Handbuch der Antropologie

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Handbuch der Antropologie
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Wolfgang Pleger
Handbuch der
Anthropologie
Die wichtigsten Konzepte
von Homer bis Sartre
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Lektorat: Konstantin Alogas
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Layout und Satz: Peter Lohse, Heppenheim
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ISBN 978-3-534-25789-8
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Für Barbara
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Inhalt
Einleitung
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Antike und biblische Mythologie
I. Die Sterblichen – Griechische Mythologie
17
1. Die Sterblichen und die Unsterblichen (Homer) 18
2. Goldenes Zeitalter und Büchse der Pandora (Hesiod) 23
3. Tragische Anthropologie (Sophokles) 28
II. Der Mensch, ein Geschöpf Gottes –
Das kreationistische Konzept 35
1. Die Erschaffung der Welt und des Menschen (Genesis 1–3) 36
2. Erbsünde und Gnadenwahl (Augustinus) 42
3. Natur und Gnade (Thomas von Aquin) 48
Dualismus und Monismus
III. Dualistische Konzepte
55
1. Psyche und Soma (Platon) 56
2. Körper und Geist (Descartes) 61
3. Der Mensch als Bürger zweier Welten (Kant) 68
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IV. Monismus – Die Einheit der Natur
75
1. Der Mensch im Kosmos (Marc Aurel) 76
2. ‚Deus sive natura‘ – das pantheistische Konzept (Spinoza) 83
3. Autopoiese – Die Selbsterzeugung lebender Systeme (Maturana) 88
Kultur und Geschichte
V. Der Mensch als Mängelwesen –
Das Kompensationsmodell 95
1. Eros, Prometheus und Hermes –
Mythen von menschlichen Mängeln (Platon) 96
2. Der erste Freigelassene der Schöpfung (Herder) 102
3. Kultur als Kompensation natürlicher Mängel (Gehlen) 108
VI. Geschichte und Geschichtlichkeit des Menschen
1. Das Ziel der Weltgeschichte (Kant) 116
2. Geschichtliches Verstehen (Dilthey) 123
3. Das Seinsgeschick und der Mensch (Heidegger) 129
Stufen- und Entwicklungsmodelle
VII. Das Stufenmodell
136
1. Pflanze – Tier – Mensch (Aristoteles) 137
2. Die Stufenleiter des Seins: Vom Drang zum Geist (Scheler) 145
3. Der Stufenbau des Lebens (Plessner) 151
VIII. Genetische Modelle
161
1. Die Evolution des Menschen (Darwin) 162
2. Ichentwicklung und Ichstärkung (Freud) 170
3. Die Bildung der menschlichen Gestalt (Portmann) 179
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Individuum und Person
IX. Der Mensch als Individuum
187
1. Das Individuum als Monade (Leibniz) 188
2. Die Bildung der Individualität (W. v. Humboldt) 195
3. Das Individuum als ‚Wille zur Macht’ (Nietzsche) 203
X. Zum Begriff der Person
212
1. Der Mensch als Person (Cicero) 213
2. Die Identität der Person (Locke) 221
3. Die Person als Zweck an sich selbst (Kant) 229
Determinierte Materie und Freiheit des Subjekts
XI. Materialistische Anthropologie
239
1. Der Maschinenmensch (La Mettrie) 240
2. Materialistische Dialektik (Engels) 247
3. Historischer Materialismus (Marx) 254
XII. Das absolute Ich – Das Konzept der Subjektivität
261
1. Ich und Nicht-Ich (Fichte) 262
2. Das natürliche und das transzendentale Ich (Husserl) 271
3. Die Freiheit des Subjekts (Sartre) 279
Epilog: Die Situation der Person
1.
2.
3.
4.
288
Die Entwicklung der Person 289
Die Erkenntnis der realen Situation 293
Handlungen der Person 298
Die Verantwortung der Person 302
Literaturverzeichnis
Register
307
315
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Einleitung
Nichts Armseligeres nährt die Erde als den Menschen unter allem, was auf der
Erde Atem hat und kriecht (...)
(Homer)
Daß der Mensch in seiner Vorstellung das Ich haben kann, erhebt ihn unendlich
über alle andere auf Erden lebende Wesen. Dadurch ist er eine Person (...)
(I. Kant)
Die Welt ist für den Menschen das unhintergehbare, materiale Apriori seines Lebens.
Das bedeutet: Die Existenz des Menschen hat die der Welt zur Voraussetzung, nicht aber
umgekehrt. Mit der Geburt entwickelt der Mensch ein eigenes Verhältnis zur Welt. Treffend wird daher die Geburt als der Vorgang bezeichnet, durch den der Mensch ‚zur Welt‘
kommt. Äußerliches Zeichen für das eigene Weltverhältnis ist die selbständige Atmung,
durch die die Abhängigkeit des Säuglings von dem Blutkreislauf der Mutter aufgehoben wird. Der Säugling wird zu einem eigenständigen Lebewesen. Mit der „Vollendung
der Geburt“ kommt ihm daher nach unserer Rechtsauffassung ein besonderer Status zu:
die Rechtsfähigkeit (§ 1 BGB). Das Verhältnis des Menschen zur Welt hat einen jeweils
individuellen Charakter. Er macht seine Situation aus. Mit der Situation ist das spezifische In-der-Welt-Sein eines Menschen gemeint. Diese lässt sich durch objektive
Kriterien bestimmen. Das gilt bereits für den Säugling. Bestimmte Merkmale seiner
Situation werden in der Regel auch sofort festgestellt: so das Geschlecht, der Ort und
die Zeit seiner Geburt, Körpergröße, Gewicht und Gesundheitszustand. Sie markieren
seine Situation zu Beginn seines Lebens und bleiben daher unveränderliche Daten seiner Biographie, selbst wenn sich einige von ihnen im Laufe der Zeit ändern. Die Entwicklung des Menschen ist dadurch bestimmt, dass er mit der Geburt in ein Verhältnis
zu der Situation tritt, in der er sich befindet. Von Bedeutung ist, dass sich beide Seiten
des Verhältnisses im Laufe der Zeit verändern, der Mensch und die Situation.
Jede neue Situation stellt daher für den Menschen auch eine neue Herausforderung
dar. Sprechend und handelnd antwortet er auf diese Herausforderung. Indem er dies
tut, bestimmt er zugleich sich selbst. Herausforderung und Antwort bestimmen den Dialog des Menschen mit der Welt. Unternimmt der Mensch den Versuch, die problematische Situation des Menschen in einem allgemeinen Sinne zu bestimmen, so gewinnt
der Zusammenhang dieser Aussagen die Form einer Anthropologie.
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Anthropologie ist die Lehre vom Menschen. Diese Lehre entstammt entweder den
Wissenschaften oder der Philosophie oder der Theologie. Wir sprechen daher z.B. von
einer wissenschaftlichen, einer philosophischen oder von religiöser bzw. theologischer
Anthropologie. Das Wort Anthropologie hat eine analoge Struktur z. B. zum Wort
Geologie. In beiden Fällen gibt es ein Thema und eine Lehre, die sich auf das Thema
bezieht. Allerdings verdeckt diese Analogie einen gravierenden Unterschied zwischen
beiden Begriffen. Im Fall des Begriffs Geologie gehören derjenige, der die Lehre entwickelt und vertritt, und das Thema, dem sich die Lehre widmet, zwei verschiedenen
Bereichen an. Das ist bei der Anthropologie anders. Das Objekt dieser Lehre und das
Subjekt, das diese Lehre aufstellt, sind identisch: Es ist der Mensch, der in der Anthropologie Aussagen über sich selbst macht. Anthropologie hat daher, unabhängig davon,
ob dieser Sachverhalt selbst noch einmal thematisiert wird, einen reflexiven Charakter.
Man darf annehmen, dass der Mensch, nachdem er angefangen hat zu denken und zu
sprechen, auch über sich selbst nachdenkt und spricht. Das gilt in phylogenetischer Hinsicht ebenso wie in ontogenetischer. Für die Denk- und Sprachentwicklung des Kindes
lassen sich hierzu überprüfbare Aussagen machen.
Versteht man Anthropologie nicht nur als eine Lehre neben anderen möglichen, sondern als eine spezifische, nämlich als Selbstthematisierung des Menschen, dann kann
man sagen, dass Anthropologie zum Wesen des Menschen gehört. Der Mensch ist in
dem erläuterten Sinne das ‚anthropo-logische‘ Lebewesen. Da Selbstthematisierung
Reflexion bedeutet, kann man ebenso sagen: Der Mensch ist das reflexive Lebewesen.
Der Mensch entwickelt ein Selbstverhältnis, das ihn in allen seinen Handlungen und
Aussagen begleitet. Bleibt dieses Selbstverhältnis unthematisch, sprechen wir von
einer impliziten Anthropologie, wird es thematisch, von einer expliziten. Aus diesem
Grunde enthält auch die Geologie eine implizite Anthropologie. Indem der Mensch über
die Erde spricht, thematisiert er einen Gegenstand. Gleichzeitig aber bestimmt er damit
sein Verhältnis zu diesem Gegenstand und damit implizit sich selbst.
In Sätzen artikuliert der Mensch einen Sachverhalt mit Hilfe von Worten. Der im
Satz artikulierte Sachverhalt wird zu einem bestimmten. Jede Bestimmung bedeutet
zugleich Ab- und Eingrenzung. Den Akt der sprachlichen Begrenzung einer Sache
bezeichnen wir als Definition. Die Definition muss nicht im schulmäßigen Sinne mithilfe der Angabe des Oberbegriffs und der artspezifischen Merkmale erfolgen. Werden
z. B. die Menschen als die Sterblichen bezeichnet, so grenzt sich der Mensch durch
diese Selbstbestimmung von den Unsterblichen ab. Diese Definition sagt nicht alles
über ihn aus, verleugnet auch nicht, dass alle Lebewesen sterblich sind, betont aber
deutlich, dass das Verhältnis des Menschen zu den Unsterblichen ihn wesentlicher
charakterisiert als alles andere. Nicht anders verhält es sich, wenn sich der Mensch als
Mängelwesen definiert. Hier erfolgt die Abgrenzung gegenüber dem Tier. Die Definition enthält die These, dass der Mensch im Verhältnis zum Tier gravierende Mängel aufweist.
Innerhalb der europäischen Geschichte hat sich der Mensch in unterschiedlicher Weise selbst definiert. Die zwölf wichtigsten Positionen sollen in diesem Handbuch
dargestellt werden. Die Darstellung hat, diesem Ansatz folgend, einen historisch-systematischen Charakter. Vollständigkeit ist damit jedoch nicht intendiert. Die Humanwissenschaften haben ohnehin ihren fachspezifischen Zugang zu anthropologischen
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Fragestellungen. So ließen sich die erörterten Modelle fast beliebig ergänzen durch eine medizinische, eine psychologische, eine pädagogische, eine soziologische Anthropologie usw. Außerdem könnte im Bereich der Philosophie der Ansatz ergänzt werden
durch eine dialektische, eine hermeneutische, eine phänomenologische und eine strukturale Anthropologie usw. Die Begründung für die hier getroffene Auswahl besteht
darin, dass sie sich weder an Disziplinen orientiert, noch an dem methodischen Zugang,
wissenschaftlicher oder philosophischer Art, sondern an den inhaltlich bestimmten Definitionen des Menschen. Die im Folgenden dargestellten anthropologischen Modelle
lassen sich zu sechs Paaren mit jeweils zwei Definitionen ordnen.
Das erste Paar bilden die antike und die biblische Mythologie. Der Mythos ist eine
Göttergeschichte. Der Mensch definiert sich als Geschöpf Gottes. Das gilt, bei allen Unterschieden, sowohl für den antiken griechischen Mythos wie auch für den biblischen
Schöpfungsmythos. Der antike Mythos und der biblische Paradiesmythos haben als
weitere Gemeinsamkeit, dass die Situation des Menschen als leidvoll dargestellt wird.
Im antiken Mythos ist es das Schicksal, das dem Menschen von den Göttern zugeteilt
wird. Er hat darauf eine Antwort zu finden. Im Paradiesmythos ist der Mensch nach
seiner Vertreibung auf ein schmerzvolles und hartes Arbeitsleben verwiesen. Beiden
Mythen ist jedoch der Gedanke gemeinsam, dass der Mensch, entweder durch Hybris,
d.h. Überheblichkeit, oder aber durch eine Verfehlung, d. h. durch einen Ungehorsam,
sich seine elende Situation selbst zuzuschreiben hat. Allerdings enthält die Bibel einen
zweiten Mythos, in welchem dem Menschen das Leid erspart bleibt: Es ist der Mythos
von der Ebenbildlichkeit Gottes. Die Bibel thematisiert daher, streng genommen, zwei
unterschiedliche Modelle des Menschen.
Ein weiteres Paar bilden dualistische und monistische Konzepte. Der Dualismus verbindet sich mit dem Gedanken, dass die Welt in zwei grundsätzlich unterschiedliche
Seinsbereiche gegliedert ist. Für die griechische Antike sind es die Bereiche von ‚psyche‘ und ‚soma‘, für Descartes ‚res extensa‘ und ‚res cogitans‘ und für Kant ‚mundus
sensibilis‘ und ‚mundus intelligibilis‘. Entscheidend ist, dass der Mensch stets beiden
Bereichen angehört. Daraus ergibt sich das Problem ihrer Vermittlung. Dieses Problem
wird im Monismus dadurch überwunden, dass er nur von einem Seinsbereich ausgeht.
In den hier thematisierten monistischen Konzepten ist dies die Einheit der Natur. Der
Mensch ist ein Teil der Natur. Sein Verhältnis zu ihr lässt sich bestimmen nach dem
Verhältnis des Teils zum Ganzen.
Das dritte Paar lässt sich durch die Stichworte Kultur und Geschichte charakterisieren. Unter das erste Stichwort fallen alle Versuche, den Menschen im Vergleich zum
Tier als ein Mängelwesen zu bestimmen. Es zeichnet ihn aus, dass er durch Handwerke, Künste, Wissenschaften, Vernunft und Freiheit sowie schließlich Kultur seine
Mängel zu kompensieren sucht. Mag es auch bei diesen Versuchen im Laufe der Zeit
Fortschritte geben, so steht doch jeder Mensch jeden Tag neu vor der Aufgabe, seine
konstitutiven, d. h. anthropologisch bedingten, Mängel zu beheben. Anders verhält es
sich, wenn der Mensch als ein geschichtliches Wesen definiert wird. Nach diesem Konzept steht der Mensch in einem größeren Zusammenhang. Seine Situation ist dadurch
bestimmt, dass er Teil eines Geschehens ist, das vor ihm begann und sich nach ihm fortsetzt. Die anthropologischen Konzepte, die sich hieran orientieren, interpretieren den
Gesamtzusammenhang der Geschichte jedoch sehr unterschiedlich.
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Das vierte Paar thematisiert Stufen- und Entwicklungsmodelle. Das Stufenmodell
wird gelegentlich auch als Schichtenmodell bezeichnet. Es hat einen statischen Charakter und eine hierarchische Gliederung. Mit ihm werden vier Seinsstufen bezeichnet.
Es handelt sich um das anorganische Sein, die Pflanze, das Tier und den Menschen. Im
Unterschied zu ihm verbindet das genetische Modell die Stufen durch den Gedanken der Entwicklung. Das bedeutet, dass die jeweils höheren Seinsbereiche auch spätere Stufen der Entwicklung repräsentieren. Dieses Modell hat seinen Siegeszug mit
der Evolutionstheorie Darwins angetreten. Während diese die phylogenetischen Aspekte betrachtet, konzentriert sich die Entwicklungspsychologie auf die ontogenetischen.
Das fünfte Paar wird bestimmt durch die anthropologischen Konzepte des Individuums und der Person. Sofern mit dem Begriff Individuum das Unteilbare gemeint ist,
das Atom, hat es seinen Ursprung in der griechischen Antike, wird aber nicht für einen
einzelnen Menschen gebraucht. Ist mit ihm der Einzelne im Unterschied zu dem Allgemeinen gemeint, hat es seinen Ursprung bei Aristoteles. Eine besondere anthropologische Bedeutung bekam es jedoch erst dadurch, dass mit ihm das Einzigartige bezeichnet wurde, und das erfolgte durch Leibniz. Allerdings ist dieser Begriff nicht auf den
anthropologischen Bereich beschränkt. Streng genommen ist jedes einzelne Ding durch
Einzigartigkeit ausgezeichnet. Das ist bei dem Begriff der Person anders. Er kommt im
alltäglichen Sprachgebrauch nur einzelnen Menschen zu; im Bereich des Rechts dient
er auch zur Bezeichnung von Institutionen, z. B. „Körperschaften“, und im Bereich der
Theologie hat er eine zentrale Bedeutung für das Verständnis der Trinität. Der lateinische Begriff ‚persona‘ ist die Übersetzung des griechischen Wortes ‚prosopon‘, das die
Maske eines Schauspielers bezeichnet. Der Begriff Person hat eine mehrfache Bedeutung: Rolle, Rechtssubjekt, Personalpronomen und Selbstbewusstsein.
Das sechste Paar zentriert sich um den Begriff der Freiheit. Es thematisiert die
Determiniertheit der Materie und die Freiheit des Subjekts. Ansätze zu einer materialistischen Anthropologie finden sich bereits in der griechischen Antike, aber in der
Neuzeit erhalten sie mit der Wiederbelebung der Atomtheorie und der Entwicklung des
mechanischen Denkens eine neue Aktualität. Setzen auch der mechanische, der dialektische und der historische Materialismus unterschiedliche Akzente, so verbindet sie doch
eine Überzeugung: Sie besteht in der Determiniertheit allen Geschehens. Den Gegensatz bildet die Philosophie der Subjektivität, die sich in der Neuzeit herausbildete. Sie
ist unlösbar mit dem Begriff Freiheit verbunden. Merkmale, die in der mittelalterlichen
Theologie Gott als dem absoluten Subjekt zugesprochen worden waren, nimmt nun das
menschliche Subjekt für sich in Anspruch. Das autonome Ich, das sich aus allen weltlichen Bezügen herauslöst, ist nicht nur frei, sondern absolut.
Die verwendeten anthropologischen Grundbegriffe haben einen unterschiedlichen
Charakter. Die Bezeichnung des Menschen als Geschöpf Gottes hat den Charakter einer
Definition, das Stufenkonzept den Charakter eines Modells. In einigen Fällen ist der
Charakter nicht eindeutig. So lässt sich der Begriff der Person ebenso sehr als Definition, wie von seinem Ursprung her als eine anthropologische Metapher verstehen, die
selbst Modellcharakter hat. Der Begriff des Modells lässt sich wie folgt an einem Beispiel erläutern: Das Modell eines Hauses, das ein Architekt anfertigt, hat einen eigentümlichen Zwischenstatus. Es ist angesiedelt zwischen dem gedanklichen Entwurf des
Hauses und dem später ausgeführten Bauwerk. Es verbindet in sich anschauliche und
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gedankliche Momente. An diesem Beispiel orientiert sich der hier gebrauchte Begriff
des Modells. Übergreifend wird aber der Begriff Konzept verwendet.
Die hier vorgestellten Konzepte fügen sich keiner bestimmten Geschichtsauffassung
und keiner Epocheneinteilung. Sie stützen das Modell einer Verfallsgeschichte ebenso
wenig wie das einer Geschichte des Fortschritts. Auch bilden sie keine geschichtliche
Reihe. Keines von ihnen kann daher als geschichtlich überholt angesehen werden. Einige Beispiele mögen das belegen. Die Definition der Menschen als ‚die Sterblichen‘
hat, trotz des Übergangs ‚Vom Mythos zum Logos‘ ihre zentrale Bedeutung nie verloren. Das Verständnis des Menschen als eines Geschöpfs Gottes wird seit seinem Ursprung
im Alten Testament, ungeachtet der Evolutionstheorie, in der Theologie vertreten. Dasselbe gilt für den Begriff des Mängelwesens. Die Betonung der natürlichen Mängel des
Menschen im Vergleich zum Tier wird im griechischen Prometheusmythos deutlich ausgesprochen und mit der Herausstellung derselben Kennzeichen, z. B. der Nacktheit, von
Gehlen im 20. Jh. wiederholt. Das Stufenmodell, das von Aristoteles entwickelt wurde,
wird, trotz der an ihm vorgenommenen Differenzierungen, in seiner Grundstruktur
ebenfalls noch im 20. Jh. vertreten, und das obwohl in der Zwischenzeit die Evolutionstheorie eine maßgebliche Bedeutung bekommen hat. Einige Definitionen haben zwar
eine Vorgeschichte, entwickeln sich jedoch erst in einer bestimmten Epoche zu einem
anthropologischen Grundbegriff. Das gilt für den Begriff des Subjekts ebenso wie für
den des Individuums. Schließlich der Begriff der Person. Er hat seine Vorgeschichte im
griechischen Theater, avanciert aber im römischen Sprachgebrauch zu einem zentralen
anthropologischen Begriff. Für alle Konzepte gilt: Nachdem sie ihre zentrale anthropologische Bedeutung entwickelt haben, sind sie aus dem Spektrum anthropologischer
Definitionen nicht mehr wegzudenken.
Wenn die erörterten Konzepte nicht als geschichtlich überholt anzusehen sind, wird
die Frage ihrer Verbindlichkeit unabweisbar. Zwei mögliche Antworten sind jedoch wenig überzeugend. Nach der einen kann nur eine einzige Definition Anspruch auf Verbindlichkeit erheben und nach der anderen ist die Entscheidung für eine bestimmte beliebig. Demgegenüber soll die These vertreten werden, dass jedes Konzept mit guten
Gründen einen eigenen Wahrheitsanspruch behauptet. Das gilt auch für die mythologischen Modelle. Die Sterblichkeit des Menschen zu seinem entscheidenden Kriterium
zu machen ist keineswegs überholt. Der Kampf gegen die Sterblichkeit und das Bemühen um die Verlängerung des Lebens haben mit der Entwicklung der Medizin und allgemeinen Gesundheitsprogrammen in der Gegenwart eher noch zugenommen. Ebenso
enthält der biblische Mythos auch für den nichtreligiösen Menschen eine Wahrheit. Sie
besteht, negativ formuliert, darin, dass der Mensch sich nicht selbst gemacht hat, d. h.,
dass er im strengen Wortsinn kein ‚self-made-man‘ ist; mag man auch an die Stelle
des Schöpfergottes die Natur setzen oder im Sinne von Spinoza die Formel ‚deus sive
natura‘ bevorzugen. Das dualistische Konzept bewahrt seine Aktualität z. B. in der
psycho-somatischen Medizin, das monistische darin, dass alle realen Unterschiede als
innere Differenzierungen in der Einheit der Natur verstanden werden können. Ähnliche Argumente für den jeweiligen Wahrheitsanspruch ließen sich auch für die anderen
Modelle geltend machen. Das bedeutet, dass in jedem Konzept wichtige Einsichten über
den Menschen enthalten sind, die eine Anthropologie in einem umfassenden Sinne zu
berücksichtigen hätte. Für sie böte der Begriff der Person einen erfolgversprechenden
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Ansatz, da für ihn Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung konstitutive Merkmale
sind. Nur eine Person kann sich selbst z. B. als Geschöpf Gottes, als Mängelwesen oder
als Individuum definieren. Insofern kommt dem Konzept der Person eine besondere
Bedeutung zu.
Für die Darstellung der genannten anthropologischen Konzepte wird auf das Prinzip des Exemplarischen zurückgegriffen. Da es nicht möglich ist, die Konzepte auch nur
annähernd erschöpfend auszuführen, musste eine Auswahl getroffen werden. Es werden jeweils drei Autoren herangezogen, die geeignet sind, das jeweilige Modell in besonders prägnanter Weise zu repräsentieren.
Die Methode der Darstellung ist weitgehend bestimmt durch einen hermeneutischen
Ansatz. Ziel ist es, die anthropologischen Aussagen des jeweiligen Autors im Kontext
seines eigenen Denkens möglichst unverkürzt darzustellen. Ein besonderer Akzent liegt
darauf, die spezifische Intention des Autors zur Geltung zu bringen. In diesem Zusammenhang kommt der Berücksichtigung seiner jeweils eigentümlichen Denk- und
Sprechweise eine besondere Bedeutung zu. Das geschieht dadurch, dass Zitate ihren angemessenen Platz finden. Im Mittelpunkt stehen der Autor und die von ihm vertretene
Position. So beginnt die Darstellung eines Autors stets mit einer Textpassage von ihm,
auf die bei seiner Interpretation durch die Anmerkung ‚vgl. Text’ hingewiesen wird.
Im Epilog wird der Versuch unternommen, das Verhältnis von Situation und Selbstbestimmung am Beispiel des Begriffs Person genauer zu erläutern. Über die zitierten
Quellen und die verwendete Forschungsliteratur gibt das Literaturverzeichnis Auskunft.
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Antike und biblische Mythologie
I.
Die Sterblichen –
Griechische Mythologie
Mythen sind Göttergeschichten. Die Götter Griechenlands sind idealisierte Menschen,
bestimmt durch Schönheit, Leichtigkeit und überlegene Kraft. Sie repräsentieren all das,
was einzelne Menschen in glücklichen Momenten sein können. Andererseits aber sind
sie – wie Menschen auch – eifersüchtig, rachsüchtig und launisch. In einer Hinsicht
aber überragen sie den Menschen in einem prinzipiellen Sinne: sie sind unsterblich. Es
ist der Kontrast von Sterblichkeit und Unsterblichkeit, der die Folie bildet für die erste
entscheidende Definition des Menschen in Europa: Die Menschen, das sind die Sterblichen. Die Sterblichkeit bedrängt den Menschen in einem solch radikalen Sinne, dass
er sich auf sie hin definiert.
Die Sterblichkeit stellt die erste entscheidende Kränkung dar, mit der sich der Mensch
auseinandersetzen muss. Sie ist bedeutsamer als alle anderen Kränkungen, mit denen
er sich im Laufe der Geschichte konfrontiert sieht; bedeutsamer als die Einsicht, dass
die Erde nicht den Mittelpunkt des Weltalls darstellt, bedeutsamer als die Evolutionstheorie, die dem Menschen seine tierische Abstammung vor Augen führt, und bedeutsamer schließlich als die große Macht des Unbewussten und die relative Ohnmacht des
Ichs, auf die Freud hinwies. Der griechische Mythos zeigt, in welcher Weise die Sterblichkeit das leitende Motiv für das frühe anthropologische Denken wird. Er zeigt auch,
ob sich der Mensch von diesem ‚Makel‘ zu befreien sucht oder ihn als unüberwindbare Tatsache akzeptiert.
Lang ist die Geschichte der Versuche, den Tod als endgültiges Ende des Lebens zu
leugnen. Zu ihr gehören philosophische Versuche ebenso wie religiöse und theologische. Sie bilden ein zentrales Thema der Geschichte des europäischen Denkens. Platons
Argumente für die Unsterblichkeit der Seele bilden einen ersten Höhepunkt. Bemerkenswert ist auch der Gedanke Epikurs, in einem logisch zwingenden Schluss darzulegen, dass der Tod den Menschen nichts angeht; denn solange wir sind, ist der Tod
nicht da, und wenn der Tod da ist, sind wir nicht da. So bestechend die Überlegung ist,
sie hat die Menschen nicht wirklich überzeugt, denn sie spricht zwar über den Tod, nicht
aber über die Sterblichkeit.
Nun ist die Sterblichkeit kein spezifisches Charakteristikum des Menschen, sondern
es betrifft alle Lebewesen, und deshalb scheint es auch für eine Definition des Men-
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schen untauglich zu sein. Der Grund, weshalb der Begriff ‚Die Sterblichen‘ gleichwohl
geeignet ist, den Menschen in einem spezifischen Sinne zu kennzeichnen, liegt in einer unausgesprochenen Implikation. Sie besteht in einem im Begriff zum Ausdruck
kommenden Wissen: Die sterblichen Wesen, die sich selbst so bezeichnen, wissen um
ihre Sterblichkeit, und von diesem Wissen können sie nicht absehen, solange sie leben.
Aus diesem Wissen beziehen die ‚Unsterblichkeitsbeweise‘ ihre eigentliche Dringlichkeit. Und solange es sie gab, schien der Begriff ‚Die Sterblichen‘ nicht das entscheidende, letzte Wort über den Menschen auszusagen. Erst nachdem Kant philosophischen
Beweisen der Unsterblichkeit der Seele ein weitgehend akzeptiertes Ende setzte, indem
er Aussagen über sie in einen Bereich jenseits der Vernunft verwies, nämlich in den des
Glaubens und der Hoffnung, waren die Voraussetzungen erfüllt, die Kennzeichnung ‚Die
Sterblichen‘ zu rehabilitieren. Und so ist es vielleicht kein Zufall, dass der späte Heidegger in Anknüpfung an die griechische Mythologie die Menschen wieder so benennt:
Die Sterblichen.
1. Die Sterblichen und die Unsterblichen (Homer)
„Wie der Blätter Geschlecht, so ist auch das der Männer. /
Die Blätter – da schüttet diese der Wind zu Boden, und andere treibt /
Der knospende Wald hervor, und es kommt die Zeit des Frühlings. /
So auch der Männer Geschlecht: dies sproßt hervor, das andere schwindet“
(Il. 6, 146–149).
„Nichts Armseligeres nährt die Erde als den Menschen unter allem, was auf der
Erde Atem hat und kriecht. Da meint er, niemals werde ihm hernach ein Übel widerfahren, solange die Götter Gedeihen geben und sich seine Knie regen. Jedoch wenn
die seligen Götter auch Bitteres vollenden, so trägt er auch dieses wieder nur murrend
mit bedrücktem Mute“ (Od. 18, 130ff.).
„(...) dieses ist die Weise der Sterblichen, wenn einer gestorben ist. Denn nicht mehr
halten dann die Sehnen das Fleisch zusammen und die Knochen, sondern diese bezwingt
die starke Kraft des brennenden Feuers, sobald einmal der Lebensmut die weißen
Knochen verlassen hat, die Seele aber fliegt umher, davongeflogen wie ein Traum“
(Od. 11, 196–224).
Homer lebte im 8. Jh. v. Chr. im ionischen Kleinasien. Über seinen genauen Geburtsort
gibt es nur Vermutungen. Unter seinem Namen werden die beiden Versepen Ilias und
Odyssee tradiert. Die Ilias, die die zehnjährige Belagerung und Eroberung Trojas behandelt, ist das älteste erhaltene Großepos der europäischen Literatur. Die später entstandene Odyssee berichtet von der zehnjährigen Irrfahrt und der Heimkehr des Odysseus,
die durch göttliches Einwirken immer wieder verzögert wird. Die Frage nach dem Autor wird inzwischen durch die Annahme beantwortet, dass zum einen der schriftlichen
Fassung der Epen eine möglicherweise jahrhundertelange mündliche Tradition vorausging und dass nur die Ilias, in der uns bekannten Form, Homer zuzuschreiben ist. Gleichwohl enthalten beide Epen eine in den Grundzügen übereinstimmende Anthropologie,
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I. Die Sterblichen – Griechische Mythologie