Leseprobe Moorhof

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Leseprobe Moorhof
Moorhof
Bianca Bolduan
„Moorhof“
Copyright © by Nica-Verlag Groß Niendorf, 2013
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Vorwort zur „Darcer“-Reihe:
Darcer ist Geschichtenschreiber und erzählt von energetisch stark belasteten Plätzen in Europa
und den USA. Diese Plätze sind real und die Recherchen mühsam, weil die, die etwas wissen,
auch etwas zu verbergen haben.
Dieser erste Band erzählt die Geschichte vom „Moorhof“.
Der „Moorhof“ existiert, er ist real und in all seiner Bösartigkeit und Belastung bis heute
erhalten. Um diejenigen, die um ihn herum leben, vor Neugierigen zu schützen, wurde sein
Standort verlegt. Auch sein Name wurde geändert – seine Geschichte nicht.
Für William L. Montgomery und Emma Brian
Für Liam W. Leroy und seine Tochter Louisa
Für William A. Munrow junior und seine Mutter Anna
Für Iam William McGarmy und Meggy L. Turow, geborene Brian
Und für all jene Opfer, die der Moorhof und seine Umgebung gefordert haben.
Mögen eure Seelen nun in Frieden ruhen!
Der Moorhof
„Mein Name ist Darcer. Ich bin Geschichtenschreiber. Nun, ich schreibe nicht irgendwelche, ich schreibe eure
Geschichten und ich schreibe sie seit Anbeginn der Zeit.
Jeder von euch hat eine. Und jeder Platz. Eure Taten verknüpfen sich zu einem Faden, der mit dem ersten
Schritt eures ersten Lebens beginnt und sein Ende mit dem letzten Atemzug eures letzten Lebens erreicht.
Ich bin der Schreiber und ich verwahre diese Geschichten. Sie erzählen vom Anfang und vom Ende, von Liebe
und Hass, Eroberung und Untergang. Nichts bleibt mir verborgen und nichts wird vergessen. Doch ich urteile
nicht, ich schreibe auf. Und ich erzähle. Ich erzähle Geschichten von Menschen und Plätzen und von bestimmten
Menschen an bestimmten Plätzen. Heute erzähle ich euch die Geschichte vom Moorhof.“
Metgave, anno 2001
„Bist du sicher, dass wir das tun sollten?“ Marcus sah seinen Vater von der Seite an. „Du
weißt doch, dass er seine Ruhe haben will!“
„Wir brauchen die Kohle.“
„Aber ...!“
John Sullivan drehte sich zu seinem erwachsenen Sohn um und sah ihn verächtlich an.
„Hast du ein schlechtes Gewissen? Es sind Städter, vielleicht merken sie es nicht.“
„Und wenn doch?“
John lachte hart auf. „Na, dann haben sie ihn hoffentlich schon gekauft und es ist nicht mehr
unser Problem.“
„Aber wenn ihnen etwas passiert? Ich meine, du weißt doch, wie er ist.“
Statt einer Antwort wies John seinen Sohn an, die Fensterreihe zu Ende zu putzen. Sie hatten
zwei Wochen geschrubbt, geharkt und das Nötigste repariert. Für Städter, die beschlossen hatten,
ihre Wochenenden zukünftig auf dem Land zu verbringen, sollte es reichen. In diesem Moment
sah der Moorhof wirklich friedlich und einladend aus. Und John Sullivan hoffte, dass die dunklen
Kräfte, die sich an diesem Platz niedergelassen hatten, noch eine Weile weiterschlafen würden. Er
musste zusehen, dass er diesen Hof verkaufen konnte. Nichts Lebendiges hielt sich hier, nichts
Freundliches hatte auf Dauer eine Chance, und es wurde wirklich Zeit, den Moorhof abzustoßen.
Denn wenn die finsteren Mächte erst einmal erwacht waren, war dieser Platz einer der
Schlimmsten, die John sich vorstellen konnte.
Metgave, anno 2004
Fassungslos und
wütend zugleich starrte Meggy auf ihre kleine Ziegenherde und das, was
diese von ihrem geliebten Gemüsegarten übrig gelassen hatten.
“Margy, hol sie da raus. Los, mach schon!”
Die große, zottige Hündin sprang aufgeregt zwischen den Beeten herum und versuchte, die
übermütigen Hornviecher zurück auf ihre Koppel zu treiben, aber Margy war kein Hütehund und
die Ziegen keine dummen Schafe. Meggy rollte mit den Augen. Das, was nicht die Ziegen
zerstört hatten, zertrampelte nun der Hund, es war zum verrückt werden.
Entschlossen, diesem bunten Treiben ein Ende zu bereiten, griff sie sich eine Harke und
scheuchte die Tiere aus dem Garten. Margy tobte bellend um die Gruppe herum und ließ sich
kaum beruhigen. Der Weg zur Koppel war kurz, doch für entschlossene Ziegen reicht schon ein
winziger Moment der Unaufmerksamkeit. Wieder und wieder brachen sie aus, teilten sich und
rannten durch das, was Freunde von Chad und Meggy augenzwinkernd den “kultivierten
Dschungel” nannten. Mühsam angelegte Beete und liebevoll gepflanzte Rosen wurden ebenso
rigoros niedergetrampelt wie Stauden und Deko-Schnickschnack. Wo Hecken oder Zäune den
Weg versperrten, nahm die Herde den Umweg durch die Rabatten und was nicht rechtzeitig den
Kopf einzog, wurde im Vorbeigehen gefressen. Rosenköpfe, Dahlien und Sonnenhut
kapitulierten vor den zwanzig gefräßigen Ziegenmäulern, und was als grüner Rest dem
Ziegenansturm standgehalten hatte, fiel den riesigen Tatzen des Hundes zum Opfer. Meggy
traten die Tränen in die Augen.
Endlich gelang es ihr aber, die Gruppe zusammenzuhalten und den direkten Weg auf das
Gatter zu nehmen. Es war geschlossen. Wie waren die Ziegen von ihrer Koppel gekommen?
Ratlos sah Meggy zwischen den Vierbeinern und dem Koppeltor hin und her. Und nun? Sie
konnte das Gatter nicht alleine öffnen, es war schwer und der Riegel so verrostet, dass selbst ihr
Mann Probleme hatte, ihn zu bewegen. Die Ziegen drehten derweilen um und rannten zurück in
den Gemüsegarten.
“Chad, kommst du mal?” Meggy stützte sich atemlos auf ihre Harke und japste nach Luft.
Wieso war dieses blöde Koppeltor zu?
Chad
knirschte mit den Zähnen. Ölverschmiert rollte er sich unter dem Trecker vor und
stand auf. Seine Wochenenden hatte er sich wahrlich anders vorgestellt. Seit sie diesen
vermaledeiten Hof gepachtet hatten, stolperten sie von einer Katastrophe in die nächste. Dabei
sollte das Leben auf dem Lande ein Ausgleich zu ihrem hektischen Leben in der Stadt werden.
Aber anstatt sich zu entspannen, wühlten sie sich an jedem Wochenende hier fest. Mit einem
Lappen wischte er sich die öligen Hände ab und trat aus dem kleinen Schuppen.
“Was ist denn, Schatz?”, fragte er und versuchte, sich seinen Unmut nicht anmerken zu
lassen.
Meggy, mit Tränen in den Augen, wies wortlos auf die Ziegenherde. Chad seufzte. Er war von
Anfang an gegen die Anschaffung dieser Tiere gewesen, fand es verantwortungslos, sie während
der Woche unter der Aufsicht ihrer Verpächter zu lassen, doch Meggy hatte keine Ruhe gegeben.
Für sie gehörten zum Landleben Tiere, ein Bauerngarten und selbstgezogenes Gemüse dazu.
Noch pendelten sie zwischen London und Metgave hin und her, verbrachten nur die
Wochenenden und ihren Urlaub in dem kleinen Dorf, aber eigentlich wollten sie ganz hierher
ziehen. Chad seufzte. Eigentlich. So war es geplant gewesen. Doch je länger sie hier lebten, desto
unsicherer wurde er sich.
“Schatz, bitte!” Meggys zittrige Stimme riss ihn zurück in die Gegenwart und zu den Ziegen in
dem zerstörten Gemüsegarten.
“Oh Mann.”, brummte er und runzelte die Stirn. Dann pfiff er den Hund zu sich und ging,
um das Koppeltor zu öffnen. Mit einem scheußlichen Geräusch gab der Riegel schließlich nach
und Chad zerrte das modrige Holztor auf.
“Scheuch´ sie mal her!”, rief er Meggy zu und platzierte sich mit seinem Hund so, dass er
zumindest einen der vielen Fluchtwege versperrte. Und während Meggy mit Harke und wüsten
Worten die Ziegenherde aus den Fragmenten ihres Gemüses holte, dachte ihr Mann das erste
Mal ernsthaft darüber nach, den Pachtvertrag für den Resthof wieder zu kündigen.
Das Abendessen verlief schweigsam. Immer wieder warf Chad seiner Frau einen Seitenblick
zu, doch sie reagierte nicht. Mit gesenktem Kopf stocherte sie in ihrem Essen herum, den Blick
in sich gekehrt, Augen und Ohren vor dieser Welt verschlossen. Doch er wusste, was sie dachte
… und es gefiel ihm nicht. Entschlossen, sie nicht in ihrer Trübsal untergehen zu lassen, stand er
auf, griff sich die Weinflasche und zog seine Frau auf die Terrasse. Ganz bewusst drehte er die
gemütliche Gartenbank so herum, dass sie auf die friedlich grasende Ziegenherde und nicht in
den verwüsteten Gemüsegarten blickten.
Das kleine Dorf Metgave lag friedlich in der Abendsonne und die wenigen Geräusche, die zu
ihnen drangen, hatten sie immer als ihre einzige Verbindung zur Außenwelt belacht. Chad und
Meggy besaßen in London ein gut gehendes Architektenbüro und hatten zwei Jahre zuvor bei
einem Ausflug diesen Aussiedlerhof entdeckt. Er kam ihnen wie die Antwort auf unzählige
Gespräche vor. Wie oft hatten sie auf ihrem Balkon der Londoner Stadtwohnung gesessen und
sich gewünscht, der Hektik und dem Lärm entfliehen zu können. Ein Leben auf dem Land,
umgeben von Wiesen und Feldern, mit Bauerngarten und selbstgezogenem Gemüse, friedlichen
Nachbarn und vielleicht ein paar Hühnern.
Chad grinste in sich hinein. Im Gegensatz zu Meggy vergaß er seinen Frust schnell und so
konnte er über die Ziegenaktion vom Nachmittag bereits wieder lachen. Wie naiv sie doch
gewesen waren! Hatten sie wirklich geglaubt, dass sich das 200 Quadratmeter große Haus mit
dem riesigen Garten und die zwei Hektar große Koppel von alleine machen würde, während sie
freitags hierher kamen, um das friedliche Landleben zu genießen? Nichts in diesem Haus hatte
den Standard, den sie gewohnt waren. Zu Anfang waren ihnen die gluckernde Heizung und das
braune Wasser, das morgens gurgelnd aus dem Hahn kam, spannend vorgekommen. Sie wollten
das einfache Landleben, nun hatten sie es. Doch leider blieb es nicht dabei.
Er nahm seine Frau wortlos in die Arme. Was hatten sie schon für Pläne gemacht! Sie wollten
das Anwesen kaufen und dann gründlich sanieren. Wie viel Spaß sie dabei gehabt hatten. Wieder
grinste Chad. Lange Nächte hatten sie hier auf der maroden Terrasse gesessen, eine Flasche Wein
nach der anderen getrunken und gezeichnet. Sie waren beide Architekten, sie hatten keine Mühe,
moderne Möglichkeiten zu erkennen und gleichzeitig den Charme bäuerlicher Struktur zu
erhalten. Das Dorf lag rund eine Stunde von London entfernt, als täglicher Fahrweg also
durchaus im Bereich des Machbaren. Zwei ihrer Angestellten waren jeden Morgen eine Stunde
mit Bus und Bahn unterwegs, warum also sollten sie diese Zeit nicht auch auf sich nehmen? Um
dann abends in ihr Traumhaus zurückzukehren.
Chad dachte an ihre Verpächter, die unter der Woche nach den Ziegen sahen, und ein
Schaudern kroch seinen Rücken hinauf. Es waren komische Leute, Vater und Sohn, beide
geschieden und arbeitslos, lebten nun zusammen unten im Dorf. Sicher, sie waren immer
freundlich und hilfsbereit, stellten Kontakte her, gaben Tipps und hatten sich sofort bereit
erklärt, Meggys heißgeliebte Ziegen zu versorgen. Und doch, irgendetwas war komisch an ihnen.
Chad hatte keine Probleme, mit Menschen der unterschiedlichsten Schichten klarzukommen. Er
war der geborene Kumpeltyp, saß mit den Männern des Dorfes im Pub zusammen und
unterschied sich in seiner Jeans und dem weißen T-Shirt kaum von dem Rest der Gruppe. Mit
Mitte vierzig gehörte er zu den Jüngeren und natürlich war ihr Tun auf dem alten Hof das
Gesprächsthema, doch es gab keine Berührungsängste. Die Dorfbewohner zogen ihn auf, wenn
sie von den Umbauplänen hörten, lachten über die ihrer Meinung nach vollkommen
überflüssigen Ziegen, respektierten aber durchaus, dass er keinerlei Kritik an Meggys
Entscheidungen zuließ. Chad und Meggy waren die Städter, durchaus sympathisch und
unkompliziert, doch eben keine Einheimischen. Und das würden sie auch niemals werden, ganz
egal, was sie taten oder wie lange sie hier leben würden. Aber das hatte sie nie wirklich gestört.
Er ging hin und wieder freitags mit den Männern in den Pub, Meggy schloss sich, gleichzeitig
lachend und mit den Augen rollend, dem dörflichen Frauenclub an, und mit der Zeit waren sie
zumindest irgendwie ein Teil der Dorfgemeinschaft geworden. Aber John und Marcus, ihre
Verpächter, hinterließen immer eine Gänsehaut bei Chad.
John, der Vater, war um die Sechzig, pausbackig, immer mit der obligatorischen Mütze auf
dem Kopf und der Zigarette im Mund. Chad dachte nach. Hatte er ihn schon einmal ohne Kippe
gesehen? Weder im Pub noch auf dem Markt, wo Vater und Sohn regelmäßig ihr Geflügel
verkauften, fehlte der Glimmstängel. Und ebenso wenig hatte er Marcus, den Sohn, jemals mit
Zigarette gesehen. Marcus war um die Dreißig, seinem Vater nicht unähnlich, und der geborene
Geflügelmann. Meggy und Chad hatten nicht schlecht gestaunt, als sie begriffen, was es über
Gänse und Hühner alles zu wissen gab. Marcus mochte sonst nicht der hellste Kopf des Dorfes
sein, mit dem Federvieh kannte er sich aus.
Meggy hatte sich zu Anfang in Marcus Gegenwart sehr unwohl gefühlt. “Der zieht mich mit
seinen Blicken aus!”, hatte sie sich bei ihrem Mann beschwert. Und Chad hatte sofort reagiert.
Bei einem der nächsten Treffen im Pub hatte er eine erfundene Geschichte zum Besten gegeben.
In gespielt feuchtfröhlicher Bierlaune, aber für jeden unmissverständlich, hatte er lauthals
verkündet, wie es diesem Typen ergangen war. Niemand, so hatte er gesagt, mache sich
ungestraft an seine Frau ran. Darauf hatte er das Glas gehoben und als das zustimmende
Kopfnicken und die Beifallsbekundungen Chads angestrebtes Maß erreicht hatten, hatte er eine
Runde nach der anderen ausgegeben und war für den Rest des Nachmittags ein gefeierter Mann
gewesen. Seitdem war Ruhe und Marcus behielt seine Blicke für sich.
“Du willst, dass ich die Ziegen wieder weggebe, nicht?” Meggys Stimme war kaum zu hören.
Chad sah erstaunt zu ihr hinab, zog sie noch enger an sich und küsste sie auf den Scheitel ihrer
blonden Haare.
“Wie kommst du darauf?”, murmelte er, doch Meggy hörte nicht zu.
“Es spukt hier auf diesem Hof.”
Chad musste sich alle Mühe geben, die leise Stimme seiner Frau zu verstehen.
“Quatsch.” Er knuddelte den schmalen Körper. “Es sind Ziegen, die brechen alle naselang
aus.”, lachte er und vergrub sein Gesicht in ihrer Halsbeuge. “Du weißt doch: Schafe finden
Löcher in den Zäunen, gehörnte Schafe machen Löcher in die Zäune und Ziegen brauchen keine
Löcher, sie klettern einfach über den Zaun weg.”
Wieder grinste er. Du hörst dich schon an wie ein alter Landwirt, dachte er, hütete sich aber,
Meggy davon irgendetwas merken zu lassen. Diesen schlauen Satz hatten sie in einem uralten
Buch über Landwirtschaft gelesen, das sie auf dem Dachboden des Hofes in einer Kiste
gefunden hatten. Das war, bevor sie die Ziegen angeschafft hatten. Wie wahr dieser Satz aber
war, merkten sie vom ersten Tag an. Die Koppel war mit Schafdraht eingezäunt, das Tor beinahe
unbeweglich und trotzdem schafften es diese Hornviecher immer wieder, auszubrechen und den
Garten zu verwüsten.
“He.” Er zog Meggys Gesicht zu sich heran und küsste sie. “ Es sind Ziegen, keine
Gespenster. Und ich will überhaupt nicht, dass du sie verkaufst. Du wolltest sie, du hast sie und
nun sehen wir zu, dass sie auf der Koppel bleiben.”
Er grinste sie an. “Wir haben in zwei Wochen Urlaub und deine Eltern wollten auch
kommen.”
Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht und Chad atmete auf. Gefahr gebannt!
“Ich greife mir deinen Vater und dann bauen wir einen Ziegen-Knast.”
Er lachte laut auf und sah sich für einen kurzen Moment als Wärter eines Ziegengefängnisses.
“Wir kriegen das schon hin, du wirst sehen.”
Er klang überzeugend und Meggy schmiegte sich in seine Arme. Das, was sie sah, wenn sie
allein auf dem Hof war, erzählte sie ihm nicht.
Metgave, anno 1130
Es regnete seit Tagen und der Weg, der sich durch die sanften Hügel bis nach Metgave, einem
kleinen Städtchen an der ostenglischen Küste, schlängelte, war kaum noch zu befahren. Mühsam
zogen stämmige Pferde die hochbeladenen Karren und mehr als einmal knallten die Peitschen
der müden, durchnässten Treiber. Immer wieder blieb ein Wagen stecken oder brach ein Rad, so
dass es zu lebensgefährlichen Überholmanövern kam, und die Stimmung der Menschen auf den
letzten Meilen vor Metgave war ebenso gereizt wie die von William Montgomery, Aufseher der
Handelsstation. Seine Aufgabe war es, den Strom der Fuhrwerke zu koordinieren. Wolle und
Tierhäute mussten in die südlichen Lagerräume gefahren werden, während Fleisch und Getreide
direkt hinunter an den Hafen gebracht wurden. Lebende Tiere wie Schaf- und Rinderherden
blieben vor der kleinen Stadt und versanken dort in ihren Holzverschlägen knöcheltief im
Schlamm. Gleichzeitig aber musste die Fracht des imposanten Kahns aus Deutschland, die
“Bremen”, gelöscht werden, wobei Sklaven und Unfreie unter wüsten Beschimpfungen der
Besatzung ihr Bestes gaben. Fass um Fass, Tuchrolle um Tuchrolle wurden mit den Ladelisten
verglichen, entladen und auf die Lagerhäuser verteilt.
William fluchte. Nicht, dass ihm der Regen sonderlich viel ausmachte, doch heute war ein
Tag, an dem einfach nichts zu klappen schien. Die Planken waren nass und glitschig, immer
wieder rutschten die Sklaven unter den schweren Fässern weg und brachen sich nicht selten
Arme und Beine. Dazu kam der Lärm durch die Fuhrwerke und ….
“Ach, was.”, dachte er bitter. “Das ist auch nicht schlimmer als sonst.”
Er wusste genau, warum seine Laune den Tiefstand erreicht hatte und kaum schlechter
werden konnte. In dem stickigen, mit allerlei Gerümpel vollgestopften Raum neben seinem
eigenen winzigen Verschlag warteten eine junge Lady und ihre Zofe darauf, an Bord gehen zu
können. Nun war das, was am frühen Abend in See stechen und zurück gen deutsche Küste
segeln sollte, kaum der geeignete Ort für eine Tochter aus gutem Hause, doch das Frachtschiff
war Emma Brians einzige Chance, der Verheiratung zu entgehen. William biss sich auf die
Lippen. Wie verschreckt dieses junge Ding doch ausgesehen hatte, als es am gestrigen Abend zu
ihm gekommen war und um eine heimliche Überfahrt bat. Entrüstet hatte er abgelehnt, sie
gefragt, ob ihr bewusst war, um was sie ihn bat. Wenn das ans Tageslicht kommen würde, würde
Emmas Zukünftiger kommen und Metgave dem Erdboden gleichmachen. William schauderte.
Emma hatte ihm die ganze traurige Geschichte erzählt, wollte zu einer Tante nach Bremen und
weder eine Sonderbehandlung noch irgendeine Art von Bequemlichkeit an Bord des Frachters.
„Mylady,”, hatte er versucht, die junge Frau aufzuhalten, “wisst ihr, was euch an Bord
erwartet? Es sind die rauen Männer, die zur See fahren und Gott allein weiß, was euch auf der
langen Überfahrt unter all diesen Kerlen zustoßen kann.”
Die Zofe hatte mit brennendroten Wangen zu Boden gesehen, doch Emmas Blick war kühl
und entschlossen geworden.
“Ich habe Taler dabei, sprecht mit dem Kapitän, es wird sicher eine Möglichkeit geben, uns zu
verstecken.”
Hilflos hatte er die Schultern gezuckt. Die Konsequenzen dieser völlig abwegigen Tat
vermochte er sich gar nicht auszumalen. Metgave lag nicht in der Grafschaft der McO´Nellys,
doch dort suchte man bestimmt schon nach der verschwundenen Braut.
“Bitte!”, hatte er die flehende Stimme gehört und schließlich zugestimmt. Doch er hatte sich
hartnäckig geweigert, das Gold anzunehmen, das Emma ihm für seine Hilfe angeboten hatte. Er
begann ein Verbrechen und sollte jemals herauskommen, dass er der zukünftigen Braut eines
McO´Nelly zur Flucht verholfen hatte, würde selbst Gott ihn nicht mehr retten können, doch er
würde sich diese Tat nicht auch noch mit Gold bezahlen lassen. So hatte er die beiden Frauen
kurzerhand in den winzigen Raum geschickt und sie angehalten, sich absolut ruhig zu verhalten
und zu warten.
Der Kapitän, den er kurz darauf von den Frauen erzählte, war weniger um sein Seelenheil
bedacht. Wortlos hatte er den Beutel mit den klingenden Münzen genommen und geknurrt,
William möge die Frauen kurz vor dem Ablegen an Bord bringen und im hinteren Laderaum
verstecken. Er selber wolle sie nicht zu Gesicht bekommen und wäre auch im Falle einer
Entdeckung unwissend und somit schuldlos.
Nun saßen die beiden Frauen also in dem winzigen, vollgestopften Raum und warteten,
während seine eigene Laune doch noch immer schlechter wurde. Auf was hatte er sich da nur
eingelassen! Die Handelsstation unterstand dem Earl of Parlington und seine eigene Position war
mit jedem Diebstahl durch herumstreunende Vagabunden gefährdet. Was aber darauf stand,
englischen Adeligen die Flucht von der Insel zu ermöglichen, wusste er nicht, wollte es auch gar
nicht wissen. Sein Kopf würde rollen und sein mickriges Haus in Flammen aufgehen, soviel war
sicher. Was dem an Folter vorausgehen mochte, konnte William sich vorstellen und er wusste, er
war kein Held. Er würde singen wie ein Vögelchen, und obgleich er weder den Namen dieser
Tante in Bremen noch sonstige Pläne der jungen Frau kannte, war er sich doch sicher, dass sie
ihm die Haut bei lebendigem Leibe abziehen würden. War sie das wert?
Immer wieder ertappte er sich dabei, wie er sich verstohlen zu den Soldaten umsah. Es waren
nur eine Handvoll Männer und die wenigen Auseinandersetzungen, die sie schlichten mussten,
wurden von ihnen eher als willkommene Abwechslung einer eintönigen Schicht gesehen denn als
ernsthafte Herausforderung. Dennoch waren sie präsent und ihre gelangweilten Mienen konnten
nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie jederzeit bereit waren, zu ihren Waffen zu greifen. Ein
kurzer Wink würde genügen, eine Geste, ein stummer Blick. So hatten William und sie es schon
häufig gemacht, wenn sie Diebe auf frischer Tat ertappen wollten.
Wieder blickte er zu dem Wachhabenden hinüber … und diesmal trafen sich ihre Blicke. Die
Haltung des Mannes änderte sich unmerklich, doch William zuckte zusammen. Nein, das hatte er
nicht gewollt. Es war doch nur ein Gedanke gewesen, ein flüchtiges Abwägen von Möglichkeiten,
doch der alte Soldat hatte bereits reagiert. Er stieß sich von der Schuppenwand ab und flüsterte
einem Kameraden etwas zu. Dieser lachte, so als habe ihm der Alte gerade einen vulgären Witz
erzählt, doch William kannte die Masche. Nun würden sie sich verteilen, immer zu zweit, und
den Kreis um seine Lagerhalle schließen. Es war nur ein Blick gewesen, keine Geste, keine
Kopfbewegung in eine bestimmte Richtung, also ein Zeichen, dass sich das Problem direkt bei
ihm im Schuppen befand.
William überlegte fieberhaft. Er konnte den Dingen nun ihren Lauf lassen, hätte seine Pflicht
gegenüber König und Vaterland getan und niemand würde ihm einen Vorwurf machen.
Niemand, außer der jungen Frau natürlich. Aber eine Vermählung mit einem ungeliebten Mann
war immer noch besser als Verrat. Außerdem war er, William, verantwortlich für diesen Ort und
seine Menschen. Ein wütender Earl, womöglich eine Fehde zweier Grafschaften auf Grund einer
davongelaufenen Braut, wäre ein zu hoher Preis. Andererseits, und nun meldete sich Williams
Gewissen, hatte er zugesagt, die beiden Frauen an Bord zu bringen. Galt sein Wort nichts?
Unwirsch fegte er die Gedanken beiseite. Nicht er war es, der bei Nacht und Nebel
davongelaufen war, nicht er war es, der einen anderen Menschen eine solche Entscheidung
zumutete, wie es jetzt dieses junge Ding getan hatte. Gut, er konnte sie verstehen, doch die
Zeiten waren nun einmal so. Er lachte bitter auf. Was war schon ein bisschen Herzschmerz
gegen die Nöte seines eigenen Lebens oder des von Unfreien und Sklaven? Die junge Frau würde
unter einer tyrannischen Schwiegermutter in einer Halle weitab von ihrem Zuhause leben, und
dass sie sich davor fürchtet, war verständlich. Doch mit ihrer Entscheidung, in das entfernte
Deutschland fliehen zu wollen, brachte sie nicht nur ihn, sondern ganz Metgave in Gefahr, und
das durfte er nicht zulassen. William wusste nicht, was Bräutigam oder Vater mit der
Widerspenstigen tun würden, aber er ahnte, was man mit ihm tat, sollte herauskommen, dass er
den Frauen zur Flucht verholfen hatte.
Die Entscheidung war ihm nun sowieso abgenommen worden und die Dinge ins Rollen
gebracht. Unmöglich, den Soldaten nun vormachen zu wollen, sein Blick wäre rein zufällig
gewesen, vor allem, wenn die Frauen dann doch noch entdeckt werden sollten. Sein schlechtes
Gewissen meldete sich wieder, doch er fegte es beiseite. Er hatte wählen müssen zwischen dem
Leben einer jungen Frau mit einer verhassten Schwiegermutter einerseits und dem Wohlergehen
von Metgave andererseits. Die Entscheidung war gefallen.
Der Wachhabende schlenderte die regennasse Holztreppe zu William hinauf, im Schlepptau
einen etwa fünfzehnjährigen Burschen in schlecht sitzender Uniform. Sein wachsamer Blick glitt
durch den winzigen Raum und die angrenzende Lagerhalle. Alles schien ruhig. William in ein
unverfängliches Gespräch verwickelnd, wartete der Soldat auf einen Hinweis des
Handelsvorstehers. Mit dem Kopf deutete dieser in die Richtung der winzigen Kammer und hob
zwei Finger. Dann machte er das Zeichen für “Frau”. Er hob irritiert die Augenbrauen. In dieser
Kammer sollen zwei Frauen stecken? Er machte das Zeichen für “Sklaven”, doch William
Montgomery schüttelte den Kopf. Der Soldat zuckte mit den Achseln, zog zur Sicherheit sein
Schwert und schritt entschlossen auf die Tür zu.
In diesem Moment aber sollte sich das Schicksal von Metgave und all seinen Bewohnern für
immer verändern.