Präsentismus: Die unsichtbaren Fehlzeiten

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Präsentismus: Die unsichtbaren Fehlzeiten
KAPITEL I: XXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXX
Präsentismus:
Die unsichtbaren Fehlzeiten
Von Dr. Stefan Boëthius
Arbeitnehmer, die durch Krankheit oder private Sorgen belastet sind, erbringen nicht die volle
Leistung. Sie sind zwar am Arbeitsplatz anwesend, aber dort nur eingeschränkt produktiv. Präsentismus ist nicht nur schlecht für die Mitarbeiter selbst. Es entstehen dadurch auch betriebswirtschaftliche Kosten. Die externe Mitarbeiterberatung ist eine wirksame Gegenstrategie.
mfragen belegen, dass der Hauptgrund für das „Arbeiten trotz Kranksein“ das Pflichtbewusstsein gegenüber dem Arbeitgeber und den Kollegen ist. Entgegen der weit verbreiteten Annahme, steht die Angst vor dem
Jobverlust dabei nicht im Vordergrund. Viele Arbeitgeber bewerten deshalb
das “Arbeiten trotz Kranksein” durchaus positiv. Schließlich demonstrieren
die Mitarbeiter damit ihre Loyalität. Und das Wichtigste: Eine Leistung
wird erbracht, auch wenn sie durch Krankheit reduziert ist. Wieso sollten
Unternehmen hier also aktiv werden?
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Aber auch unter den Beschäftigten ist die Ansicht weit verbreitet, dass man unter allen Umständen zur Arbeit gehen sollte, auch wenn man sich krank und erschöpft fühlt. Arbeit vermittelt schließlich Sinn, Zugehörigkeit, Anerkennung
und Befriedigung. Sie ist ein wichtiger Faktor für das eigene Wohlbefinden. Bei
einigen Krankheiten, meistens chronischer Natur, ist es für die Betroffenen oftmals sogar wirklich besser, wenn sie einer geregelten Arbeit nachgehen können,
statt zu Hause bleiben zu müssen. Dies könnte nicht nur die Krankheit verschlimmern, sondern sie wären auch unglücklicher. In diesem Sinne ist das „Arbeiten trotz Kranksein“ ein gesellschaftlich weitgehend akzeptiertes Verhalten.
Dr. Stefan Boëthius
Geschäftsführer
Director Psychological &
Legal Services
ICAS Deutschland GmbH
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Doch wer so denkt, der übersieht die sozialen und betriebswirtschaftlichen
Probleme die der Präsentismus am Arbeitsplatz hervorruft. Wer trotz verminderter Leistungsfähigkeit immer weiter arbeitet ist nicht nur weniger
produktiv und auf Dauer auch weniger glücklich. Er verursacht auch Kosten
im Betrieb, die der Arbeitgeber auf den ersten Blick nicht erkennt. Der Vergleich mit dem Eisberg drängt sich geradezu auf: Absentismus ist sichtbar
(über dem Wasserspiegel), Präsentismus dagegen weitgehend unsichtbar
(unter dem Wasserspiegel). Daher kann der Präsentismus mehr oder weniger
ungehindert seine Wirkung entfalten. Viele Unternehmen wissen zwar, dass
Präsentismus und Absentismus grosse Kostenfaktoren im Personalmanagement darstellten. Neu hingegen ist die Erkenntnis, dass die Leistungs- und
Kostenverschwendung beim Präsentismus etwa zehnmal grösser ist als beim
Absentismus.
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Kostenfaktor Stress
Wenn Mitarbeitende wiederholt krank zur Arbeit kommen, hat dies in der
Regel negative Auswirkungen auf die Erfolgsrechnung des Unternehmens.
Abgesehen von der Ansteckungsgefahr und der langsameren Genesung muss
mit längerfristigen und schwerwiegenden Folgeschäden gerechnet werden:
schlechtere Abwehrkräfte, Erschöpfung und grössere Stressanfälligkeit, Gefahr der Chronifizierung von Krankheiten, psychische Leiden wie Depression, Burn-out und Ähnlichem. Es entsteht ein Teufelskreis. Präsentismus verursacht noch mehr Präsentismus. Und mit einer gewissen Verzögerung steigert er auch den Absentismus, also die vermeidbaren Fehlzeiten. Zunehmender Präsentismus im Sinne von „Arbeiten trotz Kranksein“ wird zu einem
späteren Zeitpunkt die Fehlzeitenrate übermässig ansteigen lassen. Absentismus hat fast immer eine Vorgeschichte: Präsentismus.
Betriebswirtschaftlich relevant ist nicht die Krankheit an sich. Es sind vielmehr
die damit zusammenhängenden vermeidbaren Produktivitätsverluste und Kosten.
So gesehen ist jeder „krank“, dessen Leistungsvermögen unnötig reduziert
ist. Allgemein vermindern Sorgen und Ängste die Konzentrationsfähigkeit
und damit das Leistungsvermögen der Mitarbeiter. Private Sorgen und Ängste, können auch ohne Leiden bzw. Krankheit bestehen, zum Beispiel in Zusammenhang mit einem Beziehungskonflikt oder finanziellen Schwierigkeiten. Die betriebswirtschaftlichen Kosten, die daraus entstehen, sind mindestens genau so hoch wie diejenigen, die durch Krankheiten im eigentlichen
Sinne entstehen. Diese Einschätzung beruht auf der Tatsache, dass fast alle
Menschen täglich mit den nicht krankheitsbedingten Belastungen zu kämpfen haben. Sie sind nicht nur viel weiter verbreitet, sondern erscheinen auch
in höherer Anzahl und Vielfalt.
Fast jede Krankheit – physisch wie psychisch – hat eine Vorgeschichte. Häufig ist Stress ein wichtiger Faktor für ihre Entstehung. Die nicht krankheitsbedingten Belastungen sind Stressoren. Wenn es zu einer Überforderung wegen der Schwere bzw. der Anzahl der Belastungen kommt, entsteht der
krankmachende Stress, der bereits ein Leiden ist.
Für fast die Hälfte der Fehlzeiten sind nicht Krankheiten die eigentliche Ursache, sondern nicht krankheitsbedingte Probleme, Sorgen und Ängste. Häufig
nehmen sie den Mitarbeitenden die Motivation, zur Arbeit zu gehen. Auch
wenn Fehlzeiten, die bei ärztlich attestierter Arbeitsunfähigkeit entstehen, zum
Teil vermeidbar sind – die Fehlzeiten, die von nicht krankheitsbedingten Belastungen verursacht werden, sind fast immer vermeidbar. Präsentismus ist
häufig die Vorstufe von Absentismus, also den echten Fehlzeiten. Ursache sind
in beiden Fällen vor allem die nicht krankheitsbedingten Belastungen. Unternehmen, denen es gelingt, den Präsentismus am Arbeitsplatz zu verringern, re-
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duzieren damit gleichzeitig das Risiko vermeidbarer Fehlzeiten. Wer Präsentismus im Betrieb rechtzeitig erkennt und Gegenmaßnahmen ergreift, vermeidet unnötige Produktivitätsverluste und spart Kosten ein.
Die entscheidende Frage bei Präsentismus lautet: Wie können sich Mitarbeitende besser auf ihre Arbeit konzentrieren? Aus betriebswirtschaftlicher
Sicht ist es dabei unerheblich, ob der Arbeitnehmer aus rein gesundheitlichen Gründen oder wegen privater Sorgen und Probleme nicht seine volle
Leistungsfähigkeit erreicht. Präsentismus, im Sinne von Leistungsdefiziten
verursacht durch eine verringerte Konzentrationsfähigkeit, ist vor allem ein
betriebswirtschaftliches Problem. Es wird klar, dass die Unternehmensleitungen, Vorgesetzten und auch die Mitarbeitenden die Fähigkeit aber auch
die Verantwortung haben, wirksame Lösungen zur Verringerung des Präsentismus zu entwickeln.
Typische Beispiele für Präsentismus
Elisabeth M. wirft ihr zwanzigstes Taschentuch in den Papierkorb. Das
schnelle Zählen der unbenutzten Taschentücher zeigt, dass der Vorrat wohl
kaum bis zum Abend reichen wird. Mit einem Seufzer lehnt sie sich zurück.
Als wäre das ständige Tränen, Niesen und Schnäuzen nicht lästig genug. Sie
fühlt sich ausserdem krank. Ihre Allergie gegen Birkenpollen setzt ihr jedes
Jahr derart zu, dass sie kaum produktiv arbeiten kann.
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Krankheiten wie Asthma, Allergien oder Migräne verursachen Produktivitätsverluste, die zwei bis drei mal höher sind als beim Absentismus.
Sonja P. leidet unter einer Depression. Es ist ihr aber nicht bewusst. Sie
merkt nur, dass sie häufig Motivationsprobleme hat. Die Arbeit macht ihr
viel weniger Freude als früher. Daher hat sie Mühe, am Morgen aufzustehen
und abends einzuschlafen. Weil sie sich ständig erschöpft fühlt, verkümmert
ihr soziales Leben. Der Schwung, den sie früher hatte, ist weg. Ihre letzte
Energie verwendet sie, um ihren Job zu erledigen. Es ist für alle deutlich erkennbar: Ihre Leistungen haben nachgelassen.
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30 Prozent der Angestellten leiden unter einer Depression. Mitarbeitende,
die arbeiten, obwohl sie unter einer Depression leiden, haben einen Produktivitätsverlust von ca. 22 Prozent.
Ulrich G. leidet unter seinem Chef, der ihm mehrfach in einer verletzenden Direktheit mitgeteilt hat, dass seine Leistung ungenügend sei. Diese Kritik findet
er in vielen Fällen ungerechtfertigt. Als er mit seinem Chef darüber reden will,
erhält er folgende Antwort: „Wenn du nicht weisst, was du zu tun hast, dann bist
du hier fehl am Platz. Ich bin nicht dein Babysitter.“ Die Respektlosigkeit des
Vorgesetzten regt ihn so auf, dass er kaum noch an etwas anderes denken kann.
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Bis zu 65 Prozent der Leistungsprobleme sind auf angespannte Beziehungen zwischen den Angestellten zurückzuführen. 30 Prozent der Produktivitätsverluste werden von Konflikten am Arbeitsplatz verursacht.
Martin F. sitzt vor seinem Computer. Er will endlich ein wichtiges Projekt in
Angriff nehmen. Er hätte schon längst damit beginnen sollen. Aber seitdem
seine Frau und er sich auf die Scheidung geeinigt haben, kommt er zu nichts
mehr. Auch heute fühlt er sich hin und her gerissen. Ein kurzer Blick in den
Terminkalender erinnert ihn daran, was ihm alles bevorsteht: Anwalt, Bank,
Versicherung, Paartherapeut, Kinderpsychologe, Hausmakler, Schätzungsexperte. Und dann noch die Wohnungssuche, der Umzug, der ganze Papierkram.
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Leiden, Sorgen, Ängste und Probleme haben ihre Ursache zu ca. 80 Prozent im privaten Umfeld. Der Produktivitätsverlust wegen Präsentismus,
verursacht durch private Belastungen, beträgt ca. 10 Prozent.
Die Externe Mitarbeiterberatung EAP
Eine bewährte Methode, diese Verschwendung von Ressourcen einzudämmen, ist die Externe Mitarbeiterberatung EAP (Employee Assistance Program). Die Externe Mitarbeiterberatung EAP wird von der WHO als wirksames Werkzeug für Organisationen empfohlen. Diese Empfehlung basiert auf
verschiedenen wissenschaftlichen Studien, die zeigen, dass EAP eine signifikante Abnahme von Stress sowie eine signifikante Zunahme von Gesundheit und Wohlbefinden bewirkt.
Präsentismus und Absentismus kosten ein Unternehmen zwischen 20 und 30
Prozent der direkten Lohnkosten. Ausgehend von der vorsichtigen Annahme,
dass die Externe Mitarbeiterberatung diese Kosten nur um 5 Prozent reduziert, würde dies einen sofortigen Return-on-Investment von bereits 1:15 bedeuten. Rechnet man die zusätzlichen Begleitkosten, wie Produktionsausfälle, Fehlleistungen, Unfälle, verminderte Mitarbeiter- und Kundenzufriedenheit, Fluktuation, administrativer und infrastruktureller Mehraufwand mit
ein, können diese Zahlen ohne weiteres verdoppelt werden. Damit gehört die
Externe Mitarbeiterberatung zu einer der lukrativsten Investitionen, die ein
Unternehmen tätigen kann.
Die Einführung einer Externen Mitarbeiterberatung ist ausserdem ein deutliches Zeichen der Wertschätzung gegenüber der Mitarbeiterschaft und der
Beweis einer modernen Mitarbeiterpflege. Dass sich dies auch positiv auf
das Image der Organisation niederschlägt, ist ein im Personalmarketing und
Employer Branding gern gesehener Zusatzeffekt. Der sofort spürbare Nutzen
besteht in der Entlastung der Personalabteilung.
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