Im Kokain ist das Wurmmittel drin

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Im Kokain ist das Wurmmittel drin
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Tages-Anzeiger – Freitag, 12. August 2016
Wissen
Im Kokain ist das Wurmmittel drin
Eine Untersuchung in Zürich zeigt: Der effektive Kokaingehalt steigt zwar seit Jahren. Doch die Qualität wird dadurch nicht besser:
Das gefährliche Streckungsmittel Levamisol taucht vermehrt auf.
Dominik Osswald, Text
Michael Rüegg, Grafik
Wer Strassenkokain konsumiert, weiss
vielfach nicht, was tatsächlich drin ist.
Die Partydroge ist praktisch immer gestreckt. Das Drogeninformationszentrum (DIZ) testet jährlich Hunderte Proben auf ihre Zusammensetzung. Im Jahr
2015 waren es 620, so viele wie noch nie.
An die Proben gelangt die Institution
dank dem angebotenen Drug-Checking:
Hier können Konsumenten ihre Drogen
vor der Einnahme anonym abgeben und
auf die Inhaltsstoffe prüfen lassen –
unter der Bedingung, dass sie sich mit
einem Beratungsgespräch einverstanden erklären.
Umstritten ist das Programm, weil
man es als Unbedenklichkeitserklärung
von Drogenkonsum missverstehen
könnte. Doch für Christian Kobel, den
Betriebsleiter der vom DIZ betriebenen
Jugendberatung Streetwork, überwiegen die Vorteile der Präventionsarbeit:
«Das Drug-Checking vermittelt uns
einen Kontakt zu den Konsumenten,
den wir anders nicht hätten. Wir können
mit ihnen Probleme ansprechen und sie
vor der Einnahme gefährlicher Substanzen warnen.» Auch an der Street-Parade
ist das DIZ mit einem mobilen Labor vor
Ort. Es werden rund 80 Analysen erwartet. «Mehr ist technisch in diesem Zeitraum nicht möglich», sagt Kobel.
Die Analysen des Drug-Checking geben einen unverfälschten Blick in die
Konsumtrends und den Substanzmarkt
in der Stadt Zürich. In den letzten sieben
Jahren stellte man einen kontinuierlichen Anstieg des effektiven Kokaingehalts fest: von rund 40 Prozent auf
70 Prozent. Ein Trend, den man europaweit beobachtet und der wohl der
marktwirtschaftlichen Gesetzmässigkeit
folgt, wonach nur «gute» Qualität den
nachhaltigen Absatz garantiert. Doch:
Die Droge ist gefährlicher geworden. «In
den letzten Jahren hat der Einsatz von
psychoaktiven Streckmitteln massiv zugenommen», sagt Christian Kobel. In
welchen Dosen diese bereits gefährlich
sind, darüber könne man nur mutmassen. Studien gibt es kaum.
Gefährliche Streckmittel in der Partydroge Kokain
2015 wurden im Drogeninformationszentrum (DIZ) 620 Kokainproben analysiert
71,7%
28,3%
betrug der
durchschnittliche
Kokaingehalt
Streckmittel
Kokaingehalt 40–60%
10%
Kokaingehalt 20–40%
8%
Kokaingehalt 0–20%
2%
Wenig erforschtes Wurmmittel
Anz. Proben 42 119 256 389 509 550 620
Jahr 2009 10 11 12 13 14 15
78,5%
aller Proben waren mit psychoaktiven
Substanzen gestreckt.
100%
78,5%
80%
60%
1 psychoaktive Substanz: 60,6%
2 psychoaktive Substanzen: 10,2%
3–5 psychoaktive Substanzen: 7,7%
74,7%
der Proben enthielten Levamisol.
Durchschnittlicher Gehalt: 13,2%
Bei Strassenkokain handelt es sich
meistens um ein Gemisch aus Kokain und
einem oder mehreren Streckmitteln. Häufig
werden die Streckmittel so gewählt, dass
ein höherer Kokaingehalt vorgetäuscht
und/oder eine Wirkungsverstärkung oder
-verlängerung hervorgerufen wird.
Es gibt aber auch nicht psychoaktive
Streckmittel (z. B. Laktose, Stärke,
Zellulose). Diese haben keine zusätzlichen
psychischen und/oder physischen
Auswirkungen bei der Konsumation.
40%
20%
100%
74,7%
80%
60%
Levamisol wird in der Tiermedizin gegen
Wurmbefall eingesetzt. Es wurde eigentlich
als Mittel gegen Fadenwürmer genutzt,
wird aber seit 2004 wegen unerwünschter
Arzneimittelwirkungen nicht mehr in der
Humanmedizin eingesetzt.
Levamisol wird als Streckmittel
verwendet, da es vermutlich die Wirkung
von Kokain sowohl verstärkt als auch
verlängert.
40%
20%
Doch wie hoch ist das Risiko von Folgeschäden durch Levamisol? Bisher manifestierten sich die Konsequenzen des
Wurmmittels noch kaum in den Gesundheitsstatistiken. Das mag daran liegen, dass der Kokain konsumierende
Bevölkerungsanteil klein ist. Das Phänomen ist wenig erforscht. In einer USamerikanischen Fallstudie aus dem
Jahr 2008 wurden zum ersten Mal Immundefekte (Agranulocytose) im Zusammenhang mit Levamisol beschrieben. 2013 erschien eine Fallstudie, in
der das Absterben von Hautarealen
festgestellt wurde. Die Autoren halten
fest, dass dies eine Konsequenz von
chronischem Kokainkonsum sein
dürfte und durch «kumulativen Kontakt
mit Levamisol entstand». Also nur eine
Gefahr bei dauerhaftem Kokainkonsum? Entwarnung gibt es keine, zu wenig ist bekannt.
«Kokain ohne
das Streckmittel
Levamisol zu
erwerben, ist
praktisch unmöglich.»
Christian Kobel, Betriebsleiter Streetwork
10,9%
der Proben enthielten Phenacetin.
Durchschnittlicher Gehalt: 21,2%
100%
80%
60%
10,9%
40%
10,1%
der Proben enthielten
Lokalanästhetika.
Phenacetin wurde als Arzneimittel zur
Schmerzbehandlung und Fiebersenkung
verwendet. Bei häufigem hochdosiertem
Konsum ist Phenacetin nierenschädigend
(Phenacetin-Niere), zudem erhöht sich
das Risiko von Harnleiter- und Blasenkrebs.
Die Substanz wurde 1986 in Europa aus
dem Verkehr gezogen.
Phenacetin kann in hohen Dosen auch
Erregung und Euphorie auslösen und
wird wohl deshalb als Kokainstreckmittel
eingesetzt.
20%
Lokalanästhetika sind lokal betäubende
Arzneimittel, welche in der Human- und
Veterinärmedizin für ärztliche Behandlungen verwendet werden.
100%
80%
60%
40%
10,1%
Lokalanästhetika werden aufgrund ihrer
betäubenden Wirkung (Zungen-,
Zahnfleischtest zur Qualitätsprüfung
von Kokain) als Streckmittel eingesetzt.
8,0%
der Proben enthielten Koffein.
Durchschnittlicher Gehalt: 6,6%
Koffein macht wach, beschleunigt den
Herzschlag, steigert vorübergehend die
geistige Leistungsfähigkeit und ist
appetithemmend. In höheren Dosen,
ab 300 mg (ca. 8 Tassen Kaffee)
erzeugt es Euphorie.
100%
80%
60%
40%
8,0%
20%
Jahr 2009 10
Quellen: DIZ, www.saferparty.ch, www.d1-solutions.com
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Eine noch nicht publizierte Zürcher
Studie zeigt, dass Levamisol auch mentale Nebenwirkungen haben könnte:
Die Psychiatrische Universitätsklinik
Zürich hat in Zusammenarbeit mit dem
Institut für Rechtsmedizin seit 2010
Haarproben von Menschen genommen,
die einen unterschiedlich starken Kokainkonsum pflegen. Bei über 90 Prozent der Konsumenten konnte Levamisol in den Haaren festgestellt werden.
«Es ist noch zu früh, um sagen zu können, was das bedeutet», so der Projektleiter Boris Quednow. Es sei schwierig,
vor einer Gefahr zu warnen, die man
noch nicht genauer kenne. «Man muss
das aber auf jeden Fall weiter beobachten und untersuchen.» Ein vorläufiges
Resultat kann Quednow bereits preisgeben: «Konsumenten mit hoher Levamisol-Konzentration in den Haaren wiesen
schwächere Denkleistungen auf als Konsumenten mit nur geringer LevamisolBelastung.»
Abgestorbene Hautareale
20%
Eigenschaften wie Kokain
Die chemischen Eigenschaften sind jenen von Kokain ähnlich: Levamisol hat
fast denselben Schmelzpunkt und lässt
sich auch durch Auswaschen oder Kochen nur schlecht aus dem Kokain herauslösen. «Für den Konsumenten ist
rein optisch nicht ersichtlich, was er einnimmt», sagt Kobel. Und selbst Kokainkenner könnten ohne Laboranalysen
den Levamisolgehalt nicht aus­machen.
Kokaingehalt 60–80%
37%
Der Mythos vom Rattengift
Kobel veranschaulicht am Beispiel:
«Eine Droge, die aus 40 Prozent Kokain
und 60 Prozent eines harmlosen Streckmittels wie Zucker besteht, ist das kleinere Übel als eine, die aus 80 Prozent
Kokain und 20 Prozent eines psychoaktiven Streckmittels besteht.» Allerdings
sei auch reines Kokain keinesfalls unbedenklich. «Jeglicher Drogenkonsum ist
mit Risiken und Gefahren verbunden.»
Doch genau jene gefährlichen Streckmittel fand man in der grossen Mehrheit
der Proben: 78,5 Prozent enthielten
Substanzen, die eine eigene psychoaktive Wirkung entfalten und Nebenwirkungen haben können – auch langfristige. Die Zusammensetzung streute
stark: So reichte der Kokaingehalt von
0,3 Prozent bis zu 98,1 Prozent – also von
maximal gestreckt bis fast rein. Immerhin räumt Kobel mit dem Mythos auf,
wonach mitunter auch mit Strychnin
oder Rattengift gestreckt wird.
Besorgniserregend ist laut Kobel das
Streckmittel Levamisol. In den USA
wurde es 2005 erstmals im Kokain entdeckt. In Europa taucht es seit ungefähr
2006 in der Partydroge auf. In 75 Prozent der aktuell in Zürich gesammelten
Proben war Lemavisol beigemischt. Dabei handelt es sich um einen vor allem
in der Tiermedizin gegen Wurmbefall
eingesetzten Arzneistoff. Die Substanz
verstärkt vermutlich den Rausch und
verlängert ihn. Es wurde auch schon die
abenteuerliche These laut, dass Levamisol die Nase von Spürhunden irritiere,
Beweise gibt es allerdings keine.
43% der 620 Proben enthielten einen
Kokaingehalt von 80–100%
Bis 2004 wurde das ursprünglich
gegen Fadenwürmer entwickelte Mittel
auch in der Humanmedizin eingesetzt.
Danach wurde vom Einsatz bei Menschen abgesehen – wegen unerwünschter Nebenwirkungen. Diese reichen von
Erbrechen über allergische Reaktionen
wie Atemnot und Hautausschläge bis
hin zu Störungen des Immun- und Nervensystems. Levamisol kann das Blutbild empfindlich stören und dadurch
Auslöser einer ganzen Reihe von Erkrankungen sein. Bei der Vaskulitis zum
Beispiel sterben ganze Hautareale ab,
weil die feinen Blutgefässe sich verschliessen.
Eine weitere Gefahr geht von Levamisol aus, weil es sich im Körper zu Aminorex, einer amphetaminähnlichen Substanz, umwandelt. Und diese wiederum
kann lebensgefährlichen Bluthochdruck
in der Lunge zur Folge haben, besonders
bei wiederholter Einnahme.
Koffein wird wegen seiner stimulierenden Wirkung und des wirkungsverstärkenden Potenzials dem Kokain
beigemischt.
Christian Kobel spricht von Dermatologen, die zusehends abgestorbene Hautareale sehen und dabei Kokainkonsum
im Verdacht haben. Den Zusammenhang mit Levamisol nachzuweisen, sei
jedoch schwierig, «viele Menschen verheimlichen ihren Kokainkonsum gegenüber dem Arzt».
Auch Stephan Krähenbühl, Pharmakologe am Universitätsspital Basel, vermutet eine hohe Dunkelziffer. «Aber
man weiss ja um die toxischen Wirkungen von Levamisol, die angesichts des
häufigen Einsatzes als Streckmittel nicht
spurlos bleiben können.»
Bei den 620 untersuchten Proben
war das Wurmmittel in 74,7 Prozent enthalten, durchschnittlich mit einem Gehalt von 13,2 Prozent. «Kokain ohne Levamisol zu erwerben, ist praktisch unmöglich. Die Substanz ist selbst in Proben», sagt Christian Kobel.