die wirtschaftliche Macht des
Staates ist heute größer denn je. Inwieweit
dies von nachhaltiger Wirkung sein wird und
den Finanzkapitalismus substanziell verändert,
bleibt jedoch abzuwarten.
Die seit den 1990er Jahren eingetretenen
Veränderungen jedenfalls waren mehr als ein
bloßer Modellwechsel. Sie wurden bestimmend
für das Produktions- und Akkumulationsregime, für die Art und Weise der Regulierung
der gesamtwirtschaftlichen Reproduktion,
für das Verhältnis von Wirtschaft, Staat und
Gesellschaft. Mit ihnen ging eine Machtverschiebung einher, sowohl innerhalb einzelner
Staaten und Staatengruppen als auch zwischen
diesen, zwischen Institutionen, Branchen, Interessengruppen, Klassen und Schichten. Die
Stichworte hierfür lauten Globalisierung, nicht
nur des Handels, sondern auch der Produktion,
Liberalisierung, Deregulierung, Privatisierung,
Kommerzialisierung und Monetarisierung – so
ziemlich aller Bereiche der Gesellschaft. Es
handelt sich hierbei um eine Transformation
der gesamten Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Im Lichte des Varieties-of-Capitalism-Ansatzes erscheint dieser Umbruch als
Übergang von einer „koordinierten“ zu einer
„liberalen“ Marktökonomie (vgl. Hall/Soskice
2001). Im Kontext komparativer Untersuchungen, die zwischen kontinentaleuropäischen und
angloamerikanischen Varianten des Finanzkapitalismus unterscheiden, erscheint er als „erdrutschartige Gewichtsverschiebung“, welche
dazu führt, dass ersteres System faktisch von
der Weltkarte verschwindet und letzterem die
Alleinherrschaft zufällt (vgl. Albert 1992).
Die finanzmarktkapitalistische Transfor-
Krisenverlauf und Krisendeutung im globalen Finanzmarktkapitalismus
mation impliziert einen bisher nicht gekannten
Bedeutungszuwachs des geld- oder zinstragenden Kapitals gegenüber dem produktiven
Kapital. Der springende Punkt dabei ist, dass das
Finanzkapital, obwohl es im Wirtschaftsprozess
agiert, Geldkapital ist – und zwar auch seiner
Verwertungslogik nach, was in der Marx’schen
Formel G – G’ prägnanten Ausdruck findet.
Indem das Geldkapital im volkswirtschaftlichen Kreislaufprozess zur bestimmenden
Größe wird, wird der Gesamtprozess der
Verwertungslogik des Geldes unterworfen.
Geld und Zins bestimmen nunmehr die Funktionsweise des Kapitalkreislaufs insgesamt, das
Akkumulationsregime und die Entwicklung
der Wirtschaft.
Damit sind eine Reihe substanzieller Veränderungen im Verwertungsprozess verbunden.
So kommt es zu einer relativen und temporären
„Entkopplung von Produkt- und Kapitalmarkt“
(Kühl 2003: 78) bzw. zu Erscheinungen einer
relativen „Verselbstständigung“ der monetären
gegenüber der realwirtschaftlichen Sphäre.5
Ausdruck dessen ist eine Ausdifferenzierung
der Finanzsphäre in eine Vielzahl unterschiedlicher Märkte, von denen die abgeleiteten, die
sekundären und tertiären Segmente ein immer
größeres Gewicht erhalten.
Ursprünglich umfasste der Begriff Finanzmarkt den Geldmarkt als Markt für kurzfristige
Transaktionen von Liquiditätstiteln und den
Kapitalmarkt als Markt für langfristige, vor
allem der Investitionsfinanzierung dienende
Geldanlagen bzw. Kredite. Heute fächert sich
bereits der Geldmarkt weit auf, indem bei den
Liquiditätstiteln zwischen verschiedenen Liquiditätsgraden und -fristen unterschieden wird.
Hinzu kommen die Devisen- und Sortenmärkte, welche den Währungsmarkt bilden.6 Zum
Kapitalmarkt zählen neben den klassischen
Kreditmärkten für Unternehmen, Regierungen und Privatpersonen der Primärmarkt für
Wertpapiere, auf dem sich Unternehmen und
Regierungen durch die Ausgabe von Aktien
oder die Auflage von Anleihen über die Börse direkt beim Publikum finanzieren, der bedeutend
größere Sekundärmarkt, auf welchem bereits
emittierte Papiere gehandelt, be- und verliehen
sowie besichert werden, und der Markt für
abgeleitete Finanzprodukte (Derivate), welche
31
sich auf Forderungen und Verbindlichkeiten in
der Zukunft beziehen bzw. der Immunisierung
gegen Zins- und Wechselkursänderungen
dienen (vgl. Huffschmid 2002: 25).
Auf diese Weise entsteht neben dem primären, produktiven Verwertungsprozess ein
sekundärer, spekulativer und größtenteils
fiktiver Prozess, der sich durch die Emission
und Zirkulation von Derivaten zudem „reflexiv
vervielfältigt“ und inzwischen den primären Prozess volumenmäßig weit übersteigt
(Deutschmann 2005: 63). Es ist dies ein Phänomen, worin sich die fortgeschrittene Trennung
von Kapitaleigentum und Kapitalfunktion zeigt,
ebenso aber auch der Vorrang des Rentiers und
Finanzinvestors gegenüber dem produktiven
Unternehmer als Charakteristikum der gegenwärtigen Geld- und Vermögenswirtschaft (vgl.
Deutschmann 2006; Fiehler 2000). Erscheinungsformen des fiktiven Kapitals sowie Finanzinnovationen und Derivate wie Optionen,
Swaps, Futures, Junkbonds, Commercial Paper,
Asset Backed Securities (ABS), Credit Default
Swaps (CDS), Discount-, Basket-, Index- und
Bonus-Zertifikate, Aktienanleihen usw. werden
zu Schlüsselgrößen im Finanzgeschehen und
ihre Bewegungen, Kursänderungen usw. zu
Auslösern ökonomischer Ver- und Entwertungsprozesse.7 Sie sind der „Stoff“, aus dem
heutzutage die Krisen erwachsen.
Hiervon ausgehend kommt es zu signifikanten Veränderungen in den Macht- und
Entscheidungsstrukturen: Aktionäre und
Finanzinvestoren gewinnen an Einfluss,
ebenso Analysten, Rating-Experten und
Fondsmanager, während Industrie-Manager, Kreditbanker und Finanzpolitiker an
Macht, Einfluss und Ansehen verlieren.
Trotz rückläufigen externen Finanzbedarfs
steigt die Abhängigkeit der Unternehmen
von den Finanzmärkten. Dabei tritt das
Finanzinvestment in den Vordergrund und
verdrängt die Investitionsfinanzierung im
Produktionsbereich. Dies tangiert selbstverständlich die Einkommensströme, mehr aber
noch die Vermögensverhältnisse. Es kommt
zu massiven Vermögensumschichtungen
und zu einer strukturellen Neuordnung der
betrieblichen und privaten Vermögen. Dabei
spielen spekulative Verwertungsprozesse, die
32
zur Reichtumskonzentration beitragen, aber
auch enorme Entwertungen in und durch
Finanzkrisen, wie sie früher nur durch Kriege
ausgelöst wurden, eine große Rolle. Zugleich
wird die finanzielle Vermögenssituation der
privaten Haushalte, deren Liquidität und
Performance, immer mehr zur bestimmenden
Größe für die soziale Differenzierung und
Polarisierung, für gesellschaftlichen Auf- und
Abstieg, für Wohlstand und Sicherheit.
Der gesamte Wirtschaftsprozess erhält
einen grundlegend veränderten Charakter:
Er wird zur „Bubble-Ökonomie“ (Brenner
2003; Orlowski 2008), worin das Entstehen
und Platzen von Spekulationsblasen gewissermaßen den Konjunkturzyklus „ersetzt“,
wie Eric Janszen schreibt (2008: 49), auf jeden
Fall aber überformt. Charakteristisch hierfür
ist ein Inflationieren der Vermögenspreise
(asset-price inflation), wodurch eine fiktive
Wertsteigerung ausgelöst wird, eine wahnwitzige Aufblähung von fiktivem Reichtum
im Umfang von zig Billionen US-Dollar, die
sich regelmäßig als Spekulationsblase erweist,
schließlich platzt und Finanzvermögen von
gigantischem Ausmaß vernichtet. Bei der Internet-Blase waren es sieben Billionen US-Dollar,
die sich mit dem Platzen der Blase (2000/2002)
in Luft auflösten. Dass sich die dadurch
ausgelöste Krise nicht zu einer finanz- und
realwirtschaftlichen Katastrophe entwickelte,
ist der expansiven Geldpolitik der FED und
anderer Zentralbanken zu verdanken. Damit
wurde aber zugleich der Grundstein für den
nächsten Crash gelegt: Ermöglicht durch die
Kreditexpansion und den Anstieg der privaten
und öffentlichen Verschuldung, stiegen die
nominalen Werte der Immobilienvermögen,
Aktien, Staatspapiere, Zertifikate und Derivate
in ungeahnte Höhen. Der Immobilienboom
schuf einen Reichtum von zwölf Billionen
US-Dollar. Dieser wird nun im Krisenprozess
größtenteils entwertet. Von den Folgen dieser
Entwertung sind nicht nur Hausbesitzer und
Banken betroffen, sondern in noch viel größerem Maße Investmentgesellschaften, Versicherungen und Finanzintermediäre. Paul Krugman
sieht im Platzen der Immobilienblase deshalb
den Auslöser für den „Zusammenbruch des
Schattenbankensystems“ und in der Finanz-
Ulrich Busch
krise vor allem eine „Nichtbank-Bankenkrise“
(Krugman 2009: 198).
Zugleich drängt die ökologische Situation
auf eine Energiewende, welche nur herbeigeführt werden kann, wenn es gelingt, Billionen
und Aberbillionen US-Dollar, Euro, Yen und
Renminbi dafür aufzubringen. Der gewaltige
Kapitalbedarf, den der ökologische Umbau
erfordert, die weltweite Umstellung von fossilen Energieträgern auf alternative Formen
der Energieproduktion und -nutzung, bildet
aber aller Voraussicht nach die Grundlage
für die kommende Blase. Diese muss groß
genug sein, um die Verluste der geplatzten
Immobilienblase zu kompensieren und darüber hinaus den Umbau des Energiesektors
und der Infrastruktur zu finanzieren. Janszen
veranschlagt den Umfang des erwarteten fiktiven Spekulationsvermögens auf mindestens
20 Billionen US-Dollar, was gegenüber der
Internet-Blase eine Verdreifachung und gegenüber der Immobilienblase eine Erhöhung
auf mehr als das Anderthalbfache bedeuten
würde. Wenn auch diese Blase schließlich platzt
und die Weltwirtschaft erneut in eine globale,
noch größere als die jetzige Krise gestürzt wird,
„werden wir wiederum vor der Aufgabe stehen,
die Trümmer einer verwüsteten Branche abzuräumen“. Gleichzeitig wird die nächste Blase im
Entstehen begriffen sein, denn angesichts des
Zustandes der finanzkapitalistisch geprägten
Weltwirtschaft und der globalen Herausforderungen, vor welchen die Welt steht, „wäre
nur eines schlimmer als eine neue Blase: keine
Blase“ (Janszen 2008: 59f.).
3. Konjunkturverlauf und Krise
Folgt man dem Mainstream, so handelt es sich
bei der gegenwärtigen Krise um eine Krise der
Banken und der Finanzmärkte, welche „durch
Ansteckung“ auf die eigentlich robuste und
kerngesunde Realwirtschaft übertragen wurde.
Dies gelte insbesondere für Deutschland, wo
die Wirtschaft im ersten Quartal 2008 noch
kräftig gewachsen ist und wo es keine exzessive
Überschuldung der privaten und öffentlichen
Haushalte und auch keine spekulative Überhitzung der Märkte gegeben habe.
Krisenverlauf und Krisendeutung im globalen Finanzmarktkapitalismus
Richtig ist, dass die Krise zuerst in den USA
ausbrach, infolge des Platzens der Immobilienblase, und dass sie sich über international
agierende Banken und die Finanzmärkte ausgebreitet hat. Falsch ist jedoch, die deutsche
Wirtschaft substanziell als krisenresistent zu
betrachten. Dies schon deshalb, weil es sich
bei der aktuellen Krise um eine globale Krise
handelt und Deutschland integraler Bestandteil
der Weltwirtschaft ist. Darüber hinaus gilt es zu
beachten, dass Deutschland eine finanzkapitalistische Wirtschaftsstruktur aufweist und die
Krise deshalb auch hier zuerst und vor allem als
Finanzkrise in Erscheinung trat. Finanzmärkte
und Banken bilden nun mal das „Herz“ des
finanzkapitalistischen Wirtschaftssystems.
Weist dieses ernstliche Funktionsstörungen auf,
so funktioniert auch der übrige „Körper“ nicht
mehr, und es droht ein Kollaps. Andererseits
bilden sich Turbulenzen auf den Finanzmärkten
nicht unabhängig von der Realökonomie. So
belegt eine Analyse des Konjunkturverlaufs,
dass die gegenwärtige Krise ursächlich durchaus
als eine Wirtschaftskrise, eine Überproduktions- und Überakkumulationskrise, anzusehen
ist (vgl. Leibiger 2009), auch wenn ihr Anlass
ein finanzwirtschaftlicher war, die auffälligsten Krisenphänomene finanzieller Natur sind
und ihre Dimension weit über eine normale
Konjunkturkrise hinausreicht.
Dieser Aspekt soll in Folgendem etwas
genauer beleuchtet werden: Bedingt durch den
Rhythmus der Reproduktion des industriellen
33
Kapitals, insbesondere der Entwertung und
periodischen Neuanlage von fixem Kapital
(Maschinen und Anlagen), vollzieht sich die
Wirtschaftsentwicklung seit der industriellen Revolution nicht kontinuierlich und
linear, sondern wellenartig und zyklisch. Die
entscheidende Grundlage dafür bildet der
Umschlag des fixen Kapitals (vgl. Marx 1969:
169ff.). John Maynard Keynes behandelt den
Konjunkturzyklus als „Folge einer zyklischen
Veränderung in der Grenzleistungsfähigkeit
des Kapitals“ (Keynes 1936: 265), Joseph A.
Schumpeter begreift ihn als Innovations- und
Investitionszyklus (vgl. Schumpeter 1961).
Im Zeitverlauf lassen sich verschiedene
Phasen und sich periodisch wiederholende
Zyklen unterscheiden. Der erste Zyklus endete
1825 mit einer Wirtschaftskrise in England, der
ersten Krise dieser Art überhaupt (Kuczynski
1960–1972, Bd. 23: 108). In Deutschland setzte die Industrialisierung bekanntlich später
ein, sodass die erste Krise hier auf das Jahr
1857 datiert wird. Seitdem vollzieht sich die
Wirtschaftsentwicklung über das Auf und Ab
konjunktureller Wechsellagen. Dabei lassen
sich Expansions- oder Prosperitätsphasen
einerseits und Kontraktions-, Rezessions- und
Depressionsphasen andererseits unterscheiden.
Der Konjunkturprozess folgt einem Schema von
„mittlerer Lebendigkeit, Prosperität, Überproduktion, Krise und Stagnation“ (Marx 1968:
476). In Anlehnung an Joseph A. Schumpeter
werden die Phasen des Konjunkturzyklus als
Tabelle 1: Wachstum des Bruttoinlandsprodukts in Konjunkturzyklen, in Prozent
Zeitraum
(I)
(II)
(III)
(IV)
(V)
(VI)
(VII)
(VII)
*
1951–1958
1959–1967
1968–1975
1976–1982
1983–1993
1994–2003
2004–2008**
2004–2010***
Jahresdurchschnittliche Zuwachsrate
nominal
preisbereinigt
11,64
8,26
8,08
4,79
9,66
3,78
6,58
2,43
5,60
2,71*
2,48
1,56
2,86
1,72
1,63
0,31
Ohne den Effekt der Wiedervereinigung, welcher 1990 bis 1992 mehr als die Hälfte des Zuwachses des BIP ausmachte, hätte der Zuwachs im fünften Zyklus nur ca. 2,5% betragen.
** Der Zyklus ist nicht abgeschlossen.
*** Schätzung auf Grundlage der Gemeinschaftsdiagnose der Wirtschaftsforschungsinstitute für 2009 und 2010.
34
Ulrich Busch
Recovery (Erholung), Prosperität, Rezession
und Depression bezeichnet. Neuere Theorien
fassen den Wirtschaftsverlauf weniger streng
phasenstrukturiert auf, sondern eher als einen
Prozess konjunktureller Schwankungen, als
zyklische Bewegung um einen exponentiellen
Wachstumstrend. Dabei erscheinen Erholung
und Aufschwung als wirtschaftliche Expansion
und der obere Wendepunkt im Konjunkturverlauf als Boom. Es folgen Abschwächung und
Entspannung sowie Rezession und Depression
als Phänomene wirtschaftlicher Kontraktion.
Als maßgeblicher Indikator gilt die jährliche
bzw. die quartalsbezogene Wachstumsrate des
Bruttoinlandsprodukts.
In der Konjunkturtheorie wird zwischen
verschiedenen Typen von Konjunkturzyklen unterschieden: a) Kitchin-Zyklen (3–4
Jahre), b) Juglar-Zyklen (7–11 Jahre) und c)
Kondratieff-Zyklen (50–60 Jahre).8 Ein Zyklus
bezeichnet jeweils den Zeitabschnitt zwischen
dem Beginn der ersten Phase (Erholung bzw.
Aufschwung) und dem Ende der letzten Phase
(Depression).
Das Muster der konjunkturellen Zyklizität
der Wirtschaftsentwicklung lässt sich auf die
Bundesrepublik Deutschland anwenden.9 Bisher lassen sich sieben (Juglar-)Zyklen unterscheiden10: (I) 1950–195811, (II) 1959–1967, (III)
1968–1975, (IV) 1976–1982, (V) 1983–1993,
(VI) 1994–2003 und (VII) 2004–201012; wobei
der siebente Zyklus zum gegenwärtig Zeitpunkt noch nicht abgeschlossen und daher
nur unvollständig darstellbar ist. Es spricht
aber vieles dafür, dass der obere Wendepunkt
im Jahr 2006 lag13 und der Tiefpunkt der Krise
2010 erreicht wird. Die Prognosen der Ökonomen stützen diese Sicht (vgl. Projekt Gemeinschaftsdiagnose 2009; Deutsche Bundesbank
2/2009: 43ff.), während die Bundesregierung
von einer Beendigung der Krise noch im Jahr
2009 ausgeht.
Die Daten für die Jahre 1950 bis 1969 sind
wegen konzeptioneller und definitorischer
Unterschiede mit den Daten für 1970 bis 1990
(früheres Bundesgebiet) und den Angaben für
1991 bis 2009 (Deutschland) nur eingeschränkt
vergleichbar. Für 2009 wurde ein Schätzwert der
Wirtschaftsforschungsinstitute verwendet.
Aus Abbildung 1 ist ersichtlich, dass die
wirtschaftliche Entwicklung in der Bundesrepublik zyklisch, das heißt in mehr oder weniger
Abbildung 1: Veränderung des
preisbereinigten BIP gegenüber dem Vorjahr, 1951–2009
Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts real
14
13
12
11
10
Jährliche Veränderung in Prozent
9
8
7
6
5
4
3
2
1
0
2008
2006
2004
2002
2000
1998
1996
1994
1992
1991
1989
1987
1985
1983
1981
1979
1977
1975
Quelle: Statistisches Bundesamt.
1973
-6
1971
-5
1969
-4
1967
-3
1965
1963
1961
1960
1958
1956
1954
1952
-2
1950
-1
Krisenverlauf und Krisendeutung im globalen Finanzmarktkapitalismus
regelmäßigen konjunkturellen Bewegungen,
verläuft. Die durchschnittliche Länge eines Zyklus beträgt achteinhalb Jahre. Abweichungen
von dieser Regel sind durch Sonderbedingungen wie zum Beispiel die Wiedervereinigung
erklärbar, welche der (west-)deutschen Wirtschaft 1990 und 1991 eine Sonderkonjunktur
bescherte. Es ist unschwer auszumachen, dass
es in der Wirtschaftsentwicklung der Nachkriegszeit bisher sieben Abschwungphasen gab:
1957/58, 1966/67, 1974/75, 1980/82, 1992/93,
2001/03 und 2007/09. Diese mündeten außer
1958 immer in eine Rezession. Am stärksten
war dies 1975 und 1993 der Fall, als das BIP
um 0,9 bzw. 0,8 Prozentpunkte zurückging.
Daran gemessen weist die gegenwärtige Krise
zweifelsohne eine andere Dimension auf: Der
Abschwung verlief heftiger und der Rückgang
der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung
fällt weit höher aus als in allen vorherigen
Krisen. Dies lässt sich an der Dynamik der
Quartalswerte für das BIP und für die Bruttowertschöpfung im Verarbeitenden Gewerbe
ablesen (Tabelle 2).
Insgesamt vermittelt der Konjunkturzyklus
folgendes Bild: Erstens ist ein langfristiger Trend
des Rückgangs der Wachstumsraten des BIP
und darüber hinaus der Arbeitsproduktivität,
der Investitionen und des Konsums zu konstatieren. Dadurch fallen die Aufwärtsbewegungen
von Mal zu Mal schwächer aus, so dass sich
die einzelnen Zyklen tendenziell „abflachen“.
Zweitens treten die Krise 1974/75 und die
gegenwärtige Krise klar als Zäsuren hervor.
Eine Analyse im Kontext des Ansatzes von
Kondratieff und Schumpeter14 führt zu der
35
Schlussfolgerung, dass sich hier zwei historische
Phasen unterscheiden lassen. Die erste reicht
von 1949/1950 bis Anfang der 1970er Jahre und
ist durch eine beschleunigte Kapitalakkumulation charakterisiert, die zweite beginnt Mitte
der 1970er Jahre und ist durch strukturelle
Überakkumulation und tendenzielle Stagnation gekennzeichnet. Während die ersten drei
Zyklen in einem übergreifenden Megazyklus
als Prosperitätszyklen erscheinen, sind die
folgenden vier als Abstiegs- und Depressionszyklen charakterisiert. Ob der Aufschwung
2004–2006 bereits den Beginn eines neuen
Zyklus einleitete oder ob es sich dabei nur
um „ein Zwischenhoch in einer verschleppten
Depression“ (Land 2008) handelte und erst
die nächste Erholung den Beginn eines neuen
Megazyklus, des dann fünften „Kondratieff“,
markiert, ist eine offene Frage.
Im Unterschied zu dieser Interpretation
folgt die säkulare Stagnationstheorie von Keynes
einer anderen Vorstellung von Wirtschafts- und
Gesellschaftsentwicklung. Der von Keynes
1943 für die Nachkriegszeit entworfene Ansatz
unterscheidet drei Phasen, die jeweils durch
ihr Verhältnis von freiwilliger Investition (I)
und freiwilliger Ersparnis (S) auf Vollbeschäftigungsniveau gekennzeichnet sind. Während
für die erste Phase aufgrund inflationärer
Übernachfrage im Zuge des Wiederaufbaus und
des Nachholbedarfs nach dem Krieg I > S gilt,
ist die zweite Phase durch ein ausgeglichenes
Verhältnis beider Größen charakterisiert: I =
S. Die Investition absorbiert auf Vollbeschäftigungsniveau die Ersparnis, wodurch der
Inflationsdruck schwindet. In der dritten Phase
Tabelle 2: BIP und Bruttowertschöpfung im Verarbeitenden Gewerbe, jeweilige Preise und preisbereinigt, verkettet (2000 = 100); Veränderung gegenüber Vorquartal in Prozent
2007
2008
2009*
1. Vj .
2. Vj.
3. Vj.
4. Vj.
1. Vj.
2. Vj.
3. Vj.
4. Vj.
1. Vj.
2. Vj.
BIP jeweilige Preise
1,5
0,7
0,9
0,5
2,0
0
-0,3
-1,3
-3,8
X
BIP preisbereinigt
0,4
0,4
0,6
0,3
1,5
-0,5
-0,5
-2,2
-3,8
-0,9
Verarbeitendes Gewerbe preisbereinigt
2,8
0,3
1,4
1,0
1,2
-0,5
-1,9
-7,1
-14,0
-3,0
Quelle: StatBA: Pressemitteilung Nr. 185 (www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/Sites/destatis/DE/Content/Statistik...15.05.2009); Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose: Gemeinschaftsdiagnose Herbst 2007: 44; Herbst 2008: 55,
Frühjahr 2009: 49 (* Prognose)
36
Ulrich Busch
jedoch fällt die Investitionstätigkeit unter die
Ersparnis, sodass Unterbeschäftigung und
Überliquidität herrschen: I < S. Hohe Ersparnis, abnehmende Grenzleistungsfähigkeit des
Kapitals, rückläufige Wachstumsraten und
sinkende Konsumneigung – eben Stagnation
prägen diese Phase (Keynes 1943; Zinn 2007).
Ihr Beginn datiert Mitte der 1970er Jahre, und
ihr weiterer Verlauf findet im Finanzmarktkapitalismus Bestätigung.
4. Kosten und Verluste
Dass die gegenwärtige Krise gewaltige Kosten verursacht, Kosten, deren Umfang alles
bisher Dagewesene in den Schatten stellt, gilt
als ausgemacht und wird inzwischen nicht
einmal mehr von denen bestritten, die vor
Kurzem noch die „reinigende Kraft“ der Krise
hervorhoben und ihre stabilisierende Rolle im
Wirtschaftsprozess betonten. Die Frage ist nur:
Wie hoch sind diese Kosten, und wer wird sie
letztlich tragen? Eine Antwort auf diese Frage
fällt naturgemäß nicht leicht. Zum einen ist
bisher kein Ende der Krise in Sicht. Und eine
Bilanz, selbst eine vorläufige, lässt sich erst
nach Beendigung der Krise und dem Beginn
der wirtschaftlichen Erholung erstellen. Zum
anderen fehlt es an einer sinnvollen Abgrenzung
dessen, was hier als Kosten anzusehen ist. Die
Krise verursacht fiskalische, wirtschaftliche,
soziale, ordnungspolitische, innen- und außenpolitische, kulturelle, ideologische und
andere Kosten. Dies gilt weltweit, aber auch
national, bezogen auf Volkswirtschaften, Regionen, Branchen, Industriezweige, Staaten,
Länder, Kommunen, Unternehmen, soziale
Schichten und Gruppen, private Haushalte
usw. Es ist unmöglich, die ganze Vielfalt dieser
Kosten in ihrer strukturellen Gliederung und
Verästelung auch nur annähernd zu erfassen.
Zumal nicht klar ist, welche davon absolute und
welche relative Kosten sind, welche vollständig
ins Gewicht fallen und welche sich gegen Gewinne aufrechnen lassen, welche tatsächliche
Kosten und welche Opportunitätskosten sind,
usw. usf.
Grenzt man die Frage auf die ökonomischen
Kosten und weiter auf finanziell erfassbare
Größen ein, so scheint es schon eher möglich,
zu einer validen Aussage zu gelangen. Der Internationale Währungsfonds (IWF) veranschlagte
im April 2008 „die potenziellen Verluste und Ab-
BIP-Produktivität, Wachstum (real), Erwerbslosenquote und Inflation in Zyklen
Abbildung 2: BIP-Produktivität,
Erwerbslosenquote
und Inflationsrate
1950–2009
(bis 1960 ohne Saarland, bisWachstum,
1991 alte Bundesländer,
ab 1991 Deutschland insgesamt
2009 geschätzt)
16
BIP pro Stunde (Produktivität)
BIP-Wachstum
Erwerbslose an Erwerbspersonen
Inflation (BIP-Deflator)
14
Beitritt Saarland
Veränderung zum Vorjahr in Prozent
12
10
Deutsche Einheit
8
6
4
2
0
2008
2006
2004
2002
2000
1998
1996
1994
1992
1991
1989
Quelle: Statistisches Bundesamt, eigene Berechungen.
1987
Jahr
1985
-6
1983
-4
1981
1979
1977
1975
1973
1971
1969
1967
1965
1963
1961
1960
1958
1956
1954
1952
1950
-2
Krisenverlauf und Krisendeutung im globalen Finanzmarktkapitalismus
schreibungen“ durch die Finanzkrise weltweit
auf bis zu 945 Mrd. USD. Die direkten Verluste
aus den Subprime-Hypotheken wurden mit 45
Mrd. USD angegeben, die Ausfälle bei anderen Kreditsegmenten mit 225 Mrd. USD. Der
Löwenanteil entfiele auf Abschreibungen und
bilanzielle Wertberichtigungen: insgesamt 720
Mrd. USD (Börsen-Zeitung vom 09.04.2008).
Anderen Berechnungen weisen die Verluste
am Subprime-Hypothekenmarkt höher aus,
mit ca. 200 Mrd. USD (Sommer 2008). Ein
paar Monate später legte der IWF eine neue
Berechnung vor. Danach belaufen sich die zu
erwartenden Verluste auf 1,4 Billionen USD
(IWF 2008). Joseph Stiglitz erwartet „einen
Schaden von mehr als zwei Billionen Dollar“
(FAS vom 21.09.2008), Nouriel Roubini schätzt
die weltweiten Kreditausfälle bereits auf drei
Billionen USD (Faz.net, 28.01.2009). Inzwischen korrigierte der IWF seine Schätzung der
erwarteten Verluste der Banken und Finanzinstitutionen nach oben, auf vier Billionen USD
(IWF 2009). Fast täglich erreichen uns neue,
immer höhere Schätzungen.
Bemerkenswert an diesen Projektionen
ist der hohe Anteil der Abschreibungen und
Wertberichtigungen. Diese machen mindestens zwei Drittel der Gesamtverluste aus.
Die Relationen verschieben sich noch weiter,
wenn die Kursverluste von Aktien und anderen
börsennotierten Papieren in die Rechnung
einbezogen werden. Zwischen Oktober 2007
und Oktober 2008 verringerte sich der Börsenwert aller Aktien von 62,57 Billionen auf
32,25 Billionen USD. Das entspricht einem
„Verlust“ von 30,32 Billionen USD.15 Rechnet
man den zwischen 2006 und 2008 verzeichneten
Wertverlust bei US-Immobilen in Höhe von
4,1 Billionen USD hinzu, so erhält man eine
Größe von 39,4 Billionen USD. Aber das ist
noch nicht alles. Berechnungen der Asiatischen
Entwicklungsbank zufolge vernichtete die Krise
2008 weltweit Finanzaktiva im Umfang von 50
Billionen US-Dollar. Das sind 50.000 Milliarden,
also 5012 oder 50.000.000.000.000 US-Dollar
(ADB 2009). Die wirtschaftlichen und politischen Folgen dieser ungeheuren Devaluation
sind unabsehbar. Auf jeden Fall aber kommt es
dadurch zu massiven Verschiebungen in den
37
Vermögensstrukturen, Wirtschaftspotenzialen
und Machtverhältnissen weltweit.
Die Zahlen sind das eine, ihre ökonomische
Bewertung aber ist etwas anderes. Um hier
zu einem vernünftigen Ergebnis zu gelangen,
ist es unerlässlich, eine Bezugsgröße für die
ermittelten Kosten zu bestimmen. Ohne eine
solche besitzen Zahlen keine ökonomische
Aussage. Als Bezugsgrößen bieten sich an: das
Finanz- oder Geldanlagevermögen, die Summe
aller Finanzaktiva oder das Gesamtvermögen
der Welt, ausgewiesen in US-Dollar. Über
letztere gibt es keine zuverlässige Information,
die weltweit ausstehenden Finanzaktiva aber
werden für 2008 mit ca. 200 Billionen USD
veranschlagt.16 Daran gemessen, belaufen sich
die Verluste durch die Finanzkrise lt. IWF auf
0,5 beziehungsweise 0,7 Prozent. Legt man der
Rechnung jedoch den Verlust von 50 Billionen
USD zugrunde, so wären es 25 Prozent!
Für das Verständnis dessen, was ein Verlust
dieser Größenordnung volkswirtschaftlich
bedeutet, ist es erforderlich, sich klarzumachen, was sich dahinter verbirgt. Denn
Kursverluste bei Aktien, Wertberichtigungen
bei Wertpapieren, Abschreibungen auf Buchwerte, Kreditausfälle, Einbußen infolge von
Wechselkursänderungen, Spekulationsverluste
usw. sind nicht gleichzusetzen etwa mit einer
Annullierung von Guthaben, der Sperrung von
Bankkonten, dem Einzug von Bargeld oder
dem Verruf von Münzen. Während erstere
Vorgänge Geldkapital betreffen, größtenteils
fiktives Kapital, beziehen sich letztere auf Geld
und tangieren daher die Liquidität der Wirtschaftssubjekte. Zwischen beiden Ereignissen
ist sorgfältig zu unterscheiden.
Hinter den Begriffen „Kosten“ und „Verluste“
verbergen sich ökonomisch durchaus differente
Kategorien und Größen, deren additive Aufrechnung sich eigentlich verbietet. Trotzdem
aber wird gerade dies immer wieder versucht,
wie ein Blick in die Literatur zeigt. Da die
„Kosten“ der Krise sich bisher überwiegend als
Verluste von Geldkapital und fiktivem Kapital
darstellen, ist es nicht verwunderlich, dass die
Hauptbetroffenen Banken, Investmentfonds
und Finanzinstitutionen sind. Lt. IWF entfallen
49 Prozent der Kosten auf Banken, 15 Prozent
auf Hedgefonds, 13 Prozent auf Pensionsfonds
38
und 12 Prozent auf Versicherungsunternehmen.
Der Staat ist unmittelbar nur mit elf Prozent
beteiligt (IWF 2008). Dem steht allerdings
entgegen, dass Regierung und Notenbank
(FED) in den USA bis März 2009 bereits
12,75 Billionen USD eingesetzt haben, um die
Finanz- und Wirtschaftskrise zu bekämpfen.
Einen Teil dieser Kosten trägt letztlich, direkt
oder indirekt, gewiss der Steuerzahler.
Der wichtigste Punkt für das Verständnis
betrifft in diesem Kontext den Begriff des
fiktiven Kapitals und seine Abgrenzung gegenüber den Termini Geld, Geldkapital, Kapital
und Finanzvermögen. Dabei wird unter Geld
Liquidität im engeren Sinne (Bargeld und
Sichteinlagen) verstanden, sowie geldnahe
Aktiva (Termineinlagen bis zu zwei Jahren,
Spareinlagen mit dreimonatiger Kündigungsfrist, Geldmarktpapiere, -fondsanteile und
Ähnliches). Dies entspricht der Definition des
Geldmengenaggregats M 3 im Europäischen
Währungssystem. Demgegenüber umfasst
das Geldkapital alle Bankeinlagen und finanziellen Forderungen mit einer Laufzeit von
mehr als zwei Jahren sowie Aktien, Anleihen,
Pfandbriefe, Obligationen, Zertifikate und
andere Verbindlichkeiten der Finanzinstitute. Beide Größen zusammen bilden das
Geld- oder Finanzvermögen, die Finanzaktiva
einer Volkswirtschaft. Quantitativ entspricht
diese Größe dem Kreditvolumen, das heißt
der Summe aller Verbindlichkeiten. Es saldiert
sich daher volkswirtschaftlich, sofern man von
den Auslandsbeziehungen absieht, auf Null. In
einer offenen Volkswirtschaft entspricht das
Finanzvermögen den finanziellen Forderungen
gegenüber dem Ausland. Im Unterschied hierzu ist Kapital eine materielle und funktionale
Kategorie: Als Produktionsfaktor dient es der
Güter- und Dienstleistungsproduktion, als
Produktionsverhältnis bildet es das Pendant
zur Arbeit innerhalb des sozialökonomischen
Grundverhältnisses.
Fiktives Kapital ist nun weder Geld noch
Kapital. Gleichwohl aber ist es bilanzieller
Bestandteil des Geldkapitals wie des Finanzvermögens. Und das in beträchtlichem Umfang.
Es existiert in Form von Aktien, Anleihen und
anderen Titeln. Der Marktwert dieser Papiere
ändert sich mit der Lage am Markt, ihr Besitz
Ulrich Busch
aber bildet die Grundlage für regelmäßige
Revenuen. Kapitalisiert man diese Erträge, so
erhält man den „Wert“ des fiktiven Kapitals.
Es ist damit nichts anderes als der „Preis
einer Revenue“ (Hilferding 1955: 143), das
heißt „rein illusorisches Kapital“; sein Wert
ist „stets nur der kapitalisierte Ertrag, d.h. der
Ertrag, berechnet auf ein illusorisches Kapital
nach dem bestehenden Zinsfuß“ (Marx 1970:
484, 485).17
Da die verschiedenen Formen des fiktiven
Kapitals einen gewichtigen Teil des Bankund Finanzkapitals sowie des gesamtwirtschaftlichen Finanzvermögens ausmachen,
erscheint dieses selbst als größtenteils fiktiv
und substanziell durch nichts untersetzt. Es
steht daher auch quantitativ in keinem wie
auch immer konstituierten Verhältnis zum
Umfang der Produktion. Dies war bereits im
19. und beginnenden 20. Jahrhunderts so, wie
sich bei Marx und Hilferding nachlesen lässt,
und gilt erst recht für den Finanzkapitalismus
der Gegenwart, wo inzwischen die inflationäre
Aufblähung und spekulative Vervielfachung
der nominalen Finanzvermögen jedes nachvollziehbare Maß überschritten hat. Unter der
„Akkumulation des Geldkapitals“ aber, schrieb
Marx, „ist zum großen Teil nichts zu verstehn“
als die Akkumulation von Zins- und Renditeansprüchen, die „Akkumulation des Marktpreises, des illusorischen Kapitalwerts dieser
Ansprüche“ (ebd.: 486). Es wäre daher unsinnig,
zwischen der Höhe der Finanzvermögen und
dem Umfang der jährlichen Produktion einen
quantitativen Zusammenhang herzustellen.
Geradezu absurd mutet die Forderung an, die
über Jahrzehnte aufgetürmten Finanzvermögen
auf den Umfang des jährlichen Sozialprodukts
begrenzen zu wollen. Der einzige ökonomisch
relevante Zusammenhang, der hier auszumachen ist, besteht in der Deckung der Zins- und
Renditeansprüche des Geldkapitals durch die
Gewinne der gesamtwirtschaftlichen Produktion. Gelingt diese nicht vollumfänglich, so sinkt
die Durchschnittsrendite am Kapitalmarkt, wie
die Entwicklung der letzten Jahre demonstriert:
Seit den 1990er Jahren verringert sich der reale
Kapitalmarktzins, von durchschnittlich vier auf
ca. zwei Prozent. Hinzu kommt, dass zudem
die Rate des Wirtschaftswachstums langfristig
Krisenverlauf und Krisendeutung im globalen Finanzmarktkapitalismus
sinkt, womit sich die Verwertungsbedingungen tendenziell spürbar verschlechtern (vgl.
Abb. 3).
Mit dem Ertragsrückgang wird zugleich das
fiktive Kapital entwertet – ein Vorgang, der
jedoch volkswirtschaftlich relativ unerheblich
ist, ebenso wie die nominalen Wertverluste,
die sich derzeit als „Kosten“ der Krise in den
Wertberichtigungen und Abschreibungen der
Banken niederschlagen. Selbst wenn diese
zweistellige Billionenbeträge erreichten, würde
die Welt „durch das Zerplatzen dieser Seifenblasen von nominellem Geldkapital […] um
keinen Heller ärmer“ werden. Ebenso wenig
wie sie durch die fiktive Wertsteigerung an
den Finanzmärkten, durch die Zunahme des
nominalen Finanzvolumens, reicher geworden
ist. „Soweit die Entwertung oder Wertsteigerung dieser Papiere unabhängig ist von der
Wertbewegung des wirklichen Kapitals, das sie
repräsentieren, ist der Reichtum einer Nation
gerade so groß vor wie nach der Entwertung
oder Wertsteigerung.“ (Ebd.) Woraus folgt,
dass sowenig wie das fiktive Kapital wirkliches
Kapital ist, die Wertkorrekturen desselben
wirkliche Wertverluste sind. Sie sind deshalb
als „fiktive Kosten“ akkurat von den echten
Kosten der Krise zu unterscheiden.
Nichtsdestotrotz aber haben Wertkorrekturen an den Finanzmärkten Einfluss auf die
reale Ökonomie. Dies gilt verstärkt im entwickelten Finanzkapitalismus. Die Entwertung
39
von Geldkapital bedeutet heute „wirklichen
Stillstand der Produktion und des Verkehrs“
(ebd.), die massenhafte Insolvenz von Unternehmen, den Anstieg von Arbeitslosigkeit,
Armut und sozialem Elend. Infolge der Dominanz der Finanzmärkte gegenüber Wirtschaft
und Gesellschaft bleibt die Krise nicht auf
die Finanzsphäre beschränkt, auch nicht auf
die nationale Wirtschaft, sondern wird zur
globalen Krise, zur Weltwirtschaftskrise, mit
gravierenden ökonomischen, sozialen und
politischen Folgen, welche sich als „echte“
Kosten der Krise darstellen.
5. Folgen und Konsequenzen
Die Folgen der aktuellen Wirtschaftskrise sind
derzeit nicht abzusehen. Dies gilt insbesondere
für die weltpolitischen und -wirtschaftlichen
Konsequenzen, aber auch für die Höhe der finanziellen, ökonomischen und sozialen Kosten
sowie die Art und Weise, wie und durch wen
diese Kosten letztlich beglichen werden. So viel
aber steht fest: Nach der Krise wird die Welt
nicht mehr dieselbe sein wie vor der Krise.
Es wird gravierende Veränderungen in den
finanz- und volkswirtschaftlichen Strukturen
geben, Machtverschiebungen zwischen den
Wirtschafts- und Währungsgebieten, Korrekturen in der Weltfinanzordnung. Dies impliziert
die Hoffnung, dass es im Ergebnis der Krise
Differenz
BIP-Wachstum und
Kapitalmarktzins
Abbildung 3: BIP-Wachstum
undzwischen
Kapitalmarktzins
Deutschland
1950 bis 2008
12
10
8
Prozent
6
4
2
0
-2
Kapitalmarktzins real
-4
10 Per. Gleitender Durchschnitt (Kapitalmarktzins real)
BIP-Wachstum real
Polynomisch (BIP-Wachstum real)
-6
2008
2006
2004
2002
2000
1998
1996
1994
1992
1991
1989
1987
1985
1983
1981
1979
1977
1975
1973
1971
1969
1967
1965
1963
1961
1960
1958
1956
1954
1952
1950
Quelle: Deutsche Bundesbank, eigene Berechnungen.
40
zu einer Wende in der weltwirtschaftlichen
Entwicklung kommt, zu einer historischen
Neuorientierung, welche die Bewältigung der
ökonomischen und ökologischen Herausforderungen der Zukunft möglich macht und
so der Menschheit das Überleben garantiert.
Sicher ist dies jedoch keineswegs. Es kann auch
anders kommen: zu totalitären Regimen, zu
Kriegen und Machtkämpfen um die knappen
Ressourcen. Ob es gelingt, die Chance der
Krise für einen Neuanfang zu nutzen, hängt
wesentlich von den politischen Akteuren ab,
deren Aufgabe es ist, die Weltwirtschaft aus
der Krise zu führen.
Obwohl dies alles offene Fragen sind, lassen
sich einige Konsequenzen der Krise schon
heute ausmachen. Diese sollen hier, soweit sie
die Wirtschaft betreffen, skizziert werden:
– Die Krise ging nicht nur von den USA
aus; sie trifft die US-Wirtschaft auch in
besonderem Maße. Damit setzt sich der
seit den 1970er Jahren zu beobachtende
Niedergang der Vereinigten Staaten fort,
der Verlust ihrer Hegemonialposition in
der Welt. Andere Regionen und Staaten
dagegen, insbesondere Europa, China und
Indien, werden erstarken, sodass wir im
Ergebnis der Krise „in die Normalität einer
multipolaren Welt eingetreten“ sein werden
(Wallerstein 2008: 5).
– Die marktradikale Ausrichtung der Weltwirtschaft wird sich so nicht fortsetzen.
Es ist mit Prozessen von Re-Regulierung,
Dekommodifizierung und Deprivatisierung
zu rechnen, mit einem stärkeren Engagement des Staates in der Wirtschaft und
mit Protektionismus. Die Krise, welche die
tiefste Zäsur im Wirtschaftsleben seit dem
Zweiten Weltkrieg ist, bildet möglicherweise
einen Wendepunkt in der historischen Entwicklung des Kapitalismus. Sie könnte sich
als „Übergangskrise“ zu einer veränderten
Regulationsweise des Finanzkapitalismus
erweisen, möglicherweise sogar als Ausgangspunkt für einen „globalen Neustart“,
für eine Entwicklung zu einer „Wirtschaftsdemokratie jenseits des Finanzkapitalismus“
(Hengsbach 2009: 60).
– Die neoliberale Ideologie und die einseitig
Ulrich Busch
die ökonomische Theorie dominierende
neomonetaristische Doktrin sind durch
die Krise erheblich desavouiert und haben
an Glaubwürdigkeit verloren. Es zeichnet
sich daher eine stärkere Beachtung anderer,
insbesondere keynesianischer Ansätze im
wirtschaftswissenschaftlichen Denken ab
und damit die Möglichkeit einer breiteren
Diskussion alternativer Ideen und Vorschläge.
– Die gegenwärtige Krise ist eine systemische
Krise des Finanzmarktkapitalismus und
eine organische Krise der kapitalistischen
Weltwirtschaft. In ihr treffen konjunkturzyklische Momente mit strukturellen
Verwerfungen zusammen, Wachstums- mit
Verwertungsproblemen, Integrationsprobleme mit globalen Ungleichgewichten. Die
Wirtschaftskrise ist nicht zu trennen von
der Umweltkrise, der Energiekrise, der Klimakrise, der Ernährungskrise und anderen
Krisenerscheinungen. Ihr ökonomischer
Kern ist jedoch in einer Überakkumulation von Kapital und in der spekulativen
Aufblähung der Finanzsphäre zu sehen.
Deshalb besteht der entscheidende Beitrag
zur Entschärfung und Lösung der Krise in
einer massiven Kapitalentwertung, was in
den enormen Kosten der Krise seinen Niederschlag findet. Wie diese Kosten verteilt
werden, wer sie letztlich trägt und ob es
gelingt, mit dieser Frage eine grundsätzlich
andere Verteilung des gesellschaftlichen
Reichtums zu verbinden, ist von entscheidender Bedeutung für die Zukunft.
– Die Krise und die Strategien zu ihrer
Überwindung ziehen einen enormen Anstieg der Staatsschulden nach sich. Daraus
ergeben sich langfristig neue Zwänge, aber
auch neue Handlungserfordernisse und
-möglichkeiten für den Staat, insbesondere in verteilungs- und steuerpolitischer
Hinsicht.
– Ein Symptom für die Tiefe der Wirtschaftskrise ist die Tendenz zur Deflation. Wird
diese Realität, so würde die Rezession in
eine Depression übergehen, und die Gefahr
einer lange währenden Abwärtsspirale wäre
gegeben. Eine andere Gefahr geht von der
Strategie der Notenbanken zur Bekämpfung
Krisenverlauf und Krisendeutung im globalen Finanzmarktkapitalismus
der Krise aus: die Inflation. So rechnet zum
Beispiel Thomas Straubhaar (HWWI) damit, dass auf Deutschland „eine gewaltige
Teuerungswelle“ zukommt: „Für die Zeit
nach 2010 sei eine Geldentwertung von
bis zu zehn Prozent pro Jahr zu erwarten.“
(Berliner Zeitung vom 21./22.02.2009)
– Die Krise bietet Chancen für neue Lösungsansätze und Reformen. Sie befördert damit
den gesellschaftlichen Evolutionsprozess.
Realisiert wird dieser Prozess zunächst jedoch noch im ordnungspolitischen Rahmen
des globalen Finanzkapitalismus.
Anmerkungen
1
2
3
4
5
6
Das Konjunkturpaket „Beschäftigungssicherung durch
Wachstumsstärkung“ hat einen Umfang von 23 Mrd.
Euro. Es umfasst die befristete Wiedereinführung der
degressiven Abschreibung, die höhere steuerliche Absetzbarkeit von Handwerkerleistungen, Investitionen
in den Bereichen Verkehr und Gebäudesanierung und
ähnliche Maßnahmen. Die Kosten dafür verteilen
sich zu etwa gleichen Teilen auf Bund, Länder und
Gemeinden.
Bezeichnenderweise ist der für den Konjunkturverlauf
maßgebende ifo-Geschäftsklima-Index bereits seit
Juni 2007 kontinuierlich gefallen (www.cesifo-group.
de/portal/page/portal/ifoHome/a-winfo/d6zeitreihen...
15.05.2009).
„Ein immer wachsender Teil des Kapitals der Industrie
gehört nicht den Industriellen, die es anwenden. Sie
erhalten die Verfügung über das Kapital nur durch die
Bank, die ihnen gegenüber den Eigentümer vertritt.
Andererseits muß die Bank einen immer wachsenden
Teil ihrer Kapitalien in der Industrie fixieren. Sie
wird damit in immer größerem Umfang industrieller
Kapitalist. Ich nenne das Bankkapital, also Kapital
in Geldform, das auf diese Weise in Wirklichkeit in
industrielles Kapital verwandelt ist, das Finanzkapital.“
(Hilferding 1955: 335).
Der von Hilferding und Lenin verwendete Begriff
des Finanzkapitals ist vom umgangssprachlichen
Verständnis zu unterscheiden. So fasst Wikipedia
unter „Finanzkapital“ wenig präzise die Gesamtheit
der Banken, finanziellen Kapitalgesellschaften und
Aktieninhaber; Institutionen und Personen also, die
eine Rendite erzielen, indem sie Geld verleihen bzw.
anlegen oder vergleichbare Kredit- und Geldgeschäfte
tätigen. In einer noch weiter gehenden Bestimmung
wird jegliches Geldvermögen bzw. jede Geldforderung
als Finanzkapital definiert.
Inwieweit eine solche Verselbstständigung der Geldsphäre gegenüber der realen Ökonomie möglich bzw.
tatsächlich zu konstatieren ist, ist umstritten; vgl. dazu
Heine/Herr 1996.
Allein hier belaufen sich die täglich getätigten Um-
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
41
sätze auf eine Summe von 1,5 Billionen USD, einem
Vielfachen des transnationalen Güterhandels.
Während die Wirtschaftsleistung in der Welt gegenwärtig auf rund 60 Billionen USD geschätzt wird, liegt
die globale Aktienmarkt-Kapitalisierung bei ca. 55
Billionen USD, handelbare Schuldverschreibungen
sind etwa 70 Billionen USD wert, und das Volumen
der Derivate umfasst nominal 1.600 Billionen USD,
das 27fache der realen Wirtschaftsleistung (Berliner
Zeitung vom 01.02.08).
Vgl. dazu Schumpeter 1961; Tichy 1976; Kromphardt
1977; Ruben 2008.
Für die Wirtschaft der DDR gilt dies nur mit großen
Einschränkungen.
Andere Autoren wie zum Beispiel Stephan Krüger
datieren die Zyklen kürzer, sodass es insgesamt zehn
sind (vgl. Krüger 2007: 113). Abelshauser unterteilt
die beiden ersten Zyklen noch einmal, sodass er bis
heute neun zählt (Abelshauser 2004: 297).
Der Tiefpunkt der Kriegs- und Nachkriegsentwicklung
wurde 1947 erreicht. Eigentlich beginnt also bereits hier,
beziehungsweise 1948, der erste Zyklus. Verlässliche
statistische Daten liegen aber erst seit 1950 vor.
Einiges spricht dafür, den sechsten Zyklus erst 2004 als
beendet anzusehen, da die Erholung zunächst wenig
stürmisch verlief und die konjunkturelle Entwicklung
durch eine Seitwärtsbewegung gekennzeichnet war.
Eine Analyse der Quartalszahlen zeigt jedoch, dass
der untere Wendepunkt des Zyklus bereits Mitte
2003 auszumachen ist, was die hier vorgenommene
Datierung rechtfertigt.
Im zweiten Quartal 2006 betrug das Wachstum des
BIP preisbereinigt 1,5%, im dritten Quartal aber nur
noch 0,7%. Im produzierenden Gewerbe halbierte
sich die Wachstumsrate im zweiten Halbjahr ebenfalls
gegenüber dem ersten Halbjahr 2006. Dies spricht
dafür, das Ende des Aufschwungs bereits Mitte 2006
anzusetzen.
Dieser geht davon aus, dass sich die wirtschaftliche
und gesellschaftliche Entwicklung in langen Zyklen
(„Wellen“) von ca. 55 Jahren vollzieht und dass jeder
Zyklus einem technologisch begründeten Schema von
„Aufschwung“, „Ernte“, „Abschwung“, „Krise“ und
„Erholung“ folgt (vgl. Hedtke 1990; Gebicke 1997;
Ruben 2008). Hiervon ausgehend lässt sich mühelos
eine Periodisierung der kapitalistischen Ära, nach
Auffassung einiger Autoren sogar der Weltgeschichte, vornehmen: Der erste Zyklus (ca. 1790–1844)
wäre danach die Etappe der Industrialisierung, der
zweite Zyklus (ca. 1845–1896) die Etappe des klassischen Industriekapitalismus. Den dritten Zyklus
(ca. 1897–1951) könnte man mit Rosa Luxemburg
als „Kolonialisierungskapitalismus“ bezeichnen. An
ihn schließt sich ein vierter Zyklus an (1952–2007),
die „fordistische“ Etappe des Kapitalismus. Die Aufstiegsperiode umfasst den Zeitraum bis 1974, die
Abstiegsphase die Zeit danach bis etwa 2008.
Von den 30,32 Billionen USD Marktkapitalisierungsverlust entfallen 8,2 Billionen auf die USA, 2,84 Billionen
auf China, 2,06 Billionen auf Großbritannien und
1,05 Billionen USD auf Deutschland („Verbranntes
Aktienvermögen“, 18.10.2008; nach „http://wirtschaftsquerschuss.blogspot.com/search?q“).
Die Finanzaktiva umfassen Bankeinlagen, Schuld-
42
verschreibungen und Aktien. Die Bankaktiva und die
Schuldverschreibungen werden jeweils auf rund 75
Billionen USD geschätzt, die Börsenkapitalisierung
betrug Ende 2007 rund 50 Billionen USD (vgl. Deutsche
Bundesbank 2008: 16). Darüber hinaus zirkulieren
auf den Finanzmärkten verschiedene Formen von
Derivaten. Ihr Gesamtumfang wird für Ende 2007 auf
rund 600 Billionen USD geschätzt (Bischoff 2008: 42).
Hierbei handelt es sich um abgeleitete Finanzprodukte,
die weder Geld noch Geldkapital sind, aber mitunter
einem sehr weit gefassten Liquiditätsbegriff zugerechnet werden.
17 „Alle diese Papiere“, schreibt Karl Marx, „stellen in der
Tat nichts vor als akkumulierte Ansprüche, Rechtstitel,
auf künftige Produktion, deren Geld- oder Kapitalwert
entweder gar kein Kapital repräsentiert, wie bei den
Staatsschulden, oder von dem Wert des wirklichen
Kapitals, das sie vorstellen, unabhängig reguliert wird“
(Marx 1970: 486); was für Aktien gilt.
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Klaus Müller
Vom Marktversagen zum Staatsversagen –
alles Krise oder was?
Konjunkturkrise, Bankenkrise, Finanzkrise,
Börsenkrise, Immobilienkrise, Kreditkrise,
Armutskrise, Umweltkrise, Wachstumskrise,
Vertrauenskrise, Sinnkrise ... Man könnte
denken, das kapitalistische Wirtschaftssystem
als Ganzes befinde sich im akuten Krisen- und
Auflösungszustand. Die neue Situation wirft
Fragen auf. Auf einige soll im Folgenden eingegangen werden:
1) Hat angesichts der Häufung von Krisen der
Markt versagt?
2) Gibt es eine Wachstumskrise?
3) Vollziehen Staat und neoliberale Theorie
einen Sinneswandel?
4) Geldschleusen auf – alles wird gut?
Haben Markt und
Marktwirtschaft versagt?
Schwere Krisen erschüttern Glaubwürdigkeit
und Image der freien Marktwirtschaft. Läuten
sie auch deren finale Phase ein? Einige sind
davon überzeugt, manche hoffen, andere befürchten es. Krise, vom altgriechischen Verb
„krinein“ abgeleitet (trennen, unterschieden),
bedeutet, dass ein Wendepunkt erreicht ist, die
Situation schwieriger und gefahrvoller wird. Zu
Beginn des Jahres 2009 häufen sich die Alarmzeichen: Mehr als 20 Prozent gehen die Umsätze
des verarbeitenden Gewerbes im Februar 2009
im Vergleich zum Vorjahr zurück. Der Umsatz
der Autohersteller und ihrer Zulieferer sinkt
sogar um 40 Prozent. Die Zahlen markieren
einen tiefen Einschnitt. Nicht wenige meinen,
dass die Häufung missliebiger Zustände und
deren Dimensionen eine allgemeine Krise des
kapitalistischen Marktsystems anzeigen. Der
Kapitalismus sei zwanzig Jahre nach dem Ende
des sich „real existierend“ nennenden Sozialismus ebenfalls gescheitert. Zumindest treffe
dies auf die gegenwärtig dominierende Art des
Kapitalismus zu. Jeder könne sehen, dass die
Marktwirtschaft Probleme hervorbringe, die
sie nicht lösen kann.
Wie oft schon wurden angesichts zyklischer
Überproduktionskrisen Grabreden auf das System verfasst? Ebenso häufig, wie Jubelgesänge
über das Ende jeglicher Krisen erklangen, wenn
sich die Wirtschaft nach den großen Flauten
periodisch erholte, Investitionen, Produktion
und Beschäftigung wieder anzogen. Schwankungen der Wirtschaftsaktivität sind so alt
wie das kapitalistische System. Das Auf und
Ab der Produktion, der Beschäftigung und
der Preise, die Purzelbäume der Börsenkurse
werden seit jeher begleitet vom Wechsel der
Gemütslage. Dem euphorischen Übermut der
Aufschwungzeiten (der Konjunkturzyklus ist
endgültig tot) folgt der Katzenjammer. Von
„himmelhoch jauchzend“ bis „zu Tode betrübt“
ist der Weg kurz. Auch diesmal sei alles anders!
Und es werde nie wieder so, wie es war! Jede
Krise ist auf eine spezifische Weise neu. Sie
weist Merkmale auf, die vorangegangene nicht
besaßen. Und doch wiederholen sich in ihr nur
die alten, bekannten Vorgänge.
Beim „einfachen“ Bürger kam die Krise, wie
in den Jahren zuvor der Aufschwung, zunächst
(noch) gar nicht an. Das Weihnachtsgeschäft
2008 lief nicht schlechter als sonst. Buch- und
Automobilmessen spürten keinen Einbruch.
Die Cebit verzeichnete zwar einen Besucherrückgang, die Jecken in den Fastnachtshoch-
Vom Marktversagen zum Staatsversagen – alles Krise oder was?
burgen aber feierten ausgelassen wie eh und je.
Nichts war zu spüren von einer Karnevalskrise,
es sei denn, man betrachtet das Treiben der
Narren selbst als Teil eines kulturellen Tiefstandes. Dass die Blasen an den Warenbörsen
platzten, hatte zeitweilig sogar sein Gutes. An
den Tankstellen zahlte man wieder moderate
Preise. Doch Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit
nahmen zu, die Auftragseingänge gingen
dramatisch zurück; die Frühindikatoren der
Konjunkturentwicklung ließen Schlimmes
erahnen.
Was am aktuellen Krisenkonglomerat ist
neu? Sicher nicht die weltweite Vernetzung
der Krisenerscheinungen. Anderenfalls hätte
man die Rezession 1929–1933 nicht Weltwirtschaftskrise nennen dürfen. Neu scheinen
die synchrone, auf den ersten Blick zufällige
Häufung der wechselseitig miteinander verbundenen Krisen, deren Ausmaße sowie die
vermeintliche Radikalität und Konsequenz
staatlicher Gegensteuerung zu sein.
Kern der gegenwärtigen Weltwirtschaftskrise ist die zyklische Überproduktion. Abgesehen
von diversen Besonderheiten ist jene auch die
Wurzel der Finanzkrise: Bei einem Wachstumsbedarf im güterwirtschaftlichen Bereich hätte
es vermutlich nicht zu einer Überschwemmung
der Finanzmärkte kommen können. Die von
renditegierigen Anlegern kreditfinanzierten
Investitionen in den Immobilienmarkt führten
zu Überangebot und Preissturz, der bewirkte,
dass Schuldner ihre Kredite nicht mehr zurückzahlen konnten. Nicht benötigtes Warenkapital
überflutet die Märkte. Auch deshalb mussten
Immobilien- und Rohstoffblasen platzen.
Rückwirkend erhöhen die Kurseinbrüche an
den Börsen die Überproduktion, weil sie Lust
und Möglichkeiten der Investition und des
Konsums beschränken.
Über kaum ein anderes wirtschaftswissenschaftliches Problem schrieben die Ökonomen
so viel und so viel Unterschiedliches wie über
das Konjunkturphänomen. Die Ansichten über
dessen Ursachen reichen von diversen monokausalen Begründungen über multikausale
Erklärungen bis zur Meinung, wirtschaftliche
Schwankungen seien ein stochastischer Prozess,
der sich tiefgründigen Deutungen entziehe. Die
phänomenalistischen Krisenbeschreibungen
45
bewegen sich in der Welt des sinnlich Wahrnehmbaren, erfassen dort kausale Ketten, scheitern aber daran, die vielfältigen Erscheinungen
auf ihr Wesen zurückzuführen. Immerhin sind
die Deutungsversuche so zahlreich, dass sich
Systematisierungen lohnen. Neben exogenen
(außenwirtschaftlichen, nichtökonomischen)
werden endogene (innenwirtschaftliche, ökonomische) Krisenursachen unterschieden. Es
gibt güter- und geldwirtschaftliche Theorien,
psychologische und mechanistische Auffassungen, Überinvestitions- und Unterkonsumtionsmodelle sowie (wahl-)politische Deutungen.
Woran liegt es, dass die theoretische Ökonomie das Problem derart kontrovers diskutiert? Offenbar bereiten ihr die Totalität und
Komplexität ihres Untersuchungsgegenstandes
Schwierigkeiten. Sie fördert zuhauf brauchbares
Partialwissen zutage, vermag dieses aber nur
selten in ganzheitliche Betrachtungsweisen
einzubinden. Die Welt ist komplex, unsere Vorstellungen von ihr sind es nicht. Die
Naturwissenschaften haben nach einfachen,
universalen und zeitlosen Gesetzen gesucht.
Die Wirtschaftswissenschaften ahmten dies
nach. Auch sie wollten im Glanz eleganter
Modelle erstrahlen und beweisen, dass sie an
Exaktheit anderen Wissenschaften in nichts
nachstehen. Die dabei in Kauf genommene
Reduktion führte sie in eine Sackgasse.
Man kann darüber streiten, ob Überproduktionskrisen ein Defekt im Regulierungssystem sind. Ganz bestimmt aber sind sie ein
notwendiges Element des Marktmechanismus.
Sie resultieren letztlich daraus, dass der gesellschaftliche Charakter der Produktion sich im
Widerspruch zur privaten Gestaltung dieses
Prozesses befindet. Der Verwertungsdrang
zieht Überakkumulation zwangsläufig nach
sich. Überakkumulation und Überproduktion sind nicht Ausdruck des Versagens der
Märkte, sondern sie sind untrennbarer und
notwendiger Bestandteil privatkapitalistischer
Marktregulierung. Von einem Versagen ließe
sich nur sprechen, wenn der Marktmechanismus Ungleichgewichte a priori ausschließen
könnte. Genau das aber kann er nicht. Das
Ergebnis von Prozessen kann man nur daran
messen und bewerten, was erreichbar ist, nicht
an Unerreichbarem. Das Ziel der maximalen
46
privaten Kapitalverwertung führt selbst bei
akkurater Marktforschung der Unternehmen zu
periodischen Angebotsüberschüssen. Spontan
und nachträglich werden gesamtwirtschaftliche und zweigliche Ungleichgewichte durch
massenhafte Kapitalentwertung tendenziell
beseitigt. Dualität und Funktionalität des marktwirtschaftlichen Regulierungsmechanismus
sind offensichtlich: Einerseits zeigen zyklische
Krisen, wie ökonomische Widersprüche eskalieren. Andererseits stellen sie die Art und
Weise dar, wie diese Disproportionen für eine
gewisse Zeit überwunden werden.
Die Krise ist nicht nur ein Indiz dafür,
dass sich Ungleichgewichte verschärft haben.
Sie ist auch die Form, in welcher der Marktmechanismus zum Gleichgewicht zurückzukehren versucht. Die temporäre Beseitigung
oder Minderung der Disproportionalität in
der Rezession ist eine Voraussetzung für den
Neubeginn und die Anpassung der Strukturen. Insofern haben diejenigen recht, die in
der Krise auch die Chance sehen, verkrustete,
überholte Ordnungen aufzubrechen und Neues
zu wagen. Schumpeters pastorales Wort von
der „schöpferischen Zerstörung“ erhält hieraus seinen rationalen Sinn. Man sollte jedoch
nicht übersehen, dass Zerstörung zunächst
keineswegs „schöpferisch“ ist. Denn sie verwüstet Industrien, vernichtet Unternehmen
und ruiniert Existenzen. Manchmal kann sie
den Boden für Neues und Besseres bereiten.
Dies kann lange dauern und auch misslingen,
wie die Entwicklung in Ostdeutschland nach
der Wende zeigt (vgl. Busch 2002; Busch et
al. 2009).
Wachstumsverlangsamung =
Wachstumskrise?
Überproduktion und Überakkumulation bedeuten, dass die zahlungsfähige Nachfrage zu
gering ist, das Produzierte zu übernehmen.
Insofern scheint der Gedanke sinnvoll zu
sein, die Krise zu überwinden und langfristiges Wachstum zu garantieren, indem die
Nachfrage gestützt wird. Die „Abwrackprämie“, Instrument organisierter Vergeudung
und ökologisch ein Fehlgriff, ist bereits eine
Klaus Müller
konjunkturpolitische Erfolgsgeschichte. Mit
ihr konnte der Neuwagenkauf angekurbelt,
der Einbruch in der Automobilbranche aber
nicht verhindert werden. Das Problem besteht
darin, dass die weltweiten Automobilbaukapazitäten viel größer sind als die Nachfrage nach
Fahrzeugen. An diesem Widerspruch ändert
auch die „Abwrackprämie“ nichts. Sie kann
die Nachfrage nicht erhöhen, sondern nur
zeitlich vorziehen.
In den Konjunkturprogrammen sind alle
den Verbrauch stützenden Maßnahmen geeignet, den Weg aus der Rezession zu finden. Mehr
soziale Konsequenz wäre jedoch wünschenswert gewesen. Angemessene Mindestlöhne,
die Aufstockung der Hartz IV-Bezüge und
des Arbeitslosengeldes, Rentenerhöhungen,
generell die Anhebung der konsumstarken
Niedrigsteinkommen hätten die Nachfrage
beleben können. Haushalte mit einem monatlichen Nettoeinkommen zwischen 900 €
und 1.300 € konsumieren davon 97 Prozent,
Haushalte mit einem monatlichen Nettoeinkommen zwischen 5.000 € und 18.000 € nur 59
Prozent (vgl. Statistisches Bundesamt, Gruppe
VIII: Einkommens- und Verbrauchsstichprobe
2003). Da niedrige Einkommen hochgradig
konsumtiv sind, liegt der Gedanke nahe, durch
Umverteilung zu deren Gunsten die Nachfrage-,
Konsum- und Wachstumsschwäche zu mildern
(vgl. Hickel 1999). Das Volkseinkommen stieg
von 1991 bis 2007 von 1.192,57 Milliarden €
auf 1.823,66 Milliarden €, das heißt um 53
Prozent. Die Nettolohnquote (Anteil der Löhne
nach Abzug der Steuern und Sozialabgaben am
Volkseinkommen) ging in den Jahren 1991 bis
2006 von 40,3 Prozent auf 34,6 Prozent zurück,
während die Nettogewinnquote1 von 25 Prozent
auf 28,8 Prozent stieg (Schäfer 2007: 580). Wäre
die Nettolohnquote im angegebenen Zeitraum
konstant geblieben, hätte der Zuwachs des
privaten Verbrauchs bis zu etwa 100 Milliarden € höher ausfallen können. Dies wäre ein
nicht zu unterschätzender Wachstumsimpuls
gewesen.
Konjunkturelle Schwankungen verbinden
sich in hoch entwickelten Volkswirtschaften
mit einem tendenziellen Rückgang des langfristigen Wirtschaftswachstums. Dies wird in
Wirtschaftskommentaren als besorgniserre-
Vom Marktversagen zum Staatsversagen – alles Krise oder was?
47
gend beklagt. Man kann das verstehen. Vielen unrealistisch. Je stärker die Volkswirtschaft
gilt das Wirtschaftswachstum, gemessen am eines Landes ist, desto höher muss der absoAnstieg des realen Bruttoinlandsprodukts pro lute Zuwachs sein, um das gleiche prozentuale
Kopf der Bevölkerung, als Deus ex machina der Wachstum zu erreichen, bzw. desto kleiner
Moderne. Man glaubt, mit ihm die brennenden wird der prozentuale Zuwachs, um konstante
absolute Zuwächse zu produzieren. Daher
Probleme der Zeit lösen zu können.
In einer jüngeren McKinsey-Studie wird muss das Wachstumspotenzial im Verlaufe
behauptet, die BRD könne die Wende „zu einer des Wachstums abnehmen.
Die abnehmenden Wachstumsraten dieser
dynamischen Volkswirtschaft“ schaffen. Dazu
werde ein Wachstum von drei Prozent pro Volkswirtschaften sind kein Krisensignal oder
Jahr benötigt, was nicht unrealistisch sei. Eine Anlass zur Beunruhigung. Sie zeigen, dass die
Weltwirtschaft mache mit rund vier Prozent gestiegene Wirtschaftskraft, die sich im BIPNiveau äußert, Folge hoher Wachstumsraten
Wachstum vor, was geht.2
Deutschland erzeugt ein Bruttoinlandspro- der Vergangenheit, selbst zur Ursache des
dukt (BIP) von rund 2,5 Billionen €.3 Ein jähr- Rückgangs dieser Raten wird.
liches Wirtschaftswachstum von drei Prozent
Es fehlt nicht nur zunehmend der (Umentspricht einem Zuwachs von 75 Milliarden €.
Dieser könnte sich z.B. in einer zusätzlichen (!)
Produktion von drei Millionen Mittelklassewa- Tabelle 1: Durchschnittliche jährliche Wachsgen äußern. Stoßstange an Stoßstange gereiht, tumsraten des preisbereinigten Bruttoinlandsbeanspruchte diese Menge eine Strecke von produkts Deutschlands, in Prozent
12.000 km. Selbst in Viererreihe aufgestellt,
1951–1959
8,1
würde dafür die Entfernung zwischen Berlin
1960–1969
4,8
und Lissabon nicht reichen.
1970–1979
3,2
Weshalb und wozu sollte eine alternde,
1980–1989
1,9
konstante oder schrumpfende Bevölkerung bei
1990–1999
2,3
sinkenden oder stagnierenden Realeinkommen
2000–2007
1,4
der abhängig Beschäftigten und zunehmender
2008
1,3
konsumtiver Übersättigung der Bezieher von
2008, 4.Vj.
-1,6
hohen, vor allem Gewinneinkommen4 diesen
Quelle: (http://www.bundesbank.de/statistik/
gewaltigen Zuwachs benötigen? Bei einem jährstatistik_zeitreihen.php?open=&func=row&t
lichen Wachstum von drei Prozent verdoppelt
r=JJ5000& year= (14.07.2008; eigene Berechsich die Ausgangsgröße in rund 24 Jahren (das in
nungen); Deutsche Bundesbank: Monatsbericht
Deutschland erwirtschaftete BIP betrüge dann
März 2009, S. 61*
fünf Billionen €) und steigt in
72 Jahren auf das Achtfache
Abbildung 1: Konjunkturwellen in der Bundesrepublik Deutsch(BIP = 20 Billionen €). Selbst
land. Jährliche Wachstumsraten des preisbereinigten Bruttowenn es gelänge, die über die
inlandsprodukts, in Prozent
ungleiche Einkommens- und
Vermögensverteilung erzwungene Unterkonsumtion5 eines
20,0%
Teils der Bevölkerung noch
15,0%
als Wachstumspotenzial zu
10,0%
mobilisieren, wozu eine Umverteilung von oben nach
5,0%
unten erforderlich wäre: Die
0,0%
Vorstellung vom prozentual
-5,0%
konstanten und damit expo1950
1960
1970
1980
1990
2000
2010
nentiellen Wachstum ist für
die hoch entwickelten Länder
48
welt-)Raum, sondern auch die (Konsum-)Zeit,
um immer mehr Güter immer schneller zu
benutzen und zu verbrauchen. Der Vergleich
mit wirtschaftlich zurückgebliebenen Ländern, die relativ stärker wachsen, ist wenig
aussagekräftig. Bei geringeren Ausgangswerten
genügen schon kleine absolute Zuwächse, um
hohe Wachstumsraten zu erreichen. Wächst
das Bruttoinlandsprodukt in Deutschland um
ein Prozent, müsste es in Ländern wie Nigeria, Rumänien, Chile, Israel z.B. jeweils um
etwa zwanzig Prozent steigen, damit sich der
gleiche absolute Zuwachs ergibt (berechnet
nach: http://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_
L%C3%A4nder_nach_Bruttoinlandsprodukt).
Eine Sortierung der Länder auf der wirtschaftlichen Erfolgsskala anhand der Wachstumsraten
ist daher unsinnig.6
Deshalb sind übertriebene Erwartungen
an die Folgen einer notwendigen Stärkung
der Massenkaufkraft und Umverteilung zu
niedrigen, konsumintensiven Einkommen für
Wachstum und Beschäftigung unangebracht.
Je höher Einkommen und Konsum, desto
näher rücken die Sättigungsgrenzen. Mit zunehmendem Einkommen schwächt sich der
Konsumeffekt ab. Die steigende Ersparnis wird
dann nicht mehr durch Investitionen auf einem
zur Vollbeschäftigung erforderlichen Niveau
absorbiert. Dies ist für die Stagnationstheoretiker der 1940er Jahre John Maynard Keynes und
Jean Fourastié der Kern der unvermeidlichen
Wachstumsschwäche (vgl. Zinn 2000: 112).
Die Nachfrage künstlich zu erhöhen, indem
die Geldschleusen des Wirtschaftskreislaufs
geöffnet werden, kann dieses Problem nicht
lösen. Geld- bzw. Einkommenszuwachs können
die Nachfrage bis zur Sättigungsgrenze, aber
nicht darüber hinaus anheben.
Nachfrageerhöhungen durch die Vergrößerung des verfügbaren Einkommens sind ein
wirksames kurzfristiges Instrument, um konjunkturelle Angebotsüberschüsse bei unbefriedigten Bedürfnissen abzubauen. Die Vorstellung
einer langfristig vorauseilenden Nachfrage,
die Angebotswachstum auslösen und erhalten
könnte, übersieht akkumulations- und kreislauftheoretische Zusammenhänge. „Gleichgültig,
wie sich die Nachfrage als Folge bestimmter
Arbeitsmarktsituationen, von Tarifabschlüssen
Klaus Müller
oder staatlichen Einflüssen entwickelt, die Unternehmen investieren oder steigern, solange die
Produktion, bis am Markt eine Überproduktion
wirksam wird.“ (Leibiger 2005: 9) Einkommenszuwachs und Nachfrageanstieg können nur
kurzfristig Angebotsüberschüsse ausgleichen.
Langfristig kann dies nicht die Lösung sein,
weil die Kapitalakkumulation immer wieder
über die Nachfrageentwicklung hinausschießt.
In weitgehend gesättigten Nationalökonomien
mit alternden und schrumpfenden Bevölkerungen sowie angesichts zunehmender Belastung
der natürlichen Umwelt und der Endlichkeit
verfügbarer Ressourcen ist die ständige Erhöhung der Gütermenge einer Volkswirtschaft,
gemessen am realen Bruttoinlandsprodukt,
weder notwendig noch wünschenswert. Die
globalen makroökonomischen Bedingungen für
unternehmerisches Wachstum verschlechtern
sich tendenziell. Gegen den Trend können
sie sich aber temporär auch verbessern. Beispielsweise könnte eine neue Basisinnovation,
die einige Autoren ausgehend vom Grundbedürfnis nach ganzheitlicher Gesundheit in der
Bio-/Nanotechnologie sehen (Siemon 2007:
571), die Wirtschaft auf einen langfristigen
Aufwärtspfad führen, der nur zeitweise von
rezessiven Abschwüngen unterbrochen wird.
Andere halten es für möglich, dass Bemühungen
zur Verhinderung der Klimakatastrophe den
Übergang in eine solare, schadstoffarme und
nachhaltige Energiephase einleiten, die zugleich
einen länger anhaltenden Wirtschaftsaufschwung auslösen könnte. Stünde ein sechster
Kondratieff-Zyklus7 unmittelbar bevor – und
nur dann –, wäre die Aussicht auf zunehmende
Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts
für eine gewisse Zeit nicht abwegig, wenn auch
keineswegs gesichert.
Bis sich die vielleicht trügerische Hoffnung
erfüllt, dass Basisinnovationen eine neue lange
Welle entfachen, sind die Steigerung der Nachfrage durch eine Umverteilung der Einkommen
zugunsten der Lohneinkommensbezieher und
staatliche Investitionen zur Kompensation
des Ausfalls privater Investitionen sinnvoll.
Langfristig reicht dies jedoch nicht aus, um
Vollbeschäftigung zu erreichen.
In den jüngeren Arbeiten von Karl Georg
Zinn, Norbert Reuter und anderen Autoren, auf
Vom Marktversagen zum Staatsversagen – alles Krise oder was?
der Basis der Stagnationsprognose von Keynes
begründet und gefordert, gibt es neben temporär wirkenden Maßnahmen der Nachfragebelebung und einer gerechteren Einkommens- und
Kaufkraftverteilung, eine „einzige auf Dauer
wirksame beschäftigungspolitische Strategie:
die Verkürzung der Arbeitszeit“ (Zinn 2008:
16f.). Die langfristige Lösung der Divergenz
zwischen Wirtschaftskraft und Produktivität
einerseits und sättigungsbedingten Absorptionsgrenzen andererseits zwingt dazu. Schon
Karl Marx hatte gegen Zustände gefochten,
unter denen die einen zu Überarbeit und die
anderen zum Müßiggang gezwungen sind
(Marx 1972: 665f.). Eine tägliche Arbeitszeit
von drei Stunden (15-Stunden-Arbeitswoche),
wie sie Keynes erwartete, ist schon heute trotz
schwieriger Umstellungs- und Umstrukturierungsaufgaben prinzipiell möglich. Vor allem
ist sie auch unter Wohlstandsgesichtspunkten
sinnvoll. Das Ziel muss darin bestehen, eine kurze Vollarbeit und Freizeit für alle zu erreichen.
Automatisch wird sich dies nicht einstellen. Aus
Kostengründen tendieren Unternehmer dazu,
tägliche und Wochenarbeitszeit zu verlängern.
Sind Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und Vollbeschäftigung ernsthaft gewollt8, bedarf es eines
wirtschaftspolitischen strategischen Konzepts,
das neue gesetzliche Rahmenbedingungen für
Unternehmen setzt. Nur so viel: Es existieren
Modelle, die zeigen, dass Arbeitslosigkeit mit
Hilfe der Verkürzung der Arbeitszeit reduziert
werden kann – ohne Verlust von Nettolohn
für die Beschäftigten, ohne Belastung für die
Unternehmen und mit Vorteilen für die öffentlichen Kassen (vgl. Ebel/Kühn 2003; Bontrup
2005). Arbeitszeitverkürzung kann bei vollem
Lohnausgleich erfolgen.9
Staat und Wirtschaft
Ist angesichts lautstarker Forderungen vor
allem aus dem Bankenbereich nach staatlichen
Rettungsschirmen die neoliberale Mär grandios
gescheitert, wonach die Wirtschaft am besten
funktioniere, wenn sich der Staat möglichst
wenig in deren Abläufe einmische?
Man erinnere sich der Häme, mit der
Monopole und ihre Apologeten den Staat
49
überhäufen, solange es ihnen gut geht. Man
denke an die regelmäßigen Vorwürfe an den
Staat: Er sei der schlechtere Unternehmer, ihm
mangele es an wirtschaftlicher Kompetenz und
an Unternehmergeist. Inmitten des Desasters
nun der Hilfeschrei: Staat, rette uns, sonst bricht
alles zusammen! Der Gerufene reagiert: Wann
jemals hat es seit Roosevelts „New Deal“ in den
1930er Jahren eine derart rasche Verabschiedung von Konjunkturprogrammen gegeben?
Seitdem hatte der wirtschaftswissenschaftliche
Mainstream solche Maßnahmen stets als Beleg
wirtschaftspolitischer Unvernunft verunglimpft. Der Markt werde es schon richten.
Und nun scheint ohne den Staat nichts zu
gehen. Ein dreister Sinneswandel?
Da ist von Beginn an viel Heuchelei im Spiel:
Die Eliten der Privatwirtschaft dominieren
den Staat längst, auch in Aufschwungzeiten.
Der Staat muss stets die Bedingungen der
Profitaneignung gewährleisten. Personalunion, Lobbyisten, Vertreter der Wirtschaft
in den Parlamenten, Parteienfinanzierung,
Politiker in Aufsichtsräten und Vorständen,
als hochdotierte Unternehmensberater und
Anteilseigner an großen Unternehmen, und
„freundschaftliche“ Beziehungen zwischen
den Granden aus Politik und Wirtschaft
– das ist das Beziehungsgeflecht, das Interessendurchsetzung sichert. So entwickelt die
Rüstungsindustrie neue Waffensysteme und
drückt sie beim Gesetzgeber durch. So wurde
auch die Finanzkrise erst wirtschaftspolitisch
ermöglicht. Denn die „maßlose Renditejagd des
Kapitals und (der) Bruch zwischen Finanz- und
Realwirtschaft“ wurden durch die Gesetzgebung der Staaten geduldet und stimuliert
(Luft 2008: 6). Sozialstaatliches Engagement
dagegen wird als unzulässiger Eingriff in die
Hoheitsrechte des freien Unternehmertums
angeprangert, als sozialistische Misswirtschaft
verteufelt und als unrealistische Sozialromantik
gegeißelt. Die staatliche Unterstützung der
Profitaneignung dagegen kann nicht groß
genug sein. Sie wird unter dem Vorwand des
Gemeinwohls unverblümt gefordert. Auch in
Zeiten wirtschaftlichen Aufschwungs setzen
Großkapitale ihre Absichten mittels staatlicher Autorität um. Nur redet man nicht
gern darüber: Lohn- und Steuersenkungen,
50
Subventionen für Unternehmen, Sonderabschreibungsmodelle, Disziplinierung der Arbeitslosen und Investitionsförderung verhelfen
Großunternehmen zu Rekordgewinnen, retten
aber keine oder nur selten Arbeitsplätze, allenfalls solche, von denen niemand leben kann
(Minijobs). Die großen Konzerne, ausgestattet
mit überreichlicher Liquidität, werden bei jeder
Investition, die sie durchführen, mit großzügigen Subventionsgeschenken bedacht. An den
damit erwirtschafteten Gewinnen beteiligt
sich der von ihnen abhängige und gesteuerte
Staat generös nicht. Auch in konjunkturellen
Aufschwungphasen hilft er den Monopolen,
Profite zu erwirtschaften.
Für die engen Beziehungen zwischen Staat
und Unternehmen gibt es objektive Gründe.
Selbst die neoliberale Wirtschaftstheorie, die
unentwegt für „mehr Markt“ und „weniger
Staat“ einzutreten scheint, wartet mit theoretischen Begründungen der wirtschaftspolitischen Funktion des Staates auf. Dieser müsse
die bestmögliche Allokation der Ressourcen
unterstützen und die wirtschaftliche Stabilität
sichern helfen. Darin zeigt sich im Gegensatz
zu den vordergründigen Verlautbarungen über
die wundersame Heilungskraft des Marktes das
Eingeständnis, dass der Markt seine Hausaufgaben schlecht und unvollkommen erledigt. Die
Anforderungen an die ökonomische Funktion
des Staates sind deshalb über alle Konjunkturphasen hinweg größer geworden.
Erstens: Der wissenschaftlich-technische
Fortschritt wirbelt volks- und betriebswirtschaftliche Strukturen durcheinander. Aussichtsreiches ist in der Regel mit Risiken behaftet. Der Staat unterstützt Strukturwandel
und Produktivkraftentwicklung, indem er den
Unternehmen finanzielle Mittel zuleitet und
Risiken abfedert.
Zweitens: Mit dem Strukturwandel wächst
das Erfordernis nach einer vorausschauenden
ausgewogenen Entwicklung. Wachsende Anforderungen an eine harmonische Gesamtentwicklung erhöhen den Bedarf an zentraler
Steuerung und Abstimmung.
Drittens: Die zunehmende Bedeutung der
Wissenschaft für eine moderne, effiziente
Produktion ist damit verbunden, dass die Aufwendungen für Forschung und Entwicklung
Klaus Müller
steigen. Das Risiko dieser Aufwendungen ist
vergleichsweise hoch. Unternehmen fordern
staatliche Unterstützung dieser Prozesse.
Viertens: Auch die Investitionstätigkeit
unterliegt neuen Bedingungen und Anforderungen. Die Zunahme des Anlagekapitals
erhöht den Sicherungsbedarf. Die Verwertung
der steigenden Kapitalvorschüsse soll den Zufälligkeiten der Schwankungen von Angebot
und Nachfrage weitgehend entzogen werden.
Staatliche Investitionshilfe für Unternehmen ist
so zu einer Selbstverständlichkeit geworden.
Fünftens: Strukturwandel und Produktivitätsfortschritte stellen neue Anforderungen
an die Arbeitskräfte. Soziale Absicherungen,
Qualifikationen, Umschulung, Fortbildung,
Mobilität und Disponibilität gewinnen an Bedeutung und überfordern das Privatkapital.
Sechstens: Die Bedeutung der allgemeinen
Grundlagen der gesellschaftlichen Produktion,
der sogenannten Infrastruktur, für das Funktionieren der kapitalistischen Reproduktion
wächst: Wasserversorgung, Energiewirtschaft,
Kommunikation, Bildung, Wissenschaft, Gesundheitswesen, Umweltschutz, Raum- und
Stadtordnung, Entsorgungsprozesse ... Das sind
Zweige, die mit staatlicher Hilfe für die Kapitalverwertung in anderen Bereichen entwickelt
werden müssen, solange sie selbst nicht oder
nur wenig profitabel sind. Der Staat saniert
und fördert ihre Entwicklung im Interesse des
Gesamtkapitals und reprivatisiert sie, wenn sie
genügend Profite abwerfen. Die Sozialisierung
der Risiken, Schulden und Verluste sowie die
Privatisierung der Profite sind keine neuen
Erscheinungen und nicht nur auf Krisenphasen
beschränkt.
Siebentens: Die zunehmende internationale
Verflechtung der Volkswirtschaften erhöht den
staatlichen Gestaltungs- und Koordinierungsbedarf. Wozu die absolute Freizügigkeit auf den
Geld- und Kapitalmärkten führen kann, zeigt
die jüngste Finanzmarktkrise eindrucksvoll.
Insgesamt führen die genannten Prozesse zu
einer höheren Komplexität und Kompliziertheit
der gesellschaftlichen Reproduktion. Unter
diesen Bedingungen wird der Verwertungsanspruch des privaten Kapitals nicht den spontanen Marktmechanismen allein überlassen.
Seine Einlösung wird bewusst und dauerhaft
Vom Marktversagen zum Staatsversagen – alles Krise oder was?
mit staatlicher Hilfe abgesichert. Dass der Staat
in schwierigen wirtschaftlichen Zeiten um
Hilfe gebeten wird und diese auch gewährt,
ist kein Sinneswandel, sondern folgerichtige
Reaktion seines objektiven Eingebundenseins
in die privatmonopolistische Produktion und
Interessensphäre.
Überforderte Geldpolitik
Dreistellige Milliardenzuwendungen an die
Verliererbanken des spielwütigen Casinokapitalismus erwecken den Eindruck, der Staat glaube,
mit Geld ließe sich alles Übel beseitigen. Der
Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften
des Jahres 2008, der eloquente, originelle und
witzige Querdenker Paul Krugman meint, wenn
die Wirtschaft in eine Rezession gerät, dann
habe das „schlicht und einfach mit einem technischen und folglich reparierbaren Versagen
zu tun ..., nämlich damit, dass der Staat nicht
genug Geld druckt“. Und er fügt hinzu: „Ich
weiß, dass man diese These leicht für einen
Scherz halten mag – nur ist es eben keiner.“
(Krugman 1998: 18, 25, 45, 130, 160).
Nein, ein Scherz ist das nicht. Im Versagen
des Staates die Krisenursache zu sehen, ist
schlicht und ergreifend eine Fehldiagnose.
Mangelnde Liquidität allein ist nicht der
Hauptgrund der rezessiven Einbrüche. Es
reicht deshalb auch nicht, lediglich den Zins zu
senken und die Geldschleusen weit zu öffnen,
um zu erreichen, dass wieder wirtschaftlicher
Frühling einzieht. Entstehen Rezessionen, weil
fehlerhafte Unterlassungen geschehen? Wäre
es so, müsste man nur alles richtig machen, um
konjunkturelle Schwankungen zu vermeiden!
Mit derart grobschlächtigen Auffassungen
gesellt sich Krugman zu denen, die er zu Recht
kritisiert, zu den neoliberalen Schmalspurökonomen, den großen Vereinfachenden. Doch
weiß er auch – ohne je auf den Gedanken
zu kommen, dies auf sich selbst zu beziehen:
„Wir sollten freilich nie überrascht sein, aus
Prominentenmund ökonomischen Unfug zu
vernehmen“ (ebd.: 62).
Der große John K. Galbraith hat nicht
glauben können, dass man nur an den Stellschrauben Geldmenge und Zins drehen müsse,
51
um die Volkswirtschaft auf Wachstumskurs,
Wohlstand und sozialen Ausgleich zu justieren. Ja, mehr noch, ihm war bewusst, dass die
Zentralbank gar nicht in der Lage ist, Zins und
Geldmenge virtuos zu steuern. „Der Glaube,
etwas so Komplexes, Heterogenes und seinem
Wesen nach für jeden einzelnen Menschen so
Wichtiges wie Geld lasse sich durch gründlich
erörterte, aber einfache Entscheidungen beeinflussen, die in einem gefälligen und unauffälligen Gebäude der amerikanischen Hauptstadt
unter den ehrfurchtgebietenden Porträts der
Amtsvorgänger gefällt werden [gemeint sind
die Präsidenten der US-Zentralbank – Verf.]
entspringt nicht nüchternem Realitätssinn,
sondern frommem Wunschdenken. So viel
inbrünstige Realitätsverleugnung ist schier
unglaublich.“ (Galbraith 2005: 89; vgl. auch
Müller 2007; 2008).
Zins und Geldmenge sind die Wirkung einer
langen Kette von Ursachen und sie sind die
Ursache einer großen Kette von Wirkungen. Sie
sind eingebunden in das ökonomische Geflecht
von ökonomischen Variablen. Multikausalität
und Komplexität überfordern die theoretische
Ökonomie. Diese wurstelt sich monokausal
durch die selbstkonstruierte ökonomische
Scheinwelt. Sie ignoriert die typischen Eigenschaften komplexer volkswirtschaftlicher
Systeme, deren Funktionsweise sie zu beschreiben und zu erklären vorgibt. Eine in sich
geschlossene Geldtheorie, die das komplexe,
widersprüchliche und wechselseitige Zusammenwirken von monetären und nichtmonetären Faktoren erklärt, existiert nicht. Sie ist in
absehbarer Zeit auch nicht zu erwarten. Dabei
widerspiegelt der unbefriedigende Zustand der
Geldtheorie nur den beklagenswerten Zustand
der Wirtschaftstheorie überhaupt.
Transmissionskonzepte verfolgen einseitig
den Weg eines zentralbankpolitischen Geldmengen- oder/und Zinsimpulses hinein in
den güterwirtschaftlichen Bereich. Erstaunlich dabei ist, dass die Frage, wie umgekehrt
autonome Veränderungen im letzteren auf
die monetäre Sphäre wirken, dass diese
„umgekehrte“ Kausalität schlichtweg ausgeblendet wird. Bedenklich muss dies auch
deshalb sein, weil im Wechselspiel zwischen
monetären und nichtmonetären Bereichen
52
dem letzteren auch in einer Geldwirtschaft
Priorität gebührt.
Am Beispiel einer konjunkturellen Krise
soll der Anpassungsprozess zwischen beiden
Sphären gezeigt werden, ohne dabei den rationalen Kern der herkömmlichen Geldwirkungslehren zurückzuweisen und zu behaupten,
dass Aufeinanderfolge und zeitlicher Ablauf
ausschließlich auf die zu zeigende Weise vonstatten gehen müssten.
Erstens: Zyklische Überproduktion von
Gütern, Überakkumulation von Kapital, das
relative Zurückbleiben der zahlungsfähigen
Nachfrage (Reallohnrückgang) bei hohem
Zinsniveau (der Aufschwung wurde vor allem
durch Kredite finanziert) führen dazu, dass
die Umsätze zurückgehen und die Produktion
eingeschränkt wird.
Zweitens: Die zurückbleibende Nachfrage
nach Konsumgütern und Dienstleistungen
führt dazu, dass auch die Nachfrage nach
Investitionsgütern, Vorprodukten bzw. Vorleistungen abnimmt. Investitionen sinken, und
dies, ist die Multiplikatortheorie richtig, sogar
überproportional.
Drittens: War der zu Ende gegangene Aufschwung mit einer spekulativen Blasenbildung
an den Warenbörsen verbunden (wie bis 2008),
so sind die negativen Signale aus dem Güterbereich ein Grund dafür, dass die Spekulanten
Angst vor der eigenen Courage bekommen und
verstärkt verkaufen. Der „Herdentrieb“ setzt ein
und bewirkt, dass die Blasen platzen. Der Verlust
an Börsenwerten wirkt negativ auf Konsumund Investitionsbereitschaft zurück.
Viertens: Die flächendeckenden Überschüsse auf den Güter- und Faktormärkten
bewirken, dass die Nachfrage der produktiven
Investoren nach Bankkrediten sinkt. Der gesunkene Bedarf an fremden Finanzierungsmitteln
resultiert aus dem Mengenrückgang auf den
Gütermärkten und daraus, dass die Abnahme
der wirtschaftlichen Aktivität damit verbunden ist, dass die Preissteigerungen geringer
werden, Preise partiell auch sinken. Kredite
werden nicht nachgefragt, weil mehr Geld in
dieser Situation nicht benötigt wird. Fällt dies
alles mit einer Kredit- bzw. Subprime-Krise10
wie gegenwärtig zusammen, können faule
Kredite von den Schuldnern nicht zurück-
Klaus Müller
gezahlt werden. Zugleich gibt es allerdings
einen hohen Geldbedarf im Finanzbereich.
Die den angeschlagenen Banken vom Staat
zugeschanzten Milliardenbeträge werden von
Kapitaldienstverpflichtungen aufgesaugt. Das
güterwirtschaftliche Problem lösen sie nicht.
Produktive Geldkreisläufe kommen so nicht
in Gang.
Fünftens: Auf die abgeschwächte Nachfrage
der Nichtbanken nach Krediten reagieren die
Geschäftsbanken, indem sie die Sollzinsen
senken. Der Rückgang dieser Zinsen ist Wirkung der gesunkenen Kreditnachfrage. Mit ihm
mögen die Banken die Hoffnung verbinden,
den Nachfragerückgang abbremsen zu können,
denn je niedriger die Nachfrage nach Krediten,
desto geringer der Bankenertrag.
Sechstens: Die abnehmende Möglichkeit,
bei sinkenden Sollzinsen Kredite gewähren
zu können, senkt den Refinanzierungsbedarf
der Banken.
Siebentens: Der rückläufige Refinanzierungsbedarf der Geschäftsbanken, hervorgerufen durch das Nachlassen der Investitionstätigkeit, muss bei gegebenem Angebot
am Geldkapitalmarkt die Kapitalmarktzinsen
sinken lassen.
Achtens: Der Rückgang der Zinsen am
Geldkapitalmarkt kann durch Arbitragevorgänge auf den Geldmarkt überschwappen. In
dem Maße, wie die Kapitalmarktzinsen sinken,
wird es lohnenswert, Überschüsse am Geldmarkt anzubieten, wodurch auch die Zinsen
dort sinken werden.
Neuntens: Der Rückgang der Marktzinsen
verbessert die Refinanzierungsbedingungen
an den Geld- und Kapitalmärkten. Er veranlasst die Geschäftsbanken, verstärkt das
Kreditangebot dieser Märkte zu nutzen und
Angebotsüberschüsse zur Zentralbank zu
verlagern. Diese Veränderungen führen dazu,
dass sich die Zentralbanken früher oder später zur Senkung ihrer Zinsen entschließen
werden. Die Leitzinssenkungen der Zentralbanken sind eine Reaktion auf Impulse, die
von den Märkten kommen. Die Leitzinsen in
den USA und Japan sind inzwischen faktisch
bei null Prozent angekommen. Sie bewirken
trotzdem zunächst nichts, weil sie am Ende
einer Wirkungskette stehen, also das Ergebnis
Vom Marktversagen zum Staatsversagen – alles Krise oder was?
von Anpassungen sind. Die Hoffnung, dass die
Banken mehr Kredite vergeben, nur weil sie
sich zu null Prozent bei ihren Notenbanken
refinanzieren können, erfüllt sich so lange nicht,
wie die Bedingungen für eine Kreditaufnahme
im güterwirtschaftlichen Bereich noch nicht
herangereift sind.
Zehntens: Während des Abschwungprozesses kommt es zu positiven (die Rezession
abschwächenden) Rückkopplungseffekten.
Die Verringerung der Zinssätze und damit
der Renditen für Zinspapiere bei wieder
steigenden Wertpapierkursen (abnehmende
Kreditnachfrage = abnehmendes Wertpapierangebot) führt irgendwann dazu, dass die
gesamtwirtschaftliche Güternachfrage aufhört,
weiter zu sinken. So (und im Zusammenhang
mit anderen Faktoren) erzeugt die Rezession
die Voraussetzung für ihr Ende. Zeitliche Voraussagen, wann dies diesmal der Fall sein wird,
sind derzeit noch nicht möglich.
Hin und wieder wird die manchmal als
trübsinnig bezeichnete ökonomische Wissenschaft durch heitere Bonmots aufgehellt;
so, wenn Wirtschaftsforschungsinstitute ihre
Voraussagen über die gesamtwirtschaftliche
Entwicklung für mehrere Monate in Zehntelprozentpunkten treffen. Das ist lustig, weil jeder
weiß, dass man quantitative Entwicklungen
komplexer Systeme nicht antizipieren kann.
Die Trefferwahrscheinlichkeit der Prognosen
über das Bruttoinlandsprodukt entspricht
der eines Blinden beim Tontaubenschießen.
Angesichts des momentanen Desasters haben die Spaßvögel des Deutschen Instituts
für Wirtschaftsforschung (DIW) erstmals
die Lust am heiteren Ratespiel verloren. Sie
verzichteten darauf, das Wachstum für das
Jahr 2010 vorherzusagen. Ein herber Schlag
für die Konjunktur! Was soll die Wirtschaft
davon halten, wenn schon deren „Experten“
resignieren?
Elftens: Irgendwann wird sich die Rezession
abschwächen und schließlich zu Ende gehen.
Dies wird auch dadurch bewirkt, dass in dem
Maße, wie Rezession und Kaufzurückhaltung
noch dominieren, das anwachsende Antirezessionspotenzial an materiellen und finanziellen
Ressourcen, verbunden mit einem relativ
niedrigem Preisniveau auf den Güter- und
53
Faktormärkten, die Nachfrage der Nichtbanken
auf diesen Märkten und zeitlich verzögert auch
die Nachfrage auf den Geld- und Geldkapitalmärkten wieder steigen lassen wird.
Der Neoliberalismus am Ende? Wieso?
Woran soll er gescheitert sein? Dass er in seinen Modellen keine großen Krisen kennt, die
ökonomische Welt einseitig beschreibt, falsch
interpretiert und im Kapitalinteresse (v)erklärt,
hat ihm auch bisher nicht geschadet oder seiner
Deutungshoheit etwas anhaben können.
Nun werden die Bedingungen für die Profitaneignung neu formuliert. Nie hatte der
Neoliberalismus etwas anderes gewollt. Einzige
Hoffnung: Vielleicht wird nun wieder stärker
nachgedacht über wirtschaftliche Regulierungssysteme, die weniger Ressourcen vergeuden und
die nicht so zerstörerisch sind, sondern sozial
verträglicher funktionieren als die staatlich
sanktionierten freien, wilden Märkte.
Anmerkungen
1
2
3
4
5
6
Gewinne in Prozent des Volkseinkommens aller
Sektoren vor der öffentlichen Umverteilung.
McKinsey & Co. versteht sich als weltweit führendes
Beratungsunternehmen, zu dessen Klienten die
100 größten Industrieunternehmen der Welt, der
wachstumsstarke Mittelstand, viele Banken und
Versicherungen, Regierungen, private und öffentliche
Institutionen zählen. (Freie Presse, Chemnitz, 5. Mai
2008: 3)
Der vorläufige Wert für das Jahr 2008 betrug genau
2.492,0 Milliarden €. (Deutsche Bundesbank, Monatsbericht Mai 2009: S. 61*)
Dafür spricht, dass die Sparquote der Haushalte mit
wachsendem verfügbarem Einkommen steigt. So spart
beispielsweise ein Haushalt mit über 6.000 € Monatseinkommen mit mehr als 20 Prozent bereits doppelt
so viel wie ein Durchschnittshaushalt; http://www.
verdi-bub.de/wirtschafts_abc/archiv/sparquote
Mit Unterkonsumtion ist nicht nur die absolute Armut
gemeint, die nach Definition der Vereinten Nationen
vorliegt, wenn ein Mensch mit weniger als einem USDollar am Tag auskommen muss, und die tausendfach
in den Hungertod führt. Als relativ arm gilt, wer weniger
als 60 Prozent des mittleren Nettoeinkommens zur
Verfügung hat. Das entspricht in Deutschland 781 €
pro Monat und betrifft lt. Armutsbericht der Bundesregierung 13 Prozent der Bevölkerung. Die relative
Armut oder Unterkonsumtion macht den Betroffenen
das Leben schwer, weil sie von vielen Bereichen des
gesellschaftlichen Lebens ausgegrenzt sind; http://
www.sueddeutsche.de/politik/411/302407/text/
Unter den EU-Mitgliedstaaten verzeichneten 2007
ökonomisch schwächere Länder wie die Slowakei,
Lettland, Litauen und Estland die höchsten Wachstumsraten; http://www.economic-growth.eu/#
54
7
Der russische Ökonom Nikolai Kondratieff hat als
erster im Jahre 1926 das Phänomen der „Langen Wellen“ wirtschaftlichen Wachstums beschrieben. Diese
begännen jeweils mit Basisinnovationen, welche die
gesamte Volkswirtschaft revolutionierten. Die Tatsache
langfristiger, überkonjunktureller Schwingungen der
Wirtschaftsaktivität war auch Ökonomen wie Karl
Marx, Werner Sombart, Arthur Spiethoff, Wilfredo
Pareto u.a. bekannt. (Kondratieff 1926: 573 -609). Bis
heute soll es fünf lange Wellen gegeben haben. Doch
einig ist man sich nicht; Anzahl, Datierungen und
Systematisierungen weichen voneinander ab. Selbst
die Begründungen unterscheiden sich (siehe auch
Ruben 2008; Hedtke 2008).
8 Das Stabilitätsgesetz aus dem Jahre 1967 verpflichtet die
wirtschaftspolitischen Akteure auch zu Maßnahmen,
die der Vollbeschäftigung dienen.
9 „Würde die volle jeweils realisierte Produktivitätssteigerung für Arbeitszeitverkürzung verwendet, so wäre
sie für die Arbeitgeber stückkostenneutral. Hierdurch
bliebe(n) die gesamtwirtschaftliche Gewinnquote und
damit die Lohnquote konstant. Es gibt also keinen
vernünftigen Grund, warum die Arbeitszeit nicht
bei vollem Lohnausgleich in Höhe der jährlichen
Produktivitätssteigerungen verkürzt werden soll.“
(Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik 2008:
123)
10 Subprime-Kredite sind Darlehen an Kreditnehmer mit
geringer Bonität. Regelmäßig gibt es Ausfälle. Aber
diese „normalen“ Verluste der „faulen“ Kredite sind
einkalkuliert und rechnerisch durch höhere Zinsen und
andere Tilgungsmodalitäten gegenfinanziert. Weil auf
dem US-Immobilienmarkt zu viele derartiger Kredite
vergeben wurden und die Preise drastisch sanken, kam
es im Sommer 2007 zu Rekordausfällen. Kreditgebende
Banken hatten die Darlehen vorher an eigens dafür
gegründete Zweckgesellschaften verkauft, die sie verbrieften und die festverzinslichen Wertpapierpakete
weiterveräußerten. Die Erwerber dieser Titel waren
ausschließlich von den Zahlungseingängen aus den
Krediten abhängig. Als diese nicht mehr getilgt wurden,
brach die wacklige Finanzierungskette auseinander.
Immobilienbanken, Investmentbanken, Hedgefonds
und zahlreiche „seriöse“ Banken, die zu stark in die
Subprime-Wertpapiere der US-Baufinanzierer investiert hatten (in Deutschland z.B. die Sachsen LB,
die IKB Deutsche Industriebank oder die HypoReal
Estate), erlitten milliardenschwere Verluste.
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Sozialismus, Heft 30), Leipzig
Berliner Debatte Initial 20 (2009) 2
55
Katherine Stroczan
Das Gespenst der Aktienkultur oder
das Behagen in der Unkultur1
Die Börse führt uns an den Anfang, an die
Urszene der Naturbeherrschung zurück, in die
vorgeschichtliche Zeit, deren Leitstruktur in
der Prognose der Naturerscheinungen lag. In
der prähistorischen Ära musste aus Mangel an
Instrumentarium die Naturprognose scheitern.
Nicht anders verhält es sich mit der Prognose
an den Finanzmärkten; und es ist kein Zufall,
dass Bewegungen der Märkte wie Naturphänomene erlebt werden, wobei einem Krach der
Stellenwert einer Naturkatastrophe zukommt.
Denn die Anlegerhorde funktioniert nach den
Gesetzmäßigkeiten der Urhorde. Analog zum
Urmenschen, der hinter einem Busch versteckt
ununterbrochen Gefahren auflauerte, ist der
Homo Investor mit seiner chronischen Bedrohtheit beschäftigt. Fehlte dem Urmenschen
eine ausgebaute Naturbeherrschung und die
Beherrschung der inneren Natur, nämlich der
Triebhaftigkeit, so verfügte er immerhin über
diverse Ersatzstrukturen in Form von Magiern,
Regenmachern und Ereignisbeschwörern. Alle
diese das Überleben sichernden Funktionen, mit
denen eine Matrix der Transparenz und Ordnung in einer unverständlichen, eigenwilligen
und unkontrollierbaren Welt hergestellt werden
sollte, dienten der Voraussage von Ereignissen
und deren Bedingungen. Da sich Finanzmärkte
wie die unbeherrschte Natur benehmen, ist es
einleuchtend, dass die Prognose der Fetisch der
Börsenhorde ist.
Der Schutz gegen die Natur, die Regelung
der zwischenmenschlichen Beziehungen und
die Pflege der höheren psychischen Tätigkeiten im intellektuellen, wissenschaftlichen und
künstlerischen Bereich gehören zu Leistungen,
die generell als fundamentale Kulturanforde-
rungen verstanden werden. Triebökonomisch
betrachtet, ist Kultur auf Versagungen aufgebaut. Triebverzicht bedeutet in diesem Kontext
nichts anderes, als dass Triebziele im kulturerhaltenden und -stiftenden Sinne transformiert
werden. So bildet laut Freud2 die Sublimierung
der Triebziele das von der Kultur erzwungene
Triebschicksal. Im Gegensatz zur Verdrängung,
die zu einer in Kompromissbildungen gipfelnden
Lähmung, bzw. zum Schwund der Triebenergie
führt, ermöglichen die transformatorischen
Mechanismen der Sublimierung deren Erhalt
und damit einen umgeleiteten und gerichteten
Einsatz. In seiner Schutzfunktion als Garant
des Triebverzichts fungiert das Über-Ich als
Regulativ der Triebregungen.
Im Gegensatz dazu ist das dem Börsianer
aufgedrängte Über-Ich nicht nur auf unmittelbare Triebbefriedigung fixiert, sondern in erster
Linie dem Imperativ des Erfolgs und damit dem
unentrinnbaren Genießen verpflichtet. Das
einzige Verbot betrifft das erfolglose Handeln.
Unter der Voraussetzung, dass er keinen Verlust macht, ist dem Anleger alles erlaubt. Dem
Imperativ des Über-Ich verschrieben, soll der
Börsianer spekulieren und muss das Spekulieren
auch noch genießen. Wenn autonome Moral
ihrer Existenz enthoben wird, verschwindet
auch jegliche Sicherung. Weil der Börsianer in
seiner Moral heteronom ist, bleibt die Heilsvorstellung auf Zukunftsvoraussage beschränkt.
Geht die Schutzfunktion des Über-Ich verloren,
übernimmt die Prognose die Funktion des Korrektivs: Eine „schlechte“ Handlung kann dann
nur am späteren Misserfolg abgelesen werden.
Infolge dieser regressiven Bewegung, bei der
ein externalisierter Ersatz für das Über-Ich
56
Handlungen determiniert, wird der herkömmliche Druck des Über-Ich durch Anforderungen
des Ich-Ideals ersetzt. Ausreichend bekannt ist
der Prototyp des Börsianers, der seinen Broker
erschießt oder aus dem Fenster springt. Dies
geschieht, wenn seine Gewissensersatzfunktion
– die Prognose – an der Realität des Marktes
scheitert oder ungebremst in einen archaischen
Konflikt mündet. An dieser Stelle werden Scham
und ohnmächtige Rage als leitende Affekte zum
Korrektiv erhoben. Das von seiner Schutzfunktion entbundene, externalisierte und zeitlich
auf die Zukunft verschobene Über-Ich wird
im modellhaften Bild des „cleveren Anlegers“
festgehalten. In der erstenEntwicklungsphase des
Über-Ich bleibt das Richtmaß des moralischen
bzw. außermoralischen Handelns außen vor und
wird mittels Strafmaßnahmen reguliert. Erst in
der weiteren Entwicklung werden Gebote und
Verbote in Gestalt des autonomen Über-Ich
internalisiert. Im Zuge der Regression der moralischen Instanzen ist der „clevere Anleger“ auf
die heteronome Entwicklungsstufe des Über-Ich
gerutscht und muss darin verhaftet bleiben, um
erfolgreich handeln zu können. Auf diese Weise
verwandelt sich an der Börse der kategorische
in den perversen Imperativ – in den Befehl zum
Genießen und zum Erfolg.
Die von den Medien täglich angebotene
Nahrung ermöglicht der Anlegergemeinde ein
behagliches Verweilen in den Auswüchsen der
Unkultur, die mit ihren weitreichenden Tentakeln alle Partialtriebe domestiziert hat und die
Hegemonie der Entsublimierung proklamiert.
Paradigmatisch kann dies anhand des Umgangs
mit dem Begriff Gier nachgezeichnet werden,
dem eine zentrale Bedeutung zukommt. Von
Scham und Schuld saniert, seiner konfliktstiftenden Komponenten entkleidet, gilt dieses
Affektdestillat als anmutig, mondän und erstrebenswert. Mit ihrem nobilitierten Status
ist Gier längst als zentrale Determinante des
Handels sozialisiert worden. Sie gehört zur
Grundausstattung des „cleveren“ Anlegers,
der weiß, wie er sich Vorteile zu verschaffen
hat und erfolgreich an den Märkten agiert.
Damit wird ein archaischer Affekt mit Intelligenz gleichgesetzt, geadelt und vom Ichideal
integriert. Im Zuge der Idealisierung wird Gier
zum Hauptbestandteil der „Klugheitsregel“. So
Katherine Stroczan
kann die Anlegergemeinde dem Mythos der
allmächtigen, abwehrunfähigen Gier huldigen,
die als allgemeingültige Handlungsmaxime
fungiert.
Gegen diesen Universalkonsens konzediert
Chancellor3 in seinem Buch zur Geschichte der
Spekulation, dass diese nicht einfach auf Gier
basiert. Als Essenz einer spekulativen Manie
sieht er „das utopische Streben nach Freiheit und
Gleichheit, das ein Gegengewicht zum fahlen
rationalistischen Materialismus des modernen
ökonomischen Systems darstellt“. Deshalb
bezeichnet er den spekulativen Exzess als Karneval des Kapitalismus, der auf der Aufhebung
der geltenden Normen und gesellschaftlichen
Grenzen basiert und vorübergehend unmittelbare Erregungsabfuhr ermöglicht. Im Rausch
der kollektiven Regression gefeiert, subvertierte
der Karneval die Macht der Kirche und frönte
der gleichen Vorstellung von Gleichheit, die die
regressive Dynamik einer Spekulationswelle
erzeugt: Auf dem „Fest der Narren“ wird der
Dorfidiot zum Prinzen gekürt. Damit erschöpft
sich der Karneval in der engen Konvention der
Anarchie. Er stellt eine zyklisch auftretende und
festgelegte Auszeit dar, die zum Feiern verpflichtet und den Realitätsverlust vorschreibt. Mit
dem institutionalisierten Aufruf zur Anarchie
erzwingt er genauso bindende Gesetze wie die
Kirche. Versucht der Karneval, die Strenge der
kirchlichen Ver- und Gebote zu unterminieren,
so schafft er letztlich nur, diese zu invertieren.
Das christliche Gebot der Versagung und des
Verzichts wird, wie im spekulativen Rausch,
zum Befehl des Genießens.
Neben der Gier, die als Hauptdarstellerin
das Börsenspektakel schmückt, werden andere
archaische Affekte und pathologische Formationen implizit kultiviert und demselben Veredelungsvorgang unterzogen. Die Gesamtheit
dieser abwehrunfähigen, kollektiv gepflegten
Erscheinungen konstituiert dann zwangsläufig
die „Aktienkultur“. Die Geburt dieses Begriffs
geht auf die Erstemission der Telekom-Aktie
zurück. Im November 1996 zeichneten 1,4
Millionen Privatanleger das Papier, dessen
Marktauftritt von einer massiven medialen Begleitung unterstützt wurde. Die Werbekampagne
hat die Deutsche Telekom 900 Millionen DM
gekostet. Aus dem gewöhnlichen Börsengang
Das Gespenst der Aktienkultur oder das Behagen in der Unkultur
eines Unternehmens wurde ein Volksfest, mit
dem das allgemeine Begehren für die Gattung
Aktie ausgelöst wurde. Das als Volksaktie, als
„Witwen und Waisen“ deklarierte Papier erreichte sogar hartgesottene Sparbuchinhaber, die
nie eine Aktie besitzen wollten, sowie unzählige
börsenfremde Menschen, die nicht einmal genau
wussten, was eine Aktie ist.
Bis zur Emission der dritten Tranche im Juni
2000 hatt sich die Zahl der Begierigen verdoppelt.
Als die Aktie im März 2000 auf exorbitanten
Höhen schwebte, war das Papier die Verkörperung der „neuen deutschen Aktienkultur“,
der stolze Kurs von ca. 100 Euro galt als Beweis
der Akkulturation. Da der jeweilige Aktienkurs
das Ausmaß des Begehrens der Marktteilnehmer widerspiegelt, heißt das: Kultur ist wohl
nichts anderes als Ausdruck der kollektiven
Erregungsmasse. So entfaltet sich die Kultur in
linearem Verhältnis zur Triebstärke und zum
Triebdruck: Wächst der Letztere, haben wir es
mit kultureller Entwicklung zu tun. Erreicht er
solche Höhen wie im Frühling 2000, befinden
wir uns auf dem Gipfel der Kulturleistungen.
Und umgekehrt: Weil das einst wertvollste
Unternehmen im Deutschen Aktienindex inzwischen über 70 Prozent seines Wertes seit
dem Höchststand verloren hat, verbreitet sich
in den Medien die Furcht vor dem drohenden
Kulturverlust. Wut und Enttäuschung schlagen
sich in verbalen Entwertungskampagnen nieder: So konstatiert beispielsweise Die Telebörse
(22.02.2001), die Telekom-Aktie sei zum „Zockerpapier“ verkommen, was der schlimmsten
Beleidigung gleichkommt, denn „Zockerwerte“
sind die Psychopathen der Börse. Die Überschrift
des Artikels lautet: „Volksaktie? Kasinopapier!“
Gleich darunter liest man, dass der tiefe Fall
der Telekom die Aktienkultur beschädigt. Dem
Begriff ‚Kasino‘ kommt der gleiche Stellenwert
zu wie dem „Zockerpapier“. Die Sachlage ist
klar: Verwandelt sich die Volksaktie in ein
Kasinopapier, droht Kulturschwund. Vor allem
dann, wenn sich die Aktionäre abwenden und zu
ihren Sparbüchern und Schatzbriefen zurückkehren, was viele befürchten. Dieses kulturelle
Desaster stellt sich als Naturkatastrophe dar, als
plötzliche Eruption des Bösen, die unübersehbaren Schaden anrichtet und der man hilflos
ausgeliefert ist. Die Telekom ist zwar nicht die
57
einzige Volksaktie, andere Papiere haben sich
inzwischen um diesen Status bemüht und ihn
auch erlangt, nur ist sie die erste und die prominenteste, an deren Kabel die ganze Kultur
hängt. Angesichts dieser Katastrophe konnte
auch die F.A.Z. dem Sog nicht widerstehen und
hat einen Ton angeschlagen, der sonst zum Monopol der Anlegerzeitschriften gehört: „Und mit
der zuletzt desaströsen Kursentwicklung wird
die noch junge Aktienkultur in Deutschland,
die die Telekom selbst maßgeblich entwickelt
hat, einem Test mit unbekanntem Ausgang
ausgesetzt. So ist nicht auszuschließen, daß
enttäuschte Telekom-Aktionäre, die zum ersten
Mal in ihrem Leben überhaupt Aktien kauften,
dem Aktienmarkt für immer den Rücken kehren“
(26.02.2001: 20).
Im Kontext der postspekulativen Tristesse
wird hier die Frage aufgeworfen, ob es sich
um eine vorübergehende oder chronische Depression handelt. Letztere, die mit Impotenz
einhergeht, könnte den Ausbruch des nächsten
Erregungszyklus verhindern. Hier lauert die
Gefahr der Ansteckung des ganzen Marktes mit
einem übergreifenden depressiven Affekt, der
womöglich das gesamte Wirtschaftssystem ins
Wanken bringt. Denn viele Ökonomen sehen in
der Spekulation einen zum Erhalt der Vitalität
des Kapitalismus unentbehrlichen Bestandteil.
Diesem Kulturpessimismus wird am Schluss des
Artikels ein durch tiefe Besorgnis evozierter
Heilungsansatz entgegengesetzt: „Nur wenn die
Anleger jetzt der T-Aktie und dem Aktienmarkt
insgesamt treu bleiben, kann man von einer
gewachsenen Aktienkultur in Deutschland sprechen“. Dass an dieser Stelle Treue beschworen
wird, ist an sich äußerst verdächtig und kann
nur durch die Tiefe des regressiven Abgleitens
erklärt werden. Vielleicht ist es aber der einzige
wirksame Griff, auch wenn er unter den Gürtel
reicht, mit dem der Kulturverfall noch verhindert
werden kann. Möglicherweise handelt es sich
gar nicht um einen verzweifelten Appell an die
Aktionäre, die Kultur durch Aussitzen zu retten,
sondern um eine rein sachliche Ausgestaltung
des Kulturbegriffs, die dem Leser verdeutlichen
soll, dass die Reife der Aktienkultur in Deutschland nur durch eine urdeutsche Errungenschaft
– die Treue – determinierbar ist.
Die Geschichte von Aufstieg und Fall der
58
Telekom-Aktie ähnelt in ihren Grundzügen
unzähligen aus der Spekulationsgeschichte
bekannten manischen Exazerbationen, die alle
gleich enden – im unvermeidlichen Krach. Zu
den prominentesten gehören die Anleihe der
französischen Mississippi Company um 1719,
unmittelbar abgelöst durch die Aktien der
englischen South Sea Company, die Eisenbahnmanie in der Mitte des 19. Jahrhunderts, und
natürlich die Tulpenmanie, die die nüchternen
und sparsamen Holländer in den 1630er Jahren in Aufruhr versetzte. Ist die Dynamik der
spekulativen Erregung immer die gleiche, so
verdeutlicht der Tulpenwahn, dass alles, was
sich quantifizieren und in Bewegung bringen
lässt, unter bestimmten Umständen zum Spekulationsobjekt werden kann. Entscheidend
ist das Ausmaß der kollektiv angeheizten
Leidenschaft, die sich eines jeden Gegenstandes bedienen kann. Ob in der gewöhnlichen
Verliebtheit oder im spekulativen Begehren
– die sich im euphorischen Glück entfesselnde
Erregung weist, trotz divergenter Triebziele, die
gleichen psychoseähnlichen Begleiterscheinungen auf. Zu den geläufigsten gehören narzisstische Aufwertung und Selbstüberschätzung,
Überbewertung des Objekts, monomanisches,
realitätsfernes Denken bzw. vorübergehender
Verlust des Realitätsbezugs, sowie Rausch und
Entzückung. Spekulationsmanien entstehen in
Perioden wirtschaftlichen Aufschwungs und
sind durch einen Verlauf gekennzeichnet, der
eine physiologische Parallele aufweist: Spekulationswellen entsprechen deckungsgleich den
Zyklen der sexuellen Erregung. Daher liegt das
besondere Merkmal der Tulpenmanie weder im
Zeitpunkt noch im Verlauf, sondern im Gegenstand selbst. Tulpen können als das betrachtet
werden, was Lacan den „point de capiton“ nennt,
den Überschneidungspunkt unterschiedlicher
Signifikantenketten. In den Niederlanden waren
Tulpen schon seit der zweiten Hälfte des 16.
Jahrhunderts bekannt und genossen im Land
der Blumenliebhaber hohes Ansehen bei Adel
und Sammlern. Beliebt waren sie auch deshalb,
weil sie sich pflegeleicht und als einzige Blumengattung in einer Vielzahl unterschiedlicher
Sorten züchten ließen. Vor dem Ausbruch der
Spekulationswut waren es einige Hundert, und
dass die Vielfalt einem Virus zu verdanken war,
Katherine Stroczan
konnte erst Jahrhunderte später nachgewiesen
werden. Zum ästhetischen Faktor fügte sich
die lustvolle Besetzung der Darstellung, die die
Kunst des goldenen Zeitalters dokumentiert.
Und schließlich: Angesichts der Tatsache, dass
in Holland nicht nur die Tulpe, sondern auch
der Handel blühte und ein entsprechendes
Selbstbewusstsein erweckte, ist es nicht verwunderlich, dass sich eine Blume als Objekt
mehrfach determinierten Begehrens in ein
Spekulationsobjekt verwandeln konnte.
Die aufkeimende Leidenschaft machte sich
in der ausgefeilten Namensgebung bemerkbar, in
der sich die hierarchische Ordnung widerspiegelte: Besonders prächtige Exemplare wurden zu
Admirälen und Generälen. Mit dem Fortschreiten der Euphorie wuchs zwangsläufig die Kluft
zwischen dem realen Wert der Tulpenzwiebel
und den auf der Blumenbörse erreichten Notierungen, bis auf dem Gipfel der Spekulation der
ultimative Diamant unter den Tulpen, Semper
Augustus getauft, den Preis von 6.000 Gulden
erreichte, d.h. den Gegenwert eines Hauses
samt Garten. Einige Interventionen des Staates, die den Exzess einzudämmen versuchten,
erzielten gegenläufige Resultate und feuerten
die Spekulation nur an, denn zu den kollektiv
geteilten psychosenahen Vorstellungen gehört
die unkorrigierbare Überzeugung, dass Preise
nur wachsen können. Ohne diese jeder Spekulationswelle inhärente Überzeugung hätte sich keine
Manie entfachten können. Der Tulpenwahn war
nicht etwa eine örtlich eingegrenzte Erscheinung,
sondern er breitete sich im ganzen Land aus und
erreichte alle Gesellschaftsschichten. Während
die Tulpenzwiebeln überwinterten, florierte
im letzten Winter der Manie der Handel mit
Termingeschäften, die erst im darauffolgenden
Frühling realisiert werden sollten. Besiegelt
wurden diese Transaktionen nicht mit Geld,
sondern mit privaten Schuldverschreibungen.
Das Frappierende an dieser Konstruktion ist,
dass mit nicht vorhandenem Geld Wetten auf
nicht existierende Ware geschlossen wurden.
Begann die Spekulation noch mit realem Warentausch, bei dem gegen Geld Tulpen geliefert
wurden, so erreichten auf dem Höhepunkt der
Manie nicht nur Preise paradoxe Höhen, sondern die gesamte Geschäftsstruktur schoss auf
ein surreales Abstraktionsniveau und gewann
Das Gespenst der Aktienkultur oder das Behagen in der Unkultur
virtuelle Dimensionen. Als die Tulpenmanie
schon abflaute, wurde ein Gesetz erlassen, mit
dem der Tulpenpreis festgelegt und die offenen
Termingeschäfte annulliert wurden. Dies mag
das Ende zwar beschleunigt haben, hat es aber
nicht verursacht.
Zu den Gesetzmäßigkeiten des Spekulationszyklus sowie des Zyklus der sexuellen Erregung
gehört sowohl die primäre Entfesselung der
Leidenschaft wie auch das triebökonomisch
bedingte Abflauen des Begehrens. Am Ende
bleibt, ebenfalls naturgemäß, eine depressive
Verstimmung, die im sexuellen Bereich postkoitale Tristesse heißt. An der Börse führt der
Krach zur Enttäuschung und Entidealisierung,
bzw. zum puren Hass auf das verräterische
Objekt: „Das war die schicksalhafte, regelmäßig
wiederkehrende Seuche, deren Verwüstungen
alle zehn bis fünfzehn Jahre an den schwarzen
Freitagen, wie man sie nennt, den Markt ausfegen und den Boden mit Trümmern übersäen.
Es braucht Jahre, bis das Vertrauen zurückkehrt
[...] – bis eines Tages die Spekulationswut,
allmählich neu belebt, wieder aufflammt, das
Abenteuer von vorn beginnt, eine neue Krise
herbeiführt und in einem neuen Desaster alles
zum Einsturz bringt“, schreibt Zola.4
Als im Winter 1638 der Tulpenmarkt krachte,
verschwand das Spekulationsobjekt keineswegs
aus dem kollektiven Bewusstsein. Der Tulpe
wurde die Besetzung nicht entzogen und auf
kein anderes Objekt umgeleitet. Es geschah das
Gegenteil: Vom Liebesobjekt ist sie zu einem
hoch besetzten phobischen Objekt transformiert
worden. Mit dieser Bewegung konnte die starke
Bindung an die Blume aufrechterhalten werden.
Infolge dieser Umbesetzung erlangte sie den
edlen Status als Symbol des Verderbens und
des Unheils und durfte seitdem in Gesellschaft
von Totenschädeln, Büchern und Uhren an Vanitas-Darstellungen partizipieren. Eines derart
erhebenden und raren Schicksals können sich
üblicherweise „gefallene Engel“, das heißt innig
geliebte Unternehmen, die den Großteil ihres
überbewerteten Börsenwertes verloren haben,
nicht erfreuen. Normalerweise sinken sie um
so tiefer, je höher sie vorher schwebten. Und je
höher sie verweilten, desto schwerer wird ihnen
eine Wiederauferstehung fallen, weil der Grad
der erlittenen Kränkung der Anlegerhorde in der
59
Regel das Ausmaß des Entzugs der libidinösen
Besetzung bestimmt.
Jede Spekulationswelle wird von entsprechenden Publikationen begleitet, mit denen
die Manie ihre Legitimation und Affirmation
erlangt. Ebenso in der Tulpenaffäre. In vielfältigen Blättern meldeten sich damals Experten
zu Wort und erteilten Ratschläge eines fast
unheimlich vertraut anmutenden Inhalts,
nämlich zur erfolgreichen Spekulation. Mit
Recht betrachtet Herbert5 in diesem Kontext die
Einweihungen der Experten in die Geheimnisse
der Spekulation als eine Wiederbelebung der
archaischen Initiationsrituale, die in unseren
Breiten sonst nur der Adoleszenz vorbehalten
bleiben, sieht man von religiösen und Randgruppenphänomenen ab.
Am Beispiel der Tulpenmanie sollte verdeutlicht werden, dass der glorreiche Aufstieg
und der weniger glorreiche Fall der Deutschen
Telekom wahrlich kein Novum darstellt, sondern lediglich eine, wenn auch dem Zeitgeist
angepasste, Wiederholung des Identischen.
Mit Hilfe einer aufwendigen Werbekampagne bot sich die T-Aktie als dankbares Objekt
des Begehrens an und evozierte in kürzester
Zeit die gleichen Erregungswellen, kognitiven
Entgleisungen, Selbsterhöhungsfantasien und
magischen Vorstellungen von Reichtum wie
einst die Tulpen; auch an der Dynamik und
der Reichweite der Veranstaltung hat sich seit
Jahrhunderten nichts geändert. Nur in einer
Hinsicht überbietet der gegenwärtige Exzess
die Tulpenmanie, nämlich in der Verwechslung
von Spekulation mit Kultur. In den Niederlanden
des 17. Jahrhunderts, einem Land, das auf seine
herausragenden Kulturleistungen stolz sein
konnte und auch war, kam interessanterweise
niemand auf den Gedanken, der Tulpenspekulation den Namen „neue niederländische
Tulpenmaniekultur“ zu verleihen.
Im Editorial einer Anlegerzeitschrift6 sinniert
ein leitender Redakteur über die Entfaltung
der Aktienkultur und bezweifelt, ob bereits
von einer blühenden Aktienkultur gesprochen
werden könne. Als Fazit seiner Überlegungen
kann sein Neujahrsspruch gelesen werden,
mit dem der Artikel endet: „Auf dass aus der
gerade aufkeimenden Aktienkultur 2000 doch
noch eine Aktienkultur 2001 wird, die in vol-
60
ler Blüte steht“. Wir haben es hier mit einer
subtilen Differenzierung zu tun, die sich einer
botanischen Wachstumsmetapher bedient und
darauf zielt, den aktuellen Entwicklungsstand
einer als kulturell vorausgesetzten Größe genauestens zu bestimmen. Der Neujahrsspruch
wird mit einem Aufruf eingeleitet, in dem der
Autor feststellt: „Vor allem aber brauchen wir
aufgeklärte Börsianer, die die Zusammenhänge
der Wirtschafts- und Finanzwelt verstehen.
Dabei hilft Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser,
,Ihre Erfolgsstrategie 2001‘. Wir sagen Ihnen,
welche Trends die Börse 2001 bewegen werden
[...] und wie Sie mit einer auf Ihre individuellen
Bedürfnisse zugeschnittenen Anlagestrategie
profitieren“. Die Konstruktion der Argumentationslogik kann folgendermaßen nachvollzogen
werden: Zunächst wird der Bedarf an Aufklärung
attestiert, womit auch aufklärerische Mängel
festgehalten werden. In der unmittelbar darauf folgenden persönlichen Ansprache an die
Leserschaft wird deutlich, dass Aufklärung als
Synonym erfolgbringender Strategien gebraucht
wird. Das Ergebnis aufklärerischer Arbeit, die
bei der empirischen Anwendung auf individuell
zugeschnittene Strategien Erfolg bringt, heißt
dann Aktienkultur. Und der ganze Prozess, den
der Anleger durchlaufen muss, von mangelnder
Aufklärung zur erfolgreichen Anlagestrategie,
beschreibt nichts anderes als die Entfaltung einer
keimenden Aktienkultur zu einer blühenden.
Eine andere Auffassung dieses Kulturbegriffs bietet die Financial Times Deutschland
(13.03.2001): „In den USA, wo die Aktienkultur
viel älter und intensiver ist als in Deutschland,
investieren die meisten Privatanleger ohnehin
nicht direkt in Aktien, sondern in Fonds. Sie
gehen vermeidbaren Risiken eher aus dem Weg.
Auch deutsche Privatanleger werden in Zukunft
wohl vorsichtiger sein – allerdings vermutlich
nur bis zur nächsten Euphorie.“ Hier wird der
Stand der deutschen Aktienkultur per Negativdefinition eruiert, über einen wehmütigen
Vergleich mit Amerika. Nicht nur wird der
Mangel an heimischer kultureller Tradition
beklagt, sondern auch der Kulturbegriff selbst
wird inhaltlich expliziert. Laut dieser Auslegung
entfaltet sich die Kultur im linearen Verhältnis
zu Charaktereigenschaften. So resultiert die
minderwertige Kulturleistung der deutschen
Katherine Stroczan
Aktionäre aus Risikolust und dürftiger Pflege
von Vorsichtsmaßnahmen.
Die Exemplifizierung solcher bizarren Bemühungen zur Begriffsbestimmung könnte
unendlich fortgeführt werden, wird aber nicht,
weil schon aus den hier aufgeführten Zitaten
wird das Milieu, in dem sich das Ungeheuer der
Aktienkultur bemerkbar macht, ausreichend
deutlich.
Nicht zufällig taucht dieser Begriff, manchmal auch als „die neue deutsche Aktienkultur“
spezifiziert, mit besonderer Vorliebe an Stellen
auf, die durch den Mangel an Kultur hervorstechen. Vielleicht muss in Ermangelung von Kultur
die Aktienkultur als Ersatz bemüht werden, um
die Lücke zu schließen, die die Abwesenheit
der Kultur hinterlassen hat. Möglicherweise
handelt es sich um eine Beschwörungsformel,
die bewirken soll, dass sich ein gewöhnlicher,
wenn auch besonders unüberschaubarer und
risikobehafteter Handelsplatz magisch in eine
Kult(ur)stätte verwandelt. Ist die Börse eine
Kulturanstalt, so kommt dem Aktienhandel der
Rang einer veritablen Kulturleistung zu.
Warum das Gespenst der Aktienkultur
zunehmend durch das Börsenumfeld geistert,
ist schwer zu sagen. Vermutlich ist die Ursache
dieses Phänomens ganz simpel und lässt sich mit
marktstrategischen Maßnahmen ausreichend
erklären. Denn auf die Idee, bei einer exorbitanten, das Angebot mehrfach übersteigenden
Nachfrage nach Würstchen von einer neuen
Würstchenkultur zu sprechen, kämen nicht
einmal die Medien. Eher ist anzunehmen, dass
sie ein solches Ereignis mit der Überschrift: „Die
Deutschen werden dick“ quittiert hätten. Wenn
dagegen Neuemissionen mehrfach überzeichnet
werden und die Anzahl der Kunden von Online-Brokern sowie der Aktienbesitz überhaupt
rasant wachsen, so haben wir es plötzlich mit
einer genuinen Kulturleistung zu tun. Immer
wieder kann man lesen, dass im Jahr 2000
mehr als drei Millionen Bürger Neuemissionen
gezeichnet haben. Nicht lesen kann man hingegen, dass die meisten nicht wissen, was sie
eigentlich zeichnen. Während des massenhaften
Sturms auf die Banken zwecks Zeichnung des
zur zweiten Volksaktie deklarierten InfineonPapiers wurden einige Zeichnungsbegierige
nach Gründen ihrer Begierde befragt. Den
Das Gespenst der Aktienkultur oder das Behagen in der Unkultur
Interviews konnte man entnehmen, dass das
Interesse an der Aktie keineswegs der Verliebtheit in Speicherchips, beziehungsweise der
Überzeugung hinsichtlich des Geschäftsmodells
des Unternehmens entsprang, zumal keiner
wirklich wusste, was Infineon herstellt. Worüber
allerdings die Befragten ganz genau informiert
zu sein schienen, war, dass alle zeichnen; und sie
selbst wollten aus dieser Volkslotterie nicht ausgeschlossen werden. Lotterie deshalb, weil von
Anfang an bekannt war, dass die Aktie erheblich
überzeichnet war, was heißt, dass nur wenige
Glückliche in den Genuss dieses begehrten
Objekts kommen konnten. Dass das Begehren
im inversen Verhältnis zum Angebot steigt,
ist bekannt. Während der Zeichnungsperiode
unterhielten sich zwei erregte ältere Damen in
einer Supermarktschlange über ihre Chancen,
Infineon-Aktien zu erwerben. Die offenbar mit
der Zeichnungsprozedur Vertrautere versuchte,
ihre „unaufgeklärte“ Freundin in die Gepflogenheiten des Zeichnens einzuweihen und legte ihr
dar, wie man vorgehen sollte. Sie berichtete, dass
ihre ganze Familie getrennte Depots eröffnet
hatte, um die Chancen zu erhöhen, und dass sich
ein besonders gewiefter Schwiegersohn gleich
mehrere Depots bei Direktbrokern zugelegt
hatte, womit er sich nach den geläufigen Regeln
der Wahrscheinlichkeitsrechnung eine Zuteilung
sicherte. Die Schlange hörte gebannt zu.
Wenn Gelüste, die sonst verpönt und mit
Scham besetzt eher im privaten Bereich heimlich
Befriedigung finden, geradezu in die Öffentlichkeit hinausgetragen und zum leitenden Imperativ
erhoben werden, und wenn in einem derart
gestalteten Universum der Aufklärungsbegriff
zum kalkülgesteuerten zweckrationalen Handeln
verkommt und kaufmännische Schläue definiert,
dann ist es kein Wunder, dass ein Massenphänomen, das sämtliche Pathologien integriert und
sozialisiert, zwingend zu einem eigenständigen
Kulturgut nobilitiert werden muss. So kann sich
die sachkundige, „Erfolgsstrategien“ befolgende,
den Verheißungen der nächsten „Rallye“ und der
daraus erhofften Geldvermehrung entgegenfiebernde Anlegermasse daran erfreuen, mit ihren
Börsenaktivitäten nicht nur zu eigener Bereicherung, sondern vor allem zur Bereicherung
61
der Kultur beitragen zu dürfen. Berücksichtigt
man die demokratische Grundausrichtung des
Megasupermarkts der Börse, die allen gleiche
Handelsmöglichkeiten zur Verfügung stellt, kann
jeder, dem Kulturgüter bisher verschlossen blieben, durch den Kauf einiger Aktien mit seinem
bescheidenen Handel an der Kultur partizipieren und ihr Aufblühen fördern. Der mit dem
Gütesiegel „Kulturmensch“ geadelte Anleger
kann an keinem anderen Ort mit so geringen
Einsätzen in den Genuss einer Kulturleistung
gelangen und sich einer solchen narzisstischen
Aufwertung erfreuen. Aber inzwischen wissen
wir: „Börse ist alles“.
Vor vielen Jahren hat der polnische Philosoph Leszek Kołakowski in der Jugendzeitung
„Sztandar Mlodych“ (Mai 1957) in 47 Thesen
festgehalten, was Sozialismus nicht ist. Die daraus
abgeleitete Schlussfolgerung seines Aufsatzes
lautete: „Sozialismus ist eine gute Sache“. Mit
Kultur hat man es wesentlich leichter als mit
Sozialismus; sie bedarf weder Negativthesen
noch Rechtfertigungen. Ganz unaufdringlich,
aber deutlich hat es schon Ad Reinhardt in
Bezug auf Kunst formuliert: „Kunst ist Kunst,
und alles andere ist alles andere“. Die Barbarei in
der Kunst trägt den Namen Kitsch; der Kitsch,
der an die Stelle der Kultur tritt, ist einfach die
Unkultur.
Anmerkungen
1
2
3
4
5
6
Dieser Aufsatz ist die leicht gekürzte und redaktionell
bearbeitete Fassung des Schlusskapitels des Buches
Der schlafende DAX oder das Unbehagen in der Unkultur, welches 2002 als Band 67 in der Reihe „Kleine
kulturwissenschaftliche Bibliothek“ im Verlag Klaus
Wagenbach Berlin erschienen ist. Wir danken dem
Verlag für die freundliche Genehmigung, diesen Text
in der vorliegenden Form in der Zeitschrift Berliner
Debatte Initial abdrucken zu dürfen. (Anm. d. Red.)
Freud, Sigmund (2000 [1930]): Das Unbehagen in der
Kultur, Studienausgabe, Bd. IX, Frankfurt a.M.: Fischer,
S. 267-286.
Chancellor, Edward (1999): Devil Take The Hindmost.
A History of Financial Speculation, London: Macmillan,
p. 29.
Zola, Emile (1995 [1891]): Das Geld, Berlin: Aufbau
Verlag, S. 464f.
Herbert, Zbigniew (1994): Stilleben mit Kandare. Skizzen
und Apokryphen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Börse Online Spezial, Nr. 1/2001, S. 3.
62
Berliner Debatte Initial 20 (2009) 2
Rainer Land
Die globale Energiewende und
die politische Agenda von Barack Obama
Ein neues Paradigma sozioökonomischer Entwicklung
Der New Deal der 1930er Jahre
und der Nachkriegskapitalismus
Der New Deal, der in den 1930er Jahren aus
der Weltwirtschaftskrise (1929–1938) führte,
basierte auf der Kombination eines neuen
technisch-ökonomischen mit einem neuen
sozial-ökonomischen Modell. Das technischökonomische Modell war die fordistische Massenproduktion, die economy of scale und das
dazu gehörige Muster industrieller Forschung,
Entwicklung, Produktion und Nutzung der
Natur. Das sozialökonomische Modell war die
Teilhabe der Arbeiter an der wirtschaftlichen
Entwicklung in Form steigender Einkommen,
wachsenden Konsums und besserer sozialer
Absicherung: die produktivitätsorientierte
Lohnpolitik und der Wohlfahrtsstaat. Natürlich
war dieses Resultat nicht Ergebnis absichtsvoll geplanter politischer Entscheidungen
– weder des Präsidenten Roosevelt noch der
US-amerikanischen Wirtschaftsbosse noch
der Wähler oder der Bevölkerung. Es war das
Ergebnis sozio-ökonomischer und politischer
Entwicklung (im Sinne Schumpeters), also eines
Evolutionsprozesses unter den Bedingungen
einer tiefen Weltwirtschaftskrise, einer – wenn
man so will – systemischen Krise des Kapitalismus, der zweiten systemischen Krise nach
dem Ersten Weltkrieg, den Revolutionen und
der deutsch-österreichischen Inflation.
Bekanntlich hatte dieser Prozess des institutionellen Wandels, der Suche nach einem
Weg aus der Krise in den 1930er Jahren zunächst zu differenten Entwicklungspfaden
geführt – wenn man etwa Deutschland (eine
nationalistische Sozialpolitik, kombiniert mit
Protektionismus, Abschottung, Eroberung
und Ausbeutung anderer Völker), die anderen
europäischen Mächte (vor allem Großbritannien, das mittels protektionistischer Strategien
aus der Krise kommen wollte und erst nach
dem Zweiten Weltkrieg eine sozial orientierte
Wirtschaftspolitik übernahm), die stalinistische
Industrialisierungspolitik in der Sowjetunion
und die USA vergleicht. Unstrittig ist, dass sich
im Ergebnis der amerikanische Weg aus der
Krise durchgesetzt hat, aber erst im Verlauf
des Zweiten Weltkriegs und danach, während
sich der britische und der deutsche Weg bald,
der sowjetische erst in den 1970er Jahren als
nicht lebensfähig herausstellten.
Der Take off dieses amerikanischen Entwicklungspfads war die Kombination des
New Deal des Präsidenten Roosevelt mit der
fordistischen Massenproduktion. Ersterer
beinhaltete staatliche Konjunkturprogramme
gegen die Not der Arbeiter, die Arbeitslosigkeit
und zur Belebung der Wirtschaft.
Der New Deal bewirkte eine Neuverfassung
des Sozialen im Kontext des US-amerikanischen
Kapitalismus. Es ist nicht unangemessen, einige Maßnahmen hier aufzuzählen: staatliche
Überwachung der Börsen, Preiskontrolle für
Agrarprodukte (heute wäre an Energieprodukte zu denken), Arbeitszeitverkürzung,
freiwilliger Arbeitsdienst, kommunale Investitionen, Rechtsgrundlage für Gewerkschaften
und Streikrecht, Einführung einer staatlichen
Rente, einer Arbeitslosenversicherung und von
Mindestlöhnen, Einführung der progressiven
Einkommenssteuer (einer Reichensteuer!),
Verbot des privaten Besitzes von Gold und
Silber. Später kamen Freihandel und das Prin-
Die globale Energiewende und die politische Agenda von Barack Obama
zip der Meistbegünstigung im internationalen
Handel hinzu.1
Der New Deal war eine Neuverfassung des
Sozialen im US-amerikanischen Kapitalismus;
er unterschied sich definitiv von anderen
Arten der Krisenbewältigung. Der deutsche
Faschismus versuchte eine Neuverfassung des
Sozialen auf eine im Kern ganz andere Art.2
Allerdings waren die Wirkungen des New Deal
zunächst sehr begrenzt; erst seine Kombination
mit dem bis dahin größten kreditfinanzierten
Investitionsschub aller Zeiten – ausgelöst durch
den Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg
und den Beginn der Kriegsvorbereitungen
– brachten den Auftakt zur längsten und umfassendsten Phase wirtschaftlicher Entwicklung
im Kapitalismus, von 1941 bis 1975. Denn
infolge dieses Investitionsschubs boomte nicht
nur die Rüstungsindustrie. Die Löhne stiegen
in bis dahin ungeahnte Höhen, und dem Boom
der Rüstungs- und Investitionsgüterindustrie
folgte ein Boom der Konsumgüterindustrie.
Der Krieg führte in den USA nicht zu einer
Politik des „Gürtel-enger-Schnallens“, bezogen
auf Löhne und Konsum; im Gegenteil. Die
USA versorgten auch Großbritannien, lieferten
Rüstungs- und Investitionsgüter, Lebensmittel
und Konsumgüter an die Sowjetunion und
versorgten nach Kriegsende halb Europa wie
nebenher mit. Das Wirtschaftswunder war
immer zugleich ein Konsumwunder, das dann
auch ohne Krieg und bei erheblich geringeren
Rüstungsausgaben weiter funktionierte, also im
Ergebnis keine Kriegswirtschaft war.
Wichtig ist diese Kombination: Neuverfassung des Sozialen und Einstieg in einen neuen
Industrialisierungs- und Investitionszyklus, die
fordistische Massenproduktion, wodurch die
entscheidenden Kombinationen möglich wurden: Massenproduktion und Massenkonsum,
Kapitalverwertung und Teilhabe der Lohnarbeit am wachsenden Reichtum. Der Weg aus
der Krise war ein neuer Pfad wirtschaftlicher
Entwicklung, der auf der Grundlage des Kapitalismus ein neues Prinzip der industriellen
Entwicklung mit einem neuen Prinzip der
sozialen Entwicklung kombinierte.
Der Weg aus der Krise war nicht die nationale und soziale Diktatur, wie in Deutschland,
auch nicht die direktive Planwirtschaft, aber
63
auch nicht eine Politik der Einschränkungen auf
Kosten der Arbeiter, wie sie in den konservativen
westeuropäischen Ländern versucht wurde,
sondern die Neuorientierung des Kapitalismus
durch die politisch induzierte Neuverfassung
seines sozialen Kontextes und die Konstruktion
eines darauf basierenden neuen Pfads industrieller Entwicklung, der bekanntlich während
des Zweiten Weltkriegs und danach auf ganz
Westeuropa und Japan ausgeweitet wurde und
sich schließlich auch in weiten Teilen Asiens
etablierte. Erst als dieser Pfad selbst erschöpft
war und in die Krise geriet (in den 1970er und
1980er Jahren), führte der Zusammenbruch der
staatssozialistischen Wirtschaftssysteme auch
diese Länder auf den Pfad eines fordistischen
Wohlfahrtskapitalismus – freilich zu einem
Zeitpunkt, als dieses Modell schon nicht mehr
besonders gut funktionierte.
Man mag diese Art wirtschaftlicher Entwicklung, dieses an die Konsumtion der
Massen – also vor allem die der Arbeiter
– gekoppelte Modell der Kapitalverwertung
aus heutiger Sicht kritisieren. Erstens schloss
sie die extraordinäre Luxuskonsumtion der
ganz Reichen nicht aus, blieb also „ungerecht“,
auch wenn sie die Arbeiter am wirtschaftlichen
Ergebnis beteiligte. Zweitens löste sie zwar das
Problem des Hungers und des Elends für die
Bevölkerungsmehrheit in den entwickelten
kapitalistischen Ländern, aber kleine Teile der
inländischen Bevölkerung und große Teile der
Menschen in der sogenannten Dritten Welt
blieben von der Teilhabe an der Konsumgesellschaft ausgeschlossen.
Drittens aber musste dieser Typ wirtschaftlicher Entwicklung seine eigene Grundlage
zerstören, denn er beruhte zwar auf permanenter Steigerung der Arbeitsproduktivität,
aber eben nicht auf einer ebenso schnellen
Steigerung der Ressourcen- und Energieeffizienz. Die wirtschaftliche Entwicklung ging
also mit einer ständig steigenden Belastung
der Naturressourcen, des Energie- und Rohstoffverbrauchs, der Abprodukte und der
Emissionen einher. Irgendwann mussten die
Tragfähigkeitsgrenzen erreicht werden – und
sie wurden in mehrerer Hinsicht in den 1970er
Jahren erreicht. Man erinnere sich an die 1970er
und 1980er Jahre: die Ölkrisen, das Ozonloch,
64
die Versauerungsgase, das Waldsterben, die
Vergiftung der Flüsse und Seen – einige dieser
frühen Probleme sind heute mehr oder weniger
gelöst oder gemildert; man kann hoffen. Aber
es bleiben solche, die ungelöst sind und unlösbar scheinen: die CO2-Emissionen, die Erderwärmung, die Klimaprobleme, die Belastung
der Weltmeere mit CO2, die Überlastung der
Umwelt mit naturfremden Chemikalien, die
Probleme der langfristigen sicheren Lagerung
der Nuklearabfälle, der dramatische Verlust der
Biodiversität und die Destabilisierung wichtiger
Ökosysteme der Erde, z.B. der Regenwälder
und der Gletscher.
Meine These lautet: Seit den 1970er Jahren
fressen die negativen Skaleneffekte sinkender
Ressourceneffizienz die positiven Skaleneffekte der Massenproduktion, der steigenden
Arbeitsproduktivität auf; weltwirtschaftlich
haben wir per Saldo wahrscheinlich eine
Stagnation der Gesamteffizienz (der Synthese
von Arbeitsproduktivität, Ressourceneffizienz
und Grundfondseffizienz resp. Kapitalproduktivität) zu konstatieren. Seit den 1970er Jahren
kann die Verwertung des Gesamtkapitals also
nicht mehr durch steigende Gesamteffizienz
der industriellen Produktion erreicht werden,
sondern nur noch auf drei anderen Wegen:
Erstens durch Umverteilung zulasten der Bevölkerung, also durch partielle Rücknahme des
Teilhabeprinzips, der produktivitätsorientierten
Lohnpolitik und des Sozialstaats – also der
Voraussetzungen, auf denen der Erfolg des
Nachkriegskapitalismus beruhte. Zweitens
durch Standortwettbewerb, Umverteilung
zulasten der Konkurrenten, verwirklicht insbesondere im Modell des Wettbewerbsstaates,
mit dem ein Welthandelssystem komparativer
Vorteile im Handel mit fordistischen Massenproduktionsgütern und den dafür benötigten
Investitionsgütern und Rohstoffen zerstört
wurde. Eingeschlossen war die systematische
Zerstörung des dazu gehörigen Weltfinanzsystems, beginnend mit dem Ende des Bretton
Wood-Modells. Drittens schließlich durch
eine Verselbstständigung der Verwertung des
Finanzkapitals, der Entstehung eines Finanzmarktkapitalismus, dessen Wirkung in einer
Umverteilung des realen Bruttoinlandsprodukts
zulasten der Allgemeinheit und zugunsten
Rainer Land
erfolgreicher Finanzmarktakteure besteht, vor
allem aber in der zeitlich befristeten Fiktion eines
monetären Wachstums, hinter dem allerdings
kein realwirtschaftliches steht.
Der Weg der fortgesetzten Deregulierung
des Finanzsystems und der Aufblähung des
Geldkapitals musste zu Finanzkrisen wie der
gegenwärtigen führen. Klar ist, dass alle drei
Wege das Problem der Grenzen des fordistischen Typs wirtschaftlicher Entwicklung nicht
lösen können, sondern nur hinausschieben.
Die einzige logisch mögliche Lösung wäre
der Übergang zu einem ressourceneffizienten
und umweltkompatiblen Typ wirtschaftlicher
Entwicklung.
Der Verzicht auf wirtschaftliche Entwicklung wäre aber kein Ausweg, denn er würde
den Status quo festschreiben. Die bis heute
gegebenen und ohne einen anderenTyp von
Industrie unlösbaren Umweltprobleme würden
weiter bestehen und den Tod der heutigen
Menschheit zur Folge haben. Verzicht auf
wirtschaftliche Entwicklung würde bedeuten,
auf die künftigen Technologien zu verzichten,
mit denen Umweltzerstörung vermieden und
die schon bestehenden Umweltprobleme wenigstens teilweise repariert werden könnten.
Auch der immer wieder geforderte Verzicht
auf Wachstum wäre keine Lösung. Der einmal
gegebene Pfad des Bevölkerungswachstums
wird frühestens 2050 zu einer Stabilisierung
der Weltbevölkerung bei neun bis zehn Mrd.
Menschen führen (derzeit knapp sieben Mrd.).
Verzicht auf wachsende Produktion von
Lebensmitteln, Konsumgütern und Dienstleistungen hätte zur Folge, dass Jahr für Jahr
pro Kopf immer weniger verbraucht werden
müsste, die Menschen der entwickelten Länder
also erheblich mehr abgeben müssten, als die
Menschen in der Dritten Welt hinzugewännen.
Am Ende litten alle Not. Die einzige Alternative
ist eine neue Kombination von Entwicklung
und Wachstum, eine wirtschaftliche Entwicklung, bei der eine wachsende Produktion mit
sinkendem Ressourcenverbrauch (Energie,
Rohstoffe und Emissionen) einhergeht und eine
umweltkompatible Industrie entsteht.
Verzicht auf Entwicklung und Verzicht
auf Wachstum wären tödlich, ebenso wie ein
Wachstum ohne Entwicklung oder eine Ent-
Die globale Energiewende und die politische Agenda von Barack Obama
wicklung ohne Wachstum. Die Alternative ist
ein anderer Pfad wirtschaftlicher Entwicklung,
Wachstum, basiert auf einem anderen Prinzip
wirtschaftlicher Entwicklung, und die Erfindung
wie der Aufbau eines entsprechenden neuen
Typs von Industrie, natürlich weltwirtschaftlich.
Wenn ein solcher Pfadwechsel gelänge, hätte
dies weltwirtschaftlich einen noch größeren
Investitionsboom und Entwicklungsschub zur
Folge als den, der nach dem Zweiten Weltkrieg
zur Entstehung des fordistischen Teilhabekapitalismus geführt hat.
Die politische Agenda von Barack
Obama kann Ausgangspunkt eines
neuen Entwicklungspfads werden
Die globale Energiewende ist der Schlüssel zu
einem neuen Entwicklungs- und Industrialisierungspfad. Dabei handelt es sich nicht um einen
einfachen Strukturwandel, sondern um eine
industrielle Revolution, die zugleich auch eine
wissenschaftlich-technische und eine sozialökonomische Revolution, ein Paradigmenwechsel
wirtschaftlicher Entwicklung sein wird. Wir
stehen global an einer ähnlichen Wegscheide
wie vor 80 Jahren. Die alte Welt der fordistischen
Wohlfahrtsökonomie ist am Ende, seit etwa
30 Jahren im Niedergang, und nun zeigt die
Weltwirtschaftskrise auch, dass die Auswege
– der Weg des Finanzmarktkapitalismus und
des Wettbewerbsstaats – Sackgassen waren,
die alles nur noch schlimmer gemacht haben.
Nötig ist eine neue Kombination: ein anderer
Industrialisierungspfad (eine energieeffiziente
und ressourceneffiziente Weltwirtschaft) und
ein dazu passendes neues Prinzip sozialer Teilhabe, die global zu verfassen wäre (also Indien,
China, Afrika und Lateinamerika nicht ausschließen kann). Nötig wäre ebenso eine neue
Form globaler Kooperation, die das neoliberale
Modell der Exklusion der Überflüssigen und
das Prinzip des Wettbewerbsstaates ablöst.
Wie damals kann die Krise der Katalysator
eines politischen Prozesses werden, der zu
einem neuen, auf Zeit (nicht für immer) wieder funktionsfähigen Entwicklungsweg führt.
Diesmal geht es nicht nur darum, einen Typ
wirtschaftlicher Entwicklung durch politische
65
Evolution, durch politische Auseinandersetzung
hervorzubringen, der Kapitalverwertung und
soziale Entwicklung bis auf Weiteres wieder
miteinander vermittelt (also auf Zeit in Übereinstimmung bringt); diesmal geht es zusätzlich um
ein neues Prinzip der Vermittlung von Industrie
und Umwelt. Eingeschlossen ist aber die Wiederherstellung des Sozialen, die Aufhebung der
neoliberalen Deregulation zulasten der Arbeit
– aber nicht durch einfache Wiedereinsetzung
der fordistischen Lohn- und Konsumregulation, sondern durch ein Sozialprinzip, das
zu einem neuen Naturverhältnis und einer
neuen Industrie passt, also Erwerbsarbeit und
Massenkonsum bei sinkenden Ressourcenbelastungen ermöglicht.
Eingeschlossen ist auch die Wiederherstellung eines auf komparativen Vorteilen basierten Weltmarkts und eines dazu passfähigen
globalen Finanzsystems, also die Beendigung
des Systems des Wettbewerbsstaates und der
Gewinne zulasten der anderen Weltmarktakteure. „Komparative Vorteile“ bedeutet, dass
Strategien industrieller Entwicklung dominieren, bei denen potenziell alle profitieren,
jedenfalls die Summe aller Gewinne größer
ist als die aller Verluste (sogenannte WinWin-Szenarien, von denen in den vergangenen
Jahren viel geredet wurde, die aber durch das
gegebene Welthandels- und Finanzsystem nicht
begünstigt werden). Das bedeutet heute vor
allem, nach Strategien einer globalen Energiewende zu suchen, bei denen die Lösung der
Energiefrage für die nachholende Entwicklung
(also der Ausbau der Energiesysteme in China,
Indien, Lateinamerika und Afrika) und der
Umbau der Energiesysteme in den entwickelten Industrieländern als eine gemeinsame
Aufgabe mit komparativen Vorteilen für alle
in Angriff genommen wird; also gerade nicht
durch Abwälzung der Lasten auf andere gelöst
werden soll.
Bis vor wenigen Monaten waren die USA
– jedenfalls ihre Regierung und große Teile ihrer
Unternehmen und Finanzmarktakteure – der
Garant dafür, dass ein politischer Paradigmenwechsel, der längerfristig auf den evolutionären
Pfad eines anderen Industrialisierungsmusters
und einer anderen sozioökonomischen Konfiguration führt, nicht stattfindet.
66
Doch innerhalb weniger Monate hat sich
das Blatt gewendet – vielleicht. Man weiß nicht,
ob es gelingen wird, und auch nicht, wie dieser
Pfad am Ende genau aussehen wird (so wenig,
wie Roosevelt den Wohlfahrtskapitalismus der
1960er Jahre schon 1933 vor Augen hatte).
Aber nun ist ein „Wunder“ geschehen. Zu
der Agenda des neuen Präsidenten Barack
Obama gehören die drei Kernelemente, die
nötig wären, um auf einen neuen Pfad sozioökonomischer Entwicklung einzuschwenken.
Sie deuteten sich bereits im Wahlkampf an,
sind noch deutlicher geworden in der Agenda des Weißen Hauses und in der Politik zur
Bekämpfung der Weltwirtschaftskrise seit
Februar 2009. Die Notwendigkeiten, unter
großem Zeitdruck die Rezession in den USA
zu begrenzen und die sozialen Folgen abzufedern, haben – ganz anders als in Deutschland
– nicht zu einer Aufweichung bei der Suche
nach einer neuen Strategie geführt, sondern
die neue Orientierung auf einen neuen Entwicklungspfad eher verstärkt.
Es sind diese drei Komponenten: Erstens
die Wiederherstellung und Erweiterung des sozialen Prinzips. Zweitens die Etablierung eines
neuen Prinzips wirtschaftlicher Entwicklung,
für das die Energiewende den Schlüssel darstellt.
Drittens der Übergang zu einem neuen Prinzip
der Außenpolitik und der Weltwirtschaftspolitik, bei dem es nicht darum geht, die eigenen
Interessen zu vergessen oder zurückzustellen
(wer so messen würde, müsste feststellen, dass
Obamas Politik nach wie vor Interessenpolitik
ist, aber das ist sie wie jede andere Politik auch!),
sondern darum, die eigenen Interessen durch
Kooperation und Verständigung zu verfolgen,
also Positivsummenspiele in der Weltwirtschaft
und der Weltpolitik zu suchen. Daher kann es
auch nicht um Protektionismus gehen, aber es
geht sehr wohl um eine neue Weltwirtschaftspolitik, bei der Gewinne nicht durch Monopole
zulasten anderer, sondern durch Kooperation
und komparative Vorteile erwirtschaftet werden. Dann, aber auch nur dann ist Freihandel
gut. Genau diese Unterschiede müssen durch
die Regulation des Weltfinanzsystems und der
Weltwirtschaft wieder zu Geltung gebracht
werden.
Obamas große Leistung ist es heute schon,
Rainer Land
die Notwendigkeit einer Überwindung der
Wirtschaftskrise nicht gegen das soziale Prinzip
zu kehren, die Notwendigkeit einer Erneuerung
des Sozialen nicht gegen eine Energiewende ins
Feld zu führen, und schließlich, die Erneuerung
der Stärke Amerikas nicht gegen die gemeinsame Arbeit an einer besseren Weltordnung
zu wenden.
Wir wissen nicht, ob dies gelingen kann,
aber wenn wir wollen, können wir Konturen
einer Politik erahnen, die der des New Deal
ebenbürtig werden kann.
Anmerkungen
1
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2
Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/New_Deal, 14.3.2009,
14:00. Genannt werden folgende Maßnahmen:
staatliche Überwachung der Börsen,
Mindestpreise für Agrarprodukte.
Die Gewerkschaftsforderung nach einer 40-Stundenwoche fand Unterstützung bei den Unternehmern und
wurde eingeführt.
Ein freiwilliger Arbeitsdienst (Civilian Conservation
Corps – CCC) wurde organisiert, der für die Aufforstung und Bodenverbesserung eingesetzt wurde.
Zur Wirtschaftsbelebung wurden 122.000 öffentliche
Gebäude, eine Mio. km Straßen und 77.000 Brücken
gebaut. Verantwortlich dafür waren verschiedene
Behörden (u.a. Civil Works Administration – CWA,
Works Progress Administration – WPA).
Die Tennessee Valley Authority (TVA) baute 20
Staudämme im Tennesseetal.
Die landwirtschaftliche Produktion wurde reduziert,
um den Farmern rentable Preise zu schaffen. Die Bundesregierung gewährte den Farmern dafür Geldmittel
aus dem Agricultural Adjustment Act (AAA) vom 12.
Mai 1933.
Den Gewerkschaften wurde eine feste rechtliche
Grundlage gegeben, ein formelles Streikrecht wurde
eingeführt.
Kinderarbeit wurde verboten.
Eine staatliche Rente wurde eingeführt.
Eine Arbeitslosenversicherung wurde ins Leben
gerufen.
Für Industriearbeiter wurden Mindestlöhne eingeführt.
Ein Steuersystem mit niedrigen Sätzen für Arme und
hohen Sätzen für Reiche wurde eingeführt.
Der private Gold- und Silberbesitz wurde verboten
(von 1933 bis 1974).
Ebenfalls bedeutend wurde – jedoch erst zu einem
späteren Zeitpunkt – der Reciprocal Trade Agreement
Act, bei dem die US-Regierung erste Grundlagen für
Freihandel nach dem Prinzip der Meistbegünstigung
legte.
Vgl. Manfred Lauermann: Das Soziale im Nationalsozialismus, in: Berliner Debatte INITIAL 9 (1998)
1; Wolfgang Schivelbusch: Entfernte Verwandtschaft – Faschismus, Nationalsozialismus, New Deal
1933–1939. München, Wien 2005.
Berliner Debatte Initial 20 (2009) 2
67
Energiewende international
Mit Hermann Scheer sprach Rainer Land
Rainer Land: Vor einigen Jahren schilderten
Sie Ihre Eindrücke von einer Reise durch die
USA. Das Fazit: Energieverschwendung, wohin
man sah. Und dazu eine USA-Administration,
die ein neues Herangehen an das Thema Klima
und Energie systematisch auszubremsen versuchte, das Faktum des industriell verursachten
Klimawandels selbst bestritt und national wie
international gegen eine neue Energiepolitik
wirkte.
Die Obama-Regierung hat einen grundlegend anderen Kurs eingeschlagen. Aber schon
seit einigen Jahren wird insbesondere aus
Kalifornien von beispielhaften Projekten in
Unternehmen und Kommunen berichtet, z.B.
über Elektroautos, Solaranlagen auf öffentlichen
Gebäuden und energieeffizientes Bauen. Bemerkenswert ist auch das Bürgerengagement
für eine Energiewende.1 Offensichtlich sind dies
nicht nur Einzelbeispiele. Kann man schon von
einer Bürgerbewegung für eine Energiewende
in den USA sprechen?
Hermann Scheer: Mein Eindruck ist,
dass die Länder, die überreich sind an nicht
erneuerbaren Ressourcen, am weitesten zurückliegen. Das gilt für Brasilien, für Kanada,
die USA, für Australien und Russland. Da ist
der Druck nicht besonders groß. Wenn man
von Öl und Gas absieht, sind die USA von
Importen unabhängig, und sie sind auch bei Öl
und Gas noch heute weniger importabhängig
als die EU oder Japan. Die USA haben eine
Importabhängigkeit von etwa 60 Prozent, fast
ausschließlich Öl und Gas betreffend. Australien ist Kohleexporteur und Uranexporteur.
Kanada hat 30 Millionen Einwohner auf zehn
Millionen Quadratkilometern, Brasilien hat
acht Millionen Quadratkilometer und 188
Millionen Einwohner, Russland 17 Millionen
Quadratkilometer und gut 140 Millionen
Einwohner. Überall dort ist der Druck nicht
so unmittelbar zu spüren, und es wird sehr
viel am Rohstoffgeschäft verdient. Das sind
ganz andere Verhältnisse als bei uns mit gut
80 Millionen Einwohnern und 0,35 Millionen
Quadratkilometern.
Aus diesem Grund sind nicht nur die USA
rückständig. Die USA sind aber ein besonderes
Problem, weil sie pro Kopf ein Vielfaches der
Energie verbrauchen; wegen des amerikanischen „Way of Life“ und des langjährigen
Wohlstands sind die Konsumstandards ganz
andere als in Russland. Aber sie sind nicht
anders in Australien oder Kanada.
Interessant ist aber, dass die Basis für erneuerbare Energien in der Bevölkerung der USA
viel größer ist, als man hier zumeist annimmt.
Das hat sich schon in den 1970er Jahren gezeigt.
Damals waren die USA eigentlich das treibende
Land bei der Umorientierung auf erneuerbare
Energien. Es begann mit den Erfahrungen
aus der Ölkrise von 1973. Das hat sie mehr
geschockt als die Europäer. Noch unter Nixon
gab es 1974 das Energy Independence Project.
Dann kam Carter, der hat noch mehr auf die
Tube gedrückt. 1978 gab es das Energieautonomie-Gesetz, und in der zweiten Hälfte der
1970er Jahre hatten die Amerikaner das mit
Abstand ambitionierteste Forschungs- und
Entwicklungsprogramm für erneuerbare Energien. Und es gab eine richtige Bewegung dafür,
ausgehend von Kalifornien. Mit dem Wechsel
von Jimmy Carter zu Ronald Reagen brach das
1981 abrupt ab. Die Ölindustrie war der wich-
68
tigste Geldgeber von Reagans Wahlkampagne.
Das Forschungs- und Entwicklungsprogramm
wurde innerhalb eines Jahres um 80 Prozent
rasiert. Viele Institute brachen ein, und die
kleinen Firmen, die entstanden waren, wurden
aufgekauft – nicht, um sie weiterzuführen,
sondern um sie kaltzustellen. Das führte zu
einem Hearing im amerikanischen Kongress,
aber da war die Messe schon gesungen. In den
1980er Jahren wurde dann überall Entwarnung
gegeben, weil die Ölpreise wieder runtergingen
– als ob die Ölpreise das einzige Motiv für
erneuerbare Energien seien.
Diese erste Welle für erneuerbare Energien,
in der die USA der Vorreiter waren, hatte mit
dem Klimaproblem noch gar nichts zu tun; es
ging um Energieunabhängigkeit und saubere
Luft. Die 1980er Jahre waren für die erneuerbaren Energien ein verlorenes Jahrzehnt
– mit einer einzigen Ausnahme, das war die
Bioalkoholstrategie in Brasilien. Die wurde
weitergetrieben, weil man merkte, dass man
damit unabhängig vom Öl werden könnte.
Was wir jetzt erleben, ist ein langer zweiter
Anlauf, der von Deutschland ausging. Daran
war ich ja maßgeblich beteiligt – nicht zuletzt
beim systematischen Widerlegen der Desinformationskampagnen der herkömmlichen
Energiewirtschaft: den Behauptungen, dass
regenerative Energien vom Potenzial her nicht
ausreichten, viel zu teuer seien und über eine
Nische nie hinauskommen könnten. Das wurde
in Deutschland durch viele außerparlamentarische lokale Initiativen letztlich überwunden,
der Weg führte vom „Nein“ zur Atomenergie
zum „Ja“ zu erneuerbaren Energien. Im Parteiensystem war die allmähliche Veränderung
der SPD-Position in dieser Frage entscheidend.
Als Rot-Grün 1998 begann, kamen die weitgehenden Forderungen dazu von uns.
R.L.: Lag das daran, dass die Grünen mit
„Wachstum“ nichts zu tun haben wollten,
regenerative Energien aber eine Strategie für
eine andere Art wirtschaftlicher Entwicklung
sind, also wirtschaftliches Wachstum nicht
ausschließen?
H.S.: Man muss bei dieser Frage natürlich
das Spannungsfeld zwischen Naturschutz im
engeren Sinne und Ökologie im weiten Sinne
sehen, das auch vielen Umweltorganisationen
Gespräch mit Hermann Scheer
zu schaffen macht. Das merkt man ja auch
daran, dass Naturschutzargumente für den
Widerstand zum Beispiel gegen kleine Wasserkraftanlagen oder gegen Windkraftanlagen angeführt werden. Die administrativen
Barrieren, die da aufgerichtet sind, könnten
als Stoff für einen Kafka-Roman dienen. Über
derartige Maßstabslosigkeit kann man nur mit
dem Kopf schütteln.
Das Erneuerbar-Energien-Gesetz EEG
(ursprüngliche Fassung im April 2000 in Kraft
getreten, letzte Fassung vom April 2009) hat in
seinem Vollzug alle diese Gegenargumente, alle
Desinformationen Zug um Zug widerlegt. Das
hat auch geholfen, die internationale Diskussion
wieder aufzubrechen.
Es geht nicht nur um die Klimadebatte;
die Beschränkung oder Fokussierung darauf
wäre ein Fehler, der in der gegenwärtigen Debatte häufig gemacht wird. Natürlich ist das
Klimaproblem schon für sich genommen ein
ausreichender Grund für eine Energiewende.
Aber es ist eben nicht nur das. Die Dritte Welt
sagt, das Klimaproblem hätten die entwickelten
Länder zu verantworten: „Für uns ist wichtig,
dass wir überhaupt genug Energie haben, um
uns entwickeln zu können.“ Dieses Bedürfnis
kollidiert aber mit der Tatsache, dass die
konventionelle Energie perspektivisch gar
nicht für alle reicht und heute schon immer
weniger für alle reicht. Wir sind schon in der
Phase der beginnenden Erschöpfung dieser
Vorkommen, was ja bedeutet, dass fossile
Energien immer teurer werden. Die internationale Energiewirtschaft wird immer mehr
zur Angebotswirtschaft, weil die Nachfrage
größer ist als das mögliche Angebot. In jedweder Anbieterwirtschaft steigen die Preise.
Die Monopolisierung der internationalen
Energiewirtschaft ist schon quellenbedingt.
Wenige Länder, wenige Eigentümer verfügen
über die Vorkommen, aber verbraucht wird
Energie überall.
R.L.: Es geht also nicht nur um das Klimaproblem, sondern um einen neuen Typ wirtschaftlicher Entwicklung …
H.S.: Ja. Auch wenn es das Klimaproblem
nicht gäbe, müssten wir erneuerbare Energien beschleunigt nutzen. Wenn man alles
Energiewende international
dem Klimaproblem zuordnet, dann kommt
zwangsläufig der Vorschlag, die Atomenergie auszubauen. Oder solche merkwürdigen
Vorschläge wie „clean coal“, die nichts weiter
sind als ein Rettungsring für das Weiterführen
großer Kohlekraftwerke.
R.L.: Das ist die Technologie zur Abscheidung und Speicherung von CO2 unter der Erde
(CCS) …
H.S.: Unverantwortlich. Denn das darf ja
nie wieder raus.
R.L.: Zudem würde sich die Abhängigkeit
der Dritten Welt von der Weltenergiewirtschaft
sowohl bei der Kernkraft als auch bei der
Weiterführung der fossilen Energiewirtschaft
weiter fortsetzen.
Dezentrale Lösungen wären sicher besser,
sowohl für die Chancen der Entwicklungsländer,
die keine Energieexporteure sind, als auch für
die vielen kleinen lokalen Akteure, die neue
nachhaltige Entwicklungen begonnen haben
und die vielleicht nicht bestehen könnten,
wenn die großen Energiekonzerne ihre Monopole behalten.
Aber ist eine dominant dezentrale Lösung
beim Aufbau regenerativer Energien realistisch? Die internationalen Energiekonzerne
leisten ja jetzt schon massiven Widerstand,
auch wenn sie gleichzeitig versuchen, selbst in
das Geschäft mit den regenerativen Energien
einzusteigen. Muss man nicht einen Interessenausgleich, einen Kompromiss mit den großen
Energiekonzernen suchen, um Blockaden zu
verhindern und den regenerativen Energien
zum Durchbruch zu verhelfen?
H.S.: Das glaube ich eben gerade nicht.
Das ist der Irrtum der Energiepolitik, die über
Jahrzehnte von der Energiewirtschaft gesteuert
wurde. Es ist ein großer Irrtum, dass man die
heutigen großen Energieversorger für den
Ausbau der regenerativen Energie zwingend
brauchen würde. Sie sind sogar das größte
Hindernis. Wozu braucht man sie? Sie sind die
einzigen Verlierer dieser Entwicklung!
R.L.: Vielleicht braucht man sie nicht, aber
werden sie ihren Niedergang stillschweigend
hinnehmen?
H.S.: Natürlich nicht; aber deshalb braucht
man eine Politik, die die Energieversorgung
unabhängig von den heutigen Energieversor-
69
gern zu organisieren versucht und dafür die
politischen Instrumente bereitstellt. Wir sind
auch in Deutschland noch lange nicht über den
Berg, und wir haben noch längst nicht alle Privilegien der herkömmlichen Energiewirtschaft
beseitigt, auch nicht die der Atomwirtschaft.
Dazu gehört die weitestgehende Freistellung
von Haftpflichtversicherungen. Es gibt keine
Atombrennstoffsteuer. Die widerliche Praxis
der steuerfreien Rückstellung für die atomare
Entsorgung, die über Jahrzehnte für freie Investitionen verwendet werden können, führt zu
ungerechtfertigten Wettbewerbsvorteilen, wird
zur Monopolisierung ausgenutzt. Dann die Planungsprivilegien im Leitungsbau. Jetzt soll ein
Planungsprivileg für CCS, für Endlagerstätten
und den Bau von Pipelines geschaffen werden.
Das ist jetzt in der Gesetzesvorlage.
Zu den Privilegien der herkömmlichen Energiewirtschaft gehören auch die Restriktionen
gegen erneuerbare Energien; administrative
Hemmnisse, die auf der bundespolitischen
Ebene meistens gar nicht aufzuknacken sind,
weil es sich um Länderangelegenheiten handelt. Beispielsweise die Raumordnung. In der
Raumordnungspolitik gibt es die sogenannten
öffentlichen Belange, die Vorrang haben. Erneuerbare Energien erscheinen nirgendwo, in
keinem Raumordnungsgesetz, als öffentlicher
Belang. Damit ist der willkürlichen Verweigerung von Standortgenehmigungen Tür und
Tor geöffnet.
Das für Hessen 2008 konzipierte Energieprogramm2 baute darauf auf, dass diese
Planungswiderstände aufgehoben werden.
Diese sind das zentrale Hemmnis, das einem
weiteren Ausbau der erneuerbaren Energien
in Deutschland entgegensteht.
R.L.: Sehen Sie denn in den USA die Chance,
dass sich dezentrale Lösungen gegen die herkömmliche Energiewirtschaft durchsetzen?
H.S.: Die haben sogar eine größere Chance
als wir, wenn sie sie ergreifen, weil in den USA die
Staaten größere eigene Gestaltungsspielräume
haben. Nicht nur größere Gestaltungsspielräume als die Bundesländer in Deutschland,
sondern auch größere Gestaltungsspielräume
als die Nationalstaaten innerhalb der EU. Wenn
Kalifornien oder Colorado ein Fördergesetz
70
für erneuerbare Energien machen – es gibt
keine amerikanische Bundesbehörde, die sagt:
„Das dürft ihr nicht, das verstößt gegen das
Marktgleichheitsprinzip, gegen die Binnenmarktordnung.“ Hier würde sofort der EU-Wettbewerbskommissar zugreifen. Also die USA
haben von der Verfassungsordnung her größere
Spielräume für dezentrale Lösungen.
R.L.: Und von den Akteurskonstellationen
her? Gibt es genügend kleine Unternehmen,
Institute, Vereine, Initiativen?
H.S.: Das bildet sich dann relativ schnell,
sobald der Rahmen dafür da ist. Bislang aber
haben sie in den USA noch nicht die adäquate
Gesetzgebung dafür. Nur ein einziger Staat
hat ein Einspeisegesetz, das mit unserem vergleichbar wäre: Washington. Und Kalifornien
arbeitet daran.
Davon unterscheiden muss man allerdings,
was auf dem Bioenergiesektor passiert. Das
ist aber sehr problematisch, weil man der
bisherigen Tradition der Monokultur weiter
den Weg ebnet. Der Bioalkohol-Boom hat
schon unter der Bush-Administration die
US-amerikanische Landwirtschaft voll erfasst.
Das ist sehr ambivalent, weil es ohne die notwendigen vertieften Überlegungen geschieht.
Der Bioenergieansatz gehört dem Spektrum
der erneuerbaren Energien an, aber er ist mit
Abstand der komplizierteste.
R.L.: In Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern wurden in den vergangenen Jahren
große Biogasanlagen gebaut, die massenhaft
Mais benötigen, der eben doch in Konkurrenz
zu Nahrungsmitteln erzeugt wird. Andererseits
gibt es Landwirte, die Biomasse aus Abprodukten, aus Gülle, Stroh, Mist, Schalen, Reststoffen und biologischen Abfällen, zu Biogas
verarbeiten wollen. Dies setzt aber voraus,
dass es kleine, lokal einsetzbare Biogasanlagen
sind, die mit unterschiedlichen Arten von
Biomasse klarkommen und deren Abprodukt
(vor allem die in der Biomasse enthaltenen
Mineralstoffe) wieder dem landwirtschaftlichen
Kreislauf zugeführt werden können. Genau
diese Biogasanlagen aber sind die Ausnahme
geworden.
H.S.: Zum Bioenergieansatz gehört zwingend die Reorganisation der Landwirtschaft
Gespräch mit Hermann Scheer
insgesamt, und zwar auf der Basis integraler
Ansätze: Integration der Nahrungsmittelerzeugung, der Energieerzeugung und der
Rohstofferzeugung, und zwar auf eine Weise,
dass die Reststoffe, die in jedem dieser drei
Bereiche anfallen, jeweils wieder in die landwirtschaftlichen Kreisläufe zurückgeführt werden.
Dadurch wird ein mehrfacher Nutzen erreicht,
der die Sache rentabel machen kann. Das läuft
heute falsch, nach einer linearen ökonomischen
Logik. Alles, was man anbauen kann, Nahrungsmittel oder Energie, kann man in desaströser
Weise tun; man kann es aber auch nachhaltig
machen. Wenn man zu integrierten landwirtschaftlichen Konzepten kommt, dann fällt die
Ökologisierung der Landwirtschaft – auch der
Nahrungsmittelwirtschaft – viel leichter. Aber
dann muss man es integriert tun.
Auch die vorliegenden Analysen erfassen
das nur unzureichend. Bei Energiebilanzen für
den Raps beispielsweise muss man berücksichtigen, dass die Ölkuchen den Import von Soja
reduzieren, und auch das trägt zur Verbesserung der Energiebilanz bei. Dann fällt Glycerin
an, ein Rohstoff für die chemische Industrie.
Auch das Rapsstroh ist ein landwirtschaftlicher
Reststoff mit hohem Energiegehalt, den man
in der Wärmeproduktion nutzen kann. Und
auch die Aschen müssen als Düngemittel
berücksichtigt werden. Das alles zwingt zur
Dezentralisierung, weil sonst die Transporte
zu weit und zu teuer werden.
Dies bedeutet, dass man über die landwirtschaftliche Produktionsstruktur und Vermarktung insgesamt diskutieren muss, nicht über
Bioenergie isoliert. Nur dann kann man die
neuen ökologischen Möglichkeiten erkennen
und ergreifen.
R.L.: Noch eine Frage zu internationalen
Aspekten. Die Internationale Agentur für erneuerbare Energien IRENA3 soll im laufenden
Jahr noch mit dem Beitritt der USA rechnen
können. Kann IRENA dazu beitragen, den Streit
zwischen Industrieländern und Entwicklungsländern um die Verteilung der Emissionsrechte
zu entschärfen?
H.S.: Die IRENA ist ja etwas anderes als
das Kyoto-Protokoll. Sie ist nicht aus den
Weltklimaverhandlungen hervorgegangen.
Sie ist ein Ansatz, der von mir entwickelt und
Energiewende international
seit dem Januar 1990 immer wieder ins Spiel
gebracht worden ist, lange bevor von Klimaverhandlungen die Rede war. Bei den Klimaverhandlungen, dem Kyoto-Protokoll, gibt es zwei
grundlegende Probleme, die eng miteinander
zusammenhängen. Wenn man eine KonsensLösung versucht, auch jetzt bei Kyoto II, wo
alle Länder in einen Verpflichtungsrahmen
einbezogen werden, dann kann das Ergebnis
immer nur eine Minimalverpflichtung sein. Nun
kann man pragmatisch und zu Recht sagen,
eine Minimalverpflichtung ist besser als gar
keine. Wer Konsens haben will, kann aber nicht
wirklich beschleunigen. Wer beschleunigen
will, darf nicht auf Konsens warten.
Wenn man sich auf Minimalverpflichtungen
einigt – gut. Aber das darf nicht bedeuten,
dass alle bei Minimalverpflichtungen stehen
bleiben. Aber indem beides verknüpft wird
– und zwar durch die sogenannten flexiblen
Instrumente, den Emissionsrechtehandel, die
Joint Implementation und den Clean Development Mechanism (CDM) – wird die Minimalverpflichtung faktisch zur Obergrenze, weil
anders eine Preisbildung für die Emissionsrechte
gar nicht möglich wäre. Jedes Unterschreiten
der Obergrenze würde durch sinkende Preise
für Emissionen dazu führen, dass die Anreize
zur weiteren Senkung der Emissionen wieder
vermindert würden, der Ausbau der regenerativen Energien also abgebremst würde. Weil
die Minimalverpflichtung zur Obergrenze
wird, kommt mehr Lähmung als Dynamik in
die Entwicklung. Niemand macht dann mehr,
als diese erzwingt.
Die Verpflichtungen allgemein höher zu
setzen, also das Gesamtvolumen der erlaubten Emissionen schneller zu senken, ist aber
schwierig, weil auch unterschiedliche nationale,
regionale, wirtschaftliche und soziale Voraussetzungen und Möglichkeiten berücksichtigt
werden müssten. Das alles steht unter der
falschen Überschrift, die CO2-Minderung als
Last zu empfinden (nicht als Chance). Und dann
beginnt der Basar der Lastenverteilung – mit
den bekannten Ergebnissen. Der Ansatz, der
zu einer Lösung führt, muss im Verständnis
einer technologischen Revolution erarbeitet
und diskutiert werden. Wenn wir uns die verschiedenen technologischen Revolutionen an-
71
sehen – unabhängig davon, ob sie positive oder
negative Ergebnisse hatten – sehen wir: Es gab
keine einzige, die durch einen internationalen
Vertrag zustande gekommen wäre.
In allen technologischen Revolutionen
haben diejenigen, die die Notwendigkeiten
und Chancen für die Zukunft gesehen haben,
gesagt: Wir machen das jetzt. Schneller sein als
andere, darauf kam es an, nicht auf ein Abkommen, das sicherstellt, dass alle im Gleichschritt
vorgehen und sich am Tempo des Langsamsten
orientieren. Wir gehen voran und die anderen
werden folgen. Darauf komm,t es an.
Wenn ich die zahllosen Initiativen und internationalen Konferenzen bewerte, die fast immer
mit einem einzigen Beschluss enden, nämlich
der Durchführung einer Folgekonferenz nach
dem Motto: global reden, national aufschieben
– dann muss ich heute sagen: Dies hat dazu
geführt, dass man mit hängender Zunge hinter
der Problementwicklung herläuft. Nach 20
Jahren Klimaverhandlungen haben wir heute
die Situation, dass der negative Klimaeffekt
trotzdem immer größer geworden ist.
Der IRENA-Ansatz folgt einer gänzlich anderen Logik. Prämisse ist, die einzelnen Länder
zu bewegen, zu befähigen und zu unterstützen,
sich die Technologien zur Nutzung der erneuerbaren Ressourcen, die sie jeweils haben,
anzueignen und den Ausbau erneuerbarer
Energien nach eigenem Gusto voranzutreiben.
Und zwar ohne Mengenbegrenzungen.
IRENA wird die Aufgabe haben, Regierungen bei der Entwicklung von Politikansätzen für
erneuerbare Energien zu beraten. Es muss ja
nicht jeder seine Lernkurve von vorn anfangen,
man kann von den bisher vorliegenden Erfahrungen lernen. Für erneuerbare Energien gibt
es sehr unterschiedliche Konzepte, aber die
sind nicht beliebig. Sie müssen zugeschnitten
sein auf die jeweilige Situation der Länder, auf
die Geografie, die wirtschaftlichen Gegebenheiten, den sozialen und kulturellen Kontext.
Erneuerbare Energie führt zu einer breiten
Diversität von Energieversorgungssystemen.
Einige Länder haben beispielsweise deutlich
mehr Wasserkraftpotenzial als andere. Für
Länder wie Österreich wäre es ein Kinderspiel,
innerhalb von zwei Jahren zu 100 Prozent erneuerbaren Energien zu kommen. Man braucht
72
nur die fast 70% Wasserkraft, über die Österreich verfügt, mit Windkraft zu kombinieren.
Die Wasserkraft würde dann als Backup-System fungieren in den Zeiten, in denen nicht
genug Wind weht. Wenn nicht genug Wind
weht, springt die Wasserkraft ein, wenn viel
Windenergie verfügbar ist, drosselt man die
Wasserkraftwerke und spart die Energie der
Wasserreservoirs für Zeiten mit wenig Wind.
Da braucht man keinen Dampf vorhalten wie
bei Kondensationskraftwerken, und es gibt kein
Speicherproblem. In allen Ländern, die über
erhebliche Wasserkraftpotenziale verfügen, ist
die Umstellung auf 100 Prozent regenerative
Energien ein Kinderspiel.
R.L.: Und warum macht die Regierung in
Österreich das nicht? Ist das die Energieversorgerlobby …
H.S.: Ja sicher. Da es sich zudem in Österreich um öffentliche Gesellschaften handelt,
haben die noch einen zusätzlichen Einfluss
auf die Politik. Sie denken in alten Kategorien,
haben das Neue noch nicht begriffen, sind
verschachtelt mit den übrigen alten Energieinteressen. Und sie wollen ihre Wasserkraft gut
verkaufen, statt zunächst einmal ihr eigenes
Energiesystem zukunftsfähig umzubauen.
Die Norweger haben das jetzt eher begriffen. Norwegen hat ja praktisch 100 Prozent
Wasserkraft. Aber jetzt gibt es von anderen
Ländern Interesse, Energie aus norwegischer
Wasserkraft zu importieren. Und natürlich
wollen die Norweger exportieren. Dann braucht
man aber zusätzliche Kapazität. Vor ein paar
Jahren haben die Norweger noch gedacht,
Gaskraftwerke zu bauen, um dann mehr Energie aus Wasserkraft ans Ausland verkaufen zu
können. Jetzt sind sie endlich so weit zu sagen,
das machen wir mit Windkraft. Sie haben ja
viele Fjorde, wo üppig Wind weht und ganz
wenig Leute wohnen. Das ist die ideale Kombination. Sie könnten zu 50, 60 oder 70 Prozent
Wasserkraftenergieexport kommen, wenn sie
das Übrige durch Windkraft auffüllen.
Dazu muss aber im energiewirtschaftlichen und im energiepolitischen Denken
etwas Grundlegendes passieren: Man muss
die Strukturen der Energiewirtschaft an den
erneuerbaren Energien ausrichten und nicht
umgekehrt. Das geht nicht, solange man die
Gespräch mit Hermann Scheer
herkömmlichen Energien als Grundlage und
die erneuerbaren als Ergänzung behandelt;
umgekehrt wird ein Schuh draus. Das ist die
wichtigste Auseinandersetzung heute. Die
meisten Energieexperten sind deshalb fast alle
ein Teil des Problems.
Das kann man sehr deutlich machen an
der Grundlastdiskussion. Man muss von dem
Begriff „Grundlast“ weg und zu dem Begriff
„Grundversorgung“ kommen. Die Grundversorgung ist die erneuerbare Energie. Das,
was sie derzeit noch nicht leisten kann, das
machen andere, aber nur, solange erneuerbare
Energien es noch nicht können. Also genau
umgekehrt denken. Der Begriff „Grundlast“
ist ein Totschlagargument gegen erneuerbare
Energien. Dabei wird völlig übersehen, dass
die Windkraft beispielsweise in Deutschland
schon jetzt zu 60 Prozent in die sogenannte
Grundlast geht.
Aber das will in die Köpfe nicht rein, weil
viele sich nicht vorstellen können, dass etwas,
was heute noch 80 Prozent ausmacht, die
Reservefunktion ist (lacht), und das, was neu
dazu kommt, die Hauptfunktion. Aber genau
das ist zukunftsfähiges neues Denken.
R.L.: Gehen wir davon aus, dass die erneuerbaren Energien der Beginn und der Schlüssel
einer technischen, einer wissenschaftlichtechnischen und industriellen Revolution sind,
die zu einem neuen Typ von Industrie führen
kann und führen muss, wenn wir überleben
wollen. Dabei handelt es sich um eine globale
Revolution. Sehen Sie eine Chance, solche
Länder wie China und Indien, die heute schon
und in Zukunft noch mehr den größten Anteil
am Weltwirtschaftswachstum haben und bald
die größten Energieverbraucher sein werden,
auf diesen Weg mitzunehmen?
H.S.: Wenn einzelne Länder beginnen,
erneuerbare Energien aufzubauen, dann haben sie in ihrem Energieprogramm vielleicht
fünf oder drei Prozent erneuerbare Energien
vorgesehen. Daraus macht man heute oft eine
falsche Diskussion, weil man diese Zahl als
unveränderliche Größe auffasst, die für alle
Zukunft festgeschrieben wäre. Daraus werden
dann unsinnige Schlussfolgerungen gezogen,
beispielsweise bei der Hochrechnung künftiger
Energiewende international
Emissionen bei diesem oder jenem künftigen
Wirtschaftswachstum in China und Indien.
Diese Rechnungen stimmen aber nicht. Sehen
wir uns die deutschen Energieprogramme vor
zehn Jahren an. Da waren erneuerbare Energien
minimal. Eine Hochrechnung auf dieser Basis
wäre heute schon völlig falsch. Damals haben
wir gesagt, 12,5 Prozent bis zum Jahr 2010. Da
haben einige aufgeschrien, das sei eine völlige
Illusion. Dann haben wir 2004 ausgeweitet
auf mindestens 20 Prozent bis 2020. Da gab
es wieder Aufschreie. Jetzt sind wir schon bei
18 Prozent und haben erst das Jahr 2009. Und
das trotz der Planungswiderstände, die es in
zahlreichen Bundesländern gibt.
Ich habe das mal ausgerechnet, nur bezogen
auf die Windkraft: Wir haben derzeit 24.000
Megawatt installiert in 21.000 Anlagen. Der
Kapazitätsdurchschnitt ist 1,2, MW pro Anlage. Würde man bei diesem Bestand durch
Repowering (Ersatz der alten durch neue,
leistungsfähigere und effizientere Anlagen),
was schon lange gefördert wird, aber wegen
der Planungswiderstände nicht richtig in die
Gänge kommt, den Durchschnitt von 1,2 auf
2,5 MW pro Anlage erhöhen, hätte man eine
Verdreifachung der Stromproduktion. Das
heißt, wir könnten innerhalb kürzester Zeit
von zehn Prozent Windstrom auf 30 Prozent
kommen, mit 21.000 Anlagen – das ginge
ganz schnell.
Zweite Rechung: Wenn alle Bundesländer
die gleichen Genehmigungskriterien hätten wie
Sachsen-Anhalt – da gibt es eine Anlage pro
elf Quadratkilometer – dann hätten wir heute
schon 20 Prozent Windkraft. Dies repowert,
hätten wir schon 60 Prozent. Das könnte man
sehr schnell machen, in fünf Jahren, wenn man
will. Also wo ist das Problem? Es sind Planungswiderstände, willkürlich begründet, politisch
und ideologisch motiviert. In Bayern, BadenWürttemberg und Hessen haben wir nur 0,5
bzw. 0,46 und 1,8 Prozent Anteil der Windkraft.
Das ist offensichtlich politisch begründet, denn
Sachsen-Anhalt ist auch kein Küstenland und
Brandenburg auch nicht.
Ich habe vorgeschlagen, die gesamte A7
– das ist die längste Autobahn Deutschlands
von Flensburg bis nach Bayern, davon sind 80
Prozent der Strecke für Windenergie geeignet
73
– für Windkraftanlagen zu nutzen. Das allein
würde weitere zehn Prozent ausmachen. Und
es gibt kein Problem für die öffentlichen
Kassen, es wäre ein Investitionsprogramm
von 50 Milliarden, für das es genügend private
Investoren gibt. Es hängt nur an den Genehmigungsverfahren der Länder. Man brauchte nur
den Vorrang für die Genehmigung. In China
ist man im Jahr 2001 noch von drei Prozent
erneuerbaren Energien bis 2020 ausgegangen,
jetzt geht man schon von 17 Prozent aus. Sobald
man mal angefangen hat, darüber ernsthaft
nachzudenken, schnellen die Zahlen nach
oben. Die 17 Prozent sind also auch nicht das
letzte Wort. Das ist ein Prozess zunehmender
Erkenntnis der Möglichkeiten. Aber in der
Diskussion wird immer so getan, als seien das
objektiv berechnete unveränderliche Zahlen.
Dabei ist keine einzige objektiv berechnet, auch
in Deutschland nicht. Der Entwurf der SPD
für das Wahlprogramm sagt: 35 Prozent bis
2020. Auch das ist willkürlich. Warum nicht
50 Prozent? Warum nicht 80? Ich habe es doch
vorgerechnet.
Ich hatte eine Diskussion mit der chinesischen Staatsplanungskommission und habe
denen gesagt, ihr müsst anders rechnen. Bei
den vielen Kohlekraftwerken habt ihr doch
einen riesigen Wasserbedarf. Das sind ja alles
Kondensationskraftwerke. Da sind viele Investitionen erforderlich, um genügend Wasser
nach Peking und Schanghai zu bekommen.
Meerwasserentsalzungsanlagen, Pipelines
und so weiter. Rechnet aus, wie viele Investitionen gespart werden können, wenn man
statt Kohle Windkraft nutzt. Da braucht man
keinen Tropfen Wasser. Das gehört auch in
die Planung.
Dasselbe habe ich in Phoenix, Arizona, vorgetragen. Die Stadt hat eine schnell
wachsende Bevölkerung, derzeit sind es fünf
Millionen Einwohner. Alle leben vom Wasser
des Colorado. Das reicht natürlich nicht. Um
die Wasserversorgung sicherzustellen, muss
zusätzliches Wasser rangeholt werden, zum
Beispiel durch Meerwasserentsalzung aus dem
Pazifik, verbunden mit Pipelines über eine
ziemlich lange Entfernung. In der Nähe von
Phoenix stehen aber 4000 Megawatt Atomkraft. Ich habe ihnen gesagt: Überlegt mal,
74
wie viel Wasser ihr sparen könnt, wenn ihr die
Atomkraft durch Solar- und Windkraftanlagen
ersetzt. Da waren sie völlig erstaunt, haben
gesagt, daran haben wir noch gar nicht gedacht.
Für eine Kilowattstunde Atomstrom braucht
man 3,2 Liter Wasser. Für eine Kilowattstunde
Kohlestrom aus einem Kondensationskraftwerk
bracht man 2,6 Liter Wasser. Was das bedeutet!
4.000 MW Atomstrom sind ungefähr 30 Mrd.
Kilowattstunden. Das wären fast 100 Mrd. Liter
Wasser pro Jahr, die benötigt werden, um dieses
Atomkraftwerk zu betreiben.
R.L.: Und solche Probleme und Lösungsansätze
soll IRENA aufzeigen?
H.S.: Ja. Sie würde genau solche Wege
aufzeigen. Sie soll helfen, Politikkonzepte
ausgehend von den geografischen und industriellen Gegebenheiten zu entwickeln – auf
der Basis optimalen Wissens über solche
Zusammenhänge.
R.L.: Und woher kommt das Know-how?
H.S.: Dafür wird dann die Organisation
aufgebaut. Das wird eine Organisation, die
systematisch Informationen auswertet und
in Anwendungskonzepte umgießt. Es gibt bei
erneuerbaren Energien ein riesiges Informationsdefizit, bis in die Wissenschaft hinein.
Die laufende Entwicklung, der Stand der
Technik, ihre Anwendungsmöglichkeiten in
systemischen Zusammenhängen, darüber wird
es systematische Auswertungen und Informationen geben. Das ist eine harte Arbeit, die wird
gegenwärtig von niemandem gemacht.
Gespräch mit Hermann Scheer
Ein wichtiger Gesichtpunkt ist der Aufbau
von Manpower. Die meisten Länder haben
gar keine Fachleute dafür. Die haben sich nie
drum gekümmert. Das sogenannte human
capacity-Problem ist riesig. Das wichtigste ist
wahrscheinlich, Postgraduierten-Studiengänge
dafür aus dem Boden zu stampfen.
R.L.: Der kalifornische Gouverneur hat
gerade ein Programm finanziert, um arbeitslose
Jugendliche für grüne Berufe auszubilden.
H.S.: Ja, aber es geht auch um ausgebildete
Ingenieure und Architekten, die mit diesen
Fragen noch nicht in Berührung waren. Dafür
muss man Postgraduierten-Ausbildungsgänge
anbieten, dafür muss man die Ausbildungskapazitäten aufbauen. Das sind Grundaufgaben.
Und natürlich auch, den Ländern andere Finanzierungsansätze nahezulegen.
R.L.: Es sind jetzt 77 Länder, weitere werden
dazu kommen. Wie geht es dann weiter?
H.S.: Ende Juli fällt die Entscheidung über
den Sitz und über den Generaldirektor. Und
dann geht die Arbeit los.
R.L.: Dann viel Erfolg! Danke für das
Gespräch.
Anmerkungen
1
2
3
Geo 08/2007, S. 74ff.
Nach dem Wahlsieg der SPD 2008 wurde eine rot-grüne
Regierung mit Andrea Ypsilanti als Ministerpräsidentin
und Hermann Scheer als Minister für Wirtschaft und
Umwelt angestrebt.
http://www.irena.org (6.4.2009; 10:00 Uhr)
Berliner Debatte Initial 20 (2009) 2
75
Andreas Willnow
„Grüner New Deal“?
Die Bewältigung der Klimaschutzproblematik
vor dem Hintergrund der Finanz- und Wirtschaftskrise
Die Finanz- und Wirtschaftskrise ist eine Realität, die die westeuropäischen Regierungen
dazu zwingt, Milliardenpakete zur Rettung
der Banken und der Unternehmen des produzierenden Gewerbes sowie zur Ankurbelung
der Konjunktur aufzulegen. Gleichzeitig hat
die Finanzkrise verdrängt, dass es eine noch
viel größere Krise gibt, welche die natürlichen
Lebensgrundlagen viel stärker bedroht als
die Finanzkrise: die Klimakrise. In diesem
Aufsatz sollen die verschiedenen Positionen
im Hinblick auf mögliche Gemeinsamkeiten
und Unterschiede bei der Suche nach einem
Herangehen an Finanz- und Klimakrise geordnet und strukturiert werden. Es wird gefragt:
Welche Ansätze werden zur Bewältigung der
Klimaschutzproblematik vorgeschlagen, die
vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise
verfolgt werden sollen? Welche Position ist vor
dem Hintergrund der schwelenden Klima- und
Finanzkrise ökonomisch und ökologisch am
ehesten tragbar?
1. Die globale Erderwärmung und
der Klimaschutz als vorrangig
politische Probleme
Bei der Problematik der globalen Erderwärmung
handelt es sich um eine weltweite Herausforderung, der sich die Politik stellen muss. Der
vierte Bericht des Weltklimarates lässt keinen
Zweifel daran, dass die globale Erderwärmung
irreversibel ist und die Folgen gravierend sein
werden. Aufgrund der Trägheit des Klimasystems und des langen Zeitraums, in dem die
globale Erderwärmung überhaupt abgebremst
werden kann, wird die Zeit knapper, um eine
deutliche Umkehr in der Klimaschutzpolitik
vorzunehmen (vgl. Roth 2007). Spätestens seit
der im Oktober 2006 vorgelegten Studie des
Chefökonomen bei der Weltbank, Nicholas
Stern, ist der weltweiten Öffentlichkeit bekannt,
dass die Folgen des Treibhauseffektes drastisch
sein werden. Stern wies nach, dass es langfristig
kostengünstiger ist, den CO2-Ausstoß zu verringern, als einige Jahre später die Folgen des
ungebremsten Klimawandels zu bewältigen.
Für den Fall, dass die globale Erderwärmung
nicht gestoppt werden könne, sagt der britische
Ökonom wirtschaftliche Schäden in Höhe von
weltweit 1,8 Billionen Dollar pro Jahr voraus
(vgl. Hagelüken 2006).
2. Positionen zur Meisterung der Klimaschutzproblematik vor dem Hintergrund
der Wirtschafts- und Finanzkrise
Vor dem Hintergrund der schwelenden Bankenund Finanzkrise dachten Vertreter der Politik
und der Wirtschaft darüber nach, welche Maßnahmen eingeleitet werden müssen, um dieser
Krise Herr zu werden. Sie hatte sich zu stark
ausgeweitet, als dass einfach zur Tagesordnung
übergegangen werden konnte. Im Folgenden
werden die verschiedenen Positionen, welche
Ansätze zur Lösung der Klimaschutzproblematik verfolgt werden sollten, ausführlicher
erläutert.
76
2.1. Weniger Klimaschutz und eine geringere
Belastung mit Umweltabgaben und -steuern
Mit der vermuteten Zielkonkurrenz zwischen
den Gewinn- und Umsatzzielen auf der einen
Seite und dem Umweltschutz als Unternehmensziel auf der anderen ist es zu erklären,
weshalb viele Unternehmen vor einem „Diktat
der Ökologie vor der Ökonomie“ warnen. Besonders die energieintensiven Unternehmen,
die für ihre Produktion viel Energie benötigen,
befürchten, dass durch die Verknappung ihrer
CO2-Emissionsrechte ihre Kosten deutlich
ansteigen werden (vgl. Rubner 2007).
So ist Hartmut Bunsen, Sprecher der ostdeutschen Unternehmerverbände, der Auffassung, die deutsche Wirtschaft hätte durch
die hohe Ökosteuer und die Umlage der
Mehrkosten aus der Förderung der erneuerbaren Energien eine viel zu hohe Bürde zu
tragen. Die zusätzlichen Aufwendungen seien
drastisch, und die Folge wären der Verlust der
internationalen Wettbewerbsfähigkeit und
horrende Energiekosten. Auch der Hauptgeschäftsführer des DIHK, Martin Wansleben, ist
dieser Auffassung: „Angesichts der aktuellen
Finanzmarktkrise, die die reale Wirtschaft
erreicht hat, muss Europa die bisherige Energie- und Klimapolitik auf den Prüfstand
stellen. Notwendig ist eine umfassende Bestandsaufnahme mit dem Ziel: Entlastung
der Unternehmen statt Belastung“ (zit. bei
Boss 2008a). Obwohl sich der BDI formal
zum Klimaschutz und zum Emissionshandel
bekennt, macht sich dieser Verband nach eigenen Angaben dafür stark, dass die Energie für
Wirtschaft und Verbraucher bezahlbar bleibt.
So forderten die Spitzenverbände in einem
Positionspapier die Verdopplung der Mittel
für die Energieforschung auf eine Milliarde
Euro, die Steigerung der Energieeffizienz, die
größere Diversifizierung der Transportquellen
fossiler Energieträger sowie die Beibehaltung
der kostenlosen Zuteilung der Emissionsrechte
an Industrie und Energieversorger. Notwendige Investitionsvorhaben in Kraftwerke und
Netze dürften auf der nationalen Ebene nicht
mehr durch die Politik blockiert werden, und
der Atomausstieg müsse zurückgenommen
werden (vgl. ebd.).
Andreas Willnow
Auch einige Wissenschaftler und Politiker
raten strikt davon ab, die Finanz- und Wirtschaftskrise sowie die Klimaschutzproblematik
gleichzeitig bewältigen zu wollen. Die Unternehmen seien aufgrund der Wirtschaftskrise
ohnehin schon in ihrer Existenz bedroht. Um
ihr Überleben zu sichern, sollten diese nicht
durch weitere Umweltschutzvorgaben belastet
werden.
Der ehemalige Bundeswirtschaftsminister
Michael Glos ist der prominenteste Vertreter
dieser Denkrichtung; er warnt zugleich vor
einem riesigen Subventionsprogramm für
die gesamte Automobilindustrie. Die weitere
Belastung der Wirtschaft mit überzogenen
Umweltzielen würde dieser „Hilfe zur Selbsthilfe“ entgegenstehen und die Unternehmen
in dieser Krisensituation nur unnötig belasten. Vielmehr müssten die Vorgaben für die
Automobilindustrie, den CO2-Ausstoß ihrer
Fahrzeuge zu verringern, realistisch sein. Auch
der Emissionshandel müsse ab 2013 so ausgestaltet werden, dass die Industrie nicht unnötig
belastet oder gar aus Europa vertrieben wird.
Deshalb sei es auch notwendig, die Maßnahmen der Bundesregierung zur Stabilisierung
der Konjunktur EU-weit abzustimmen (vgl.
Pfister/Sauga 2008).
2.2. Rein marktwirtschaftliche Reformen zur
Meisterung der Klimaschutzproblematik
Von den Wissenschaftlern ist der Ökonom
Hans-Werner Sinn am ehesten dieser Denkrichtung zuzuordnen (vgl. Sinn 2008). Seine
Hauptkritik an (fast) allen Klimaschutzmaßnahmen speist sich aus seiner Ansicht, das
(reine) Marktsystem, welches Sinn offenbar in
allen Punkten für überlegen hält, werde einer
„grünen Ideologie“ geopfert. Offenbar meint
Sinn, es sei für Deutschland am besten, wenn
es zur Ideologie zurückkehre, wonach „der
Markt alles richte“. Jedenfalls sei das Klimaproblem am besten zu lösen, wenn „das Land
die Zukunft dem Markt anvertraut, weil dieser
eben ein ‚überlegenes Organisationssystem‘ sei“
(Lölhöffel 2008). Dagegen sei in Deutschland
grüne Politik zur Staatsdoktrin mutiert, der
aus taktischen Gründen zuweilen auch die
Bundeskanzlerin Merkel anheimgefallen sei.
„Grüner New Deal“?
Auch Sinn muss einräumen, dass die Politik
angesichts der Klimakrise neue Wege gehen
müsse; er verwirft aber fast alle bisher gewählten
Wege als ketzerischen Verstoß gegen ordnungspolitische Grundprinzipien. Er lehnt sowohl die
Ökosteuer, das Erneuerbare-Energien-Gesetz
als auch das Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz
ab, die er als systemwidrige Eingriffe in das
Marktgeschehen betrachtet. Einzig und allein
den Handel mit Treibhausgas-Emissionsrechten befürwortet der Ökonom, da dieses ein
marktwirtschaftlich sinnvolles Instrument
darstelle. Andererseits ist Sinn der Auffassung,
dass die einseitige Ausrichtung auf ökologische
Technologien und ökonomische (Fehl-)Anreize
die deutsche Wirtschaft hemmten, wie das in
keinem anderen Land der Welt der Fall sei.
Sinn ist der Auffassung, dass zwar eine
ökologische Politik erforderlich sei und die
Bundesregierung tatsächlich Maßnahmen
einleite; diese lehnt er aber als ökologische Interventionen des Staates ab. Die Politik gebe zwar
Milliarden für den Umwelt- und Klimaschutz
aus. Es sei jedoch illusorisch, davon auszugehen, dass Klima, Natur und die zukünftigen
Generationen tatsächlich davon profitieren
würden. Die Politik gaukle nur vor, durch die
Förderung von regenerativen Energien wie
zum Beispiel Strom aus Solarzellen oder die
Windkraft die CO2-Emissionen zu verringern
oder gar den Klimawandel zu verlangsamen.
Er widerlegt die Vorstellung, wonach durch
die Förderung von regenerativer Energie über
hohe Einspeisevergütungen für Wind- und
Solarenergie-Produzenten CO2-Emissionen
vermieden würden. Dieses funktioniere deshalb
nicht, weil der EU-weite Handel mit Emissionszertifikaten die Erfolge der Wind- und
Solarförderung komplett kompensiere (o.V.
2008b; Lölhöffel 2008). Sinn schreibt: „Jeder
weitere Windflügel, der auf deutschen Dächern
errichtet wird, und jede Solaranlage, die auf
deutschen Dächern glitzert, kurbelt im gleichen Umfang, wie hier Strom erzeugt und die
Emission von Treibhausgasen vermieden wird,
die Produktion entsprechender Treibhausgase
im Rest Europas an. Es hilft zwar dem Geldbeutel, nicht aber dem Klima, wenn man den
Fernseher von Standby auf Off schaltet ...“ (Sinn
2008: 177) Und auch von der Umstellung von
77
Glühlampen auf Energiesparlampen profitiere
der Klimaschutz in Wirklichkeit nicht.
Das Buch von Hans-Werner Sinn ist einerseits eine interessante Streitschrift; andererseits ist das Bemühen des Wissenschaftlers
offenkundig, aus ideologischen Gründen und
seinem Dogma der „reinen Marktwirtschaft“
(fast) jede sinnvolle Maßnahme zur Umkehr in
der Klimaschutzpolitik zu negieren. Der Ökonom hält fast dogmatisch an seiner tradierten
Vorstellung fest, Deutschland solle nicht aus
der Atomenergie aussteigen, weil von ihrer
Strahlung „keine akute Gefährdung“ ausginge.
Er kann lediglich dem Argument etwas abgewinnen, dass Deutschland durch die massive
Förderung regenerativer Energien eine Technologieführerschaft in einer eingeschränkten
Branche erreicht habe. Die Tatsache, dass diese
Förderung Arbeitsplätze schaffe, sei angesichts
der Milliarden-Förderung nicht zu vermeiden.
Allerdings wären diese Arbeitsplätze Folge
einer ansonsten wenig sinnvollen MilliardenSubvention.
Dagegen muss seine kritische Frage, inwieweit Deutschlands Umweltprogramme mehr
den Profitinteressen einer speziellen Gruppe
von Unternehmen und ihren Eigentümern
als dem Klimaschutz dienten, tatsächlich
ernst genommen werden. Hier trifft sich die
Argumentation von Sinn nicht nur mit der der
Ökonomen Hans-Christian von Weizsäcker
und Jochen Weimann (2008: 1ff.), sondern
auch mit den Argumenten linker Klimaschutzaktivisten.
Es hört sich zunächst alles gut an: Mit
einem ökologischen Investitionsprogramm
werde sowohl etwas für den Klimaschutz als
auch etwas für Konjunktur und Arbeitsplätze
bewirkt. Man setzt die Wirtschaft mit zusätzlichen Kosten und Auflagen auf ein anderes
Produktionsgleis und bewirkt so einen selbsttragenden Aufschwung.
Genau diese Logik ist aber umstritten. Es
wird hinterfragt, ob die „grünen“ Technologien
überhaupt die Kapazität haben, Investitionen
von der Größenordnung umzusetzen, die notwendig wären, um allein der Klimakrise Herr
zu werden. Zudem würden die Investitionen
in „grüne Technologien“ ertragreich sein und
später Gewinne abwerfen. Gerd Held hat
78
diese Kritik in folgende Worte gekleidet: „Der
kritische Punkt ist nämlich: Eine Umweltinvestition ist noch keine Anlageinvestition. [...]
Die Ausgaben für den Erhalt eines bestimmten
Klimazustandes verbessern nicht automatisch
die Wertschöpfung von Unternehmen. [...]
Nur wenn ein Stück Umwelt in eine nachhaltig
nutzbare Anlage verwandelt wird, gewinnt das
Wirtschaftsleben. Eine teure Wärmedämmung
in Gebäuden, in denen spätere Generationen
gar nicht mehr leben, verbrennt mühsam
verdientes Geld. Ob eine Investition in dem
riesigen Heuhaufen ‚Umwelt‘ den richtigen
Punkt getroffen hat, stellt sich erst auf längere
Dauer heraus.“ (Held 2009)
Lediglich das System für den Handel mit
Treibhausgas-Emissionsberechtigungen der
Europäischen Union, das als eine „marktgerechte Lösung“ der Klimaschutzproblematik
betrachtet wird, stößt auf die Zustimmung der
Verfechter der „reinen“ Marktwirtschaft. Und
in der Tat scheint der Ansatz dieses Lizenzsystems, dessen Funktionsweise zunächst in den
USA erprobt wurde, auf den ersten Blick sehr
erfolgversprechend zu sein: Die Politik legt die
Menge an erlaubten CO2-Emissionen für die
Wirtschaft fest; in dieser Höhe werden Rechte,
die gehandelt werden können, vergeben oder
versteigert. Dadurch erhält der CO2-Ausstoß
einen Preis, die Kosten des Klimaschutzes
werden sichtbar, und überschüssige Emissionsrechte können gekauft bzw. verkauft werden,
sodass CO2-Emissionen dort reduziert werden,
wo es am kostengünstigsten ist.
Nur hat dieses System andererseits eine
Reihe von Problemen. Der erste Denkfehler
besteht darin, dass die Existenz eines EU-weiten
Systems für den Handel mit TreibhausgasEmissionsberechtigungen schon per se eine
Garantie für mehr Klimaschutz sei. Genau das
ist der EU-Emissionshandel nicht. Entscheidend
sind allein die Knappheit der Zertifikate und
die Festlegung der Obergrenze für die Berechtigung zum Ausstoß der Treibhausgase. Mit
der Festlegung der Obergrenze an Treibhausgasemissionsberechtigungen kann die Politik
darauf Einfluss nehmen, wie viel Emissionen
in einer Handelsperiode ausgestoßen werden
dürfen bzw. wie stark die Emissionen in einer
Handelsperiode sinken (vgl. Mrusek 2008).
Andreas Willnow
Des Weiteren ist darauf zu achten, dass die
Zertifikate in den folgenden Handelsperioden
weiter verknappt werden, damit auch der Kohlendioxid-Ausstoß weiter reduziert sowie der
Handel an der Strombörse EEX nicht durch
Absprachen manipuliert und der Preis der
Emissionsberechtigung für eine Tonne CO2
nicht beliebig gedrückt wird.
Zudem gibt es eine Reihe weiterer Systemmängel: Erstens gibt es Branchen, für die Ausnahmeregelungen erdacht wurden. Zweitens
kommt es zu kostenmäßigen Verschiebungen
zwischen den Branchen. Drittens haben die
Konzerne die Emissionsrechte in ihrer Bilanz
verbucht und damit Milliardengewinne erzielen können, was eigentlich nicht der Sinn
des EU-Emissionshandels ist. Die Emissionsberechtigungen sollten trotzdem in den Folgeperioden nicht mehr kostenlos abgegeben,
sondern versteigert werden. Lediglich für die
energieintensiven Industriezweige könnte über
eine kostenlose Abgabe der TreibhausgasEmissionsberechtigungen nachgedacht werden,
weil diese ihre Klimakosten nicht überwälzen
können und mit ihren Industrieprodukten im
globalen Wettbewerb stehen.
2.3. Rücknahme des Ausstiegs aus der
Kernenergie als eine vermeintliche „klimaschonende“ Alternative
Daneben gibt es eine (kleine) Gruppe von
Vertretern aus Wirtschaft, Politik und Wissenschaft, die den Klimawandel anerkennt,
vor diesem Hintergrund aber den Ausstieg aus
der Atomenergie rückgängig machen möchte.
Der Ausstieg aus der Kernenergie sei falsch,
weil es keine bezahlbare, klimafreundliche
Alternative dazu im Grundlastbereich gäbe.
Jedenfalls bestünde bei der Atomkraft nicht
das Problem der riesigen CO2-Emissionen,
das bei den Kohlekraftwerken bestünde. Die
Forderung nach bezahlbaren Energiequellen
und einer sicheren, stabilen Energie- und
Stromversorgung mache es notwendig, die
Kernenergie zu behalten (Cornelius-Gaus
2008; o.V. 2008c).
Unter dem Vorwand des Klimawandels
versuchen einflussreiche Kreise der Wirtschafts- und Atomlobby, den Ausstieg aus der
„Grüner New Deal“?
Kernenergie rückgängig zu machen. Dabei
geben sie auf wichtige Fragen wie das Risiko
des Betriebes und die Atommüllendlagerung
keine Antwort. Zwar gibt es das Problem des
Klimawandels, dem auch eine Umstellung der
Energieversorgung folgen muss. Allerdings
ist Deutschland mit der Modernisierung des
Kraftwerksparks schon dabei, diese Umstellung
vorzunehmen. Zwar müsse Deutschland seine
Abhängigkeit von knapper und teurer werdenden Rohstoffen verringern. Dazu müsse man
allerdings nicht nur aus den Kohlekraftwerken
mit den hohen CO2-Emissionen, sondern
auch aus den risikoreichen Atomkraftwerken
aussteigen.
Abschließend ist festzustellen, dass ein
Ausstieg aus dem Atomausstieg aufgrund des
hochriskanten Betriebs der Kraftwerksblöcke
und der ungelösten Probleme im Zusammenhang mit der Endlagerung des Atommülls abzulehnen ist. Die Fristen für den Atomausstieg
müssen auch ohne negative Auswirkungen im
Grundlastbereich eingehalten werden können,
soweit der Bau der Gaskraftwerke bis dato ohne
Probleme fortgeschritten ist.
2.4. Eine ökologische Neuausrichtung des
Kapitalismus ohne Veränderung der Weltfinanzarchitektur
Jeanne Rubner geht sogar noch weiter, wenn
sie einen neuen „Öko-Kapitalismus“ ausruft.
Das ist auch gar nicht anders möglich, weil im
Gegensatz zu den 1970er Jahren, in denen das
Öl (trotz der Ölkrise) noch recht „preiswert“
blieb, nun mit dem Rückgang der Rohstoffvorräte und einem deutlichen Preisauftrieb der
Rohstoffe zu rechnen ist. „Der Klimawandel
trifft zusammen mit einer Energiekrise. Weil
sich aber die Lösungen für beide ähneln – wer
Energie spart, schont das Klima –, kann der
Kampf gegen die Erderwärmung ökonomisch
so unsinnig nicht sein.“ (Rubner 2007: 16)
Obwohl viele Bosse Sterns Prognosen noch
als „Angstmache“ verteufelten und vor einem
„Diktat der Ökologie vor der Ökonomie“
warnten, sind sie doch schon längst dabei, sich
mit den neuen Verhältnissen zu arrangieren.
Auch wenn sie hier eher als Getriebene denn
als Handelnde agieren, denn ihre Klimapolitik
79
dürfte weniger von Visionen und Sorge um den
Umweltschutz als von Eigeninteresse getrieben
sein. Den betrieblichen Führungskräften ist klar,
dass es auf jeden Fall eine Begrenzung des Ausstoßes von Treibhausgasen geben wird; doch
das Instrumentarium, mit dem das geschehen
soll, ist noch unklar (vgl. Piper 2007).
Auch wenn die Industrie so sehr vor zu
ehrgeizigen Zielen warnt, wittert sie zugleich
in der „grünen Konjunktur“ ein besseres
Unternehmensimage und neue Geschäfte.
So hat General Electric bereits 2002 Zahlen
vorgelegt, wie viele Millionen Tonnen CO2
das Unternehmen emittiert hat. Genauso
können die Unternehmen auch mit dem Umweltschutz werben, auch wenn offenbleibt,
ob das deklarierte ökologische Engagement
immer durch Taten gedeckt ist. Allerdings
muss davor gewarnt werden, nun auch noch
neue, effizientere Kohlekraftwerke als Beitrag
zum Umweltschutz zu deklarieren.
Die grüne Welle hat dazu geführt, dass neue
Geschäftsbereiche entstanden und Kunden gewonnen wurden, was zu Wirtschaftswachstum
und mehr Arbeitsplätzen führen kann. Der
Trend zur „grünen Wirtschaft“ lässt inzwischen
auch die Versorgerunternehmen nachdenken.
Die großen Energieversorger sind dabei, die
Effizienz ihrer Kraftwerke zu erhöhen und in
neue Energien zu investieren. Beispielhaft sollen
hier die Milliardeninvestitionen der großen
Energiekonzerne in Offshore-Windparks in der
Nord- und Ostsee sowie in Geothermie-Projekte genannt werden. Diejenigen Unternehmen,
die sich nicht rechtzeitig mit den nötigen Strategien und Technologien beschäftigen, laufen
Gefahr, wichtige Marktanteile zu verlieren (vgl.
Werthschulte 2008). Auch das Interesse von
Investoren an Firmen, die Biosprit herstellen,
hat stark zugenommen. In Deutschland haben
die regenerativen Energien mittlerweile 15
Prozent Marktanteil am gesamten Strommarkt
erreicht (vgl. Schanzmann-Weg 2008).
Die Energie-Expertin Claudia Kemfert vom
DIW verweist vor allem auf zwei Bereiche, in
denen die Unternehmen weitere Innovationen schaffen sollten: auf den Mobilitäts- und
den Heizungsbereich. Im Mobilitätsbereich
gehe es darum, neue Automobile mit einer
besseren Nutzung von Benzin oder Öl sowie
80
neue Antriebssysteme zu entwickeln; im Heizungsbereich darum, neue Heizsysteme zu
entwickeln, die Gebäude besser zu dämmen
und zu isolieren sowie ihre Energiebilanzen
zu verbessern. Auch damit könne die deutsche Volkswirtschaft unabhängiger von den
Rohstofflieferungen anderer Länder werden
(vgl. Kollenberg 2008).
Letztlich geht es um massive Investitionen
in neue Technologien für mehr Energieeffizienz, um die Abhängigkeit Deutschlands von
den erdöl- und erdgasexportierenden Ländern
zu verringern und den technologischen Vorsprung Deutschlands in dieser Branche auf den
Weltmärkten zu halten und auszubauen. Diese
Projekte versprechen gerade dem Mittelstand
wie auch dem Handwerk neue Ertragschancen
und der Bevölkerung neue Arbeitsplätze. Jetzt
gehe es bloß noch um die unternehmerische
Umsetzung dieser Projekte und um ihre Finanzierung.
Schumann und Grefe haben sich mit der
Frage auseinandergesetzt, in welchem Umfang ein notwendiger Bewusstseinswandel in
Wirtschaft und Gesellschaft stattgefunden hat,
um dem Klimawandel zu begegnen. Statt den
Fokus darauf zu legen, wie man der Umweltund Klimazerstörung am besten Herr werden
könne, haben die weltweiten Wirtschaftsführer nun entdeckt, dass man aus Ökologie
Geld machen kann. Falls das Motiv, mit dem
Klimawandel Geld zu verdienen, zur Umkehr
des Klimawandels führen würde, könnte man
darüber diskutieren. Dass der globale Markt
für Umwelt- und Klimaschutztechnologien
expandiert und jährlich um acht Prozent wächst
(HWWI/Berenberg-Bank 2007), ist das eine.
Aber wird hier wirklich etwas zur Begrenzung
des Flächenverbrauchs getan? Oder entsteht
hier nicht eine neue Blase, wenn die Finanzindustrie jetzt dabei ist, diesen Sektor zu pushen?
(Vgl. Schumann/Grefe 2008: 229ff.)
Dass es in Deutschland mittlerweile einen
Machtkampf um den Klimaschutz zwischen
den energieintensiven und den neuen „grünen“
Industrien gibt, ist erst einmal eine Tatsache.
Hier steht tatsächlich „Kapital gegen Kapital“.
Und dass sich dieses Kräfteverhältnis zugunsten der „grünen“ Industrien verschiebt, ist
politisch zu begrüßen. Aber zum einen darf
Andreas Willnow
dieser Umstieg in der Klimapolitik nicht auf
Kosten der sozial Schwachen ausgetragen
werden, die diese Katastrophe nicht verursacht
haben. Zum anderen wird zunehmend mehr
über den Klimaschutz geredet, als tatsächlich
getan wird. Wenn beispielsweise über die neue
CCS-Abscheidetechnik oder über effizientere
Kohlekraftwerke nachgedacht wird, hat das
nichts mit einem Wechsel in der Klimaschutzpolitik, sondern mit weiterem Beharren zu tun
(ebd.: 243ff.).
Richtig problematisch wird es allerdings,
wenn sich zunehmend auch die Renditejäger auf
den Ökotrip begeben: „Denn im Gleichklang mit
Stern widmet auch die mächtigste aller Wirtschaftsbranchen dem Thema Erderwärmung
größte Aufmerksamkeit: die Finanzindustrie.
Während deren Manager und Händler mit ihrer
atemlosen Jagd nach Rendite an den Kapitalmärkten in aller Welt Instabilität verursachen,
zählen die gleichen Akteure an der Klimafront
zu den hartnäckigsten Antreibern für den
schnellen ökologischen Umbau. [...] Nicht nur
die drohenden Katastrophen entziehen sich der
Berechnung, noch unkalkulierbarer sind die
möglichen politischen Reaktionen und damit
die Rahmenbedingungen für Geschäfte jeder
Art. Nicht zufällig sind die Lenker der Weltfinanzströme darum für schnelles Handeln,
damit sie die [...] Veränderungen ‚einpreisen‘
können.“ (Ebd.: 229).
Die Finanzindustrie pusht neue Umweltund „Klimaanlagen“, ohne dass klar ist, ob die
Unternehmen und Investitionen tatsächlich
die erwarteten Renditen erzielen. Wird hier
eine neue Renditejagd gestartet, und kann so
die Bewältigung der Klima- und Umweltkrise
gelingen? Die steigenden Lebensmittel- und
Energiepreise sowie die Fehlkalkulation beim
Biosprit, die durch die Flächenkonkurrenz
zum weltweiten Anstieg der Lebensmittelpreise geführt hat, mögen hier einen ersten
Vorgeschmack geben. Eine Reduzierung des
Ressourcenverbrauches ist zwar notwendig; ein
neuer Ökokapitalismus ohne die Lösung der
Verteilungsfrage, der Ernährungsfrage und ohne
die Regulierung der Finanzmärkte reicht aber
nicht aus. Soweit deshalb nur eine ökologische
Neuausrichtung des Kapitalismus gemeint ist,
ohne dass sozial- und wirtschaftspolitische
„Grüner New Deal“?
Leitplanken gesetzt werden, muss diesem Ansatz widersprochen werden. Tadzio Müller ist
zuzustimmen, wenn er eine solche Politik der
„Ökologisierung des Kapitalismus“, die soziale
Leitplanken (Einführung von Mindestlöhnen,
geringere Eigenkapitalrenditen) vernachlässigt
und kein anderes Wachstumsmodell anstrebt,
alles andere als sozial oder ökologisch fortschrittlich nennt. Emanzipatorisch sei eine
solche Politik schon gar nicht. Ohne eine starke
Arbeiterbewegung, die hohe Löhne erzwingt,
werden diese niedrig bleiben, während andererseits die Lebenshaltungskosten deutlich steigen
werden. Eine progressive Politik dürfe nicht
von den sozialen Bewegungen abgekoppelt
sein, müsse neoliberaler Umstrukturierung
widerstehen und dem Grundgedanken der
sozialen und ökologischen Gerechtigkeit folgen
(Müller 2009).
Auch Oliver Wendenkampf vom BUND
setzt sich mit der These auseinander, wonach
die Klimakrise und weitere Umweltprobleme
nur über technologische Innovationen gelöst
werden könnten. Notwendig seien vielmehr
die Festlegung sozialer und ökologischer Leitplanken sowie eine Gesellschaft der Teilhabe.
Wendenkampf verlangt in seinem Plädoyer
deutliche politische Veränderungen auf globaler und lokaler Ebene sowie soziale und
ökologische Verantwortung, fordert aber in der
Endkonsequenz keinen Systemwechsel weg von
der ökokapitalistischen Wirtschaftsordnung
(vgl. Wendenkampf 2008/09).
Häufig wird versprochen, die Wirtschaftskrise in Deutschland dadurch überwinden zu
können, dass durch erhebliche Investitionen
in „grüne“ Technologien (zum Beispiel in
erneuerbare Energien und umweltfreundliche
Autos) neue Produktivitäts- und Profitpotenziale erschlossen und damit neue Arbeitsplätze
geschaffen werden. Dass mehr Gelder in erneuerbare Energien gesteckt werden sollen, ist
mittlerweile fast konsensfähig geworden. Strittig
ist lediglich noch die Frage, ob die erneuerbaren
Energien Teil eines neuen Energie-Mix sein
sollen oder, wie der „Solarpapst“ Hermann
Scheer meint, damit perspektivisch tatsächlich
der gesamte Energiebedarf in den westlichen
Industriestaaten abgedeckt werden kann (vgl.
Voosen 2008). Dagegen verweist Bernd Hilder
81
darauf, dass (gerade in der Krise) regenerative
Energieträger wie Wasser, Sonne und Wind
noch kein Garant für die Sicherheit der Energieversorgung und moderate Preise sind.
Dafür wären riesige Investitionen notwendig,
die die Staatsverschuldung in die Höhe treiben
würden. Hilder (2008) zieht diesem Szenario
den Ansatz eines „wirtschaftlich gesunden
Energie-Mix“ vor.
Stephan Kohler, Chef der Deutschen Energieagentur, ist der Auffassung, dass jetzt in
großem Umfang in neue Energien investiert
werden müsse, um die Wirtschafts- und die
Klimakrise in den Griff zu bekommen. Es sei
notwendig, Maßnahmen zur Erhöhung der
Energieeffizienz einzuleiten und in großem
Maßstab in die Modernisierung der Energieinfrastruktur zu investieren. Damit könnte ein
Konjunkturimpuls gesetzt und ein Beitrag zur
Senkung der CO2-Emissionen geleistet werden.
Gleichzeitig würden auf diesem Weg zahlreiche
neue Arbeitsplätze entstehen.
Notwendig sei an erster Stelle ein (ökologisches) Gebäudesanierungsprogramm. Es bestehe ein enormer Sanierungsstau bei Schulen,
Krankenhäusern und Verwaltungsgebäuden.
Diese sollten jedoch nicht nur saniert, sondern
auf energiesparende Weise instandgesetzt
werden. Damit würden zum einen wichtige
Arbeitsplätze in Mittelstand und Handwerk
geschaffen werden. Zum anderen könnte man
durch diese Investitionen in die Energieeffizienz
die Abhängigkeit der Volkswirtschaft von Erdöl
und Erdgas verringern. Deshalb sei die Bundesregierung dazu angehalten, mit ihrem Konjunkturprogramm vor allem Maßnahmen zur
Erhöhung der Energieeffizienz im Bereich der
Gebäudesanierung zu fördern. Weiter schlägt
der Chef der Deutschen Energieagentur vor, in
die Modernisierung der Energieinfrastruktur
zu investieren. Die Erhöhung des Anteils der
regenerativen Energien sei notwendig, um die
Abhängigkeit vom Erdöl und den erdölexportierenden Ländern zu reduzieren. Allerdings ist
Energie aus Wind und Sonne nicht zu jedem
Zeitpunkt verfügbar, weil Windstärke und
Sonneneinstrahlung schwanken. Deshalb sei
die Modernisierung des deutschen Stromnetzes unabdingbar, um die schwankende
Energieerzeugung aus Wind und Sonne besser
82
aufnehmen, speichern und transportieren zu
können (vgl. Kohler 2009).
Ullrich Heilemann spricht in diesem Zusammenhang von einem Investitionsstau in
der deutschen Energiewirtschaft; er beziffert
diesen auf bis zu 80 Milliarden Euro. Seine
Ursachen lägen laut Heilemann in langwierigen Genehmigungsverfahren, Unsicherheiten
bezüglich der Gestaltung des Emissionshandels
sowie in Akzeptanzproblemen der Bevölkerung
gegenüber notwendigen Kraftwerksneubauten
(vgl. Boss 2008b).
Laut Kohler sei zudem die Transparenz
des Energieverbrauchs bei den Konsumenten
zu erhöhen, indem intelligente Stromzähler
entwickelt und eingeführt werden, die den aktuellen Stromverbrauch anzeigen. Transparenz
bei den Endverbrauchern sei eine wesentliche
Voraussetzung für die Einsparung von Energie. Des Weiteren sollten Pilotprojekte für
Gewerbe und Industrie eingeführt werden,
mit denen gezeigt werden könnte, wie Unternehmen zu „Niedrig-Energie-Unternehmen“
umgebaut werden können. Mit diesem Begriff
meint Kohler Unternehmen, die mit nur halb
soviel Energie wie bisher produzieren. Der
Chef der Deutschen Energieagentur verweist
hier auf die mit den ökologischen Effekten
einhergehenden ökonomischen Vorteile: Mit
der Einsparung von Energie könnten die Unternehmen ihre Produktionskosten deutlich
senken und damit auch ihre internationale
Wettbewerbsfähigkeit verbessern. Kohler ist
dahingehend zuzustimmen, dass die deutschen
Unternehmen mit ihren Investitionen in die
regenerativen Energien und der Erhöhung
der Energieeffizienz auf diesem Gebiet eine
weltweite Technologieführerschaft erreichen
und den Ruf der deutschen Unternehmen,
die für Innovationen, technisches Wissen
und Qualitätsprodukte bekannt sind, stärken
können (vgl. Kohler 2008: 24). Der Ansatz von
Kohler erscheint auch und gerade in der Zeit
der Wirtschaftskrise als sehr vernünftig.
2.5. Ein „Grüner New Deal“ zur Bewältigung
von Finanzkrise und Klimaschutz
Das Konzept des „Grünen New Deals“ knüpft
an die grundlegende Umkehr der US-ameri-
Andreas Willnow
kanischen Wirtschaftspolitik in den 1930er
Jahren an. Präsident Franklin D. Roosevelt war
durch die Weltwirtschaftskrise dazu gezwungen, ein Paket zu verabschieden, das unter
anderem milliardenschwere Investitionen in
Zukunftsprogramme und die Neuregelung der
Finanzmärkte enthielt. Dieses Paket wurde von
zahlreichen Maßnahmen wie der Einführung
von Mindestlöhnen, der Arbeitslosenversicherung und einer progressiven Einkommensteuer
begleitet, um den sozialen Zusammenhalt der
Gesellschaft zu stärken (vgl. Schick 2009).
In Anlehnung an die Politik Roosevelts wird
nun eine Neuauflage des „New Deal“ gefordert,
also ein milliardenschweres Investitionsprogramm in Zukunftsprojekte. Allerdings sollen
durch ein solches Programm laut Ansicht der
Verfechter des „Grünen New Deals“, keine großen Straßenbauprojekte, sondern der Ausbau
der Energieinfrastruktur und der Umbau auf
regenerative Energieträger gefördert werden.
Durch ein ökologisches Investitionsprogramm
sollen eine neue Energiebasis (weg von Atom,
Kohle, Öl und Gas) geschaffen, der Anteil der
regenerativen Energieträger ausgebaut und
eine höhere Energieeffizienz erreicht werden.
Beispielsweise könnte dem weiteren Ausbau
der erneuerbaren Energien durch Investitionen in Stromnetze der Weg geebnet werden.
Durch solche Reformen wäre der Übergang zu
einer neuen, nachhaltigen Wirtschaftsweise
zu erreichen, die durch die Klimakrise und
die Bedrohung der Biodiversität notwendig
geworden ist.
Die Diskussion um einen „Grünen New
Deal“ erscheint zumindest insofern als sinnvoll, als intensiv über die Ausrichtung des
Konjunkturprogramms und die zu tätigenden
Investitionen nachgedacht wird. So meint
Bundesumweltminister Sigmar Gabriel: „Das
zweite Konjunkturprogramm, über das wir
diskutieren, muss daher die Bereiche Bildung,
Arbeit und Umwelt voranbringen. [...] Eine
neue Straßenausbau-Orgie wäre falsch. Aber es
gibt viele Bereiche, wo Investitionen bitter notwendig sind. Umgehungsstraßen, Lärmschutz,
Straßensanierung. Dass die Schiene mehr Geld
braucht, ist klar.“ (Gabriel 2008)
Gabriel plädiert ferner für den Umbau zu
einer modernen, CO2-armen Energiepolitik
„Grüner New Deal“?
und bekennt sich zu weiteren Investitionen
in eine moderne, effiziente, ökologische Energienutzung. Um das Ziel der 40-prozentigen
Reduzierung der Treibhausgasemissionen bis
2020 zu erreichen, soll intensiv in die Wärmedämmung öffentlicher Gebäude oder in den
Mietwohnungsbau sowie in das Stromsparen
investiert werden. Weiter setzt sich der Bundesumweltminister für die Begrenzung der
steuerlichen Absetzbarkeit von Kraftstoff für
Dienstfahrzeuge, mehr Anreize für den Umstieg
auf Bus und Bahn sowie die Produktion sparsamer Autos mit Hybrid- oder Elektroantrieb
ein. Außerdem denkt er über Bürgschaften
nach, um die Risiken des kräftigen Ausbaus
der Windkraft abzusichern. Auf diesem Weg
soll die Finanzierung der durch die Finanzkrise bedrohten Offshore-Parks gewährleistet
werden.
Hauptverfechter eines „Grünen New Deals“
ist gegenwärtig die Partei Bündnis 90/Die Grünen. Die Partei, die seit der Hessen-Wahl neues
Selbstbewusstsein verspürt, will den „Green
New Deal“ nicht nur zum Programmpunkt,
sondern zum Motto für das Wahljahr 2009
ausgeben. Allerdings meint dieser Punkt bei den
Grünen nicht nur ein ökologisches Investitionsprogramm, sondern er verheißt in der Diktion
der Partei einen völlig neuen Lebensstil für alle.
Flankiert werden soll ein ökologisches Investitionsprogramm durch strenge Regulierung
der internationalen Finanzmärkte, nationale
Mindestlöhne in den EU-Staaten und weitere
ökologische Mindestanforderungen (Festhalten
am Atomausstieg und Ablehnung des Neubaus
von Kohlekraftwerken; vgl. dpa 2009)
Inwieweit der politische formulierte Anspruch dieser Partei ernst gemeint ist, daran
bestehen zumindest Zweifel. Der Globalisierungsaktivist Tadzio Müller vermutet, dass
der „Green New Deal“ nur den Kapitalismus
in seiner alten Struktur verlängere, technokratisch und sogar autoritär sei und auf dem
Rücken der Schwächsten, der Arbeitnehmer
und der Erwerbslosen, ausgetragen werde (vgl.
Müller 2009).
Gerhard Schick widerspricht der Auffassung, der „Grüne New Deal“ sei nur auf eine
ökologische Ausrichtung des Kapitalismus
gerichtet, da eine Neuordnung der Weltfi-
83
nanzarchitektur und ein sozialer Ausgleich als
flankierende Maßnahmen vorgesehen seien.
Die Neuordnung der Weltfinanzarchitektur
könne unter anderem durch eine grundlegende
Reform des Währungssystems und einen UNWirtschaftsrat, die Übernahme von Risiken
durch die Banken sowie die Rückführung des
Zwecks der Banken auf die Finanzierung von
Investitionen und die Bereitstellung von Liquidität (und in Grenzen auf die Übernahme von
Risiken) erreicht werden. Der soziale Ausgleich
solle durch die Einführung einer Bürgerversicherung und eines gesetzlichen Mindestlohnes
sowie durcheine Antwort auf die weltweite
Hungerkreise hergestellt werden. Durch eine
solche Politik, die auf den drei genannten Säulen (Neuordnung der Weltfinanzarchitektur,
ökologisches Investitionsprogramm in die
Energieinfrastruktur und sozialer Ausgleich)
beruht, könnte eine Wende hin zu einer neuen Wirtschaftsweise erreicht werden, bei der
dezentrale Produktionsweisen und Formen solidarischer Ökonomie einen neuen Stellenwert
einnehmen. Zugleich gebe sie eine Antwort
auf drei Krisen, die Finanz-, die Klima- und
die Ernährungskrise. Mit der damit verbundenen Verschiebung von Wirtschaftsstruktur,
Eigentumsformen, Einkommensverteilung und
Unternehmensformen könne dem Kritikpunkt
entgegengetreten werden, es handele sich bei
dem „Grünen New Deal“ lediglich um eine
Fortsetzung des Kapitalismus mit „ökologischem Mantel“ (Schick 2009).
Ein Kritikpunkt am „Grünen New Deal“
besteht darin, dass hinterfragt wird, ob und
inwieweit die „grünen“ Technologien heute
noch gar nicht die Kapazität haben, Investitionen von der Größenordnung zu umzusetzen,
die notwendig wären, um allein der Klimakrise
Herr zu werden. Die für die Entwicklung „grüner
Technologien“ benötigten Investitionen würden
sich zudem erst relativ spät amortisieren und
kaum Arbeitsplätze retten.
Eng damit verbunden ist die Frage, ob ein
„Grüner New Deal“ tatsächlich dem Klima- und
dem Umweltschutz dienen würde, oder, wie
der Globalisierungskritiker Müller schreibt,
ob die Vorschläge eines „Grünen New Deals“
nur einen neuen Versuch darstellten, „einer
kleinen, aber wortgewaltigen ‚grünen‘ Kapital-
84
fraktion ihre Profitmargen aufzubessern. Und
natürlich darum, die Zukunft der politischen
Erfüllungsgehilfen dieser Fraktion, also der
grünen Partei, zu sichern.“ (Müller 2009) Eine
solche Politik sei technokratisch, würde die
Ausbeutung der Menschen über Niedriglöhne
fortsetzen, zu mehr sozialer Unruhe und mehr
staatlicher Repression führen. Eine solche
Politik würde wiederum auf dem Rücken der
sozial Schwächsten ausgetragen werden, die
den Klimawandel nicht verursacht haben, aber
als erste unter ihm leiden würden.
Die Kritikpunkte an dem Konzept des
„Grünen New Deals“ können schnell skizziert
werden. Erstens scheint die auf fossilen Energieträgern basierende Konsumweise innerhalb
der Bevölkerung, besonders in der Mittelklasse,
stark verankert zu sein, sodass eine Umkehr
nur schwer möglich ist. Zweitens setzt dieses
Konzept mehr als ein Konjunkturpaket voraus,
nämlich einen grundlegenden ökologischen
Umbau der Industriegesellschaft. Es sind neue
Technologien, Produktionsformen, staatliche
Politiken und eine Umkehr der Konsumund Lebensweise notwendig, ehe ein neues
Wachstumsmodell kreiert werden kann. Und
drittens würden mit einer Ökologisierung des
Kapitalismus die Strukturprobleme des Finanzmarktkapitalismus nicht beseitigt werden (vgl.
Brand 2009).
2.6. Wandel in der Konsum- und Wirtschaftsweise statt „Grüner New Deal“ oder Ökologisierung des Kapitalismus
Andere linke bis linksradikale Politiker lehnen den „Grünen New Deal“, wie er auch von
der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die
Grünen angedacht wird, ab. So ist der Globalisierungskritiker Müller der Auffassung, durch
einen „Grünen New Deal“ und ein ökologisches
Investitionsprogramms würden die Strukturen,
die zur Finanz- und Klimakrise geführt haben,
aufrechterhalten. Dieses Konzept würde nur
dazu führen, dass der Kapitalismus ein „ökologisches Mäntelchen“ umgehängt bekommt.
Damit werde keine tief greifende Erneuerung
der Wirtschaftsordnung erreicht. Vielmehr
müsse vor dem Hintergrund der Klimakrise
„der grundsätzliche Wachstumskompromiss
Andreas Willnow
gebrochen werden“ (Müller 2008), und über
ein neues ökonomisches Wachstumsmodell
nachgedacht werden. Eine Revitalisierung
der kapitalistischen Strukturen einschließlich
der Fortsetzung der Renditejagd der Fondsmanager, nur diesmal in „grüne Fonds“, lehnt
Müller ab.
Der „Grüne New Deal“, wie er von der Partei
Bündnis 90/Die Grünen vertreten werde, sei
nichts anderes als die Fortsetzung des kapitalistischen Wachstums, das nun ‚nachhaltig‘
vonstatten gehen solle. Bisher werde zwar
immer mehr von Klima- und Umweltschutz
geredet – auf mehr als vierzehn Weltklimakonferenzen – und dennoch seien die Treibhausgas-Emissionen weltweit immer mehr
und schneller gestiegen. Ganz gleich, ob mehr
Emissionshandel, mehr internationale Abkommen oder die Erhöhung des Anteils regenerativer Energien am Energiemix – nichts davon
habe wirklich zum deutlichen Rückgang von
Treibhausgasemissionen geführt. Mittlerweile
würden die globalen CO2-Emissionen sogar die
düstersten Prognosen des Weltklimarates übertreffen. Ohne einen grundlegenden Bruch mit
der Politik des ungebremsten ökonomischen
Wachstums und der dramatischen Übernutzung ökologischer Ressourcen, die seit mehr als
250 Jahren bestehe, sei in der kurzen Zeit, die
wir noch haben, keine effektive Bekämpfung
des Klimawandels mehr möglich. Stattdessen
werde mit dem „Grünen New Deal“ ein neues
kapitalistisches Wachstumsprojekt aufgelegt,
mit dem die Klimakrise und die sonstigen
Umweltkrisen nicht zu meistern seien. Eine
wirkliche sozial und ökologisch fortschrittliche
Politik sehe anders aus (vgl. Müller 2009).
Dieser Überlegung schließt sich grundsätzlich auch die Bundestagsabgeordnete Katja
Kipping (Die Linke) an. Sie verweist darauf,
dass eine neue Klimakultur notwendig sei, denn
vor allem die ärmeren Staaten wären von den
Folgen des Klimawandels besonders betroffen.
Dazu reichten aber eine Effizienzsteigerung
bei der Energienutzung und der Ausbau des
Anteils der erneuerbaren Energien nicht aus.
Vielmehr gehöre die gesamte Wachstumslogik (und damit auch der Lebensstandard der
Menschen in den Industrieländern) auf den
Prüfstand (o.V. 2008a).
„Grüner New Deal“?
Eine Veränderung der Verhaltensweisen
der Bevölkerung verlangt auch der Journalist
Wolfgang Roth, wenn er fordert: „Technik
kann und muss vieles leisten; die effizientere
Nutzung der Energie hat ein riesiges Potenzial,
erneuerbare Ressourcen werden eines Tages
zwangsläufig alle Bedürfnisse befriedigen.
Aber die Bevölkerung der Industriestaaten
wird auch in mancher Hinsicht ihr Verhalten
ändern müssen. Sie muss andere Formen der
Mobilität, der Siedlungspolitik, ihrer Wohnund Konsumwelt finden, und, so tabuisiert eine
solche Aussage ist, auf manches verzichten.“
(Roth 2007)
3. Zusammenfassung
Vor dem Hintergrund der Klima- sowie der
Finanz- und Wirtschaftskrise ist es notwendig,
über eine Wende in der Energiepolitik nachzudenken. Deshalb erscheint es durchaus als
sehr sinnvoll, jetzt verstärkt Maßnahmen zur
Erhöhung der Energieeffizienz einzuleiten und
in großem Umfang in die Modernisierung der
Energieinfrastruktur zu investieren. Mit einem
(ökologischen) Gebäudesanierungsprogramm
könnten die Energieeffizienz erhöht und zahlreiche neue Arbeitsplätze geschaffen werden.
Mit der Erhöhung des Anteils regenerativer
Energien und der Modernisierung des Stromnetzes könnte die Abhängigkeit von den erdölexportierenden Ländern reduziert werden.
Gleichzeitig könnten diese Investitionen in die
Energieeffizienz und in neue Energien einen
Konjunkturimpuls setzen und einen Beitrag
zur Senkung der CO2-Emissionen leisten.
Damit könnten ein gangbarer Weg aus der
Krise aufgezeigt und es viele neue Arbeitsplätze
geschaffen werden.
Die Internationale Weltenergieagentur hat
ein Alternativszenario entworfen, wonach gegenüber dem Referenzszenario im Jahre 2030
rund sechs Milliarden Tonnen Kohlendioxid
weniger in die Atmosphäre gelangen. Rund 65
Prozent dieser Ersparnis wären auf verbesserte
Energieeffizienz, 13 Prozent auf den Brennstoffwechsel in Kraftwerken und 12 Prozent auf die
verstärkte Nutzung regenerativer Energien bei
der Energieerzeugung zurückzuführen (o.V.
85
2006). Allerdings erfordert die Ökologisierung
der Industriegesellschaft, dass gleichzeitig
andere soziale und wirtschaftspolitische Leitplanken gesetzt werden. Hierzu gehören die
Re-Regulierung der Weltfinanzarchitektur und
die Einführung von Mindestlöhnen. Außerdem
sind Maßnahmen zu ergreifen, um die Renditejagd einzuschränken, damit die Bewältigung
des Klimawandels nicht wieder auf Kosten der
sozial Schwächsten erfolgt.
Inwieweit zusätzlich zu den Investitionen
in die Energieinfrastruktur und die Erhöhung
der Energieeffizienz Konsumverzicht und der
Übergang zu einem anderen Wachstumsmodell
nötig sein werden, um die Klimakatastrophe
zu verhindern, wird weiter zu diskutieren sein.
Über neue Formen der Mobilität, der Wohnund Konsumwelt sowie der Siedlungspolitik
ist zumindest nachzudenken. Der Hinweis,
wonach die Strukturreformen nicht zur einseitigen Stärkung eines Teils einer kleinen
„grünen“ Kapitalfraktion führen dürfen, erscheint insofern als berechtigt, als auf faire
Ausschreibungsbedingungen zu achten ist und
die Fördermittel in grüne Technologien auf ihre
Sinnhaftigkeit zu überprüfen sind.
Einige Fragen sind noch ungeklärt. Zum
einen ist unklar, ob der bestehende Zeitraum
ausreicht, das notwendige Umsteuern in
der Klimaschutzpolitik noch zu realisieren.
Probleme bereitet der „Bremsweg“ von 30 bis
50 Jahren, um die globale Erderwärmung zu
verringern. Damit bleibt offen, ob es gelingt,
den als kritisch geltenden Anstieg der Erderwärmung um 2° C zu verhindern.
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Berliner Debatte Initial 20 (2009) 2
87
Thomas Schubert
Unwillkommene Wahrheiten
oder maßlose Übertreibungen?
„Abbau Ost“ – Bericht von einem Abend in Potsdam
Am 22. Oktober 2008 war ich Gast einer
Veranstaltung in der Stadt- und Landesbibliothek Potsdam, zu der diese und die Friedrich-Naumann-Stiftung eingeladen hatten.
Mit Sicherheit war ich nicht der Einzige, der
sich noch im Nachhinein darüber wunderte,
wovon er an diesem Abend Zeuge wurde. Die
Veranstaltung war in mehr als einer Hinsicht
bemerkenswert; was damals zur Sprache kam,
ist heute nicht weniger aktuell. Im Vorausblick
auf das anstehende Gedenken an Revolution,
Systemtransformation und deutsche Einheit
möchte ich diesen Abend nochmals vergegenwärtigen. Um die wichtigste Beobachtung
vorwegzuschicken: Für ein gelungenes Gespräch über die Erfahrungsgrenzen von vierzig
Jahren deutscher Teilung hinweg scheint vor
allem eines noch auszustehen – das Gespräch
der Ostdeutschen untereinander über ihre
Revolution 1989 und die Folgen.
Ein Abend, von
seinem Ende her betrachtet
Anlässlich der Jahrestage von deutscher Einheit
und Mauerfall sollte eine Lesung mit Olaf Baale
aus seinem Buch „ABBAU OST. Lügen, Vorurteile und sozialistische Schulden“ stattfinden.
Weil der Potsdamer Historiker Prof. André
Steiner als Kommentator verhindert war, forderte die Moderatorin von der Friedrich-Naumann-Stiftung das sehr zahlreich erschienene
Publikum auf, dafür umso mehr das Gespräch
mit dem Autor zu suchen. Von diesem Angebot wurde auch ausgiebig Gebrauch gemacht,
– bis die, von dem kontroversen Verlauf der
Debatte sichtlich überraschte, Moderatorin die
Lesung nach nicht ganz zwei Stunden beendete.
Vergeblich brachte der Autor zum Ausdruck,
dass er sich den Fragen gern noch weiter stellen
wolle. Ihm wurde jedoch bedeutet, dass man
seitens der Veranstalter kein Interesse an einer
Weiterführung der Debatte habe und man sich
ja auch draußen weiter unterhalten könne. In
der Eile des Aufbruches unterblieb nicht nur der
Dank an den Autor, sondern auch der Hinweis
auf die Möglichkeit, gegebenenfalls ein Buch
zu erwerben und signieren zu lassen.
Interessant an dieser Veranstaltung war
nicht zuletzt ihr abruptes Ende. Was dem vorausging und was eine deutliche Distanzierung
seitens der Moderation provozierte, bedarf
nun einer genaueren Betrachtung. In ihrer
Schlussbemerkung sah sich die Moderatorin,
statt der üblichen Dankesworte, zu einem interessanten Statement veranlasst. Sie erklärte,
dass sie angesichts der vom Autor am Verlauf
des deutschen Einigungsprozesses geübten
pauschalen Kritik und seines Anspruchs, für
alle Ostdeutschen zu sprechen, nicht umhin
komme, folgendes festzustellen: Sie sei – trotz
aller Probleme – „froh und dankbar für die
deutsche Widervereinigung, welche den Ostdeutschen die Freiheit und die Möglichkeit zur
Selbstbestimmung gebracht hat“. Darauf folgten
Zwischenrufe, die im allgemeinen Aufbruch
jedoch nicht mehr erwidert wurden.
Das beschriebene, etwas hektische Ende, in
Verbindung mit dem Bekenntnis zur Staaträson
der Bundesrepublik, lässt vermuten, dass diese
tatsächlich infrage gestellt worden war. Konnte
ein solcher Eindruck wirklich entstehen, noch
dazu auf einer Veranstaltung der FDP-nahen
88
Friedrich-Naumann-Stiftung? Tatsächlich
konnte man sich an diesem Abend streckenweise eher bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung
wähnen. Doch die hohe Anzahl von aus den
alten Bundesländern stammenden Gästen und
der Dresscode des Publikums ließen eindeutig
auf eine Stiftung aus dem bürgerlichen Milieu
schließen. Die Bruchlinien in der Debatte
verliefen allerdings quer zu parteipolitischen
Überzeugungen, und auch zu sozialen Status
symbolisierenden Kleiderordnungen. Wie
gesagt: Etwas Ungehöriges war geschehen;
und im Falle einer Lesung könnte das heißen,
etwas bislang so nicht Gehörtes war zu Sprache
gekommen.
Worauf zielte die Provokation?
Sicher, Olaf Baale provozierte in einer Weise, als
wüsste er nicht, wo er sei. Vielleicht dachte er
zunächst wirklich, nur „ungeliebte Wahrheiten“
über den „missratenen Aufbau Ost“ auszusprechen, und hoffte, dabei auf ein überwiegend
zustimmendes Publikum zu treffen, wie bei
vorherigen Lesungen im Osten Deutschlands
eben auch. Seine zum Teil schnippischen und
gereizt wirkenden Bemerkungen gegenüber
geäußerter Kritik zeugten jedoch von einer
Empfindlichkeit, die wiederum vermuten ließ,
dass ihm die Vorbehalte gegenüber seiner Sicht
der Dinge nicht gänzlich unbekannt gewesen
sein konnten. Baale rechnete, gerade in Potsdam, vielleicht nicht mit so massiver Kritik und
wirkte ein wenig überrascht und unvorbereitet
auf die Entgegnungen aus dem Publikum.
Dem Autor ist vorgeworfen worden, in der
Analyse zu oberflächlich, zu pessimistisch in
den Aussichten sowie zu optimistisch in der
Perspektive auf eine hypothetische Eigenständigkeit der DDR-Wirtschaft nach 1990 zu sein.
Seitens der Kritiker wurden vor allem Lösungen
für die damaligen und heute angemahnten
Missstände eingefordert – ganz so, als ob hierin
ein Kriterium für berechtigte Kritik zu sehen
wäre und deren etwaiges Fehlen jede Analyse
von vornherein desavouierte. Als Baale daraufhin auf das Projekt einer „Bürgerstiftung
Ostdeutschland“ zur Problembenennung
und Interessenvertretung dieser Region zu
Thomas Schubert
sprechen kam und einen Entwurf zu deren
Gründungsaufruf vorstellte, wurde er von der
Moderation wiederum ermahnt, nicht so viel
Eigenwerbung zu machen. So konkret sollte
es dann doch nicht sein.
Für Widerspruch sorgte vor allem sein
überwiegend düster gezeichnetes Bild eines
hinter die Entwicklung der alten Bundesrepublik immer weiter zurückfallenden „Beitrittsgebietes“. An Baales Selbstbeschreibung
– „DDR-Bürger“ – wurde das Fehlen des Attributs „ehemaliger“ bemängelt. Auf zunächst
nur Unverständnis stieß seine Forderung nach
einem Geschichtsbild, in dem sich Ost- wie
Westdeutsche gleichermaßen wiederzuerkennen vermögen und nicht genötigt werden,
sich darin selbst als Fremde zu begegnen. Laut
Baale ist letzteres nicht nur ein Problem von
Geschichtsdarstellungen, sondern vielmehr
ein allgemeines Fremdheitsgefühl vieler ehemaliger DDR-Bürger im (ehemals) eigenen
Land. Mit der Zuspitzung dieser These, dass
mit der Einheit als Einheit West nicht nur eine
Bereicherung West einherginge, sondern auch
das, was Baale als „Abbau Ost“ bezeichnet,
begann es im Publikum zu rumoren. Als er
dann noch andeutete, die fortlaufenden und den
Bundeshaushalt belastenden Transferleistungen
können möglicherweise auch als eine Art gerechter Strafe für politische Kurzsichtigkeit und
ökonomische Arroganz angesehen werden, hielt
es manchen kaum mehr auf seinem Sitz.
Ein Gespräch, das
noch nicht geführt wurde?
Nun vermag ich hier die Baal’schen Thesen
nicht im Einzelnen zu kommentieren und
muss stattdessen auf die Lektüre des Buches
verweisen.1 Auch wäre zu fragen, wie sehr die
Thesen und die Auswahl der Argumente von
eigenen Erfahrungen und Verletzungen des
Autors gefärbt sind – zumal dies seinerseits
mehrfach und ungefragt bestritten wurde.
Stattdessen möchte ich auf die Reaktionen des
Potsdamer Publikums zu sprechen kommen.
Denn in den Reaktionen und Bezugnahmen
auf den Autor, und im Verlauf des Abends auch
zunehmend innerhalb des Publikums selbst,
Unwillkommene Wahrheiten oder maßlose Übertreibungen?
kam etwas Charakteristisches zum Ausdruck.
Ich meine eine Art des Gesprächs, das so noch
nicht geführt wurde, für das die Zeit jedoch reif
zu schein scheint. Dieses Gespräch für einen
Augenblick angestoßen zu haben, war das
Verdienst von Autor und Veranstalter – wenn
dies auch in verschiedener Weise beabsichtigt
gewesen sein dürfte.
Während Baales Kritiker mehrheitlich in den
alten Bundesländern gebürtig waren, gaben sich
jene, die den Autor und seine Thesen zu stützen
suchten, sämtlich als aus der DDR stammend zu
erkennen. Letztere meldeten sich zunächst gar
nicht, dann nur ganz vereinzelt zu Wort, später
jedoch immer zahlreicher. Unvermittelt hatte
sich plötzlich ein Ost-West-Konflikt aufgetan,
der die Moderation sichtlich überraschte und
mit kaum zu verbergendem Unbehagen erfüllte.
Die Diskussion wurde in dem Augenblick abgebrochen, als die gewohnte Rollenverteilung
bei solchen Anlässen zwischen Moderation,
Vortragendem, Zuhörern und Disputanten
sich aufzulösen begann und die Stimmung im
Saal zugunsten des Autors kippte. Als weiterer
Gesprächsbedarf angemeldet wurde, war kaum
verholen im Publikum auch von „Undankbarkeit“ die Rede. „Was wollt ihr denn, das war
doch alles marode hier. Wie hättet ihr euch
denn ernähren wollen, wenn die DDR weiter
bestanden hätte?“, entfuhr es jemandem, der
noch hinterherschob, dass er ja gern hier im
Osten wohne, aber was er sich hier anhören
müsse, das ginge entscheiden zu weit.
Wer Baale zugehört oder zuvor einen Blick
in sein Buch geworfen hatte, durfte von dieser
Entwicklung nicht überrascht gewesen sein. Ist
es doch sein ausdrücklicher und eigentlicher
Wunsch, denjenigen seine Stimme zu leihen,
welche die ihre im deutschen Einigungsprozess
verloren oder noch gar nicht gefunden haben.
In diesem Sinne hat der Autor auch sein Buch
„den ehemaligen Bürgern der DDR“ gewidmet
– und zwar unabhängig von den politischen,
sozialen und sonstigen Rollen, welche sie heute
angenommen haben. Das Verlagern der Debatte
ins Publikum selbst war so gesehen kein Zufall
oder Ergebnis einer verunglückten Lesung. Vielmehr lag darin eine logische Konsequenz des
Buches, indem gerade der Verlauf der Debatte
das Thema des Buches am besten verkörperte.
89
Entgegen allen klugen Argumenten wurde
somit der faktische Beweis für die Relevanz
des im Buch angemeldeten Gesprächsbedarfs
gleich mitgeliefert. Worum es Baale also neben seiner Sorge um die Zukunftsfähigkeit
der neuen Bundesländer geht, ist letztlich
die Einforderung eines Gespräches zwischen
den damaligen und heutigen Akteuren der
deutschen Einheit – nun allerdings erstmals
auf Augenhöhe und unter Zurkenntnisnahme
aller auf dem Tisch liegenden Daten.
Für einige im Saal war dies freilich zuviel
– hieße das doch, dass nicht nur noch etwas
unter anderem zu besprechen ist, sondern dass
dieses Gespräch bislang noch gar nicht stattgefunden hat. Manche gingen. Andere wurden
laut. Ungewöhnlich ist, dass Baale ohne die aus
diesen Debatten sattsam bekannte nostalgische
Haltung des „es war doch nicht alles schlecht
an der DDR“ auszukommen scheint und sich,
statt zu moralisieren, lieber auf Statistiken und
entlarvende Zitate politischer Akteure verlässt.
Zweifellos ist deren Arrangement in seinem
Buch „Abbau Ost“ aber auch anzumerken,
dass es vom Autor durchaus nicht beabsichtigt
war, eine Erfolgsgeschichte zu schreiben. Doch
machte das Material es ihm auch nicht gerade schwer. Zudem lässt Baale keinen Zweifel
daran, dass er ganz und gar nicht gewillt ist,
irgendetwas milder zu beurteilen, bloß weil
seine Freude über die gewonnene Einheit ihn
den einen oder anderen Makel daran vergessen
lässt. Ganz im Gegenteil; und hier wäre dann
doch, wenn nicht von Ostalgie, so jedenfalls von
einem unverkennbaren Hang zum Nachkarten
mit einem gewissen Schuss Schadenfreude zu
sprechen.
Die Geschichte rückwärts erzählt?
Es bleibt festzustellen, dass das Thema „deutsche Einheit“ zwischen Ost- und Westdeutschen
ein kontroverses Thema bleibt. Vor allem aber
unter Ostdeutschen ist hierzu noch lange
nicht alles gesagt. In diesen Debatten geht es
im Streben um persönliche Anerkennung und
historische Aufrechnung noch immer um die
Abarbeitung von Reflexen aus der Zeit der
deutschen Teilung und des Kalten Krieges.
90
Dabei fällt heute insbesondere eines auf: Ich
meine das Kleinreden und Vergessen eines
Teiles der Ereignisse, die uns überhaupt erst
ermöglichten, diese Probleme miteinander
zu haben – die sogenannte Wende. Doch
ohne einen selbstbewussten Bezug auf die
Selbstbefreiung von 1989 – ein Jahr vor der
deutschen Einheit – wird dieses Gespräch über
Zustandekommen, Verlauf und Zukunft der
deutschen Einigung kaum stattfinden können.
Was noch aussteht, ist zunächst eine Debatte
unter den Ostdeutschen selbst über die Ziele,
das Glück, das Scheitern oder die Folgen dieser
erlittenen oder gestalteten, aber zumindest erlebten gesellschaftlichen Umwälzung im Herbst
1989. Die weit verbreitete Vermeidung des
emphatischen Begriffes der Revolution unter
den ehemaligen Bewohnern der DDR zeugt
weniger von sachlich begründeten Skrupeln
als vielmehr von einer tiefen Verunsicherung
über die eigene Geschichte, speziell über dieses
Ereignis und die eigene historische Tat. Wer
heute von „Wende“ spricht, sieht sich seitens
gutmeinender Sprachpolizisten schnell dem
Vorwurf ausgesetzt, die friedliche Revolution
zu negieren oder doch zumindest in ihrer Bedeutung gering zu schätzen. Regelmäßig wird
dabei übersehen, dass der Begriff „Wende“ heute
weder in dem Sinne gebraucht wird, den ihm
Helmut Kohl oder Egon Krenz gaben, noch
dass er den Begriff „Revolution“ ersetzen soll.
Er umfasst alltagssprachlich vielmehr einen
Zeitraum vom September/Oktober ’89 bis zum
3. Oktober ’90, in dem sich Revolution, Mauerfall, Demokratisierung und deutsche Einheit
als eine zeitliche, aber nicht teleologische Folge
von außerordentlichen Ereignissen abspielten.
Was an dem Begriff zu stören scheint, ist seine
relative Sachlichkeit und Wertfreiheit. Das mag
vielleicht überraschen; aber das Wort „Wende“
negiert als deskriptiver Sammelbegriff weder ein
einzelnes Ereignis, noch wird eines gegenüber
einem anderen hervorgehoben. Wer dieses
Wort aus dem Sprachgebrauch verbannen will,
macht sich nicht nur einer weiteren Bevormundung der es gebrauchenden Bevölkerung
schuldig. Er sollte fairerweise auch sagen,
welchen Begriff er sich stattdessen wünscht,
und welchem Teilereignis in der Erinnerung
das Primat zukommen soll. Von derartigen
Thomas Schubert
Verdächtigungen und Verboten bzw. solcher
Hierarchisierung ist nichts zu halten. Statt jedem, der „Wende“ sagt, im besserwisserischen
Brustton eines Moralapostels über den Mund
zu fahren und somit jedes gleichberechtigte
Gespräch zumindest zu erschweren, könnte
man auch genauer hinzuhören versuchen, was
jemand wirklich meint, wenn er von „Wende“
spricht.
Zwar steht der Selbstverständigung einer
Bevölkerung, die als solche heute kaum mehr
in Erscheinung tritt und auch kaum über geeignete Medien verfügt, manches entgegen.
Fällt diese jedoch aus, wird auch kein Subjekt
in Erscheinung treten, welches die Erinnerung
an die Revolution von 1989 für sich positiv zu
reklamieren vermag und diese jenseits von
Sonntagsreden in die deutsche Einheit und
das gemeinsame Erbe mit einbringt. Bis dahin,
so steht zu vermuten, wird die Erinnerung
an den Herbst ’89 weiterhin den politischen
Institutionen und Medien der alten Bundesrepublik überlassen bleiben, wo man letztlich
wenig damit anzufangen weiß. In dem dort
nicht ausschließlich, aber doch vorherrschend
anzutreffenden Konsens aus Bequemlichkeit,
Halbwissen und politischer Korrektheit kommt
die Erinnerung an ’89 nicht über eine Würdigung als der Beitrag der Ostdeutschen zur
deutschen Einheit hinaus. Solange jedoch der
3. Oktober 1990 als das bestimmende Ereignis
in der Geschichte der Ostdeutschen firmiert,
auf das hin der Rest der Geschichte als Vorund als Nachgeschichte zu verstehen ist, so
lange wird die gewonnene Freiheit, wenn nicht
als Geschenk an die Ostdeutschen, so doch
als Frucht der deutschen Einheit erscheinen
– und somit entwertet. Das heute vor allem in
Ostdeutschland zu beobachtende Unbehagen
an der eigenen Geschichte entspringt neben gewichtigen internen Gründen auch dem Gefühl,
dass an dieser Geschichte etwas nicht stimmt.
In der DDR wurden mit der Begradigung
historisch gewundener Verläufe und dem gutmeinenden Umlügen der erlebten Geschichte
zu mannigfache Erfahrungen gemacht, als dass
man annehmen könnte, man sei in den beigetretenen Ländern in solchen Dingen alles andere
als unempfindlich. Die flächendeckende und
als solche erkannte Falschinformation führte
Unwillkommene Wahrheiten oder maßlose Übertreibungen?
damals zu einer breiten inneren Teilnahmslosigkeit der Bevölkerung. Im Vergleich zur
DDR-Propaganda nehmen sich die heutigen
Glättungen im öffentlichen Geschichtsbild
als nicht vergleichbar, verschwindend gering,
ja irrelevant aus. Schon die Andeutung eines
Vergleiches wirkt – zu Recht – als Zumutung.
Doch wer möchte noch leugnen, dass die alte,
aus der DDR stammende Teilnahmslosigkeit
gegenüber öffentlichen und staatlichen Belangen heute wieder neue Nahrung bezieht.
Selbstverständlichkeiten der Art, wonach
das System der alten Bundesrepublik alternativlos zu übernehmen gewesen sei, nur ein
historisch kleines Zeitfenster offenstand und die
sich ergebende Möglichkeit so und nicht anders
ergriffen werden musste, sodass der Beitritt
nach Art. 23 GG die beste Lösung war, wofür
sich die Ostdeutschen am 18. März 1990 auch
mehrheitlich entschieden hätten, erschweren
nicht nur die Ankunft in einer gemeinsamen
Gegenwart. Sie stehen als Vorurteile auch der
kritischen Aneignung der eigenen Geschichte
entgegen, gleich, ob der gemeinsam oder der
getrennt erlebten.
Was Bücher wie das von Baale unbequem
macht, sind nur zu einem geringeren Teil die
darin enthaltenen Fakten oder die Offenlegung
von Fehlentscheidungen. Es ist der Angriff
auf den nirgends festgeschriebenen, aber
allerorts anzutreffenden Nationalmythos der
neuen Bundesrepublik und dem darin der DDR
zugewiesenen Platz. Die Beteuerung, eines
solchen Mythos aufgrund der demokratischen
Verfasstheit und der Rationalität des politischen
Systems nicht zu bedürfen und in der pluralen
Öffentlichkeitsstruktur der Bundesrepublik für
so etwas auch gar keinen Platz zu haben, kann
man geradezu als eine seiner Kernaussagen
verstehen.
Ganz nebenher führen diese Glaubenssätze
in Verbindung mit einer radikalen Delegitimierung der DDR zu einem Bild, als sei die
– heute nicht zu Unrecht gefeierte – Bundesrepublik immer schon so dagewesen. Das sah
jedoch in den Jahren nach dem Krieg und bis
zu ihrer Gründung noch ganz anders aus. Der
Weg einer strikten Westbindung des Landes,
mit allen Konsequenzen, war nur einer der
damals möglichen. 1949 wurden aus einer
91
konkreten historischen Situation heraus Entscheidungen getroffen, die unter anderem
die Teilung Deutschlands zur Folge hatten.
Für den Fall der deutschen Einheit, unter
günstigeren Bedingungen, sahen die Schöpfer
des Grundgesetzes eine verfassungsmäßige
Neugründung vor. Die in Kauf genommene
und damals nicht unumstrittene Teilung des
Landes und der Nation sollte auf diese Weise
verfassungsgemäß rückgängig gemacht und
in ihren noch nicht absehbaren Folgen überwunden werden. Dieser klug vorgegebene
Weg wurde nicht beschritten. Die beispiellose
Erfolgsgeschichte der alten Bundesrepublik
ließ nicht nur eine Debatte über die Zukunft
das nun wieder gemeinsamen Landes als überflüssig erscheinen; auch die Vorgeschichte der
unmittelbaren Nachkriegszeit sollte wohl nicht
mehr so genau erinnert werden. Darüber wäre
aber zu sprechen gewesen, hätte man sich nach
1990 wirklich zusammengefunden.
Am effektivsten werden Dinge, die nicht
existieren, wie solche unbewussten und letztlich auch nur halben Nationalmythen, infrage
gestellt, indem man den (nicht-)existenten
Sprachregelungen nicht folgt. Einer bis dato
fremden oder nicht bekannten Geschichtserzählung kann man problemlos beitreten;
allerdings nur so weit, wie diese einem nicht
die selbst erlebte Geschichte und somit auch
die Umstände des eigenen Beitrittes erzählt.
Die Schwierigkeiten bei der Inkorporation der
ostdeutschen Geschichte(n) in das Set bundesdeutscher Master-Narrative deuten dabei
nicht nur auf das Nachwirken teilungsbedingter
Differenzen hin. Was darin auch zum Tragen
kommt, ist der Versuch, einer bestimmten Sicht
auf das ganze deutsche 20. Jahrhundert den
hegemonialen Platz in der gesamtdeutschen
öffentlichen Erinnerung zu sichern. Wer die
sich daraus ergebenden Gewichtungen der
Ereignisse zwischen Oktober 1989 und Oktober
1990 in Zweifel zieht, oder auch deren teleologisch-deterministische Deutung, der rührt an
etwas, das weder 1990 zur Debatte stand noch
heute zur Debatte stehen soll – er rührt an
den Selbstverständnissen der alten und neuen
Bundesrepublik. Andere Beispiele betreffen den
Umgang mit den Begriffen „ehemalige DDR“
oder „zweite deutsche Diktatur“.
92
Die Einheit bleibt zweisprachig?
Selbstverständlich besteht bei der Deutung der
deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts in
Politik, Medien und Wissenschaft weder eine
Gleichheit der Mittel noch der Möglichkeiten
zwischen den ehemals zwei deutschen Bevölkerungen. Diese Beobachtung sucht man nur
allzu schnell mit dem Argument wegzuwischen,
dass es gar keine einheitlich ostdeutsche
Deutung gäbe, wie es auch keine solche westdeutsche, bundesrepublikanische (ja, wie soll
man diese nennen?) geben kann. Auch wird
entgegnet: Jetzt, da wir alle Deutsche sind, gibt
es per se keine Unterschiede mehr, die nicht
zu artikulieren und ohne Mühe zu verstehen
wären. Oder es wird empfohlen, sich in der
reich ausdifferenzierten politischen Kultur
der Bundesrepublik nur recht umzusehen, bis
man den passenden Platz für sich und die dazu
passende Zeitung findet. Diese Entgegnungen
bestreiten letztlich die Existenz des Problems,
indem sie dessen Formulierung auf eine falsche
Wahrnehmung, eine Einbildung oder einen zu
engen Horizont des Betrachters zurückführen.
Gemeinsam ist ihnen der Zweifel an einer sinnvollen Aussage über das Problem. Dies freilich
nur in einer der zugelassenen Sprachen, gerade
derjenigen politischen Kultur, welche durch
das Aufzeigen des Problems implizit infrage
gestellt wird. Früher nannte man so etwas
kulturelle Hegemonie, später Diskursmacht.
Wie nennt man das heute, und wer mag als
Spielverderber auftreten?
In der DDR machten die politischen Verhältnisse die Mehrheit der Bevölkerung zum
gesellschaftlichen Außenseiter, und sie ließen
diesen verstummen. Ein paar mutige Oppositionelle wurden zu Wortführen der Mehrheit,
erstritten ihr Rederecht und das Recht, gehört
zu werden, für alle und jeden Einzelnen. Heute
sind die meisten ehemaligen Sprecher verstummt oder als offizielle Zeitzeugen nun selbst
Teil einer Mehrheit, die jetzt nicht mehr aus
Außenseitern besteht. Die ehemalige Mehrheit
ist heute eine Minderheit, der nicht nur die
Existenzberechtigung, sondern gelegentlich
auch gleich die Existenz abgesprochen wird.
Es wird ihr nichts anderes übrig bleiben als zu
beginnen, selbst zu sprechen – wenn sie gehört
Thomas Schubert
werden will. Doch bedarf es hierzu einer selbstbewussten Besinnung auf eine Sprache, in der
man sich zunächst untereinander versteht und
in der das Vokabular der öffentlichen Rede, der
Political Correctness und aller Codes, die man
angenommen hat, um in der Bundesrepublik
zu bestehen, für einen ernsten Augenblick
suspendiert sind. Dabei wird sich zeigen, dass
die ostdeutsche Stimme gerade nicht einstimmig ist und sein muss, um sich ihrer Eigenart
bewusst zu werden und um ihren spezifischen
Charakter zu wahren.
Unwissen als Statement?
Die relative Ruhe, welche derzeit in die Zunft
der professionellen Zeitgeschichtsschreibung
eingekehrt zu sein scheint, sollte nicht darüber
hinwegtäuschen, dass hier noch etwas unerledigt und noch manches ungehört ist. Auch sollte
man genau hinschauen, wer denn da für wen
Geschichte schreibt, was sich an den dortigen
Debatten wirklich auf historische Geschehnisse
bezieht und was daran einen Reflex auf ältere
Debatten darstellt, welche bereits in der alten
Bundesrepublik geführt wurden, als die überwiegende Mehrheit der heutigen Akteure im
akademischen Streit um die DDR-Geschichte
dort ihre Ausbildung erfuhr. Es scheint fast
so, als sei die DDR-Geschichte inzwischen
das bevorzugte Schlachtfeld überkommener
alt-bundesdeutscher Parteiinteressen und
Wissenschaftsverständnisse.
Diese Historiker werden von der Politik
in letzter Zeit wiederholt aufgefordert, durch
bessere Bücher und eingängigere Methoden
der vor allem unter ostdeutschen Schülern
grassierenden Unwissenheit über die „zweite
deutsche Diktatur“ und das Leben ihrer Eltern
darin zu begegnen. Konstatiert wurden diese
Defizite wiederum durch Historikerkommissionen, wobei man sich schon fragen muss,
was eigentlich mit dem bisher erarbeiteten
Material nicht stimmt, warum es nicht zur
Kenntnis genommen wird oder was daran
etwaige Resistenzen bei den möglichen Rezipienten ausbildete. Aber wen interessieren solche
Antworten, wenn man im Schweigekartell von
sich der Erinnerung verweigernden Eltern,
Unwillkommene Wahrheiten oder maßlose Übertreibungen?
Großeltern und Lehrer schon das Übel erkannt
zu haben meint? Was, wenn die Fragen falsch
gestellt sind und man bei den Antworten nicht
richtig hingehört hat?
In deutschen Medien haben weder dumme Leute noch ehemalige Schüler aus der
DDR die Verantwortung inne. Solange man
aber Sätze vernimmt wie: „Die Freundschaft
Gorbatschows mit Helmut Kohl brachte die
Mauer zu Fall“2, brauchen wir über das Problem der historischen Unwissenheit als eines
spezifisch ostdeutschen Phänomens gar nicht
erst anfangen zu reden. Die Unwissenheit ist
ja unbestritten, aber sie muss endlich selbst als
Teil der zu verstehenden Geschichte begriffen
werden. Eine neue Runde im Belehren, Überwältigen und Moralisieren hilft hier nicht weiter.
Die Geschichte der DDR ist in den Schulen,
bei den Lehrern und den Schülern bereits da
– zumindest in Ostdeutschland. Sie zum Sprechen zu bringen, braucht es 20 Jahre nach der
Bürgererhebung keine neuen Lehrmittel oder
Ad-hoc-Programme. Stattdessen bedarf es bis
zu einem gewissen Grad einer Entkopplung
von derzeitiger politischer und pädagogischer
Kultur. Räume sind zu schaffen, in denen sich
die verschiedensten Stimmen ohne Rechtfertigungsdruck, Zwang zu Vollständigkeit und
Widerspruchsfreiheit zu artikulieren vermögen. Nicht die Vermittlung eines richtigen und
möglichst vollständigen Geschichtsbildes kann
hier das Ziel sein, sondern die Fähigkeit, die
eigene Sicht auf historische Zusammenhänge
zu einem als offiziell wahrgenommenen Geschichtsbild in Bezug zu setzen.
Zur paradoxen Erinnerung
von Einheit und Freiheit
Wie zur Beglaubigung des offensichtlich falschen, aber doch zu verstehenden Satzes „Die
Freundschaft Gorbatschows mit Helmut Kohl
brachte die Mauer zu Fall“, wurde dieser im
„Heute-Journal“ mit einigen Bildern unterlegt.
Zuerst mit einer Sequenz vom Strickjackentreffen zwischen Gorbatschow und Kohl im
Kaukasus. Darauf folgte ein Ausschnitt von der
Öffnung des Grenzüberganges am Brandenburger Tor. Auf die Maueröffnung hatten weder
93
Kohl noch Gorbatschow direkten Einfluss; auch
konnte zu diesem Zeitpunkt von Freundschaft
keine Rede sein. Die unterlegten Bilder zeigen
Ereignisse, welche erst Tage und Monate nach
dem Mauerfall stattfanden. Was ist nun die
Nachricht? Und will man das überhaupt noch so
genau wissen? Als Kohl und Gorbatschow sich
damals trafen, wurde über zentrale Modalitäten
der deutschen Vereinigung letzte Einigkeit
erzielt. Die message bezieht sich also auf die
Einheit, welcher in der öffentlich-rechtlichen
Erinnerung eine solch zentrale Bedeutung zukommt, dass sie den Fall der Mauer gleich noch
mit verursacht hat – oder diesen zumindest
verursacht haben könnte.
Das hört sich absurd an? In dem eingangs
zitierten Statement, mit dem eine bemerkenswerte Potsdamer Lesung ihr offizielles Ende
fand, kam ein ganz ähnlich schiefes Verhältnis
von Einheit, Freiheit, Mauerfall und Revolution
zum Ausdruck. Der Satz: Man sei „froh und
dankbar für die deutsche Widervereinigung,
welche den Ostdeutschen die Freiheit und die
Möglichkeit zur Selbstbestimmung gebracht
hat“, bringt zwei persönliche und leicht nachvollziehbare Aussagen in eine falsche historische
Beziehung zueinander. Dies ist einer Erwähnung
nicht weiter wert, wäre nicht der Ausspruch in
seiner Falschheit alles andere als sinnlos, oder
würde er eine ganz vereinzelte sprachliche
Fehlleistung darstellen. Die Sprache des Zitats
verweist auf ein Wissen von einer geschichtlichen Abfolge, von der man doch – zumal als
Ostdeutsche – wissen müsste, dass es so nicht
gewesen ist. Aber die Frage in der derzeitigen
geschichtspolitischen Darstellung ist vielleicht
nicht, ob es so oder so war, sondern, ob es so
oder so gewesen sein soll. Letztlich war es so,
wie es die Sprache sagt, wie es die Bilder zeigen,
und vor allem, wie manche es gern hätten. Ein
solches Beispiel lässt nur vermuten, wie weit
verbreitet solche gedankenlosen, aber nicht
folgenlosen Sprachregelungen auch bei Ostdeutschen schon sind – zumindest, wenn sie
sich innerhalb etablierter Institutionen und
des darin herrschenden Diskurses der alten
Bundesrepublik bewegen.
Der Vollständigkeit halber soll an dieser
Stelle aber noch angemerkt werden, dass es
durchaus auch eine Perspektive gibt, von der
94
her dieser Satz nicht nur etwas Selbstverständliches sagt, sondern dies auch noch zutreffend
tut – zumindest in einem juristischen Verständnis. Solange nämlich die deutsche Einheit
und die Erweiterung des Geltungsbereiches
des Grundgesetzes, dabei insbesondere der
politischen und die Freiheit der Person betreffenden Grundrechte, in der Bundesrepublik als
Verfassungsgebot und als Staatsziel firmierten,
so lange waren Freiheit und Selbstbestimmung
in der DDR eben erst dann denkbar, wenn
dort das Grundgesetz mit seinen verbrieften
Grundrechten in Kraft gesetzt wurde. Und
das geschah bekanntlich am 3. Oktober 1990.
Formaljuristisch stimmt es also doch – die
Freiheit und das Recht auf Selbstbestimmung
sind mit der Einheit nach Ostdeutschland gekommen? Somit würde zumindest verständlich,
warum die revolutionären Ereignisse in der
DDR – also noch vor der richtigen Freiheit
– so gedeutet werden müssen, als ob sie dieses
Ende bereits intendierten. Die DDR war als
wirklich eigenständiger – sprich: freier – Staat
erst anzuerkennen, wenn in ihr das Grundgesetz gilt. Wo das Grundgesetz gilt, ist jedoch
die Bundesrepublik. Wollte man in der DDR
also frei sein, so war dies vom Standpunkt
des Grundgesetzes aus immer nur innerhalb
von dessen Geltungsbereich möglich, also
Thomas Schubert
erst außerhalb der DDR oder eben nach ihr
– Revolution hin oder her.
Letztlich bleibt jedoch festzuhalten: Die
Zugehörigkeit zu der in der Bundesrepublik
vorherrschenden Meinung betreffs des Verhältnisses von Einheit und Freiheit – ganz gleich
ob in ihrer paradoxen oder juristischen Gestalt
– ist in Ostdeutschland häufig nur mittels einer
historischen Enteignung möglich. Diese kann
unbewusst oder selbst gewählt sein. Wenn
darin ein Ausweis von Freiheit wahrgenommen
wird, dann sollte es nicht verwundern, dass
der Begriff Freiheit seinen unzweideutigen
Klang, mit dem er 1989 in der DDR formuliert
wurde, heute verloren hat. Paradoxerweise hat
eine stilisierte, anschlussfähig gemachte und
urbanisierte Erinnerung an die DDR gerade in
ihrem Wertvollsten auch ihr prominentestes
Opfer – in der Revolution vom Herbst ’89.
In Potsdam ging eine abendliche Debatte
früh zu Ende. Dies kann aber nur ein vorläufiges
Ende gewesen sein.
Anmerkungen
1
2
Olaf Baale: ABBAU OST. Lügen, Vorurteile und
sozialistische Schulden, München: dtv 2007.
„Heute-journal“ vom 1. August 2008.