Credo XXII

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Credo XXII
CREDO
LGT JOURNAL DER VERMÖGENSKULTUR
NACHHALTIGKEIT | XXII 2016
Inhalt | CREDO XXII 2016
Nachhaltigkeit
04
04 Porträt | Céline Cousteau
Wie schon ihr Grossvater und ihr Vater, kämpft sie für nachhaltige Fischerei, saubere Ozeane und bedrohte Völker.
12 Portfolio | Sharing Economy
Wenn Besitz mehr Last als Lust bedeutet, wird das Teilen
zum neuen Haben: Es steht für eine andere Form von
Lebensqualität.
14 Portfolio | Welterschöpfungstag
Jedes Jahr kommt der Tag früher, ab dem die Menschheit für
den Rest des Jahres über ihre ökologischen Verhält­nisse lebt.
16 Interview | Harald Welzer
Trotz weltweitem Umdenken nehmen die Umweltschäden
weiter zu. Zwang zum Verzicht ist aber der falsche Weg,
meint der Soziologe und Gründer von Futurzwei.
22 Essay | Religiöse Traditionen
Religionen sind vermutlich eines der nachhaltigsten Phänomene, die wir aus der Geschichte der Menschheit kennen.
25 Reportage | Wider den Klimawandel
Die profitorientierte Rodung von Waldflächen ist einer der
grössten Klimakiller. Eine kleine Waldbauernvereinigung
auf Java zeigt, dass es auch anders geht.
32 Meisterwerke | Badminton Cabinet
Ein Möbelstück für die Ewigkeit: In diesem Schrank aus dem
18. Jahrhundert stecken sechs Jahre Arbeit von mehr als
30 Handwerkern der grossherzoglichen Werkstatt in Florenz.
34 Erlesenes | T. C. Boyle
Ist das Schicksal der Erde persönliche Opfer wert? In dem
Roman «Ein Freund der Erde» versucht der US-amerika­
nische Schriftsteller, diese Frage zu beantworten.
36 Carte Blanche | Daniel Abt
Die landläufige Meinung ist: Elektroautos sind Spassbremsen.
Ein junger Rennfahrer möchte dieses Image ändern.
CREDO ist auch online: www.lgt.com/credo
36
16
25
Editorial
Sehr verehrte Leserin, sehr geehrter Leser,
in Generationen zu denken und zu handeln ist ein Verhaltenskodex, dessen
Ursprung weit in die Geschichte zurückreicht. Zugleich ist es ein Privileg,
das verpflichtet. Davon war Hans Carl von Carlowitz überzeugt, auf den der
Gedanke der Nachhaltigkeit zurückgeht. Mit grosser Sorge sah der sächsische Oberberghauptmann zu Beginn des 18. Jahrhunderts den «allenthalben
einreissenden Holz-Mangel, und die schlechte Vorsorge, die man noch bisher
zu dessen Anbau angewendet». Damals war Holz der wichtigste Energie­
träger und Rohstoff. Carlowitz appellierte an die «vermögensten Leute», «dass
es eine continuirliche beständige und nachhaltende Nutzung gebe, weiln es
eine unentbehrliche Sache ist». Heute ist das Gebot der Ressourcenschonung
aktueller denn je und erfordert unser aller Handeln.
Das macht der Soziologe Harald Welzer im Interview unmissverständlich
deutlich, wenn er sagt: «Die Welt ist auf einem radikal nichtnachhaltigen
Pfad.» Auch die Bewohner in dem Dorf Terong auf der Insel Java mussten
dies erfahren. Bis vor wenigen Jahren zwang sie die Not zum Raubbau an
den Waldflächen. Warum sie sich heute für den Umweltschutz engagieren,
berichtet Christina Schott in ihrer Reportage. Doch nicht nur der Wald,
auch die Meere bedürfen des Schutzes. In Céline Cousteau, der Enkelin von
Jacques-Yves Cousteau, haben sie nun schon in dritter Generation eine aktive
Botschafterin. Ihr ist das Porträt von Michael Neubauer gewidmet.
Ich wünsche Ihnen eine spannende und vielseitige Lektüre.
S.D. Prinz Philipp von und zu Liechtenstein
Chairman LGT
CREDO | 03
Porträt | Céline Cousteau
Unter Wasser fühlt sie sich lebendig – und hat
gleichzeitig grossen Respekt vor den Tieren, die ihr
begegnen: Céline Cousteau bei einem Tauchgang.
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Porträt | Céline Cousteau
Ozeane
Botschafterin der
Text: Michael Neubauer | Fotos: Christian Breitler, Çapkin van Alphen – Cause­
Centric Productions, Michael Clark Photography, Keystone – The Cousteau Society
Wie schon ihr Grossvater und ihr Vater, kämpft sie für nachhaltige Fischerei,
saubere Ozeane und bedrohte Völker. Eine Begegnung mit der Filmemacherin
und Umweltaktivistin Céline Cousteau.
Vorsichtig steigt Céline Cousteau die steile Holztreppe in den ersten Stock des Turms hinauf.
In dem kleinen runden Zimmer mit seiner Steinwand entschuldigt sie sich für den Staub auf
den Möbeln. Ein Holzdelfin ist auf dem schmalen Schreibtisch gestrandet. Daneben liegt ein
Stapel mit Drehbüchern ihres Vaters Jean-Michel. Cousteau stösst die metallenen Fensterläden auf und blickt in die Ferne auf das Mittelmeer. «Hier kann ich wunderbar konzentriert
arbeiten», sagt sie. Dann zieht sie unter dem Schreibtisch einen alten Atemregler hervor,
den ihr berühmter Grossvater, der Meeresforscher und Kapitän Jacques-Yves Cousteau, einst
beim Tauchen benutzt hat. Sie legt die Antiquität beiseite und zeigt auf zwei schwarze Festplatten. Darauf sind die Filmaufnahmen von drei Expeditionen in die Region Vale do Javari
im brasilianischen Bundesstaat Amazonas gespeichert.
CREDO | 05
Porträt | Céline Cousteau
Céline Cousteaus Lieblingsbild von ihren Grosseltern im Wohnzimmer des
Hauses in Sanary-sur-Mer.
So kennt man ihn: Jacques-Yves Cousteau mit roter Mütze.
Es ist Dezember, und in den kommenden Wochen wird
Weltkrieg neben eine historische Mühle bauten, liegt direkt
Céline Cousteau sich regelmässig in ihren Turm zurückziehen,
oberhalb einer Felswand mit einem traumhaften Blick in den
der früher eine Windmühle war, und auf dem Computer ihren
Himmel und auf die See.
neuesten Dokumentarfilm schneiden. Aber sie wird hier oben
auch ein wenig zur Ruhe kommen nach turbulenten Monaten
Im Wohnzimmer sinkt sie in das braune Sofa vor der breiten
des Reisens: New York, Amazonas, Monaco, Bahamas, Dubai,
Fensterfront. An den Wänden hängen gerahmte Fotos, die vor
London, Paris, Nizza. Sie hat Dreharbeiten mit ihrem Team
allem ihre Grossmutter zeigen. «Das hier ist mein Lieblingsfoto
oder mit ihrem Vater, Tauchgänge, Filmfeste, Umweltschutz-
von meinen Grosseltern», sagt sie. Es zeigt Jacques-Yves
Programme für Schulen, Konferenzen, Vorträge, Auftritte als
Cousteau in Marineuniform mit Ehefrau Simone im Bikini,
Unternehmensbotschafterin, Familienbesuche absolviert. Nun
beide rauchen Zigarette. Neben ihnen stehen die Söhne Jean-
heisst es: durchatmen in Sanary-sur-Mer.
Michel und Philippe-Pierre, der 1979 bei einem Unfall ums
Leben kam, sowie eine Cousine der beiden. «Hier im Wohn-
Sechs Monate im Jahr, den Winter und den Sommer, ver-
zimmer gaben sie oft Feste, denn nach Kriegsende war die
bringt die 43-Jährige hier in dem idyllischen 16 000-Einwohner-
Freude gross», erzählt Céline. Das Haus hat sich seither kaum
Städtchen zwischen Marseille und Toulon an der französischen
verändert. Hinter einer Afrika-Landkarte verbirgt sich noch
Mittelmeerküste. Die andere Hälfte des Jahres lebt sie nördlich
heute die Wandeinlassung, in die Grossvater Cousteau immer
von New York im Hudson Valley. Cousteau steigt die Turm­
den Projektor stellte, wenn er Gästen seine Dokumentarfilme
treppe wieder hinunter und tritt hinaus in den Garten. Hier
zeigte, die ihn so berühmt machten.
stehen Pinien. Ein Pool ist abgedeckt mit Holzplatten. «Er ist
sehr tief, mein Grossvater hat darin seine Unterwasserkameras
«Mama, ich bin Polizist!» Félix kommt auf seinem Lauf-
ausprobiert.» Hinter einem Drahtzaun geht es steil bergab
rad angesaust und fährt zu seiner Spielecke mit der kleinen
zum Meer. Das Haus, das ihre Grosseltern nach dem Zweiten
Schiefertafel, auf die ein Boot gemalt ist. «Setz den Helm auf,
06 | CREDO
Wer Céline Cousteau besuchen will, muss Treppen steigen: Ein Kreuzweg führt auf eine Anhöhe von Sanary-sur-Mer. Direkt oberhalb einer Felswand liegt
das Gebäude, das ihr berühmter Grossvater nach dem Krieg erbaute. Es befindet sich – hier nicht sichtbar – links neben dem weissen Anwesen, versteckt
hinter den Pinien.
mein Engel», sagt Céline Cousteau zu ihrem vierjährigen Sohn,
die Verschmutzung und Ausbeutung der Meere. Célines Vater
bevor der mit seinem Vater nach draussen verschwindet. Die
Jean-Michel setzt sein Werk fort, als Meeresforscher, Umwelt-
Haustür hat ein Bullauge, darüber ist der Name «Baobab» zu
schützer, Filmproduzent und Gründer der Ocean Futures So-
lesen. Grossmutter Cousteau benannte das Haus einst nach
ciety, welche die Menschen für die Bedeutung der Meere sen-
dem afrikanischen Affenbrotbaum.
sibilisieren will. Er lebt im kalifornischen Santa Barbara. Auch
Célines Bruder Fabien dreht Filme und engagiert sich von
Meeresrauschen
New York aus für den Schutz von Haien. Und Célines Mutter
«Baobab» beherbergt nun schon die dritte Generation der
Anne-Marie war als Fotografin oft mit auf Forschungsreisen.
Cousteaus. Ein Name, in dem heute immer noch Ozeanabenteuer, Meeresrauschen und Umweltengagement mitschwingen.
Ein Familienunternehmen im Dienst der Ozeane also. Doch
Célines Grossvater, Jacques-Yves Cousteau (1910–1997), der
Célines Lebenslauf lässt vermuten, sie hätte sich zunächst von
Meeresforscher und TV-Star, hatte sich hier in Sanary mit dem
diesem Erbe ihrer Familie emanzipieren wollen. 1972 in Kali-
Haus einen Traum erfüllt. Sein Erkennungszeichen war die rote
fornien geboren, aufgewachsen in Frankreich und den USA,
Wollmütze, die er in den sechziger und siebziger Jahren in der
studierte sie zunächst Psychologie, machte einen Master in
legendären Fernsehserie «Geheimnisse des Meeres» trug –
internationalem und interkulturellem Management, lernte das
und natürlich seine «Calypso», ein ausgemustertes britisches
Goldschmiedehandwerk, ging für ein Praktikum nach Costa Rica,
Minenräumschiff, das er zur Forschungsstation aufgerüstet hatte.
wo sie anschliessend als Reiseleiterin arbeitete. «Meine Eltern
liessen mich machen, wozu ich Lust hatte», sagt sie.
Der ehemalige Korvettenkapitän und Miterfinder des 1945
patentierten Atemreglers CG 45 «Aqua Lung» brachte einem
Doch als sie Jahre später bei ihrem Vater mitarbeitete, etwa
Millionenpublikum in mehr als 100 Filmen und Dutzenden
für die TV-Dokumentarserie «Ocean Adventures» (2006–2009),
Büchern die Unterwasserwelt nahe. Und er kämpfte gegen
erwachte auch bei ihr die Leidenschaft für die Ozeane. Cousteau
CREDO | 07
Porträt | Céline Cousteau
gründete 2012 ihre eigene Non-Profit-Organisation CauseCentric
illegalen Kutters verfangen hat und schwer verletzt ist. Für
Productions. Mal in Schwimmflossen, mal in Trekkingschuhen,
eine Serie von zwölf Dokumentarfilmen für das chilenische
mal im Kostüm setzt sie sich heute für nachhaltige Fischerei,
Fernsehen tauchte Cousteau mit einem Team gerade vor dem
saubere Ozeane, den Schutz von Korallenriffen und für bedrohte
Archipel Juan Fernández, als sie auf dem Funkgerät den Hilfe­
Völker ein. «Ich will die Menschen inspirieren, damit sie sich
ruf eines Fischers hörten. Er hatte den Wal in Not ganz in der
verbunden fühlen mit dem, was auf dem Planeten passiert.»
Nähe entdeckt. Das Team beschloss zu helfen. Ein Taucher
CauseCentric unterstützt mit Filmen und Fotos auch kleinere
durchtrennte mit einem Messer Faden für Faden, Céline filmte.
Umweltorganisationen und deren Anliegen. «Natürlich weiss
Nach zwei Stunden war der Wal befreit. Wären die Taucher nicht
ich, dass mir mein Name dabei von grossem Nutzen ist.»
gewesen, das Tier wäre wohl verendet.
Sich und anderen Gehör verschaffen
«Wir Menschen verletzen, beschädigen, zerstören immer
Bei der Klimakonferenz 2015 in Paris sitzen auf einem der vie-
wieder unsere Umwelt, aber wir sind auch befähigt, grossen
len Podien Mitglieder von indigenen Stämmen aus den USA und
Mut zu entwickeln und Dinge zum Positiven zu verändern», sagt
Kanada und kritisieren die Zerstörung ihres Lebensumfeldes,
Cousteau und fügt hinzu: «Veränderung beginnt im Herzen.»
die Verschmutzung von Flüssen und den Gletscherschwund.
Die Zuschauer sind gerührt und applaudieren lange. Cousteau,
Politiker diskutieren über den Smog in Peking und die Umwelt-
die fliessend Englisch, Französisch und Spanisch spricht, fühlt
politik Chinas. Dann kündigt der Moderator Céline Cousteau
sich auf der Bühne so wohl wie ihr Grossvater einst vor der
für das Schlusswort an: «Begrüssen Sie mit mir die Enkelin des
Kamera. Eine Geschichtenerzählerin sei sie, ein Lautsprecher
legendären Jacques-Yves Cousteau.»
für andere. «Ich will denen Gehör verschaffen, die Tag für Tag
für die Umwelt kämpfen, aber anders als ich keine Bühne für
In eleganter dunkler Bluse und Stoffhose geht Cousteau auf
ihr Anliegen bekommen.»
die Bühne und nimmt das Mikrofon. Auf der Leinwand hinter
ihr sind Fotos zu sehen, die sie kommentiert: wie sie beim Tau-
Lernen vom Grossvater
chen fotografiert, von Pinguinen in der Antarktis, von Walen. Sie
Manchmal frustriert es sie, wenn sie auf solchen Veranstal-
schwärmt davon, in der Nähe dieser Tiere zu tauchen. Man fühle
tungen wieder einmal mit dem Verweis auf ihren legendären
sich ganz klein, «aber auch sehr lebendig und voller Respekt».
Grossvater vorgestellt wird. Wenn man einen Menschen cha-
Walgesänge seien die schönsten Einschlaflieder, die man sich
rakterisiere, beginne man doch eigentlich nicht mit den Gross­
vorstellen könne.
eltern, sondern mit dem, was dieser Mensch tue, sagt Cousteau.
«Andererseits ist es normal, dass die Menschen an etwas anknüpfen, das sie kennen.» Und natürlich weiss sie, dass ihr
«Ich will die Menschen
inspirieren, damit sie
sich verbunden fühlen
mit dem, was auf dem
Planeten passiert.»
Name ihr Kapital ist, dass er Vertrauen schafft, wenn es um
Umweltthemen und Einfühlungsvermögen geht. «Das ist auch
eine Ehre für mich.»
Sie erinnert sich gut an den ersten Tauchgang ihres Lebens
– zusammen mit ihrem Grossvater. Damals war sie neun Jahre
alt und Jacques-Yves Cousteau fuhr mit ihr vor Monaco aufs
offene Meer. Die Tauchlektion dauerte nur wenige Minuten:
Flossen, Taucherbrille, «Sitzt alles gut?», fragte er. Dann half er
ihr mit der Sauerstoffflasche und dem Mundstück, erklärte, wie
sie atmen musste. «Das war für mich nicht schwieriger zu lernen
als den Buchstaben A zu schreiben.» Er hielt ihre Hand. Irgendwann liess sie los und tauchte hinab, fasziniert von der Schön-
Cousteaus Auftritte mit ihren Kurzfilmen und Fotos füh-
heit der Unterwasserwelt, von dem angenehmen Gefühl, sich im
ren die Zuschauer an weit entfernte Orte. Auch hier in Paris
Wasser zu bewegen. Beide sammelten Seeigel, um sie nachher
betrachten sie gebannt die Naturaufnahmen. Eine Filmsequenz
auf dem Boot zu betrachten. Doch nicht nur das Tauchen hat
zeigt einen jungen Buckelwal, dessen Schwanzflosse sich in
Cousteau von ihrem Grossvater gelernt, auch den Wagemut,
einem 250 Kilogramm schweren Fischfangnetz eines vermutlich
Exkursionen in gefährliche Gegenden zu unternehmen.
08 | CREDO
Mit der Kamera im brasilianischen Urwald: Schon als Kind war Céline Cousteau mit ihrem Grossvater in diese Gegend am Amazonas gereist. Indigene Stämme
im Javari-Tal baten sie vor einigen Jahren, einen Dokumentarfilm über sie, ihre Kultur und ihre Nöte zu drehen. Im Herbst 2016 soll er fertig sein.
Rückkehr ins Javari-Tal
Dokumentarfilm fertig sein. Cousteau plant auch eine Ausstel-
Bei ihrem jüngsten Projekt haben sie fünf indigene Stämme
lung, ein Fotobuch, Schulmaterialien und Vorträge zum Thema.
aus der Region Vale do Javari am Amazonas gebeten, einen
Um das alles verwirklichen zu können, wendet sie zwischen
Dokumentarfilm über sie zu drehen: über ihre Kultur, ihr Wissen
ihren Reisen viel Zeit für die Suche nach Sponsoren auf.
über den Regenwald, ihren Alltag, ihre Sorgen. Das Javari-Tal
gilt als Region mit der weltweit grössten Anzahl von Menschen,
Der Häuptling spricht
die noch nie Kontakt mit der Aussenwelt hatten. Schon als
Bei einem ihrer früheren Besuche bei den indigenen Stämmen
Kind war Cousteau in den frühen achtziger Jahren mit ihrem
am Amazonas wurde ihr klar, was das abstrakte Wort «Nach-
Grossvater in dieser Gegend unterwegs. Nun will Céline der
haltigkeit» bedeutet. Sie sass mit dem Häuptling der Matis in
indigenen Bevölkerung helfen, indem sie ihre Lebensweise
Brasilien zusammen. Dieser Stamm wurde Mitte der siebziger
und ihre Nöte bekannt macht. Denn illegale Holzfäller, Fischer,
Jahre erstmals von Mitarbeitern der staatlichen Organisation
Gold- und Erdölsucher oder Drogenschmuggler bedrohen ihre
Fundação Nacional do Índio zum Schutz der indigenen Völker
Existenz, auch durch eingeschleppte Krankheiten. «Es geht
aufgesucht und kam später in Kontakt mit Holzfällern und
ums Überleben.»
Latexsammlern. Ansteckungen mit Krankheiten wie Grippe
entwickelten sich rasch zu Epidemien, an denen viele Matis
Cousteau und ihr fünfköpfiges Team führten bei drei Ex-
starben. Doch es gelang dem Volk bis heute zu überleben.
peditionen in den vergangenen drei Jahren Interviews mit einigen der rund 4000 Mitglieder solcher Stämme, die seit den
Cousteau fragte den Häuptling, inwiefern die Menschen im
siebziger Jahren kontaktiert wurden, während andere Stämme
Regenwald nachhaltig lebten. «Er schaute mich an und sagte:
bis heute gänzlich isoliert leben. Sie filmten ihre eigene Arbeit,
‹Ich verstehe nicht, was Sie damit meinen›», erinnert sich
die schwierige Anreise übers Wasser. Im Herbst 2016 soll der
Cousteau. Sie versuchte, den Begriff zu erklären. Er schüttelte
CREDO | 09
Porträt | Céline Cousteau
nur den Kopf und sagte: «Wenn ich einen Baum fälle, pflanze
ich einen neuen. Wenn ich auf Jagd gehe, töte ich nur das, was
ich für das Überleben meiner Familie bis zum nächsten Tag
brauche.» Nur das nehmen, was wir brauchen, und nicht den
eigenen Garten zerstören: Nachhaltigkeit bedeutet für Cousteau
die Rückkehr zu unseren Ursprüngen. Die Überzeugung, dass
wir mit unserer Umwelt im Gleichgewicht leben müssen. «Tun
wir das nicht, werden wir langfristig nicht überleben.» Jeder
könne seinen Beitrag leisten – indem er Müll trenne, Energie und
Wasser spare, Umweltgruppen unterstütze, weniger konsumiere.
«Sanary ist mein
Ruhehafen. Und
den brauche ich,
denn mein Leben
ist sehr bewegt.»
Unternehmenswelten
Für ihr Umweltengagement zieht sie viele Register. Cousteau
über die TreadRight Foundation der Unternehmensgruppe
ist Mitglied des Ozeanrats des Weltwirtschaftsforums in Davos.
The Travel Corporation für Nachhaltigkeit beim Reisen wirbt:
Auch als Sprecherin und Botschafterin für Unternehmen ver-
«Wir alle sind Verbraucher und Käufer», sagt sie. Es gehe ihr
sucht sie, ihr Anliegen voranzutreiben – und bekommt dafür
um den Zugang zu den Kunden und Mitarbeitern von Unter­
von manchen Firmen auch einen Teil des Erlöses für ihre
nehmen. Für die Kosmetikfirma La Prairie war sie sieben Jahre
Projekte: Ob sie als Gast-Designerin für Swarovski tätig ist –
lang als Markenbotschafterin unterwegs, weil sie eine Creme
einem Unternehmen, das bei der energieaufwendigen Produk-
unterstützen wollte. Für diese gewinnt das Unternehmen die
tion von geschliffenem Kristallglas beispielsweise an seinem
nötigen Inhaltsstoffe aus Meerespflanzen, die an Land in einer
Standort in Tirol auf Wasserkraft setzt –, Auftritte für den
kontrollierten Meerwasserumgebung gezüchtet werden. So wird
(Outdoor-)Schuhhersteller Keen Footwear absolviert oder
das sensible Ökosystem der Ozeane nicht gefährdet.
Palmen und Mittelmeer: Céline Cousteau und ihr Lebensgefährte Çapkin van Alphen beim Nachmittagsspaziergang – ihr Sohn Félix saust auf dem Laufrad
schon mal voraus.
10 | CREDO
Durchatmen in Sanary
Cousteau zieht die Tür von «Baobab» hinter sich zu. Sie läuft
die Gasse entlang, vorbei an der Kapelle Notre-Dame de Pitié,
in der ihre Eltern geheiratet haben. Ein schmaler Weg führt
hinunter in den Ort, gesäumt von Kreuzwegstationen, Kakteen,
Mimosen, Rosmarin. Im Hafen von Sanary wiegen sich die
Boote mit ihren Masten, Fischer verkaufen Doraden, Tintenfisch
und Barsch. Möwen schreien. Félix und sein Vater, Cousteaus
Lebensgefährte Çapkin van Alphen, kommen ihr entgegen. Van
Alphen ist Kameramann und Fotograf und macht die Medien­
arbeit für ihre Organisation.
«Sanary ist mein Ruhehafen. Und den brauche ich, denn
mein Leben ist sehr bewegt», sagt Céline. Manchmal geht sie
hier vor der Küste tauchen, dazu muss sie nur eine steile Treppe
nicht weit von ihrem Haus entfernt hinabsteigen und kann sich
ins Meer gleiten lassen. In Sanary sei sie familiär verwurzelt,
tiefer als in den USA, sagt Cousteau. Sie läuft vorbei an der
Gasse mit dem kleinen Tauchermuseum, das auch an JacquesYves Cousteau erinnert. Nach ihrem Vater ist eine Grundschule
im Ort benannt, in die ihr Sohn vermutlich einmal gehen wird.
Wie verändert ein Kind das Leben einer Abenteurerin, die
die weite Welt bereist? Natürlich habe Félix ihr Leben verändert. «Ich mag das Abenteuer, aber seit Félix’ Geburt ist jede
Reise genauer durchdacht als früher.» Und wann immer es geht,
kommt er mit.
Das Meer ist heute friedlich. Cousteau lacht, wenn man sie
darauf anspricht, dass das französische Wort für Wasser – eau –
Teil ihres Namens ist. Ja, Wasser sei Teil ihrer Biografie. «Aber
auch wer das Wasser nicht im Namen führt: Wir alle sind damit
verbunden.» www.causecentric.org
www.celinecousteau.com
www.tribesontheedge.com
Michael Neubauer arbeitet als freier Journalist in Paris und ist Mitglied des
Korrespondenten-Netzwerks weltreporter.net. Zuvor war er Politikredaktor
der «Badischen Zeitung» in Freiburg und Strassburg-Korrespondent. 2002 erhielt er den Deutsch-Französischen Journalistenpreis. 2004 war er Stipendiat
des Nordeuropa-Programms der Internationalen Journalistenprogramme IJP
in Kopenhagen.
«Natürlich weiss ich, dass mein Name für meine Arbeit von grossem Nutzen ist»,
sagt Céline Cousteau. Er schaffe Vertrauen, wenn es um Umweltthemen gehe –
dank des Engagements ihres Grossvaters und ihres Vaters.
CREDO | 11
Portfolio | Sharing Economy
Teilen ist das
neue Haben
Text: Manfred Schiefer
Haben oder Nichthaben, das ist nicht mehr die Frage.
Man muss nur teilen können.
Ein Auto steht durchschnittlich 23 Stunden am Tag ungenutzt
rischen Carsharing-Systeme von der Deutschen Antje Danielson
herum. Eine Bohrmaschine wird nur wenige Minuten im Jahr
und der Amerikanerin Robin Chase gegründet wurde: Die heute
gebraucht. Der Rasenmäher steht 99 Prozent der Zeit im Keller.
900 000 Mitglieder von Zipcar, darunter auch Unternehmen und
Mit digitalen Technologien verleihen Web 2.0 und Social Media
Universitäten, finden und buchen die rund 10 000 Fahrzeuge in
sowie eine veränderte Lebenseinstellung der Idee des Teilens
den USA, in Kanada und in einigen europäischen Ländern online
einen neuen Aufschwung. Für viele unter 30-Jährige hat Besitz
oder mit der Zipcar-App.
seinen Reiz verloren. Er ist mehr Last als Lust. Sie wollen Lebensqualität statt Besitz und kaufen nicht, sondern teilen – vom
www.zipcar.com
Auto über Bohrmaschine und Fahrrad bis hin zu Rasenmäher
und Surfbrett. Das spart Rohstoffe und Energie, ohne dass die
Heimatgefühle
Lebensqualität sinkt.
Reisende finden bei Mitgliedern von Gastfreundschaftsnetzwerken nicht nur ein Dach über dem Kopf: Bei Anbietern wie
Die Generation Y wächst über das Internet und die sozialen
CouchSurfing und BeWelcome steht die Gastfreundschaft im
Medien mit dem Konzept des Teilens auf. Austausch und Zusam-
Mittelpunkt. Aber auch wer nicht wie ein Budget-Reisender
menarbeit über Cloud-Dienste sind für sie selbstverständlich.
im Wohnzimmer der Gastgeber übernachten möchte, kann sich
Der US-Ökonom Jeremy Rifkin sieht in den neuen Technologien
bei anderen Menschen zu Hause fühlen: zum Beispiel über die
die Triebfeder für einen Wertewandel und Paradigmenwechsel.
Online-Haustauschbörse Homelink. 13 500 Objekte bietet die
Mit der Sharing Economy in einer kooperativen Gesellschaft
Datenbank der ältesten Haustauschbörse der Welt. Dass die Idee
entwickle sich ein neues Wirtschaftssystem.
aus den USA kommt, überrascht wohl niemanden. Aber wer
hätte gedacht, dass 1976 der damalige US-Präsident Jimmy
Mobilität
Carter und seine Gattin Rosalynn Haustauscher waren? Sie
Carsharing gibt es seit mehr als 20 Jahren, es ist heute aber
tauschten das Haus auf ihrer Erdnussfarm in Plains, Georgia,
aktueller denn je. Die Jugend, so klagt die Autoindustrie, wendet
mit dem einer brasilianischen Familie in Recife.
sich vom Auto ab. PS-Zahl und Drehmoment wecken bei ihr
keine Emotionen mehr. Wie eine Studie der Public Interest Re-
www.couchsurfing.com
search Group zeigt, geht der Autobesitz in den USA bereits seit
www.bewelcome.org
2006 stetig zurück, werden jedes Jahr weniger Führerscheine
www.homelink.org
ausgestellt und weniger Meilen zurückgelegt. Selbst in der Auto­
nation Deutschland ist die Zahl der Neuzulassungen von Pkws
Geteiltes Rechnen
auf das Niveau der neunziger Jahre gesunken. Weil junge Men-
Zumindest in den entwickelten Ländern hat heutzutage fast
schen zwar Mobilität, aber oftmals kein eigenes Auto mehr wol-
jeder Haushalt einen Computer. Die Nutzungsrate dürfte der
len, steigen sogar die Autohersteller in das Carsharing-Geschäft
von Autos entsprechen, die den grössten Teil ihrer Lebensdauer
ein. Der weltweit grösste Anbieter jedoch ist ein Unternehmen,
ungenutzt herumstehen. Durch die weltweite Vernetzung von
das im Jahr 2000 nach dem Vorbild der deutschen und schweize-
sehr vielen kleinen Computern lässt sich insgesamt eine enorme
12 | CREDO
Durchschnittlich 23 Stunden am Tag steht ein Auto ungenutzt herum. Es benötigt zwei Parkplätze – einen am Abfahrts- und einen am Zielort. Ein CarsharingAuto kann bis zu acht private Pkws ersetzen.
Rechenkraft erreichen. Möglich macht es BOINC, eine an der
direkt in den Innovationsprozess eingebunden. Der Erfolg der
University of California in Berkeley entwickelte Software-Platt-
Online-Enzyklopädie Wikipedia, die sich aus Spenden finanziert
form für verteiltes Rechnen. Derzeit stellen fast 250 000 Unter-
und von freiwilligen Autoren verfasst wird, ermöglicht zwar
stützer die Leerlaufzeit ihrer Rechner zur Verfügung, um Krank-
Zugang zu möglichst aktuellem und vollständigem Wissen, hat
heiten zu erforschen, die globale Klimaerwärmung zu studieren,
aber auch einigen Angestellten von Lexikon-Verlagen den Job
ein 3D-Modell der Milchstrasse zu erstellen oder viele weitere
gekostet. Selbst die 1768 gegründete, altehrwürdige Encyclo­
Forschungsprojekte zu unterstützen. Mittlerweile funktioniert
pædia Britannica erscheint seit 2012 nur noch digital.
das Teilen von Rechnerleistung auch mit Smartphones.
Eine der jüngsten Plattformen zum Wissenstausch hat die
boinc.berkeley.edu
britische Schauspielerin Emma Watson angeregt: Auf «Our
Shared Shelf» will die UN-Sonderbotschafterin für Frauen- und
Wissen
Mädchenrechte jeden Monat ein Buch diskutieren. Passender-
Ressourcen gemeinsam zu nutzen, ist nur ein Aspekt der Sharing
weise ist Watsons feministischer Lesezirkel bei GoodReads be-
Economy. Zunehmend wichtiger wird das Teilen von Wissen und
heimatet, einer Plattform aus San Francisco für den Austausch
Erfahrungen. Viele Unternehmen nutzen Social-Media-Platt­
über Bücher. formen wie Facebook und Twitter, um Trends aufzuspüren und
ihr Angebot zu verbessern. Mitunter werden Verbraucher auch
www.goodreads.com
CREDO | 13
98
r1
5
4 . O k to b
Text: Sidi Staub
3. S e
p te m
b er
Kalendertag eines Jahres, ab welchem die
bevölkerung aus ökologischer Sicht für den Rest
0
01
st 2
Anders ausgedrückt: Ab diesem Tag lebt die Welt-
ugu
täten der Erde übersteigen, diese zu generieren.
A
28.
weltweit konsumierten Ressourcen die Kapazi-
5
20 0
D
er Welterschöpfungstag bezeichnet den
des Jahres über ihre Verhältnisse. Dabei gilt für
die Menschheit dasselbe wie für den Einzelnen:
Wer mehr ausgibt, als er verdient, muss entweder
Schulden machen oder seine Ersparnisse aufbrauchen. Auf globaler Ebene zeigen sich die Folgen
bisher, wird in 14 Jahren Halbzeit sein. Die NonProfit-Organisation Global Footprint Network, die
den Welterschöpfungstag errechnet, geht davon
aus, dass er im Jahr 2030 auf die Jahresmitte fallen
wird. Wir würden dann innerhalb eines Jahres die
Biokapazität von zwei Erden beanspruchen – aber
natürlich weiterhin nur eine haben. 14 | CREDO
15
20
ins ökologische Defizit. Falls wir weitermachen wie
st
Artensterben. 1970 geriet die Menschheit erstmals
gu
und Überschwemmungskatastrophen oder im
Au
Treibhausgasanteil in der Atmosphäre, in Dürre-
.
13
der «Verschuldung» beispielsweise im steigenden
k to b
13. O
2030
10. Ok
er 20 0
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95
28. Juni
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b
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3.
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No
6.
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Portfolio | Welterschöpfungstag
8
19
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28
N
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23
.
975
b er 1
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D ez
mb e
r 1970
Quelle: Global Footprint Network
28. Juni 2030
CREDO | 15
Interview | Harald Welzer
«Vielleicht haben
wir eine Chance auf
ein besseres Leben»
Interview: Mathias Plüss | Fotos: Christian Breitler
Die Welt ist auf einem radikal nichtnachhaltigen Kurs,
Halten Sie den Begriff für abgenutzt?
sagt der deutsche Soziologe Harald Welzer. Warnrufe
Er ist total abgenutzt, ja, im Grunde genommen unbrauchbar.
und abstrakte Umweltziele könnten daran nichts ändern.
Ausserdem ist er extrem unsexy.
Vielmehr brauche es Initiativen, die den Menschen ent­
lasten, statt ihn zum Verzicht zu zwingen.
Sie haben geschrieben: «Alle wesentlichen Entwicklungen
in Bezug auf Nachhaltigkeit laufen in die falsche Richtung.»
CREDO: Was verstehen Sie unter Nachhaltigkeit?
Ist die Situation wirklich so schlimm?
Harald Welzer: Ich halte mich an die klassische Definition. Nach-
Die Welt ist auf einem radikal nichtnachhaltigen Pfad: In vielen
haltigkeit bedeutet für mich, nicht mehr zu verbrauchen als
Ländern wachsen Wohnflächen, Fahrräder werden gegen Autos
nachwachsen kann.
getauscht, vegetarisches Essen gegen Fleisch. Die Zerstörungsrate steigt, der Prozess beschleunigt sich. Auch in Europa nimmt
Oft ist die Rede von den drei Säulen der Nachhaltigkeit:
der Ressourcenverbrauch weiter zu.
der ökonomischen, der sozialen und der ökologischen.
Davon halte ich nichts, denn in der Praxis ist das eine Kata­
Viele Leute haben das Gefühl, nachhaltig zu leben, während
strophe. In unserer Gesellschaft herrscht das Primat der Öko­
ihr Konsum in Wahrheit wächst und wächst. Wie kommt es
nomie. Wenn man es auf die Nachhaltigkeit überträgt, entsteht
zu dieser falschen Selbstwahrnehmung?
die bizarre Situation, dass plötzlich Konzepte als nachhaltig
Das ist ein spannender Punkt. Oft wird ja gesagt, es handle sich
gelten, die der ökologischen Nachhaltigkeit zuwiderlaufen: zum
um eine Art Schizophrenie, aber das glaube ich nicht. Entschei-
Beispiel das sogenannte nachhaltige Wirtschaftswachstum.
dend ist vielmehr, wie moderne Gesellschaften reagieren, wenn
sie mit einem Problem konfrontiert sind: nicht, indem sie das
Nachhaltiges Wachstum existiert nicht?
Problem lösen, sondern indem sie eine Institution schaffen zur
Für mich ist der Begriff widersinnig. Mit unserer Wachstums-
Befassung mit dem Problem.
wirtschaft schreiben wir seit 250 Jahren eine soziale und öko­
nomische Erfolgsgeschichte, die aber leider in die ökologische
Können Sie das konkretisieren?
Katastrophe führt. Ich fürchte, das eine schliesst das andere aus.
1972 wurden erstmals die «Grenzen des Wachstums» erkannt.
In den 40 Jahren seither hat das Umweltbewusstsein enorm zu-
Nachhaltigkeit ist ein Modewort. Jeder will heutzutage
genommen. Im gleichen Zeitraum vervielfachte sich aber auch
nachhaltig sein.
der ökologische Fussabdruck. Wie ist das möglich? Dadurch,
Es gibt kein Unternehmensleitbild, in dem der Begriff nicht
dass wir immer mehr Institutionen zur Problembearbeitung
vorkommt. Selbst eine Firma wie Porsche publiziert heute einen
schaffen und folglich der Eindruck entsteht, wir täten so viel
Nachhaltigkeitsbericht.
für die Nachhaltigkeit.
16 | CREDO
«Es ist Gesundbeterei, wenn gesagt wird, Wirtschaftswachstum und Naturschonung
seien kein Widerspruch»: Harald Welzer in einem Potsdamer Wäldchen.
Interview | Harald Welzer
Von welchen Institutionen sprechen Sie?
Warum?
Von Umweltministerien, Umweltinstituten, Lehrstühlen, Studien-
Wir wissen doch genau, woher der Stau kommt: zu viele Autos.
gängen, auch von allen möglichen Gesetzen und Räten. Es wird
Aber statt deren Zahl zu reduzieren, gründen wir eine Institu-
ja unglaublich viel gemessen und evaluiert. Eines meiner Lieb-
tion. Der Normalbetrieb läuft weiter wie bisher, und es kommt
lingsbeispiele ist der Lehrstuhl für Stauforschung in Duisburg
nochmals etwas hinzu – das ist ganz typisch für unsere Gesell-
– eine Absurdität.
schaft. Der Aufwand wird erhöht, wo wir ihn doch reduzieren
müssten. Reduktionen sind unserem System völlig wesensfremd.
«Auf der Ebene des
Alltags gibt es viele
Veränderungsimpulse,
und es ist unglaublich,
was derzeit alles
passiert.»
Gibt es ein Beispiel dafür, wie eine Gesellschaft gelernt hat,
auf etwas zu verzichten?
Mir fällt keines ein. Es wird ja immer das Ozonloch genannt und
die rasche Abschaffung der FCKWs. Sie war aber nur möglich,
weil es Ersatzstoffe gab. Wäre das Ende der Spraydose damit
verbunden gewesen, hätten wir sie kaum zustande gebracht.
Klingt ziemlich hoffnungslos.
Es gibt immerhin Beispiele für gravierende soziale Veränderungsprozesse. Denken Sie nur an das Rauchen. Als ich ein Kind
war, wurde im Fernsehen geraucht, in Autos, in Zügen, in Flugzeugen und Restaurants – am selben Tisch, an dem man gegessen
hat. Das wäre heute völlig undenkbar. Es gibt also Bereiche,
in denen sich die Wahrnehmung und das Verhalten sehr rasch
verändern können.
Sehen Sie denn zumindest Anzeichen für einen Aufbruch in
Richtung Nachhaltigkeit?
Auf der Ebene des Alltags gibt es viele Veränderungsimpulse.
Mit unserer Stiftung sammeln wir ja positive Beispiele, und es
ist unglaublich, was derzeit alles passiert.
Zum Beispiel?
Es entstehen etwa viele Reparaturcafés, wo man Geräte reparieren lassen kann, statt sie wegzuschmeissen. Ich denke, dass
dies nicht einmal so sehr mit Nachhaltigkeit zu tun hat, sondern
vielmehr damit, dass den Leuten dieser Hyperkonsum auf die
Nerven geht. Sie fühlen sich überfordert. Indem sie Teil einer
Reparaturcafé-Initiative werden, gewinnen sie Autonomie zurück. Das ist das Geheimnis: Es geht nicht um die Nachhaltigkeit, sondern um die Verfügung über sich selbst.
Ihre Stiftung heisst «Futurzwei». Was hat es mit dem Namen
auf sich?
Grammatikalisch handelt es sich um die vollendete Zukunft.
Es ist eine faszinierende Fähigkeit von Menschen, sich in eine
Zukunft hinein zu entwerfen – und von diesem imaginativen
Zukunftspunkt aus zurückzublicken, wie man dahin gekommen
Zusammen mit zwei jungen Katzen lebt Harald Welzer in einem Haus, das
keinerlei Heizenergie verbraucht.
18 | CREDO
sein könnte. Genau das versucht Futurzwei: die Zukunft zurückzubringen in den Nachhaltigkeitsdiskurs.
Kapitalismus ohne Wachstum? Für Harald Welzer keine absurde Vorstellung: Selbst Ludwig Erhard fand, dass wir uns «beizeiten Gedanken machen müssen,
wie es nach dem Wachstum weitergeht».
Ist sie uns denn abhandengekommen?
Kapitalismus funktioniert trotzdem munter weiter. Jeder Öko-
Ja. Üblicherweise tun wir nämlich genau das Gegenteil: Wir
nomiestudent lernt im ersten Semester, dass das System auf
sehen die aktuellen Probleme und versuchen, die Gegenwart zu
Zinsen basiert. Jetzt gibt es schon eine ganze Weile keine Zinsen
verändern. Und dabei kommt immer Optimierung heraus. Aber
mehr, und es ist trotzdem noch nicht zusammengebrochen.
man sieht nicht, dass möglicherweise das Falsche optimiert
wird. Wir machen etwa die Autos immer effizienter, übersehen
Sie können sich also Kapitalismus ohne Wachstum vorstellen?
aber, dass sie immer grösser werden und dies den möglichen
Warum nicht? Die Idee des Wachstums ist ja ziemlich neu. Bei
positiven Effekt zunichtemacht.
den Klassikern kommt sie gar nicht vor, und auch später galt
Wachstum nie als Ziel, sondern nur als Mittel zur Befriedung
Der amerikanische Geograf Jared Diamond hat in seinem
von Gesellschaften.
Buch «Kollaps. Warum Gesellschaften überleben oder
untergehen» gezeigt, dass Gesellschaften in Umweltkrisen
Wohlstand für alle?
ihre alten Strategien nicht ändern, sondern sogar noch
Ja, die berühmte Losung von Ludwig Erhard, dem Vater des
intensivieren – also etwa die letzten Ressourcen noch
deutschen Wirtschaftswunders. Aber selbst bei ihm gibt es
schneller verbrauchen.
nicht die Vorstellung von unbegrenztem Wachstum. Man findet
Wenn die Gegenwart als krisenhaft erscheint, konzentrieren
in seinem Buch Reflexionen darüber, dass Güterwachstum nicht
sich die Menschen darauf, sie zu konservieren. Das Ding ero-
mit Glückswachstum verbunden ist. Und dass sich Gesellschaf-
diert, und man versucht, es zusammenzuhalten. Zukunftsvor-
ten unseres Typs beizeiten Gedanken machen müssen, wie es
stellungen sind aus unserem Denken völlig verschwunden.
nach dem Wachstum weitergeht. Das ist sehr interessant und
zeigt zugleich die Fantasielosigkeit der heutigen Ökonomen.
Sie sind ein grosser Wachstumskritiker. Möchten Sie den
Natürlich braucht es erst einmal Wachstum, um auskömmliche
Kapitalismus überwinden?
Lebensverhältnisse herzustellen. Aber Gesellschaften unseres
Abkehr vom Wachstum bedeutet ja nicht automatisch Abkehr
Typs haben doch längst viel zu viel von allem. Ich halte es für
vom Kapitalismus. Seit der Finanzkrise lernen wir, dass Grund-
ein Totalversagen der Wirtschaftswissenschaften, dass niemand
wahrheiten der Ökonomie ausgesetzt werden können, und der
mit neuen Ideen kommt.
CREDO | 19
Interview | Harald Welzer
«Es ist eine faszinie­
rende Fähigkeit von
Menschen, sich in eine
Zukunft hinein zu
entwerfen – und von
diesem imaginativen
Zukunftspunkt aus
zurückzublicken, wie
man dahin gekommen
sein könnte.»
Will Zukunftsvorstellungen in die aktuelle Debatte zurückholen:
Soziologe Harald Welzer.
Geht Wirtschaftswachstum zwingend mit höherem Energie-
Warum nicht?
und Ressourcenverbrauch einher?
Weil alles immer mehr wird.
Ja. Alles andere ist magisches Denken. Es ist Gesundbeterei,
wenn etwa bei den UNO-Zielen nachhaltiger Entwicklung ge-
Das einzelne Gerät wird effizienter, dafür habe ich
sagt wird, Wirtschaftswachstum und Naturschonung seien kein
zwei davon?
Widerspruch. Selbstverständlich ist das ein Widerspruch! Es
Ja, oder ein grösseres. Das krasseste Beispiel ist der Kühl-
gibt kein einziges Gegenbeispiel.
schrank. Rein von den Werten her ist ein Kühlschrank heute
effizienter als vor 20 Jahren. Aber er ist doppelt so gross,
Die Wirtschaft Deutschlands ist seit 1990 stark gewachsen,
und er enthält doppelt so viele Produkte. Das macht alles
bei sinkendem Klimagas-Ausstoss.
wieder zunichte.
Na, da ist die Schliessung all jener energiefressenden OstBetriebe eingerechnet, die ohnehin nicht mehr wirtschaftlich
Wie schätzen Sie das Klimaabkommen von Paris ein?
waren. Ausserdem externalisieren die Länder des Westens ihre
Auf symbolischer Ebene ist es super. Ein Abkommen von 195
Probleme und haben dann auf dem Papier eine tolle Ökobilanz.
Staaten, das hat es noch nie gegeben. Für das Klima ist damit
In Wahrheit finden beispielsweise 60 Prozent des Naturver-
jedoch noch nicht das Allergeringste getan. Soziale Prozesse
brauchs der Schweizer ausserhalb der Schweiz statt.
haben ihre eigene Logik, die brauchen Zeit.
Können wir die Umweltprobleme nicht technisch lösen?
Aber wenn wir das Zwei-Grad-Ziel ernst nehmen …
Nein. Angeblich werden die Geräte ständig effizienter, aber das
Das Zwei-Grad-Ziel nimmt doch kein Mensch ernst. Jeder, der
stimmt überhaupt nicht.
sich halbwegs auskennt, weiss, dass wir unter drei Grad nicht
20 | CREDO
Interview | Harald Welzer
aus der Sache rauskommen. Es war ein riesengrosser Fehler,
Eigentlich hätten wir diesen Auftrag ablehnen müssen.
das Zwei-Grad-Ziel überhaupt zu formulieren. Was ist denn,
Genau. Und deswegen ist «eigentlich» das wichtigste Wort in
wenn wir es nicht erreichen? Muss man dann aufhören?
unserer Kultur. Wir können uns versichern, dass wir wissen,
dass etwas verkehrt ist, und gleichzeitig dieses Verkehrte
Was wäre die Alternative?
trotzdem tun. Wir tun das Falsche, aber eigentlich haben wir
Menschen interessieren sich für konkrete Themen, nicht für
doch recht.
abstrakte Ziele. Wie kommt mein Kind in den Kindergarten?
Wie lässt sich die Lebensqualität im Quartier erhöhen? Das sind
Wie gehen Sie persönlich mit solchen Widersprüchen um?
Dinge, die die Menschen umtreiben. Auf dieser Ebene muss
Sie müssen ja bestimmt auch Kompromisse machen in
man ansetzen in der Nachhaltigkeitsdebatte.
Ihrem Beruf.
Der Kompromiss ist chronisch. Ich versuche, den Zug zu
Der britische Ökopionier James Lovelock antwortet auf
nehmen, wenn es geht. Ich bevorzuge alte Möbel und Kleider.
die Frage, wie man auf den Klimawandel reagieren soll:
Das Haus hier verbraucht keine Heizenergie. Aber trotzdem ist
«Enjoy it while you can.»
mein ökologischer Fussabdruck vermutlich weitaus höher als
Ich finde auch, man soll den Leuten den Spass nicht nehmen.
im Bevölkerungsdurchschnitt.
Eines meiner liebsten Beispiele in unserer Stiftung ist die Green
Music Initiative aus Berlin. Das sind Menschen, die umwelt-
Warum?
freundliche Festivals veranstalten, wo die Besucher mit Sonder-
Weil ich irrsinnig viel reise. Da benutze ich halt auch mal Taxis
zügen anreisen und der Strom vor Ort erzeugt wird. Aber die
oder Flugzeuge. Über das Jahr gesehen addiert sich das.
Devise ist: Man darf nicht merken, dass es grün ist. Es geht um
Spass, nicht um Moral. Mit Moral kann man keine gesellschaft­
Wir scheitern hier schon im Kleinen – ist es da nicht illu­
lichen Veränderungsprozesse anstossen.
sorisch, eine Welt mit neun oder zehn Milliarden Menschen
schaffen zu wollen, die nachhaltig funktioniert?
Ist es letztlich das Ziel, den Verzicht gar nicht als Verzicht
Das mag so sein. Aber wir wissen es nicht. Ich finde es unheim-
zu empfinden?
lich interessant, dass sich gesellschaftliche Entwicklungen nicht
Ja. Vieles von dem, was als Verzicht bezeichnet wird, ist in
hochrechnen lassen. Es passieren ja immer wieder die unerwar-
Wahrheit eine Entlastung. Ich finde es beispielsweise verrückt,
tetsten Dinge: der Mauerfall, die Finanzkrise, letztes Jahr die
dass die Fernsehbildschirme immer grösser werden. Am Ende
Rückkehr des Kalten Krieges, jetzt diese enormen Flüchtlings-
sitzt man da wie im Kino in der ersten Reihe und sieht alles
bewegungen. Darum ist jede Vorhersage reine Fiktion. Ich kann
verzerrt. Oder die Autos, die nicht mehr in die Garage passen.
nicht viel mehr sagen als: Vielleicht haben wir eine Chance auf
Machen Schwierigkeiten und kosten viel Geld. Und dann der
ein besseres Leben. Es müsste allerdings in Richtung «weniger
immense Zeitverlust! Wir wissen, dass die Leute mehr Zeit mit
statt mehr» gehen. Und man sollte zusehen, selbst etwas bei­
Preisvergleichen und Testberichten verbringen als mit dem
zutragen, auch wenn es dabei zu Widersprüchen kommt. Das
eigentlichen Konsumieren der Produkte. Wenn man sich davon
Leben besteht ja aus Widersprüchen. befreit, ist es doch kein Verzicht.
Warum kommen die Menschen nicht von selbst darauf, dass
ihnen der grosse Fernseher nichts nützt?
Weil ihnen ihre Umwelt mitteilt: Du brauchst den grossen. Und
wenn sie ihn kaufen, sagen alle: «Ey, geile Kiste.» Das entlastet
vom Selbstdenken. Wer hingegen seinen kleinen Fern­seher von
Prof. Dr. Harald Welzer stammt aus der Nähe von Hannover und ist Sozial­
1982 behält, weil er ihm genügt, muss sich ständig erklären.
psychologe und Soziologe. Er hatte Positionen an verschiedenen deutschen
Abweichendes Verhalten ist anstrengend.
und internationalen Universitäten, bevor er 2012 den Wissenschaftsbetrieb
verliess und Direktor von Futurzwei in Potsdam wurde. Diese Stiftung
Wir sind zu zweit aus der Schweiz nach Potsdam gekommen,
sammelt und publiziert nachhaltige Initiativen aus der Zivilgesellschaft
um Sie zu interviewen und zu fotografieren. Unter Umwelt-
(www.futurzwei.org). Welzer ist ein hervorragender Stilist und hat zahlreiche
gesichtspunkten eine ziemliche Verrücktheit.
Bücher geschrieben. Seine Gedanken zur Nachhaltigkeit hat er in dem Best-
Richtig.
seller «Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand» (2013) publiziert.
CREDO | 21
22 | CREDO
Essay | Religiöse Traditionen
Das A und O der
Nachhaltigkeit
Text: Katharina Ceming | Illustration: Markus Roost
Das «Buch der Bücher» und der Glaube an die Schöpfung
sich selbst kreise, werde er diesen Sinn nicht erfahren. Er müsse
als Offenbarung haben eine jahrtausendelange Tradition.
bereit sein, sich auf etwas Grösseres und Umfassenderes einzu-
Wie erklärt sich dieser nachhaltige Erfolg? Katharina
lassen. Dies impliziert in nahezu allen Religionen nicht nur einen
Ceming, Theologin und Philosophin, skizziert die öko­
vertikalen Transzendenzbezug hin zum Göttlichen, Absoluten,
soziale Dimension von Religionen.
sondern auch eine horizontale Transzendierung. Horizontale
Transzendierung bedeutet, dass der Mensch durch den Bezug
Wenn wir Nachhaltigkeit zunächst als eine «längere Zeit anhal-
zum Mitmenschen seine Selbstbezogenheit aufbrechen kann
tende Wirkung» verstehen, dann sind Religionen vermutlich
und soll. Im Einsatz für andere und für die Gemeinschaft kann
eines der nachhaltigsten Phänomene, die wir aus der Geschichte
der Mensch Sinn erfahren.
der Menschheit kennen – unabhängig davon, ob wir auf die
monotheistischen Traditionen blicken oder auf die Religionen
So verstand und versteht das Christentum den solidarischen
des Ostens. Eines eint sie: ihre lange Tradition und die Berufung
Einsatz nicht nur als eine rein innerweltliche ethische Aufgabe,
auf ihre heiligen Texte, die bis heute rezipiert werden und für
sondern auch als Möglichkeit der Gottesbegegnung, der Trans­
viele Menschen bei ihrer Lebensgestaltung immer noch nor­
zendenzerfahrung, gemäss der jesuanischen Lehre: «Was ihr dem
mativ sind. Worauf gründet sich diese nachhaltige Wirkung?
geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.»
(Mt. 25,40) Selbst in den Religionen, in denen die Sphäre des
Es wäre vermessen, einen Faktor als den einzig gültigen
Absoluten und des Menschlichen nicht so eng miteinander ver-
herauszuheben, doch ich denke, der grosse Erfolg der Religionen
woben sind wie im Christentum, ist der Weg zu Gott respektive
ist auf die Themen Sinn und Lebensgestaltung zurückzuführen.
zum Absoluten immer ein Weg der ökosozialen Verantwortung.
Kein anderes Wesen als der Mensch, so wir es beurteilen kön-
Wer sich unethisch gegenüber seiner Umwelt und seinen Mit-
nen, stellt sich die Frage nach dem Sinn des Daseins und strebt
menschen verhält, kann noch so fromm sein, er versperrt sich
danach, es sinnerfüllt zu gestalten. Religionen sind der Versuch,
selbst den Weg zur Transzendenz.
diese existenzielle Frage zu beantworten. Obwohl sich die Antworten im Einzelnen durchaus unterscheiden, zeigen die ver-
Die Goldene Regel
schiedenen Religionen doch auch strukturelle Ähnlichkeiten.
Wie dieses Miteinander am besten zu gestalten und zu leben ist,
suchen die Religionen durch Gebote zu regeln. Da der Mensch
Transzendenz
um das Normative dieser Gebote für alle weiss, kann er darauf
Alle grossen Religionen vermitteln, der Sinn des Daseins sei die
vertrauen, dass die anderen diese ebenfalls befolgen. Wenn wir
Selbsttranszendierung. Solange der Mensch nur solipsistisch um
einen Blick in die heiligen Texte der Religionen werfen, können-
CREDO | 23
Essay | Religiöse Traditionen
wir erkennen, dass die Goldene Regel ihr kleinster gemein­
Allerdings sind diese Aufforderungen oftmals nicht nur igno-
samer Nenner ist. Im Deutschen ist diese Regel als Sprichwort
riert, sondern mit dem Segen von religiösen Führern ökonomi-
bekannt: «Was du nicht willst, dass man dir tu’, das füg’ auch
schen Ideen untergeordnet worden. So wurde in der westlichen
keinem andern zu.» Darüber hinaus gibt es in den verschie-
Welt die Ausbeutung der Natur lange Zeit unter Berufung bei-
denen heiligen Texten natürlich viele weitere Regeln, die sich
spielsweise auf Gen. 1,28 – «Macht euch die Erde untertan» –
durchaus auch voneinander unterscheiden können. Doch mit
gerechtfertigt, obwohl der biblische Text nicht Ausbeutung und
der Goldenen Regel haben die grossen Religionen vor langer
Zerstörung meint. Vielmehr soll der Mensch wie ein vernünf-
Zeit etwas formuliert, was tatsächlich das Prädikat «nachhaltig»
tiger Herrscher und nicht wie ein zerstörungswütiger Despot
verdient. Die Goldene Regel dient nicht nur der Reduzierung
über die ihm von Gott anvertraute Erde herrschen.
sinnloser Gewalt, sondern sie schuf eine Begründung dafür,
dass Menschen als empathische Wesen handeln können. Dass
Dass der oftmals zerstörerische Umgang mit der Umwelt
die Grundregel des menschlichen Zusammenlebens in allen
jedoch nicht allein ein westliches oder christliches Phänomen
Religionen und zu allen Zeiten immer wieder missachtet und
war und ist, können wir unter anderem in Asien sehen. Die
gebrochen wurde und wird, spricht nicht gegen ihren Wert.
buddhistische Ethik des Nicht-Schädigens, die dem modernen
Nachhaltigkeitsprinzip entspricht, findet auch in buddhistisch
Caritas
geprägten Gesellschaften kaum eine konkrete Berücksichtigung
Doch manch gute Idee konnte sich in der Geschichte der
etwa durch den Umweltschutz. Und dennoch können wir im
Menschheit nicht behaupten, weil Strukturen fehlten, die für
Christentum wie auch im Buddhismus erkennen, dass dieser
ihre Umsetzung notwendig gewesen wären. Im Kontext der Re-
Aspekt von Nachhaltigkeit heute immer öfter thematisiert und
ligionen können wir sehen, dass deren Inhalte wirkmächtig wer-
eingefordert wird.
den konnten, weil (institutionelle) Strukturen vorhanden waren
und sind. Gerade im Christentum, aber auch im Buddhismus
Um nur zwei der gegenwärtig am höchsten geachteten
erkennen wir, wie beide Gemeinschaften, meistens begünstigt
religiösen Führer zu nennen: Papst Franziskus setzt sich in
durch staatliche Privilegien, eine ökonomische Basis aufbauen
seiner letzten Enzyklika mit dem Titel «Laudato Si’» (Gelobt
konnten, die wiederum eine gute Infrastruktur ermöglichte. Im
seist du) intensiv mit einer nachhaltigen und ganzheitlichen
religiösen wie im säkularen Bereich gilt, ohne Geld lässt sich
Entwicklung auseinander. Und auch der Dalai Lama hat sie als
vieles nicht verwirklichen, aber das Geld allein bewirkt nichts,
einen wichtigen Aspekt religiösen Lebens erkannt und engagiert
wenn die Infrastruktur fehlt, um es sinnvoll einzusetzen.
sich hierfür. Da beide Religionen über eine gute Infrastruktur
verfügen, können sie viele Menschen erreichen. Die Nachhal-
Wenn wir die Geschichte des christlichen Abendlandes be-
tigkeit ihrer Organisationsformen, die seit Jahrhunderten und
trachten, so war die christliche Caritas bis zum Entstehen des
Jahrtausenden existieren, könnte der Welt auch zukünftig zum
modernen Sozialstaates die einzige Hilfe im Notfall. Armenspei-
Nutzen gereichen. sungen, Hospitäler, Hospize wurden von der Kirche finanziert
und unterhalten. Diese sozialkaritative Arbeit der Kirchen wird
bis heute geschätzt, auch in einer Gesellschaft, in der eine
immer grössere Zahl von Menschen mit bestimmten Inhalten
der christlichen Kirchen wenig bis nichts anzufangen weiss.
Schöpfungsverantwortung
Nachhaltigkeit impliziert im modernen Verständnis aber nicht
nur eine «längere Zeit anhaltende Wirkung», sondern eine
positive Qualität dieser Wirkung. Sie sollte es nachfolgenden
Generationen ermöglichen, ein gutes Leben zu führen. Diesen
Gedanken einer sozioökologischen Dimension von Nachhaltigkeit können wir ansatzweise auch in vielen der heiligen Texte
Katharina Ceming ist promovierte Philosophin und habilitierte Theo­login. Seit
der Weltreligionen finden. Sie fordern den Menschen zu einem
2009 ist sie ausserplanmässige Professorin an der Universität Augsburg und
verantwortlichen Umgang mit den Gaben der Natur auf.
seit 2011 auch als freiberufliche Beraterin, Referentin und Publizistin tätig.
24 | CREDO
Reportage | Wider den Klimawandel
Intakte Natur für die nächsten Generationen:
Rubikem, Waldschützerin der ersten Stunde,
mit ihrer Enkelin.
Zukunftsmodell:
Gemeinschaftswald
Text: Christina Schott | Fotos: Budi N.D. Dharmawan
Weltweit fallen immer grössere Flächen von ökologisch wertvollen Waldflächen kurzfristigem Profitdenken
zum Opfer. Ein kleines Dorf auf der indonesischen Insel Java zeigt, dass es auch anders geht.
CREDO | 25
Reportage | Wider den Klimawandel
«Eins Komma fünf Millionen Rupiah», sagt Sugiyono mit Ken-
Jahr können sich Mitglieder aus der Gemeinschaftskasse von
nerblick auf den mehr als zehn Meter hohen Teakbaum vor ihm.
Jasema kleine Summen leihen, um dringende Ausgaben zu finan­
Der Vorsitzende der Waldbauernvereinigung Jasema steht in
zieren oder zukunftsträchtige Geschäftsideen zu verwirklichen
Flipflops und Schlapphut auf einem ungenutzten Reisfeld ausser­
– wenn sie dafür ihre Bäume stehen lassen. So wie Suparni. Die
halb des javanischen Dörfchens Terong, auf dessen erdwall­
Mutter einer 14-jährigen Tochter trägt ein modisches Kopftuch
artigen Begrenzungen rundherum Edelholzbäume wachsen. Wie
zu ihrer Jeans und erklärt etwas verschämt, dass sie ihren Stras­
viele Indonesier hat er nur einen Namen. Er schlingt ein Mass-
senstand erweitern will. Sie verkauft Es Dawet, eine duftende
band um den hellen Stamm. «110 Zentimeter», ruft er, während
Süssspeise aus Reismehl und Pandanblättern in mit Palmzucker
ihm in der schwülen Hitze der Schweiss übers Gesicht läuft.
gesüsster Kokosmilch. Heute allerdings ruht die Küche und es
Bei diesem Durchmesser von rund 35 Zentimetern hat sich das
riecht nach dem frischen Heu vom benachbarten Reisfeld, das
begehrte harte Kernholz schon so weit ausgebildet, dass viele
in dem kleinen Bambusverschlag trocknet, während sich am
Privatbesitzer in Indonesien den Baum schlagen würden. Um-
Horizont eines der ersten Gewitter der beginnenden Regenzeit
gerechnet etwas mehr als 100 Euro würde dieser Baum seiner
zusammenbraut.
Besitzerin Suparni einbringen, würde sie ihn heute verkaufen.
Das entspricht etwa dem Monatslohn ihres Mannes, der als
Trockene Täler, grüne Gipfel
Schreiner arbeitet.
Das Dörfchen Terong liegt im Regierungsbezirk Bantul in der
javanischen Provinz Yogyakarta. Die lange Trockenzeit in diesem
Doch Suparni will den Baum gar nicht verkaufen. Er dient
Jahr hat der Landwirtschaft in der Region stark zugesetzt. Viele
der 38-jährigen Hausfrau vielmehr als Sicherheit, um sich den
Pflanzen sind verdorrt, die Brunnen versiegt. Steile Serpentinen
Beleihungswert als Mikrokredit auszahlen zu lassen: Seit einem
führen im Osten von Bantul auf das Karstgebirge Gunung Kidul.
Die Hänge sind an vielen Stellen braun. Doch kaum haben wir
uns mit einem betagten Leihwagen den letzten Steilhang hochgequält, wird es grüner, eine frische Brise weht uns entgegen.
Als wir aussteigen, bleibt die feuchte, rote Erde in dicken Klumpen an unseren Schuhen hängen – ein krasser Gegensatz zum
allgegenwärtigen Staub im Tal.
Rund 80 Prozent der Fläche des 6500-Einwohner-Dorfs sind
mit Wald bedeckt. «Terong ist der höchste Ort in Bantul», erklärt
uns Umweltaktivist Dwi Nugroho später, während wir in einem
Strassencafé aromatischen Tubruk-Kaffee trinken, der direkt in
der Tasse aufgegossen wird. «Wenn es hier oben keine Bäume
mehr gäbe, würde sich das auf die ganze Region weiter unten
auswirken: Die Quellen würden versiegen, und in der Regenzeit
käme es zu Überschwemmungen und Erdrutschen.» Die Menschen hier dächten weniger an Umweltschutz, wenn sie Bäume
pflanzten, erklärt er weiter, sondern vielmehr an deren wirtschaftliche Vorteile: Wertvolles Mahagoni-, Palisander- oder
Teakholz dient zum Beispiel als Versicherung für die Ausbildung
der Kinder oder für die Kosten eines Krankenhausaufenthalts.
Waldbauer Sugiran misst den Umfang eines Teakbaums auf dem Land von
Suparni, um seinen Wert zu schätzen.
26 | CREDO
Im Notfall wird nicht lange darüber nachgedacht, ob es der
Umwelt schadet, einen Baum zu fällen.
Sugiyono, Vorsitzender der Waldbauernvereinigung Jasema, schätzt die Höhe eines Baumstamms, den seine Besitzerin Suparni als Garantie für einen Mikrokredit
einsetzen möchte.
Klimakiller Waldrodung
Archipel aus rund 17 500 Inseln Wald auf einer Fläche von schät-
2010 kam Nugroho zum ersten Mal nach Terong. Der Forstwis-
zungsweise zwei Millionen Hektar abgeholzt, das entspricht
senschaftler aus der Provinzhauptstadt Yogyakarta wollte den
knapp der Hälfte der niederländischen Landfläche. Die Rodun-
Dorfbewohnern beibringen, wie man den Kohlenstoffgehalt von
gen erfolgen zum Beispiel, um Palmöl- oder Papierplantagen
Bäumen berechnet. Sie hatten keine Ahnung, was ihnen das
anzubauen, Bodenschätze abzubauen oder schlicht, um die
nützen sollte. «Ich habe ihnen daraufhin erklärt, dass die Ver-
wertvollen Hölzer zu vermarkten. Illegale Brandrodungen führen
schiebung der Jahreszeiten und der Ausfall von Ernten in ihrer
alle Jahre wieder dazu, dass in der Trockenzeit nicht nur viele
Region mit dem Klimawandel zu tun haben. Und dass wir
indonesische Provinzen wochenlang in ätzenden schwarzen
die Folgen des Klimawandels eindämmen können mit Hilfe
Rauch gehüllt sind, sondern auch die Nachbarstaaten Singapur,
von Wäldern und deren Fähigkeit, Kohlenstoff zu speichern»,
Malaysia und Thailand. Wegen der hohen Kohlendioxidbelas-
erzählt der Direktor der Umweltorganisation Arupa, die sich
tung gelten Waldbrände nach dem weltweiten Verkehr als zweit-
für gemeinschaftliche und nachhaltige Waldwirtschaft einsetzt.
grösster Klimakiller und haben Indonesien nach China und den
Unterstützt wird die Organisation dabei unter anderem vom
USA auf den dritten Platz der Klimasünder katapultiert.
indonesischen Forstministerium, dem Institute for Global En­
vironmental Strategies (Japan) und der Europäischen Union.
Nachwachsendes Umweltbewusstsein
Die Hauptinsel Java ist nur noch zu 23 Prozent mit Wäldern
Nach Brasilien und dem Kongo besitzt Indonesien den
bedeckt, die meisten davon Nutzwälder. Regenwald existiert
drittgrössten Regenwald der Welt. Diesen verliert es allerdings
nur noch in geschützten Nationalparks. «Die alte Regierung
schneller als jedes andere Land: Jährlich wird auf dem riesigen
unter Suharto hat gern abgeholzt, aber vergessen, wieder neu
CREDO | 27
Reportage | Wider den Klimawandel
Treffen einer Frauengruppe im Versammlungspavillon von Terong. Frauen besitzen rund die Hälfte des Dorfwaldes und profitieren so direkt von der
Wiederbelebung der Waldwirtschaft.
anzupflanzen», bemerkt Partogi Dame Pakpahan, Chef des Land-
zugleich schmecken. In einem Beet wachsen Chilis, Tomaten,
wirtschafts- und Forstamts von Bantul. Zum Interview empfängt
Auberginen, Sellerie – «alles organisch», wie sie mit Blick auf
er uns in einem neuen Behördenkomplex im Tal, für den sicher-
ihre Kuh betont, die den Dünger produziert. Gleich dahinter
lich auch der eine oder andere Baum weichen musste. «Erst nach
beginnt der Gemeinschaftswald – ein gemeinschaftlich bewirt­
der Demokratisierung 1998 gab es eine Bewegung in die andere
schafteter Nutzwald, der in Terong gänzlich in Privatbesitz
Richtung. Doch das Umweltbewusstsein der Bevölkerung lässt
eines Grossteils der Dorfbewohner ist. «Viele wussten früher
sich nicht von heute auf morgen verändern. Dabei sind die Be-
überhaupt nicht zu schätzen, welchen Reichtum sie besassen»,
wohner von Terong ihren Nachbarn sogar um Jahre voraus.»
schimpft die Tochter landloser Bauern.
Der Motor für die Umweltbewegung in Terong ist Rubikem.
Waldbesitz ist weiblich
Wir treffen die energiegeladene 52-Jährige vor ihrem traditio-
Nach ihrer Heirat 1981 besass Rubikem zum ersten Mal selbst
nellen Holzhaus, umgeben von Avocado-, Kakao- und Mango-
ein kleines Stück Land. «Damals gab es hier Orte, die aussahen
bäumen. Der Staat hat ihren Mann als Grundschullehrer auf
wie eine kahlgeschorene Glatze. Kein Grün mehr und auch kein
die Insel Madura geschickt. Die gläubige Muslima ist in Terong
Wasser, nur nackte, trockene Erde», erinnert sie sich. «Also habe
geblieben und lebt hier mit der Familie ihrer ältesten Tochter.
ich angefangen, Bäume zu pflanzen, überall, egal ob das Land
Sie sei eben mit der Erde ihrer Heimat verwurzelt, erklärt sie
mir gehörte oder anderen.» 2007 gründete sie eine Gruppe zum
entschuldigend. Auf der schattigen Veranda serviert sie uns
Schutz des Waldes in Terong. 2012 wurde sie dafür als Indone-
selbstgemachte Chips aus Pfeilwurzeln, die herzhaft und süsslich
siens beste «unabhängige Leiterin eines Gemeinschaftswalds»
28 | CREDO
Albizia-Sprösslinge in der Jasema-Baumschule.
ausgezeichnet, vom Staatspräsidenten persönlich. Diese Ehrung
Vorsitzenden überliess sie lieber Sugiyono, dem gemächlichen,
versteht sie allerdings nicht als Geschenk, sondern als Heraus-
aber geachteten Leiter der lokalen Bauerngruppe. Im Aufsichts-
forderung. Und als Chance – vor allem für die Frauen in ihrem
rat sitzt der damals neugewählte Dorfchef Welasiman, der nicht
Dorf: Nach einer Studie von Arupa ist nicht nur rund die Hälfte
– wie sonst üblich – der ländlichen Oberschicht angehört, son-
der Waldbesitzer weiblich, sondern es sind auch meist die
dern selbst ein einfacher Bauer ist. Welasimans erklärtes Ziel
Frauen, die über die häuslichen Finanzen entscheiden und somit
vor und nach der Wahl: durch Erhalt und Pflege der Natur die
über die Nutzung des Familienbesitzes.
Wohlfahrt der Bevölkerung zu verbessern. «Einen Glücksfall»
nennt Forstbehördenchef Pakpahan diese Kombination.
Heute sprüht die zweifache Grossmutter vor Ideen, wie die
«Woanders halten sich die Leute mit Politik auf, vor allem wenn
Dorfbewohner ihren Lebensstandard mit Hilfe eines intakten
der Gemeinschaftswald in staatlicher Hand ist. In Terong gehen
Waldes verbessern könnten: von konventioneller Waldwirtschaft
sie stattdessen direkt an die Arbeit», so der Umweltökonom.
über Kunsthandwerk aus Waldprodukten bis hin zu Agrotourismus. Natürlich war Rubikem dabei, als Arupa ausgewählten
Der Traum vom Baum
Waldbauern in Terong beibrachte, wie man den Kohlenstoff-
Allein 2014 pflanzten die Jasema-Mitglieder mit Hilfe von
gehalt von Bäumen berechnet. Und sie war 2012 auch an der
Arupa und Geldern des staatlichen indonesischen Treuhand-
Gründung der Waldbauernvereinigung Jasema (ein Silbenwort
fonds gegen den Klimawandel (ICCTF) 4725 Teakbäume, die
aus den javanischen Begriffen für Teak, Albizia und Mahagoni)
knapp 25 Tonnen Kohlenstoff pro Jahr speichern können. Das
beteiligt, als deren Sekretärin sie seitdem fungiert. Das Amt des
Ministerium für Entwicklungsplanung (BAPPENAS) erklärte
CREDO | 29
Reportage | Wider den Klimawandel
Sugiyono von der Waldbauernvereinigung Jasema füllt die Antragsbögen für zwei Mitglieder aus, die einen Mikrokredit aufnehmen wollen.
Terong daraufhin zum «klimabewussten Dorf», ein hilfreiches
die erste Mikrofinanzierungsorganisation im Regierungsbezirk,
Label für weitere Projektanträge. Dennoch haben sich bislang
die dem Waldschutz dient. Seither trifft sich das Finanzierungs­
30 Prozent der örtlichen Waldbesitzer Jasema nicht angeschlos-
komitee einmal im Monat in Sugiyonos Haus. Hinter dem Tante-
sen. Manche fragen nach den persönlichen Vorteilen, manche
Emma-Laden seiner Frau steigen wir eine steile Treppe hinauf.
wollen sich auch einfach nicht vorschreiben lassen, wann sie
Der schwere Duft reifer Mangos begleitet uns, als wir vor dem
welchen Baum fällen dürfen. Immerhin hat Jasema mittlerweile
dämmerigen Besucherraum die Schuhe ausziehen und uns auf
555 Mitglieder. Deren Holz ist durch das international aner-
Bambusmatten niederlassen. Rubikem ist die einzige Frau im
kannte Zertifikat SVLK legalisiert, ohne das ein Export nicht
Komitee. An einem wackeligen Holztisch sortiert sie die Mit-
genehmigt wird und mit dem sich auch im Inland deutlich
gliedsbücher der Schuldner. Ein Bauer kommt und zahlt eine
höhere Preise erzielen lassen als mit unzertifiziertem Holz.
Rate ab. Ein anderer will sich umgerechnet 35 Euro leihen,
um die Schulgebühr für einen Enkel zu bezahlen. Die kurzen
Da einige Mitglieder dennoch immer wieder auf halbwüchsige
Gespräche verlaufen ruhig und unspektakulär, dazu gibt es
Bäume zurückgriffen, um Arztkosten oder Hochzeitsfeiern zu
süssen Tee und Klebreis in Bananenblättern. Auch Suparni
bezahlen, rief der Jasema-Vorstand die Koperasi Tunda Tebang
kommt an diesem Nachmittag, um den Antrag für den Ausbau
(Kooperation zur Verzögerung des Baumfällens) ins Leben –
ihres Strassenstands zu stellen.
30 | CREDO
Sugiran pflügt mit dem Handpflug brachliegendes Land um, das die Dorfregierung zur Pflanzung von Obstbäumen zur Verfügung gestellt hat. Dahinter öffnet
sich die Aussicht über einen Teil des Karstgebirgszugs Gunung Kidul.
Und wir treffen Sugiran: Eigentlich will sich der tiefge­
sind. Dass sich uns dann nicht nur alle Waldbauern aus Terong,
bräunte Waldbauer nur etwas ausruhen. Er ist verantwortlich
sondern aus dem ganzen Bezirk anschliessen», so der Mit­
für fünf Hektar Gemeinschaftsland, das der Dorfchef zur Verfü-
begründer von Jasema. Dann schmeisst er den ohrenbetäubend
gung gestellt hat, um es mit lukrativen Obstsorten wie Avocado,
knatternden Handpflug an und ackert sich durch die zukünftigen
Durian und Guaven zu bepflanzen. Doch dann erklärt er sich zu
Obstbaumhaine. einem kleinen Ausflug bereit. Wir folgen Sugiran auf klapprigen
Mopeds über holprige Feld- und Waldwege bis zu den steilen
Zu dieser Reportage finden Sie eine Audio-Slideshow
Bergterrassen am Rand von Terong. Die Zikaden lärmen in den
auf www.lgt.com/credo
Bäumen und von weitem hallt der Ruf des Muezzins durchs Tal,
als wir dem drahtigen 43-Jährigen in der schwülen Mittagshitze
Christina Schott berichtet seit 2002 als freiberufliche Journalistin aus Indo-
bis zum Rand des frischgepflügten Ackers hinterherstolpern:
nesien und anderen südostasiatischen Staaten. Ihre Reportagen erscheinen
Vor uns eröffnet sich ein traumhafter Blick über die Gebirgs-
unter anderem in der Tageszeitung «taz», den Wochenmagazinen «Stern»
landschaft des Gunung Kidul – geradezu ideal für Agrotou-
und «Zeit», dem Fachmagazin «neue energie», qantara.de, dem Internet­
rismus. «Mein Traum ist, dass die Bäume zu unserer Lebens-
portal der Deutsche Welle für den Dialog mit der arabischen Welt und der
grundlage werden. Dass wir irgendwann finanziell unabhängig
englischsprachigen Tageszeitung «Jakarta Post».
CREDO | 31
32 | CREDO
Grossherzogliche Werkstatt Florenz (Galleria dei Lavori), Baccio Cappelli sowie Girolamo Ticciati (Bronzefiguren), «Badminton Cabinet» –
Kabinettschrank aus Pietra Dura, Ebenholz und vergoldeter Bronze, 1720/1732. © LIECHTENSTEIN. The Princely Collections, Vaduz–Vienna
Meisterwerke | Badminton Cabinet
Ein Sammlerstück par excellence
E
in Meisterwerk, geschaffen für die Ewigkeit: Das «Bad­
Faktoren: Erstens ist das «Badminton Cabinet» ein Möbel von
minton Cabinet» überwältigt nicht nur aufgrund seiner
ausserordentlicher Dimension und Qualität. Zweitens wird es
monumentalen Masse von 3.86 Metern in der Höhe, 2.33 Metern
in seinem Erscheinungsbild ganz wesentlich durch die Pietra-
in der Breite und 94 Zentimetern in der Tiefe. Auch in Material,
Dura-Arbeiten bestimmt. Ebenso wichtig jedoch sind, drittens,
Handwerkskunst und Bildprogramm zielt der reichverzierte
die vergoldeten Jahreszeiten-Bronzen von Girolamo Ticciati.
Kabinettschrank, der zur Aufbewahrung von Kostbarkeiten
dienen sollte, auf Dauer ab. Der massige Korpus aus Ebenholz
Zum ersten Punkt: Die Fürstlichen Sammlungen, deren
steht auf acht Füssen in der Form von Obelisken, deren Spitzen
Anfänge im 17. Jahrhundert und im barocken Ideal eines fürst-
zum Boden weisen. Gekrönt wird er von einem Wappen. In den
lichen Mäzenatentums liegen, beherbergen unter anderem
Giebel darunter ist eine Uhr eingelassen. Auf gleicher Höhe
eine grossartige Sammlung von Möbeln. Dieser fehlte vor zehn
finden sich figürliche Darstellungen der vier Jahreszeiten aus
Jahren noch die Balance aus Klasse und Masse. Sie ist in der
vergoldeter Bronze. Die Fassade schmücken Mosaike in Pietra-
Zwischenzeit durch den Verkauf von belanglosen Objekten wie
Dura-Steinschneidekunst von unvergänglicher Schönheit und
auch durch den Zukauf von Spitzenstücken erreicht. Zweitens
unübertroffener Farb- und Raumwirkung, gefertigt aus wert­
stellen die Pietra-Dura-Arbeiten einen Sammelschwerpunkt
vollem Lapislazuli, rotem und grünem sizilianischem Jaspis,
der Fürstlichen Sammlungen dar. Schon der erste sammelnde
Amethyst, Quarz und weiteren Edelsteinen.
und beauftragende Fürst von und zu Liechtenstein, Karl I.
(1569–1627), widmete sich Objekten der Steinschneidekunst
In die Vollendung des «Badminton Cabinet» floss über den
und bestellte bei den italienischen Künstlern der Prager Hof-
langen Zeitraum von sechs Jahren die Kunstfertigkeit von mehr
werkstätten bedeutende Stücke. Zuerst waren es kleine Bild-
als 30 Handarbeitern der Galleria dei Lavori, der grossherzogli-
platten, sogenannte Commessi di Pietre Dure. Diese liess er
chen Werkstatt in Florenz, ein. Beauftragt wurde es von Henry
dann um 1620 zu einem kleinen Kabinettschränkchen und
Somerset, 3rd Duke of Beaufort (1707–1745), der sich 1726 auf
einer Tischplatte zusammenfügen. 1636 erwarb sein Sohn Karl
seiner Kavalierstour durch Europa, seiner «Grand Tour», fünf
Eusebius I. eine kostbare Tischplatte in Florenz, die den Wan-
Tage lang in Florenz aufhielt. Erst im Herbst 1732 wurde es
del von den geometrischen Motiven der Prager Künstler zum
nach London verschifft, um auf dem herzoglichen Landsitz
Hochbarock dokumentiert. Der dritte Punkt betrifft schliesslich
Badminton House in Gloucestershire den Mittelpunkt eines als
das Thema der Bronzen. Durch alle Generationen hindurch
Kunstkammer konzipierten «Cabinet Room» zu bilden.
schätzten die liechtensteinischen Fürsten dieses Material.
Schon Karl I. beauftragte mit zwei Werken von Adrian de Fries
1990 entschied sich die Familie nach beinahe 260 Jahren
die vielleicht wichtigsten Skulpturen, die in Wien zu sehen sind.
für den Verkauf des Prunkmöbels, um Grundsteuern zu beglei-
Karl Eusebius I. und Johann Adam Andreas I. folgten ihm hierin
chen. Die erste Versteigerung erbrachte 12.6 Millionen Euro.
nach. Und so auch der heutige regierende Fürst: Er konnte
Am 9. Dezember 2004 kam es erneut bei Christie’s in London
die Bedeutung der Sammlung durch Bronzen von Mantegna,
zur Auktion. Als Fürst Hans-Adam II. von und zu Liechtenstein
Sansovino, Antico, Soldani oder Guidi ganz wesentlich festigen.
den Zuschlag erhielt, war das eine Weltsensation: Mit einem
Hammerpreis von 17 Millionen britischen Pfund, umgerechnet
In dieser Tradition war auch der Erwerb des «Badminton
27.4 Millionen Euro, ist das «Badminton Cabinet» bis heute das
Cabinet» zuallererst getragen von dem Gedanken des nachhal-
teuerste jemals auktionierte Möbel.
tigen Sammelns. Die Bedeutung der Sammlung konnte durch
den Dreiklang von Spitzenstück, Pietra-Dura-Kunst und Bronze
So mancher Beobachter wunderte sich, dass die Fürstlichen
in besonderer Weise gestärkt werden. Sammlungen den Kabinettschrank erwarben, und betrachtete
ihn in dem gewachsenen Organismus sogar als einen Fremd­
Dr. Johann Kräftner ist Direktor der Fürstlichen Sammlungen und war von
körper. Tatsächlich jedoch ist gerade dieses Stück ein Beispiel
2002 bis 2011 Direktor des LIECHTENSTEIN MUSEUM, Wien. Er ist Verfasser
par excellence für nachhaltiges Sammeln. Dafür sprechen drei
zahlreicher Monografien zur Architekturgeschichte und -theorie.
CREDO | 33
Erlesenes | T. C. Boyle
«Ein Freund der Erde»
K
alifornien im Jahr 2025 ist kein schöner Ort. Ein Geruch
Diesen spektakulären Akt des zivilen Ungehorsams hat sich
von «Endzeitschimmel» liegt über dem entweder dauer-
nicht T. C. Boyle ausgedacht, aber er hat ihn zynisch auf die Spitze
nassen oder glutheissen Land. Wegen der kollabierenden Bio-
getrieben in diesem so pointenreichen Roman «Ein Freund der
sphäre kommt statt Eiern mit Speck hauptsächlich Seewolf
Erde» (erschienen im Jahr 2000). Denn tatsächlich besetzte
auf den Tisch. Die Wälder, so noch nicht abgeholzt, sind abge-
1997 Julia Hill einen mehr als tausend Jahre alten Baum im
storben. Und die letzten verbliebenen exotischen Tiere befinden
kalifornischen Redwood Forest, weil er abgeholzt werden sollte.
sich im Privatzoo eines alternden Popstars – eine Arche Noah
Zwei Jahre lang setzte das Mitglied der Umweltorganisation
der schrilleren Art. Für die Hege und Pflege seiner Menagerie
«Earth First!» keinen Fuss auf den Boden. Doch sie musste ihre
hat der Alt-Star Maclovio Pulchris niemand Geringeren ange-
Furchtlosigkeit nicht mit dem Leben bezahlen. Ihr Engagement
heuert als Tyrone O’Shaughnessy Tierwater. Wenn Ty nicht ge-
machte sie berühmt, und der Baum blieb stehen. Der Verein,
rade die Hyäne, die Füchsin und die drei asthmatischen Raub-
in dem Boyles kämpferische Sierra von ihren Eltern und deren
katzen füttert, allesamt die Letzten ihrer Art, arbeitet der einst
Mitstreitern lernt, wie man etwa das Getriebe einer Planierraupe
erst als «Ökoagitator», dann als Umwelt-Desperado bekannt
oder einen Strommast sabotiert, heisst «E.F.! – Earth Forever»
gewordene Naturschutzaktivist an einem Buch über das Leben
und erscheint in Tys Erinnerung als nostalgisch verklärte,
und Sterben seiner Tochter Sierra. Als Hungerkünstlerin und
friedensbewegte Hippie-Truppe, deren Kämpfe zur Rettung
Baumretterin war sie noch berühmter als ihr Vater – auch weil
der Erde indes offenkundig militante, ja wahnhafte Züge trugen.
sie nach ihrer mehrjährigen Besetzung eines Redwood-Baumes
Aber nicht nur Sierra ist Opfer dieses Privatkriegs geworden,
von einem Ast in den Tod stürzte.
sondern auch Ty selbst, dessen Familienleben zerstört wurde.
34 | CREDO
Ob das «Schicksal der Erde» persönliche Opfer wert ist,
ist eine der spannendsten Fragen, um die T. C. Boyle bis zum
Schluss kreist – und mit ihm Ty. Angeregt von seiner früheren
Frau Andrea und dem Anblick ihres makellosen Dekolletés, beginnt er mit seiner ausführlichen Rückschau auf die guten alten
Zeiten, als manche Menschen sich noch für Verbündete der Natur
hielten. Als «dirty old man» blickt er zurück auf ein Leben, in dem
er im Namen des Guten viel Schlechtes getan hat. Aber dass er
im Unrecht war, gibt seinen Gegnern keineswegs recht.
T. C. Boyles Roman «Ein Freund der Erde» ist eine tragi­
komische Groteske, ein ambivalentes Lehrstück, wie es typisch
ist für diesen hochtourigen Erzähler der amerikanischen Gegenwartsliteratur. Tys Credo gleicht der Einsicht von Henrik Ibsens
«Volksfeind» Tomas Stockmann: «[D]er ist der stärkste Mann
auf der Welt, der allein steht.» (Fünfter Akt) In der Umkehrung
führt Boyle die ganze Sinnlosigkeit allen Engagements vor –
wobei seine Sympathien (und bald auch die des Lesers) un­
weigerlich bei Ty liegen. Denn nicht nur die selbsternannten
Gutmenschen, die sich mit fragwürdigen Mitteln für den Erhalt
T. C. Boyle
der Schöpfung einsetzen, werden so gnadenlos wie amüsant
Tom Coraghessan Boyle wurde am 2. Dezember 1948 als Thomas John
vorgeführt, sondern ebenso jene, die in fataler Weise an Kom-
Boyle in Peekskill, New York, geboren. Seine Grosseltern waren Immi-
fort und Rücksichtslosigkeit, Dummheit und Habgier festhalten,
granten aus Irland. Mit 17 Jahren änderte Boyle seinen Mittelnamen
und die Apokalypse damit weiter beschleunigen.
in «Coraghessan», den Nachnamen eines entfernten Verwandten.
Wie T. C. Boyle seinen «Freund der Erde» als Egomanen
An der State University of New York entdeckte er seine Leidenschaft
entlarvt, ohne dabei die jeweiligen Lager – die Umweltschützer
für die Literatur. Um der Einberufung zum Militärdienst in Vietnam
auf der einen Seite und die unkritischen Konsumenten auf der
zu entgehen, ging er nach dem Literaturstudium 1968 als Lehrer an
anderen – aneinander zu verraten, beweist seine Meisterschaft.
seine alte Schule, an der Drogen- und Gewaltprobleme an der Tages-
Er dreht hierbei die zuvor schon in dem fulminanten Epos
ordnung waren.
«América» über das Leben illegaler mexikanischer Einwanderer
in den USA eingesetzte Erzählschraube entschieden weiter und
1972 wurde er in den Writers’ Workshop an der University of Iowa
schürt unter den Protagonisten die auf Vorurteilen und Ängsten
aufgenommen, wo ihn unter anderem John Cheever und John Irving
gründende Paranoia voreinander. Zugleich markiert der Roman
unterrichteten. 1977 promovierte er mit einer Sammlung von Kurz­
innerhalb seines literarischen Werks den Beginn einer Wand-
geschichten. Diese brachte ihm einen Lehrauftrag an der University
lung ins Persönliche. Die Charaktere sind Boyle hier erstmals
of Southern California in Los Angeles ein.
so wichtig wie sein Thema, was dem Roman neben Dringlichkeit
auch etwas Anrührendes verleiht. Und Boyles Warnung, dass
1982 erschien sein erster Roman, «Water Music» («Wassermusik»).
wir mit unseren Ansprüchen an Komfort und Luxus die Erde in
Mit «World’s End», seinem dritten Roman, gelang ihm 1987 sein
eine Mischung aus Wüste und Müllkippe zu verwandeln drohen,
Durchbruch bei Kritik und Publikum. Es folgten überaus erfolgreiche
hat in den 15 Jahren, die seit dem ersten Erscheinen des Buchs
Bücher wie «The Road to Wellville» (1993, «Willkommen in Wellville»),
vergangen sind, nichts von ihrer Aktualität verloren. «The Tortilla Curtain» (1995, «América») und «Drop City» (2003).
Mittlerweile hat er mehr als zwei Dutzend Bände mit Geschichten und
Romanen veröffentlicht. Zuletzt erschien «The Harder They Come»
Felicitas von Lovenberg leitete das Literaturressort der «Frankfurter Allgemeinen
(2015, «Hart auf hart»).
Zeitung» und moderiert im SWR-Fernsehen die Sendung «lesenswert».
CREDO | 35
Möchte das Image von Elektroautos verbessern: Daniel Abt in seinem Formel-E-Boliden.
Am Steuer
Aufgezeichnet von: Karin Brigl
Als Rennfahrer rast Daniel Abt mit seinem Elektroboliden
Mittlerweile sind die meisten Kritiker verstummt. Jetzt be-
durch die Häuserschluchten von Weltmetropolen und
komme ich Anrufe von Fahrerkollegen, die mich fragen, wie sie
weckt Begeisterung für die noch junge Elektromobilität.
einen Fuss in die Formel E bekommen, und dabei läuft gerade
Er ist überzeugt: Neuen Themen und Ideen muss man eine
erst die zweite Saison. Dass die Stimmung so schnell ins Positive
Chance geben. Nur so kann man sich weiterentwickeln –
umschlägt, hätte ich nicht gedacht. Aber diese innovative und
und dabei erstaunliche Überraschungen erleben.
auf Nachhaltigkeit ausgerichtete Rennserie ist in vielen Bereichen etwas Besonderes.
Wie schnell sich Meinungen doch ändern können. Noch vor
einem Jahr wurde ich belächelt, wenn ich erzählte, dass ich
So fahren wir beispielsweise nicht auf festen Rennstrecken,
Rennfahrer in der Formel E bin. Mach du mal dein Elektrozeug,
die irgendwo «in der Pampa» liegen, sondern auf temporär er-
hiess es. Richtiger Motorsport muss doch laut sein, muss schnell
richteten Kursen im Zentrum von Weltmetropolen. Die Atmo-
sein, und es muss nach Abgasen stinken. Ich bin anderer Mei-
sphäre dort ist fantastisch. Bei den meisten Rennen sind die
nung. Von der Action und Spannung unserer Formel-E-Rennen
Tribünen proppenvoll. Ich habe den Eindruck, die Formel E
und der Begeisterung unserer Zuschauer können andere Renn-
spricht ein wesentlich breiteres Publikum an als der traditio­
serien nur träumen.
nelle Motorsport. Sicherlich auch deshalb, weil die mühsame
36 | CREDO
Carte Blanche | Daniel Abt
Anreise entfällt, sich das ganze Geschehen an einem einzigen
drehte ich meine ersten Runden. Zwei Jahre später bin ich mein
Tag abspielt und es bei uns nicht extrem laut ist, so dass sogar
erstes Kartrennen gefahren. Für mich war das ein tolles Hobby.
Familien mit Kindern zu unseren Rennen kommen.
Ernster wurde es, als ich mit 14 Jahren zum ersten Mal in ein
Formel-Auto stieg. Das Gefühl, mit 220 Stundenkilometern
Ausserdem wird dem Publikum richtig viel geboten. Die
über eine grosse Rennstrecke zu donnern, war absolut verrückt.
Zuschauer sehen Überholmanöver, Berührungen, Crashs und
Damals wurde mir klar, dass ich ein professioneller Rennfahrer
Ausfälle. Wir sind zwar deutlich langsamer als die Formel 1,
werden will.
aber der Spannung tut das keinen Abbruch – auch nicht für uns
Fahrer. Einen Elektrorennwagen muss man ganz anders fahren
Mittlerweile bin ich schon in den unterschiedlichsten Renn-
als ein Rennauto mit Verbrennungsmotor. Wir haben nur eine
serien für verschiedene Teams gefahren. Mein bestes Jahr bisher
gewisse Energiemenge zur Verfügung, die wir effizient einsetzen
war 2012, als ich in der renommierten GP3-Serie nur wenige
müssen. Würde ich in jeder Runde Vollgas geben, käme ich nicht
Punkte am Meistertitel vorbeigeschrammt bin und am Ende
ins Ziel. Das ist für uns Fahrer und die Teams ein ganz neues
Vizemeister wurde. Heute fahre ich in der zweiten Saison für
strategisches Element. Um Energie zu sparen, geht man bei-
unser eigenes Team in der Formel E. Die Stimmung bei den
spielsweise vor der Kurve schon vom Gas und rollt auf die Kurve
Fahrern und den Teams ist das Beste, was ich in meiner bis­
zu. Das gibt anderen Fahrern die Möglichkeit, anzugreifen und
herigen Motorsportkarriere erlebt habe.
zu überholen.
Alle gemeinsam versuchen wir das Projekt voranzubringen.
Noch vor ein paar Jahren hätte ich selbst nicht gedacht, dass
Sicherlich wird die Formel E alleine nicht ausreichen, um die
Elektroautos so interessant sein können. Die Formel E ging im
Entwicklung von Strassen-Elektroautos zu beschleunigen. Dazu
Oktober 2014 in ihre erste Saison. Wir als Rennteam haben das
muss sowohl technisch als auch mit Blick auf die Infrastruktur
erste Mal Mitte 2013 während eines meiner Rennen bei der GP2
noch Einiges passieren. Aber ich glaube, die Formel E hilft, das
in Monaco davon gehört. Mein damaliger Teamchef, der heute
Image von nachhaltig angetriebenen Autos zu verbessern. Denn
die Autos für die Formel E baut, ging auf meinen Vater zu und
Elektroautos sind wesentlich cooler als viele meinen. erzählte ihm von den Plänen für die Rennserie. Unsere Firma
hatte zu dieser Zeit schon stark in die elektrische Antriebs­
technologie investiert – wir rüsten schon seit einigen Jahren
Strassenfahrzeuge auf Elektroantrieb um. Daher erschien uns
die Formel E als optimale Plattform.
Als wir den Zuschlag für den Start in der Formel E erhielten, lag es nahe, dass ich in einem der beiden Cockpits sitze.
Das bringt mich auch in meinem Beruf als Rennfahrer weiter.
Ich kann mir derzeit keinen besseren Job vorstellen. Es ist nicht
nur die Geschwindigkeit, die mich fasziniert. Es ist das Gesamtpaket: Dieses Gefühl, sich auf einer coolen Strecke mit einem
tollen Auto im absoluten Grenzbereich zu bewegen, sich mit
anderen Fahrern zu messen, sich vor den Medien zu präsen­
tieren, Fans zu treffen, mit einem tollen Team zusammenzu­
Daniel Abt wurde 1992 im bayerischen Kempten in eine Motorsport­
arbeiten, den Nervenkitzel zu spüren.
familie geboren. Sein Vater ist Rennstallbesitzer, sein Onkel startete
erfolgreich in der STW, DTM und im GT-Sport. Nach sieben Jahren im
Seit ich denken kann ist der Motorsport in unserer Familie
Kartsport war Daniel Abt unter anderem Meister des ADAC Formel
ein wichtiges Thema. Schon als kleines Kind war ich bei vielen
Masters und ging in der Formel 3, der GP3 und der GP2 sowie bei den
Autorennen mit dabei. Mein Onkel war Rennfahrer in der STW-
24 Stunden von Le Mans als Rennfahrer an den Start. 2009 und 2010
und DTM-Serie, mein Vater ist Chef unserer eigenen Teams in
wurde er als Gesamtsieger der Deutschen Post Speed Academy zu
der Formel E und DTM und Geschäftsführer unseres Familien-
«Deutschlands Motorsport-Talent des Jahres» ernannt. Seit 2014 ist er
unternehmens. Ich selbst sass das erste Mal mit ungefähr fünf
einer der beiden Fahrer des Formel-E-Teams ABT Schaeffler Audi Sport.
Jahren in einem Kart. Auf dem Hof unseres Firmengeländes
CREDO | 37
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Innovation | XXI 2015
Laura Weidmann Powers
Sie hilft schwarzen und lateinamerikanischen Studenten,
das Silicon Valley zu erobern.
Ehrlichkeit | XX 2015
Adolfo Kaminsky
Der Fälscher aus Notwendigkeit rettete Tausende Juden
vor dem Tod.
Macht | XIX 2014
Michail Gorbatschow
Einst stand er an der Spitze
einer Supermacht, heute gilt
er als tragischer Held.
Gemeinsinn | XVIII 2014
Jim Capraro
Brückenbauer zwischen
Wirtschaft, Politik und
Bürgern in Chicago.
Neugier | XVII 2013
Ian Baker
Ihm gelang, woran viele vor
ihm scheiterten: Er entdeckte
die Pforte zum Paradies.
Toleranz | XVI 2013
Kiran Bedi
Kämpferin für Toleranz
zwischen religiösen und
ethnischen Gruppen.
Schönheit | XIV 2012
Wolfgang Fasser
Wie der blinde Musiktherapeut behinderten Kindern
die Welt erschliesst.
Zeit | XIII 2011
Daniel Barenboim
Der Dirigent des Friedens
bricht gerne Tabus.
Entscheidung | XII 2011
Jane Goodall
Die forsche Botschafterin
kämpft für die Zukunft
unseres Planeten.
Gesundheit | XI 2010
Kofi Annan
Symbolfigur für ein gedei­
hendes Miteinander – mehr
noch: für eine bessere Welt.
Souveränität | X 2010
Mary Robinson
Die Gesellschaftsreformerin
will das Sprachrohr der
Opfer sein.
Vertrauen | VII 2008
Desmond Tutu
Der wütende Hirte tänzelt
in der Kirche und strahlt wie
die Erleuchtung selbst.
Mut | VI 2007
Muhammad Yunus
Er ist ein Streiter für das
Ende der Armut durch
Mikrokredite.
Erbe | V 2006
Paloma Picasso
Über die Umsetzung des
ideellen Vermächtnisses.
Erfahrungen | I 2004
Anne-Sophie Mutter
Besitzt die rätselhafte Gabe
der angeborenen Technik
und gibt sich der Passion hin.
38 | CREDO
Impressum
Herausgeber
S.D. Prinz Philipp von und zu Liechtenstein, Chairman LGT
Beirat
Thomas Piske, CEO LGT Private Banking
Norbert Biedermann, CEO LGT Bank AG
Heinrich Henckel, CEO LGT Bank (Schweiz) AG
Redaktion
Sidi Staub (Leitung), Manfred Schiefer
Layout
LGT Marketing & Communications
Bildredaktion
Lilo Killer, Zürich
Bildnachweise
Umschlag: Christian Breitler
Inhaltsverzeichnis: Çapkin van Alphen – CauseCentric Productions,
Christian Breitler, Budi N.D. Dharmawan, ABT Sportsline
Seiten 4–11: Christian Breitler, Çapkin van Alphen – Cause­Centric Productions, Michael Clark Photography, Keystone – The Cousteau Society
Seiten 12–13: Getty Images – Marvin E. Newman
Seiten 16–21: Christian Breitler
Seite 22: Markus Roost
Seite 24: aus Privatbesitz
Seiten 25–31: Budi N.D. Dharmawan
Seite 32: LIECHTENSTEIN. The Princely Collections. Vaduz–Vienna
Seite 34: Filipa Peixeiro
Seite 35: Keystone – Anita Schiffer-Fuchs
Seite 37: ABT Sportsline
Zuschriften
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Chris Gothuey, Zürich
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