ballett im bewegungs-labor

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ballett im bewegungs-labor
Ballett im Bewegungs-Labor
Wissenschaftliche Annäherungen an den tanzenden Körper
Dokumentation der Werkwoche ›Tanzen Lernen heiSSt Denken Lernen‹
Eine Werkwoche an der Universität Bielefeld unter der wissenschaftlichen Leitung
von Prof. Martin Puttke, Dr. Bettina Bläsing und Dr. Dimitri Volchenkov in Zusammen­
arbeit mit dem Gymnasium Essen-Werden, dem Aalto Ballett Theater Essen und dem
Staatsballett Berlin.
1. Von künstlichen Menschen und der Dualität von Körper und Geist
Einen künstlichen Menschen zu erschaffen war der Traum (oder auch Alptraum) vieler Generationen von Autoren, Mystikern, Künstlern und Wissenschaftlern. Der altrömische Dichter Ovid beschreibt in seinen ›Metamorphosen‹ die Liebesgeschichte des Pygmalion, eines Bildhauers und Erfinders, der sich in die von ihm geschaffene Skulptur so sehr verliebt,
dass er die Götter inbrünstig beschwört, dem in Stein gehauenen perfekten Frauenleib Leben einzuhauchen. Venus, die
Göttin der Liebe erhört Pygmalions Flehen und schenkt der Statue Leben. Die Verwandlung von menschlichen Abbildern
aus toter Materie in solche, die der lebendigen Bewegung, des Denkens und Fühlens fähig sind, markiert den Beginn einer ganz wundersamen Beziehung, in der der schöpferische Mensch sich in seinen eigenen Geschöpfen spiegelt. Wesen,
die er nach seinem eigenen Bild erschaffen hat – je nach dem, was er davon zu sehen in der Lage war.
Der ›Golem‹ der jüdischen Mystik ist ein anderes Beispiel für ein Wesen, das aus toter Materie, aus Lehm zum Leben erweckt wird. Durch die Gnade Gottes, der wie einst im Schöpfungsakt des ersten Menschen Adam aus dem Material Erde
und Staub nun die Schöpferkraft weiter gibt an tief religiöse Menschen und sie befähigt, einen künstlichen Menschen zu
erschaffen. Der zwar nicht der Sprache, aber der Bewegung fähig ist.
Die höfische Gesellschaft des Barock ließ sich gern von Spielautomaten und frühen Tanzrobotern unterhalten und faszinieren (neben den wirklichen Tänzern aus Fleisch und Blut). Der Spaß am bewegten Objekt steigerte sich im 19. Jahrhundert zu einer umfangreichen Industrieproduktion von bewegten Automaten jeglicher Couleur.
Die Erfindung des programmierbaren Computers in den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts setzte einen Meilenstein
auf dem Weg zur Realisierung einer Maschine – später eines technischen Roboters – der in der Lage ist, nach logischen
Gesetzen zu denken und komplexe Arbeit zu leisten, dabei oft menschliche Möglichkeiten bei weitem übersteigend. Der sich
bewegen kann mit für die jeweilige Aufgabe speziell entwickelten motorischen und mobilen Modulen und Systemen. Der
selbsttätig navigieren kann und auch dort einsetzbar ist, wo das für den Menschen gar nicht möglich ist, etwa an gefährlichen oder unwirtlichen Orten wie dem Erdinneren oder dem Weltraum. Roboter als formbare, funktionale künstliche Körper.
2. Paradigmenwechsel in der KI-Forschung – und auch in der Tanzkunst?
In der Reflektion über das, was Künstliche Intelligenz in der Robotik eigentlich ausmacht, vollzog sich in den 80er und
90er Jahren ein Paradigmenwechsel: von einem zentral steuernden Elektronengehirn, in dem die Welt mehr oder weniger
repräsentiert ist, hin zur ›Embodied Intelligence‹, einer im Körper veranlagten Intelligenz, die sich über die Aktionen in
und mit der Welt selbst definiert und entwickelt. Die über sensorische Instrumente und biomechanische Komponenten
verfügt und in der Lage ist, das Verhalten eines Roboters selbst wahrnehmend und selbst lernend zu regeln. Und die
kommunikatives Lernen beherrscht. Ein quasi natürliches intelligentes System, das sich nach (s)einem biologischen
Lebensraum ausrichtet, in dem es verortet ist – einer lebendigen, vielleicht auch sozialen Umwelt – und nicht nach einer
einprogrammierten Steuerung durch seine Designer funktioniert.
Ein Paradigmenwechsel in der Roboterforschung, ein erster Hinweis darauf, dass auch die traditionelle Trennung von
dem, was man als die Dualität von ›Körper‹ und ›Geist‹ bezeichnet, von einem neuen Vorstellungskonzept abgelöst zu
werden beginnt.
Aber nicht nur hier. Auch in der Kunst hat die Trennung der Einheit von Körper, Geist und Seele ästhetische Vorstellungen
evoziert. In der Tanzgeschichte lebten ganze Schulen davon – oder sind von diesen Vorstellungen bestimmt gewesen.
Ein Publikum anzusprechen, mehr noch: Emotionen zu erwecken und es mitleiden zu lassen an den großen Dramen wie
den kleinen Geschichtchen der Menschheit ist eine Domäne der Bühnenkunst, auch des klassischen Balletts. Die Arbeit
am Körper und der tänzerischen Bewegung im Ballettsaal mag auf bestimmten ästhetischen Konzepten basieren, um
Kunstkörper zu erschaffen, die dem Publikum etwas vorzuspielen, zu suggerieren im Stande sind. Die sich quasi den
natürlichen Bedingungen des Menschseins in Raum und Zeit entziehen. Die Apotheose des Solisten oder der Solistin ist
nicht selten Höhepunkt einer Ballettinszenierung.
Um den künstlerisch agierenden Körpern auf der Bühne den passenden Ausdruck und die adäquate künstlerische Form
zu verleihen, wurde eine Vielzahl an Methodiken entwickelt. In der mehr als dreihundertjährigen Tanzgeschichte des
Klassischen Balletts entwickelte sich ein Unterrichtssystem für die Ausbildung der Tänzer heraus, das in seinen technischen Grundlagen heute weitgehend kodifiziert ist. Die russische Ballettpädagogin Agrippina Waganowa fasste sie
in den 30er und 40er Jahren in ihrem Lehrbuch von den ›Grundlagen des Klassischen Tanzes‹ zusammen, die auch heute
noch weltweit an der Ballettstange gelehrt werden. Mit erstaunlich richtigen Einsichten für die pädagogische Praxis,
gewonnen aus der empirischen Erkenntnis auch der biomechanischen Vorgänge im Körper, aber limitiert eben durch das
Wissen jener Zeit.
Dass diese Grundlagen aber oft an ästhetischen Normierungen orientiert sind und nicht unbedingt auf natürlichen
Bewegungen des menschlichen Körpers aufbauen, ist ein Beispiel dafür, wie sehr manche Richtungen des Klassischen
Balletts als System sich verselbständigt haben und dem einst natürlichen Ursprung der menschlichen Bewegung nicht
mehr entsprechen.
Dass damit in die Kunst sich so manche Künstlichkeit einschlich – und damit Fehlerhaftes – welche als Attitüde eine Folge der künstlerischen Zurichtung des Bühnenpersonals in idealtypischer Überhöhung war und ist - bleibt ein zu hinterfragendes Phänomen. Nicht nur aus Perspektiven der Geistes- und Kulturwissenschaften heraus, sondern auch aus einer der
Naturwissenschaften, die auf dem Weg sind zu einer neuen physikalischen (V)ermessung des Menschen, im Interesse
des Menschen. Auch in der Tanzwissenschaft und Tanzpädagogik steht ein Paradigmenwechsel ins Haus.
3. Bewegungsforschung trifft Tanzpädagogik
Je mehr Informationen vorhanden sind, die beschreiben können, welche kognitiven, neuronalen und motorischen Prozesse an einer simplen Bewegung wie z. B. dem Heben eines menschlichen Armes beteiligt sind, desto mehr wird damit
auch erfasst, beschrieben und nachgeahmt, was da genau im Einzelnen in einem Menschen ab- und zusammenläuft.
Streng aufgezeichnet und interpretiert mit wissenschaftlichen Methoden. Eine Datensammlung, die wiederum für die
Nachahmung in einem künstlichen System wie zum Beispiel in einem Roboterarm Verwendung finden kann. Insofern
repräsentieren Roboterforschung und Künstliche Intelligenz immer auch so etwas wie den State-of-the-Art des Wissenshorizontes rund um die Forschung am Menschen. Sozusagen als (Ab)bild, das eine jeweilige Epoche sich vom Menschen
macht, repräsentiert in der Beschreibung durch wissenschaftliches Beobachten und Denken.
CITEC ist die Abkürzung für ›Cognitive Interaction Technology‹ und ist ein Exzellenzcluster an der Universität Bielefeld,
also ein Forschungsverbund von international vernetzt arbeitenden Wissenschaftlern aus verschiedenen Fachgebieten.
Zur Entwicklung interaktiver Werkzeuge – von Alttagsgeräten bis hin zu Robotern. CITEC, das ist vor allem Grundlagenforschung, so wie sie Dr. Bettina Bläsing betreibt. Nicht nur, dass sie kognitive und motorische Prozesse an allen möglichen
Geschöpfen wie Hühnern oder Heuschrecken untersucht hat, sie ist auch passionierte Tänzerin und verbringt die wenige
freie Zeit, die ihr neben ihren vielfältigen Forschungsaufgaben bleibt, am liebsten im Ballettstudio.
Für jemanden, der den Tanz so sehr liebt, war es nahe liegend, sich dieser Disziplin auch wissenschaftlich anzunähern.
Im Rahmen der sportwissenschaftlichen Forschung wurden an Analysen und der Optimierung von Bewegungsabläufen
in Bielefeld ja schon lange gearbeitet. Auch Balletttänzer sind auf ihre Art Hochleistungssportler, nur dass deren Körper
bislang mehr als ein Kunstprodukt verstanden wurde, denn unter dem Gesichtswinkel der naturwissenschaftlichen
Forschung betrachtet wurde.
Das sollte sich konkret ändern, als Dr. Bettina Bläsing, die Bewegungs- und Kognitionsforscherin, vor etwa vier Jahren
den Tanzpädagogen Prof. Martin Puttke kontaktierte. Die beiden verstanden sich auf Anhieb, begriffen, was der andere
wollte: den Balletttanz vom Kopf auf die Beine stellen, sprich: den Bewegungs-Codex der Ballettausbildung durch wissenschaftliche Untersuchungen am Tänzer selbst zu hinterfragen. Wie würden Tänzer in einem Biomechaniklabor in der
Analyse ihrer Bewegungsabläufe abschneiden?
Prof. Martin Puttke hatte als langjähriger Chef der Staatlichen Ballettschule in Berlin und als Direktor des ›Aalto Ballett
Theaters‹ in Essen genügend Erfahrung mit Ausbildung und Training von jungen BalletttänzerInnen gesammelt, um auf die
eigentlichen Grundlagen der tradierten Ballettausbildung aufmerksam zu werden – und deren Schwachstellen. Oft wurde
so falsch unterrichtet, dass sich bei den Tänzern regelrecht die Fehler im Bewegungsablauf sichtbar manifestierten – und
sich bei Martin Puttke die Haare sträubten. »Ich konnte in vielen Fällen sofort sagen, aus welcher Schule ein Tänzer
stammt, anhand der Fehler, die er machte«, erläutert der Tanzpädagoge sein Unbehagen an der Ballettausbildung.
Er fand etwas Grundsätzliches heraus, das wie ein Alphabet der Bewegungsforschung fungieren könnte, etwas, das nicht
nur für den hoch spezialisierten Balletttänzer, sondern für alle menschlichen Bewegungsabläufe Bedeutung haben sollte.
Seine Methode DANAMOS steht für ›Dance Native Motion System‹. Die zentrale Idee an diesem System ist, dass alle
menschlichen Bewegungen aus funktionalen Grundelementen zusammen gestellt sind. Martin Puttke nennt sie Morpheme. Morpheme einer Sprache, die jeder mit seinem Körper spricht, unabhängig von seiner Aus- oder Vorbildung, ob er
Tänzer ist oder nicht.
»Ob Staatsballett Berlin oder Musikschule Köpenick, das spielt keine Rolle: hier geht es um die Grundelemente der
menschlichen Bewegung, die ich in dem DANAMOS-Konzept zusammengefasst habe – und die ich mit sieben Morphemen beschreiben kann. Ob Sie auf eine Treppe steigen oder eine Tasse Kaffee trinken, alle ihre Bewegungen sind
aufgebaut aus diesen sieben Grundelementen«, erläutert Martin Puttke sein Konzept.
Da diese Morpheme jeder künstlerischen Ballettbewegung voraus gehen, ihr buchstäblich zu Grunde liegen, müsste in
ihnen auch das Material für komplexe Bewegungen angelegt sein – wie in den Stammzellen das Potenzial für ausdifferenzierte Gewebe und Organe verborgen ist. Also müssten in der Ballettausbildung auf Grundlage von DANAMOS diese
natürlichen Bausteine der Bewegung auch für eine fundamentale Korrektur gut sein! Wenn sie denn frei gelegt werden
können und einer wissenschaftlichen Untersuchung standhalten. Eine empirische Arbeitshypothese war geboren, die
sich nun im Biomechanischen Labor der Universität Bielefeld im Rahmen einer Werkwoche von tanzplan essen 2010 dem
Praxistest unterziehen sollte.
4. Tänzer im Labor
»Was gerade hier passiert, ist von epochaler Bedeutung. Früher haben sich Physik und Mathematik vor allem auf Fragen
zur toten Materie bezogen. Doch heute wenden wir uns den Menschen zu, ihren Bewegungen, der Biologie – letztendlich
uns selbst«. Der das sagt, ist russischer Mathematiker und Physiker, Dr. Dimitry Volchenkov, und in der Tragweite seiner
Erklärung schwingt etwas Revolutionäres mit. Dr. Volchenkov, den alle hier im Biomechaniklabor der Uni Bielefeld nur
›Dima‹ nennen, bringt die Dinge auf den Punkt. Er ist verantwortlich für die Datenanalyse dessen, was die Messgeräte
am Körper eines Menschen alles so zusammen tragen. »Die Bewegungsenergie ist nicht gleichmäßig in einem Körper
verteilt. Wie sie sich verteilt und wie sie sich aufbaut, das werden wir sichtbar machen«.
Für Martin Puttke ist diese präzise und differenzierte Darstellung einer Ballettbewegung genau das was er braucht, um
seine auf Beobachtungen aus der Ballettpraxis basierenden Einschätzungen zu richtigen und falschen Bewegungsabläufen verifizieren zu können. »Wenn wir von Bewegungsökonomie sprechen – Dima ist als Mathematiker in der Lage, das
zu beweisen«. Die Frage, die die Wissenschaftler interessiert, sprengt die Grenzen der reinen naturwissenschaftlichen
Betrachtung: ist eine energieeffiziente Bewegung auch gleichzeitig eine schöne Bewegung?
Nach ersten Versuchsreihen mit Schülern des Tanzgymnasiums Essen-Werden 2009 sind Dr. Bläsing, Prof. Puttke und Dr.
Volchenkov nun auf den Besuch von zwei Spitzentänzern gespannt: Gevorg Asoyan vom ›Staatsballett Berlin‹ und Adeline
Pastor vom ›Aalto Ballett Theater‹ aus Essen. Bettina Bläsing erhofft sich von diesen Messungen mit den Spitzentänzern
Referenzwerte, die dann für die Interpretation der Bewegungsdaten von hohem Wert sein werden.
Als Erster ist Gevorg Asoyan an der Reihe. Sein Körper wird von fleißigen Helfern für die nachfolgenden Messungen vorbereitet. An allen relevanten Punkten wie den Gelenken wird er mit kugelförmigen Reflektoren, 42 Markern insgesamt,
versehen, die von einem komplexen Messsystem erfasst werden und später die Bewegung des Tänzers quasi in Echtzeit
in einem virtuellen Modell erscheinen lassen.
Im Biomechaniklabor der Universität Bielefeld ist das Bewegungsanalysesystem VICON installiert, bestehend aus 12
Kameras mit einer Bildwiederholrate von bis zu 480 Bildern pro Sekunde. Die aktuellen Messungen mit den beiden
Balletttänzern werden mit 200 Bildern pro Sekunde aufgezeichnet. Die Kameras können praktisch nur hell und dunkel
unterscheiden - und das auch nur im Infrarotlichtbereich. Sie sind mit einem Ring von LEDs umgeben, die rot leuchten,
aber wie bei jeder Infrarotmessung liegt der entscheidende Frequenzbereich im Unsichtbaren. 200 Blitze pro Sekunde
nehmen jede Bewegung auf, so schnell, dass wir sie mit unserem Auge gar nicht auflösen könnten. Zu sehen ist nur ein
gleichförmiges, rotes Leuchten.
Der Tänzerkörper, der nun mit den kleinen Kügelchen, die mit einer retro-reflektiven Folie beschichtet sind, an allen
relevanten Messpunkten vollständig ausgestattet ist, ist nun bereit für die Aufnahmen. Die Eigenschaft der Folie ist,
das Licht genau dahin zurück zu werfen, wo es herkommt. Die Kameras sehen nur diese Kügelchen und nehmen ihre
Bewegung im Raum auf. Jede Kugel muss von mindestens zwei Kameras erfasst werden, um ein Körperbild des Tänzers
im 3D-Modell erscheinen lassen zu können.
Das System muss am Anfang jeder Messung kalibriert werden, damit die Kameras wissen, wie sie zueinander im Raum
stehen. Wenn zwei Kameras die Kugel erkennen, können sie sehen, wo die Kugel sich im Raum befindet, mit einer Genauigkeit von einem halben Millimeter. Quasi in Echtzeit wird dann die reale Bewegung im Computermodell sichtbar: 20
Millisekunden nach der Aufnahme ist das Bild auf dem Monitor. Die kann man dann in ein Körpermodell, z.B. die Strichfigur des Tänzers auf dem Monitor, anmodellieren. So wird sichtbar, wie schnell jeder Punkt an jeder Position zu jeder Zeit
in diesem Körpermodell beschleunigt wird. Bilddaten, auf die sich Dimitry Volchenkov freut, denn mit seinen Algorithmen
kann dann die ganze Bewegung ausgewertet werden.
Das System kann synchron zu diesen Bilddaten noch andere Daten erfassen und verarbeiten. So sind in den Laborboden
Messplatten eingelassen, die Kräfte in drei Richtungen messen können. Nicht nur die Bodenreaktionskraft, sondern auch
die Scherkräfte nach links und nach rechts. So wird etwa die Verlagerung des Körperschwerpunktes messbar.
Gevorg Asoyan ist nun für seine erste Bewegungsmessung bereit. Mit silbrig glänzenden Markern gespickt betritt er die
Zone im Raum, auf die alle Messinstrumente ausgerichtet sind. Der Sprung, den er ausführen soll, ist eine ›Tour en l’air‹,
eine Drehung um die vertikale Körperachse in der Luft. Ein Sprung, den er wie im Schlaf beherrscht, tausendfach auf der
Bühne gezeigt. Und doch: Martin Puttke erkennt eine kleine Schwäche, die mit seinem Morphem No. 1 zu tun hat: der
Translation des Massezentrums. Eine entscheidende Grundlage – denn wie die Energie durch den Körper fließt, welchen
Weg sie nimmt, das hat definitiv mit dem Aufbau der Bewegung zu tun.
Nach der Korrektur durch Martin Puttke wird der Sprung gleich noch dynamischer. Was auch an einer veränderten
Darstellung auf den Computermonitoren festzustellen ist. Auch wenn die endgültige Auswertung der Daten noch etwas
dauern wird, erste signifikante Ergebnisse sind an den farbigen Diagrammen auf dem Computer schon sichtbar geworden. Martin Puttke begeistert: »Man kann wirklich jeden Fehler erkennen. Mit dem normalen Auge kaum wahrnehmbar.
Aber das System macht es sichtbar, großartig!«
Denn gerade für den Ballettpädagogen ist die Korrektur und Fehlervermeidung von Anfang an – und nicht erst, wenn ein
Fehler sich schon eingestellt hat – von Bedeutung. »Jeder Mensch hat aufgrund seiner Bewegungserfahrung ein System,
das den Körper unbewusst steuert. Nur so können wir uns überhaupt bewegen. Wenn ich einen Kaffee trinke, überlege
ich ja auch nicht, wie ich das machen soll. Es geht darum, dieses kybernetisch-motorische System zu erhalten, mit ihm
und nicht dagegen zu arbeiten. Aber als Ballettpädagoge habe ich die Erfahrung gemacht, dass in der Mehrzahl der Fälle
dieses sich selbst steuernde System ausgeschaltet wird«, so Puttke. Sein Plädoyer gilt der natürlichen Bewegung, die
trotz der hohen Technik von Spitzentänzern nicht aus dem Auge verloren werden darf.
Nun ist Adeline Pastor an der Reihe. Sie wird neben den reflektierenden Markern an ihrem Körper auch mit einem Helm
ausgestattet, der über ein spezielles Messsystem ihre Augenbewegung erfassen soll. Bettina Bläsing interessiert: was
geschieht mit den Augen bei einer Pirouette? Welche Rolle spielen sie im gesamten Bewegungsablauf?
Pirouetten – die sind Adeline Pastors Spezialität. Ein gutes Dutzend bringt sie hintereinander auf die Messfläche. Eine
künstlerische wie sportliche Höchstleistung. Da ist es schwierig, Korrekturen anzubringen. Und doch: Im Detail liegt noch
Verbesserungspotential. Und wieder sind Martin Puttkes Morpheme im Spiel. Morpheme 3 bis 5 sind auf die Beine bezogen, haben aber auch eine Analogie im Oberkörper. Der Winkel der Arme, ihre Beugung und das Schließen zum Körper
hin beispielsweise bestimmt wesentlich die Ausführung einer Pirouette.
5. Mentales Training
Für die Korrekturen benutzt Martin Puttke eine klare Sprache: es geht ihm nicht um emotionale Verstärkungen, auch ›gut‹
oder ›schlecht‹ sind keine Kategorien, sondern um klare Beschreibungen dessen, was bei einem Bewegungsablauf wirklich geschieht. Die Verbalisierung von Bewegung hilft nicht nur, diese besser zu verstehen, sondern auch diese besser
und anders ausführen zu können.
Eine Beobachtung, die Bettina Bläsing nur bestätigen kann. Sie hat sich bei der kognitiven Betrachtung von Bewegungsabläufen mit den im Langzeitgedächtnis gespeicherten Mustern beschäftigt. Das Verstehen von einer Bewegung steht an
der Schnittstelle von Tanz und Kognitionswissenschaften. Eingefahrene Strukturen sind da über ein ›Körpergefühl‹ allein
nicht zu verändern, auch nicht durch Nachahmen, wie es der Lehrer (richtig) vormacht. Sondern nur über ein bewusstes
Erleben und Verstehen und auch sprachliches Beschreiben dessen, was wie und wann im Körper geschieht. Tanzen lernen
hieße also auch denken zu lernen.
Das Zusammenspiel von Bewusstsein und Bewegung setzt Martin Puttke in seinem Ideokinetischen Training immer dann
ein, wenn es darum geht, in der Vorstellung des Tänzers etwas zu verändern, um seine Technik zu verbessern. So wie es
im mentalen Training von Spitzensportlern mittlerweile weltweit üblich ist.
»Stell dir einmal vor, bei einem Sprung den Boden mit hoch zu nehmen« – ist eine solche Vorstellung, mit der er gerne
arbeitet.
Er lässt seinen Schüler sich hinlegen, sich entspannen – um dann mit geschlossenen Augen das zu beschreiben, was er
für den Bewegungsablauf hält. Da sind dann schon kleine Verschiebungen und Pointierungen von großem Wert. Korrekturen, die eine verblüffende Wirkung zeigen, vor allem wenn ein ungeübter Tänzer eine solche Bewegung ausführen soll.
Das Wissen davon ist schon in unserem Körper angelegt, in dem, was Puttke eine natürliche Bewegung nennt.
6. Tanzpädagogischer Alltag
Das Tanzgymnasium Essen-Werden ist eines von ganz wenigen in Deutschland. Morgens werden die Schüler und Schülerinnen wie anderswo auch im normalen Schulunterricht in allen Fächern auf das Abitur vorbereitet – doch am Nachmittag
steht Tanzen auf dem Lehrplan. Ein besonderes Vergnügen. Das angegliederte Internat bietet auch Schülern von außerhalb die Möglichkeit, in Essen-Werden Tanzausbildung und Abitur parallel zu machen.
Viele der Schüler und Schülerinnen hier sind voller Ehrgeiz und streben eine Bühnentanzkarriere an – andere sehen im
Tanz nur ein sinnvolles Körpertraining, das auch noch Spaß macht. Für das tanzpädagogische Personal keine leichte
Aufgabe, diese teilweise unterschiedlichen Interessen alle unter einen Hut zu bringen.
Zum zweiten Mal im September 2010 sind die Tanzpädagogen Patricia Kapp, Birgit Helbig und Heinz Loigge – allesamt
ehemalige Bühnentänzer – mit einigen ihrer Schüler im Biomechaniklabor der Uni Bielefeld zu Gast. Oder sollte man
besser sagen: stehen dort auf dem Prüfstand.
Die elf Schülerinnen und Schüler sind zwischen 14 und 16 Jahre alt – und man sieht ihnen ihre Balletterfahrung an. Nacheinander werden sie nun – wie einige Wochen zuvor die Profitänzer Adeline und Gevorg – bestimmte Ballettfiguren tanzen. Unter den
Augen der Wissenschaftler und ihrer Messgeräte. Und auch Prof. Martin Puttke ist wieder dabei, der hier mit den jungen Nachwuchstänzern eine Klientel versammelt sieht, bei der seine DANAMOS Methode besonders sinnvoll eingesetzt werden kann.
Das Interesse der begleitenden Tanzpädagogen ist groß, denn die Verbindung aus Analyse und Korrektur einer Ballettbewegung – auf Basis der Aufzeichnung der Messungen am Körper der jungen Schüler – bietet eine einmalige Gelegenheit
zur direkten Überprüfung von tanzpädagogischen Anleitungen und die Chance auf Verbesserungen.
Anna Esser ist 14 Jahre alt und macht Ballett seit sie 10 ist. Nachdem auch ihr alle reflektierenden Bewegungsmarker am
Trikot befestigt worden sind, ist sie bereit für das Messfeld. Diesmal ist eine weitere Messung vorgesehen am Bein von
Anna. Tobias Großhauser, ein Diplommusiker, der sich schon mit Bewegungsabläufen bei Musikern beschäftigt hat und
Sebastian Zehe, der seine Diplomarbeit noch schreiben will über die Bewegungsabläufe eines Sprunges, befestigen zwischen Annas Sprunggelenk und Knie einige Module, die wie aus einem Legobaukasten aussehen. Aufgesteckt, um einen
Sprung und die daran beteiligten Hauptgelenke – besonders die Fuß- und Kniestreckung – präzise vermessen zu können.
So ist die erste Aufgabe, die Martin Puttke Anna gibt, auch vergleichsweise einfach. Sie soll aus dem Stand in die Höhe
springen. So hoch sie kann.
Schon nach den ersten Sprüngen meldet der Tanzprofessor seine Korrekturen an. Anna soll den Sprung nicht mit
gestrecktem Knie, sondern mit anfangs gebeugtem Beinen machen. Der Sprung gewinnt an Dynamik. Warum? Es sind
vielleicht nur Winzigkeiten im Bewegungsablauf zwischen Fußabdruck und Kniestreckung, aber genug, um den Sprung
ganz anders wirken zu lassen. Martin Puttke geht es um Energie, genauer gesagt um Energieeffizienz. Nicht das aus ästhetischen Gründen geforderte sofort gestreckte Bein, nein, sondern die zeitliche Verschiebung der Kniestreckung macht
den Sprung viel einfacher – und damit vielleicht auch schöner.
Dass die Tanzpädagogen aus Essen offen sind für Martin Puttkes Korrekturen und die nachvollziehbaren wissenschaftlichen Messergebnisse, das zeigt ihr Interesse an den vielen Details. Und immer wieder sind es die grundlegenden
Morpheme aus dem DANAMOS Modell, die in den Korrekturen auftauchen und Beachtung finden: Schwerpunkt, Achse,
Lockerheit der Gelenke. Eigentlich ganz einfach. Martin Puttke erwähnt die Feldenkrais-Methode: nicht sagen, wie man
etwas macht, sondern den Körper selbst seinen eigenen Weg finden lassen. Denn jeder Körper ist individuell anders, und
das gerade in der Entwicklung von Heranwachsenden.
Dass die Nebenwirkungen der Tanzausbildung auch für die Persönlichkeitsentwicklung eine Rolle spielen, dass versteht
man, wenn Anna über sich und den Tanz spricht: dass sie durch die Tanzausbildung gelernt habe, sich besser zu konzentrieren. Und vielleicht auch ihren eigenen Körper ein wenig mehr entdeckt zu haben, eben ein gutes Verhältnis zu sich und
ihrem Körper gefunden zu haben. Und die neuen Anregungen durch Martin Puttke und die DANAMOS-Methode findet sie
gut: »An unserer Schule in Essen-Werden arbeiten wir schon mit diesen neuen Entdeckungen und auch neuen Techniken
im Ballettunterricht – und es macht viel mehr Spaß«.
7. Auswertung
Ende Oktober 2010 treffen sich dann die Wissenschaftler Bettina Bläsing und Dimitry Volchenkov aus Bielefeld, Martin
Puttke aus Berlin und die Tanzpädagogen Patricia Kapp, Birgit Helbig und Heinz Loigge zum Auswertungsgespräch des
Projektes in Essen-Werden.
Die Tanzpraxis steht neuen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen zu Tanz- und Bewegungsforschung immer noch abwartend bis ablehnend gegenüber. Warum das so ist erklärt sich vielleicht aus der Angst vor Kompetenzverlust der etablierten Tanzpädagogen, der Angst vor dem Verlust von eingespieltem Know-How. Aber die Frage steht im Raum, wo dieses
Know-How eigentlich herkommt? Eine Beweisführung ihrer Methoden ist der tradierten Tanzpädagogik oft noch fremd.
Für den Ballettpädagogen Martin Puttke und die Naturwissenschaftler Bettina Bläsing und Dimitry Volchenkov ist klar,
dass die nun aus den Messungen im Biomechaniklabor gewonnenen Ergebnisse für die Tanzpädagogik von größter
Bedeutung sein können. Dass die informationstheoretischen Modelle, mit denen sie arbeiten, ein weites Feld auftun zu
ganz neuen Erkenntnissen und Sichtweisen bei der Analyse von Energie und der Frage, wo sie eigentlich herkommt. Wie
kann man sie in ihre Einzelteile zerlegen? Und wie setzt sie sich im Körper um, breitet sich aus – in Alltagsbewegungen
ebenso wie im Tanz? Der Tänzer in Bewegung auf der ständigen Suche nach einem dynamischen Gleichgewicht.
Martin Puttke geht mit seiner Arbeitshypothese, dass Natürlichkeit und Leichtigkeit in direkter Korrelation zur Energieeffizienz einer Bewegung stehe, noch einen Schritt weiter. Und sieht darin ein wissenschaftliches wie ebenfalls ein
ästhetisches Phänomen versteckt: dass nicht der kürzeste Weg zwei Systeme verbinde, sondern der effektivste. Was ist
es also, was wir als ›schön‹ erleben im Tanz?
Und er bricht eine Lanze für ›seinen‹ Tanz – das klassische Ballett. Denn der Kanon des klassischen Balletts sei – trotz
aller Ausreißer und Fehlentwicklungen – schon immer auf Energieeffizienz aufgebaut gewesen. Ein System, das Sinn
macht für die Förderung menschlicher Bewegungsfähigkeit und alle tanzkünstlerischen Schulen und Techniken.
Mit DANAMOS und den jetzt noch nicht endgültig vorliegenden wissenschaftlichen Auswertungen aus dem Bielefelder
Bewegungslabor könnte sich nun eine wirklich auf Forschungsergebnissen basierende, fundierte Tanzpädagogik entwickeln. Mit vielen weiteren Möglichkeiten wie beispielsweise einer Begabungsdiagnostik bei der Beurteilung von Kindern
und Jugendlichen. Also der Anfang einer ›Technologisierung des Körpers‹, wie Wayne McGregor es nannte? Keine Angst
vor neuen Erkenntnissen! Denn hohe Technik und Natürlichkeit müssen sich gar nicht ausschließen, sondern sind Teil
einer neuen Sicht auf den Tanz.
Ein Paradigmenwechsel allerdings hat sich bereits vollzogen: dass Tänzer nicht mehr aus getrennten, dualen Wesenheiten wie Materie (Körper) und Gehirn (Geist) und vielleicht noch ein bisschen Seele bestehen. Sondern dass kognitive,
motorische und neuronale Vorgänge auf eine hochkomplexe Art und Weise miteinander vernetzt sind. Und so Körper und
Geist zu einer funktionalen Einheit machen – die in einem faszinierenden Zusammenspiel von Gehirn und Bewegungsapparat den Tanz erst ermöglicht.
Ein Ausflug in die noch neue Welt der wissenschaftlichen Erkundung von Tanz eröffnet jedenfalls eines der spannendsten
Terrains der Grundlagenforschung derzeit. Und ihre Resultate versprechen am Horizont ein Menschenbild, das von vielen
Irrtümern der Betrachtung des Menschen, des Körpers und der Bewegung befreit ist.
© 2010 Ottmar Gendera, Wissenschaftsjournalist