WP 2014_01.indb - Wasser

Transcription

WP 2014_01.indb - Wasser
Nr. 1/2014
BEST BLUES
2013: DIE ALBEN DES JAHRES
• Kai Strauss Band - The
Blind Boys of Alabama 19. BluesfesƟval Luzern
• Zehn Fragen an: Bare Bones Boogie Band
• Album des Monats: Richard Bargel & Dead
Slow Stampede - It‘s
Crap!
• Texte von Uwe Saeger,
Alexander Moszkowski
Editorial
2
© wasser-prawda
Editorial
Editorial
S
echs Jahre Wasser-Prawda: Immer dann, wenn der Erscheinungstermin für die nächste pdf-Ausgabe näher rückt
und die Arbeiten am Layout kein Ende nehmen wollen,
frag ich mich, warum ich mir das eigentlich antue. Aber
die Antwort ist immer die gleiche: Weil ich Musik und gute Literatur liebe. Und weil es gerade für Blues und Soul in deutscher
Sprache kein Magazin gibt, dass auch unbekannteren Bands und
Musikern aus aller Welt Platz einräumt, dass sich nicht allein
auf die etablierten Namen stützt und das einen auch als Macher
durch die Vielfalt der Themen selbst immer wieder überraschen
kann. Und völlig einmalig ist die Kombination von Magazin und
der Radiosendung „Crossroad Cafe“ auf radio 98eins: Denn was
bringt es, begeistert über Musik zu schreiben, wenn man sie niemandem vorspielen kann?
Je mehr Autoren beteiligt sind, desto spannender wird das ganze
Unternehmen. Und auch in diesem Monat gibt es wieder einen
Neuzugang zu vermelden: Eigentlich spielt Torsten Rolfs bei der
Red Fox Bluesband in Bremen. Hier tritt er erstmals überhaupt
als Konzertkritiker in Erscheinung und beschreibt seine Eindrükke beim Auftritt der Kai Strauss Band im „Meisenfrei“. Karsten
Spehr war für uns bei der Annaberger Bluesnacht ebenso unterwegs wie beim Bluesfestival in Luzern und hat von beiden Orten
wieder Eindrücke in Wort und Bild mitgebracht. Dave Watkins
setzt seine Interviewreihe mit Musikern der Bare Bones Boogie
Band fort und Darren Weale ruft zum Optimismus auf: Der
Blues ist längst nicht so sehr am Ende, wie nicht nur Veranstalter
glauben mögen. Und wie spannend allein das Jahr 2013 im Blues
war, zeigt das Ergebnis unserer Umfrage nach den Eurer Meinung nach besten Alben des Jahres. Und das neue Jahr geht gleich
spannend los: Eine der ersten Neuerscheinungen ist „It‘s Crap!“
von Altmeister Richard Bargel und seiner neuen Band Dead Slow
Stampede.
Einen Nachteil hat ein Online-Magazin: Man hat zwar einen guten und direkten Kontakt zu den Leserinnen und Lesern ebenso
wie zu den Musikerinnen und Musikern. Doch manchmal wüsste man doch gern erfahren, wie die im „richtigen“ Leben so sind.
Wer also Lust und Zeit und die Möglichkeit hat, sollte am 14.
März in die Galerie KUB in Leipzig zur gemeinsamen Buchmessenparty des freiraum-verlags und der „Wasser-Prawda“ kommen.
Hier schließlich noch die gute Nachricht für die Leser, die der
Meinung sind, dass ein Magazin wie dieses nicht kostenlos sein
sollte: Nach einigen Anfragen haben wir auf www.wasser-prawda.
de einen Spendenbutton eingerichtet, bei dem man uns über paypal Geld zukommen lassen kann. Und wir sind wirklich über jede Unterstützung dankbar. Denn in den sechs Jahren haben wir
in das Online-Magazin nicht nur jede Menge Arbeit und Zeit
sondern auch Geld gesteckt. Laufende Kosten für Webserver und
Software sind grad in der letzten Zeit zu einem deutlichen Faktor
geworden. Erst im Dezember mussten wir auf einen größeren Server umziehen, weil der alte dem Ansturm der Leser aus aller Welt
nicht mehr gewachsen war. Wer allerdings für sein Geld noch
mehr sehen möchte, kann auch gleich Anzeigen im pdf und/oder
online buchen.
© wasser-prawda
3
Editorial
Impressum
Editorial
Die Wasser-Prawda ist ein Projekt des
Impressum
Computerservice Kaufeldt GreifsAuf Tour
wald. Das pdf-Magazin wird in Zusammenarbeit mit dem freiraumverlag Greifswald veröffentlicht und
erscheint in der Regel monatlich. Es
wird kostenlos an die registrierten
Leser des Online-Magazins www.
wasser-prawda.de verschickt.
Wasser-Prawda Nr. 01/2014
Inhalt
3
4
6
Musik
Best Blues 2013 Die Alben des Jahres
Zeit für Hobbits und den Blues?
Zehn Fragen an Trev Turley & Iain Black (Bare Bones
Boogie Band)
Eric Clapton: Relaxte Rückkehr
The Blind Boys of Alabama
Redaktionsschluss: 05. Januar
Liveberichte
Krönender Abschluss des Bluesjahres 2013
2014
Heute abend: Eine Soul-Roots-Band
23. Annaberger Bluesnacht 2013
Redaktion:
Chefredakteur: Raimund Nitz- Aus eins mach drei: Grend Blues Session expandiert
sche (V.i.S.d.P.)
Album des Monats
Redaktion: Mario Bollinger, Richard Bargel & Dead Slow Stampede - It‘s Crap!
Bernd Kreikmann,
Lüder
Rezensionen A bis Z
Kriete, Erik Münnich, Dave
2
Hurt
Mexico
City
Blues
Watkins
Andy Houscheid - Von hier aus weiter
Andy T / Nick Nixon Band - Drink Drank Drunk
Mitarbeiter dieser Ausgabe:
Axel Kowollik - Out On The Perimeter
• Gary Burnett
Blackout Country - Old Empty Dreams
• Kristin Gora
Bruce Springsteen - High Hopes
Cat Lee King vs. Mighty Mike OMB - Grits ´n Gravy
• Torsten Rolfs
Dan Sowerby - Milestone
• Matthias Schneider
David Blair - Stay In Touch
• Karsten Spehr
David Sinclair & Keith Bennett - Alchemy
• Darren Weale
Downchild - Can You Hear The Music
Die nächste Ausgabe erscheint am Gregory Hoskins & Gary Craig - The Map of Above, The
20. Februar 2014.
Map of Below
Adresse:
H&G Factory – Puttin’ 2gether
Innes Sibun - Lost In The Wilderness
Redaktion Wasser-Prawda
Kat Danser - Baptized By The Mud
c/o wirkstatt
Kirsten Thien - Solo Live from The Meisenfrei Blues Club
Gützkower Str. 83
Larry Carlton & Robben Ford - Unplugged
17489 Greifswald
Laura Cortese - Into The Dark
Tel.: 03834/535664
Live in Reitwein - Das 100. Konzert
[email protected]
Malia & Boris Blank - Convergence
Michael Mattice - Comin‘ Home
Mike & The Mellotones - 1+1=3 (feat. Enrico Crivellaro)
Anzeigenabteilung:
Mojo Blues Band - Walking The Bridge
[email protected]
Gerne schicken wir Ihnen unsere ak- Niedecken - Zosamme Alt
tuelle Anzeigenpreisliste und die Me- Otis Taylor - My World Is Gone
Port City Prophets - Mule
diadaten für das Online-Magazin und
Quique Gómez & Luca Giordano - Chicago „3011 Studios“
die pdf-Ausgabe der Wasser-Prawda
Sessions
zu. Anzeigenschluss für das pdf-MaRabbit Foot - Dark Tales Vol. 1 (EP)
gazin ist jeweils der 1. Werktag des
Sheba The Mississippi Queen - Butter on My Roll
Erscheinungs-Monats.
Stormy Monday Artist Collection - Blues & Boogie No. 6
4
8
16
18
24
26
29
38
41
44
48
50
51
51
52
52
53
54
55
55
56
56
56
57
58
58
59
59
60
60
61
62
62
63
64
65
66
66
67
67
68
© wasser-prawda
Editorial
Susan Cattaneo - Haunted Heart
The Campbell Brothers - Behind The 4 Walls
The Enzymes with The Active Ingredients - s.t.
The Mighty Bosscats - Boiling Pot
The Revelations - The Cost of Living
Tim Lothar & Holger „Hobo“ Daub - Blues from the North
Tommy Keys - Devil‘s Den
Van Christian - Party Of One
68
69
70
70
71
72
72
73
Kurz & knapp
Kaz Hawkins - Better Days (EP)
LaVendore Rogue - What‘s The Meaning Of ... (EP)
Little Wild - Victories
Raina Rose - Caldera
Roadhouse - Gods & Highways & Old Guitars
Róisin O- The Secret Life of Blue
The Harmed Brothers - Better Days
The Pepper Pots - We Must Fight
74
74
74
74
75
75
75
75
Wiederhören
Fleetwood Mac - Then Play On (Expanded & Remastered)
The South Side of Soul Street - The Minaret Soul Singles
1967-1976
Wanda Jackson - The Best of The Classic Capitol Singles
Bücher
Julius Fischer: Die schönsten Wanderwege der Wanderhure
John Powell - Was Sie schon immer über Musik wissen
wollten
76
76
77
78
80
Sprachraum
Alexander Moszkowski - Der Neurosenkavalier
Uwe Saeger - Faust Junior
82
86
Fortsetzungsroman
Robert Kraft - Die Vestalinnen
© wasser-prawda
114
5
Musik
Auf Tour
05.02. Roots in t‘Groen, Geldrop (NL) (ganztägig)
Al Jones Trio
06.02. De Keulse Kar, Den
14.02. Eiscafe Temmler, Chem- Bosch (NL) (ganztägig)
nitz (Zschopauer Str. 178)
08.02. De Muzikant, Neerkant
(NL) (ganztägig)
BabaJack
09.02. Ace Cafe, Gel (BG)
www.breakingblues.com
(ganztägig)
04.02. Chabah, Kandern
15.02. Ibiza, Raisting (ganztä05.02. Mehlsack, Emmendin- gig)
gen
21.02. Blue Note, Dresden
06.02. Yard Club, Köln
(ganztägig)
07.02. Vivarium, Höslwang
28.2. Galerka, Novy Jucin
(CZ) (ganztägig)
10. Blues Caravan 2014
07.03. Culturcafe M, Dohna
Mit Laurence Jones, Christina (ganztägig)
Skjolberg, Albert Castiglia
08.03. Hotel Seeburg, Luzern
24.01. Rheine, Hypothalamus (CH) ganztägig
25.01. Berlin, Quasimodo
26.01. Nürnberg, Hirsch
Richard Bargel & Dead
28.01. Bensheim, Rex
Slow Stampede
29.01. Karlsruhe, Jubez
www.richardbargel.de
30.01. Stuttgart, Merlin
25.01.Köln, Altes Pfandhaus
31.01. Offenburg, Reithalle
29.01.Fürth, Kofferfabrik
01.02. Koblenz, Café Hahn
30.01.Stuttgart, Laboratorium
02.02. Dortmund, Piano
01.02.Brühl,
Galerie
am
04.02. München, Garage DeSchloss
luxe
13.02. Pulheim, Kultur- und
05.02. Aschaffenburg, ColosMedienzentrum
Saal
14.02.Wuppertal, Bürgerbahn06.02. Hamburg, The Rock
hof
Café
27.02.Hamburg, Cotton Club
07.02. Worpswede, Musichall
28.02.Lübeck, Rider’s Café
08.02. Hannover, Blues Ga01.03.Husum, Speicher
rage
The Toy Hearts
09.02. Bonn, Harmonie
Bluegrass & Western Swing
24.01. Marbach Schlosskeller
Captain’s Diary
31.01. Oberhausen, Druckluft 25.01. Nürnberg Loni Übler
Haus
07.02. Krefeld, Werkhaus
28.01. Berlin tba
Cologne Blues Club
30.01. Hildesheim Bischofs17.02. Waldhaus, Weil a.Rhein mühle
08.03. Grend, Essen
31.01. Stuhr Ratssaal
01.02. Neustadt Wespennest
Jesper Munk
02.02. Kassel Kreuzkirche
23.03. Dresden, Puschkin,
25.03.Hamburg, Rock Café
Clubs
St.Pauli
Barnaby‘s Blues-Bar
Paul Batto Jr.
(Braunschweig)
www.batto.org
25.01. Second Service
25.01. Auszeit, Bruckmühl
01.02. Hannes „Feuer“ Bauer
02.02. Cafe Camille, Beverwi- 26.02. Mitch Ryder
15.03. Aynsley Lister Band
jk (NL) (ganztägig)
6
Bistro Auszeit
Vagener Str. 7, Bruckmühl
25.01. Paul Batto Jr
21.02. „Sir“ Oliver Mally
27.02. Sixpack
15.03. Haute Volee
Blues im Bahnhof
Bahnhof Mannheim. Eintritt
frei.
28.02.: Mz. Dee & Maurizio
Pugno Organ Trio feat. The
Sublimes
28.03. Harriet Lewis & Gregor Hilden Band
11.04. Paul Lamb & The King
Snakes
16.05. Zydeco Annie & the
Swamp Cats
20.06. Norbert Schneider &
Winestreet Session
05.09. El Ville Blues Band
10.10. Black Cat Bone
07.11. Abi Wallenstein, Dave
Goodman, Oliver Spanuth,
Steve Baker
Bluesgarage Isernhagen
24.01. Carl Carlton
25.01. Vdelli
31.01. THE STATESBORO
REVUE
02.02. Jeremy Spencer &
Bluespower
06.02. Dr. Feelgood
07.02. Wishbone Ash/Cliff
Stevens Band
08.02. RUFs Blues Caravan
13.02. Andy Fairweather Low
& The Low Riders
14.02. Rhino Bucket
15.02. The Blues Band
22.02. Big Daddy Wilson
28.02. Kamchatka
Cafe Hahn Koblenz
24.01. Axel & Thorsten Zwingenberger
25.01. Wishbone Ash/Cliff Stevens Band
27.01. Adam Baldych & Yaron
Herman
18.03. Tamikrest
20.03. Duke Robillard & Band
Chabah
© wasser-prawda
Musik
79400 Kandern
29.01. Dallas Hodge & Andy
Egert Blues Band
05.02. BabaJack
19.02. Rob Tognoni
22.02. Rich & Famous
26.02. Jimi Barbiani Band
Cotton Club Hamburg
24.01. Farmer‘s Road Blues
Band
27.01. Guy Weber
29.01. J.J. & Big City Blues
30.01. One Trick Pony
10.02. Henry Heggen, Jaspa
Prepula, Andreas Bock, Niels
von der Leyen, Jan Mohr
27.02. Richard Bargel & Dead
Slow Stampede
11.03. Hans Theesink
22. Februar, 20 Uhr, Jan
Hengsmith
03.05. Thilo Martinho
Laboratorium
(Stuttgart)
23.-25.01. Grachmusikoff
07.02. The Blues Band
27.03. Blues Company
Late Night Blues
(Loev Hotel Binz/Rügen)
15.02. Amy Zapf & Martin
Scheffler feat. Kat Baloun
22.03. Tommy Harris & Band
Beginn jeweils 21 Uhr
Meisenfrei
(Bremen Hankenstr.)
28.01. The Statesboro Revue
30.01. Blues Shop Trio/Green
Blues Band
Downtown Bluesclub
31.01. Soulala
Hamburg
01.02. Most Fabulous Long
29.01. Bernard Allison
Gone Dicks
05.02. Vdelli
05.02. Blue Silver
08.02. Dr. Feelgood
08.02. Voodoo Child
12.02. Ben Poole
11.02. Michael Katon
22.02. Clem Clempson Band 12.02. Khalif Wailin‘ Walter
feat. Mike Seeber
13.02. Johnny Rieger Band
26.02. Lisa Doby
18.02. Rhino Bucket
28.02. Mitch Ryder & Enger- 20.02. Mad Dog Blues Band/
ling
Bremen Blues Band
05.03. Tommy Schneller
27.02. Mitch Ryder & Enger07.03. Hundred Seventy Split
ling
Extra Blues Bar
Bielefeld
22.02. The Devil n Us
01.03. Freeborn Brothers
08.03. Johnny Rieger Band
Music Hall Worpswede
29.01. Andy McKee
31.01. Jasper van‘t Hof‘s PiliPili
01.02. Konstantin Wecker
07.02. Blues Caravan
08.02. Wishbone Ash
Hirsch Nürnberg
14.02. Andy Fairweather Low
29.01. Che Sudaka
20.02. Wingenfelder
30.01. Wishbone Ash
21.02. Helen Schneider
04.02. Dr. Feelgood
22.02. Gustav Peter Wöhler
11.02. Andy Fairweather Low 27.02. Chris Norman
& The Low Riders
28.02. Ewan Dobson
12.02. Heinz Rudolf Kunze
13.02. Vdelli
Musiktheater Piano
17.02. Eric Gales Band
(Dortmund)
24.01. Vdelli
Kulturspeicher
02.02. Blues Caravan
(Bergstraße, Ueckermünde)
09.02. Dr. Feelgood
25. Januar 2014, 20 Uhr, Pete
14.02. The Blues Band
Gavin
21.02. Mitch Ryder
© wasser-prawda
Musiktheater Rex
(Bensheim)
23.01. Vdelli
28.01. Blues Caravan 2014
30.01. Lydie Auvray
06.02. The Blues Band
07.02. Konstantin Wecker Solo
11.02. Hundred Seventy Split
14.02. Rob Tognoni & Band
20.2. Ben Poole & Band
21.02. Lake
O‘Man River
(Friedensstraße, Heringsdorf)
24.01. Frank Plagge
31.01.. Catfish
07.02. Eric Lenz
14.02. Angela Klee
21.02. Peter Schmidt
Räucherei Kiel
07.02. Jessy Martens & Band
15.02. 16. Kieler Blues Festival (mit Big Bill Morganfield,
Mick Pini Band und Baltic
Blues Connection)
Schwarzer Adler
(47495 Rheinberg)
26.01. Bernard Allison &
Band
15.02. Ben Poole & Band
23.02. Mitch Ryder & Band
02.03. Kralle & Friends
08.03. Jessy Martens & Band
Yorkschlösschen
(Yorkstr. 15, Berlin)
24.01.Elise Eissmann Quintett
25.01.Swing Kong
26.01. The Vergil Segal Trio
29.01. Piano Power Station
31.01.Das SpreeTonOrchester
01.02. Black Kat & Kittens
05.02. Eb Davis & Superband
07.02. Fuasi‘s Ebony Quartet
08.02. Mike Russell Band
12.02. Al Jones Bluesband
14.02. First Class Blues Band
15.02. Ingrid Arthur & Band
19.02. Guitar Crusher & The
Mellotones
21.02. Ulrike Haller & Loomis Green
7
Musik
Best Blues 2013 Die
Alben des Jahres
Die Alben des Jahres 2013 stammen nach Meinung der Leser der Wasser-Prawda von Nina van
Horn, Big Daddy Wilson, Ry Cooder und Gov‘t
Mule. Bestes deutsches Album ist „Blue Shadow“ und als bestes Debüt wurde „For In My Way
It Lies“ von Jesper Munk gewählt. Und dass die
Leser unseres Magazins nicht nur Blues mögen,
wird am Ergebnis der neuen Kategorie „Critics
Choice“ sichtbar: Hier gewannen Black Sabbath
mit ihrem Album „13“. Eine Auswertung von Raimund Nitzsche.
Die Zahl Eintausend bei den Teilnehmerinnen unserer Umfrage
haben wir 2013 nicht erreicht. Trotz diverser Ausfälle des Webservers konnten wir die Stimmen von 957 Lesern in das Ergebnis
einbeziehen. Doch wie Murphys Gesetz so spielt, gab es auch dabei noch Probleme. Zwei Alben aus der Kategorie „Blues (elektrisch)“ waren plötzlich aus der Datenbank verschwunden. Und
natürlich gab es auch von unserer Seite einen Fehler: „Shout!“ von
Gov‘t Mule ist natürlich kein Live-Album. Da dieser Fehler erst
nach Beginn der Umfrage erkannt wurde, konnten wir ihn nicht
8
© wasser-prawda
Musik
mehr korrigieren. Doch beim Ergebnis haben wir die Scheibe
zum „Bluesrock“ verschoben. Und dort war es mit 240 Stimmen
der Gewinner.
Blues (elektrisch)
Nina van Horn schlägt Buddy Guy und Ana Popovic? Damit hätte ich nun wirklich nicht gerechnet. „Seven Deadly
Sins“ ist ja nun nicht der wirklich einfache Stoff. Das Konzeptalbum über die Todsünden in unserer heutigen Welt
ist sperrig und unbequem. Aber die von John H. Schiessler
komponierten und von Nina van Horn getexteten Stücke
zeigen eben auch, dass Blues sich einmischen kann und soll.
Interessant wird die Rangfolge ab Platz 3: Hier finden sich gleich
mehrere Alben jüngerer Musiker. Ob nun der funkig-rockende
Soulblues von Ana Popovic oder Will Wildes rauhe Bluesharp:
Diese Musiker zeigen auf ganz verschiedene Weise, wie man im
21. Jahrhundert den Blues am Leben halten kann.
1. Nina Van Horn - Seven Deadly Sins
362
2. Buddy Guy - Rhythm & Blues 245
3. Ana Popovic - Can You Stand The Heat? 153
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
14.
15.
16.
17.
18.
Will Wilde - Raw Blues
Morblus - Green Side
Ian Siegal & The Mississippi Mudbloods - Candy Store Kid
Big Bill Morganfield - Blues With A Mood
Chicago Blues All-Stars - Red, Hot & Blue
Tom Principato - Robert Johnson Told Me So
Zoe Schwarz Blue Commotion - The Blues Don‘t Scare Me
Mátyás Pribojszki Band - Treat
Smokin Joe Kubek & Bnois King - Road Dog‘s Life
Johnny Rawls - Remembering O.V.
John Primer & Bob Corritore - Knockin‘ Around These Blues
David Migden & The Dirty Words - Killing It
Brian Houston - Mercy (Jesos Don‘t Forget My Name)
Frank Bey And Anthony Paule Band - Soul For Your Blues
Andy Poxon - Tomorrow
Blues (akusƟsch)
Bei einem neuen Label und im Studio mit einer ganz neuen Band - Big Daddy Wilson hat auf dem von Staffan Astner produzierten Album den klassischen Akustikblues in
der Nachfolge von Eric Bibb deutlich ausgeweitet: Seine
Lieder können jetzt auch nach Chicago in den 50er Jahren
oder nach jazzigem Blues der 20er klingen. Doch immer
sind sie tröstende und predigende Songs des Songwriters.
Er singt voller Kraft und Selbstbewusstsein davon, dass die
Dinge sich ändern werden. Wilsons Lieder nehmen diese
Welt nicht als unabänderlich hin. Sie finden sich mit den
Verhältnissen nicht einfach ab. Doch Veränderung kommt
immer aus dem Inneren, aus der Seele und dem Glauben.
© wasser-prawda
9
Musik
Plazierungen von Eric Bibb oder Guy Davies sind nicht überraschend. Als Redakteur freue ich mich aber auch hier, dass die Leser
meinen Geschmack häufig teilen: Sowohl „House Call“ des Kanadiers Marshall Lawrence als auch „Running Man“ der britischen
Band BabaJack gehörten für mich zu den bemerkenswertesten Entdeckungen des Jahres.
1. Big Daddy Wilson - I‘m Your Man
2. Eric Bibb - Jericho Road 196
3. Marshall Lawrence - House Call 111
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
14.
15.
209
BabaJack - Running Man
Guy Davis -Juba Dance
Dave Riley & Bob Corritore - Hush Your Fuss
Paul Lamb & Chad Strentz - Goin‘ Down This Road
The Claudettes - Infernal Piano Plot … HATCHED!
Thomas Ford - Breaking Everything But Even
Kyle & Moore - The Whale & The Wa‘ah
Fran McGillivray Band - Some Luck
Half Deaf Clatch - A Road Less Travelled
HowellDevine - Jumps, Boogies & Wobbles
Bottleneck John - All Around Man
Wooden Horse - This Kind of Trouble
Bluesrock
Es sind nicht nur die einsamen Gitarrenhelden, die heutzutage im Bluesrock überzeugen können. Sowohl Gov‘t Mule
als auch die Tedeschi Trucks Band stehen für die Tradition
der Jambands, sie verbinden Rock und Blues mit Soul und
Funk, wenn es sein muss auch mit Reggae oder anderen Sti-
10
© wasser-prawda
Musik
len. „Ist das noch Blues?“, fragen sich Bluespolizisten verzweifelt. Völlig egal: Bands wie diese sind live und auf Platte
lebendiger und spielfreudiger als ein großer Teil sämtlicher
Rockveröffentlichungen, die sonst zu finden sind.
1. Gov‘t Mule - Shout
2. Tedeschi Trucks Band - Made Up Mind
3. Layla Zoe - The Lily
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
14.
15.
16.
17.
18.
19.
20.
21.
240
140
132
Dana Fuchs - Bliss Avenue
The Tribes with Zach Prather - Ju Ju Man
Trampled Under Foot - Badlands
Mike Zito & The Wheel
King King - Standing In the Shadows
Anders Osborne - Peace
FSamantha Fish - Black Wind Howlin
JJ Grey & Mofro - This River
Cyrill Neville - Magic Honey
James Boraski & Momentary Evolution - Comin Home
Southern Hospitality - Easy Livin‘
Sean Chambers - The Rock House Sessions
Moreland & Arbuckle - 7 Cities
Lightnin Malcolm - Rough Out There
Soulstack - Five Finger Discount
Monkey Junk - All Frequenzies
Rhino Bucket - Sunrise on Sunset Boulevard
Bare Bones Boogie Band - Tattered & Torn
© wasser-prawda
11
Musik
Live-Album 2013
Ob Ry Cooders mitreißende Mixtur aus Folk, Blues und
Texmex, der großartige Southernrock der Royal Southern
Brotherhood oder Eric Claptons Gipfeltreffen der Gitarristenszene beim Crossroad Festival 2013: Man fühlt sich mittendrin - und bedauert gleichzeitig, nicht dabei gewesen zu
sein.
1. Ry Cooder & Corridos Famosos - Live At The Great
American Music Hall
2. Royal Southern Brotherhood - Songs from the Road:
Live In Germany
12
214
176
© wasser-prawda
Musik
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
„Various - Crossroads Guitar Festival 203“
Roomful of Blues - 45 Live
Lucky Peterson - Live At The 55 Arts Club Berlin
Various - Remembering Little Walter
Mark „Bird“ Stafford - Live At The Delta
Murali Coryell - Live
Roland van Campehout - Dah bluez iz-a-commin
168
Blues (naƟonal)
Dieses Ergebnis - und vor allem die Höhe - kamen für mich
äußerst überraschend. Klar. „Blue Shadow“, das Debüt der
GProject Blues Band ist ein gutes Album und hat mit Liedern wie „100 Buck“ und „Downtown“ echte Hits zu bieten. Doch dass die Band fast doppelt so viele Stimmen auf
sich vereinen kann als 3 Dayz Whizkey und fast 400 mehr
als Henrik Freischlader? Hier macht sich die Macht einer
guten Fanbindung in Zeiten des Internets bemerkbar.
1. GProject Blues Band - Blue Shadow
2. 3 Dayz Whizkey - Black Water
3. Henrik Freischlader - Night Train To Budapest
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
628
332
251
Beige Fish - Down Home Shuffle
Jesper Munk - For In My Way It Lies
Cologne Blues Club - Hanging By A Thread
The Dynamite Daze - Tango With The Devil
Timo Gross - Landmarks
Hamburg Blues Band - Friends for a LIVEtime Vol. 1
Marshall X - Broke Busted & Blue
© wasser-prawda
13
Musik
11.
12.
13.
14.
The Leadbelly Project - Play The Jailhouse Blues
Boogielicious - Boogie ALIVE
Bluesin‘ The Groove feat. Adam Hall - Mess Around
Thomas Scheytt - Blues Colours
Bestes Debüt 2013
In keiner anderen Kategorie (abgesehen von der „Critics Choice“)
ist die stilistische Bandbreite größer als bei den Debütalben. Da
ist der Art-Blues des Cellisten Calum Ingram zu finden oder die
wundervolle britische Sängerin Jo Harman. Gewonnen haben allerdings drei doch eher traditionelle Scheiben.
Ein rothaariger Jüngling hat 2013 gleich mit seinem Debüt die
Medien auch jenseits der Bluespresse begeistert: Jesper Munks Album „For In My Way It Lies“ ist eine schöne Mixtur aus Blues, Jazz
und Rock und macht neugierig auf mehr. Vergleiche zu Jack White
oder Jake Bugg weist der Musiker in aller Bescheidenheit von sich.
Von der Begleitband des Vaters über den Blues Caravan hin zum
eigenen Album: Cassie Taylor ist auf „Out Of My Mind“ ähnlich
vielseitig: Von traditionellen Bluesklängen bis hin zu psychedelischen Bluesrockexkursionen reicht die Bandbreite.
Wesentlich traditioneller geht es auf „Rough Cut“, dem Solodebüt
des Sängers und Gitarristen Allen Vega zu: Kalifornische Leichtigkeit, engagierte Texte und eine Gitarre, die auch beißen und heftig
werden kann, treffen hier aufeinander.
1. Jesper Munk - For In My Way It Lies
2. Cassie Taylor - Out Of My Mind
3. Allen Vega - Rough Cut
184
132
122
4. Jo Harman - Dirt On My Tongue
14
© wasser-prawda
Musik
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
Lisa Cee - My Turn
Calum Ingram - Making It Possible
Rabbit Foot - Swamp Boogie - s.T,
Loretta and the Bad Kings
Forty4 - 44 Minutes
GT‘s Boos Band - Steak House
Andy T - Nick Nixon Band - Drink Drank Drunk
CriƟcs Choice
Es gibt soviel mehr Musik, die gut ist, aber kein Blues. Das
war die Erkenntnis, die uns bei der Aufstellung unserer
Bestenlisten kam. Und all das, was man in die bisherigen
Kategorien nicht packen konnte, fand hier seinen Platz.
Gewonnen hat Black Sabbath mit ihrem traditionellen
Metal. Auf den Plätzen: Der leider verstorbene Gitarrist
Bob Brozman mit seiner akustischen Weltmusik und ein
Rückblick auf die ersten 60 Jahre des Blueslabels Delmark,
1. Black Sabbath -13
2. Bob Brozman -Fire In Mind
3. Various - Delmark: 60 Years of Blues
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
244
125
119
HISS - Das Gesetz der Prärie
Pokey LaFarge - Pokey LaFarge
Norbert Schneider - Schau mer mal
Mojo Juju - Mojo Juju
Samba Touré - Albala
Vinz - The Birth of Leon Newark
Charles Walker & The Dynamites- Love Is Only Everything
© wasser-prawda
15
Musik
Darren Weale’s . Brief aus dem Vereinigten
Königreich
Zeit für Hobbits und
den Blues?
Wˎ˕ˌ˘˖ˎ ˝˘ ˝ˑˎ Lˎ˝˝ˎ˛ ˏ˛˘˖ ˝ˑˎ U˗˒˝ˎˍ K˒˗ːˍ˘˖
L
etztens hatte ich Spaß dran, den zweiten Teil des Films „Der
Hobbit“ anzusehen. Es ist eine Geschichte, in der unerwartete Dinge passieren. Ein Hobbit, eine kleine und bescheidene Kreatur wird gegen alle Erwartungen zum Helden.
16
© wasser-prawda
Musik
Einige Zeit hat es so ausgesehen, dass sich die Erwartungen gegen die Popularität von Live-Musik gehäuft hätten. Viele amerikanische Musiker, die ich kenne, haben gesagt, dass die LiveSzene in den Vereinigten Staaten außerhalb der Festivals schwach
ist. Es gibt nur sehr wenige gute Läden dafür, selbst in einigen
traditionellen Zentren des Blues wie Detroit und Chicago. Man
sagt ebenso, dass Großbritannien nur wenig besser ist und man
weltweit die beste Live-Szene in Europa und Skandinavien finden
kann. Natürlich, die Rezensionen haben hier nicht geholfen. Vielen Leuten fehlt das Geld, regelmäßig zu Live-Konzerten gehen
zu können. Noch mehr Menschen, besonders jüngere, bevorzugen mehr modernere Musik wie Hip-Hop, Drum and Bass und
was heute so als RnB bezeichnet wird. Der Aufstieg von HeimUnterhaltung, besonders des Fernsehens und Spielkonsolen hält
die Leute zu Hause. Wo also sind die großen musikalischen Helden, die bekannten Namen des Blues? Die werden entweder alt
(Clapton, B.B. King, die Stones) oder sind nicht mehr auf ihrem
gewohnten Level. Das Wort „Blues“ selbst hilft auch nicht. Es
impliziert, dass die Musik den Zuhörern den Blues gibt, während
sie ihn in Wirklichkeit fort nehmen kann.
Wie auch immer: Es gibt Gründe für Optimismus. Der Blues
ist voller aufstrebender junger Talente. Einige würden einwenden
- und Otis Grand etwa hat das deutlich getan - dass viele der jungen Gitarren-Helden keine Verbindung zu den echten Bluestraditionen mehr haben. Ich hab eine gewisse Sympathie für diese
Sichtweise, weiß aber auch, dass es gut ist, wenn Zuhörer durch
die jungen Spieler ihren Weg hin zu den früheren Bluesmusikern
finden. Und es gibt da draußen auch viele Spieler, die eine starke
Beziehung zu Klassikern des Blues wie Leadbelly oder Charlie
Patton haben. In Großbritannien etwas gehört Danny Kyle dazu,
ein Mann, dessen Musik man inzwischen bei Preisverleihungen
erwähnt, seit sie reif geworden ist. Ebenso hat man einiges Geld
in Schulen und Universitäten für Musik ausgegeben, um dem
Blues Aufmerksamkeit zu verschaffen. Ein weiterer Pluspunkt ist
die Technologie. Da die großen Plattenfirmen scheinbar nicht viel
unternehmen, um Bluestalente zu fördern, ist es hilfreich, dass
Künstler ihre Musik selbst veröffentlichen können und zahlreiche
Funk- und Internet-DJ‘s haben, die ihre Musik verbreiten - so wie
beim „Crossroad Café“ auf radio 98eins. Auch das „intelligente“
Geräte wie Smartphones immer beliebter werden, ist hilfreich.
Einige der Leute, die dort für die Inhalte verantwortlich sind,
stellen fest, dass hier Blues-Musik auf sie wartet. Und selbst die
Rezessionen mit dem Elend, das sie verursachen, können helfen,
die Attraktivität der Musik zu steigern, die den Geist der Menschen in schwierigen Zeiten feiert. So könnten selbst die Dinge,
die die Popularität des Blues geschädigt haben, ihm jetzt helfen.
Lasst uns hoffen, dass es so kommt, denn es wird den Menschen,
die den Blues haben, helfen, den Blues zu hören.
Links
Alistair Cooke - www.bbc.
co.uk/programmes/b00f6hbp
Crossroad Café radio 98eins
- www.98eins.de/
Danny Kyle - www.dannykyle.com/
Otis Grand - http://www.
otisgrand.com
Bˎ ˙˛˘˜˙ˎ˛˘˞˜ ˊ˗ˍ ˎ˗˓˘ˢ ˢ˘˞˛ ˕˒˟ˎ
˖˞˜˒ˌ ˊ˗ˍ ˊ˕˕ ˝ˑˊ˝ ˒˜ Gˎ˛˖ˊ˗!
© wasser-prawda
17
Musik
Eine Gesprächsreihe von Dave Watkins
Bare Bones Boogie Band (Foto:
Mike McAdam)
Zehn Fragen an Trev Turley &
Iain Black (Bare Bones Boogie
Band)
Vom Garagenbluesrock hin zu einer stark dem Soul verpflichteten und im Blues verwurzelten Rockmusik: Die
Bare Bones Boogie Band hat in den letzten Jahren eine faszinierende Entwicklung vollzogen. Deutlich wurde das unter anderem mit ihrem jüngsten Album „Tattered & Torn“.
Die zehn Fragen von Dave Watkins beantworteten Bassist
Trev Turley und Gitarrist/Songwriter Iain Black (Fragen
6&7). Und ehe jemand an Druckfehler denkt: Frage 4
wurde von ihnen ausgelassen.
1: Was war Dein frühester Musikgeschmack und wie hast Du
die Welt des Blues entdeckt?
Es wird so langsam bekannt, dass ich mit Prog Rog aufgewachsen und davon beeinflusst wurde. Am meisten hat mich da King
Crimson beeinflusst, die ich noch immer mag. Der Blues-Effekt
18
© wasser-prawda
Musik
kam von The Groundhog und Cream. Auf die hatte mich ein
Schulfreund aufmerksam gemacht. Es waren die Groundhogs,
bei denen ich erstmals echte „Live“-Musik erlebte, als sie als Vorband für die legendären Canned Heat spielten. Damit war meine
Taufe komplett.
2: Wer waren die Künstler, die dich dazu brachten, dass Du diese Musik spielen wolltest. Und wann stelltest Du fest, dass Du
dazu das Talent hast?
Als Heranwachsender hörte ich eine Menge Bands und Musiker,
wie gesagt hauptsächlich Prog Rock, aber da waren Bruchstükke von Blues drin verwoben. Ich glaub, die beiden ersten LedZeppelin-Alben haben bei mir die Motivation geweckt, selbst zu
spielen. Das wusste ich damals noch nicht, das war vielleicht ein
eher unbewusster Vorgang!
Ich würde gerne glauben, dass mein Spiel immer aus dem Herzen
und nicht vom Kopf her kommt, es gab also keinen besonderen
Moment, an dem mir klar wurde, was ich mache. Das hat sich
im Laufe der Jahre eingeschlichen. Ich ziehe meinen Hut von den
meisten Spielern zur Zeit: Es ist immer wieder ein Vergnügen zuzuhören und zu lernen.
3: Deine ersten Aufnahmen - hörst Du sie immer noch an? Wie
beurteilst Du sie heute? Und gibt es welche, die Du nicht mehr
anhören würdest?
Ich höre mir gelegentlich das erste Album der Bare Bones Boogie
Band „Red“ und das zweite „Blue“ an. In bestimmten Phasen
grabe ich das ältere Zeug aus. Und es ist sehr interessant zu hören,
wie wir uns als Band mit jedem Album entwickelt haben, nicht
nur spielerisch sondern auch vom Stil und den Liedern her. Das
Songwriting von Gitarrist Iain ist mit jedem Album kompletter
und erwachsener geworden. Und selbst Schlagzeuger Andy hat
sich im Laufe der Zeit als Songwriter betätigt. Und auf dem neuen Album „Tattered & Torn“ gibt es sogar ein Lied , das Helen,
Andy und mich als Verfasser benennt. Ich bewerte die einzelnen
Alben nicht, weil ich merke, dass sie in Stil, Feeling, Songwriting
und Beteiligung der Bandmitglieder unterschiedlich sind, sie sind
Zeichen für einen Reifungsprozess. Und ich werde immer wieder
zu ihnen zurück kommen und sie mit frischen Ohren anhören.
Wenn Du so eine starke Sängerin mit einem einzigartigen Talent
wie Helen in einer Band hast, kannst Du die Musik nicht einfach
kategorisieren oder gar ignorieren.
5: Wie schwer ist es, von seiner Musik zu leben? Und gibt es irgend etwas, dass diese Ziel für alle Musiker einfacher erreichbar
machen würde?
Ich/wir machen das allein aus dem Vergnügen, Musik zu spielen,
besonders gemeinsam in der BBBB. Die finanzielle Seite ist eine
andere Geschichte, aber meiner Meinung nach sind wir in der
bequemen Lage, dass sich die Sache selbst trägt.
Dieses Geschäft ist voll verschiedener Charaktere, allein dadurch,
was geschieht, und welche Leute davon angezogen werden. Wie
in jedem Geschäft braucht man die Tiefpunkte, um die guten
zu schätzen, sie geben dem Ganzen einen Maßstab. Klar gibt es
überall Raum für Verbesserungen, ob nun musikalisch, bei der
Performance, in der PR oder dem Business allgemein. Denn heut-
© wasser-prawda
19
Musik
zutage geht es eben nicht nur darum, die Musik zu spielen. Man
muss sich bewusst sein, was um einen herum passiert und sich
aktiv einbringen, um der Band/dem Künstler ein scharfes Profil
zu geben. Es geht immer um das komplette Paket. Mit all den
anderen in der Bluesszene sind wir ziemlich glücklich, die meisten
von uns neigen dazu, einander zu helfen und sich umeinander zu
kümmern. Und das macht es so attraktiv. Wir sind wie eine große, glückliche Familie.
6: Auf welchen Deiner eigenen Songs bist Du besonders stolz?
Erzählst Du uns die Geschichte hinter dem Lied?
Iain Black: Das ist eine sehr schwierige Frage! Ich liebe sie alle
gleich, ganz sicher in der Zeit, wo ich sie schreibe. An welchem
Song ich im Moment gerade arbeite, das ist normalerweise mein
Favorit. Klar ist es großartig, die fertigen Versionen zu hören, sich
die endgültigen Aufnahmen anzuhören oder zu hören, wenn wir
sie live spielen und mitzubekommen, wie der Rest der Band sich
der Songs angenommen haben und das Lied zu einer Performance
der ganzen Gruppe gemacht haben.
Im Fall das Albums „Tattered & Torn“ bin ich stolz auf die ganzen eigenen Stücke. Ich hatte mich wirklich auf die Qualität der
Lieder konzentriert und bin sehr zufrieden mit den Ergebnissen.
Die Story hinter „Love Like Leather“ ist die einer Beziehung, die
durch Dick und Dünn gehalten hat. Und auch wenn sie ein wenig
zerschrammt und abgenutzt sein mag, hat sie zusammengehalten,
weil sie auf sicherer Grundlage ruht. Das Stück begann mit dem
Titel, der meiner Meinung nach großartig klang und Möglichkeiten für verschiedene interessante Themen bot. Und er klang wie
Rock&Roll! Der Text ist teilweise beeinflusst durch„Wild Horses“ von den Rolling Stones, das eine Liebesaffäre beschreibt, die
alle denkbaren harten Zeiten überlebt hat. Ich hab massenhaft
Textzeilen geschrieben, aber ich brauchte Monate, um Musik und
Melodie zu finden. Ich hab Mengen verschiedener Ideen probiert,
und jedes Mal hätte das Lied ganz anders geklungen. Doch ich
fand, keine der Kompositionen wäre der Qualität des Textes angemessen bis mir endlich die Idee für die endgültige Musik kam.
Damals war ich in einem Cottage in Wales umgeben von einer
wunderbaren und inspirierenden Landschaft. Als ich endlich
die Musik hatte, die zum Text passte, da fügte es sich fast sofort
zum endgültigen Lied zusammen. Die Band hat es sich ziemlich
schnell angeeignet, und wir spielen es sehr gerne. Auch die Zuhörer mögen es, und das rechtfertigt all die Mühen!
7: Wenn Du Dich zum Schreiben hinsetzt, was kommt zuerst der Text, die Melodie oder die Idee für ein ganzes Lied?
Iain Black: Ich schreib normalerweise Lieder auf einem von drei
verschiedenen Wegen. Manchmal steht am Anfang ein Riff oder
eine Akkordfolge, zuweilen hab ich zuerst ein paar Verse. Oder
aber ich finde Text und Melodie zusammen. Bei „Love Like Leather“ hatte ich die Verse einige Monate bevor ich Musik und Gesangsmelodie finden konnte, die dazu passten. „Appreciation“ war
das komplette Gegenteil. Das Hauptriff spielten wir alle einige
Wochen, bevor ich es schaff te, den endgülten Text dazu zu schreiben. Die letzten Teile schrieb ich noch immer, als Helen in die
Gesangskabine ging, um das Lied für das Album einzusingen.
Für „Passion and Pain“ schrieb ich die Gesangsmelodie und den
20
© wasser-prawda
Musik
Text während eines Spaziergangs und arbeitete die zur Melodie
passenden Akkorde aus, als ich nach Hause gekommen war.
In anderen Momenten sitze ich einfach und improvisiere auf der
Gitarre, bis sich ein gutes Riff oder eine Akkordfolge entwickelt.
Und normalerweise höre ich darüber ziemlich schnell eine Melodie darüber. Dann spiele ich sie immer wieder und füge Lyrics
dazu. Zu dem Zeitpunkt bekomme ich vielleicht einen Vers und
den Refrain zusammen. Und in den nächsten paar Tagen und
Wochen kommen dann die anderen Verse, üblicherweise beim
Spaziergang oder auch im Zug oder der U-Bahn. Oder ich hab
ganz großes Glück und bekomme den ganzen Song in einem Anlauf zusammen. Das passierte bei „Time To Be Free“.
Wie auch immer ich die Hauptteile des Liedes finde, arbeite ich
eine ganze Weile daran, um sie auf bestmögliche Weise zusammen zu bauen: Strophen, Refrains, Intros, etc. Dann nehme ich
ein Demo auf oder spiele das Stück der Band live vor. Schließlich
jammen wir alle dazu und schiebe vielleicht einige Teile herum,
erweitern oder kürzen sie bis alles passt und wir alle damit zufrieden sind. Die letzte Stufe ist, das Lied live zu spielen. Ein Song
wird immer ein eigenes Wesen, nachdem Du ihn ein paar Male
live gespielt hast!
© wasser-prawda
BHelen Turner (BBBB) (Foto:
VOX/Laurence Harvey)
21
Musik
8. Erzähl uns was über das Lieblingsinstrument in Deiner
Sammlung. Gibt es irgend ein anderes Instrument, dass Du
gerne hättest oder spielen lernen möchtest?
Das ist einfach. Ich habe einen Guild M85 Bass, der hat einen
prima Klang, spielt sich wie ein Traum und ist überdies ein echter
Hingucker. Ehrlich: Ich fühlte mich vom ersten Tag von dem
Bass angezogen, also war all das andere eigentlich nebensächlich.
Sollte jemand einen Gibson EB-3 übrig haben und ihn nicht mögen, dann wäre ich mehr als glücklich, ihn zu übernehmen. Ich
mag den, den Andy Fraser bei Free gespielt hat...
9. Wo möchtest Du Deine Karriere gerne hinführen sehen in
der Zukunft? Was sind Deine wichtigsten Ziele?
Ich habe keine großen Ambitionen, aber ich will weiterhin Spaß
an der Musik haben und so viel wie möglich live spielen. Aber der
neue Vorsatz lautet: Qualität statt Quantität.
10: Was machst Du außer Musik am liebsten?
Musik umfasst so ziemlich alles. Ich höre eine Menge, auch eine
Menge verschiedener Stile. Selbst wenn ich in Urlaub fahre, ist
da immer irgendeine musikalische Herausforderung dabei. Meine
Frau und ich sind vor einigen Jahren den US Blues Trail entlang
gezogen, die „Crossroads“, Memphis, Clarksdale und so weiter. Ich
endete sogar damit, dass ich mit Steve Holley, Paul McCartney‘s
altem Drummer jammte. Und das war in B.B. Kings Club in
New York.
Zusatzfragen:
1: Du hast ja Spaß an Prog Rock - wird die Bare Bones Boogie Band
irgendwann auch Prog Blues spielen?
Höchst unwahrscheinlich. Ich persönlich mag ja den alten Prog
Rock, aber der Einfluss, den diese Musik in mir hinterlassen hat,
ist alles, was ich davon in die Band einbringe, und so wird es auch
bleiben.
2: „Tattered & Torn“ hat eine Menge positiver Besprechungen und
Feedback bekommen - wieviel Notiz nimmst Du von den Kritiken
und wie persönlich nimmst Du die, wenn Du mit ihnen nicht übereinstimmst?
Wir lesen alle Rezensionen und die meisten, wenn nicht alle, können in der Rezensionsabteilung unserer Webseite (www.barebonesboogieband.com) gefunden werden. Ich bin der Ansicht, dass
jede Kritik ob gut oder schlecht gut ist. Eine Rezension ist nur
dann schlecht, wenn wir sie nicht bekommen. Alle Rückmeldungen sind gut, ob Lob oder Kritik. Doch sie müssen konstruktiv
sein, um einen Wert zu haben.
3: Hat die BBBB bei Auftritten eine Liste von Sonderwünschen? Was
ist die ungewöhnlichste Sache, die Ihr verlangt?
Wir haben normalerweise keine Extrawünsche. Wenn einem
besondere Dinge angeboten werden, dann ist das meist auf den
größeren Festivals. Und wenn man die bekommt, macht es das
Erlebnis umso erfreulicher, ein wenig wie die Sahne zur Torte.
Ich hatte noch nie Sahnetorte backstage, aber es gibt immer ein
erstes Mal!
22
© wasser-prawda
Musik
!
WERDE MEIN
R
E
L
L
Ü
F
R
TRAUME
Hallo! Ich heiße Ravina, bin 16 Jahre alt und
steh im Moment mitten in den Vorbereitungen für mein bald anstehendes
Austauschjahr.
Wohin die Reise geht, steht noch nicht fest.
Um diesen Traum vollends wahr werden zu
lassen, brauche ich dazu deine Unterstützung,
denn Moment fehlt mir noch eine Menge Geld,
ich spare kräftig und verdiene mir neben der Schule
Geld mit einem Nebenjob. Weil ich das aber trotzdem nicht ganz
DOOHLQHVFKD΍HYHU]LFKWHLFK]XV¦W]OLFKDXI:HLKQDFKWVXQG*HEXUWVtagsgeschenke und suche für meinen Traum noch viele Wegbegleiter,
denn jeder einzelne Euro bringt mich meinem großen Traum ein
wenig näher.
WARUM SOLLTEST DU
AUCH
ZU
TRAUMERFÜLLER WEREINEM
DEN
?
Weil du mir damit die Möglichkeit gibst, Dir vieles aus der Ferne zu
berichten und ich dich somit an meinen Erfahrungen teilhaben lasse.
Eine besinnliche Weihnacht, ein zufriedenes Nachdenken über
9HUJDQJHQHVHLQZHQLJ*ODXEHDQGDV0RUJHQXQG+R΍QXQJI¾UGLH
Zukunft wünschen wir von ganzem Herzen.
Liebe Grüße von uns fünfen aus Zwickau
UNTERSTÜTZE MICH ;)
Empfänger Agnes Nitzsche
Kontonummer 9510230911
Bankleitzahl 700 222 00 - Fidor Bank
Verwendungszweck
92002713 + Dein Name + Ravinas Austauschjahr
© wasser-prawda
23
Musik
Eric Clapton: Relaxte
Rückkehr
Nach dem neuen Studiowerk „Old Sock“, der erweiterten
Neuveröffentlichung von „Unplugged“ und den Live-Aufnahmen vom 2013er „Crossroads Festival“ ging das Jubiläumsjahr 2013 für Clapton mit einer weiteren Wiederveröffentlichung zu Ende: Das Boxset „Give Me Strenght“
konzentriert sich auf eine der besten Perioden von Clapton
als Solokünstler und bringt die Alben „461 Ocean Boulevard“, „There‘s One In Every Crowd“ und das Live-Album
„E.C. Was Here“ in erweiterten Fassungen. Außerdem finden sich noch Aufnahmen, die bei Studiosessions mit Freddie King entstanden. Von Raimund Nitzsche.
Mit „461 Ocean Boulevard“ meldete sich Clapton zurück in der
Musikszene, nachdem er zuvor heftig gegen seine Heroinabhängigkeit angekämpft hatte. Und das Album machte eine deutliche
Änderung in der Musik von Mr. Slowhand erkennbar: Hier ist
nicht mehr der heftige Bluesrocker an den Saiten, der mit Cream weltweit Erfolge gefeiert hatte. Auch der deftige Southernrock
von Derek & The Dominos ist passe. Relaxt geht es zu: Clapton entdeckt seine Liebe zum Reggae („I Shot The Sherriff “) und
zu wundervollen Popmelodien („Give Me Strenght“ oder „Let It
Grow“). Und wenn er jetzt den Blues spielt, dann rockt das zwar
noch manchmal deftig wie beim Opener „Motherless Children“.
24
© wasser-prawda
Musik
Doch schon „I Can‘t Hold Out“ (Elmore James) ist durch den
relaxten Groove unwiderstehlich. Und Robert Johnsons „Steady
Rollin Man“ bekommt gleich einen rockenden Reggae-Rhytmus
verpasst. „461 Ocean Boulevard“ war schon vor einigen Jahren
mit einer Deluxe-Ausgabe auf zwei CDs gewürdigt worden. Hier
ist statt der Live-Aufnahmen der damaligen Edition zwei Versionen des bislang unveröffentlichten „Getting Aquainted“ sowie
Outtakes von „Please Be With Me“ und „Give Me Strength“ (mit
Dobro) auf die CD gepackt worden. Für Fans eine interessante Ergänzung. Ansonsten braucht dieses Studioalbum eigentlich
kaum eine weitere Ergänzung, zählt es doch selbst im zeitlichen
Abstand zu den wichtigsten Werken von Clapton als Solist.
Ein halbes Jahr später schon war Claptons nächstes Album
auf dem Markt: Auch „There‘s One In Every Crowd“ setzt den
Flirt mit dem Reggae fort. Selbst die Gospelnummer „Swing
Low Sweet Chariot“ wird karibisch behandelt. Für „I Shot The
Sherriff “ hatte Clapton mit George Terry gar eine Fortsetzung
geschrieben: „Don‘t Blame Me“ fehlt allerdings die Spannung,
die das Vorbild auf dem Vorgängeralbum noch entwickelt hatte.
Und das zieht sich leider durch einen großen Teil des Albums:
Ob Reggae oder Blues („The Sky Is Crying“, „Singing The Blues“)
- damals hatte Clapton das große Geheimnis wirklich relaxter
Musik noch nicht kapiert. Hier wirkt es einfach nur hingeschludert. Oder es fehlte einfach die Zeit, die ein wirklich gutes Album
braucht. „There‘s One In Every Crowd“ kommt mit lediglich zwei
bislang unveröffentlichten Liedern daher: „Fools Like Me“ ist ein
schöner Slowblues, bei dem Clapton seine Gitarre schön singen
lassen kann. „Burial“ ist ein weiterer Reggae, auf den man auch
hätte verzichten können.
Nach unserem Clapton Special vor wenigen Monaten kam von
einem Leser die Anfrage, warum wir denn nicht auch die LiveAlben vorgestellt hätten. Im Blick auf den Bluesman Eric Clapton
wäre das sicherlich sinnvoll gewesen, scheiterte aber nicht nur an
fehlenden Aufnahmen in unserem Archiv sondern vor allem auch
an der Zeit, die dafür noch notwendig gewesen wäre. Eines der
Alben, die dabei sträflicherweise zu wenig genannt werden (Just
One Night ist und bleibt natürlich die Referenz!) ist „E.C. Was
Here“, veröffentlicht erstmals als einzelne LP im Sommer 1975.
Was jetzt auf „Give Me Strength“ auf gleich zwei CDs gepackt
wurde, hat mit dem originalen Album nicht mehr viel zu tun.
Denn einerseits finden sich mit „Crossroads“, „I Shot The Sherriff “, „Layla“ und „Little Wing“ gleich vier bislang völlig unveröffentlichte Aufnahmen. Hinzu kommen weitere schon anderswo
veröffentlichte Aufnahmen der damaligen Tour. Die Original-LP
mit ihren sechs Titeln war - gegen die Pophits der Studioalben
- ein ziemlich konsequentes Bluesrockalbum geworden. Clapton
spielte Songs aus der Zeit mit Blind Faith („Presence of the Lord“,
„Can‘t Find My Way Home“) oder Derek & The Dominos („Have
You Ever Loved A Woman“) neben Klassikern von Robert Johnson („Ramblin On My Mind“) oder Charles Brown („Drifting
Blues“). Doch dass Clapton damals bei den Konzerten eben auch
die neuen Songs samt Reggae-Rhythmen aber auch die alten Hits
spielte, wird jetzt erst klar. Ebenso wie auch die Tatsache, dass
Clapton weder damals noch heute wirklich so relaxt war, wie sein
langjähriges Vorbild JJ Cale. Dafür brennt zuviel Feuer in ihm.
© wasser-prawda
25
Musik
The Blind Boys of Alabama
The Blind Boys of Alabama, fünfmalige Grammy-Gewinner, haben erstmals 1944 gemeinsam
gesungen. Mit ungefähr neun Jahren kamen sie
zusammen im Glee Club des Alabama Institut für
Blinde in Talladega. 1948 nahmen sie ihre erste
Single „I Can See Everybody‘s Mother But Mine“
auf und veröffentlichten über die nächsten Jahrzehnte einen Stapel Alben. Von Gary Burnett.
2001 veröffentlichten die Blind Boys ihr bislang von Kritikern
am meisten gelobtes - und gleichzeitig ihr kommerziell erfolgreichstes - Album „Spirit of the Century“. Das wurde mit einem
Grammy als Bestes Traditionelles Soul Gospel Album ausgezeichnet. Und in den letzten zwölf Jahren haben sie uns eine Anzahl
exzellenter Alben geschenkt, zu der auch die wundervolle Zusammenarbeit mit Ben Harper im Jahre 2004 gehört, veröffentlicht
als „There Will Be A Light“.
„Atom Bomb“ (2005) war eine Fusion aus Gospel mit Pop,
Rap und Blues, „Take The High Road“ (2011) war ein CountryGospel Album und auf dem von Justin Vernon (Bon Iver) produzierten „I‘ll Find A Way“ (2013) arbeiteten sie mit einer Menge
erstklassiger Künstler aus der Welt von Blues, Pop, Soul, Rap und
Country zusammen.
In einem kürzlich geführten Interview erzählte Jimmy Carter,
eines der Gründungsmitglieder der Blind Boys of Alabama und
einziges Mitglied der Originalbesetzung, das noch regelmäßig
mit auf Tour geht, davon, wie die Mitglieder der Band mit Gospelmusik aufwuchsen und sie liebten. Auch wenn es eine Menge Möglichkeiten gegeben hätte im Laufe der Jahre zu Soul oder
Rock & Roll zu wechseln, sind sie bei der Musik geblieben, mit
der sie begonnen hatten. Carter formulierte es ganz einfach: „The
26
© wasser-prawda
Musik
Lord had been good to us and we love to do this, we promised
God that we would never deviate from singing gospel music.“
Carter erzählt von den harten Zeiten, als die Blind Boys ihren
Weg machten, als im Süden noch Jim Crow regierte, als sie in heruntergekommenen Hotels oder Pensionen wohnten oder keinen
ordentlichen Laden finden konnten zum Essen, während sie auf
Tour waren. Und zu den Problemen ein Amerikaner afrikanischer
Herkunft zu sein, muss man in dem Fall auch noch das zusätzliche Problem addieren, dass sie blind sind. Doch Carter bleibt unglaublich optimistisch. Er sagte: „Es macht mir nichts aus, blind
zu sein, es beunruhigt mich kein bisschen. Ich bin glücklich. Ich
kann alles machen, was die anderen auch können, außer zu sehen.“ Carter kam zu der Einsicht, dass sein Gesang eine Berufung
ist, ein Job, den Gott ihm gegeben hat. Und als er das verstanden
hatte, sagt er, hat er sich niemals mehr drüber beschwert. „Ich
glaube, das kam einfach von Oben, von IHM. Nachdem er mir
das gesagt hatte, gab mir das Frieden, Mann. Ich fühlte einfach
Frieden. Das ist alles, was ich sagen kann.“
Diese unglaublich positive Einstellung zum Leben, dieser bedingungslose Glauben trotz der Schwierigkeiten und Herausforderungen des Lebens, kommt sowohl in den Live-Auftritten als
auch in den Alben der Blind Boys zum Ausdruck. Man nehme etwa das kürzlich veröffentlichte „I‘ll Find A Way“. Die Stimmung
des Albums, ob musikalisch oder von den Texten her, ist äußerst
positiv. Es basiert auf einem soliden Glauben an Gott, der für die
Blind Boys immer da ist, der immer der Fels ist, egal welche Steine dir das Leben in den Weg wirft.
„Rainbow in the Cloud“ ist ein gutes Beispiel: “Als es so aussah,
als würde die Sonne niemals wieder scheinen, setzte Gott einen
Regenbogen in die Wolken.“ Und weil das der Fall ist, „werde ich
einen Weg finden, um weiter zu machen“, singen sie in „I‘ll Find
a Way“. All das beruht auf einem starken Glauben an die allem
© wasser-prawda
27
Musik
zu Grunde liegende Güte Gottes, von der das Album völlig ohne
Scham und voller Freude erzählt:
“Since I found you my whole life has changed
Since I found you, Lord, my life ain’t the same.”
(I’ve Been Searching).
Die Einstellung zum Leben der Blind Boys ist ganz einfach
ausgedrückt in „Take Your Burden To The Lord“: „If you trust
and never doubt, he will surely bring you out.“ Was wir brauchen
könnten, damit wir „herausgebracht werden“ können, wird in diesem Vers des Liedes beispielhaft dargestellt:
“If your mother dead and gone,And you’re sitting here all alone
And your burden seems so hard for you to bear
But if you be true
God will surely bring you through
Take your burdens to the Lord and leave them there.”
Dieser hingebungsvolle Glauben an Gott in Mitten von Herausforderungen wird auch in dem herausragenden Cover von Dylans
„Every Grain Of Sand“ dargelegt: „In the fury of the moment
I can see the Master’s hand.” In den reichen traditionellen Harmonien und durch Vernons großartiger Produktion spürt man
die Gnade. The Blind Boys, die größere Härten haben erleben
müssen als die meisten von uns, erinnern uns an den Wert der
Dankbarkeit und des einfachen Vertrauens im Angesicht widriger Umstände. Als einer der derzeitigen Mitglieder der Gruppe
hat Ricky McKinnie vor kurzem gesagt: „Unsere Behinderung
muss kein Handicap sein. Es geht nicht darum, was Du nicht
tun kannst. Es geht darum, was Du tust. Und was wir machen,
ist, gute Gospelmusik zu singen.“ Das ist eine Einstellung zum
Leben, die es lohnt, gepflegt zu werden.
28
© wasser-prawda
Musik
Krönender Abschluss
des Bluesjahres 2013
Zum 19. Mal fand vom 14. bis 16. November 2013
das Luzern Blues Festival statt. Für viele gehört
diese Veranstaltung zu den besten Festivals in
Europa. Die Macher um Guido Schmidt, Martin Bründler, Kurz Schürmann und Mike Hause
hatten auch diesmal 14 Bands und Künstler verpflichten können. Text und Fotos: Karsten Spehr.
Begonnen wurde diesmal akustisch mit
Larry Garner & Michael van Merwyk.
Das virtuose Duo, dass gelegentlich eine ganze Band vermuten ließ, glitt gewohnt mühelos durch die Stile und hatte dem
Schweizer Festival mit „Going To Lucerne“ sogar einen eigenen
taufrischen Song gewidmet. Der dann auch noch, getragen vom
euphorischen Publikum, mit großer Freude bis in den Backstagebereich gelangte. Ihr Auftritt gipfelte stimmungsvoll, indem sie
Rick Estrin und Johnny Sansone, mit ihren Bluesharps, auf die
Bühne holten. Es folgten die
Michael van Merwyk,
Larry Garner,
Rick Estrin.
Chicago Blues Allstars
um den wieder auffallend spielfreudigen Bob Margolin mit Bob
Stroger und Kenny „Beedy Eyes“ Smith. Stimmgewaltig verstärkt
wurde die Band mit dem typisch hart, druckvoll treibendem
Sound der namensgebenden US-Metropole von der mit Howlin‘
Wolf verwandten Zora Young.
© wasser-prawda
29
Musik
Larry Garner
Bob Margolin & Zora
Young
Bob Margolin & Bob
Stroger
rechte Seite: Byther
Smith
Johnny Rawls
30
© wasser-prawda
Musik
Auch hiernach blieb es eher traditionell an diesem Donnerstag
mit etwas sanfterem Soul-Blues von Johnny & Destini Rawls
(Vater und Tochter) und ihrer Mississippi Soul Blues Band.
Schließlich betrat der über 80 jährige
Byther Smith
mit seinen Mannen die Hauptbühne und ließ den Abend mit
lautstarkem Großstadtblues zur Neige gehen. Ob man der Chicago Blues Legende Smith dabei wirklich einen Gefallen getan hat,
bleibt fraglich, denn er machte doch eher den Eindruck „over the
top“ zu sein, was man allerdings von seiner hervorragend aufspielenden Band keineswegs sagen konnte.
© wasser-prawda
31
Musik
Mit dem Freitag folgte der eigentliche Höhepunkt des gesamten
Festivals. Eröffnet wurde der Abend mit einem fulminant aufspielenden Memphis Blues Award Gewinner 2013 -
Rick Estrin (Mundharmonica und Gesang) &
The Nightcats.
Sie brillierten mit fettem urbanen Blues, der frühe Elemente des
Rock‘n Roll, Soul,Swing und Jump in sich trug, sowie einer tollen
Bühnenshow. Hier wurde nicht nur die Gitarre, vom nordischen
Virtuosen Kid Anderson – der es für meinen Geschmack gelegentlich trotz großen Könnens etwas zu toll trieb - hinter dem
Kopf gespielt, sondern auch Bassist Lorenzo Farrell ließ sich nicht
lumpen und wuchtete den Kontrabass spielend auf Schulterhöhe.
Was danach kam, da waren sich fast alle einig, das Hightlight des
Luzerner Festivals 2013-
The Blues Broads.
Vier der besten Sängerinnen des Blues, Gospel, Soul und Country
betraten mit ihrer Band die Bühne. Die im gereiften Alter zwischen 68 und 72 überaus stimmgewaltig und mit großer Spielfreude agierenden Ladies spielen in dieser Formation erst wenig mehr
als ein Jahr zusammen, gelten aber jede für sich in den Staaten als
Kid Anderson (g)
Rick Estrin (mharm)
32
© wasser-prawda
Musik
Legende. Es sind die Texanerin Angela Strehli, Tracy Nelson aus
Nashville, Annie Sampson sowie Dorothy Morrison. Letztere feierte mit „Oh Happy Day“ in den sechziger Jahren gemeinsam mit
den Edwin Hawkins Singers einen riesen Gospelhit, den heute
noch jeder kennt. Natürlich fehlte eine mitreißende Version dieses
Songs neben Titeln wie „River Deep Mountain High“, Respect
Yourself“,“Living The Blues“ oder „Two-Bit Texas“, Blue Highway“ sowie „Addicted To Love- Meet Me in The Bottom“ und
„Something Is Wrong“, auch an diesem Abend nicht. Außergewöhnliche Stimmen, eine vielseitig, tolle Band, Spielfreude pur
- ein Auftritt der Superlative!
Danach hatte es sogar ein gestandener Showman und Entertainer
wie
© wasser-prawda
Blues Broads: Dorothy Morrison, Annie Sampson, Angela Strehli, Tracy Nelson
rechts: James Harman
33
Musik
Bobby Rush
mit der durch zwei dralle GoGo‘s verstärkten
Band und seiner Funk-Soul-Show nicht ganz
leicht. Wer ihn nicht zum ersten Mal sah, der
wusste, dass der mit dem Charme eines Lebemannes spielende Rush für seine schlüpfrigen Shows
bekannt ist. Er zeigte uns, meist etwas steifen Europäern, ansatzweise wie der Blues damals in den
berühmt, berüchtigten Juke Joints eigentlich als
Tanzmusik aufkam, nämlich verbal als auch von
der Körpersprache her, wurde ziemlich (für unsere Verhältnisse ungwohnt) anzüglich gesungen
und getanzt.
Beschlossen wurde dieser außergewöhnliche
zweite Festival-Tag mit feinem straight, gitarrenlastigem Blues Rock von
Smokin‘ Joe Kubek & Bnois King.
Für die, die noch nicht genug hatten, spielten bis
in die Morgenstunden im Casineum die junge
Schweizer Band Biscuit Jack und später noch der
Chicago-Veteran Byther Smith ihren Blues.
Jazii Anderson - Louis Rodriguez - Bobby Rush Loretta Harris
links: Jazii Anderson & Louis Rodriguez
34
© wasser-prawda
Musik
Nun folgte leider auch schon der letzte Tag, die
Sonderkonzerte und ausverkauften Blues Brunches einmal außen vor gelassen. Den Anfang
machte die energiegeladene Westcoast-Gitarristin und Sängerin
Pat Wilder And Serious Business
mit erwartungsgemäß gitarrenlastigem FunkBlues, der mit Rock- oder Jazzelementen bis hin
zu einem kleinen Soul-Medley a‘la James Brown
recht kraftvoll aufgepeppt wurde.
Bnois King
Smokin‘ Joe Kubek
Pat Wilder
© wasser-prawda
35
Musik
Dann war der viel gepriesene Meister an den Tasten -
Ron Levy
im Uhrzeigersinn:
Ron Levy
James Harman
Veronica & the Red Wine Serenaders
mit seinem Wild Kingdom Trio an der Reihe. Geprägt von seinen
Jahren an der Seite von B.B.King, Albert King oder den Roomful
Of Blues brillierte Levy‘s Trio mit feinstem instrumentalen jazzigem Blues mit eingestreuten Fusion-Anflügen. Ein außergewöhnliches, musikalisches Highlight und zudem ein zweites erstaunliches Wagnis, neben dem Auftritt von Bobby Rush, das man dem
Festivalmachern nicht hoch genug anrechnen kann und welches
dem eigentlich traditionell verhafteten Blues-Event eine hoffentlich weiterführende interessante Facette hinzufügt.
Der hierauf folgende
James Harman
startete a Capella nur mit seiner Harp und einem „Jail-Song“ ehe
seine Bamboo Porch Revue musikalisch gut ergänzt durch den
Gitarristen Nathan James & The Rhythm Scratchers sowie „Bonedaddy Tempo“ dann wieder richtig Fahrt aufnahm und mit
einer ansehnlichen Mischung aus Blues und bluesiger Weltmusik
die Stimmung am Kochen hielt.
Und schließlich war da noch das Multitalent aus den Südstaaten -
36
© wasser-prawda
Musik
Johnny Sansone,
der das Festival offiziell beschloss. In nicht ungewohnter Weise
ließ er seinen Auftritt von rockig bis bluesig schließlich in einer
längeren New Orleans-lastigen Zydeco-Show enden.
Im Casineum bekamen zu später Stunde die aus Italien stammenden Gewinner des 3. European Blues Contestes 2013 Veronica &
The Red Wine Serenaders die Möglichkeit, ihren herzerfrischend
dargebotenen, frühen Blues, Jazz und Country der zwanziger und
dreißiger Jahre unter das zahlreich erschienenen nachtschwärmerischen Bluesliebhaber zu bringen. Smokin‘ Joe Kubek & Bnois
King oblag es dann, das gelungene Festival handfest und straight
zu frühmorgentlicher Stunde ausklingen zu lassen. Wir dürfen
also auf zwanzig Jahre Luzerner Blues Festival 2014 sehr gespannt
sein.
© wasser-prawda
Johnny Sansone
37
Musik
Heute abend: Eine
Soul-Roots-Band
Am 12. Dezember 2013 gastierte die Kai Strauß
Band im Bremer Meisenfrei. Wer nicht dabei war,
hat ein fantastisches Konzert versäumt, meint
Torsten Rolfs (Red Fox Bluesband) in seiner ersten Kritik überhaupt.
Es ging los mit einer schönen Soulnummer. „The Harder You
Love“ kam daher mit sattem Orgelsound, unterlegt mit harmonischem Backgroundgesang und der von einem markant-warmen
Timbre geprägten Stimme von Jeffrey Amankwa. Was für ein
Start für einen wunderbaren Konzertabend im „Meisenfrei“!
Nahtlos ging es weiter mit einer weiteren Nummer von der CD
„This Time“. Alex Lex´ uhrwerksartiges feelgood-Drumming und
Sascha Oing am Bass hielten das Stück „A good Day“ mit seinem
Reggae-Groove zusammen und bauten den Gegensatz zum Text
„this is a good day for leaving you“ kontrastreich auf. Von der
ersten Minute an wurde klar, hier spielt eine trotz Umbesetzung
an Bass und Tasten eingespielte und mit Spielfreude agierende
Gruppe. Auch das dritte Stück „I Wish I´d Known“, eine ruhige „Kuschelnummer“, stellte die Gesangs-Qualitäten von Jeffrey
besonders unter Beweis und auch die 2. Stimme von Jan Karow
verlieh dem Stück seinen smoothy-Charakter.
38
© wasser-prawda
Musik
Nach dieser Präsentation von Stücken des aktuellen Albums
folgte ein knackiger Soulklassiker von Billy Preston, der Jeffreys
Shouting-Vocals mit einem unisono von Gitarre und Orgel gespielten Thema kontrastierte. Während anfangs Kais Gitarre ein
organischer Teil der Stücke war, nicht die Soli im Vordergrund
standen, konnte man ab diesem Stück einen Eindruck von seinen
Künsten an den Saiten erleben. Dies setzte sich im nächsten Titel
fort, der diesmal von Jan Karow gesungen wurde, und tierisch in
die Beine und Hüften ging.
Und dann war Kai in seinem Solisten-Element, so wie ihn puristische Bluespolizisten nur erleben wollen. Ein laidback-slowBlues, der vom brillanten Gitarrensolo dieses Ausnahmemusikers
geprägt war, aber der Stimme von Jeffrey Amankwa genügend
Raum gab die „blues-and-trouble-seem-to-be-my-best-friend“Stimmung des Textes zu transportieren. In einem spannungsreichen Bogen von Gitarrensolo über Gesang hin zu einem exzessiven Orgelsolo baute sich das Stück auf und verdeutlichte die
Bandbreite dieser Gruppe! Mit treibenden Rhythmen und Feedback-Orgien der Gitarre ließen die Musiker dann keinen Zweifel dran aufkommen, auch eine Roots-Rock-Band zu sein. Den
Schluss des ersten Sets, Brüche in Tempo und Spannung erzeugend, bildete Kai mit akustischer Gitarre und versprühte Feuerzeug- und Wunderkerzenathmosphäre während Jeffrey Amankwa an der Mundharmonika an Dylan erinnerte. Zusammen mit
dem Satzgesang war das wunderschöne Stück vollkommen.
Auch das zweite Set am Abend ging mit einem Stück vom aktuellen Album der Band los. Zu hören gab es den Titelsong „This
Time“. Doch auch danach gab es genügend bluesig angehauchte
Lieder mit Rhythmusausbrüchen und spannenden Chorussen zu
erleben. Auch Jan Karow sang wieder und gab Jeffrey die Chance,
sich auch als Backgroundsänger zu zeigen und dabei seinen sexy
Hüftschwung vorzuführen.
Nach 20 Minuten im 2. Set der „Prokrastination Blues“: Kai
an der akustischen Gitarre und Jeffrey Amankwa mit dem Mikrophon sitzen beide auf Barhockern. Es gab Country-Blues vom
feinsten. Dieser junge Mann sang den Text von Kai Strauß mit
einer solchen Überzeugung ohne aufgesetzt zu wirken! Hier wurde deutlich, warum Kai Strauss auch gerne mit Big Daddy Wilson
im Duo und anderen Besetzungen auftritt.
Das folgende Feuerwerk von drei Stücken (u.a „One Woman
Man“) folgte ohne Pause. Die Lieder gingen nahtlos ineinander
© wasser-prawda
39
Musik
über und ließen dem Publikum kaum Zeit für den verdienten Applaus.
„Damn If I do Damn If I Don‘t“ stammt auch von der aktuellen
Scheibe und stellte den Höhe- und Abschlusspunkt des 2. Sets dar .
Und noch Tage später klang mir der Ohrwurm im Kopf.
Als Zugabe gab es dann noch ein Marvin Gaye Klassiker.
„What‘s goin on“ war der Beweis, das hier eine Soul-Roots-Band
spielte. Ein grandioser Konzertabend ging damit zu Ende. Leider
glänzte das Bremer Publikum eher mit Abwesenheit – sehr SCHADE, denn diese Ausnahmemusiker mit ihrem tollen musikalisch
abwechslungsreichen Programm weg von der üblichen Blues- und
Soulmasche hätten es verdient gehabt, an diesem Abend gefeiert
zu werden.
40
© wasser-prawda
Musik
23. Annaberger Bluesnacht 2013
Mitte Oktober rief der Verein zur Förderung von Live-Musik e.V. um Matthias Lüpfert aus Annaberg-Buchholz zur
23. Annaberger Bluesnacht in die Turnhalle Geyersdorf.
Wie schon in den Jahren zuvor war die Hütte rappelvoll.
Kein Wunder, denn das Line up der Erzgebirgler lässt selten
etwas zu wünschen übrig. So auch in diesem Jahr. Text und
Fotos: Karsten Spehr.
Den Anfang machten drei der besten italienischen Bluesmusiker, Maurizio Pugno aus Gubbio (Gitarre), Alberto Marsico aus
Turin (Orgel) und Gio Rossi aus Varese (Drums) als das Maurizio
Pugno Organ Trio als ideale Begleitband für Mz. Dee aus Oakland/Californien. Die nicht nur stimmgewaltige Dejuana Rochon Logwood alias Mz. Dee startete ihre musikalische Karriere
mit Gospelmusik und entdeckte später ihre Liebe zu Blues, Funk,
R&B und Jazz und sie lebt immer noch auf ihrem Hausboot am
Fluss Alameda. In Annaberg überzeugte die Lady mit der virtuos
agierenden Band um Gitarristen Maurizio Pugno eher mit groovenden und jumpenden Bluesnummern, die immer wieder durch
© wasser-prawda
oben: Mz Dee
unten: Marizio Pugno Trio
feat. Mz Dee
41
Musik
John Kirbride
Ferdl Eichner (o.rechts)
rechte Seite: Thorben Risager & Peter Skjerning
Peter Skjerning
Martin Seidelin
Emil Balsgaard
Thorben Risager
Ausflüge in den Soul oder R&B bereichert wurden. Sie spielten viel
eigenes Material, wie „Dirty Dancing“, „So Called Love“ oder „Hit
Rock Bottom“ aber brillierten auch mit Stücken wie dem Junior
Parker-Song „Drowin‘ On Dry Land“ und so wunderbaren Balladen wie „I love you More Than You Ever Know“ von Al Kooper,
den aber auch schon Donny Hathaway oder Amy Whinhouse gut
zu interpretieren wussten. Ein feiner Auftritt, der mit der sparsamen Bandvariante hier fast mehr überzeugte als auf der etwas
überinstrumentierten aktuellen CD.
42
© wasser-prawda
Musik
Nun folgte das Akustik-Duo John Kirkbride (der in Dresden
lebende Schotte trat schon 1991 zur 1. Bluesnacht auf) und Ferdl
Eichner (Mundharmonika). Etwas gewagt war diese Reihenfolge, aber so etwas funktioniert in der Erzgebirgs-Hochburg immer
sehr gut. Der hypnotisch zelebrierte Delta-Blues der beiden wurde durch musikalische Ausflüge zum Boogie über Muddy Waters
oder auch Jimi Hendrix bis hin zu spanisch anmutenden Klängen bereichert. Der als Urgestein im europäischen Blues geltende Schotte und der sehr unabhängig von antiquierten Mustern,
übrigens auf einer selten zu sehenden „Lee Oskar“ aufspielende
Bayer Ferdl Eichner, wussten die Stimmung in der kochenden
Turnhalle zu halten. Aufgelockert wurden die wunderbaren Versionen von „Hey Joe“, „Gipsy Home“, „Mojo Boogie“ oder „Freedom Blues“ und dem abschließenden „Dust My Broom“ immer
wieder von den lustigen Anekdoten des schottischen Storytellers.
Danach kam der heiß gehandelte Dänen-Export Thorbörn Risager mit seiner Band auf die Bühne. Die musikalischen Vorgänger in Ehren, aber wer diese siebenköpfige Band schon einmal
erlebt hatte, der ahnte was jetzt in der vollen Geyersdorfer Turnhalle zu erwarten war: Risager & Band kann man ohne Frage als
eine Klasse für sich bezeichnen. Nach wenigen Minuten und dem
satten „I‘ll Be Movin‘ On“ hatten der mit der druckvoll schwarzen Stimme agierende Däne und seine Mannen die Halle im Griff
. Und es rockte! Es folgten, mit Ausnahme der faszinierenden Interpretation des Big Joe Williams-Klassikers „Baby Please Don‘t
Go“, nur eigene Stücke wie „ Mr.Bad“, „Paradise“, „Hold On“
oder das rockige „Rock‘n Roll Ride“. Man kam kaum zum Luft
holen, heiß und schwitzig wie es war. Jeder und alles zappelte
und tanzte in Geyersdorf. Thorbjörn Risager (Sänger und Gitarrist) sowie Gitarrist Peter Skjerning, die Bläser Peter Kehl (tp) und
Hans Nybo Jørgensen (sax), Bassist Søren Bøjgaard, Drummer
Martin Seidelin und Keyborder Emil Balsgaard hatten es mit ihrer ungemeinen Spielfreude und ihrer mitreißenden Mischung
aus Blues,Rock, R&B, Jazz und Soul wieder einmal geschaff t, ihr
Auditorium zum Kochen zu bringen. Mit den Stücken „Let The
Good Times Roll“ und „X:Opener“ beschlossen sie druckvoll eine wieder überaus gelungene Bluesnacht.
© wasser-prawda
43
Musik
Informationen
Arndt Worbis & Wolfgang Hillmann.
Grend Blues Session
Aus eins mach drei: Grend
Blues Session expandiert
Grend Kulturzentrum - Westfalenstr. 311 - 45276 Essen
immer am 2. Samstag im Monat. Sommerpause Juli und
August
http://www.netzteil.com/session/termine.html
Blues To DU
Steinbruch Duisburg, Lotharstraße 318-320, 47057 Duisburg
immer am 4.Freitag im Monat
http://www.cafe-steinbruch.
com/index.php?id=475
KuBa Blues Session
Kulturbahnhof Niederrhein,
Güterstraße 6, 46499 Hamminkeln
immer am 2. Freitag im Monat
https://www.facebook.com/
pa ges/Kuba-NiederrheinK u lt u r b a h n hof-Nie de r rhein/226917904053968
44
Immer am zweiten Samstag im Monat treffen sich
im „Grend“ in Essen mehr als 100 Bluesmusiker
und Fans zur Session. Doch das Konzept hier ist
ein wenig anders als andernorts: Zunächst spielt
eine Openerband. Und wer mitspielen will und
den Organisatoren noch unbekannt ist, muss
vorspielen. Das Konzept geht auf: Seit fast zehn
Jahren gibt es die Grend Blues Sessions schon.
Und demnächst wird man auch an anderen Orten in Nordrhein-Westfalen nach dem Prinzip zur
Session laden. Udo Marx im Gespräch mit Raimund Nitzsche.
1. Von einer Session hin zu zukünftig dreien in NRW: Boomen Blues
Sessions in der Gegend allgemein? Oder ist gar der Anfang eines
Bluesrevivals in der Region zu beobachten?
Es gibt ja nicht nur eine Session in NRW, die Kollegen in Münster und Bielefeld machen ebenfalls einen sehr guten Job. Das
Konzept der Grend Blues Session mit gebuchter Opener-Band
und moderierter Session hat sich gut bewährt: Nächstes Jahr feiern wir das 10-jährige Bestehen.
© wasser-prawda
Musik
Im Uhrzeigersinn: 12 Bars Down, Ben Bouman, Eva Kurowski,
Poster Ausstellung Willy Backhaus.
Mit den Sessions im Steinbruch Duisburg und KuBa Hamminkeln versuchen wir, dieses Konzept weiter auszubauen. Sicher hat
die Grend Blues Session durch konstant gute musikalische Qualität dazu beigetragen, Blues in der Region besser zu etablieren.
2. Wie ist überhaupt die Situation für Bluesmusiker in NRW? Gibt
es für sie genügend Auftrittsmöglichkeiten - oder sterben die Locations
für diese Musik langsam aus?
Publikum für guten Blues und verwandte Musikrichtungen wird
es immer geben. Ich beobachte einen leichten Trend zurück zu
“handgemachter” Live-Musik. Die Auftrittsmöglichkeiten hängen davon ab, zu welchen Konditionen man bereit ist, zu spielen.
Amateurbands mit dem Etikett ‚Ja, wir machen auch Blues‘, die
nur für das Catering spielen, verderben den Markt – nicht nur
den Profis. Und oft entsprechen diese Bands nicht den Erwartungen. Darunter leidet dann wiederum das Ansehen des Blues
im Allgemeinen. Die Veranstalter können sogenannte B-Bands
aus USA für wenig mehr Gage als deutsche Top-Acts buchen,
die ‚guten‘ deutschen Bands haben es daher schwer, ihre Gagen
durchzusetzen.
3. Blues-Sessions können für reine Zuhörer ja ziemlich anstrengend
sein, besonders wenn jeder Musiker auf der Bühne in jedem Song
ein Solo haben will. Wie sorgt man als Veranstalter dafür, dass ein
gewisses Niveau erreicht wird?
Im Grend gibt es einen moderierten Ablauf, d.h. ich stelle die
Session-Sets persönlich zusammen, Wünsche und Absprachen berücksichtige ich nach Möglichkeit, aber ich treffe die finale Auswahl. Als “alter Hase” in dem Genre kenne ich die allermeisten
Musiker und habe eine klare Vorstellung davon, was uns erwartet.
Wenn mir Musiker unbekannt sind, lasse ich sie im Backstage
spielen, damit ich sie einschätzen kann. Das ist allgemein akzeptiert. Jeder-kann-mitmachen geht eben zu Lasten der Qualität und
auf Dauer nicht gut. Mir geht es in erster Linie um die Musik.
© wasser-prawda
45
Musik
4. Haben sich aus den Sessions in den letzten Jahren Bands gegründet,
die man auch außerhalb der Region kennen sollte?
Überregional leider noch nicht. Es dauert immer eine geraume
Zeit, bis sich aus einer Session heraus eine Band so etablieren und
durchsetzen kann, dass sie über den lokalen Raum hinaus bekannt
wird, wir sprechen ja hier nicht von der Mainstream-Hitparade.
Blue Shadows, Sebastian Diel, Mattes Fechner, Irmhild Knapp &
Eva Kurowski, Hartmut Kracht, Mark Donkers & Harm van Essen, Hilly Tamas & Angyan
46
© wasser-prawda
Musik
© wasser-prawda
47
Platte Des Monats
Richard Bargel & Dead
Slow Stampede - It‘s
Crap!
Ein schwerer Hörsturz haƩe Richard
Bargel gezwungen, das Projekt „Men In
Blues“ mit „Major“ Heuser zu beenden.
Doch die vom Arzt verordnete Ruhepau48
© wasser-prawda
Platte Des Monats
se hielt der Songwriter und Gitarrist nicht
lange durch. Für sein Album „It‘s Crap!“
hat er mit Dead Slow Stampede eine neue
Band gegründet. Als Gäste wirkten auch
Charlie Musselwhite und Freddy Koella
(Bob Dylan, Willy DeVille) mit. Herausgekommen ist ein atmosphärisch dichtes
Album zwischen Blues und Country, biƩerem Humor und RomanƟk.
Kann eine Stampede eigentlich tödlich langsam sein? Das neue
Album von Bargel ist genau der richtige Beleg dafür, dass ein
solch scheinbarer Widerspruch der genau passende Name sein
kann. Scheinbar langsam und harmlos kommen die Lieder oft
daher. Doch hinter der Fassade aus gepflegter meist akustischer
Musik lauert oftmals eine nur hinter bitterem Sarkasmus versteckte Wut: Wut über den alltäglichen Müll, der einem überall
angeboten wird, für den man Geld ausgeben soll. Wut auch über
hirnlose Schönheiten, über schlechtes Benehmen. Bargel macht
sich auch über sich selbst lustig, wenn er feststellt, dass er wahrscheinlich doch auf des Teufels Grill landen dürfte.
Solch deftigen Songs, solch bösen Humor bekommt man heutzutage nur selten noch zu hören. Und so kann man auch die Kollegen verstehen, die Randy Newman als Vergleich heranziehen.
Dann gibt es auf dem Album noch die andere, die tief romantische und verletzliche Seite des Richard Bargel zu hören. Ein
Mann, der hoffnungslos romantisch ist und sich nach gelingender
Liebe sehnt, der den Kreislauf von Rache und Gewalt durchbrechen will. Und auch wenn vor dem Kuss der Lady Of The Black
Bamboo gewarnt wird: Irgendwie muss er selbst dieses Risiko auf
sich nehmen.
Die Musik dazu? Klar ist hier Blues zu vernehmen, doch keiner
der sturen 12 Takte. Nein, Bargels Songs verdanken dem Blues
ebensoviel wie dem Country und Folk. Und die Band (Gitarrist
Roger Schaffrath, Paul G. Ulrich - b, Geert Roelofs - dr) tut gerade soviel, um die jeweils notwendige Atmosphäre zu unterstützen. Die bluesigsten Stücke sind der Titelsong und „Devil‘s BarB-Que“. Hier setzt die prägnante Harp von Charlie Musselwhite
die entscheidenden Akzente. Faszinierend bei Liedern wie „Slow
Dancing Woman“ auch die Violine von Freddy Koella. Manche
Lieder spielt Bargel auch allein mit seiner Dobro - denn mehr
braucht es eben oft doch nicht, um die Botschaft zu vermitteln.
Bargel ist ein Bluesprediger im besten Wortsinne, ein Musiker,
dem die Welt nicht egal ist und der sich die Wut aus Rücksicht
auf Verkaufszahlen und Zielgruppen nicht verbieten lässt, der
aber tief im Inneren weder zynisch noch resigniert ist sondern
an eine Verbesserung der Welt und des eigenen Lebens glaubt.
(Meyer Records)
Raimund Nitzsche
© wasser-prawda
49
Platten
2 Hurt - Mexico City Blues
Die Inspiration liefert Jack Kerouac mit seinen Gedichten. Die
italienische Band 2 Hurt begibt sich auf ihrem aktuellen Album
„Mexico City Blues“ auf eine vorwiegend psychedelisch-instrumentale Reise nach Mexico.
Klar: das im sächsischen Erzgebirge ansässige Label Cactus Rock
Records hat mittlerweile schon die verschiedensten Musikstile
zwischen Rock, Americana, Blues und Pop veröffentlicht. Doch
die eigentliche Leidenschaft der Macher liegt im Wüstenrock
etwa aus Arizona. Und genau dort könnte man bei flüchtigem
Hören auch die Heimat von 2 Hurt vermuten. Schneidende Gitarrenlinien erwecken trostlose Landschaften unter brennender
Sonne vor Augen. Stücke wie „Can‘t Live Without Your Love“
sind dabei von einer schleppenden Trägheit, die die Schwüle der
Wüste erahnen lässt. Und wenn dann noch eine Bluesharp klagend ihre Stimme erhebt, ist die Vorstellung des Westens aus dem
Blick des Italowesterns komplett.
Doch ganz so einfach machen es sich die Musiker von 2 Hurt
nicht. Und so einfach ist auch die literarische Vorlage nicht.
Schließlich geht es nicht um eine Reportage oder eine Fortsetzung etwa von „On The Road“ sondern um Gedichte, die um
verschiedenste Themen aus dem Umfeld des Beat Poeten kreisen.
Und so klingen bei Stücken wie „Untravelled“ die Gitarren nach
Mandolinen und Mondschein, während die Keyboards an Kirchenklänge gemahnen. Die Reise scheint urplötzlich einen Umweg nach Italien genommen zu haben. Und bei „El Peyote“ oder
„Ride The Blues“ kommen dann auch noch Blues und Bluesrock
vor. Bei letzterem allerdings in einer Form, die nach anfangs nach
einer wüsten Session einer Garagenband nach zuviel Konsum von
Crazy-Horse-LPs klingt, bevor dann ein schwermütiges Duett
von Gitarren langsam seine Spannung aufbaut und später sogar
noch eine elektrisch verstärkte Violine ihre Kommentare einflicht.
Die Reise in die mexikanische Hauptstadt entwickelt so eine psychedelische Sogwirkung, dass man trotz des Fehlens von Lyrics
immer gefesselt bleibt: Das ist Instrumentalrock, wie er heutzutage sehr selten geworden ist. Und wenn jetzt jemand meint: Soundtrack für noch nicht vorhandene Filme, dann sollte der nicht nur
den Band von Kerouac lesen sondern sich gleich auch auf die
Suche nach Geldgebern machen. Das könnte ein faszinierender
Stummfilm werden! Oder wie soll man eine Gedichtsammlung
sonst am besten in Bilder setzen? (Cactus Rock Records)
Raimund Nitzsche
Alex McKown - Go With The Flow
Noch keine zwanzig Jahre ist er alt - der Brite Alex McKown
ist das nächste in der langen Reihe von Wunderkindern an der
Bluesrockgitarre, die seit den ersten Artikeln über Johnny Winter
in der Presse gefeiert werden. „Go With The Flow“ ist auch ohne
Heldenbonus ein aufmerksames Hinhören wert.
Es ist dieser träge Funkgroove, der mich erstmals aus der Reserve
lockte: „Ruin What We‘re Doin“ hat eindeutig das gewisse Extra.
Auch wenn (und das ist auch auf dem Rest des Albums zu hören)
Alex McKown als Sänger etwas überfordert ist. Seine Stimme
klingt ein wenig wie die von Jonny Lang zu Zeiten seines Plattendebüts. Aber als Gitarrist ist er zwischen funkigem Bluesrock,
treibendem Boogie und deftigen Riffs jemand, der sein Hand-
50
© wasser-prawda
Platten
werk ziemlich gründlich gelernt hat. Und vor allem ist er jemand,
der nicht auf den Zug aufspringt, sich als Rockstar der Welt zu
präsentieren und zu versuchen Joe Bonamassa vom Thron zu stoßen. Nein, auf „Go With The Flow“ ist der Blues eindeutig das
bestimmende Element und nicht nur die modische Zutat. Man
höre sich nur mal den Titelsong oder auch „Life On The Line“
an - mehr als ordentlich!
Angenehm für mich auch der gesamte Sound der Band, in dem
die Keyboards ebenso ihren Raum bekommen wie eventuell notwendige Saxophone. Damit kommt Langeweile oder Eintönigkeit
schon mal gar nicht auf. Und wenn sich Gitarre und Sax mit
ihren Solos ablösen, dann wird klar, dass hier eine echt gute Band
entstehen könnte. Nur einen echten Sänger würde man noch
brauchen. Oder aber man spendiert McKown einen guten Gesangslehrer, damit er nicht immer so gequetscht und überfordert
herüberkommt.
Nathan Nörgel
Andy Houscheid - Von hier aus weiter
Verträumte Lieder zwischen Pop und Jazz, voll melancholischem
Weltschmerz fern von Schlagerseligkeit: Für Freunde deutschsprachiger Musik ist Songwriter Andy Houscheid ein aufmerksames Hinhören wert.
Die Welt von Songwriter Andy Hoscheid ist nicht so klein, wie es
erst den Anschein hat und er auch in einem Lied explizit behauptet. Beim ersten Hören sind das Songs für Freunde der gepflegten
Einsamkeit, die in der Stille den eigenen Gedanken nachhängen
wollen. Da ist der Wunsch, nach einem Ausbruch hinaus in ein
ungezügeltes Leben („Schweben“), die Träume, denen man endlich eine Chance einräumen will. Doch zwischen romantischer
Träumerei und vorsichtigem Aufbegehren fehlt meist der Mut,
die Barrieren einzureißen und wirklich loszuziehen.
Wenn mir jemand solche Geschichten in deutscher Sprache erzählt, dann muss er sich den ganz großen Vergleichen stellen: Rio
Reiser, Stoppok, Keimzeit oder Element of Crime sind meine Säulenheiligen. Oder auch die Texte, die in den 80ern Jörg Fauser für
Achim Reichel schrieb.
Andy Houscheid verweigert sich in der Art seiner Lieder den meisten dieser Maßstäbe. Höchstens Stoppok könnte manchmal von
ferne grüßen. Aber öfter erinnert mich dieses Album eher an späte Alben von Pankow oder das Solowerk von André Herzberg:
Und das ist ja auch nicht die schlechteste Referenz. Wenn auch
für mich an manchen Stellen die Songs einfach nicht zwingend
oder packend genug sind. Aber neugierig macht mich das Album
auf die sonstige Karriere dieses Songwriters, den ich bislang überhaupt noch nicht kannte. Lieder wie „Fahrtwind“ und „Nichts
zu verlieren“ sind einfach großartig. Fazit: mehr als ordentlich und für Freunde deutscher Lyrics auf jeden Fall eine Empfehlung
wert. (timezone)
Nathan Nörgel
Andy T / Nick Nixon Band - Drink Drank Drunk
Die Texas Legende Anson Funderburgh hat mit „Drink Drank
Drunk“ ein bemerkenswertes Debutalbum der Andy T / Nick
Nixon Band produziert. Die äußerst sympathischen Musiker prä-
© wasser-prawda
51
Platten
sentieren - teils unterstützt von Anson Funderburgh - sämtliche
Stilrichtungen des Blues – Langeweile kommt hier nicht auf.
Als Opener kommt Clarence „Gatemouth“ Browns Klassiker
„Midnight Hour“ zur Geltung. T-Bone Walker steuert „Life s
too short“ bei, aus eigener Feder stammt unter anderem Andy
T(alamantez) Song „Have you seen my Monkey?“. Mit „Dos Danos“ ist auch ein sehr schönes Instrumentalstück vertreten.
Neben den beiden Namensgebern Andy T. (guitar) und Nick Nixon (vocals) spielt John Garza den Bass, Christian Dozzler das
Piano und Danny Cochran die Drums. Anson Funderburgh
spielt bei einigen Stücken an der Gitarre mit. Die weiteren Musiker will ich nicht vernachlässigen, aber die Auflistung wäre wohl
etwas langwierig.
Andy T hat sich seine Sporen in der Guitar Shorty Band verdient
– er spielt mit großartigem Einfühlungsvermögen eine schnörkellose saubere Gitarre und beherrscht jegliche Stilrichtung des Blues
perfekt. Er ist einer der herausragenden Gitarristen aus Nashville
und Vice President der Nashville Blues Society.
James „Nick“ Nixon ist ebenfalls Urgestein aus Nashville und
besticht durch klare Phrasierungen, eine äußerst angenehme
Stimmlage und mitreißenden Gesang. Das Album heißt nach
einem seiner Songs „Drink Drank Drunk“, bietet aber keinerlei
Anlaß dem nachzukommen, um es schön zu trinken oder ihm zu
entkommen. Im Gegenteil, ich genieße es bei jedem Anhören und
bin sicher, daß mehr von Andy T. und Nick Nixon zu hören sein
wird. (Delta Groove, DGPCD158)
Bernd Kreikmann
Axel Kowollik - Out On The Perimeter
Schon seit Ende der 60er Jahre ist Axel Kowollik in der deutschen
und internationalen Musikszene unterwegs. Jahrelang gehörte
er etwa zu den Bands von Wolfgang Petry und Chris Norman
und wirkte an Projekten des Münchner Gitarristen/Produzenten
John H. Schiessler mit. Seine Band The Public zählte lange zu den
beliebtesten Coverbands in Europa. „Out On The Perimeter“ ist
jetzt das Solodebüt Kowolliks als Songwriter.
Manchmal sind es einzelne Textzeilen, die sich als erstes in der
Erinnerung festsetzen und die einem dann die ganze Zeit durch
den Kopf gehen, wenn man ein Album rezensiert. Hier ist es die
Bemerkung „the lord of the flies has a beautiful smile“ aus „Don‘t
Look Now“, was bei mir sofort die Assoziationskette auslöste zum
legendären Roman „Der Herr der Fliegen“ und seiner Verfilmung
Die schöne akustische Songwritermusik bekam ganz plötzlich
einen bedrohlichen Unterton. Und endlich kapierte ich, wieso
Axel Kowollik in seinem Pressetext immer vom Blick des Außenstehenden auf die Welt spricht, vom Leben auf und jenseits der
Grenzen. Hinter der schönen aber nicht sofort überraschenden
Fassade dieses Songwriteralbums lauert eine Dimension, die man
sich erst nach und nach erschließen kann. Und das macht „Out
On The Perimeter“ zu einer Empfehlung für alle Freunde des intelligenten Liedguts.
Nathan Nörgel
Blackout Country - Old Empty Dreams
Oft düstere Rock- und Popmusik triff t auf Lyrik des 19. Jahrhunderts: Auch auf ihrem neuen Album hat das Duo Blackout
52
© wasser-prawda
Platten
Country wieder Texte von Dichtern wie Emily Dickinson und
Edgar Allen Poe vertont.
Auch wenn ich es damals nie öffentlich zugegeben hätte: Als Kind
habe ich es geliebt, Gedichte auswendig zu lernen und vorzutragen. Wenn etwa Balladen wie die von „John Maynard“ dann
- anders als beim stillen Lesen ihren unterbittlichen Rhythmus
offenbarten, dann konnte ich mich der Geschichte ganz hingeben - was die Lehrer oder Mitschüler von meinem Vortrag hielten, was mir dabei völlig egal. Gedichte, die zu leben anfingen
- eine großartige Erfahrung, die einem dann doch spätestens zur
Abiturzeit so unwichtig wurde, dass sie erst mühsam wieder aus
der Erinnerung hervorgeholt werden muss. Gedichte überhaupt
wurden immer weniger wichtig. Nur wenn sie in Verbindung mit
Musik auftauchten - nicht als klassisches Kunstlied der vergangenen Jahrhunderte sondern im Rock etwa bei Achim Reichel, dann
wurden sie wieder interessant.
„Old Empty Dream“ ist mit seiner Konzentration auf englische
Dichter natürlich dazu kein Vergleich. Hier steht man nicht vor
der Aufgabe, den deutschen Sprachrhythmus für Rock und Pop
passend hinzubekommen. Die Texte von Poe und den anderen
Dichtern werden in mal mehr mal weniger rockende Klangewänder gekleidet und werden so unwillkürlich zu Pop. Die Düsternis
und Romantik der Gedichte passt zu den musikalischen Vorlieben
dieses sich eher in düsteren Regionen wohlfühlenden Duos. Alt
sind die Texte, doch sind diese Träume wirklich leer? Die Hoffnung ist nicht gestorben, sie brennt noch immer im Untergrund.
Die Hoffnung, dass die Dunkelheit irgendwann mal wieder vergehen wird, dass das nächste Jahr Veränderungen bringen kann.
„Hope“ nach Dickinson ist einer der Höhepunkte dieses Albums.
Auch Poe‘s „Annabel Lee“ bekommt der treibende Groove eines
Gothic Shaties hervorragend. Und selbst E. Bronté hat mit „Dark
Falls The Fear“ unbewusst einen Text geliefert, dem man nach
musikalischer Bearbeitung sein Alter nicht mehr anmerken kann:
Zwar ist dieser Indie-Pop sicherlich nicht jedermanns Fall. Doch
das triff t schließlich auf jede Musik zu. Vor allem auf die, die sich
traut, abseits der Hörgewohnheiten des Publikums ungewohnte
Pfade zu beschreiten. Und genau dafür mag ich Blackout Country. Und natürlich dafür, dass sie mich dazu bringen, wieder mal
nach den alten und längst im Regal verstaubten Gedichtbänden
zu greifen.
Nathan Nörgel
Bruce Springsteen - High Hopes
Auf der einen Seite jubelt die Kritik über „High Hopes“ - und auf
der anderen Seite werden Forderungen laut, Springsteen solle sich
doch langsam zur Ruhe setzen mit seinem ewigen Muckertum
und den Geschichten aus einem amerikanischen Alltag, der so
nur noch in der Vorstellung des Musikers existiere.
Eigentlich wollte ich das Album ja in aller Ruhe anhören und
mich nicht von vorherigen Kritiken beeinflussen lassen. Aber
das funktioniert in Zeiten des Internet leider nicht mehr. Da bekommt man Artikel als „Mutter aller Verrisse“ empfohlen, die
verzweifelt fragen: Wann nimmt das Genöle ein Ende. Und die
allen Fans von Springsteen eine musikalische Geschmacklosigkeit
und sozialpolitische Naivität unterstellt.
© wasser-prawda
53
Platten
Ok, meiner Meinung nach war der beste Verriss noch der zu
„Electric Mud“ von Muddy Waters, der einfach nur meinte, damit wäre Waters gestorben und solle sich in Frieden in seinem
Grab herumwälzen - drei Zeilen genügten. Aber was soll‘s - ich
liebe gut gemachte Verrisse. Aber irgendwie sollten sie schon noch
klar machen, um welches Werk es eigentlich geht. Herr Kühnemund hat sich in der „Zeit“ nur seinen Frust über Bruce Springsteen und sein eigenes Unverständnis über die Denkweise vieler
Amerikaner von der Seele getippt. Schade.
Denn zu kritisieren gäbe es einiges bei Springsteens aktueller Resteverwertung. Die oft uninspiriert eingesetzten elektronischen
Verfremdungen etwa - solche Anbiederungen an einen vermuteten Zeitgeist gehen meist schrecklich daneben. Und auch die
zugekleisterte Produktion, wo immer noch eine Spur mehr mit
Chören, Keyboards oder anderem drüber gesetzt wird und man
es schwer hat, den musikalischen Strukturen zu folgen.
Nein: „High Hopes“ ist bei weitem nicht Springsteens bestes Album. Und auch kein gutes Werk. Aber dazu muss man es mit solchen Großtaten wie „Born To Run“ oder meinetwegen auch dem
wütenden „Wrecking Ball“ vergleichen. Dann wird klar, warum
er sich das hätte sparen sollen. Und ich mag es wirklich nicht,
wenn mich Musiker mit Parolen auffordern, doch endlich die
Hände zu erheben. Und Musiker mit Messiastouch habe ich noch
nie gemocht. Leider scheint sich der Boss zu einem solchen zu
entwickeln. Sind das die Nachwirkungen der „Seeger Sessions?“.
Ansonsten gilt: „High Hopes“ ist mehr Resteverwertung als Album. Überraschende Akzente setzt die Gitarre von Tom Morello.
Und wer hätte erwartet, vom Springsteen jemals eine Coverversion der australischen Urpunks The Saints zu hören: „Just Like Fire
Would“ ist eines der Hightlights dieser Scheibe.
Bluespfaffe
Cat Lee King vs. Mighty Mike OMB - Grits ´n Gravy
Das Blues-Duo mal ganz anders - und vor allem bösartig gut:
Wenn Pianist/Sänger Cat Lee King und Drummer/Harpspieler/
Sänger Mighty Mike loslegen, dann wird aus klassischem R&B
der 50er Jahre düsterer Voodoo-Boogie, bei dem keine Gefangenen gemacht werden.
Pianoblues steht heutzutage oft in der Gefahr in akademischer
Schönheit zu erstarren. Zum Glück gibt es Ausnahmen wie etwa
The Claudettes. Oder eben den grad 20jährigen Cat Lee King. Bei
denen hört man die noch junge Liebe zu wilden Rockern wie dem
ganz jungen Jerry Lee Lewis, zu Ray Charles vor seiner Liebe zum
Schmalz und zu Piano-Songwritern wie Ben Folds. Das ist wild,
dreckig, düster und manchmal nicht nur ein wenig angsteinflößend. Besonders wenn sie King wie hier auf „Grits n Gravy“ mit
Mighty Mike zusammentut: dessen düstere Harp, sein stoischbrutales Schlagzeug und überhaupt die Energie der Livesession,
bei denen das Album auf Band gebracht wurde, sorgt zuweilen
für stockenden Atem. Ok, King lässt sich nicht auf die akustische Tastatur festnageln. Wenn nötig, lässt er die Orgel heulen
oder verlegt sich auf andere Keyboards. Aber das geht schon völlig in Ordnung. Und zum Glück sind auf dem Album nur acht
Lieder, sonst könnte es auf der Tanzfläche Zusammenbrüche vor
Erschöpfung geben. Eine faszinierende Debütscheibe!
Nathan Nörgel
54
© wasser-prawda
Platten
Dan Sowerby - Milestone
Zwischen übersprudelnder Freude und tiefer Traurigkeit: Der Brite Dan Sowerby kann seine Gitarren in der jeweiligen Stimmung
singen lassen. Hier wird der Blues niemals neu erfunden. Doch
wer Bluesgitarren zwischen jagendem Slide und elegisch wie bei
Gary Moore liebt, sollte in „Milestone“ reinhören.
„When I Play The Blues“ oder „Good Times“: Wenn Dan Sowerby bei guter Laune ist, dann wirkt seine Musik sofort ansteckend.
Seine Lieder knallen rein und seine Gitarre kommt sofort auf den
Punkt und lässt keine Fragen offen. Wenn er wie bei „Moan n
Wail“ oder „Keep Moving“ traurig ist, dann ist das für mich nicht
ebenso überzeugend. Aber das mag auch an meiner derzeitigen
Stimmungslage liegen, wo ich tragische Sounds und elegische
Soloexkursionen nicht gutieren kann. Da schleicht sich zuweilen
ein verstohlenes Gähnen ein obwohl Sowerby eigentlich nur das
macht, was man gemeinhin von Bluesgitarristen erwartet: Seine
Stimmung in Solos zu übersetzen. Doch wo mir B.B. Kings Lucille ein Schluchzen in den Hals und Tränen in die Augen treiben
kann, wo ich bei Buddy Guy meinen Schmerz rausschreien möchte - von dieser Intensität des Spiels ist der Brite noch etliche Jahre
an Lebenserfahrung entfernt.
Nein, „Milestone“ ist beileibe kein schlechtes Album. Nur fehlt
ihm die emotionale Tiefe und Ehrlichkeit, die ein Bluesalbum
auszeichnen sollte. Die kann man nicht durch technisch perfekte
Instrumentenbeherrschung ersetzen. Die muss man im Laufe eines Lebens erleiden und immer neu in Lieder übersetzen.
Nathan Nörgel
David Blair - Stay In Touch
Allein mit seiner Gitarre ist der kanadische Songwriter David
Blair zur Zeit dabei, sich auch in Deutschland eine Fanbasis zu
erobern. Musikalisch wesentlich praller geht es auf seinem Anfang 2013 erschienenen Album „Stay In Touch“ zu.
Wo bin ich hier gelandet? Wenn David Blairs Album losgeht,
dann packt einen dieser Pianogroove unvermittelt. Der Titelsong
geht in die Beine und in die Gesichtsmuskeln: Popmusik von der
ganz feinen Sorte ist das! Man kann die Lektionen der Beatles hören wie auch Anklänge an die 80er Jahre (ohne die nervigen elektronischen Spielereien der Zeit) oder an die wundervollen Songs
von Ben Folds. Und man wünscht sich, das Album möge genau
so weitergehen.
Um es kurz zu machen: Es geht nicht immer so weiter. Lieder
wie „Something Right“ oder „Did You Know“ sind Liebeslieder,
bei denen mir das gewisse Etwas fehlt: Die Angebetete wird sie
lieben, für mich sind sie zu alltäglich. „When I Think Of You“ hat
dann wieder den Mut zur überwältigenden Popmelodie, „I Get It“
geht auch gut ins Ohr. Und „Penguins“ macht mit seinem Groove
nicht nur Fans dieser Vögel und ihrer Liebesgewohnheiten Spaß.
Dass die Kanadier die Stadion-Hymne „We Are Canucks“ lieben,
ist auch sofort verständlich: Verdammt eingängige Nummer!
Insgesamt: Durchwachsenes Album mit paar wirklich guten Popsongs. Und das ist mehr, als man über viele Veröffentlichungen
sagen kann. Mittlerweile hat der Songwriter in Deutschland ein
eigenes Label gefunden. Dort soll demnächst ein Zusammenschnitt seiner ersten Alben herauskommen.
Raimund Nitzsche
© wasser-prawda
55
Platten
David Sinclair & Keith BenneƩ - Alchemy
Blues, Gypsy-Swing, Jazz, Folk - was Gitarrist David Sinclair und
Bluesharpspieler Keith Bennett gemeinsam spielen, mag aus verschiedenen Ecken stammen. Doch immer versprüht die Musik
dieses Duos eine einzigartige Magie. Nachhören kann man das
etwa auf dem 2011 erschienenen Doppelalbum „Alchemy“, bestehend aus Studioalbum und Konzert-DVD.
Bei den Mundharmonika-Weltmeistersschaften belegte Keith
Bennett zuletzt führende Plätze nicht nur auf der diatonischen
sondern vor allem auch auf der chromatischen Harmonica. Ähnlich wie in den letzten Jahren David Naidich zündet er auf „Alchemy“ bei Liedern wie dem „Gypsy Blues“ oder „Jumping At The
Yale“ swingende Sounds. Oder er liefert sich mit der Gitarre von
David Sinclair heftige Duelle irgendwo in den Grenzbereichen
zwischen Jazz, improvisierter Musik und Folk. Die Harp kann
dann zwischen strahlendem Schönklang und heftig verzerrten
Blueslinien ohne Brüche wechseln. Seine eigenen Songs - hier ist
Bennet auch an der Gitarre zu erleben - sind Folksongs zwischen
Bruce Cockburn und den jungen Simon & Garfunkel. Auf dem
Studioalbum erzählen Bennett und Sinclair einerseits alltägliche
Geschichten zwischen Folk und Blues. Und andererseits malen
sie Sounds, die mal nach klassischem Blues, dann wieder nach
Jazz oder Filmmusik klingen. Und niemals ist hier die Virtuosität
Selbstzweck. Ein tolles Album von zwei großartigen Musikern.
Raimund Nitzsche
Downchild - Can You Hear The Music
Downchild aus Kanada sind der lebende Beweis, dass Blues auch
Musik für gute Laune und Party sein kann. „Can You Hear The
Music“ ist eine weitere Ergänzung zu ihrem Katalog von Alben,
mit denen man das Dach zum Abheben bringen kann. Und außerdem gibt es auch noch ein paar echte Highlights drauf.
„I Need A Woman“ gibt der Horn-Section die Gelegenheit, gar
prächtig rumzutollen und hat ein Gitarrensolo aus dem Himmel keine schreiende Explosion, sondern etwas, was die Schönheit
des Songs einfach ergänzt. Das vorwärtstreibende „Fasten Your
Seat Belts“ mit seinem leichtfüßigen Klavier, den Trompetenstößen und dem exzellenten Spiel auf der Harmonika ist einfach ein
großartiges Lied. Ebenso auch „Worn In“ mit den Schlüsselzeilen
„I‘m worn in, I ain‘t worn out“ und „There‘s some snow on my
roof, but there‘s a fire deep inside“. Das verweist ohne Zweifel darauf, dass Downchild nun schon einige Zeit unterwegs sind und
man sich durchaus auch als altgediente Band bezeichnen kann.
Wie auch immer, das Feuer tief im Inneren glüht heiß - wie auch
das Album von Anfang bis Ende. Chuck Jackson hat eine wirklich überwältigende Stimme, ein ausgebildetes Knurren. Und mit
der Begleitung von solch einer gereiften und eingespielten Band
ist eines der Alben des Jahres entstanden.
Darren Weale
Gregory Hoskins & Gary Craig - The Map of Above,
The Map of Below
Folkrock mit bluesigen Anklängen, alltägliche Geschichten ohne
rosa Brillen, ein manchmal spartanischer Klang allein aus Gitarre
und Schlagzeug, doch dann auch wieder volle Instrumentierun-
56
© wasser-prawda
Platten
gen und einen kompletten Backgroundchor - „The Map of Above,
The Map of Below“ ist ein spannendes Sognwriteralbum, für das
sich der kanadische Gitarrist Gregory Hoskins mit dem Schlagzeuger Gary Craig (u.a. Bruce Cockburn) zusammengetan hat.
Als Gäste waren dann noch Colin Linden und Hawksley Workmann dabei.
Man muss äußerst aufmerksam und konzentriert sein, wenn man
sich auf die musikalische Reise dieses Albums begeben will. Denn
der sofort ins Ohr gehende Opener „Providence Line“ könnte einen sonst leicht in falscher Sicherheit wiegen. Das hier sind keine
leichten Wohlfühlstücke. Was Hoskins hier singt, sind teils bittere Lieder voll schonungsloser Blicke auf die Welt und das Leben.
Musikalisch spielen sie sich irgendwo in dem weiten Feld zwischen Paul Simon, der Tagesschau und den trunkenen Träumereien am Tresen kurz vor Mitternacht ab. Wenn dann noch eine
einsame Trompete zum spartanischen Arrangement hinzutritt
(„Mama‘s Boy“), dann ist die Schwermut fast unerträglich und
der brüchige Sound schier überwältigend. Faszinierendes Album
für Liebhaber.
Nathan Nörgel
H&G Factory – Puƫn’ 2gether
Dass wir hier laufend auf interessante Neuentdeckungen abseits
des Mainstream hinweisen ist ja nur ein Merkmal der Wasser
Prawda. Das wir dabei auch immer stilistische Vielfalt präsentieren ein weiteres. Hier haben wir nun ein neuerliches Beispiel für
gut gespielten zeitgemäßen Jazz aus der Slowakei: H&G Factory
mit ihrem aktuellem Album „Puttin‘ 2gether“.
H&G, das steht für die beiden Hauptverantwortlichen der Band,
Tomas Gajlik am Piano und David Hodek an den Drums. Dabei ist unbedingt beachtenswert, dass wir mit diesem Drummer
einen erst 16-jährigen Jüngling auf dem Hocker haben! Und der
macht seine Sache richtig gut; da darf man sich auf eine große
zukünftige Karriere freuen. Aber den Haupteinfluss übt derzeit
(noch) der Mann am Klavier aus, was die Aufnahmen des Albums auch deutlich unterstützen.
Gemeinsam ist dieses Duo für sechs der sieben Songs des Albums verantwortlich außer dem Bouns-Track „Diamonds“. Wie
gesagt, diese Musik ist Jazz, nicht zu kühl, nicht zu extravagant,
gut gespielt aus einer soliden Grundlage fachlicher Qualifikation.
Ein Album, dass sich hervorragend eignet für niveauvolle Hintergrundmusik in einer Bar mit Stil.
So sind die sieben Titel abwechslungsreich gestaltet, nicht zuletzt
durch die angenehmen weiblichen Stimmen oder des Einsatzes
vom Saxophon. Mit einem Rap begibt sich die Band auch mal
etwas weiter weg vom großen Boulevard, aber in risikoreiche Gefilde führt das dennoch nicht. Piano und Drums wissen immer
genau, wohin der Weg gehen soll - egal ob im arrangierten oder
improvisierten Setting. Die weiteren Instrumente, Bass, Gitarre,
Saxophon, Gesang oder die elektronischen Beigaben, sind allesamt Könner und so kann eine kurzweilige moderne Auffassung
des Jazz überzeugend geboten werden. Für den Fall, dass der interessierte Fan dies Album nicht gleich beim Fachhändler seines
Vertrauens finden kann sei auf die Internet-Seite der Factory verwiesen: www.davidhodek.net
Lüder Kriete
© wasser-prawda
57
Platten
Innes Sibun - Lost In The Wilderness
Zwischen wildem Rock & Roll und dem einsamen Singen einer
Bluesgitarre: Innes Sibun hat für sein aktuelles Album „Lost In
The Wilderness“ zwölf Songs gesucht, die ihm die Möglichkeit
geben, seine Vielseitigkeit als Gitarrist und Sänger unter Beweis
zu stellen.
Lust auf Party mit wildem Tanz? Dann ist der erste Song genau
richtig: Bei „You Can‘t Miss What You Never Had“ schlägt das
Herz jedes Rock&Rollers sofort im richtigen Takt, die Füße zukken und ein beseeligtes Grinsen schleicht sich in das Gesicht.
Doch schon beim nächsten Lied kommt der Kontrast: „Lost In
The Wilderness“ ist die Art von Bluesballade, bei denen Gitarristen ihre Liebe zu Gary Moore vollkommen ausleben können
- hier klagt ihr Instrument in reinen Linien, der Backgroundchor
sorgt für Gänsehaut. Und man fühlt die Verlorenheit mit allen
Fasern die ganzen sechseinhalb Minuten lang. Nächstes Lied,
nächster Kontrast: „Where Are You“ ist Instrumental, das irgendwann mal bei einem zwanglosen Jam entstanden sein muss, das
aber seither nicht wirklich seine Kanten verloren hat: Zwei Gitarren bauen eine romantische Stimmung, oder sollte man eher sagen: eine romantische Klangtapete? Für mich ist das zu belanglos.
Zum Glück kommt dann mit „There Will Be“ wieder eine rokkendere Nummer - kein spektakulärer Song, aber eingängig und
mit Spaßfaktor. Und dann mit „Double Trouble“ schon wieder
ein langsameres Bluesmonster von fast sieben Minuten.
So abwechslungsreich bleibt das ganze Album - für mich ergibt
sich da nicht wirklich ein geschlossenes Bild. Doch „Lost in The
Wilderness“ ist nur selten langweilig und häufig sogar ziemlich
großartig. Denn bei aller Brillianz, die Sibuns Gitarrenspiel hat
- er erliegt fast nie der Versuchung, seine Solos zum Blendwerk
verkomen zu lassen. Dafür ist er viel zu sehr Blueser im Herzen
und nicht ein Rockstar mit Stadion-Attitüde. Und deshalb kann
man das Album guten Gewissens weiterempfehlen.
Nathan Nörgel
Kat Danser - BapƟzed By The Mud
Man nennt sie die Queen des Swamp Blues in ihrer kanadischen
Heimat. Auf ihrem aktuellen Album „Baptized By The Mud“
treffen sich Roots, Blues und Oldtime Jazz zu einem bemerkenswerten Gospelgottesdienst.
Liegt es an den härter werdenden Zeiten? Oder bin ich in den
letzten Monaten einfach nur aufmerksamer geworden? Jedenfalls ist hier schon wieder ein Album mit Gospelblues auf dem
Schreibtisch, dass auch Ungläubigen das Gefühl der Erlösung
im Glauben nahebringen könnte. Kat Danzer hat sich nicht nur
klassische Songs, die meist eher unbekannt sind, ausgesucht und
sich zu eigen gemacht. Gemeinsam mit Gitarrist/Produzent Steve
Dawson hat sie dafür Arrangements gefunden, die zuweilen an
die besten Aufnahmen von Ruthie Foster, manchmal auch an die
Intensität von Bex Marshall erinnern. Oder aber - wie etwa im
Titelsong - treffen ein einsames Akkordeon auf stoische Banjos
und Countryfiedeln und eine Pedal Steele.
Höhepunkte des absolut gelungenen Albums sind für mich Dancers Interpretation von „None Of Us Are Free“, das eigentlich in
der Erinnerung an das Zusammenwirken von Solomon Burke
58
© wasser-prawda
Platten
und The Blind Boys of Alabama verbunden schien und der Opener „When The Sun Goes Down“.
Raimund Nitzsche
Kirsten Thien - Solo Live from The Meisenfrei Blues
Club
Ganz allein mit akustischer Gitarre und ihrer phänomenalen
Stimme präsentierte sich Kirsten Thien im Oktober 2012 im
Bremer Meisenfrei. Zum Programm des auf CD veröffentlichten
Mitschnittes gehörten neben eigenen Songs auch Bluesklassiker
von Ida Cox und Stücke von Musikerinnen wie Sheryl Crow, Bob
Dylan oder Bill Withers.
Es war in der Wendezeit, als man als Bluesfan mit einem begrenzten Kenntnisstand in Plattenläden gewaltige Bildungsschübe erfahren konnte. Frauen im Blues? Klar kannte man Bessie Smith
und Sippie Wallace, auch Koko Taylor und natürlich Janis Joplin
waren einem lieb und teuer. Aber plötzlich tauchten da Namen
auf wie Rory Block oder Bonnie Raitt, von denen man bislang
nie gehört hatte. An eine in Bremen entstandene Live-Aufnahme
von Rory Block fühlte ich mich erinnert, als ich erstmals das
neue Album von Kirsten Thien anstellte. Dort wie hier: Eine Frau
alleine mit Gitarre und einem Repertoire zwischen Vergangenheit
und Gegenwart. Und hier wie dort wird einem klarer als bei
vielen kompletten Bandaufnahmen, was Blues im Konzert bewirken sollte: Kirsten Thien beherrscht die Kunst, ihre Stärke und
Verletzlichkeit in jeder Note fühlbar zu machen und so das Publikum zum Teil des Konzerts zu machen. Und das ist es egal, ob
sie ihre eigenen Songs über das Unterwegssein („The Sweet Lost
And Found“), Klassiker der Frauen im Blues („Women Be Wise“
oder „Wild Women Don‘t Have The Blues“) oder Sheryl Crows
„Leaving Las Vegas“ anstimmt: Ob Blues, Pop oder Soul - alles
wird Teil eines Blueskonzertes. Neben Rory Block gehört Thien
zu den wenigen Frauen, die das in derartiger Vollendung können.
Ein faszinierendes Live-Album!.
Nathan Nörgel
Larry Carlton & Robben Ford - Unplugged
Im Pariser New Morning Jazz Club trafen zwei der besten Gitarristen zwischen Jazz, Blues und Rock aufeinander. Ohne Strom
und Effektgeräte spielten sich Larry Carlton und Robben Ford
dabei die Ideen nur so zu: „Unplugged“ hat mit Lagerfeuer nichts
zu tun sondern erinnert zuweilen gar an die legendäre „Friday
Night in San Francisco“ von John McLaughling, Al Di Meola
und Paco De Lucia.
Die Geschichte von Blues und Jazz kennt einige legendäre Gitarrenduos. Am Anfang - und für einige noch immer die Krönung
- stehen natürlich die Aufnahmen, die Lonnie Johnson und Eddie Lang in den 30er Jahren eingespielt haben. Immer unter dem
Motto: „Vier Hände sind besser als zwei“ sind diese Duette nicht
nur der Nachweis für die Virtuosität dieser Gitarristen sondern
auch ein Beispiel dafür, dass Blues und Jazz von Anfang an viel
enger verwandt waren, als das heute die akademisch gebildeten
Musiker beider Stile wahrhaben wollen.
Sowohl Carlton als auch Ford haben sich im Laufe ihres Lebens
immer wieder als Grenzgänger bewiesen. Und auch dieses Album
© wasser-prawda
59
Platten
„wildert“ voller Vergnügen im Blues und Jazz ebenso wie zeitweilig
in der Tradition der Flamencogitaristen oder der brasilianischen
Samba. Am schönsten ist das gleich beim Opener NM Blues 08
zu beobachten, wo sie noch ohne Bandbegleitung drauflos spielen.
Mit Bass (Fifi Chayeb) und Schlagzeug (Claude Salmieri) wird
aus dem Duo eine Jamsession eines fantastischen Quartetts, wo
Spielfreude und musikalischer Ideenreichtum die Spannung konstant auf höchstem Level halten.
Nein: Blues und Jazz sind noch immer enge Verwandte. Es
kommt - wie bei jede Musik darauf an, sein Herz in die Lieder
zu packen und damit die Zuhörer zu erreichen. Dieses Album ist
einfach großartig gelungen!
Raimund Nitzsche
Laura Cortese - Into The Dark
Die Fiddle-Musik des Country triff t bei Songwriterin Laura Cortese auf sehnsuchtsvolle Popmelodien und Anklänge aus der keltischen Folklore. Die Dunkelheit ihres Albums „Into The Dark“
ist nicht Trostlosigkeit oder Aussichtslosigkeit sondern oftmals die
anheimelnde Dunkelheit der Nacht, in der man seinen Träumereien nachhängt.
Es hat immer etwas Überraschendes, wenn Popmusik welcher
Couleur auch immer, sich dem Diktat von Gitarren oder Keyboards verweigert. In den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts
verliehen The Instabockatables etwa ihrer Verachtung für alle
sechssaitigen Instrumente mit ihrem fulminaten Folk-Rock Ausdruck. Zu bald allerdings war das Feuer verloschen, der Reiz des
Neuen dahin. Auch Apocalyptica ist mittlerweile aus dem Metal im Feuilleton und bei Wagner-Adaptionen gelandet. Nein, in
diese Reihe sollte man Laura Cortese nicht einsortieren. Eher ist
ihr Folkpop in der Nachbarschaft der frühen Jayhawks oder auch
von Songwriterinnen wie Rebecca Pidgeon oder Sarah K zu verorten. Wobei auch das nicht ganz funktionieren kann. Denn bei
denen würde man zwar Anklänge an diverse Folkstile finden aber
niemals eine Begleitung, die auch Elemente moderner Kammermusik beinhaltet. Und genau das passiert häufiger, wenn sich die
scheinbar einfachen Lieder entwickeln: plötzlich ist man aus den
Bergen der Appalachen in irgendeinem Kammerkonzert gelandet
und fühlt sich dabei noch pudelwohl.
Nathan Nörgel
Live in Reitwein - Das 100. Konzert
Auf diesem Konzert wäre ich gerne gewesen. Man kann nicht
alles haben. Zum Glück gibt es eine CD von diesem Event. Hier
traten die führenden Bluesbands auf, die die Entwicklung des
Blues in Ostdeutschland wesentlich beeinflusst haben.
Der Blues im Osten Deutschlands kennt viele legendäre Orte:
Es waren und sind selten die große Städte, die als Heim- , dann
zumeist in Gaststätten fungierten. Reitwein, tief im Oderbruch
liegend, ist so ein Ort. Die Gaststätte heißt „Zum Heiratsmarkt“
und eine Hochzeit war es wohl auch als sich u.a. Engerling, Kerth,
Jonathan-Blues-Band, Speiches Monokel, Freygangband und East
Blues Experience das Ja-Wort für eine lange Nacht gaben.
Mit grosser Erwartung schob ich die Scheiben in meinen Player und um es vorwegzunehmen, ich wurde teilweise enttäuscht.
Wenn ich zu einer Bluessession gehe, erwarte ich auch Blues.
60
© wasser-prawda
Platten
Punk gefällt mir nicht und will ich da auch nicht hören. Die Entwicklung von Freygang zu einer Punkband tut da schon weh. Es
gibt auch ausserbluesliche Sachen die man tolerieren kann, die
sogar gefallen. In diesem Konzert ist mir zu viel ausserbluesliches
Programm enthalten.
Am Anfang stehen der „Engerling Blues“ und „Die Anderen“
von Engerling, dargeboten in der bekannten Souveränität. „Die
Anderen“ hat an Aktualität nichts verloren. Und wer Engerling
noch nicht kennen sollte, muss das unbedingt nachholen. Auch
Jonathan und Gäste (von der ehemaligen Jonathan Blues Band)
haben in den Jahren nichts verlernt. Nachhören kann man das bei
„Blues & Trouble“, „Katzenfreund und „Daddy oh Daddy“.
Sängerin Heike Matzer könnte man als Lokalmatadorin bezeichnen. Zwanzig Jahre stand sie bei Returning Flood aus Frankfurt
(Oder) am Mikrophon. In Reitwein gab sie den alten Renft-Song
„Als ich wie ein Vogel war“ in einer guten eigenen Interpretation
zum Besten. Auch Die Zunft stammen aus dem Oderbruch. Mir
gefallen ihre Titel einfach nicht. Vor allem „Du bist so hässlich“
ist mir zu punkig. Und zur Freygang-Band habe ich mich oben
schon gäußert.
Die zweite CD beginnt mit der „Variation über einen andalusischen Gassenhauer“ des aus Cottbuss stammenden Gitarristen
Charlie Eitner. Und daran kann man sich nach mehrmaligem
Hören wirklich gewöhnen. Mit A „Got My Mojo Working“ von
A Glass of Bailey, dem Duo der Gitarristen Heinz Glass und Jürgen Bailey kam der Blues zurück auf die CD - und wie! Speiches
Monokel spielten die beiden Kultklassiker „Boogie Mobil“ und
„Bye Bye Lübben City“ in gewohnter Qualität. Die wilden Gitarrenriffs des letzten Songs sind legendär. Sängerin Indijana ist eine
Neuentdeckung. Sie erinnert mich an Joan Baez. Und ihr „Flying
Fish“ passt zur Auflockerung gut ins Programm. Gitarrist/Sänger
Peter Schmidt brachte zunächst als Solist Peter Gabriels „Don‘t
Give Up“ in einer gelungenen Songwriter-Version. Und als er
dann mit Band weiterspielte, war der Blues endgültig wieder im
Vordergrund. Bei „Early In The Morning“ wippt man sofort mit
den Füßen und der Song geht ins Ohr.
Was dann kam, war alleine das Geld schon wert: Jürgen Kerth
hatte in Reitwein Engerling als Begleitband! Kerth spielt Lieder
wie „Die Eine“, „Helmut“ oder „Red House“. Und Engerlings
Begleitung sorgt nicht nur bei mir für Begeisterung. Die sollten
wirklich mal gemeinsam ein Album machen!
Mit einer Session klingt das Konzert aus. Für die „Reitwein
Allstars“ versammeln sich so ziemlich alle auf der Bühne. Der
„Hoochie Coochie Man“ kommt hier in einer ganz ungewohnten
Interpretation aus den Boxen. Bei „Gimme Shelter“ übt Engerling, die bestimmende Band des Konzerts, für ihren nächsten Gig
mit Stones-Songs. Dass das Konzert nicht mit einem Blues abgeschlossen wird, ist bezeichnend. (Buschfunk)
Matthias Schneider
Malia & Boris Blank - Convergence
Vom souligen Jazz hin zur elektronischen Soulmusik: Die aus
Malawi stammende und in Großbritannien lebende Sängerin
Malia hat ihr neues Album gemeinsam mit dem Schweizer Electro-Pionier Boris Blank (Yello) aufgenommen.
© wasser-prawda
61
Platten
Für „Black Orchid“, ihre Hommage an Nina Simone, hatte Malia
einen Echo bekommen: Entschleunigt und voller Tiefe und Wärme hatte sie die Stücke der Hohepriesterin des Soul interpretiert.
Und auch „Convergence“ ist ein Album der großen Gefühle ohne Pathos, zurückschauender Sehnsucht und jeder Menge Soul.
Doch was Boris Blank mit Malia geschaffen hat, geht weit darüber hinaus, weckt Erinnerungen an frühere Kollaborationen von
ihm etwa mit Shirley Bessey oder auch an Bands wie Yazoo, die
ja auch vom Kontrast zwischen scheinbar kalter Electronic und
einer Soulstimme lebten.
Blank hat bis auf „Fever“ die Songs des Albums geschrieben und
damit der Sängerin Klanglandschaften gemalt, auf und in denen
diese unverwechselbare Stimme wachsen und strahlen kann, wo
sie verletzlich und stark sein kann. Manchmal werden Bezüge zu
afrikanischer Musik dabei hörbar. Manchmal ist die Spannung
zwischen Synthesizern und Stimme schmerzhaft spürbar. Doch
immer bleiben diese Lieder mehr als lediglich die Electropopsingle
für die nächsten vierzehn Tage. Sie haben Tiefe wie guter Blues,
geben Stärke wie Gospel. Gemeinsam haben Malia und Blank
den Beweis dafür erbracht, dass ein Label wie „Electro-Soul“
durchaus Berechtigung hätte. Denn zuviele Banalitäten haben
den Begriff „RnB“ für immer bedeutungslos gemacht. (Universal)
Raimund Nitzsche
Michael Maƫce - Comin‘ Home
Ein Mann, eine akustische Gitarre und jede Menge Melancholie
- Michael Mattice will uns mit seinem aktuellen Album anregen,
trotz des Lärms und der Hektik der Zeit auf die inneren Stimmen
zu hören, den versteckten Träumen zu folgen.
Dass Songwriter Michael Mattice während des Studiums mal eine
Metalband gegründet hatte, hört man hier niemals: „Comin Home“ ist ein Songwriteralbum, das tief in den Traditionen von Folk
und Blues forscht und daraus eigene Melodien schafft, die einen
in ruhigen Momenten zu Tränen rühren können, die man ansonsten aber trotz ihrer Schönheit viel zu leicht überhören kann. Das
sind Lieder über die Suche und die Sehnsucht nach einer Heimat,
die mehr in der Innerlichkeit als dem frischgemauerten und mit
Hypotheken belasteten Eigenheim besteht. Das Getriebensein,
die Unruhe, die ja eigentlich eine der Triebfedern der menschlichen Entwicklung ist, kann nur dann produktiv sein, wenn ihr
die Vorstellung einer Heimat entgegen gesetzt wird, die als Ziel
all unseres Strebens gesucht wird. „Comin‘ Home“ ist die richtige
musikalische Erinnerung daran: Leise, unaufdringlich, von einer
verblüffenden Schönheit - und niemals in billigen Kitsch abgleitend sind die Lieder und die Interpretation von Mattice.
Raimund Nitzsche
Mike & The Mellotones - 1+1=3 (feat. Enrico Crivellaro)
Ein Gipfeltreffen in Sachen zeitgenössischem Gitarrenblues aus
zweien unserer Nachbarländer ist dieses Album. Die Niederländer
von Mike & The Mellotones hatten sich für „1+1=3“ Verstärkung
von dem italienischen Gitarristen Enrico Crivellaro geholt. Und
wer sich dabei langweilen sollte, ist garantiert kein Bluesfan.
62
© wasser-prawda
Platten
Manche Behauptungen sind zwar eindeutig falsch, verkünden
aber dennoch einen Teil der Wahrheit. Wenn man die richtige
Partnerin für‘s Leben gefunden hat, dann ist die Summe eben
mehr als einfach die Addition der Einzelteile. Und für den Titelsong des neuen Albums von Mike & The Mellotones gilt das
auch noch in einem weiteren Sinne: Wenn man zwei Gitarristen
wie Mike Donkers und Enrico Crivellaro zusammen musizieren
lässt, dann ist das Ergebnis ein ganz anderes als bei beiden in
ihren jeweiligen angestammten Bands. Sehr schön ist das schon
beim ersten gemeinsamen Song auf dem Album zu hören: „Just
A Dream“ lebt so richtig von dem Hin und Her an Ideen, die
sich die beiden zuwerfen. Leider beschränkt sich der Beitrag
Crivellaro‘s auf die Mitwirkung bei drei Liedern. Aber die sind
eindeutig die Höhepunkte der Scheibe. „Ready Freddy“ etwa lässt
die Ablenkung durch Gesang gleich ganz fort und ist eine sehr
schöne Duo-Hommage an Freddy Kings Version des Texasblues.
Und „Encore Enrico!“ lässt dem Italiener den Raum, seine Gitarre
glänzen zu lassen zwischen jazzigen Anleihen, dem Erbe der verschiedenen Kings und italienischer Lebensart.
Aber auch ohne ihn zünden die Mellotones ein Bluesfeuerwerk.
„He‘s Gonna Step On You Again“ wird dank der Mitwirkung
diverser Percussionisten zu einer Kreuzung zwischen Blues und
afrikanischen Rhythmen. Und „W-O-R-R-Y“ mit großartiger
Mandoline würde auch auf Alben von John Fogerty oder Tony
Joe White eine gute Figur machen: Rootsrock/Americana mit gehörigem Swamp-Feeling. „Blue Chase“ hat - wie auch paar andere
Nummern des Albums - einen ordentlichen Funk-Groove. Aber
hier wird dann auch der Schwachpunkt deutlich: Für diese Musik
hat Mike nicht ganz die richtige Stimme. Hier wünschte ich mir
wesentlich mehr Power und Tiefgang. Aber das ist Nörgelei auf
einem ziemlich hohen Niveau. Denn wenn die Musik rockiger
oder bluesiger ist, dann scheint er mir wirklich zu Hause zu sein
als Sänger.
Nathan Nörgel
Mojo Blues Band - Walk The Bridge
Vor vielen Jahren wurde mir hinter vorgehaltener Hand als Geheimtipp gesagt, dass die Mojo Blues Band die beste Blues Band
Europas sei. Viele Jahre später hatte ich Gelegenheit, die bester
Blues Band Europas in Jazzkeller in Wien und noch mal hier auf
der Staudacher Musikbühne zu hören. Und sie gehören garantiert
zu der Kategorie beste Blues Band Europas. Letztes Jahr hat nun
die Mojo Blues Band ihr viertes Album in diesem Jahrtausend
„Walk the bridge“ veröffentlich. Es ist eine Doppel-CD mit 30
Songs, wobei 22 Songs aus der Feder der Herren Eric Trauner,
Siggi Fassl, Charlie Furthner, Herfried Knapp und Didi Matterberger stammen. Stilistisch ist es der ganz normale Blues, aber
jetzt das große Aber: Die Songs sind mit einer solchen Groove
eingespielt, der sofort Laune macht und den Zuhörer nervös auf
dem Stuhl herumrutschen lässt. Das Knie zittert, der Fuß klopft
den Takt und die eigene Stimme hebt zum Duettgesang mit Erik
Trauner oder Siggi Fassl an. Was die Mojo Blues Band hier bringt
ist die ganze Bandbreite des Blues, wie sie ihm im Süden der USA
spielen: Swamp, Cajun und New Orleans Sound, das Feeling aus
Mississippi, Alabama und Georgia kombiniert mit den schnellen Boogies vom Charlie Furthner. Der Song „I‘m New Orleans
© wasser-prawda
63
Platten
bound“ bringt den Sound auf den Punkt. Auf der CD singen
sowohl Erik Trauner wie auch der Gitarrist Siggi Fassl in wirklich
unterschiedlicher Weise. Da es hier eine Vielfalt von Sounds und
Instrumentierungen gibt, wird das Album zu keinem Zeitpunkt
langweilig. Es werden zwar die immer gleichen Themen wie Frauen und der Blues als Lebensinhalt besungen, aber auch der genervte Mann neben der nach Smartphone und Facebook süchtigen Frau kommt vor. Das Lebensmotto aller Blueser hat Eric
Trauner auf der zweiten Scheibe zusammengefasst: “The Blues is
all I wanna sing until I lay my body down”.
Was mir an diesem Album besonders gefällt ist das Tempo, das
vor allem vom Drummer Didi Mattersberger und von der linken
Klavierhand von Charly Furthner geprägt ist. Der unschlagbare Upright Bass wird von Herfried Knapp gespielt. Der gesamte
Drive kommt schnell und präzise wie ein Uhrwerk, wobei wir
hier kein lahmes Quarzuhrwerk vorfinden, sondern die von einer lebende Unruh getriebene Rhythmusgruppe der Mojo Blues
Band. Mit dem Erik Trauner und der Heinz Fassl erleben wir
unterschiedliche Gesangsstücke zwischen Blues und Ballade und
vielfältiges Gitarrenspiel: Erik ausgeprägtes Slidespiel in „Alimony, Alimony“ oder zum Gesangsduett „You must be traveling“
zeugen von Feeling und Handwerk. In Wien hat mir Siggi Fassl
zu meinem Erstauen das Spiel des Blues auf einer Lap Steel Gitarre gezeigt, die ich bis dato nur von Hawaiimusik kannte (NB:
Mittlerweile habe ich selbst 3 Lapsteels). Heinz Fassl spielt also
nicht nur eine sauber und schnelle Jazz- und Bluesgitarre, sondern
setzt seine Lapsteel bei Stücken wie „Siggi’s lap steel Blues“ oder
dem „Blue guitar stomp“ ein. Von dem Bekenntnis-Song “ Walk
the bridge“ gibt es auch eine zweite Radioversion, ebenso von den
superschnellen Song “She’s a hot mamacita“ mit eine alternativen
Take. Was besonders wohltuend hervorscheint sind die schnellen
Boogies von Charly Furthner. Eine linke Hand, die Tempo und
Rhythmus macht und eine rechte Hand für die virtuosen BoogieSolos. Für mich immer eine tolle stilistische Alternative zum typischen Gitarrenblues unserer Zeit.
Ein Teil des Sounds der CD kommt natürlich auch von der Brass
Section, wie es bei einer New-Orleans-bound Band nicht fehlen
darf. Paul Chuey steht hier am Tenor- und Altosax und trägt mit
dem Instrumental „Paul’s Shuffle“ auch zu den 30 Songs bei.
Diese Doppel-CD zeigt die ganz Bandbreite des Blues, gespielt
von einer der besten europäischen Blues Bands mit internationaler
Erfahrung. Daher unbedingt zu empfehlen.
Leider macht sich die Mojo Blues Band in Deutschland ziemlich
rar. Daher bin ich froh um die CD und das Konzert am 15. März
in Puchheim, von wo die Wasser-Prawda mit einem Interview der
Mojo Blues Band und einem Konzertreview berichten wird.
Mario Bollinge
Niedecken - Zosamme Alt
Irgendwann war BAP für mich erledigt. So wie auch die Bücher
von Hesse ab einem Zeitpunkt im Regal blieben oder die Liebe
zu süßem Wein aus Ungarn erkaltet war. Ich war älter geworden.
Und ich wollte mir nicht mehr von dieser oder anderen Bands
mein Leben begleiten lassen. Und als Wolfgang Niedecken sich
dann auch noch mit Verkölschungen von Dylan meldete, war der
Spötter in mir am Jubilieren ob dieses Frevels. Eine Möglichkeit,
64
© wasser-prawda
Platten
alte Vorurteile neu zu überprüfen und entgangene Lücken der
musikalischen Biographie Niedeckens zu füllen, bietet das Album
„Zosamme Alt“, für das der Kölner Lieder der letzten Jahrzehnte
neu aufgenommen hat.
Klar, Wolfgang Niedecken hat „Zosamme Alt“ für seine Frau aufgenommen als eine neue Liebeserklärung. Aber wenn man Stücke
wie „Rääts Un Links Vum Bahndamm“ im Jahre 2013 wiederhört, dann wird einem mit Erschrecken klar, dass man selbst in
den Jahren ebenso gealtert ist wie der Künstler. Damals zählte
das zu den wenigen wirklich guten Beschreibungen des Alltags in
westdeutschen Großstädten jenseits von Punk und NDW. Und in
der typisch deutschen romantischen Grundstimmung hatte man
auch als Jugendlicher in der DDR einen direkten Zugang zu den
Liedern (wenn man denn die Chance hatte, die Texthefte der
Schallplatten in die Hand zu bekommen). Lieder wie „Alexandra“
fehlen leider hier - das waren über Jahre hinweg persönliche Hits.
Doch auch so kann man sich bei „Griefbar Noh“, „Jedanke Em
Treibsand“ oder „Waat Ens Jraad“ in die Zeit zwischen Pubertät,
Abitur und Liebeskummer zurückversetzen.
Produziert von Julian Dawson ist das hier ein wundervoll ruhiges
Folk-Album geworden, wo der teilweise aufgesetzte Rock&Roll
von BAP ganz und gar verschwunden ist. Und dadurch werden
die Lieder plötzlich wieder aktuell und großartig. Das sind Liebeslieder, wie ich sie selbst mir nie getraut habe, der angebeteten
oder erträumten Frau zu singen.
Nathan Nörgel
OƟs Taylor - My World Is Gone
Auf seinem 2013 erschienenen Album „My World Is Gone“ widmet sich Otis Taylor verstärkt den Problemen der amerikanischen
Ureinwohner. Vor allem die Gitarre von Mato Nanji prägt den
eindrücklichen Tranceblues des Songwriters auf dieser Veröffentlichung.
Immer mehr verschwinden die Kulturen jahrhundertealter Völker durch Globalisierung und die immer weiter fortschreitende
Unterordnung der Kultur unter die Gesetze der Märkte. So war
es nur eine Frage der Zeit, bis Otis Taylor von den Problemen der
afrikanischstämmigen Amerikaner sich auch zu denen der Ureinwohner des Kontinents hinwandte: Die Erfahrungen von Rechtlosigkeit, Unterdrückung und ständigem Verrat sind letztlich vergleichbar. Und die Frage, ob man sich mit den Mitteln des Blues
mit Gewalterfahrungen von Indianerstämmen auseinandersetzen
darf, ist rein akademisch. Nein: ob es um einen Indio gibt, der als
Folge des Alkohols sein wertvolles Pferd verliert oder darum, dass
man die heiligen weißen Büffel mittlerweile nur noch in Fernsedokumentationen sieht. Auch das sind ebenso Erfahrungen, die
man mit dem Tranceblues Taylors zutreffend erzählen kann wie
die Schilderung vom Abschlachten hunderter friedlicher Indios
im 19. Jahrhundert durch die Kavallerie der Vereinigten Staaten.
Man kann Otis Taylor sicherlich mit einiger Berechtigung vorwerfen, dass seine Musik in den letzten Jahren immer vorhersagbarer geworden ist. Die Themen für seinen Protest sind andere
geworden, gleichgeblieben ist die Musik zwischen akustischem
Rootsblues und der elektrisch verstärkten Variante zwischen Blues
und Rock. Doch dieser Vorwurf ist meines Erachtens fehl am
Platz. Denn was Otis Taylor zu einem der wichtigsten Musiker
© wasser-prawda
65
Platten
des Blues im 20. und 21. Jahrhundert macht, sind eben die politisch engagierten Songs, seine oft schroffe Kritik an Ungerechtigkeit in Vergangenheit und Gegenwart. Und damit sorgt er dafür,
dass der Blues relevant und aktuell bleibt, dass er nicht zu einer
historisch abgehakten Episode der Geschichte oder zu einer behäbigen Kneipenmusik verkommt. (Telarc/in-akustik)
Raimund Nitzsche
Port City Prophets - Mule
Genügsam und ausdauernd, so wird das Maultier oft geschildert.
Ein Arbeitstier, kein edler Renner. Und auch oft stur, was seinen Kopf betriff t. Ähnlich stur halten die Prot City Prohpets auf
ihrem Album „Mule“ an klassischen Bluessounds zwischen jangenden und klagenden Slidegitarren und gospelverwandten Orgelteppichen fest.
Ein Stückchen Land und ein Maultier hatte man den befreiten
Sklaven nach dem Bürgerkrieg versprochen. Das Versprechen war
leider wie so viele gebrochen worden. Gebrochene Versprechen
stehen auch am Anfang des Blues, Lebenswege voller Hindernisse
und zusätzlichen Herausforderungen. „Jesus hat meine Seele gerettet - aber mein Geld gehört meiner Frau“ klagen Port City Prophets. Es ist nur eine halbe Erlösung. Der Glaube allein scheint
nicht auszureichen in einer Welt, in der man ohne Geld zum
Nichts reduziert wird. „I Already Know“ ist ein anderer dieser
Songs, deren Doppelbödigkeit man erst nach mehrfachem Hören wirklich erkennt. Dann allerdings wird „Mule“ immer mehr
zu einem Album, dass aus der Masse der Veröffentlichungen im
Jahre 2013 heraussticht: Es geht um die Erfahrung, eben nicht
den allgemeinen Maßstäben zu genügen. Man ist ein Maultier in
einer Stadt voller Pferde. Man kann sich anstrengen wie man will
- immer wird etwas fehlen. Vollendetes Glück gibt es im Blues
nicht - oder es ist kein Blues mehr. Man kann immer nur drum
bitten, dass einem ein wenig Luft zum Atmen bleibt, dass die Frau
es kapiert, dass man sich schon längst geändert hat.
Musikalisch ist das elektrischer Blues voller Spannung: egal ob
nun in hoher Geschwindigkeit oder in eindrücklichen Balladen.
Gitarre und Orgel zeichnen klassische Klanglandschaften ohne
in Zitaten verhaftet zu sein. Und dann diese Stimme von Sänger
- genau ausgewogen zwischen Widerstand und Resignation. Eine
wirkliche Entdeckung ist diese Band mit diesem Album für mich.
Eine, die ich gerne weiterempfehle an gute Freunde.
Raimund Nitzsche
Quique Gómez & Luca Giordano - Chicago „3011
Studios“ Sessions
Der italienische Gitarrist Luca Giordano und der spanische Harpspieler Quique Gómez sind beider verrückt nach traditionellem
Chicagoblues. Nachdem sie gemeinsam oder mit ihren eigenen
Bands in Europa immer wieder amerikanische Künstler auf Tourneen begleitet hatten, trafen sie sich in Chicago zu Sessions für
ein gemeinsames Album. Und da schauten eine Menge amerikanischer Künstler von Billy Branch bis Eddie C. Campbell vorbei
und machten die Aufnahmen zu einem Paradebeispiel für den
elektrischen Blues Chicagos der 50er bis 70er Jahre.
66
© wasser-prawda
Platten
Tradition pur: Kann man wenn man daran festhält, heute noch
wirklich lebendige und ansteckende Musik machen? Wenn man
nicht nur sein Handwerk ausgezeichnet beherrscht, sondern auch
die ganze dahinterliegende Kultur versteht, dann kann das funktionieren. Das jedenfalls beweisen Gomez und Giorano mit ihren
Gästen. Ob sie Klassiker wie „Outskirts of Town“ oder „Rocket
88“ spielen oder eigene Songs: Das ist spannend und auf den
Punkt gespielte Tradition von Meistern ihrer Instrumente. Das ist
Blues, der nicht für akademische Vorlesungen bestimmt ist sondern für deftige Clubnächte irgendwo in Europa oder den Juke
Joints der Provinz. Und das ist eine Empfehlung wert.
Nathan Nörgel
Rabbit Foot - Dark Tales Vol. 1 (EP)
Der Titel sei durchaus ironisch zu verstehen, betonen Gitarrist/
Sänger Jamie Morgan und Drummerin/Sängerin Carla Viegas
alias Rabbit Foot. Doch selbst sie können nicht verneinen, dass
die fünf Songs ihrer EP ziemlich düster geraten sind.
Da geht es um das Zimmer in einem Krankenhaus, wo die Ärzte
und Polizei entscheiden, ob Leute in die Psychiatrie müssen oder
sie der Strafverfolgung unterliegen müssen („Suite 136“). Oder
sie widmen sich dem Grimmschen Märchen vom eigensinnigen
Kind, das niemals tat, was seine Mutter wollte und das Gott es
sterben lässt. Aber selbst begraben lässte es sich nicht, streckt
immer wieder den Arm aus der Erde, bis die Mutter es prügelt
(„Stubborn Child“). Höchstens die Singleauskopplung „Tip My
Hat“ kommt als Loblied auf Kneipenromanzen lebenslustiger daher. Doch auch hier klingen Morgans Gitarrenriffs wie nach einer
Überdosis klassischem Heavy Metal und Vargas‘ Djembes legen
einen stampfenden Groove darunter. Das ist keine rosarote Romanze, sondern eine Begegnung verlorener Seelen am Thresen.
Nach dem wilden Debüt „Swamp Boogie“ ist die Musik des Duos
deutlich europäischer geworden, härter und weniger verspielt. Die
Songs rocken auf den Punkt und treten einem von Anfang an in
den Hintern. Bluespolizisten werden allerdings empört aufjaulen.
Aber die sind mir egal. Die Produktion ist rauh und direkt: die
Instrumente wurden live und in einem Take eingespielt. Nur der
Gesang kam später dazu und ein paar zusätzliche Gitarrenlinien.
Teil Zwei soll noch dunkler werden. Nur die mangelnde Studiozeit brachte die beiden dazu, ihre Geschichten in zwei Teilen zu
veröffentlichen. Party on, Dudes! I need a most triumphant video
for „Stubborn Child“.
Nathan Nörgel
Sheba The Mississippi Queen - BuƩer on My Roll
Ihre Herkunft aus Mississippi kann und will sie nicht verleugnen. Doch heutzutage ist Sängerin Sheba vor allem in Florida unterwegs mit ihrem swingenden Soulblues. „Butter On My Roll“
weckt ebenso auch Erinnerungen an die Bluesqueens der 20er
Jahre des letzten Jahrhunderts.
Klar, es ist das das ewige Problem - die Suche nach einem wirklich
guten Mann. Schon Bessie Smith, Ma Rainey oder ihre Kolleginnen wussten davon nicht nur ein Lied zu singen. Sheba hat nicht
nur die als Vorlagen sondern auch die Nachrichten über die diversen Skandale, in die Politiker und ihre Frauen verstrickt waren.
In den Liedern auf ihrem aktuellen Album „Butter On My Roll“
© wasser-prawda
67
Platten
steht dieses Thema naturgemäß im Zentrum. Aber Sheba ist - wie
auch die Queens der Frühzeit - keine schwache Frau, die sich mit
Kompromissen zufrieden geben würde. Sie fordert Liebe und
will nicht zum Spielball werden. Klar, wenn sie ihn denn gefunden hat, den wirklich passenden „Big Man“ in jeder Beziehung,
dann hält sie ihn fest und lässt ihn nicht mehr entkommen. Dann
vertreibt sie auch ihre Freundinnen, die eventuell Lust bekommen
könnten.
Sheba ist eine beeindruckende Sängerin, die zwischen gänsehaut-verursachenden Balladen und heftig groovenden Nummern
sämtliche Register zu ziehen vermag. Was mir bei „Butter On My
Roll“ fehlt, sind die fetten Bläser. Deren Aufgabe wurde auf dem
Album von Keyboards übernommen. Klar, das ist kostengünstiger, gerade auch wenn man ständig mit seiner Musik auf Tour ist.
Aber der Kontrast zwischen dieser gewaltigen Stimme und den
schwachbrüstigen Synthetiksounds fällt hier doch unangenehm
auf.
Nathan Nörgel
Stormy Monday ArƟst CollecƟon - Blues & Boogie
No. 6
Traditioneller Boogie-Woogie, akustischer Blues oder Blues und
Bluesrock in den verschiedensten Mundarten: Beim süddeutschen
Label Stormy Monday Records finden Künstler zwischen Vince
Weber, den Crazy Hambones und „Sir“ Oliver Mally ebenso eine
Heimat wie der Tscheche Matej Ptaszek oder Calo Rapallo und
der Schweizer Pianist Nico Brina.
Klein, fein und eher traditionell, so könnte man das Konzept von
Stormy Monday Records umschreiben. Wo Label wie Ruf oder in
letzter Zeit auch Timezone eher auf rockige Klänge setzen, versammeln sich hier die Vertreter der Bluestradition. 2013 etwa veröffentlichte man mit Nico Brina und Thomas Scheytt zwei sehr
unterschiedliche aber dennoch an der Musikgeschichte interessierte Pianoalben. In den letzten Jahren war das Label schon zur
Heimat von den Crazy Hambones, Peter Crow C., der Schweizer
Zydecotrupppe The Streetrats und den Italienern der Dave Moretti Blues Revue geworden. Und man veröffentlicht auch Mundartblues aus dem Schwabenland mit PhrasePig und Calo Rapallo.
Auf dem aktuellen Labelsampler, den StoMo immer anlässlich
ihrer jährlichen Blues & Boogie Nights veröffentlicht, finden
sich neben Songs von den jeweils aktuellen Alben dieser Musiker
auch Aufnahmen der StoMo Allstars, zu denen sich 2013 sieben
Musiker des Labels zusammenfanden. Auch wenn man sich vom
Vertrieb bei inakustik verabschiedet hat (um mehr Einfluss auf
den wichtiger werdenden Markt bei Downloads zu haben), gehört StoMo eindeutig zu den wichtigsten Labels nicht nur für die
deutsche Szene.
Raimund Nitzsche
Susan CaƩaneo - Haunted Heart
Songwriterin Susan Cattaneo wuchs mit traditioneller Countrymusik auf. Doch ihr aktuelles Album „Haunted Heart“ ist mehr
als das: In der Tradition von Lucinda Williams und anderen Kolleginnen erzählt sie ihre Geschichten mit Musik zwischen Folk,
68
© wasser-prawda
Platten
Blues, Country und Pop, voller Melancholie und Trost, ohne
Angst vor den dunklen Momenten.
Die moderne Country-Musik ist immer mehr in die Belanglosigkeit abgeglitten. Je simpler die Songs und die Botschaften, desto erfolgreicher der Einsatz im Radio und die Verkaufszahlen.
In Deutschland würde man viele Künstlerinnen und Künstler
aus der Ecke mittlerweile unter Schlager abheften und - je nach
Laune sofort vergessen oder aber wegen ihrer Alltagstauglichkeit
abfeiern. Die interesantere Musik aus der Tradition wird daher
heute oft gleich in Americana einsortiert, um Missverständnisse
zu vermeiden. Susan Cattaneo könnte man auch in die Schublade
Singer/Songwriter packen, ohne ihr Unrecht zu tun.
Aber Alben wie „Haunted Heart“ lassen mich überlegen, ob ich
nicht wirklich eine extra Rubrik für Country einführen soll in
unserem Magazin. Denn hier treffen musikalische Tradition
und Songs der künstlerischen Selbsterforschung aufeinander und
schaffen die Magie, die für mich Country mal faszinierend machten. Sie singt voller Selbstironie davon, dass sie den Whiskey wert
ist, den man ihr am Tresen ausgibt, sie erzählt Geschichten von
brennenden Scheunen und melancholischen Dancehall Queens.
Und das ohne Schmalz, ohne Pseudopatina sondern mit einer Direktheit, wegen der man solche Musik mal als Blues des weißen
Mannes bezeichnen konnte. (Jersey Girl Music).
Nathan Nörgel
The Campbell Brothers - Behind The 4 Walls
Als Robert Randolph 2013 eine „Supergroup“ der Sacred Steel
Szene zusammenbrachte, war das resultierende Album nicht
komplett überzeugend. Denn bei einigen der Pop- oder Bluescover konnte sich die einzigartige Kraft dieser eigentlich geistlichen
Musik nicht voll entfalten. „Behind The 4 Walls“ der Campbell
Brothers ist dagegen von vorn bis hinten ein christliches Album
geblieben. Und das ist auch gut so.
Ihr Weg, Gott zu preisen, sei es, die Musik aus der Kirche heraus
zu den Menschen zu bringen, meinen die Campbell Brothers. Ob
sie nun als Mitglieder der „Slide Brothers“ bei Jay Leno auftreten
oder aber bei Konzerten schon mal Titel von Jimi Hendrix durch
ihre ganz eigenen Traditionen Respekt zollen: Diese Band nimmt
es ernst, überall als christliche Band wahrgenommen zu werden.
Ein Album von ihnen ist damit von Anfang an nicht von dem
kirchlichen Kontext oder besser: vom Glauben der Musiker zu
trennen. Und so beginnt „Behind The 4 Walls“ auch mit dem
scheinbar plakativen: „Hell No!, Heaven Yes!“. Doch der Song
ist keine Kampfeshymne sondern eine persönliche Besinnung auf
das, worauf es im Leben ankommt, nämlich das Ende im Blick
zu haben und damit auch die Verantwortung für das eigene Tun
und Glauben.
In Zeiten der political correctness sind Glaubensbekenntnisse
gerade von frömmeren Menschen immer schnell oder besser:
vorschnell unter dem Verdacht des Fundamentalismus. Und die
Gemeinden, in denen die einzigartige Tradition der Sacred Steel
Music entstanden ist, diese Fusion von Steelgitarren, Bluesakkorden, dem Drive von Soul und Funk und der Frömmigkeit des
Gospel, sind als Pfingstler sehr schnell in der Schusslinie.
Warum die Gemeinden von „House of God“ eigentlich dagegen
sind, dass ihre Musik außerhalb der Gottesdienste gespielt wird
© wasser-prawda
69
Platten
und somit auch Menschen ergreifen kann, die dem Glauben generell oder in der speziellen Form skeptisch gegenüberstehen, bleibt
für mich eine offene Frage. Doch spätestens seit Robert Randolphs großen Erfolgen ist die Tradition in alle Welt gewandert.
Mittlerweile gibt es Sacred Steel Bands selbst in den Niederlanden
und Finnland. Und das meist außerhalb der vier Kirchenmauern.
Wenn man Songs wie „It‘s Allright Now“ oder „Believe I‘ll Run
On“ hört, dann sind solche Fragen eh nebensächlich. Denn hier
sind Lieder zu hören, die neben den geistlichen Texten Blues und
Bluesrock mit einer derartigen Energie und Spielfreude zelebrieren, die selten geworden ist. Die Gitarren kreischen, jubilieren,
singen wie bei Buddy Guy oder Jimi Hendrix - und sie plappern
keine hohle technische Meisterschaft sondern sind Teil der gesamten Botschaft des Albums. Und das ist eine der Freude und Kraft,
die man als Mensch im Glauben finden kann. Kirchenmusik die
rockt, die groovt, zu der man tanzen muss - was kann es eigentlich Schöneres geben?
Raimund Nitzsche
The Enzymes with The AcƟve Ingredients - s.t.
Murphy Dunne kennen viele lediglich als Keyboarder der legendären Blues Brothers. Und natürlich auch als Chef von Murph &
The Magic Tones, dieser plüschigen Band, die im Film ihren Auftritt in irgendeiner Hotelbar hat. Doch ebenso wie seine Mitstreiter in The Enzymes hat der Keyboarder und Schauspieler schon
mit den verschiedensten großen Namen Musik gemacht oder vor
der Kamera gestanden. Das gemeinsame Album ist eine RockShow mit gewaltigem Spaßfaktor.
Das Leben ist eines der zweitschwersten, meinte mein Vater immer. Da hilft kein Jammern. Besser ist es, die Schwierigkeit wegzulachen. Oder noch besser: lachend wegzutanzen. Schluss mit
Grübeleien - Pavlov hat mal wieder geklingelt und die anerzogenen Reflexe kann man mit logischem Denken eh nicht unterdrücken. Die Enzyme mit den aktiven Zutaten liefern genau die
richtige Mixtur für eine Party. Sie singen zwischen Nonsens und
Albernheit. Und sie spielen dazu eine feine Mixtur aus Rock &
Roll, Rhythm & Blues und bombastischen Momenten. Der Zorn
wird in G-Dur abgehandelt, die Wahrheit ist im Quieken zu finden und wenn die Musik die entsprechende Temperatur liefert,
ist selbst auf der Sonne Leben möglich. Kompletter Unsinn? Da
kannst Du drauf wetten. Aber genau darin liegt der unwahrscheinliche Spaß, den dieses Album macht!
Nathan Nörgel
The Mighty Bosscats - Boiling Pot
Richard Townend gehört vielleicht zu den produktivsten Songschreibern in der britischen Bluesszene. Seit 2011 hat er schon
sechs Alben als Solist und mit The Mighty Bosscats veröffentlicht.
Dass er bei dem Tempo aber immer auch herausragende Songs
verfassen kann, hat er mit „Boiling Pot“ mal wieder unter Beweis
gestellt.
Eigentlich hatte Townend ja - ähnlich wie die französische Sängerin Nina Van Horn - ein Album über die sieben Todsünden
machen wollen. Doch das Projekt geriet irgendwann ins Stocken,
weil die Textideen wohl nicht ausreichten. Doch ein paar Stücke
auf „Boiling Pot“ passen gut dazu: Nicht nur das explizit betitelte
70
© wasser-prawda
Platten
„Pride“, dass davon handelt, wie einen der Stolz daran hindert,
sich wirklich auf Menschen und das Leben an sich einzulassen.
Auch der Countrysong „Lordy Lordy Lordy“, „Waco Station“ und
andere Songs kommen immer wieder mit Bezügen zu Glauben,
zu Gott und Religion daher. Das passiert niemals aufgesetzt, immer in kleinen Geschichten aus dem Alltag, die einen zum Nachdenken anregen.
Musikalisch haben die Bosscats in ihrem Topf eine Menge an
Einflüssen verarbeitet. Vom Blues und Bluesrock kam eine Menge hinein, dazu etwas Country und Americana. Und gewürzt ist
das Ganze mit Hinweisen auf Songwriter/Gitarristen wie Mark
Knopfler oder Chris Rea. Die Hitze allerdings ist meist reduziert,
denn das Gericht muss eigentlich nur noch warm gehalten werden bis zum Genuss, auch wenn Stücke wie „Elvis Coming Home“ gehörig nach vorn treiben: Das ist kein Album zum wilden
Abhotten in der Kneipe sondern eher für das intimere Treffen
mit Freunden. Denn nur in der Stille kann man den Geschichten
wirklich lauschen und lässt sie nicht einfach an sich vorbeirauschen. Und das wäre schade drum.
Jetzt bin ich gespannt, ob Townend weiter an den Todsünden arbeitet als Songschreiber. Denn auch wenn ich kein erklärter Fan
von Konzeptalben bin: Was hier innerhalb eines Albums an Gedanken und Anregungen, an Geschichten und Gefühlen vermittelt wird, das macht neugierig auf wesentlich mehr.
Nathan Nörgel
The RevelaƟons - The Cost of Living
The Revelations stachen schon immer mit ihrer Musik aus dem
Heer der Retro-Soul-Bands heraus. Auch wenn Leadsänger Try
Williams den Liedern immer auch das klassische Feeling hinzufügte: Diese Band machte schon immer eher Soulmusik, die von
den Straßen der Gegenwart mehr inspiriert war als von den Erinnerungen an die goldenen Zeiten von Stax oder Atlantic. Und das
ist auf ihrem neuen Album „The Cost of Living“ so deutlich wie
nie zuvor. Denn hier ist Williams nicht mehr als Sänger dabei.
Das Prinzip ist geblieben: Soul und Funk brauchen keine elektronischen Helferlein, um zu funktionieren. Doch Soulmusik heute
ist ohne die Einflüsse aus Hiphop oder Jazz kaum noch vorstellbar. Jedenfalls dann nicht, wenn man nach etwas wie der schwer
fassbaren Größe „Glaubwürdigkeit“ sucht. Die Geschichten, die
man im Alltag der Großstädte erlebt oder beobachtet wirken automatisch antiquiert und museal, wenn man sie nur mit den Mitteln der 60er und 70er Jahre in Töne zu fassen versucht. Musikerinnen wie Eliza Neals oder Bands wie The Revelations wollen
nicht in diese Falle tappen. Und so sind in den acht Songs des von
der Band kostenlos über ihre Bandcamp-Seite verteilten Albums
jede Menge Anklänge an zeitgenössischen RnB zu hören, erklingen Gesangslinien, die man eher aus dem Hiphop kennt. Und es
herrscht ein Sound, der nicht in jeder Sekunde schreit: Klar waren
die Typen bei Stax die Größten - und wir können das auch!
Nein, bei Liedern wie „Got To Use My Imagination“ treffen kratzige Rockgitarren auf fette Orgelklänge, die Grooves sind hypnotisch. Und alles ordnet sich im Klang der Stimme und den
Texten unter. Bei „This Time“ oder „The Game Of Love“ liefern
die Bläser die nötige jazzige Auflockerung. Und man merkt, dass
die Vorbilder für diese Musik noch mehr bei Stevie Wonder oder
© wasser-prawda
71
Platten
dem späteren Marvin Gaye als bei Aretha und Otis liegen. Das
Ergebnis ist von vorn bis hinten überzeugend. Auch wenn hier
vielleicht der sofort ins Ohr knallende Hit fehlen mag: Diesen
Weg, den The Revelations mit „The Cost of Living“ eingeschlagen
haben, geht auf jeden Fall in genau die richtige Richtung!
Nathan Nörgel
Tim Lothar & Holger „Hobo“ Daub - Blues from the
North
Für sein neuestes Album hat sich der dänische Songwriter und
Gitarrist Tim Lothar mit dem norddeutschen Harpspieler Holger
Daub zusammengetan. „Blues From The North“: Nicht nur für
dieses Album ist das der passende Titel. Man könnte eigentlich
alle Songs von Lothar darunter fassen. Denn so wie seine Kollegen Mark Harrison oder Half Deaf Clatch aus Großbritannien oder Greyhound George aus Deutschland erzählt er in ganz
klassischem Sound Geschichten, die mehr in Dänemark als dem
Mississippi-Delta beheimatet sind.
Wer sich regelmäßig auf den Seiten der Blues Foundation über
die Teilnehmer bei der International Blues Challenge 2014 informiert, konnte letztens eine Überraschung erleben: Neben dem
Mike Seeber Trio (Sieger der letzten German Blues Challenge) hat
der Baltic Blues e.V. auch Tim Lothar nominiert in der Kategorie
Solo/Duo. Ich vermute mal, dass darüber demnächst wieder lautstark protestiert werden dürfte. Ein deutscher Verein nominiert
einen Dänen? Rechtlich ist das völlig in Ordnung: Lothar ist mit
seinen Liedern in seiner dänischen Heimat ja schon mehrfach mit
Preisen ausgezeichnet worden. Und das qualifiziert ebenso zu einer Teilnahme wie der Sieg bei einem Wettbewerb. Nur hat in
Dänemark scheinbar noch nie ein Verein den Versuch gestartet,
eigene Teilnehmer zu dieser inofiziellen Blues-WM zu schicken.
Das gemeinsame Album Lothars mit Holger Daub bringt dann
auch die nach außen sichtbare deutsche Komponente hinzu. Zu
zweit werden sie auch in Memphis auf die Bühne gehen.
Abgesehen davon ist „Blues From The North“ natürlich auch
noch ein gewohnt hervorragendes Album geworden: Diese Lieder,
die Lothar schreibt, zählen zum besten, was der akustische Blues
in Europa momentan anzubieten hat: Zeitgenössisch in den Themen, musikalisch der Tradition verhaftet. Und in der klassischen
Duo-Variante eine Steilvorlage, Parallelen zu den anderen großen
Akustik-Duos nach Terry&McGhee zu ziehen. Aber eigentlich
braucht es diese Superlative nicht. Ich vermute auch, dass diese so
grundehrliche Musik in dem Wettbewerb von Memphis nicht so
viele Chancen hat. Dafür ist Lothar einfach viel zu bescheiden auf
seinen Alben. Genau das hat Beate „Blues Bea“ Grams mit ihrem
Titelfoto hervorragend eingefangen. Aber man kann nie wissen:
Wenn Michael van Merwyk eine Topposition mit seiner so europäisch geprägten Rootsmusik erlangen konnte, ist eigentlich alles
möglich.
Raimund Nitzsche
Tommy Keys - Devil‘s Den
Soulblues, klassischer Rhythm & Blues und Pianoblues - Tommy Keys hat auf „Devils Den“ seine musikalischen Vorlieben ver-
72
© wasser-prawda
Platten
sammmelt. Und das Album ist eine Empfehlung nicht nur für
Freunde gepflegter Keyboardklänge im Blues.
Der Boogie rollt bei Songs wie „You Don‘t Deserve A Thing“,
„Down And Dirty“ oder dem äußerst gelungenen Cover von
„Mess Around“ klassisch über die Klaviertastatur. Hinzu kommt
bei letzterem noch eine deftige Bluesharp - hier ist der Song wieder ganz zurück im Bluesclub gelandet. Melancholisch wirds bei
„Life Is Too Short“. Hier könnte man sich an Thomas Stelzer oder
andere hiesige Bluespianisten erinnert fühlen. Und wenn dann
das Klavier von einer Slide-Gitarre begleitet wird wie in „What
To Do About Love“, dann könnte man die Musik auch gerne in
einem Country-Laden spielen. Tommy Keys ist erfrischend vielseitig und nicht nur als Pianist sondern auch als Sänger äußerst
angenehm zu hören. Und so ist „Devil‘s Den“ ein weiteres empfehlenswertes Album für Anhänger des Bluespianos.
Nathan Nörgel
Van ChrisƟan - Party Of One
Neben 2Hurt hat Cactus Rock Records noch einen weiteren
Künstler verpflichtet, den man als willkommene Verstärkung der
Kernkompetenzen des umtriebigen Labels begreifen kann: Van
Christian hat mit „Party of One“ ein Rockalbum irgendwo zwischen Wüstenrock, Bob Dylan und dem elektrischen Neil Young
vorgelegt.
Melancholisch der Beginn: „Push Comes To Showe“ fängt an wie
vom grad elektrifizierten Dylan inspiriert. Countryrock nannte
man das in den 70ern. Heute sagt man Americana dazu. Doch
wie auch immer: Das ist ein Lied, dass sich nachhaltig in den Gehörgängen festsetzt. Und auch wenn dann bei „One Hit Of Love“
heftige Gitarren und eine verzerrte Stimme eher an die White
Stripes gemahnen, das Gitarrensolo auch von der klassischen Zeit
von Captain Beefheart stammen könnte, bleibt diese Grundstimmung erhalten. „All Resolve“ ist folkiger aber nicht weniger träumerisch von der Grundstimmmung her.
Normalerweise zähle ich zu den Rezensenten, die gierig jede
mögliche biographische und geographische Hilfe aus Pressetexten aufsaugen und sie als Koordinaten für die Beurteilung der
Musik einsetzen. Hier fehlt mir das. Und genau das ist auch gut
so. Denn zu viele Vergleiche verwirren mehr als das sie helfen.
Und sie verstellen den eigentlichen Blick auf die Musik. So kann
man als Fazit zu „Party of One“ ganz einfach und ungeschützt
sagen: Hier ist ein sehr klassisches Rockalbum entstanden, voller
Anspielungen auf die vergangenen Jahrzehnte, das dennoch von
einer Eigenständigkeit und Persönlichkeit zeugt, die man heutzutage viel zu selten findet. Faszinierend! (Cactus Rock Records)
Raimund Nitzsche
© wasser-prawda
73
Platten
Kurz & knapp
Kaz Hawkins - BeƩer Days (EP)
Jahrelang sang sie als Mama Kaz in der Bluesszene von Nordirland. Mit „Better Days“ will
sich Sängerin/Songwriterin Kaz Hawkins jetzt
als Solistin präsentieren. Vier Lieder, die den
Schwerpunkt ganz auf die faszinierende Stimme
der Sängerin und auf das Piano oder die Keyboardsounds des erst 19jährigen Robb Montgomery legen.
Das hier ist nicht der klassische Pianoblues. Das
sind auch nicht die Songs, die man etwa bei
Queens wie Koko Taylor erwarten würde: Die
Stärke von Kaz Hawkins als Sängerin und Songwriterin liegen bei Balladen wie „I Saw A Man“
oder „Because You Love Me“, wo sie die ganze
Bandbreite der Emotionen zwischen Kraft und
Resignation, zwischen Widerstand und Melancholie zum Klingen bringen kann. Nur vom
sich immer weiter in Extase spielenden Klavier
begleitet entstehen Dramen, die direkt ins Herz
gehen. Jeglicher Bombast, jegliche Versuchung
nach den fetten Streichern würde diese Stücke
die Klippe in den Abgrund des Kitsch hinunter stürzen. Das merkt man schon bei „Sleep
In Peace“, wo das Klavier leichte synthetische
Unterstützung bekommt. Beim Titelsong wird
dann zum Glück gleich ganz auf den fetten Orgelsound gesetzt und das Kinderklavier des Anfangs aufgefangen in einem regelrechten Gospelfeeling. Ich bin gespannt, was von Kaz Hawkins
in den nächsten Monaten noch zu hören sein
wird. Sie ist eine faszinierende Sängerin, keine
Frage!
- und auch diese Botschaft findet sich auf der
amüsanten Scheibe - werde ich mir „Love“ auf
eine Hand tätowieren lassen. Menschen, die das
tun, könne man keinesfalls trauen, meinen LaVendore Rogue. Denn garantiert wäre dann die
andere Hand voller Hass...
Ich warte mal das erste Album ab. Und vielleicht
ist dann auch der riffgetriebene Voodoo-Blues zu
hören. Auch wenn die Americana-Mucke schon
mal nicht schlecht ist. Aber als Bluespfaffe muss
ich drauf bestehen, dass Blues drin ist, wenn das
jemand behauptet!
LiƩle Wild - Victories
Früher nannten sie sich „Rags To Radio“. Heute
firmieren die kanadischen Rocker als Little Wild
und veröffentlichen mit „Victories“ ihr Debüt
voller Mitsinghymnen.
Musikalisch ist das ein gehöriger Schritt: Vom
rockenden Retroswing der EP „With Gratitude“
hin zum Indierock von „Victories“: Rags To Radio haben gut daran getan, sich einen neuen
Bandnamen zu suchen. Und auch wenn ich lieber mehr Musik im Stile der von mir verehrten
Retro-Swing-Rocker a la The New Morty Show
oder Royal Crown Revue gehört hätte, macht
dieses Debüt unter neuem Namen doch gehörigen Spaß: Der Garagenrhythmus knallt stoisch rein, die Gitarren machen Dampf und so
ziemlich jedes Lied hat Refrains zum Mitsingen:
Hier herrscht purer Spaß am heftigen Abrocken
ohne nur undifferenzierten Krach zu fabrizieren. Auch wenn die Gitarren gerne auch bis zum
Extrem verzerrt werden und die Verehrung für
die Helden in der Nachfolge von Jimi zum Ausdruck bringen. Und wenn dann ab und zu auch
LaVendore Rogue - What‘s The Medie Trompete und Posaune ausgepackt werden
oder ein Banjo Oldtime-Feeling verbreitet, ist
aning Of ... (EP)
plötzlich der Abstand zur Swing-EP doch nicht
Noch recht neu in der britischen Szene sind mehr so weit. Reinhören lohnt also durchaus.
LaVendore Rogue. Mit „What‘s The Meaning Empfehlenswert besonders die wundervoll rotziOf...“ hat die fünfköpfige Band ihre erste Ver- ge Coverversion von „Money“.
öffentlichung vorgelegt und reklamiert für sich
eine Mixtur aus Voodoo-Blues, Roots und Ame- Raina Rose - Caldera
Kann man als glücklicher Mensch wirklich gute
ricana.
Ok, diese Botschaft musste unbedingt unter Popmusik schreiben oder kommt man unwilldie Meute: Gangster, Diebe und Räuber sind kürlich sofort in den Bereich billiger Schlager?
eigentlich alle tief im Herzen nur Familien- Raina Rose, die sich selbst gern als unbekannte
menschen. Das Lied dazu geht voll in Ordung: Folksängerin bezeichnet, hat mit ihrem aktuelrotziger Country-Rock mit Wiedererkennungs- len Album „Caldera“ eine Sammlung von Liewert. Auch die anderen Lieder der EP sind mehr dern vorgelegt, die in ihrer Ruhe und Direktheit
Country/Americana als Blues. Aber ihnen man- zeigen, wie es geht.
gelt es für mich meist noch ein wenig an der Un- Ok, manche Sätze sind einfach Klischees: Wenn
verwechselbarkeit. Aber vielleicht sollte ich mir Raine Rose singt „Woman is made to cry, man
für‘s Hören doch erst noch einen Stetson und is made to lie“ („Swing The Gates Wide“), dann
entsprechende Boots zulegen. Auf keinen Fall liegt dieser Vorwurf auf der Hand. Doch wer-
74
© wasser-prawda
Platten
den diese Sätze aufgefangen in verträumten und
wie beiläufig dahinziehenden Melodien, die zartester Folkpop sind. „Caledera“ ist ein Album,
um dabei stundenlang zu träumen. Es ist eine
Scheibe, mit der man selbst Fans von Katie Melua davon überzeugen kann, das es immer noch
besser und kitschfreier geht, ohne gleich in intellektuelle Höhen zu entschweben. „Caldera“ ist
ein träumerisch schönes Folkpopalbum. Nicht
mehr - nicht weniger!
Roadhouse - Gods & Highways & Old
Guitars
Das Leben muss sich irgendwo da draußen abspielen: Dort zwischen schmierigen Diners, der
nächsten Reifenpanne und der Suche nach dem
übernächsten Gig. Roadhouse haben dieses Lebensgefühl in Lieder gepackt, die man am Einfachsten als Americana bezeichnen kann: Country, Bluesrock und jede Menge Sehnsucht werden zusammengemixt. Und alte Gitarren singen
von Highways, der Hölle auf Rädern und der
ewigen Sehnsucht nach Erlösung.
Nein, mit Romantik hat das Leben auf Tour heute nur noch selten zu tun. Wer ständig auf Achse
ist, wird sein Wohnmobil irgendwann als Hölle
verfluchen. Und den Fraß, der einem als Essen
gereicht wird ebenso. Aber letztlich kann man es
sich kaum leisten, zu einem Gig Nein zu sagen.
Und so macht man halt weiter. Schließlich hat
man ja sein eigentliches Zuhause längst aufgegeben für die Musik. Es ist ein traurig-schönes
Album, was Roadhouse hier veröffentlicht hat.
Bei aller Traurigkeit, der ins Ohr springenden
Melancholie ist doch nirgendwo Verzweiflung
zu spüren sondern eine Hoffnung, dass doch
noch irgendwo auf diesen Straßen das wirkliche
Glück gefunden werden kann.
Róisin O- The Secret Life of Blue
Man nehme eine wundervolle, gerade in ruhigen
Momenten vor Gefühl strahlende Stimme und
ein reiches musikalisches Erbe. Das sind die Voraussetzungen für die irische Sängerin Róisin O.
Ihr Debüt ist ein Popalbum von der melancholischeren Sorte, etwas, was Plattenfirmen gerne
im Spätherbst veröffentlichen, weil es so gut zu
Nebel, herbstlicher Kälte und früher Dunkelheit
passt. Und da kann diese Sängerin auch am besten ihre Stärken als Balladensängerin zur Geltung bringen.
Insgesamt aber ist mir dieses Debüt ein wenig
zu gefällig, bietet zu wenige Kanten, die sich in
der Erinnerung festhaken könnten. Die Vergleiche der irischen Presse mit Joni Mitchell oder
© wasser-prawda
Kate Bush sind da viel zu hoch gegriffen. Doch
ich denke mal, dass man in kommenden Jahren
von dieser Sängerin noch wesentlich mehr hören
wird. Und ich bin schon gespannt darauf.
The Harmed Brothers - BeƩer Days
Americana vom Feinsten findet sich auf „Better
Days“, dem aktuellen Album von The Harmed
Brothers.
„Lady Love when you see me, won‘t you reach
out your hand“ - es ist so verdammt schwer
in dieser Welt, die wirkliche Liebe zu finden.
Schon zu Anbeginn der Musik war das - natürlich neben der Musik im Gottesdienst - der
Hauptzweck. The Harmed Brothers singen ihre
Country-Songs deswegen. Und die sind in ihrer
scheinbaren Einfachheit hörenswert. Natürlich
auch, weil die „Brüder“ Ben und Zach Kilmer
und Ray Vietti und Alex Salcido einen großartigen Satzgesang zelebrieren und mich von fern
immer wieder an die Jayhawks und ähnliche
Americana-Bands erinnern. Keine Angst vor
Gefühlen - aber kein bisschen Kitsch in den Liedern oder dem Gesang, könnte man die Lieder
beschreiben. Und da ist es egal, ob sie die Lady
Love besingen oder den Staat Carolina, nach
dem sie sich sehnen. Beides geschieht mit der
gleichen Intensität.
The Pepper Pots - We Must Fight
Sie singen wie die Girl Groups in den 60ern.
Doch „We Must Fight“ von The Pepper Pots ist
politisch engagierter Soul des 21. Jahrhunderts.
Sie singen von guten Zeiten, von notwendigen Revolutionen und der Notwendigkeit zu
kämpfen für das, was einem wichtig ist. Doch
so schnell bekommt man das nicht mit, wenn
The Pepper Pots zu singen beginnen. Denn unwillkührlich denkt man hier zuerst an die Girl
Groups von Motown in den frühen 60er Jahren. Und für die waren politische Themen noch
lange tabu. Deren Themen war die Liebe und
das Glück und nicht der Aufruhr. So ergibt sich
aus Form und Inhalt eine reizvolle Spannung,
die in der heutigen Retro-Soul-Szene einzigartig
ist: Perfekt polierter Soulpop, der auch für den
Fernsehgarten tauglich wäre und gleichzeitig der
Aufruf zum gemeinsamen Kampf. Das ist mehr
als faszinierend. „We Must Fight“ - absolut empfehlenswert!
75
Platten
Wiederveröffentlichungen, Klassiker, Vergessenes
Wiederhören
Fleetwood Mac - Then Play On (Expanded & Remastered)
Bei „Then Play On“ war das „klassische“ Line-Up komplett: Erstmals war Danny Kirwan als dritter Gitarrist neben Peter Greene
und Jeremy Spencer mit im Studio dabei. Und gleichzeitig bildet
dieses 1969 erschienene Album den Schlusspunkt dieser großartigsten der britischen Bluesbands der 60er. Denn wenig später
verließ Greene die Band.
Die Alben, die Fleetwood Mac bei Reprise veröffentlichten, haben bei Wiederveröffentlichungen zu lange ein Schattendasein
geführt: CDs erschienen mit wahllos variierenden Tracklisten, die
Soundqualität war bescheiden. Und alles erschien mehr oder weniger lieblos zusammengeschustert. Für „Then Play On“ war eine
ordentliche Neuausgabe daher längst überfällig, finden sich doch
hier einige wundervolle Lieder aus Greens Feder wie „Coming
Your Way“ oder „Searching For Madge“.
Die hier vorliegende Edition bringt das Album konsequent mit
dem Tracklisting der englischen Originalveröffentlichung. Damit
sind darauf erstmals auch „One Sunny Day“ und „Without You“
darauf, die bei amerikanischen Versionen weggelassen wurden.
Als Erweiterung wurden zwei Singles beigefügt, die zu den Standards im Werk dieser Band gehören: „Oh Well“ (von dem mir
Part 2 von der B-Seite bislang völlig unbekannt war) und „Green
Manalishi“/“World in Harmony“.
„Then Play On“ ist musikalisch eines der vielseitigsten Alben der
frühen Fleetwood Mac. Der Blues wird hier immer wieder zu
Gunsten von Rock & Roll, Pop oder auch lateinamerikanischen
Rhythmen verlassen. Und so ergibt sich eine Mixtur, die auch
heute noch faszinieren kann. Denn komischerweise scheinen die
Lieder einfach keinen Staub ansetzen zu können und klingen noch
so frisch wie damals, als ich erstmals merkte, dass die Geschichte der Band vor ihrer Neuerfindung als kalifornische Pop-rocker
einfach viel spannender war.Ärgerlich allerdings, dass auch hier
mal wieder als Grundlage der Wiederveröffentlichung nicht die
originalen Masterbänder sondern eine mangelhafte LP-Fassung
verwendet wurde. Wo sind die Originale? Und warum werden sie
nicht endlich aus den Tressoren geholt?
Nathan Nörgel
The South Side of Soul Street - The Minaret Soul
Singles 1967-1976
Seine Anfänge hatte das Label Minaret mit Country in Nashville. Später allerdings wurde es von seinen Besitzern nach Florida
verlagert und veröffentlichte Southen Soul jenseits von Memphis
und Muscle Shoals. Das Doppelalbum „The South Side of Soul
Street“ vereinigt Singles von solch vergessenen Künstlern wie Big
John Hamilton, Leroy Lloyd And The Dukes oder Willie Gable.
Florida gehört für die meisten Hörer nicht unbedingt zu den
Hochburgen des klassischen Soul. Doch wie man bei Minaret
Records hören kann, wurden auch dort Musiker wie Ray Charles,
76
© wasser-prawda
Platten
Otis Redding, Aretha Franklin oder Carla Thomas verehrt. Nur
dass Musiker wie Big John Hamilton niemals den Sprung über
die Heimatregion geschaff t haben und damit heute bestenfalls
als Fußnoten der Soulgeschichte Erwähnung finden. Dass diese
Fußnoten aber für Fans spannender sind, als zum 2000. Mal über
die big names zu lesen, ist ebenso klar. Das dürfte der Grund
sein, weshalb Omnivore Records sich dem Label gewidmet und
20 Singles mit A&B-Seiten auf zwei CDs gepackt hat. Manche
nennen die auf Wiederveröffentlichungen spezialisierte Firma
gar „the Smithonian of record lables“ wegen der Forschungs- und
Veröffentlichungsarbeit im Dienste kleinster Lables der Geschichte. Ähnlich wie Seelenverwandte bei Tramp Records in Deutschland geht es um die Erhaltung von Musik, die schon damals eigentlich zu gut war, um lediglich in Kleinstauflagen in regionalen
Fankreisen Verbreitung zu finden. Eine eindeutige Empfehlung
für Freunde klassischer Soulsounds und swingendem Rhythm &
Blues!
Nathan Nörgel
Wanda Jackson - The Best of The Classic Capitol
Singles
Als Teenager feierte sie ihr Debüt im Country-Radio. Später sang
sie christliche Lieder. In der Zwischenzeit traf Wanda Jackson auf
Elvis und wurde zur noch heute gefeierten „Queen of Rockabilly“.
Die besten Aufnahmen dieser Zeit entstanden für Capitol. Und
29 Nummern von ihren damaligen Singles sind jetzt für ein Album zusammengefasst worden.
Selbst mit fast 80 Jahren rockt Wanda Jacksonn immer noch.
Auch wenn manche Kritiker das von Jack White produzierte Album zu fern von ihrer eigentlichen Kernkompetenz halten: Der
Produzent hat diese große Dame des Rockabilly endlich wieder
einer jüngeren Generation von Rockern in Erinnerung gerufen.
Warum sie zeitweilig als einzige weibliche Konkurrenz für den
jungen Elvis angesehen wurde, kann man auf der Sammlung von
A und B-Seiten von Capitol-Singles nachvollziehen. Da finden
sich einerseits wilde Tanzflächenfeger, die auch 2013 noch keinerlei Staub angesetzt haben und die allen heutigen Rockabillies als
Blaupause gelten können. Da sind Nummernn von Elvis ebenso
zu finden wie Stücke, die von The Cadillacs gesungen wurden,
Jazz-Stücke ebenso wie klassischer Rhythm & Blues. Und all das
hat sie auf ihre Art in heftigsten Rock & Roll mit jeder Menge
Country-Sentiment verwandelt. Besonders zum Tragen kommt
der Country bei den auf den B-Seiten zu findenen Balladen wie
der Hillbilly-Tragödie „No Wedding Bells For Joe“. Es ist wirklich spannend, wie damals für Singles derartig verschiedene Songs
kombiniert wurden: „Riot In Cell Block No. 9“ wurde gepart
mit einem Heuler wie „Little Charm Bracelet“, „Fujiyama Mama“
mit „(Every Time They Play) Our Song“. Schon 1956 waren sich
die PR-Leute bei Capitol unsicher, wie man diese Powerfrau und
ihre Musik verkaufen sollte. Einen Rocker wie den als Opener auf
dieser Sammlung zu findenden Song „I Gotta Know“ kündigten
sie an als „Jumping rock-n-waltz noverlty“. Und der macht heute
noch gewaltigen Spaß. Auch wenn man dazu statt Walzer lieber
Rock & Roll tanzen mag.
Raimund Nitzsche
© wasser-prawda
77
Bücher
Julius Fischer: Die
schönsten Wanderwege
der Wanderhure
Voland & Quist 2013
154 S.
14,90 Euro
ISBN 978-3-86391-034-1
Echt jetzt?
Im letzten Herbst erschien bei Voland und Quist ein
neues Buch mit Texten des Bühnenpoeten Julius Fischer. Die schönsten Wanderwege der Wanderhure
ist der Titel, der groß auf einen Wegweiser geschrieben auf dem Cover prangt und dessen UnterƟtel
schlicht, aber vielsagend kein historischer Roman lautet. Von KrisƟn Gora.
Bereits das Cover zeigt deutlich, worum es in dem Buch geht.
Nämlich zumeist auch um das, um was es nicht geht. Verwirrend?
Julius Fischer provoziert und seziert Erwartungen, um mit ihnen
zu spielen oder sie gleich kunstvoll zu zerstören.
Julius Fischer wurde 1984 in Gera geboren und lebt heute in
Leipzig – und das viel lieber als in Berlin, weil man dort nicht die
78
© wasser-prawda
Bücher
ganze Zeit von Leuten umgeben ist, „die alles schon wissen und
alles schon kennen“. Als Dichter für die Bühne reist er trotz der
schönen Heimat quer durch den deutschsprachigen Raum und ist
auch Teil der Berliner Lesebühne Lesedüne. Aber nicht nur dort,
sondern auch in Dresden bei Sax Royal, wie auch in Leipzig als
Mitbegründer der Lesebühne Schkeuditzer Kreuz gehört er zum
Inventar. Als Teil des Slam-Duos Team Totale Zerstörung konnte er einige Titel nach Hause tragen und The Fuck Hornisschen
Orchestra ist im deutschen Kabarett kein unbekanntes Phänomen mehr.
Julius Fischers Lebenslauf kann man aber auch wunderbar literarisch verpackt in seinem Buch nachlesen: „Meine Lebensgeschichte würde sich, von mir aufgeschrieben, anhören wie der Polizeireport über einen ruhigen Abend in einem Dorf in Bayern.“
Ganz anders das Tempo seiner Texte. Wer ihn schon einmal live
erlebt hat, wird bei der Lektüre manchmal bedauern, dass er nicht
so schnell lesen kann wie Julius Fischer vorlesen. Er schreibt konsequent Texte, die auf eine gewisse Performance nicht verzichten
möchten. Dank der beigelegten CD kann man sich einen Eindruck davon machen. Sie macht sehr deutlich, welche Bedeutung
der mediale Kanal für die Textrezeption hat. Auf der CD finden
sich neben gelesenen Texten aus dem Buch auch Geschichten, die
keinen Platz im Band fanden, sowie Lieder und ein hörspielartig
inszeniertes Stück.
In seinen Geschichten prallt „intellektueller Studentenscheiß“
auf kotzende Prolls, Kabarettistisches ala „Nie Berufliches und
Privates mischen – Das weiß mittlerweile sogar die CSU“ auf
popkulturell geprägte Alltagsanalysen. Dabei bedient er sich verschiedener Modi des Reflektierens, Zitierens, der Zuspitzung und
Übertreibung, wobei die Grenze zwischen effekthaschendem Geschwätz und wirklich intelligenter Unterhaltung manchmal nicht
ganz so eindeutig zu ziehen ist. Wahrscheinlich hängt das ganz
davon ab, ob die Leserin oder der Leser sich eher auf die Seite des
gelangweilten Prolls schlägt oder die des leicht gereizten Intellektuellen, die sich als Typen durch die Texte ziehen.
Der Ich-Erzähler der meisten Texte ist der Kategorie gereizter
Intellektueller zuzuordnen, der gekonnt mittels bildungsbürgerlichen Wissenssplittern die Welt des gelangweilten Prolls kommentiert – und seine eigene. Mit feinem Gespür für allerlei verbalen
Unsinn und Doppelsinnigkeiten fallen Fischers Texte nicht in
den Strudel des Banalen, wenngleich man das von den erzählten Geschichten schon eher behaupten könnte. Wer Suhrkamp
als „Titanic der Großverlage“ bezeichnet und Heiner Müller und
David Foster Wallace zitiert, kann für den gekonnten Balanceakt
letztlich nur gelobt werden.
Schenken die Menschen Richard David Precht wirklich mehr
Vertrauen als der Kirche? Wie ist in einer Zeit der Omnipräsenz
der social-networks ein Satz wie „Wir sind, was folgt!“ zu bewerten? Und: Hilfe, was würdest du machen, wenn dein Hund mitten im Elektrofachgeschäft einfach stirbt? Dies sind nur einige
der Fragen, mit denen Julius Fischer seine Leserschaft zurücklässt.
Etwas ratlos, aber stets amüsiert und mit Lust auf mehr. Seine
Themen sind direkt aus dem Leben gegriffen und dabei doch immer irgendwie unwirklich. So absurd komisch, das am Ende oft
nur eine Frage steht: Echt jetzt?
© wasser-prawda
79
Bücher
John Powell - Was Sie
schon immer über Musik wissen wollten.
Alles über Harmonien, Rhythmus und das Geheimnis einer
guten Melodie.
Aus dem Englischen übersetzt
von Michael Hein
4. Auflage
Rogner & Bernhard 2013.
ISBN: 978-3-945403-031-6
Physikalisch-psychologische
Entzauberung
Was ist eigentlich Musik? Und was unterscheidet
sie von anderen Geräuschen? John Powell geht
von Physik und Psychologie aus, um möglichst
allgemein verständlich das Wesen der Musik zu
erklären. Nach dem Lesen seines Werkes hat
man eine Menge Wissen erlangt und jede Menge Spaß bei der Lektüre gehabt. So sollte man
Sachbücher eigentlich immer schreiben. Von
Raimund Nitzsche.
W
enn von Musik geredet wird, dann wird die Sprache oft
blumig und abgehoben. Wie eigentlich bei allen Künsten
80
© wasser-prawda
Bücher
üblich, hebt man sie auf ein Podest, wer Musiker ist, erhält leicht
einen Promibonus, Dirigenten, Komponisten und Solisten werden
Gegenstand öffentlicher Verehrung, die schnell religiöse Züge annimmt. Höchstens die Vertreter der Unterhaltungsmusik werden
leichter abgekanzelt, wenn sie nicht den Status der unangreifbaren
Kanonizität erreicht haben. Das alles ist völliger Nonsens, meint
John Powell. Musik besteht zu allererst aus Tönen. Und die sind
wie alle Geräusche zunächst mal mit physikalischen Begriffen
greifbar. Vom einfachen Ton bis hin zu Harmonien, Tonleitern
und komplexen Kompositionen zerlegt er in seinem Buch die hohe Kunst konsequent auf ihre Substanz. Und er schafft in seinem
lockeren Plauderton ein Grundlagenwerk, dass vor allem für Menschen gedacht ist, die sich bislang für völlig unmusikalisch halten,
denen der Musikunterricht in der Schule fehlte oder sie zum Tiefschlaf brachte.
Bei der Lektüre kann man nun nicht nur lernen, wieso verschiedene Instrumente verschieden klingen oder warum Harmonie und
Kakophonie oft nur Halbtonschritte auseinander sind. Powell versucht auch, Menschen jeden Alters zu ermutigen, sich selbst an Instrumenten zu versuchen und Spaß an der Musik zu finden. Auch
wenn er natürlich Angst davor hat, dass einer seiner Nachbarn sich
entschließen könnte, etwa mit dem Posaunenspiel zu beginnen.
Wahrscheinlich hat er noch nie erlebt, welchen Krach auch Beginner auf dem Saxophon zunächst in die Umwelt entlassen, ehe
sie sich mit Meistern wie Charlie Parker oder Coleman Hawkins
messen können. Das ist mindestens ebenso übel.
All das Gerede von Unmusikalität hält er ebenso für kompletten
Nonsens wie etwa die Debatte über die verschiedenen klanglichen
Eigenschaften bestimmter Dur-Tonarten: All das ist purer Nonsens. Und so könnte man sein Werk als Anleitung zum bewussteren Musikhören und -spielen begreifen und dafür, wie man seinen
eigenen Horizont erweitern kann.
Selbst wer schon eine gewisse musikalische Grundbildung genossen
hat, wird nicht umhin kommen, bei der Lektüre das eine oder andere Mal zu Stutzen und neue Erkenntnisse dem eigenen Weltbild
hinzu zu fügen. Bislang etwa war mir nicht klar, dass die mathematischen Grundlegungen für die „wohltemperierte“ Stimmung
von Galilei und einem chinesischen Mathematiker fast gleichzeitig
gefunden worden waren. Für mich steht am Anfang immer gleich
das „Wohltemperierte Klavier“ über dessen erstes Präludium in CDur ich bei allem Bemühen nie hinaus gekommen war in meinem
jahrelangen Klavierunterricht.
Vor allem Anhängern der klassischen Musik und des (von ihm selbst
geliebten) komplexeren Jazz als Kunstform dürfte die Respektlosigkeit des Autors sauer aufstoßen, mit der er die hohe Kunst auf
die gleiche Ebene zurückführt wie die schnöde Popmusik: Auch
hier gelten letztlich die gleichen Regeln der Physik, der Harmonik und der Komposition. Nur dass „klassische“ Komponisten ihre
musikalischen Ideen oftmals so komplex anlegen, dass man ihrer
Schönheit erst nach mehrmaligem Hören auf die Schliche kommen kann. Popmusiker hingegen legen es eher drauf an, innerhalb
von drei Minuten einen Hit zu basteln, der sofort ins Ohr geht und
die Menschen zum Kauf der Single anregt. Richtiges Musikhören
lernt man seiner Meinung nach nur, wenn man seinen Horizont
immer wieder erweitert. Nur im Vergleich mit anderen Stilen kann
man seine Vorlieben genauer verstehen. Und eine breitere Bildung
hat schließlich noch niemandem geschadet.
© wasser-prawda
81
Sprachraum
Alexander Moszkowski
- Der Neurosenkavalier
Eine Wiener Markerade, frei nach der
berühmten Oper
Alexander Moszkowski (1851-1934)
Der in Pilica (Polen) geborene
Schriftsteller gehörte bis in die
Zeit der Weimarer Republik
zu den bekanntesten Satirikern. Unter anderem schrieb
er zwischen 1877-1886 für
die von Julius Stettenheim gegründeten „Berliner Wespen“.
Später gründete er mit den
„Lustigen Blättern“ seine eigene Satirezeitschrift.
Daneben verfasste er auch
utopische Romane („Die Inseln der Weisheit“) oder mit
„Einstein - Einblicke in seine Gedankenwelt“ eine der
ersten populärwissenschaftlichen Einführungen in die
Relativitätstheorie.
„Der Neurosenkavalier“ erschien in der 1917 veröffentlichten Sammlung „Die Ehe
im Rückfall und andere Anzüglichkeiten“.
82
( Szene: Im Schlafzimmer der Feldmarschallin.)
Oktavian: Wie du warst! Wie du bist! Das weiß niemand, das
ahnt keiner!
Marschallin: Du irrst dich, Bubi. Das ahnt jeder, das weiß jeder,
der eine angejahrte Fürstin in zärtlichem Geplauder mit einem
jungen Herrchen sieht, das Mezzosopran singt. Erstens ahnt man
und weiß man, daß hier das gefährliche Alter mitspielt; zweitens,
daß Hugo von Hofmannsthal, weil er hier ohne Sophokles arbeitet, sich seine Kompagnieschaft anderswoher besorgen muß.
Ich zum Beispiel, die ich beabsichtige, auf meine Liebe zugunsten
einer jüngeren zu verzichten ...
Oktavian: Ach, ich weiß schon: du stammst aus »Sodoms Ende«
von Sudermann; das macht die Frau Ada ja ebenso.
Marschallin: Richtig. Und du selbst, Bubi, Sopranistin im Kavalierskostüm, die sich nachher wieder als Mädchen verkleidet, du
hast früher als Page Cherubim in »Figaros Hochzeit« gedient.
Oktavian: Aber seitdem ist die Entwicklung mächtig über mich
gekommen. Den Mozart habe ich mir gründlich abgewöhnt.
Marschallin: Ebenso wie der Falstaff, der nachher auftreten soll,
den Nicolai und Verdi abgestreift hat.
Oktavian: Was du sagst, Geliebte! Ein Falstaff kommt auch vor?
Marschallin: Gewiß doch! Wir sind doch hier die lustigen Weiber von Wiensdor. Und auf Grund dieser drei bekannten Figuren
und Motive spielen wir nunmehr die herrliche Oper von Strauß.
Oktavian: Gott, wie originell! Heißt denn diese dritte Person
wirklich Falstaff ?
Marschallin: Nein, so komisch geht es hier nicht zu. Er heißt Ochs
von Lerchenau. Übrigens hat der erste Falstaff doch noch immer
einen Anstrich von Noblesse, während dieser Ochs sich wie ein
Viechskerl erster Klasse benimmt. Da er hier sofort auftrampeln
wird, hast du dich hinter einen Vorhang als meine Zofe umzukleiden und Mariandl zu heißen.
Oktavian: Und auf diesen steinalten Bühnentrick soll er hereinfallen?
Marschallin: Nicht bloß der Ochs, sondern das ganze Premierenpublikum. Weil die Musik dazu vom Komponisten der »Elektra«
ist, weil Elektra mit Sophokles zusammenhängt, weil Sophokles
zum klassischen Altertum gehört, und weil trotzdem hier ein
Wiener Walzer vorkommt.
Oktavian: Diese moderne Kunstästhetik schmeckt nach Neurose.
(Ab hinter den Vorhang.)
Marschallin: So ist es, lieber Neurosenkavalier.
Der Baron Ochs (tritt auf): Was mich hierher führt? Erstens will
ich meine Verlobung mit der steinreichen Sophie Faninal anzeigen; zweitens will ich in Gegenwart der Frau Fürstin mit dero Zofe scharmutziern; und drittens will ich mich dabei so schafsdämlich und klotzig betragen, daß fünfzig Opern drüber durchfallen
könnten, wann se nit von Strauß komponiert wär‘n.
Marschallin: Mariandl, komm‘ Sie her. Servier‘ Sie Seiner Liebden.
© wasser-prawda
Sprachraum
© wasser-prawda
83
Sprachraum
Baron Ochs (zur vermeintlichen Mariandl): Süßer Engelschatz,
sauberer, hätt‘ Sie Lust, mit mir in einem Chambre séparé zu
sumpfen?
Oktavian (als Zofe): Ich weiß nicht, ob ich das darf.
Der Souffleur: Lokalkolorit! Weanerisch reden!
Oktavian (sich verbessernd): I weiß halt nit, ob i dös derf.
Stimme im Parkett: Also hören‘s, die Stelle allein entschädigt für
zwanzig Mark Entree.
Stimme im ersten Rang: Die Fledermaus ist ein Flederhund dagegen! Hier offenbart sich der echte Wiener Hamur!
Stimme auf der Galerie: An Tusch für Nestroy!
Baron Ochs: Außerdem handelt es sich um eine hochadelige Gepflogenheit: ich brauche für meine Verlobte, Jungfer Sophie Fananal einen Bräutigamsführer, der ihr die neusilbernen Rosen
überbringt. Und deshalb bitte ich Sie, liebe Marschallin, mir einen solchen Neurosenkavalier zu verschaffen, nämlich einen blutjungen und bildhübschen Kerl, Hosenrolle, der mich saudummes
Luder bei meiner Braut sofort dermaßen blamiert, daß der zweite
Akt möglich wird.
Marschallin: Dann brauchten wir ja diesen zweiten Akt erst gar
nicht zu spielen.
Baron Ochs: Und den dritten Akt noch weniger, dessen Pointe
darin besteht, daß ich meine Perücke stundenlang nicht finden
kann. Darüber lacht sich außer Herrn Hofmannsthal doch kein
Mensch halbtot.
Marschallin: Es wird ja ohnehin in dieser Oper von Tag zu Tag
soviel gestrichen, daß der Intendant hierfür bereits ein extra
Streichorchester angeschafft hat. Bis jetzt sind schon dreiviertel
Stunden herausgebracht, und man verspricht sich den größten Effekt davon, wenn aus diesem Gesamtkunstwerk alles Überflüssige
entfernt ist.
Oktavian: O je, da spielen wir ja die ganze Kummedi in fünfzehn
Minuten!
Marschallin: Alles, was fehlt, ist ein Glück. Auf dem Zettel befinden sich noch zwei ekelhafte Italiener; wenn die erst herausgestrichen sind, fordern die Billetthändler das Doppelte.
Baron Ochs: Aber die Übergabe der Rosen muß stehen bleiben,
denn das ist eine uralte Wiener Kavalierssitte, die bis auf König
Pharao zurückgeht. Und auf das Frauenterzett verzichten wir
auch nicht, weil da plötzlich zur ungeheuren Überraschung aller
Hörer Musik vorkommt.
Marschallin: Das sind so Entgleisungen, die heutzutage bei den
besten und berühmtesten Komponisten vorkommen.
Oktavian: Selbst bei den Kakophonikern von Gottes Gnaden. Sie
vergreifen sich ab und zu in den Mitteln und geraten dann plötzlich in einen wahren Morast von Wohlklängen.
Sophie (eintretend): Ich sei, gewährt mir die Bitte, in eurem Terzett die dritte.
Marschallin: Gut, daß Sie kommen, liebe Faninal. Das kürzt
enorm. Da kann ich das Mariandl gleich mit der Sophie verloben, und dem dreistimmigen Vokalsatz steht nun nichts mehr im
Wege.
Oktavian-Mariandl: Also setzen wir jetzt unser Frauenstimmrecht durch!
Baron Ochs: Darf ich nicht mitsingen?
84
© wasser-prawda
Sprachraum
Marschallin: Das dürften Sie, wenn Sie statt eines Ochs von Lerchenau eine Lerche von Ochsenau wären. So aber haben Sie jetzt
zu schweigen; das ist die dankbarste Stelle in Ihrer Partie.
(Frauenterzett.)
Stimme im Parkett: Also das ist unerhört wohlklingend, das ist so
schön wie Mozart und Lehar zusammengenommen.
Stimme im ersten Rang: Solange eine Musikliteratur existiert, ist
ein solcher Melodiker seit fünf Minuten noch nicht dagewesen!
Strauß in der Loge: Hören Sie es, Intendant? und nun verlange ich
noch weitere fünfzehn Prozent Tantieme, oder ich entlasse Sie auf
der Stelle.
Der Intendant: Alles bewilligt, nur lassen Sie mich morgen noch
wenigstens einen halben Akt streichen!
© wasser-prawda
85
Sprachraum
Uwe Saeger
Faust Junior
Roman
Uwe Saeger
Uwe Saeger wurde 1948 in
Ueckermünde geboren, studierte Pädagogik in Greifswald und arbeitete sechs Jahre
lang als Lehrer für Körpererziehung und Geographie.
Seit 1976 ist er freiberuflicher
Schriftsteller.
Seitdem wurden von ihm
zahlreiche Erzählungen, Romane, Drehbücher, Hörspiele
sowie Beiträge in Anthologien
und Zeitschriften veröffentlicht. Für sein Schaffen wurde
er mehrfach ausgezeichnet –
u.a. mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis (1987) sowie dem
Adolf-Grimme-Preis für sein
Drehbuch „Landschaft mit
Dornen“ (1993).
Faust Junior. Roman
freiraum-verlag 2014
VÖ: 10.03.2014
Hardcover, ca. 550 Seiten
Preis: 24,95 EUR (D)
ISBN: 978-3-943672-35-0
86
Uwe Saeger - Faust Junior
XV
Wie’s konkret sich vollzog, kann ich nicht berichten. Ich war wie
betäubt. Oder ist’s, dass die Anatomie eines Entschwindens das
Geheimnis ihres Vollzugs hütet gegenüber jeder Wahrnehmung?
Die Stadt mochte unter uns gewesen sein, weil mir einmal war,
wie es einem wiederkehrenden Zugvogel sein mag, wenn er nach
der kalten, ihm widrigen Winterszeit wieder einfliegt in sein Gefilde – ich glaubte, abzustürzen vor Glück. Einmal war’s auch,
als würden wir von unten in die Stadt gelangen, als stiegen wir
aus der tiefsten Finsternis, getrieben durch Schründe und Katakomben und ich würde bersten, weil der Druck des Gewesenen
so geschwind sich verlor, sodass ich erwartete, mich aufzulösen in
restloser Entfesselung.
Und dann war’s in einem Park, wo wir festen Boden unter die
Füße bekamen. Ein prächtiger Sommertag. Nachmittags. Jede
Menge Städter beim Sonntagsspaziergang. Männer. Frauen. Kin-
© wasser-prawda
Sprachraum
der. Hunde. Jogger. Trinker. Ordnungshüter. Sonnenbader und
Schattensucher. Kaffeerunden. Grillpartys. Klatsch, Streits um
die besten Klingeltöne oder ob Schwarz-Gelb oder Rot-Grün die
beschissenere Politik machten. Musik jeder Stilrichtung. Ein dikker Mann und eine dünne Frau bei einem Badmintonspiel. Ein
fünfjähriges Mädchen auf dem Schoß eines alten Mannes, der
Faust ähnlich sieht. Er streichelte ihr Knie, sie kitzelte ihn mit
einem Grashalm im Gesicht.
„Wo sind wir?“, fragte Faust.
Mephisto sagte: „Da kriegst du die Maulsperre bei so viel Paradies. Was Johann?“
Und ich erklärte ihnen: „Ein Stadtpark. Nichts für vermögende
Menschen. Proletenwiesen.“ Ich zog die beiden zu einer Bank.
„Als Kind war ich mit meiner Mutter einen Sommer lang jedes
Wochenende hier.“
„Warum nur einen Sommer?“ Mein Vater setzte sich auf die Bank.
„Und was hattet ihr hier zu treiben?“
„Das war der Sommer, der einzige allerdings, als sie die Nase voll
hatte von Männern und sie sich ganz mir widmete, wie sie’s sagte.
Sie konnte ziemlich lästig werden, wenn sie auf anhänglich machte.“ Ich drückte Mephisto neben Faust auf die Bank. „Ihr wartet
hier auf mich. Ich geh mal was abchecken.“
„Nein“, sagte Faust. „Du gehst nichts abchecken und nichts zudecken. Wir bleiben zusammen.“
„Also ehrlich“, Mephisto schüttelte sich und blickte beunruhigt
um sich, „ich habe Probleme. Dieser Bereich ist eine pralle Problemzone für mich.“
„Mach dich zur Töle und tobe dich aus mit den andern Kötern“,
sagte Faust. Er atmete schwer, sein Gesicht rötete sich. „Ich brauche eine Verschnaufpause!“
„Das ist zu viel Licht.“ Mephisto kratzte an seiner Brust. „Verträgst du’s, Faust?“
„Das Licht ist’s nicht, was mich schwindelig macht.“ Faust knöpfte den Hemdkragen auf. „Die Luft ist’s. Wir sind im Freien, aber
es ist keine Luft wie im Freien.“
„Wahrscheinlich Feinstaubbelastungsstufe vier“, sagte ich. „Zu
Abend bessert’s sich gewöhnlich.“
„Zum Abend bin ich verreckt, wenn’s sich nicht vorher bessert.“
Faust streckte sich auf der Bank aus, schubste dafür Mephisto
mit einem Fußtritt bis an den Rand der Sitzfläche. „Du passt auf,
Justus! Das sieht hier nur so friedlich aus wie zum Osterspaziergang.“
„Ich bin doch nicht aus der Anstalt raus, um woanders abzuhängen.“ Ich trommelte ein Crescendo auf den Gitarrenboden. „Wir
müssen rauskriegen, wo das nächste Casting zum Superstar stattfindet.“
Mephisto saß da wie ein Häufchen Unglück, hielt die Hände zwischen die Knie verklemmt, als hätte er eingemacht oder könne
einem Juckreiz nur schwer widerstehen. „Stell dich mal so“, sagte
er zu mir, „dass ich etwas Schatten habe. So viel Licht, da zerreißt
es mich bald.“
Aber da kam der Schatten schon angetrabt und das in doppelter
Ausfertigung. Zwei, den Kraftatzen in der Anstalt vergleichbare
Typen standen neben der Bank. Sie waren uniform dunkelblau
gekleidet, nicht sichtbar bewaffnet, aber mit Funkgeräten ausgerüstet.
© wasser-prawda
87
Sprachraum
„Städtisches Ordnungsamt“, sagte der eine. „Qualwass mein Name.“ Er deutete auf den Typen neben sich. „Das ist mein Kollege
Unferfert.“
„Mir ist schlecht“, sagte Faust. „Die frische Luft, die keine frische
Luft ist, macht mich fertig.“
„Unsere Stadt“, sagte Unferfert, „hat die besten Smogwerte des
Landes.“
„Also, Bürger“, sagte Qualwass, „nehmen Sie Ihre Füße von der
Sitzfläche dieser Ruheinstallation. Auch die anderen Bürger haben einen berechtigten Anspruch auf Sauberkeit.“
„Und wir sind dafür da, das zu beaufsichtigen und gegebenenfalls
durchzusetzen“, sagte Unferfert.
„Lassen Sie es also nicht darauf ankommen“, ergänzte Qualwass,
der sah, dass mein Vater nur Bahnhof verstand. „Wir sind jederzeit in der Lage, eine Polizeistreife zu rufen.“
Mephisto spuckte aus, randscharf bis vor die blankgewichsten
schwarzen Schnürstiefel der beiden Ordnungshüter. „Das habe
ich doch schon einmal gehört“, sagte er. „Und was, wenn der
Mann es darauf ankommen lässt?“
„Sie, Bürger, halten sich raus“, sagte Unferfert. „Sie sind mit keiner Verfehlung gegen die Parkordnung auffällig geworden.“
„Dann geben Sie sie mir zur Kenntnis.“ Mephisto spuckt den beiden ein zweites Mal vor die Füße. „Damit ich weiß, was ich anstellen muss, um auffällig zu werden.“
„Spucken ist nicht aufgeführt, aber wir werden es bei der Behörde
anregen.“ Qualwass ging einen Schritt zurück. „Wir tun hier nur
unsere Pflicht. Das sage ich, und ich bin dazu nicht verpflichtet,
damit wir uns nicht falsch verstehen.“
„Wenn Sie also nicht nur ihre Pflicht täten, würden sie auch auf
Bänken rumlümmeln und in die Gegend rotzen und sich mit
Leuten, die nur Ihre Pflicht tun, anlegen?“ Mephisto stand auf.
Er war so groß, wie ich ihn noch nie erlebt hatte, größer als Qualwass und Unferfert, und er rollte die Schultern, als ginge es
für ihn in eine Rauferei. „Habe ich Sie richtig verstanden? Sie
wollten’s doch, dass wir uns nicht falsch verstehen.“
„Ihrer Papiere! Bitte!“ Qualwass machte sich kontrollbereit. „Von
Ihnen beiden die Papiere. Bitte!“ Er tippte Faust an, der am Einschlafen war.
„Häh?“ Faust hob den Kopf, blinzelte. „Jag sie zum Teufel“, sagte
er zu Mephisto. „Wir sind doch schon mit ganz anderen Banditen
und Wegelagerern fertiggeworden.“
„Beleidigungen werden zur Anzeige gebracht“, sagte Unferfert.
„Und für Bandit und Wegelagerer gibt’s eine saftige Geldstrafe,
das kann ich Ihnen versprechen. Und in ganz schweren Fällen
sind auch schon Haftstrafen verhängt worden.“
„Also!“ Qualwass schlug seinen Formularblock auf. „Wenn die
Herrschaften Lust auf eine Justizvollzugsanstalt haben, dann
müssen Sie sich nur weiter so große Mühe geben, kooperativ zu
sein.“
„Ich gebe mir keine Mühe“, sagte Faust. „Ich will nur in Ruhe
gelassen werden.“
„Melde die Herren doch bei den Kameraden vom Wachdienst
an“, sagte Unferfert zu Qualwass. „Wozu haben wir eine Polizei?“
„Wenn ich was erklären darf“, wandte ich mich an Qualwass.
„Das ist ein Missverständnis. Mein Vater und …“, ich nickte auf
Faust und ich nickte auf Mephisto „… sein Freund waren für län-
88
© wasser-prawda
Sprachraum
gere Zeit nicht unter uns, sie müssen sich erst eingewöhnen, dieses
Leben hier ist komplett neu für sie.“
„Ihre Ausweise würden wir trotzdem gern sehen“, sagte Unferfert.
Er schlug seinen Block auf. „Ordnung muss sein.“
„Unsere Papiere sind im Hotel“, sagte ich.
Und Mephisto sagte und zeigte auf Faust: „Das ist Faust. Sagt
euch das nichts? Jungs! Faust ist’s. Der Faust, der sich mir verschrieb, um das Prinzip der Welt zu durchschauen. Faust! Der
einmalige Fall eines Mannes von Weltruf, der nicht zu ruinieren
ist!“
Qualwass und Unferfert verständigten sich mit einem Blick. „Haben Sie getrunken?“, fragte Unferfert. „Oder haben Sie Suchtmittel konsumiert?“
Und Qualwass sagte in sein Funkgerät: „An Zentrale. Hier OK
Bürgerpark. Haben drei Personen ohne Personaldokumente. Starkes Aggressionspotenzial. Brauchen Unterstützung. Ja, eine Streifenbereitschaft dürfte ausreichend sein.“
„Das ist ein Missverständnis“, wiederholte ich. „Lassen Sie es
mich doch erklären!“
Es standen schon einige Gaffer um uns. Einer klopfte Qualwass
auf die Schulter, sagte: „Lasst den Brüdern nischt durchjehn. Habn
wia uns jenuch jequält, dat wa Ruhe habn hier un Ordnung, wo
et sonst inne Stadt nur so bumst von Klamauke. Schwul sehn se
aus, aba wat uffem Kerbholz habn se ooch.“
„Das ist mein Vater Johann Heinrich Faust“, rief ich und versuchte, ihn von der Bank hochzuziehen. „Er ist nicht mehr der Jüngste
und ruht sich nur aus. Wir haben eine anstrengende Reise hinter
uns.“
„Und wo kommen wir her?“, fragte Unferfert.
„Aus der Anstalt meines Vaters“, antwortete ich spontan.
„Vom Stern der nackten Seelen kommen wir“, sagte Mephisto.
„Wer aus einer Anstalt kommt, hat, wenn er nicht getürmt ist,
Entlassungspapiere“, sagte Unferfert. „Die werdet ihr doch dabeihaben?“
Und Qualwass sagte ins Funkgerät: „Die Streife soll Gas geben.
Unsere Klienten kommen aus einer Anstalt und können ihre Entlassung nicht belegen. Checkt doch mal die Fluchtliste.“
„Begreifen Sie’s denn nicht? Begreift’s hier keiner?“, schrie ich.
„Das ist mein Vater. Und mein Vater ist Faust. Faust!!! Nichts
gelernt in der Schule? Nur auf Verweigerung gemacht und Ausländerkinder gemobbt?“
„Bitte“, sagte Qualwass. „Ich habe das Abitur.“
„Und ich habe zwei Berufe und beide Lehren mit besten Noten
abgeschlossen.“ Unferfert musterte Mephisto. „Und als ich in der
Schule war, gab’s noch nichts mit Verweigerung.“ Er flüsterte Qualwass etwas zu. Der nickte, musterte Mephisto ebenfalls.
Von den Gaffern sagte eine Frau: „Wenn der Olle Faust is, denn
is der, der vom andern Stern jekommen sein will, Mephistopheles.
Hah!“
„Und wenn det so is“, sagte ein anderer, „denn steht hier irjendwo
ne versteckte Kamera und det jiebt gleich wat zu lachen.“
Qualwass und Unferfert blickten in die Runde, waren verunsichert.
„Auf öffentliche Verarsche habe ich keinen Bock“, sagte Unferfert.
© wasser-prawda
89
Sprachraum
Qualwass hatte sich entschlossen, die harte Tour zu fahren. Er zog
Faust von der Bank und schnauzte ihn an: „Auch Ihr hohes Alter
ist kein Freibrief für öffentliches Fehlverhalten, Bürger. Sagen Sie
mir Ihre Personalien, damit mein Kollege das von der Zentrale
überprüfen lassen kann.“
„Ich heiße Faust und ich bin Faust.“ Mein Vater ballte erbost beide Hände, erhob sie drohend gegen Qualwass. Der wollte mit
einem Abwehrgriff parieren. Aber dazu kam er nicht. Denn ein
großer schwarzer Pudel sprang ihn an, biss in den Arm, der Faust
am nächsten war, und zerrte ihn zu Boden. Es war sofort Tumult.
Qualwass schrie um Hilfe. Die Hälfte der Gaffer schrie um Hilfe
und die andere Hälfte verdünnisierte sich. Unferfert wusste überhaupt nicht, was er tun sollte. Den Pudel anzufassen, wagte er
nicht. Der hatte Qualwass’ Arm zwar nicht weiter zwischen den
Zähnen, stand aber knurrend über ihm, bereit, ihm beim nächsten Angriff, sollte der nötig werden, an die Kehle zu gehen.
„Wo ist der dritte geblieben?“, fragte Unferfert ein ums andere
Mal, weil er Mephisto nicht mehr sah.
Zugleich zog der Vorfall, oder war’s auch nur von den Lauten des
Pudels bestimmt, zu hundertzwölf Prozent alle Hunde im Park
an den Ort des Geschehens. Labradors, Retriever, Collies, Terrier,
Dackel, zwei Schäferhunde, eine Dogge und ein Pinscher kamen
im vollen Sprint gelaufen. Davor verzogen sich auch die letzten
Gaffer. Und Unferfert flüchtete auf die Bank und wäre wohl auf
den Mount Everest gestiegen, hätte das die einzige Möglichkeit
geboten, in Sicherheit zu gelangen, dass er die in fünfzig Zentimeter Höhe auch nicht hatte, realisierte er nicht. Bis auf die Dogge,
die sich dann doch betont vornehm abseits hielt, machten die anderen Hunde, ohne dass es einer wagte, ihn zu beißen, gegen den
Pudel Front. Sie rochen’s, dass der nicht in ihre Meute gehörte
und dass er nur deshalb das Unerhörte gewagt hatte, einen Menschen anzugreifen, und vielleicht solidarisierten sie sich auch, weil
sie ihren guten Ruf hier nicht durch dieses Vieh in Verruf bringen
lassen wollten; auch Hunden mag, geht’s um Privilegien und fettes Leben, der eigne Arsch näher sein als ihre Natur.
Die Sirene eines Streifenwagens setzte ein. Und die beiden Schäferhunde, Deutsche Schäferhunde, wie unschwer an ihrer überzüchteten Erscheinung auszumachen war, setzten sich aufs Hinterteil, reckten die Schnauzen hoch und jaulten.
„Wir empfehlen uns“, sagte Faust und packte mich. „Das wird
mir zu heiß.“ Wir schlugen uns in die Büsche.
Unferfert hopste auf der Bank rum und winkte dem Streifenwagen, so verschmutzte er die Ruheinstallation vollends. Qualwass,
dem der Rücken kalt geworden war von der Kälte des Bodens,
nieste wohl an die tausend Mal und brachte den Pudel damit auf
Abstand.
„Aber wir können doch unseren Mephisto nicht im Stich lassen“,
sagte ich. Ich schaff te es nicht, meinen Vater aufzuhalten, er bewegte sich so flink und kraftvoll, als wär’s mit ihm wie nach einer
zweiten Transfusion. „Er geht aufs Äußerste und du …“
„Er ist noch immer Teufel.“ Mein Vater lachte grell. „Da rauszukommen, ist für ihn ein Klacks. Und wofür haben wir ihn mitgenommen, als dass er uns aus der Patsche hilft! Kein anderer ist so
für Drecksarbeit geschaffen wie er. Ich kenne mich aus mit ihm,
das weißt du doch und das kannst du mir glauben. Wenn er sich
so beweisen kann wie jetzt, ist er in seinem zweiten Element. Er
90
© wasser-prawda
Sprachraum
fühlt sich pudelwohl, wenn er die Zähne zeigen darf und alles auf
ihn guckt und ihn doch kein einziger durchschaut. Du solltest dir
übrigens besser überlegen, was du sagst.“
„Und du solltest aufpassen, wo du deine Füße ablegst“, sagte ich.
„Hättest du dich nicht so daneben benommen, wäre uns der
Schlamassel erspart geblieben. Du solltest dir bewusster machen,
in was für einer Zeit wir uns befinden.“
„Da habe ich ja Glück gehabt, dass ich nicht pissen musste! Die
hätten mir womöglich die Rute abgeschnitten. Hah!“
„Vergiss dein Mittelalter, Papa.“
Wir waren aus dem Park gelangt und gingen zwischen Häuserfronten. Der Verkehr zur Rushhour. Fußgänger hetzten. Großstadtgetriebe.
Faust klammerte sich an mich, er zitterte. „In was für ’nen Krieg
sind wir geraten?“, fragte er. „Junge! Hier weiß doch keiner, wer
Freund ist und wer Feind.“
„Die Stadt hat vier Millionen Einwohner“, sagte ich. „Und ’ne
Großstadtidylle ist ’n Hirngespinst, weil …“
Aber da hörte Faust mir schon nicht mehr zu. Er starrte nach
vorne, wo uns ein baumlanger, breitschultriger Neger im knallgelben Sakko entgegenkam. Mit der einen Hand hielt er ein Handy
am Ohr, im andern Arm trug er einen winzigen Hund, dem das
Stirnhaar zu einem Büschel auffrisiert und mit einer Schleife in
der Farbe seines Sakkos zusammengebunden war. Der Neger ging
mit seinem Hund im Strom der Passanten an uns vorbei, wir hörten, dass er mindestens zehntausend Mal „Yes, Mam“ ins Handy
sagte. Faust wischte sich die Augen aus. „Heiliger Vater“, sagte er.
„Wer hat den Kerl gemacht?“
„Das ist einer von den neuen Prinzen“, sagte ich. „Der hält sich
ein paar Bordsteinschwalben auf’m Strich oder wirft in jedem
Spiel zwanzig Körbe für Alba.“
„Ein Prinz ist der Sohn eines Königs.“ Faust schüttelte sich. „Und
wenn’s Zeiten sind, dass die Könige schwarz werden, verdirbt das
Wasser und das Feuer verlischt für immer und für nichts gibt’s
dann einen Anfang mehr.“
Ich führte uns in eine Nebenstraße. Was und wie’s weiter mit uns
geschehen sollte, dafür hatte ich keinen Plan. Aber mich machte
die Stadt an, im Gegensatz zu meinem Vater, mit ihrem Getriebe, ihren Gerüchen, dem unausgesetzten Versprechen, dass an
der nächsten Ecke passiert, was das Leben neu anreizt und den
Pep gibt für ’nen Neustart. Die ganze Unternehmung, so zeigte
sich’s jetzt schon, war auf Pleite angelegt. Mein Vater und Mephisto, den wir abschreiben konnten, denn wie sollte er uns finden, passten nichts ins Heute, sie waren Gestrige und würden’s
bleiben. In der Anstalt war das nicht entscheidend ins Gewicht
gefallen. Die entrümpelten Seelen, die Fausts Reich dort füllten,
brauchten zwar keine Verstellungen mehr, die Schere zwischen
Sein und Dasein war auf den kleinstmöglichen Nenner gefahren,
zu existieren, war zur Organisationsform umfunktioniert und die
Freiheit des zumutbaren Wahnsinns verschönte jedes Ich bis ins
Innerste. Von Erinnerungen, mit dem Ballast von Gelebtem, wurde nicht verhandelt. Die Seinskultur im Reich meines Vaters war
klinisch steril, anstaltsgemäß eben und eine Imagination, wie’s
Seelen zukommt; und das heißt, sie entwöhnte vom Leben, sie
machte untauglich, sich in einer Gegenwart als Kind der Zeit einzufinden. Faust und Mephisto waren fürs Heute verloren, waren
© wasser-prawda
91
Sprachraum
aufgebraucht von ihren eigenen Geschichten, von den wieder und
wieder zurechtgeschneiderten Fassungen ihrer Bedeutung und
das Anpassen an Zeitgeist und Gewöhnung.
„Was machen wir jetzt?“, fragte ich.
„Wenn ich noch einmal den schwarzen Prinzen sehen könnte!“
Faust reckte sich, um mehr Überblick zu bekommen. „Der Kerl
ist geschaffen zum Fels. Der muss nicht sagen, ich bin ein Fels.
Dem sieht man’s an und nimmt’s ihm ab.“
„Andere Sorgen hast du nicht?“
„Doch.“ Faust machte eine Bewegung, als versuche er, in sich zurück zu kriechen. „Dieser Lärm! Das Licht! So viel Licht! Verfügt
denn jeder über Licht hier? Die vielen Menschen unterwegs. Wird
denn vor jedem Tor zur Stadt eine Hinrichtung gegeben? Und
die Kinder! Das sind alle kleine Erwachsene. Nur die Konfektionsgröße macht den Unterschied. Das ist nicht gut und ist nicht
von Sinn.“
„Wir leben in einem Sozialstaat. Es gibt Leute, die machen Kinder
nur, um sich finanziell durchs Leben zu bringen.“
„Egal, wie ein Staat sich nennt, die Kinder werden von den Eltern
ernährt, nicht von Präsidenten, Kanzlern, Ministern oder Fürsten.“
„Du hast nicht mal einen Ausweis und spuckst große Töne! Zu
deiner Zeit war Politik ein Nachweis von Stärke, also Geld, Soldaten und Waffen, heute geht’s nur noch um Geld.“
„Ohne Moos, nichts los“, sagte Faust. „So war’s und so bleibt’s.“
Zwei Polizeimannschaftswagen parkten mitten vor uns auf der
Straße, versperrten sie. Die Mannschaften bezogen Position. Jeder Mann hatte eine Sturmmaske übers Gesicht gezogen, trug
Abwehrschild und Schlagstock. Wenn das meinem Vater und mir
gelten sollte, war’s ein verpatztes Manöver, aber als Straßentheater
konnte es sich durchaus beeindruckend entwickeln.
„Das ist die Garde des Fürsten“, sagte Faust und drängte bis zur
Absperrung vor. „Hörst du den Hufschlag? Er kommt in seiner
Kutsche.“
Aber was Faust als Hufschlag gedeutet hatte, waren die Tritte von
einigen hundert Leuten, die Springerstiefel an den Füßen trugen
und die die eisenbeschlagenen Sohlen, obwohl sie in lockerer Formation marschierten, im Gleichschritt aufs Pflaster setzten. Alle
waren dunkel gekleidet, auch die Frauen – Qualwass und Unferfert wären nicht aufgefallen in dem Pulk. Die Männer hatten
zum überwiegenden Teil die Haare kurz geschoren und waren
im Gesicht und Nacken, auf den Armen und Händen mit germanisch-teutonischen Symbolen tätowiert. So mancher schleppte ein Transparent oder Schild mit sich, auf denen Parolen wie
„Deutschland den Deutschen“, „Arbeit für alle“ oder „Der Feind
steht links und in der Mitte“ geschrieben standen. Sprüche oder
Gebrüll gab’s nicht. Es war eine stumme, aber bedrohliche Prozession.
Und ich weiß nicht, was Faust dazu verleitete, zu rufen: „Ihr
müsst euch schlagen! Ihr müsst euch geißeln! Ihr müsst eurer Idee
einen Ausdruck geben! Die Stummen hört der Herr nicht. Und
wer ihm nicht gibt von sich, wird auch von ihm nichts erhalten.“
Ich riss meinen Vater zurück und trat ihn auch. „Das sind Rechte“, sagte ich. „Da mische du dich nicht ein.“
„Warum sind das Rechte?“ Faust machte sich los von mir. „Die
gehen mitten auf der Straße. Und dahin gehe ich jetzt auch.“
92
© wasser-prawda
Sprachraum
Faust durchbrach das Absperrungsspalier der Polizeikräfte. Die
beiden, zwischen denen er’s schaff te, versuchten ihn aufzuhalten,
aber er entwischte. „Justus, komm!“, rief er mir zu. „Hier kommen wir voran.“
„Lassen Sie mich durch“, bat ich einen Polizisten. „Mein Vater ist
etwas verwirrt. Ich muss ihn zurückholen.“
„Das schaffst du nicht mehr“, wurde mir geantwortet. „Noch
fünfzig Meter und diese braune Suppe triff t auf die Autonomen.
Uns ist ein taktischer Fehler unterlaufen. Nun können wir’s nicht
mehr verhindern, nur noch dazwischen gehen.“
„Papa!“, rief ich. „Komm zurück! Das wird gefährlich.“
Faust winkte mir, dass ich an seine Seite kommen sollte. Die Polizisten vor mir rückten die Sturmmasken zurecht, zogen die Kinnriemen ihrer Schutzhelme fester. Es gelang mir, mich zwischen
ihnen hindurch zu drängen und ich lief zu meinem Vater. Wir
waren inmitten der Rechten und Faust machte ein Gesicht, als
wäre er zum Gaudi auf einer Kirmes. Er deutete auf den tätowierten Nacken eines Klopses vor mir. „Dieses Zeichen, Justus“, sagte
er, „hat eine geheime Kraft.“
„Das ist Firlefanz“, sagte ich. „Und jede Haut sollte zu schade sein
dafür.“
Der Klops wandte sich zu uns um. „Ihr seid vorgemerkt“, sagte er.
„Wenn wir die Zecken aufgemischt haben, dann seid ihr dran.“
Da flogen die ersten Steine und es wurde gerufen: „Nazis raus!“
Was dann genau passierte, konnte weder Faust noch ich uns erklären. Zuerst schien es, als würde es an uns vorüberziehen. Die
Rechten drängten vor und wurden doch zusammengetrieben.
Trillerpfeifen wurden geblasen. Über Polizeilautsprecher wurde
aufgefordert, auseinanderzugehen und Konflikte zu vermeiden,
sonst würde hart durchgegriffen. Der Klops, der sich immer noch
vor uns hielt, hatte auf einmal einen blutigen Schädel, fuchtelte mit
blutbeschmierten Händen herum und schrie. „Das ist der Krieg!
Kameraden! Jetzt wird zurückgeschlagen. Vorwärts!“ Er preschte
zwischen seinen Kameraden, von denen die meisten Schlagringe,
Klappmesser und Baseballschläger bereithielten, nach vorn in die
Kampfzone. Dadurch bekamen Faust und ich etwas Luft. Doch
schon flutete die braune Kamarilla wieder zurück, getrieben von
den Polizisten, die dazwischenhieben, als wär’s die letzte Schlacht,
die sie zu gewinnen hatten. „Ihr Verräter!“, schrien die Rechten
gegen sie. „Die andern müsst ihr schlagen!“ Faust und ich ließen uns beiseite drängen und verbargen uns halb hinter einem
Bauschuttcontainer. Der Strahl eines Wasserwerfers streifte uns,
machte uns in Sekunden klatschnass. Ich trat auf die Straße zurück und protestierte: „Wir haben damit nichts zu tun. Wir sind
zufällig hier.“ Und da blickte ich in zwei vom Schlitz der Sturmmaske umrahmte Augen, die ich kannte. Und der Polizist kannte
und erkannte mich ebenfalls, so viel war Fakt. Er wandte sich
an den Mann neben ihm, sagte ihm was und deutete auf mich.
Der nickte und verschwand zur Seite. Das musste eine Bedeutung
haben. Und ob eine für mich günstige, stand nicht einmal in den
Sternen. Also war’s angesagt, dass Faust und ich die Szene verließen. Aber wieder war er das Problem, denn er stand nicht mehr
hinter mir. „Papa!“, rief ich, was bei dem Krawall ein Pups in den
Wind war. Und ich schrie: „Faust! Wo bist du, Faust?“
Da kam er aus einem Backshop, hinter ihm wurden die Schutzgitter runtergelassen, mit einem Quadratmeter großen Stück
© wasser-prawda
93
Sprachraum
Zuckerkuchen, von dem er gierig Bissen um Bissen in den Mund
stopfte und verschlang. Er strahlte mich an. „Das musst du kosten, Justus! Das ist ein fürstlicher Genuss.“
„Du hast geklaut?“ Ich hätte meinen Vater knutschen mögen –
wenn uns noch ein Diebstahl anzuhängen war, würde für mich
nichts mehr gehen in Richtung Superstar.
„Mundraub“, sagte Faust kauend.
„Wir machen endgültig die Fliege“, ordnete ich an. Ich wollte
Faust entgegeneilen und mit ihm verschwinden von diesem Ort,
dessen Bedenklichkeit zwar eine andere war als die des von meinem homunkuluiden Freundes beschriebene Bedenklichkeit des
bedenklichen Ortes im Reich meines Vaters; aber eben deshalb
war’s geboten, zu flüchten, vielleicht kam nach dem Wasserwerfer
ein Flammenwerfer zum Einsatz und wir würden abgefackelt werden. Doch traf’s mich in den Rücken mit einem Schlag, der die
Gitarre zu Bruch gingen ließ, und in die Kniekehlen mit einem
Tritt und ich klatschte vornüber aufs Pflaster. Meine Arme wurden auf den Rücken gezwungen und beide Handgelenke mit einer Plastikschlinge aneinandergefesselt. Mein Kopf wurde neben
einem frischen Haufen Hundescheiße mit einem Knie auf dem
Boden fixiert und auch meine Füße wurden mit einer Schlinge
gefesselt. Ich empfand nur Scham, keinen Schmerz und keine
Wut. Und diese Scham lähmte mich. Ich lag vor meinem Vater
im Dreck, ein zur Strecke gebrachter Übeltäter, ohne Ehre und
entwürdigt.
Faust beugte sich über mich, zerrte mit einer Hand an meinen gefesselten Armen. Das Stück Kuchen hatte er zur Hälfte weggefuttert. Von seinem Mund bröckelten Krümel in mein Haar. „Was
haben sie mit dir gemacht, mein Sohn? Was hast du gemacht?“
„Nichts habe ich gemacht. Ich habe nach dir gerufen. Und schon
gab’s einen rüber.“
Faust richtete sich auf. „Bürger!“, rief er. „Zu Hilfe, Bürger! Hier
ist Unrecht geschehen. Wir haben mit dem Krieg nichts gemein.
Helft doch!“
Und schon lag mein Vater ebenfalls neben mir im Dreck und
die Hundescheiße war von seinem Kopf genauso weit entfernt,
wie sie meinem nahe war. Auf seinem Rücken kniete ein Polizist
und fesselte ihn auf die gleiche Art, wie ich gefesselt war. „Bei
Anstachlung wird härter durchgegriffen und bestraft, als es das
Tragen von Nazisymbolen und die Verbreitung faschistischen
Gedankenguts nach sich zieht“, sagte der Polizist. Er hatte Probleme mit der Sturmmaske, bekam nur einen Sehschlitz vor die
Augen. „Und wenn’s nach mir ginge, ich würde alle, die hier die
Kacke am Dampfen halten, egal ob Rechte oder Linke, Chaoten
oder Intellektuelle, ich würde sie ohne Rückfahrkarte nach Sibirien schicken.“
„Wohin nur hast du uns gebracht, mein Justus?“ Faust versuchte
noch, am Kuchen zu knabbern, der unter ihm lag und mit einer
Ecke bis an seinen Mund reichte.
„Wir sind in der bundesdeutschen Wirklichkeit“, sagte ich. „In einer Demokratie geht’s auf der Straße genauso selten demokratisch
zu wie in einer Diktatur. Und wir, Vater, haben das Spiel noch
nicht bis zum Ende durch.“
„Was lob ich mir die alten Zeiten“, sagte Faust. „Als ich den Wein
noch aus dem Holze lockte und mit einem Gretchen unter Bäumen mich erging!“
94
© wasser-prawda
Sprachraum
„Papa!“, schrie ich Faust an. „Halt’s Maul, Papa! Lobe deine alten
Zeiten, wenn sie dich wiederhaben und du sie wiederhast. Jetzt
hol uns lieber deinen Teufel herbei! Denn wenn der’s nicht bringt,
dann hilft uns nichts mehr aus der Scheiße.“
Jemand betastete mich von hinten, sagte zu einem andern: „Keine
Papiere, Eberhard, tut mir leid.“
Und der andere, der mit Eberhard angesprochen worden war, sagte: „Ich war mal – und bin’s wieder – mit so ’ner Schlampe zusammen gewesen und die hatte einen Jungen bei sich rumlungern
in der Wohnung … Naja. Halt ihm noch eine kleine Ewigkeit
die Schnauze im Dreck und dann ab aufs Revier. Wenn ich was
bezeugen muss, damit’s für ’ne Festnahme reicht, ruf mich an.“
Ich schloss die Augen. Eberhard war der Polizist, dessen Augen
mir bekannt gewesen waren im Schlitz der Sturmmaske, und der
auch mich erkannt hatte; und er war derjenige gewesen, der mich
von meiner Mutter fortgetrieben hatte in die Anstalt meines Vaters. Eberhard war’s, der Scheißkerl von einem Bullen, und permanenter Brechreiz setzte ein, wenn man mit ihm Umgang hatte,
der mir als erster aus meinem früheren Leben begegnete, und davor konnte man die Augen nur zumachen und durch.
Faust versuchte, mit mir zu sprechen, ich reagierte nicht. Zwei
Passanten standen eine Weile neben uns. „Morgen früh kommt
die Müllabfuhr, da werden sie die beiden mit entsorgen“, sagte
einer. Und der andere sagte: „Der Alte ist ’n Penner und der Jungsche taugt nichts, so was hat keine Deponie verdient.“ „Wird nicht
erst geschreddert?“, fragte der erste. „Nur verwertbare Abfälle“,
antwortete der zweite. „So was wie die, kannste keinem Hund in
’ner Dose anbieten.“
Ich hörte meinen Vater stöhnen. Und ich dachte: Wo ist amnesty international? Wo seid ihr, Streiter für Menschenrechte und
Menschenwürde? Wo seid ihr, Bürgerrechtler und Kommissäre
zum Schutz der persönlichen Freiheit? Wo seid ihr, Medienleute
aus der ersten Reihe, die ihr hautnah und brandheiß und unbestechlich vom Tagesgeschehen berichtet? Hier liegt die knalligste
Nachricht auf der Straße und mit der Schnauze im Dreck: Faust
und sein Sohn in Fesseln neben einem Haufen frischer Hundescheiße!
„Papa“, sagte ich. „Halt durch!“
„Ich friere“, sagte Faust. „In den nassen Klamotten ist’s wie im
Eisschrank.“
Irgendjemand, der sich im Laufschritt näherte, verpasste mir einen Tritt in den Arsch, trat nach und lief dann weiter. Aber auch
das war unbedeutend gegen die dumpfe, alles durchwuchernde
Scham.
Aber dann ging’s ruckzuck. Ein Auto hielt hinter uns. Ich wurde
gepackt, Faust wurde gepackt – dabei sah ich, wie ein Kampfstiefel in die Hundescheiße getreten wurde und diese sich ins Profil
der Sohle einpresste und über deren Rand quoll – und wir wurden zu einem geschlossenen Transporter geschleift und in den
Kastenaufbau verfrachtet, was ungebremst martialisch durchgezogen wurde. Die Trümmer der Gitarre wurden mir vom Rücken
gerissen und auf die Straße geworfen. Die Bänke zu beiden Seiten
waren schon dicht besetzt, aber mein Vater und ich wurden, einander gegenüber, dazwischen gepfercht. Das gab wieder Knüffe.
Ich saß neben einem ultimativen Trash-Typen. Er duftete so herrlich nach Gras, dass Scham, Schmerzen und sonstige Bedrückt-
© wasser-prawda
95
Sprachraum
heiten auf Abflug machten. Jetzt einen Joint und das Leben und
die Welt hätten mich wieder und ich würde nicht grollen über die
unfreundlichen Attacken anlässlich meiner Rückkehr. Aber der
Typ war so abwesend, dass es nicht lohnte, ihn anzuquatschen,
dem war’s gleich und Bockwurst, wohin er unterwegs war.
Faust saß zwischen zwei Autonomen, beide mit Frisuren, die jedem Ureinwohner einen Schock fürs Leben verpasst hätten. Die
übrigen waren von der braunen Suppe, sie schimpften auf die Bullenschweine, die wieder mal die Falschen gegriffen hatten, auf die
Scheißpolitiker, die von den Realitäten so weit entfernt waren wie
der Mond vom Urknall, und auf einen smarten Steffen, der ganz
bestimmt der Maulwurf war, der’s verpfiffen hatte, und den sie
anzünden würden demnächst!
„Maulwürfe pfeifen nicht“, sagte mein Vater. „Sie meinten ganz
bestimmt eine Ratte.“
„Ey, Alter, halt dich da raus“, sagte der Rechte, der neben dem
Trash-Typen saß.
„Ich meinte das der biologischen Korrektheit wegen.“ Faust nickt
mir zu. „Und Maulwürfe pfeifen nun mal nicht.“
„Kennst du nicht den Unterschied zwischen Pfeifen und Verpfeifen?“, wurde Faust gefragt. Und er erhielt zur Antwort: „Pfeifen
tun die Pfeifen und Verpfeifen tun die Maulwürfe.“
„Ja“, sagte Faust. „Und fettes Brot wächst auf der Wiese, die Eier
wachsen in der Vorratskammer und die Störche kaufen die Kinder im Krämerladen ein.“
„Der Alte kapiert’s nicht!“ Es gelang dem Rechten links neben
mir, trotz der Fußfessel, Faust vors Schienenbein zu treten. „Deine biologische Korrektheit taugt für keinen Kindergarten, Alter.
Und wenn ich dir jetzt ein zweites Mal vors Schienenbein trete,
dann nur der numerischen Korrektheit wegen, denn einmal ist,
wie du wohl weißt, kein Mal.“ Er schwang die Unterschenkel weit
nach hinten unter den Sitz, um kräftiger zustoßen zu können.
Aber er brachte die Füße nicht wieder nach vorn. Dafür kreischte
er ein lächerliches „Aua!“ und wand sich auf seinem Platz. Und es
war ein Knurren unter der Bank zu hören, das mir wie’s lieblichste
Klingen der Welt schien.
„Wenn du artig bist“, sagte Faust zu dem Mann, „dann sage ich
dem Hund, er soll’s lassen, und es ist gut. Wenn du aber nicht
artig bist, behält er sein Abendbrot im Maul.“
„Jetzt verhaften die Bullen schon Hunde“, sagte einer von den
Autonomen. „Das gibt eine Meldung an den Tierschutz.“
„Bist du artig?“, fragte Faust noch einmal.
„Sag dem Köter, er soll’s lassen, du Schwein!“ Der Mann drückte
sich ins Hohlkreuz vor Schmerz, wahrscheinlich hatte der Pudel
sein Beißvermögen voll ausgereizt. „Aber auch wir haben Anwälte, so darf mit politischen Gegnern nicht umgegangen werden.“
„Brav“, sagte Faust. „Brav, mein Hund.“
Der schwarze Pudel kam unter der Bank hervor, setzte sich vor
Faust und blickte dem Mann, den er gebissen hatte, in die Augen und grinste. Damit war Ruhe im Kasten. Nur eine Äußerung gab’s noch von einem andern Rechten. „Wenigstens ist’s kein
Deutscher Schäferhund, der sich an unsereins vergreift. Und solch
Vieh hat doch keine Rasse. Müssten wir ja gleich erledigen so was,
wenn wir an der Macht sind. Und nicht nur Hunde. Wenn, dann
richtig.“
96
© wasser-prawda
Sprachraum
Es war in einem Innenhof, wo wir aussteigen durften. Die Fußfessel wurde uns beim Aussteigen abgekniffen, die Handfessel nach
Zuteilung in die Verhörzimmer. Hier gab’s keine Maskierungen,
aber Eberhard entdeckte ich nicht. Da der Pudel sich bei all dem
geduckt und still nahe Fausts Fuß hielt, wurde man erst auf ihn
aufmerksam, als man uns gemeinsam vorführte.
„Was soll dieser Hund hier?“, fragte der Beamte. Er schien in dieser Situation und auch seit Jahren schon überfordert. „Hunde sind
bei Befragungen nicht zugelassen.“
„Das ist mein Hund“, sagte Faust. „Er gehört mir.“
„Wer hat Ihnen erlaubt, ihn bei der Zuführung mitzuführen?“
Der Beamte musterte den Pudel, der brav neben Faust verharrte.
„Außerdem ist in dieser Stadt Leinenzwang und von einer Steuermarke kann ich auch nichts entdecken.“
Aus der Verhörbox nebenan rief jemand: „ Frag ihn, ob er ein
Hundekotentsorgungsset dabei hat. Und die Bestätigung für den
bestandenen Wesenstest ist bei so ’ner Töle auch einzufordern.“
„Sie haben gehört, was mein Kollege gesagt hat?“
Faust wandte sich an mich: „Übersetze mir das. Das ist Chinesisch rückwärts für mich.“
„Für Hundehaltung gibt es Bestimmungen. Aber ich kenne mich
da nicht aus. Für einen Hund musst du heutzutage Steuern zahlen
wie für Grundbesitz oder ein Auto.“
„Legen Sie ihren Hund erstmal an die Leine“, sagte der Beamte.
„Ich habe keine Leine. Und wir brauchen keine Leine.“ Faust tätschelte den Pudel. „Der Hund versteht mich auf jedes Wort und
pariert.“
„Heißt das, Sie lassen dieses Tier ständig frei rumlaufen?“
„Er ist nichts anderes als Freiheit gewöhnt“, antwortete Faust. „Es
gab noch nie Probleme.“
„Stimmt nicht“, kam’s wieder aus der Verhörbox nebenan. „Die
Töle hat während des Transports einem von den arischen Brüdern in den Fuß gebissen. Wir mussten eine ärztliche Versorgung
anordnen. Also, Vorsicht. Und sei pingelig bei den Personalien,
sonst bleiben wir auf der Rechnung sitzen.“
Daraufhin telefonierte der Beamte, was er sagte, hielt er absichtlich so leise, dass es nicht zu verstehen war. „Hören Sie“, versuchte
ich es wieder, „das ist alles ein Missverständnis. Wir, mein Vater,
der Hund und ich, sind zufällig zwischen die Fronten geraten.
Wir haben keinerlei politische Ambitionen. Ob rechte Chaoten
oder Linke, dazu gehören wir nicht. Und dass der Hund meines
Vaters zugeschnappt hat, war ein Abwehrreflex. Mein Vater ist
getreten worden. Hätte Ihr Hund Sie da nicht auch verteidigt?“
„Ich halte keinen Hund“, antwortete der Beamte. „Aber meine
Frau leistet sich zwei Pferde.“
„Ihre Frau leistet sich zwei Pferde!“ Faust staunte so ehrlich, dass
der Beamte es nicht ignorieren konnte und bestätigend nickte.
„Dann gehört Ihr eine Grafschaft? Oder Sie hat ein einträgliches
Lehen?“
„Sie ist im gehobenen Dienst tätig. Reiten, so sagt sie, bringt ihr
die optimalsten Entspannungseffekte. So ein Tier so zu führen,
dass es wie ohne eigenen Willen gehorcht, entschädigt sie für
die vielen Leerläufe, Gegenläufe, Querläufe und Sonderläufe im
Dienst, so sagt sie.“ Der Beamte atmete endlich. „Im Kontakt mit
dem Tier ist sie glücklich, meine Frau, sagt sie.“
„Und im Kontakt mit dir ist sie’s nicht“, fragte ich.
© wasser-prawda
97
Sprachraum
Aus einer anderen Box wurde gerufen: „Glücklich ist, wer vergisst, dass wer Dienst hat, nicht zu Hause ist!“
„Meine Frau geht nicht fremd!“, rief der Beamte zurück. „Ich
bringe jeden zur Anzeige, der das behauptet.“
Aus einer entfernteren Box wurde gerufen: „ Der dickschwanzige
Adi betreut sie ja auch schon ein paar Monate, so fremd geht sie
da nicht mehr.“
„Wer sagt das?“, rief der Beamte. Er sprang auf, stellte sich auf den
Tisch, um in die anderen Boxen blicken zu können. „Wer sagt mir
das in die Augen?“
Aber es blieb nebensächlich, ob’s ihm einer in die Augen sagen
würde oder nicht, denn zwei Polizisten in Sturmmontur kamen
in unsere Verhörbox und hatten, eh sich zu versehen war, dem
schwarzen Pudel jeder eine Fangschlinge um den Hals gelegt und
drückten ihn mit den Distanzstangen zu Boden.
Der schwarze Pudel machte das dümmste Gesicht, das je ein
Hund gemacht hat, und rührte keine Pfote zur Gegenwehr.
„Was machen Sie?“ Faust ging die beiden Hundefänger an. „Was
tun Sie meinem Hund an?“
Einer der beiden stieß Faust auf seinen Platz zurück. Der andere
warnte: „Schön ruhig bleiben, Herrschaften! Wir haben die Ketten und den längeren Arm.“ Die beiden wollten den Pudel aus
der Box ziehen, bewegten ihn aber keinen Zentimeter vom Fleck.
„Füttern Sie den mit Blei?“, fragte einer Faust. „Der liegt ja so fest
wie die Titanic auf’m Meeresgrund.“
„Er ist Freigänger und Selbstversorger“, sagte Faust. „Aber seine
Lieblingsspeise sind … Was waren das noch für komische Exemplare, Justus? Du bist da besser informiert als ich!“
„Übereifrige Bullen in schusssicheren Westen“, antwortete ich.
„Die Rückstände davon machen ihn schwer und seine Verdauung
war noch nie die beste.“
Der Beamte konnte einen Lacher nicht unterdrücken. Und die
beiden Hundefänger zerrten nun gewaltsamer an den Schlingen,
um den Pudel zu bewegen. Aber da purzelten sie übereinander
gegen die Pappwände der Box, verfingen sich in den nun leeren
Schlingen und schlugen sich die Köpfe auf mit den um sie wirbelnden Distanzstangen. Der Hund war weg.
Stattdessen saß vor dem Tisch des Beamten ein in dunklen Zwirn
gekleideter Herr, der die Beine übereinanderschlug und seine
Krawatte lockerte. Er nickte dem Beamten zu und reichte ihm
eine Visitenkarte. Den Hundefängern gab er ein Zeichen, dass
sie sich zu entfernen hätten, sagte ihnen: „Einen Bericht dürfen
Sie sich ersparen. Dieser treue Staatsdiener hier vor mir wird den
Vorfall eigenverantwortlich verwalten.“ Er nahm dem Beamten
die Visitenkarte wieder ab. Die Hundefänger verschwanden aus
der Box, obwohl sie sich noch nicht vollständig aus den Schlingen
freigemacht hatten.
„Doktor Phisto?“, stotterte der Beamte. „Ich verstehe nicht.“
„Das ist auch nicht nötig. Meinen Namen bitte ich, vollständig
und richtig auszusprechen. Merken sie es sich: Doktor Cristo de
me Phisto.“ Der Doktor Phisto nickte Faust und mir zuversichtlich zu. „Die beiden Männer“, sagte er zu dem Beamten, „sind
Topleute meiner Abteilung. Mit ihrer saudummen Aktion hätten
sie auffliegen können. Haben Sie sich denn nicht denken können,
dass nur gut ausgebildete und der Sache treu ergebene Undercover-Kräfte in der Lage sind, einen Hund einzuschmuggeln!“
98
© wasser-prawda
Sprachraum
Das brachte den Beamten völlig von der Rolle, er stotterte: „Aber
die Personalien …“
„Schreiben Sie“, befahl Doktor Phisto. „Faust und Sohn. Das
genügt. Ich gehe davon aus, dass Ihre Vorgesetzten ein helleres
Köpfchen haben als Sie. Sie haben doch Erfahrungen mit Personen, die im höheren Dienst ihre Anstellung haben!“ Doktor
Phisto erhob sich. „Wie ist Ihr Name?“
Der Beamte zögerte, wusste nicht, wie er’s auf die Reihe bringen
sollte.
„Na gut, vergessen wir’s!“ Doktor Phisto bedeutete Faust und mir,
ihm zu folgen. „Wir sind alle nur Menschen und machen Fehler.“
„Aber der Hund“, stotterte der Beamte. „Auch ein Diensthund
ist, entsprechend der Hundehalterpflicht – oder ist es ein Gesetz?
–, zu beaufsichtigen und steht nicht außerhalb der Gesetze.“
„Oder ist es ein Gesetz!“ Doktor Phisto lachte mit all seiner Herzlichkeit. „Das Gesetz verpflichtet uns, Gefahren vom Volk und
vom Staat abzuwenden. Aber das ist gelegentlich und zumeist
überhaupt nicht mit den Möglichkeiten, die das Gesetz bietet, zu
erreichen.“ Er umfasste Faust und mich mit einem Arm, schob
uns aus der Box und sagte dem Beamten verabschiedend: „Beim
nächsten Mal ein klein wenig mehr denken, wie wir in Pullach zu
sagen pflegen.“
„Noch nie gehört, dass die in Pullach denken“, sagte der Beamte.
„Dann hast du was an den Ohren.“ Doktor Phisto winkte zum
Abschied in Richtung der anderen Boxen. „Du solltest dir einen
in die Gehörgänge blasen lassen. In diesem Sinne!“
Wir kamen ohne Behinderung aus dem Gebäude und durch den
Innenhof. Auch der Schlagbaum der Personenschleuse ging wie
auf Bestellung vor uns hoch, als wäre das alles, was uns passiert
war, nur als Übung geplant gewesen. Und als der eiserne Balken
hinter uns wieder in die Halterung klappte, gab’s kein Halten
mehr für uns drei – wir lachten.
„Die alten Tricks sind doch noch immer die besten“, lachte Doktor Christo de me Phisto und umarmte Faust.
„Weil die Beamten noch immer statt Grütze Sägespäne im Brägen
haben“, lachte Faust und gab sich ganz in die Umarmung. „Und
was sagst du dazu, Justus? Ist der Hund nicht ein richtiger Teufelskerl?“
„Das war Comedy auf höchstem Niveau“, lachte ich. „O-Ton ab
und Kamera drauf und der Kleinkunstpreis wäre uns sicher.“
„Trotzdem, für einen Moment sah es so aus, als würden sie dich
abwürgen!“ Nun zog Faust Doktor Phisto an die Brust. „Mit so
einem blöden Hundegesicht habe ich dich noch nie gesehen.“
„Ein bisschen Spaß muss sein!“ Christo de me Phisto strich über
seinen Zwirn, als wäre tatsächlich Schmutz darauf. „Und nun
war’s das! Wie weiter?“
Wir gingen vorbehaltlich der Nase nach. Und das hieß, wir stolperten die Bürgersteige rauf und runter und kamen auf keinen
Plan. Nirgends ein Schild mit „Hier wirst du Superstar“, nirgends
eine Tür, die sich für uns öffnete oder wo wir’s wagen mochten,
anzuklopfen. Abend bald. Die Reklamen flimmerten. Und eine
undeutbare Milde erhob sich und nahm der Fülle aller Dinge um
uns herum viel von ihrer Bedrohlichkeit.
Schließlich sagte Doktor Phisto: „Als Hund tun mir vom Gelatsche die Pfoten nicht halb so weh, wie’s mir als Mensch die Füße
© wasser-prawda
99
Sprachraum
tun.“ Und, hast du’s nicht gesehen, trabte der schwarze Pudel wieder zwischen mir und meinem Vater.
Er hätte drei Sekunden warten sollen. Denn da gab’s das Angebot
des Lebens für uns. So jedenfalls verkündete es der Typ, ein Gigolo mit drei Tonnen Übergewicht, der vor uns aus einem Türbogen
trat und uns eine Mappe aufblätterte, aus der wir uns die Girls à
la carte auswählen durften. „Machen alles inklusive und zum best
Preis“, sagte er. „Trinken, essen, whirling, dance, fucking. Und
super fresh alle Girls. Und super diskret. Und super sexy. Das
werden super night for you.”
“Die”, sagte Faust und schlug eine Hand zwischen die Blätter.
„Die will ich sehen!“
Der Gigolo hielt ihm das Blatt hin. Es war eine dunkelhaarige,
mollige Frau, die mit gespreizten Beinen auf einem Hocker saß
und mit einer Hand ihr halb zu einem Rhombus rasiertes Schamhaar verdeckte. „Gutes Girl“, flötete er und brabbelte was in sein
Headset. „Verry gutes Girl.“ Und mich fragte er: „Und was wollen
du?“
Ich zerrte an Faust. „Was soll das, Papa? Begreifst du denn nicht?“
„Ahaha! Das ist Papa! Und das ist Sohn! Wollen beide zusammen
gleiches Girl? Kein Problem.“ Er brabbelte wieder was ins Headset. „Walpurgia machen das.“
„Walpurgia!“ Faust nahm eine Haltung ein, als hätte er vor, einen Panzer umzurennen. „Walpurgia! Das ist ein Name für eine
Tochter.“
„Kostet aber little bissel mehr“, sagte der Gigolo. „Aber immer
noch best Preis.“
„Wir haben auch noch einen Hund“, sagte ich, fasste den schwarzen Pudel beim Nacken und zog ihn vor; konnte ja sein, dass der
Typ uns noch nicht vollzählig wahrgenommen hatte. „Und der
hat auch seine Ansprüche.“
Beim Gigolo zeigte das Wirkung, er verdrehte die Augen und
knautschte die Lippen, als wär’s die bitterste Pille seines Lebens,
dass er uns das Angebot unseres Lebens gemacht hatte. „Ein
Hund! Dann doch Problem!“ Anscheinend wusste der Typ nicht,
was er ins Headset sagen sollte. „Mit Tieren ist nicht Service. Und
Walpurgia macht’s nicht. Ausgeschlossen.“
„Aber wir haben’s dem Hund versprochen“, sagte ich. „Wir sind
ihm was Großes schuldig.“
„Ich will Walpurgia sehen!“ Faust machte einen Eindruck, als
würde er durchdrehen. „Ich will sie!“
Die Tür, durch die der Gigolo zu uns auf die Straße getreten war,
wurde geöffnet und Walpurgia trat einen Schritt hervor. Obwohl
ihr Foto sicher vor einigen Jahren, wenn’s nicht Jahrzehnte her
war, gemacht worden war, war sie noch nicht so ramponiert, dass
sie nicht zu erkennen gewesen wäre. Sie schnippte eine Kippe auf
die Straße und blickte mich und meinen Vater gewerbsmäßig an:
herausfordernd, versprechend und mit dem sicheren Gespür dafür, an wen sie geraten war. „Oh Gott“, sagte sie. „Die beiden?
Und das hätte ein so schöner Abend werden können!“
„Walpurgia“, sagte Faust. „Erkennst du mich, Walpurgia?“
„Besoffene nie vor Mitternacht“, sagte Walpurgia.
Der Gigolo wies auf den Pudel und sagte: „Sie wollen auch den
Hund dabeihaben. Aber ich habe Ihnen schon gesagt, dass die
Nummer bei dir nicht läuft.“
100
© wasser-prawda
Sprachraum
„Walpurgia?“, fragte Faust wieder. „In der Nacht auf dem Blocksberg! Das kannst du doch nicht vergessen haben!“
„Nun lass mal nach, Alter“, sagte Walpurgia. „Ich war auf so
vielen Blocksbergen, auf’m ganzen Blocksgebirge war ich, und
Nächte hatte ich da siebenundfünfzig Mal so viele wie Tage. Aber
für dich, Alter, hab ich keinen Film im Kasten. Kapiert?“ Und
mich fragte sie: „Der Hund ist sauber?“
Der schwarze Pudel knurrte so tief, als würde die Frage ihn ins
Unterirdische drücken.
„Walpurgia!“ Der Gigolo kämpfte mit sich. „Das ist nicht unser
Service. Und wenn’s rauskommt. Bei was mit Viechern, machen
sie uns die Bude dicht.“
„Ist der Hund sauber, habe ich gefragt“, ging Walpurgia mich an.
„Er war noch nie sauberer“, antwortete ich.
Der Pudel grollte im tiefsten Bass.
„Fünftausend“, sagte Walpurgia. „Auf die Hand. Und das Ganze
nicht länger als ’ne Stunde.“
„Walpurgia!“ Faust versuchte, Walpurgia zu umarmen. „Du hast
gesagt, dass ich’s besser mache als Beelzebub, Satan und alle Fürsten der Finsternis zusammen. So was vergisst kein Mann.“
„Fünftausend“, wiederholte Walpurgia.
„Das läuft ohne mich.“ Der Gigolo tänzelte in die Tür zurück.
„Das ist nicht mein Geschäft.“
„Ich muss Orkan entlohnen.“ Walpurgia hielt den Typen fest.
„Ich steh bei ihm mit über drei Riesen in der Kreide. Er bringt
nun mal das beste Dope. Komm! Lass mich mit dem Trio ins
Klinikum! Was soll’s! Ich bin auch wieder mal gut zu dir. Und
jeder kommt in seinem Leben mindestens einmal auf den Hund.“
„Aber nur, wenn die Kamera mitläuft.“ Der Typ kam wieder einen Schritt auf die Straße zurück. „Mit so was hat man im Netz
eine gute Resonanz.“
Faust griff Walpurgia bei einem Arm, zog sie an sich, schnaufte:
„Nach dir ging’s mit keiner andern mehr. Nach dir war ich nur
noch ein Mann in den Worten. Für dich hätte ich mich verleugnet. Tiefer noch, als Leverkühn es tat für meinen Sohn. Du warst
die wahre Hexe in meinem Leben.“ Er griff nun auch nach mir.
„Sogar meinen Sohn hätte ich verleugnet für dich. Ja, du warst
das schöne Böse. Und nicht einmal JWG – wer immer es will, hab
ihn selig – hat’s durchschaut.“
Der Gigolo brabbelte hektisch was ins Headset. Walpurgia schlug
auf Fausts Hand, die sie am Arm hielt. Der schwarze Pudel gähnte. Und ich fragte mich: Waren wir wirklich und tatsächlich und
in echt und überhaupt fortgekommen aus dem Bann der Anstalt
meines Vaters und der Worte? Oder streckte sich und reichte sein
Reich doch so weit darüber hinaus, dass es kein Entkommen
daraus geben konnte? War der Wahnsinn die natürliche Dominanz des Existenziellen und dominierte er derart, dass es uns,
Faust, Mephisto (hier in seiner trans-zendenten Manifestation als
schwarzer Pudel) und mich, vor der billigsten Absteige versammelte, um uns in die schofligste Nummer des 21. Jahrhunderts zu
vermitteln? Musste der Weg zum Superstar für mich immer nur
durch Niederungen, psychotische Zustände und fremdgesteuerte
Läuterungen führen? Warum gab es immer wieder Situationen,
wie jetzt auch, in denen neue Rechnungen aufgemacht wurden
und alle Glocken auf Katastrophe tönten?
© wasser-prawda
101
Sprachraum
„Ihr habt ’ne Klatsche, ihr!“ Walpurgia kriegte ihren Arm nicht
frei aus Fausts Griff. „Vater, Sohn und Töle, ihr seid pervers.
Trotzdem, mein letztes Angebot. Viertausend! Und ihr habt eine
Stunde, wie ihr’s wollt.“
„Nun also.“ Faust ließ Walpurgia los. „Nun war’s das Letzte also
und keine von den Nächten kehrt zurück, keine von den Lieben
bleibt im Stand und kein Himmel hat sein Licht für immer.“ Er
ging zwischen mir und Walpurgia, die ihm eine deftige Kopfnuss
verpasste. Der schwarze Pudel pisste neben der Tür an die Wand,
bevor er Faust folgte.
„Was habt ihr hier eigentlich abgezogen?“, fragte mich der Gigolo.
„Keine Ahnung“, antwortete ich. „Du hast uns angequatscht. Das
war’s.“
Walpurgia zuckte die Schultern. „Obwohl“, sagte sie und blickte
mich an, als hätte sie mein Gewicht auf zehntel Gramm genau
abzuschätzen, „der Hund machte einen guten Eindruck.“
Ich ließ Faust und den Pudel mit Abstand vor mir hergehen. Keiner von beiden blickte auch nur ein einziges Mal zurück, um zu
sehen, was mit mir war. Denn dass ich nicht in Schwierigkeiten
mit dem Typen und seinen Leuten, die er ganz sicher schon alarmiert hatte, geraten war, gehörte nicht zum Angebot des Jahrhunderts dazu. Wir mussten für die Nacht unterkommen. Und ich
dachte, dass es das Beste sein würde, wenn Mephisto auch mich
und Faust zu Artgenossen seiner aktuellen Daseinsform machte.
Als drei Hunde würden wir eine Nacht in der Stadt problemloser
überstehen als in dieser Besetzung. Ein Hund hat Möglichkeiten
und Rechte auf ein Leben, von denen ein Mensch nur träumen
kann. Als Hund gilt dir nur eine Regel: Fressen, was dir vor die
Schnauze kommt, und rechtzeitig verpissen. Und kein Hund ist
der Sprache ausgeliefert, ein stiller, verschwiegener Hund gilt als
angenehm, wäre er als Mensch still und verschwiegen, begegnete man ihm mit Misstrauen und unterstellte ihm Hochmut
oder lebensfremde Verrückungen. Als Hund, so dachte ich, wäre
ich momentan meine aussichtsreichste Variante aufs Überleben,
denn nur darum ging’s zu dieser Stunde. Und wohl deshalb auch
geschah es: Ich sah vor mir, wie der Pudel sich setzte und dass,
als er saß, Faust zu einem stattlichen Altdeutschen Schäferhund
mutierte, der sich neben dem Pudel niederlegte. Beide Hunde
blickten zu mir. Ich blickte zu ihnen. Die Farbigkeit der Szene
war gewandelt und auch die Perspektive meiner Wahrnehmung
war eine andere. Ich blickte aus Kniehöhe, denn auch ich war
zu einem Hund gemacht. So schnell und unkompliziert werden
Wünsche erfüllt, stellt man sie zum richtigen Zeitpunkt und an
den richtigen Adressaten. Nur, dass ich eine stichelhaarige Promenadenmischung von mittlerem Format war, als die ich mich
im Schaufenster eines Kellerladens erkannte, verstimmte mich.
Und ich knurrte den Pudel und den Altdeutschen Schäferhund
beleidigt an, als ich zu ihnen gelangte.
„Kein Gemecker“, sagte der Pudel. „Jeder trägt seinen hündischen
Typus in sich. Ich konnte rassemäßig nichts für dich tun.“
„Ein klein wenig schäferhündischer hätte es trotzdem ausfallen
dürfen“, meinte auch der Altdeutsche. „Und wenn’s nach dem
Erbgut seiner Mutter entschieden worden wäre, hätte er einem
Golden Retriever oder einem Afghanen ähneln müssen. So
schämt man sich ja fast mit ihm.“
102
© wasser-prawda
Sprachraum
„Wäre ich ein Pudel, wenn meine hündische Variante nach dem
Erbgut gestaltet wäre?“ Der Pudel posierte vor dem Altdeutschen
und der Promenadenmischung. „Hätte ich dann schwarze Lokken auf der Brust und gutmütige Augen?“
„Zumindest würdest du mehr einem Molosser gleichen und auf
einem Hinterlauf hinken“, sagte der Altdeutsche.
„Und stinken würde er auch“, sagte ich.
„Der Dank der Undankbaren ist unermesslich in seiner Niedertracht“, sagte der Pudel und trabte voran. „Aber ich kann auch
anders und ihr werdet es erfahren an eurem eigen Leib und euer
eigen Seele.“
„Seine Drohungen haben schon ganze Völkerschaften erheitert“,
sagte der Altdeutsche zu mir. Er lief dem Pudel nach und murmelte: „Wenn das in die Bücher kommt! O weh! O weh! Faust als
Hund. Und sein Sohn als Köter. Und vorneweg Mephistopheles
als Pudel. So sind sie unterwegs, weil sie in ihrer Urgestalt durch
die Nacht nicht würden finden.“
Unser Finden durch die Nacht gestaltete sich zu Beginn schon
spektakulär. Aus einer Kellernische, wo von den isolierten Heizungsrohren die Nachtkühle angenehm erwärmt wurde, vertrieb
uns eine alteingesessene Hundegang. Der Rudelführer hatte eine
deutliche Ähnlichkeit mit mir, war aber entschiedener in seinen
natürlichen hündischen Anlagen. Er ging, als keiner von uns dreien auf sein Rollenspiel reagierte, das uns signalisierte, das Revier
zu räumen, sofort zum Angriff über. Wir hatten schlicht kein Repertoire für solche tierischen Mätzchen. Und die Gang zögerte
nicht, es ihrem Chef gleichzutun. In den Altdeutschen und in
mich verbissen sie sich sehr heftig, nur unser dickes Fell bewahrte
uns vor ernsthaften Verletzungen. Dennoch war, so scharfe Zähne an der Kehle zu spüren, kein Zuckerschlecken. In den Pudel
wagte keiner einen Biss.
Wir mussten das Weite suchen und gelangten zu einem Platz, der
zu drei Seiten bebaut war. Der mittlere Bau war der imposanteste. Fünf Säulen im Portal, zwischen denen sich drei hohe Eingangstüren befanden, dominierten die Front. „Staatstheater“ war
in Goldrelief und mit zementenem Lorbeer umgeben darübergeschrieben. Der Bau links davon war insgesamt schlichter, aber
durchaus dem Stil des Staatstheaters nachempfunden. Dies war
das Kammertheater, so war’s über den doppelflügeligen Eingang
in kleinerem Goldrelief geschrieben. Der Bau rechts war eindeutig von zweckbestimmter Architektur, war ohne jeden Schnörkel
und der Zugang war eine gewöhnliche Kasernentür, über der in
profaner Leuchtröhre, auf Provinzbahnhöfen waren die Toiletten
auf vergleichbare Art gekennzeichnet, „Probebühne“ zu lesen war.
Im Zentrum des Platzes stand ein Denkmal. Es wurde, denn es
war Nacht geworden, von vier Strahlern angeleuchtet. Der steinerne Mann auf dem Sockel war in einer nachdenklichen Pose
dargestellt, dennoch würde er, verpasste man ihm nur den rechten Schubs, diese Hoffnung und Befürchtung hatte der Künstler
mit hineingearbeitet in sein Werk, sich aufmachen und davonziehen einer neuen Herausforderung entgegen. In hellerleuchteten
Schaukästen war das Programm des Theaters ausgestellt. Für das
Staatstheater hingen an zwei Masten Ankündigungen der morgigen Premiere. Und das war der Hammer, denn es wurde „Faust“
von Johann Wolfgang von Goethe gegeben, der Tragödie erster
und zweiter Teil in modernisierter Fassung.
© wasser-prawda
103
Sprachraum
Der Altdeutsche Schäferhund saß davor, schüttelte den Kopf und
sagte: „Immer wieder dieser JWG. Wenn ich einmal längst vermodert bin, wird er immer noch gespielt.“
„Ich bin auch dabei“, meldete sich der schwarze Pudel. „Und bedenke, mein Faust, JWG ist schon längst und länger vermodert.“
Und die stichelhaarige Promenadenmischung, die ich war, sagte:
„Da steht in modernisierter Fassung! Und vielleicht ist das Moderne der Fassung, dass ihr beide gestrichen seid? Auch in der
Kunst, inklusive Literatur und Dramatik, ist Vandalismus eine
Bedingung für Erneuerung.“
„Sei nicht mein Feind, Justus!“ Der Altdeutsche schnappte nach
mir. „Auch nicht in der Polemik und auch nicht nur aus Lust,
dem Alten eins reinzuwürgen.“
„Und wenn wir gestrichen worden wären, wir hätten’s gespürt.“
Der schwarze Pudel stupste dem Altdeutschen die Nase in die
Flanke. „Wer so eng verlebt und verschrieben ist miteinander, wie
wir beide, da spürt’s der eine wie der andere, wenn uns Gewalt
angetan wird.“
„Aber warum bin ich euch ein Feind, wenn ich’s Mögliche benenne?“ Ich tippelte um die beiden herum. „Vater? Warum erträgst
du es nicht, wenn ich etwas anspreche, zugegeben, ich tu’s etwas robuster als du, das du selbst zuvor für dich geltend gemacht
hast?“
„Justus! Du bist so vulgär radikal. Du bist ohne das Feingefühl
eines Sohnes, der seinen Vater liebt.“ Der Altdeutsche kratzte mit
der rechten Hinterpfote seine Backe. „Du entwertest mich, wenn
du so sprichst. Und was für Tragödie wär’s denn noch, wenn ich
gestrichen wäre? Ja. Und warum Tragödie überhaupt?“
„Johann Heinrich!“ Der schwarze Pudel leckte sein Brustfell.
„Mit einem Lustspiel oder einer Komödie wär’s doch nicht zu
spielen mit uns.“
„Aber Trauerspiel unter meinem Namen!“ Der Altdeutsche legte
seinen Kopf zwischen die Vorderpfoten aufs Pflaster. „Ich kann
mich an keine einzige Träne erinnern. Nicht im Leben, nicht im
Spiel und in der Anstalt schon gar nicht.“
„Dass du dich nicht erinnern kannst, muss ja nicht heißen, dass
es sie nicht gegeben hat.“ Die Promenadenmischung hielt sich auf
Distanz zum Altdeutschen. „Jedes Gedächtnis ist von Interessen
manipuliert. Tränen passen nicht in das Schema, das du von dir
in dich vermittelst. Also blendest du sie aus, weil du meinst, so,
ohne Tränen, der bessere Faust zu sein.“
„Halt die Schnauze, Justus!“, ranzte mich der Pudel an. „Wenn
ihr beide so weitermacht mit euch, geht auch der letzte Millimeter
Spaß, den ich mit euch habe, flöten.“
Der Altdeutsche blickte zum Schaukasten, in dem das Programm
des Kammertheaters angekündigt wurde, und lachte. Er las vor:
„Für unsere jungen Zuschauer! Der Teufel mit den drei goldenen
Haaren! Täglich ab siebzehn Uhr, bis zum Ende des Monats.“
„Davon habe ich schon gehört.“ Der Pudel streckte sich und
verbog sich dann in einen Katzenbuckel. „Meine Sippe wollte
klagen. Insbesondere, weil das Andenken unserer Großmutter
schändlichst verunglimpft wurde.“
„Das würde ich mir sehr, sehr gern angucken wollen“, sagte der
Altdeutsche und leckte einmal links, einmal rechts um sein Maul.
„Von deiner Großmutter, mein Mephisto, habe ich nämlich über-
104
© wasser-prawda
Sprachraum
haupt keine Vorstellung. Ist sie die Großmutter mütterlicherseits
oder väterlicherseits?“
„Ich habe euch schon viel zu viel von mir erzählt.“ Der Pudel deutete auf ein Schild neben dem Eingang. Es zeigte einen stilisierten
Hund, der durchgestrichen war. „Für Hunde kein Zutritt heißt
das“, sagte der Pudel. „Das ist bitter, Kameraden, aber auf das
Schauspiel mit meiner Großmutter müssen wir verzichten.“
„Müssen wir nicht“, sagte ich, die Promenadenmischung. „Zum
Beispiel dachte ich, vor ’ner Stunde vielleicht, dass durch die
Nacht zu kommen, als Hund einfacher wäre, und schon waren’s
mein Vater und ich. Warum soll’s umgekehrt nicht auch möglich
sein?“
„Du warst das!“ Der Altdeutsche verzog die Lefzen zu einem
Grinsen. Es stand ihm nicht gut.
„Nein“, sagte der Pudel, „ich war’s.“
Ein Windstoß riss ein Blatt, das neben dem Eingang zur Probebühne an ein Brett geheftet war, ab und trieb es uns, als wär’s
von einem Zustellservice arrangiert, direkt vor die Pfoten. Darauf
stand „Die allerneuesten Leiden des jungen W. / Ihr seid herzlichst eingeladen. / Ein Projekt der Freien Theatercompanie RotBlau.“ Über den unteren Rand war mit drei Ausrufezeichen vorn
und drei Fragezeichen hinten „In Anwesenheit des jungen W.“
geschrieben.
„Der W. kann’s nicht lassen mit seinem Leiden!“ Der Pudel gähnte. „Der wievielte Aufguss ist das eigentlich schon?“
„Wie anstrengend“, sagte der Altdeutsche. „Leiden nach neuesten
Ansprüchen und Erkenntnissen und stets auf hohem Niveau.“
„Der junge W. ist genau so ’ne Marke wie Coca Cola oder Greenpeace oder Faust.“ Die Promenadenmischung fühlte sich persönlich angesprochen, aber so, als hätte mich jemand an einer Stelle
gekratzt, wo’s nicht juckte. „Er ist der puer aeternus vulgaris sozusagen. Ist ein Produkt und individuelle Kreation.“
„Wau“, sagte der Pudel. „Solch schlauen Hund lob ich mir.“
„Er spuckt doch nur aus, was ihm vorgekaut wurde.“ Der Altdeutsche streckte sich der Länge nach, es knackte schauderlich
in seinen Knochen und Gelenken. „Wie heißt es? Ist der Vater
dumm und die Mutter nicht klüger, wird auch der Sohn kein
Überflieger.“
Und ich, die Promenadenmischung, hielt dagegen: „Wenn’s JWGeht in Faustens Kopf, packt er den Weimaraner noch beim
Schopf und reimt und schleimt, bis unterm altem Schopf, die
neue Grütze keimt.“
„Lasst es!“ Der Pudel machte auf verärgert. „Was fetzt ihr euch
um anderer Leute Schleim! Mir reicht’s bald.“
„Nana, du schwarzer Pudel“, sagte der Altdeutsche. „Gefährlich
wirst du erst im Rudel.“
Der Pudel stellte sich auf seine vier Pfoten. „Verschone mich mit
deiner greisenhaften Muse, Faust. Dem JWG bist du es gram,
aber selber übertriffst du ihn darin noch.“
Es schlich jemand heran, wir Hunde hatten die Witterung im
Kollektiv. Ein gewichtiger Schemen. Er war vermummt bis unter
die Nasenspitze, hatte eine Kapuze übergezogen. Er entdeckte die
drei Hunde, die wir waren. Aber er hatte mit solchen Tieren offenbar noch keine schlechten Erfahrungen gemacht, denn es hielt
ihn nicht davon ab, näher an die Werbetafeln der Tragödie erster
und zweiter Teil zu schleichen. Nach dem er sich vergewissert hat-
© wasser-prawda
105
Sprachraum
te, nicht von Menschen beobachtet zu werden, zog er eine Spraydose aus seiner Kleidung und sprühte mit roter Farbe „Lüge“ über
den Schriftzug „Faust“. Er ging zwei Schritte dazu auf Abstand,
legte den Kopf zur Seite. Und dann umrahmte er „Lüge“ mit einem gleichfarbigen Oval.
„Der Kerl ist ein Nihilist“, knurrte der Altdeutsche. „Tragödie
musst du streichen.“ Er trabte zu dem Sprayer. Der suchte sogar
den finsteren Himmel ab, um zu entdecken, wer zu ihm gesprochen hatte; dass es der Hund gewesen war, der sich vor ihm auf
die Hinterläufe stellte, um seine Aufmerksamkeit zu erlangen, zog
er nicht ins Kalkül.
Und so sagte der Altdeutsche: „Die Tragödie ist die Lüge, nicht
Faust.“
„Das ist ein Witz, oder?“ Der Sprayer wich vor dem Altdeutschen
zurück. „Ihr wollt mich lächerlich machen, ihr Staatstheaterdiener, weil ihr mich mit Ablehnungen nicht kleinkriegt.“
Der Pudel war hinter den Sprayer gelaufen, sodass der, da er sich
weiter nach hinten vom Altdeutschen wegbewegte, über ihn zu
Boden stolperte. Er landete genau auf seinem Po und so blieb er.
Der Pudel blieb hinter ihm, und der Altdeutsche setzte sich vor
ihn. Und die Promenadenmischung ging auch dahin und setzte
sich neben den Altdeutschen. Dem Sprayer war die Kapuze vom
Kopf gerutscht, sein Gesicht war entblößt. Es war dicklich, bartlos. Der Schädel war bis auf eine Mittelscheitelbürste rasiert. Am
Haaransatz war die Bürste schwarz gefärbt, die Spitzen gelb und
dazwischen war’s Haar so rot wie die verwendete Farbe.
„Wenn noch einer von euch was sagt“, sagte der Sprayer, „unterschreibe ich freiwillig meine Einweisung in die Klapsmühle.“
„Ich kann mich nur wiederholen“, sagte der Altdeutsche. „Die
Tragödie ist die Lüge, nicht Faust.“
Der Sprayer schleuderte die Spraydose gegen die mittlere Tür im
Portal des Staatstheaters. Er bedeckte sein Gesicht mit beiden
Händen.
„Und er muss es wissen“, sagte der Pudel. „Er ist der Einzige, dem
in Sachen Faust keiner was vormachen kann.“
„Das ist ’n Hund“, stöhnte der Sprayer hinter seinen vorgehaltenen Händen. „Und nur, wenn er selber Faust wäre, könnte ihm
keiner was vormachen.“
„Dann wird’s wohl so sein“, sagte die Promenadenmischung.
Der Sprayer zog seine Hände langsam von seinem Gesicht, es
war so gänzlich ohne Ausdruck, wie in einer leeren Flasche kein
Schluck mehr ist. „Du bist Faust?“, fragt er den Altdeutschen.
Der Altdeutsche nickte.
„Dann bist du?“, er wandte sich an Mephisto. „Mephistopheles?“
„Es blitzt in deiner Birne“, sagte der Pudel. „Du stehst im Stoff.“
„Und wer bist du?“, fragte mich der Sprayer.
„Ich bin misslungen, wie du siehst“, antwortete ich.
„Mein Sohn ist nicht misslungen“, knurrte der Altdeutsche. „Ich
will das nicht noch einmal von dir hören, Justus!“
„Als Hund ist’s doch augenscheinlich!“ Ich tippelte einmal vor
und einmal zurück, damit der Sprayer mich genauer betrachten
konnte. „Und so viel Freude hast du als Vater auch nicht an mir.“
„Aber misslungen bist du trotzdem nicht“, beharrte der Altdeutsche. Er leckte dem Sprayer übers Gesicht und der nahm’s hin.
„Ich weiß nicht warum, aber du gefällst mir trotzdem.“
106
© wasser-prawda
Sprachraum
Der Sprayer fasste den Altdeutschen hinter beide Ohren, zerrte
ihn nach links, nach rechts, bis der sich energisch freimachte.
„Tatsächlich ein echter Hund.“ Der Sprayer schlug die Knöchel
beider Hände vor seine Stirn. „Wie funktioniert das? Wer hat
euch trainiert? Das ist doch kein Zufall? Das ist – genau, das
ist’s! – das Vorspiel der Tragödie dritter Teil. Ja. Ein Hund ist der
wahre Faust der Zukunft. Ja. So muss es auf die Bühne. Und so
wird’s von der Bühne sich Raum nehmen in der Gesellschaft. Ja.
Ich werde verrückt.“ Der Sprayer legte sich aufs Pflaster, als würden alle Sonnen des Alls auf ihn scheinen. „Ja, ich möcht verrückt
werden“, sagte er. „So viel Wahnsinn hält man sonst nicht aus.“
Er zog ein Handy aus der Brusttasche des Sweatshirts, wählte eine
abgespeicherte Nummer. Bevor er eine Verbindung bekam, hob
er den Kopf und ermahnte uns drei Hunde, die um ihn herum
saßen. „Nicht abhauen, ihr Schwarmgeister! Die Nummer reize
ich aus. Das ist die Chance, die aus Max Schiller den Supermax
macht. – Max Schiller bin ich.“
„Und ich bin Justus Faust“, sagte die Promenadenmischung. „Und
ich will Superstar werden.“
„Äh!“ Das drückte Max aufs Pflaster zurück. Die Fragezeichen
und Ausrufezeichen, die in seinem Kopf waren, schwirrten vom
Aufprall als oszillierende Spirale um seinen Kopf – so sahen’s wir
Hunde. Aber dann bekam er die Verbindung. „Schnecke“, sagte
er, „hier ist Mäx’l. Hör zu! Schnapp dir die Kamera und komm
zum Theater. Hier läuft ein Ding, das kannst du dir nicht vorstellen. Wahnsinn hoch was weiß ich. Nein. Mich hat keiner geschnappt und ich bin so clean wie Aspirin. Beeil dich. Wir sind
mit allem aus’m Schneider, wenn wir’s nicht verkacken. Mach
schnell! Ja, Küss’l.“ Max steckte das Handy weg, jetzt erst betastete er einen Hinterkopf.
„Da wächst dir ein Ei“, sagte der Pudel.
„Was uns nicht umbringt, macht uns stark“, sagte Max.
„Und leichte Schläge auf den Hinterkopf fördern das Denkvermögen“, sagte der Altdeutsche. „Die Methodik zur Beförderung der
Menschlichkeit hat seit der Steinzeit keinen innovativen Schub
mehr erfahren. Die Jugend von heute und die Jugend von morgen
krankt an den gleichen psychogenen Symptomen, sie besetzt die
falschen Idole mit falschen Idealen. Und plötzlich kollabieren die
Enkel an den avantgardistischen Neurosen der Ahnen.“
„Äh“, krächzte Max den Altdeutschen an. „Aus welchem Zauberbeutel seid ihr entflohen? Was ist das für ein Psycho-Mix? Ist das
Hundeschule auf Survival-Art? Oder akademische Unverbindlichkeit hundsgerecht einstudiert und kindsgerecht vorgetragen?“
„Äh“, äff te der Pudel Max nach. „Was ist’s für Gemaxe, das du
mit uns abziehst? Was mäxelst du hier vorm Staatstheater?“
Damit hatte der Pudel Max angestochen. Er sprang auf und hopste wie ein fettleibiges Rumpelstilzchen vorm Staatstheater herum und keiferte: „Ich – ich, Max Schiller – habe diesem Haus
einen dritten Teil der Tragödie geschrieben. Ein Auftragswerk per
Handschlag in der Kantine weit nach Mitternacht besiegelt. Ich
habe in dem Haus fünf Jahre in den Kulissen malocht, habe sozusagen Theater von der Rückseite erlebt und gemacht. Aber egal,
von welcher Seite man es sieht, Theater bleibt Theater, es ist ein
Vormachen allein zu dem Zweck, damit die Leute, die die Zahlen
bringen, ihre Patscherchen aneinanderschlagen. Und irgendwann
dachte ich, das kannst du auch, Max Schiller, denen ’ne Spielvor-
© wasser-prawda
107
Sprachraum
lage liefern, das bringst du, einen Text, ein Stück, ein Schauspiel.
Aber’s Können allein reicht nicht, man muss es besser können.
Und als ich so weit war, dass ich dachte, dass ich’s besser könnte, habe ich’s denen gesagt, denen vom Staatstheater. Nach der
Premiere von den Räubern von Schiller. Dem Intendanten habe
ich’s gesagt. Ich habe genug Dreck gefressen vom Theater, habe
ich ihm gesagt, jetzt will ich’s wissen, wie es ist, wenn man selber
welchen macht. Und ich habe ihm was erzählt vom dritten Teil
der Tragödie, worauf, wenn nicht die ganze Welt, so doch halb
Deutschland drauf warten müsste. Denn das kann’s doch nicht
gewesen sein mit unserm Faust, dass der sagt: Im Vorgefühl von
solchem hohen Glück genieß ich jetzt den höchsten Augenblick.“
„Das habe ich nie gesagt.“ Der Altdeutsche schüttelte sich wie
nach einem Bad. „JWG hat’s mir angedichtet, reimgetreu.“
„Ihr seid eine verflixt bedenkliche Bande.“ Max feixte und sein
dickliches Gesicht verzog sich von einem Ohr bis zum andern.
„Aber ich nehme euch so, wie ihr seid. Ist ja bekannt, dass in
jedem Hund der bessere Herr steckt. Also habe ich mich hingesetzt und der Tragödie dritten Teil verfasst. Faust und Mephisto
waren schon auf der ersten Seite erledigt, die standen jedem Wort
verquer mit ihren literaturhistorischem Ballast, waren vernagelt
und verkleistert mit Interpretationen, waren, als ich sie anrührte
mit Worten, so monumentale Gestalten, dass ich sie hätte zertrümmern müssen, um sie ins Spiel bringen zu können. Und das
brachte ich nicht. Auch, weil eine andere Figur wie von selbst in
die Protagonistenrolle drängte. Der einzige Mann, der – dass er
in vielen Passagen genauso schwafelte wie die beiden Großchargen der Tragödie, ist ihm nachzusehen angesichts seiner Leistung
– etwas schuf, der auf sich vertraute, sich nicht versteckte hinter
einem Faustschen Höllenzwang oder aus Furcht, draufzugehen
bei seinen Experimenten, nicht im gefährlichen Bereich agierte.
Wagner! Wagner ist der tatsächliche Pionier der Charade. Ich hatte, nachdem mir das bewusst geworden war, keine Chance einer
Wahl. Wagner ist mein Held der Tragödie dritter Teil. Aber diese
Hengste von der Intendanz und Dramaturgie und Oberspielleitung und Regie und Theaterbeirat und Schauspielerkomitee und
Kultursenat haben’s mir um die Ohren gehauen. Wen interessiert
Wagner, haben sie mich gefragt. Mit so kleinen Männern macht
man kein großes Theater. Eine Wiedererstehung Fausts im dritten
Teil der Tragödie, das wär’s gewesen! Dass er sich lossagt vom
Bösen und vielleicht ein Mittel gegen Aids oder Sexsucht auf den
Markt bringt? Oder dass er bin Laden fängt und den Terrorismus aufmischt? Oder dass ihm, und das nicht nur mit Appellen
an die Vernunft, was gegen den Klimawandel einfällt, das die
Wirtschaft akzeptiert. Wagner, Mäx’l, haben sie mir gesagt, ist
ein Mann ohne Eventpotenzial. Wagner ist ein kaltes Eisen fürs
Theater.“
„Wagner ist meine Frau“, sagte die Promenadenmischung. „Und
wenn die ein kaltes Eisen ist, dann ist die Sonne Schnee und
Asche.“
„’ne Schwulenehe!“ Max blickte zwischen meine Hinterläufe.
„Das hätte mir einfallen sollen. Faust und Wagner miteinander
im siebten Himmel. Die beiden treten vor den Altar, Mephisto
traut sie und Gretchen und Helena geben die Trauzeugen. Das
hätte mir einfallen müssen.“
108
© wasser-prawda
Sprachraum
Der klapprigste R5, den die Hauptstadt je gesehen hat, fuhr auf
den Platz vorm Staatstheater. Und das war’s wohl, was Max davor
bewahrte, dass der Pudel und der Altdeutsche sich auf ihn stürzten und ihm bewiesen, dass sie scharfe Zähne hatten. Am Steuer
saß eine junge Frau, die, noch als sie fuhr, eine Kamera zum Fenster raus hielt und ihren Mäx’l und die Hunde, die um ihn herum
waren, filmte.
„Halt drauf, Schnecke!“, rief Max ihr zu. „Halt drauf und Mikro
an.“
Die Schnecke stieg aus. Der R5 verröchelte im Standgas. Und mir
blieb die Luft weg und mir gingen die Puste aus und das Licht
auch und ein vergessener Himmel voller Geigen stürzte ein über
mir.
Die Schnecke war Aloa. Sie hatte etwas mehr Fleisch auf den
Hüften als zu unserer Zeit, Sympathiespeck ihres Mäx’ls wegen,
aber an ihrer Wirkung als Frau kratzte das nicht. Sie kam mit der
Kamera im Anschlag auf uns zu, winkte Max.
„Nun sagt mal wieder was“, forderte Max uns Hunde auf. „Ihr
seid nicht nur sprechende Hunde, sondern ihr habt auch noch was
zu sagen. Los! Ton ab!“
„Ich halte die Schnauze“, sagte Mephisto.
„Und ich mache dazu auf geselliger Typ“, sagte Faust. „Sprechende Hunde schweigend. Das ist die wahre Sensation, Max!“
„Hast du’s?“, fragte Max seine Schnecke.
Die Schnecke nickte, hielt die Kamera weiter auf uns Hunde und
gab Max einen flüchtigen Kuss auf eine Hälfte seines rasierten
Schädels. „Das ist ’n Trick“, flüsterte sie ihm zu. „Und das hier
vorm Theater. Irgendwer von den Gipsköpfen führt dich vor. Wir
dürfen nicht drauf reinfallen.“
„Das sind Hunde aus Fleisch und Blut.“ Max schüttelte den Kopf,
als glaube er seinen eigenen Worten nicht. „Und was sie von Faust
sagen … Oh, Schnecke.“ Er klammerte Aloa an sich. „Sag mir,
dass ich nicht verrückt bin. Sag mir, dass es nicht wieder losgeht
und ich in die Therapie muss und ich der Tragödie dritten Teil
leben muss bis ins Blut der Steine und dass ich stehle die Herzen
aus den Dingen und der Geschmack des Todes mich lockt unbarmherzig.“
„Du bist nicht verrückt, das sage ich dir“, sagte Aloa. „Wenn hier
was verrückt ist, dann sind’s die Hunde.“
Der Pudel sah mich an und ich dachte: Ein verrückter Hund!
Nein. Das will ich nicht sein. Das ist als Mensch schon über alle Verantwortung, verrückt zu sein, und als Hund treibt’s einen
noch hinters Wölfische zurück. Ein verrückter Hund kann den
Wahnsinn nicht genießen, es entfesselt ihn nicht von seiner Natur, sondern er wird ihr auf entmündigende Weise unterworfen.
Und das vor Aloa! Nein.
Und wieder war’s kaum gedacht, da war’s vollbracht.
Aloa fiel vor Überraschung die Kamera aus der Hand, als sie
mich, Faust und Mephisto in unserer Urgestalt sah. Max nahm
die Kamera schnell wieder auf, schwenkte sie von einem zum andern, sagte: „Das war die Introduktion des transformatorischen
Vermögens von Kunstgestalt und evolutionärer Dominanz. Was
wir soeben erleben durften, ist der Beweis für die transzendente Macht wortgewaltigen Establishments. Wir sahen drei Hunde
unterschiedlichster Rasse und haben nun drei Männer, die ihre
© wasser-prawda
109
Sprachraum
Provenienz selbst vorstellen werden.“ Er zielte mit der Kamera auf
Faust. „Bitte stellen Sie sich vor! Sie sind?“
„Ich bin Johann Heinrich Faust“, sagte mein Vater. Er rückte näher zu mir. „Und das ist mein Sohn Justus.“
„Justus“, hauchte Aloa. „Du bist’s. Ja. Was machst du? Warum
willst du’s noch mal anfangen mit uns? Warum dieser Zirkus?“
„Ich bin Doktor Christo de me Phisto“, sagte Mephisto. „Ich vertrete Doktor Faust und seinen Sohn anwaltlich wie in freundschaftlicher Verbundenheit.“
„Du kennst den?“, fragte Max seine Aloa „Du kennst Fausts
Sohn?“
„Er hat mich entjungfert“, sagte Aloa und schlug Max die Kamera
aus der Hand. Sie fiel aufs Pflaster, ein Teil splitterte ab. „Er war
meine erste große Liebe.“
„Die Welt ist Mäusedreck und Würfelspeck“, sagte Mephisto.
Und ich sagte. „Davon weiß ich nichts. Aloa. Davon habe ich
nichts bemerkt. Ja. Es war was Großes mit uns. Ja. Aber du hast
es nicht länger gewollt.“
„Die Welt ist Hinkepott und Seelenschrott“, sagte Faust.
„Die Welt ist ungerecht“, sagte Max. Er hob die Kamera auf,
drückte das abgesplitterte Teil wieder fest. Und er blickte ins Recorderdisplay und jubelte: „Es ist nichts verloren, Schnecke. Wir
haben’s. Du hast es drauf. Ich kann es sehen. Es passiert nichts
mit den Hunden. Sie verformen sich nicht, sie verlieren kein Fell,
sie leiden nicht. Sie können einmal Hunde sein und einmal sind
sie Menschen, wie sie’s bedürfen verwandeln sie sich. Das ist’s.“
„Max“, sagte Aloa. „Die erste große Liebe vergisst man nicht, das
weißt auch du.“
Max bekümmerte Aloas Bedrückung nicht. Er hatte wieder sein
Handy zur Hand. „Ich muss Fletscher rankriegen, der hat die
Connections.“
„Max!“ Aloa trat näher zu mir. „Ich habe was mit Justus zu bereden. Unter vier Augen.“
„Ich bin verheiratet, Aloa“, sagte ich. „Und mein Vater ist auch
hier.“
„Hab ich schon kapiert.“ Aloa war so, wie’s früher auch mit ihr
gewesen war, mit einem Wort auf hundertachtzig.
„Und seine Frau ist schwanger“, sagte Faust.
„Wagner ist schwanger?“, fragte Max. „Dann wird’s apart.“
„Warum soll seine Frau nicht schwanger sein!“ Aloa schlug wieder
nach der Kamera. Aber Max kannte ihre Macken auch, war darauf eingestellt und der Schlag wurde kein Treffer. „Justus bringt’s
eben. Was man nicht von jedem sagen kann.“
„Ich bin ein Intellektueller“, konterte Max. „Die organisieren sich
die Hormone nach Bedarf und nicht nach Lust und Laune.“ Er
hatte die Verbindung mit Fletscher und sagte: „Fletscher? Hier ist
Max. – Was heißt, welcher Max? – Genau, der Max. Du, ich hab
was aufgerissen, das ist granatenmäßig. Wenn wir das richtig zum
Kochen bringen, haben wir ausgesorgt. Hier stehen drei Typen
vor mir, du, das glaubst du nicht … Hallo! Fletscher? Hallo!“ Die
Verbindung wurde beendet. „Scheiße“, sagte Max. „Der hängt
bestimmt irgendwo in Moskau auf einer Hochzeit ab und kämpft
sich von Funkloch zu Funkloch. Fletscher ist einer der wichtigsten Leute auf dem Medienmarkt.“
„Und deshalb weiß er, dass alles, was du bisher granatenmäßig
aufgerissen hast, Rohrkrepierer waren.“ Aloa ging zum R5, bedeu-
110
© wasser-prawda
Sprachraum
tete mir, ihr zu folgen. „Komm, Justus! Ich habe eine Frage, die
nur uns beide angeht.“
Wir setzten uns nach vorn in den R5. Wir sahen, wie Max, Faust
und Mephisto auf das Display der Kamera hinwies und wie die
beiden ihm etwas zu erklären versuchten, das er aber auf Anhieb
nicht begriff. „Du darfst nicht denken, dass ich Max liebe“, sagte
Aloa. „Ich hatte keine gute Zeit nach der Zeit mit dir. Und er war
da. Und er – so, wie du ihn jetzt erlebst, glaubst du’s sicher nicht
– bringt mich zum Lachen. Es gibt mit ihm so unbeschwerte Momente, da kann ich vergessen, wie weh das Leben tut. Max ist der
geborene Komödiant, ein Leichtmacher, auch bei vollem Ernst
hat er die Lacher auf seiner Seite, weil er es ernst meint damit,
kein Spaßvogel sein zu wollen. Bei Max hatte ich Luft.“
„Du hattest eine Frage“, sagte ich.
Aloa schaltete für einen Wisch den Scheibenwischer ein. Die Blätter strichen knirschend über das trockene Glas. Max rief: „Wir
kommen gleich.“ Und Aloa sagte. „Als wir zusammen waren. Damals. Ich hatte bei allem, was mit uns war, das Gefühl, dass du
deine Mutter in mir finden wolltest. Ob mit deinem Schwanz,
mit deinen Fingern, mit deiner Zunge, du warst in mir auf der
Suche, nein, du warst in mir auf der Jagd nach deiner Mutter. So
habe ich es empfunden. Und das wollte ich dich fragen: Habe ich
recht damit?“
„Das hast du empfunden?“ Auch ich ließ den Scheibenwischer
einmal arbeiten; es war ein Augenblick, in dem auseinanderfiel,
was die Welt zusammenhält, unsere Übereinkunft mit den Dingen, dass sie uns unser Verlorensein in der Allmächtigkeit der Teile und Teilchen nicht aufrechnen, wenn’s denn sein muss einmal
– und einmal muss es sein –, als Scherz. „Meine Mutter war das
Problem mit uns?“
„Vielleicht hätte ich es dir sagen sollen, dass du oft, wenn es am
höchsten war mit uns, nach ihr gerufen hast.“ Aloa strich über
meine Hand, die völlig absichtslos auf dem Griff der Handbremse
ruhte. „Mama! Mama hast du gerufen. Komm doch, Mama!“
„Ich habe keine Erinnerung. Das musst du mir glauben.“
„Ich muss gar nichts.“ Aloa drückte die Hupe. „Und glauben muss
ich schon gargar nichts.“
„Wir kommen gleich!“, rief Max wieder. Es schien, als wolle es
ihm nicht gelingen, Faust und Mephisto zu überreden, in den R5
zu steigen.
„Und von dieser Nummer, die du mit den beiden Typen vor Max
abziehst, glaube ich gargargar nichts und noch mal nichts.“ Aloa
lachte. „Drei Straßenköter beißen sich durch ein Stück Weltliteratur und Max Schiller, der Hummeltreiber – das ist sein Spitzname, weil er ständig was am Summen hat, aber nichts zum Brummen bringt –, reißt sie auf, sie springen aus’m Pelz und so weiter.
Wo ist der Sinn von all dem, Justus? Was ist der Sinn, dass wir
beide uns wiedersehen?“
„Ich“, sagte ich und wusste eigentlich nicht, was ich zu sagen hatte, „ich hatte es nicht leicht, nachdem du mit uns Schluss gemacht
hattest.“
„Der Sinn, Justus?“ Aloa presste ihre Hände ineinander. „Es quält
uns doch wieder. Und was für einen Sinn macht es, dass wir zulassen, dass es uns so quält?“
„Fahr!“, sagte ich.
„Was sagst du?“, fragte Aloa.
© wasser-prawda
111
Sprachraum
„Fahr los!“, rief ich. „Fahre die drei da vor uns über den Haufen! Fahre jeden zu Klump, der sich uns in den Weg stellt. Fahr,
wenn’s diese Karre noch macht. Aber fahr!“
„Was willst du wirklich, Justus Faust?“
„Das will ich!“, rief ich wieder.
„Aber du hast eine Frau.“ Aloa berührte den Zündschlüssel. „Und
der Alte da vorn ist dein Vater. Und mit dem, was ihr vorhabt,
wird’s dann nichts mehr werden.“
„Wir müssen hier weg.“
„Wie ist deine Frau?“ Aloa bewegte den Schlüssel im Zündschloss.
„Du liebst sie doch. Nach dem Kauderwelsch, was Max dazu gesagt hat, kann ich mir kein Bild machen.“
Ich war außerstande, Aloa etwas über Marie Anne zu sagen.
„Kennst du sie schon lange? Wo ist sie jetzt? Lebt ihr zusammen?“
Wie erklärt’s sich, dass man und wie man einen Teil seiner Zeit
im Reich seines Vaters verbrachte, stets wandelnd auf der Grenze
zwischen Leere und Nichts, in Gesellschaft abstrusester Gestalten
und im Bann der Krümmungen und in sich zurückgeführter Perspektiven? Wie beschreibt man’s Verbrauchtsein in einem Kopf,
dessen kosmische Dimensionen ausschließlich auf einem Blatt
Papier und außerhalb jeder geometrischen Gesetzlichkeit darstellbar sind? Wie beantwortet man die Frage nach seiner Frau, wenn
man, außer zu wissen, dass sie Marie Anne heißt, keine Erinnerung an sie hat? Wie kann aus und von einem Raum berichtet
werden, dessen existenzielle Grundbedingung es ist, mit Erinnerungen nicht belastet zu werden? Indem Erinnerungen nicht
möglich werden, weil alles darin Jetzt ist und Jetzt bleibt?
„Meine Frau heißt Marie Anne“, sagte ich. „Sie hat eine lange
Geschichte.“
„Toll“, sagte Aloa. „Wer hat heutzutage noch eine Geschichte?
Verbrecher und Schauspieler.“
„Warum fährst du nicht?“, fragte ich.
„Das Benzin reicht bis in die Brüderstraße, wo wir wohnen, und
dann noch, wenn wir Glück haben, bis zur nächsten Tanke. Und
Geld habe ich nicht einstecken.“
„Vernunft ist scheiße? Oder?“
„Es ist nicht Vernunft.“ Aloa drückte wieder die Hupe und startete den Motor. „Wenn’s nur Vernunft wäre, könnte man dagegen
ankommen. Es ist das Machtwort der Freiheit, sich einer entfreiten Freiheit zu verweigern.“
„Also doch Vernunft“, sagte ich.
Max, Faust und Mephisto kamen nun im Laufschritt zum R5.
Max wollte partout vorn neben Aloa sitzen, sodass ich mich auf
die Rückbank zwischen meinen Vater und Mephisto zwängen
musste.
Bevor Aloa losfuhr, sagte Faust: „Ich vertraue dir, Max Schiller,
du hast mich überzeugt.“
Und Max sagte: „Zwischen Tragödie und Komödie gibt es einen
schauspielerischen Akt, der ausschließlich mit sich selbst befasst
ist, den Autor. Schauspielerischer Akt deshalb, weil jeder Autor
das Schauspiel einer zwischen Tragödie und Komödie vagabundierenden Existenz bietet.“
„Das liebe ich so an dir, Max“, sagte Aloa und fuhr los. „Dass du
immer wieder Typen anschleppst, die dir den schärfsten Blödsinn
als höchsten Tiefsinn verkaufen.“
„Ich verkaufe nichts“, sagte Mephisto.
112
© wasser-prawda
Sprachraum
„Und ich verkaufe auch nichts“, sagte Faust.
„Aber ich werde euern Justus verkaufen“, sagte Max. „Schon seine
Geschichte hat, wie ihr beide sie mir in Kürze erzählt habt, ohne
dass er Superstar werden muss, Bestsellerpotenzial.“ Er wendete
sich zu Aloa. „Du kommst nicht drauf, wer die Mutter von dem
Burschen ist?“
„Helena ist seine Mutter“, sagte Aloa. „Aber du hast mir vorhin
wieder einmal nicht zugehört, sonst hättest du nicht gefragt.“
„Klar hab ich dir zugehört, Schnecke. Mit dem hattest du dein
erstes Mal. Aber hier geht’s nicht um euern Kinderschmus! Ab
jetzt geht’s um Moos.“
Aloa drehte sich zu mir um. „Verzeih mir, dass ich nicht gefahren
bin, als du’s wolltest“, sagte sie. „Aber Freiheit ist genauso scheiße
wie Vernunft.“
Der R5 holperte, klapperte und ratterte über die Straßen. Max
hatte sein iPhone zur Hand, zog sich Informationen aus dem
Netz. Mephisto pfiff vor sich hin. Und mein Vater sagte, nachdem er lange Aloas Rücken betrachtet hatte: „Der Nacken einer
Frau ist der Steckbrief zu ihrer Leidenschaftlichkeit. Sage ich dir
da was Neues, Justus?“
Ich ignorierte die Frage. Aber ich versuchte, mir den Nacken meiner Frau vorzustellen. Es gelang mir nicht. Jedenfalls nicht so,
dass ich’s gelten lassen konnte. Was sich mir als Bild erstellte, war
das Hintere eines kurzen, faltigen Halses, auf dem der Haaransatz vom Alter ausgedünnt war und wodurch sich keine Leidenschaftlichkeit vermittelte. Und das Bild eines andern Nackens,
der schlank und gespannt war und aus dem blondes, im Ansatz
rötliches Haar aus der Mittellinie in lockiger Symmetrie spross
und sich wie ein Versprechen auf Leidenschaft ins Kopfhaar verwuselte, kam auf und schob sich in meinen Blick auf Aloas noch
immer kindlich zarten Nacken. Und dieses Bild zeigte mir den
Nacken meiner Mutter, eine Region ihres Körpers, die ich einst
mit ebenso abenteuerlichen Phantasien wie rastloser Faszination
besetzt hatte. Und mich schauderte vor meinen banalen Ungeheuerlichkeiten.
Anzeige
© wasser-prawda
113
Sprachraum
R˘ˋˎ˛˝ K˛ˊˏ˝ - D˒ˎ
Vˎ˜˝ˊ˕˒˗˗ˎ˗
Eine Reise um die Erde. Abenteuer zu
Wasser und zu Lande. Erzählt nach eigenen Erlebnissen. Band 1.
6. Die neuen Befehle.
›Das goldene Horn‹, ein Meeresarm, trennt Konstantinopel von
den beiden Vorstädten Pera und Galata.
Während ersteres mit seinen schmutzigen Gäßchen und Winkeln, gebildet von fensterlosen Häusern, noch einen vollkommen
orientalischen Eindruck macht, besitzen die beiden Vorstädte der
türkischen Residenz ein mehr europäisches Aussehen.
Schon, daß in Galata der Hafen für die fremden Schiffe liegt,
macht die ganze Stadt zum Versammlungsorte der Engländer,
Franzosen, Italiener, Griechen, und so weiter. Auch für Unterhaltung der Mannschaft der hier ankernden Fahrzeuge ist reichlich
gesorgt.
In einer Weinstube saßen zwei Männer spät abends zusammen,
wenn der Raum eine solche Bezeichnung verdient, denn die Lokale Peras und Galatas, in denen griechische und spanische Seeleute verkehren, zeichnen sich durch eine ganz besondere Unreinlichkeit aus.
Beim ersten Blick waren die beiden als Seeleute zu erkennen,
auch wenn sie nicht ihr leises, eifriges Gespräch fortwährend mit
Flüchen, wie sie auf Schiffen gebräuchlich sind, gewürzt hätten;
der Schnitt der Kleidung verriet es dem Beobachter.
Der eine von ihnen war eine magere, knochige Gestalt mit
scharfer Adlernase, eisgrauem Haupthaar uud gleichfarbigem
Schnurrbart. Das linke Auge fehlte ganz und läßt ihn als einen alten Bekannten wiedererkennen, den Seewolf, der hier in Konstantinopel sein Schiff, den ›Friedensengel‹, mit Weizen befrachtete.
Der andere war offenbar ein Grieche. Das dunkle und zugleich
scharf blickende Auge, der kurzgehaltene, schwarze Vollbart, wie
auch die kleine Gestalt stempelten ihn dazu. Sie unterhielten sich
in spanischer Sprache.
»Noch einen Krug Roten!« rief jetzt barsch der Grauhaarige,
und sofort erhob sich aus einer Ecke der elenden Spelunke, welche
das Licht der matt brennenden Oellampe nicht erhellte, ein altes
Weib, um den verlangten Wein zu bringen.
Nachdem die Gläser frisch gefüllt waren, begann der Grieche
wieder in flüsterndem Tone, seinen Mund fast bis an das Ohr des
Einäugigen neigend:
»So seid Ihr also auch auf zehn Uhr hierher bestellt worden, um
neue Befehle vom Meister zu empfangen? Bin gespannt, was er
diesmal hat.«
Der andere nickte stumm.
»Geniert Euch nicht,« sagte er dann mit lauter Stimme und
deutete dabei nach jener Ecke, wo die Frau wieder verschwunden
war. »Die Alte gehört zu unserer Bande und hat vielleicht mehr
auf dem Gewissen, als wir beide zusammen. Aber sagt, wo habt
114
© wasser-prawda
Sprachraum
Ihr gesteckt, seit Ihr den ›Friedensengel‹ verließt und Euch der
Meister ›etablierte‹?«
»Ich erhielt in Algier ein Schiff, die ›Nixe‹, das Ihr gesehen habt,
und schaff te von der afrikanischen Küste Mädchen nach Spanien
und Frankreich. Feine Ware, kann ich Euch sagen. Doch diese
Engländer, die Gott verfluchen möge, sahen mir zuletzt scharf
auf die Finger; der Meister erfuhr‘s, und so erhielt ich vor vierzehn
Tagen in Algier den Befehl, nach Konstantinopel zu segeln um in
dieser Schenke neue Aufträge zu erwarten. Unterwegs änderten
wir die Takelage des Schiffes, strichen es anders an und tauften es
›Undine‹. Die Papiere waren bereits in Ordnung, und nun bin ich
als ehrlicher Weinhändler hier, um aber jedenfalls wieder nebenbei Mädchen nach anderen Ländern zu paschen.«
Der Einäugige seinerseits hatte ihm bereits erzählt, welchen
Auftrag er auszuführen habe.
»Möchte nur wissen, was das für eine Brigg ist, die sich immer
neben der ›Vesta‹ hält,« knurrte er jetzt. »Diese Spitzbuben vereiteln mir alle meine Pläne. Selbst hier in Konstantinopel kann
man keines der Mädchen sehen, ohne daß ihr nicht ein Schatten
folgt. Es muß auch irgend so eine vornehme Gesellschaft sein.
Erst sahen sie wie Vagabunden aus, alle mit Lappen und Lumpen
bekleidet, als wollten sie zur Maskerade gehen; jetzt aber stecken
sie in einer Uniform und führen auf der Mütze die Buchstaben
›Amor‹, den Namen ihrer Brigg. Man braucht sich der Kapitänin
nur auf zehn Meter zu nähern, gleich tauchen hinter ihr drei der
Burschen auf.«
»Was ist das für ein prächtiges Vollschiff, das unten an der fünften Brücke liegt? Es ist glänzend schwarz bemalt und trägt in
grauen Buchstaben den Namen ›Blitz‹. Nationalität zeigt es nicht.
Selten habe ich einen so schönen, stolzen Bau gesehen, uud wun-
© wasser-prawda
115
Sprachraum
derbar ist es auch, was für eine Menge Mannschaft sich an Deck
herumtreibt.«
Der Seewolf schwieg nachdenkend.
»Auch mir ist es aufgefallen,« sagte er dann. »Die Takelage, der
ganze Bau erinnert mich an eine seltsame Begegnung, die ich vor
etwa zwei Monaten an der Küste von Nordamerika erlebte. Doch
jenes Schiff war grau und hatte ein rundes, glattes Deck, und
dieses zeigt außer seiner schönen Konstruktion keine Abweichung
von einem anderen Fahrzeuge.«
Er teilte dem griechischen Kapitän Signor Demetri mit, wie er
damals einem rätselhaften Schiffe begegnet sei, das mit ungeheurer Schnelligkeit gegen den Wind an ihm vorbeigeflogen sei.
Signor Demetri lachte.
»Unsinn, Ihr alle habt geträumt; so etwas existiert nicht. Was
wird‘s weiter gewesen sein, als ein Dampfer, der den Schornstein
irgendwo verborgen hatte, vielleicht in den Masten.«
Der Seewolf, oder, wie er sich lieber nennen hörte, Signor Fonsera, zuckte schweigend die Achseln.
»Was macht denn mein alter Freund Bill?« fragte mit heiserem
Lachen nach einer kleinen Pause der Grieche wieder. »Treibt er
noch immer seine Kochkunst?«
Der Seewolf warf einen scheuen Blick nach der Ecke.
»Pst,« flüsterte er, »Vor dessen Handwerk graut selbst mir altem
Sünder. Noch ist es kein Vierteljahr her, daß wir die blau angelaufenen Leichen einer ganzen Schiffsbesatzung ins Meer versenkten.
Einen teuflischeren Einfall hat der Meister wohl noch nie gehabt,
als damals, da er diesen Plan ausdachte.«
»Es ist entsetzlich in der That,« sagte auch der andere, sich
schüttelnd.
»Bezeichnet mir die Person, die meinen Dolch kosten soll,« fuhr
der Seewolf fort, »nennt mir das Schiff, das meine Leute entern
sollen, und Ihr werdet keinen willigeren Ausführer der That finden als mich. Aber so kaltblütig mit anzusehen, wie einer der Leute nach dem anderen mit zuckenden Gliedern umsinkt, nein, das
wäre selbst für den Seewolf zu viel.«
»Geschäftssache!« erwiderte der Grieche und blickte nach der
Taschenuhr. »Fünf Minuten vor zehn Uhr. Gleich müssen wir
Nachricht erhalten, denn der Meister ist pünktlich mit seinen
Aufträgen, wie im Bezahlen.«
»Und wie im Hängen,« ergänzte der Einäugige grinsend.
»Malt den Teufel nicht an die Wand,« sagte der Grieche erbleichend. »Wer weiß, wie bald in dieser Hinsicht die Reihe an uns
ist!«
Jetzt hob die Wanduhr zum Schlage aus, und in diesem Augenblick kam das alte Weib aus dem Winkel, näherte sich dem Tisch
und händigte jedem der beiden Gäste ein Schreiben aus.
Jene wechselten einen Blick.
»Sagte ich es nicht,« meinte der Einäugige, »daß die Wirtin wahrscheinlich besser eingeweiht ist, als wir? Sie spielt eine
Hauptrolle. Wir, die wir uns auf Meeren und in Ländern herumplagen müssen, geben nur Nebenfiguren ab.«
Beide erbrachen ihr Schreiben uud lasen. Dann sahen sie sich
an.
»Gut oder schlecht?« fragte der Grieche.
Der Seewolf zuckte die Achseln und antwortete halb unwillig:
116
© wasser-prawda
Sprachraum
»Beides! Ich liebe es eben nicht, wenn ein einmal gegebener Befehl aufgehoben oder doch geändert wird. Jetzt wird mir wieder
aufgetragen, bei Wahrung meines Lebens der Petersen kein Haar
zu krümmen, sie aber doch aus der Welt zu schaffen. Ich soll sie
mit Gewalt oder List nach einer mir bezeichneten Stelle bringen,
von wo aus sie abgeholt wird, und dann meinem ersten Auftraggeber bei meiner Seligkeit schwören, ich hätte sie getötet. Zeugen
ständen mir zur Verfügung. Verlockend ist allerdings die doppelt
so hohe Summe, die mir dafür geboten wird.«
»Wie hoch ist diese?«
»Hm, mein lieber Demetri! In solchen Geschäftsgeheimnissen
hört denn doch unsere Freundschaft auf.«
»Und die Sache riecht mir nach Mädchenhandel,« sagte der
Grieche, ohne im geringsten durch die Antwort des Gefährten
beleidigt zu sein. »Stimmt! Die Gefangennahme der Kapitänin ist
jedenfalls die Privatsache irgend eines Wüstlings, aber daß ich für
jedes andere Mädchen, welches ich ausliefere, eine Prämie bekomme, geht ohne Zweifel auf Rechnung des Meisters.«
Der Grieche nickte.
»Seit der Sklavenhandel nicht mehr gehen will, scheint sich der
Meister nur mit dem Mädchenhandel zu befassen. Mir schreibt
© wasser-prawda
117
Sprachraum
Anzeige
118
er: ›Heute über sieben Tage abends die ›Undine‹ segelbereit halten.
Achtzehn Weiber werden nach Smyrna geschifft, wo man sie abholt.‹ – Die Dinger werden an asiatische Fürsten verkauft, kenne
das von früher, als wir dieses Geschäft so nebenbei im kleinen
betrieben. Prosit, Kamerad, auf glückliches Gelingen!«
Der Seewolf that Bescheid.
»Wie gedenkt Ihr Euren Plan einzurichten?« fragte der Grieche
wieder.
Der Einäugige kraute sich in den Haaren.
»Es ist eine verdammte Geschichte! Das ganze Weibsvolk tot abzuliefern, wäre mir eine Kleinigkeit, aber eine zerbrechliche Ware
ohne jeden Schaden irgendwo zu überwältigen, das ist nichts für
den Seewolf. Ich bin kein Kindermädchen, das mit zarten Gestalten umzugehen weiß.«
»Ist nicht Konstantinopel ein günstiger Platz für eine Ueberrumpelung? Die engen und dunklen Gäßchen der Stadt eigneten
sich doch vortrefflich hierzu, und die Polizei ist auch flau.«
»Pah, die Polzei!« meinte der Einäugige verächtlich. »Kommt
dem Seewolf nicht mit solchen Kleinigkeiten! Hier kann ich wohl
einige der Weiber wegfangen, doch nicht alle. Und, bei meiner
Seligkeit, alle muß ich haben, oder ich will nicht der Seewolf heißen!«
»Wenn Euch die Reisebegleiter der Mädchen nicht einen derben
Strich durch die Rechnung machen!«
»Diesen Bürschchen werde ich gehörig die Zähne weisen; so
oder so, einmal müssen sie doch daran glauben.«
»Schickt ihnen Bill als Koch an Bord,« schlug der Grieche vor.
© wasser-prawda
Sprachraum
»Haha, der würde ihnen eine schmackhafte Henkersmahlzeit
vorsetzen. So übel ist der Vorschlag nicht. Aber es machte mir
doch mehr Vergnügen, wenn ich diesen feinen Herrchen ordentlich auf die Finger klopfen könnte, sodaß sie sich nie wieder mit
einer Spielerei abgeben, die sie nicht verstehen.«
»Woher erfahrt Ihr immer, wohin sich die ›Vesta‹ wendet? Denn
ausplaudern wird dies die Besatzung doch sicher nicht?« fragte
Demetri.
»Durch den Meister,« war die Antwort. »In der Straße von Gibraltar gab mir ein Fischer, der neben uns anlegte, den Auftrag,
nach Konstantinopel zu segeln. Jetzt schreibt er: Nächstes Reiseziel Alexandrien.«
»Merkwürdig! Doch sagt, was habt Ihr für einen Plan, die Mädchen zu bekommen?«
Der Seewolf schwieg eine Zeit lang nachdenklich, dann sagte
er offen:
»Mir fällt augenblicklich nichts weiter ein, als auf offener See
die ›Vesta‹ anzugreifen, zu entern und zu nehmen. Oder vielleicht
auch, daß wir als Schiff brüchige auf das Schiff kommen und
dann die Mädchen überwältigen. Aber ohne Skandal geht so etwas natürlich nicht ab. Einige Dolchstiche wären mir tausendmal
lieber.«
Der griechische Mädchenhändler spielte träumerisch mit seinem Glase.
»Seewolf,« begann er endlich wieder, »Ihr mögt ein ganz brauchbarer, in Eurem Handwerk geschickter Geselle sein, wie es auf
dem Meere wenige mehr giebt, aber Eure Schlauheit läßt viel zu
wünschen übrig.«
»Wieso?« brauste der andere beleidigt auf.
»Ihr mögt auch gerieben sein,« besänftigte der Grieche den
Aufgebrachten, »aber es fehlt Euch an Einfällen. Was gebt Ihr
mir, wenn ich Euch einen Plan verrate, der Euch schnell ans Ziel
führt?«
Der Grieche blinzelte listig mit den zugekniffenen Augen.
»Gebt Ihr mir die Hälfte Eures Verdienstes ab?«
»Seid Ihr verrückt? Seht, ich will ehrlich gegen Euch sein. Für
jedes Mädchen, welches ich außer der Kapitänin lebendig ausliefere, erhalte ich 306 Dollars, 24 Mädchen sind es, und ich verspreche Euch, ist Euer Vorschlag gut, den vierten Teil von diesem
Lohne, also im besten Falle 1800 Dollars. Einverstanden?«
»Nun, Ihr wißt, ich bin Euch noch einen Gegendienst schuldig,
sonst würde ich Euch den Plan nicht so billig verkaufen, denn ein
solcher ist bei jedem Unternehmen doch die Hauptsache. Also
abgemacht, den vierten Teil!«
»Und was meint Ihr?« fragte der Pirat gespannt.
»Sehr einfach! Ihr fangt hier in Konstantinopel oder sonst irgendwo eines der Mädchen weg, am besten gleich die Kapitänin,
denn dann ist Euch ein hoher Gewinn sicher, und lockt mit dieser die ganze Besatzung nach einem Eurer Schlupfwinkel, wo sie
Euch nicht mehr entgehen kann.«
»Wahrhaftig!« rief erfreut der Seewolf und schlug donnernd mit
der Faust auf den wurmstichigen Tisch. »Daß mir auch so etwas
Einfaches nicht einfallen mußte.«
»Natürlich, die alte Geschichte,« lachte Demetri, »jetzt ist es etwas Einfaches.«
© wasser-prawda
119
Sprachraum
»Aber die Brigg,« wendete der andere wieder zweifelnd ein,
»wird mir verdammt viel zu schaffen machen!«
»Da sieht man, daß Ihr ein Narr seid. Mit der macht Ihr es
ebenso. Fangt einen der Burschen weg oder tötet ihn und laßt
ihn verschwinden! Schreibt falsche Briefe oder benachrichtigt seine Kameraden sonstwie von seinem Aufenthaltsort, und Ihr sollt
sehen, wie schnell diese dummen Kerle in die Schlinge gehen.
Habt Ihr sie erst, dann ist es Euch auch ein leichtes, sich über ihre
Vermögensverhältnisse zu erkundigen. Sind es wirklich vornehme
Leute, dann könnt Ihr Euch ein gutes Lösegeld versprechen.«
»Topp! Das wird gemacht! Ihr könnt dafür auf einen Gegendienst rechnen. Bei der ersten Gelegenheit werde ich mich einiger
der Mädchen bemächtigen, vielleicht schon morgen.«
»Nein, nur eines einzigen, vergeßt das nicht!« ermahnte der
Grieche. »Die Sache ist so sicherer und geht geräuschloser vor sich,
als wenn Ihr zu viel wagt.«
Die beiden beratschlagten noch einige Zeit, dann trennten sie
sich.
7. Das erste Abenteuer.
Bereits seit sechs Tagen ankerte die »Vesta« vor Konstantinopel.
Die Damen hatten teils zusammen, teils in kleineren Gesellchaften, die türkische Hauptstadt nach allen Richtungen durchstreift,
alle Sehenswürdigkeiten, wie Moscheen, Cisternen, das Hippodrom u. s. w. besucht, doch nicht eine einzige war unter ihnen,
welche mit dem Aufenthalt in diesem ersten Hafen zufrieden gewesen wäre. Diese Amerikanerinnen hatten die Heimat nicht verlassen, um sich die Welt zu besehen, das hätten sie bequemer als
Passagiere erster Klasse auf einem Dampfer haben können; nein,
sie hoff ten auf Gelegenheiten, bei denen sie einmal zeigen konnten, daß auch Frauen den Mut und die Thatkraft besitzen, welche
sonst nur den Männern zugesprochen werden.
Wohl legte allein die lange Seereise als Matrose Zeugnis davon
ab, aber es genügte den Damen nicht, daß sie nur für ihr eigenes Leben arbeiteten, sie wollten selbst gleich Männern in fremde Schicksale eingreifen, das Recht und die Unschuld beschützen, das Unrecht bestrafen, und zwar offen, mit der Waffe in der
Hand. Und dazu bot sich ihnen bisher keine Gelegenheit.
Gleichzeitig mit der »Vesta« war der »Amor« eingetroffen, und
die Damen merkten wohl, daß ihnen stets dunkle Gestalten folgten, wohin sie auch gehen mochten. Da dieselben aber in einer
respektvollen Ferne blieben und sich durchaus nicht aufdringlich
zeigten, so ließ man es ruhig geschehen. Wer wußte, ob man nicht
doch einmal männliche Hilfe nötig hatte?
Am Abend des sechsten Tages kamen die drei Freundinnen, Ellen Petersen, Jessy Murray und Johanna Lind von einem Besuche
der Cisterne Basilica, einer jener sehenswerten, von unzähligen
Säulen getragenen Röhrenanlagen, aus denen Konstantinopel mit
Wasser versorgt wird. Die Damen trugen bei derartigen Ausflügen natürlich nicht ihre Matrosenuniform, sondern geschmackvolle, moderne Toiletten.
Durch die lange Wanderung zwischen den Marmorsäulen erschöpft, beschlossen sie, sich für kurze Zeit in einem Café zu
erholen. Sie begaben sich in das nächste, anständige Lokal und
besprachen bei einer Tasse Mokka das eben Gesehene.
120
© wasser-prawda
Sprachraum
© wasser-prawda
121
Sprachraum
Plötzlich trat ein Herr in den Saal und setzte sich, ohne die übrigen wenigen Gäste zu beachten, nicht weit von den Damen an
einen Tisch.
Es war ein großer, schlank und doch athletisch gebauter Mann,
dessen schönes Gesicht von einem blonden Vollbart eingerahmt
wurde.
Bei seinem Anblicke war Johanna wie vor freudigem Erschrekken zusammengezuckt, aber so unmerklich, daß selbst die dicht
an ihrer Seite sitzende Ellen keine Spur davon gemerkt hatte, und
keine Röte, keine Erregung in den Zügen des jungen Mädchens
verriet, daß sie diesen Mann kannte.
Kaum hatte sich derselbe gesetzt und seine Bestellung aufgegeben, als seine Blicke die drei Damen streiften. Wie vorhin Johanna, so war jetzt er überrascht, nur daß er seine Freude nicht
zu verbergen bemüht war. Eine jähe Röte schoß über sein Antlitz,
er sprang auf und näherte sich schnell jenem Tische, fast noch
im Gehen die Hand ausstreckend und in herzlichem Tone auf
deutsch rufend:
»Fräulein Johanna – Lind!« fügte er dann, abermals errötend,
hinzu. »Also hier in Konstantinopel sehen wir uns endlich wieder!
Wie mich das freut!«
Es war sonderlich, daß Johanna diesen warmen Ton nicht erwiderte. Sie stand auf, und ohne die Hand zu ergreifen, stellte sie in
förmlichem Tone vor:
»Miß Petersen, Miß Murray – Herr Ingenieur Hoffmann. Wir
hatten am Oberonsee Gelegenheit, uns kennen zu lernen.«
Sie sah den jungen Mann mit einem so eigentümlich festen
Blick ihrer schönen Augen an, daß dieser sichtlich eine Bemerkung unterdrückte, die ihm auf der Zunge geschwebt hatte.
»Ah, Miß Petersen?« rief er dann rasch gesammelt. »So habe ich
die Ehre, mit der Kapitänin der ›Vesta‹ zu sprechen?«
Die Damen bejahten.
»Schon oft habe ich mir gewünscht, mit diesen kühnen Vestalinnen zusammenzutreffen, wohl niemand hat sich für Ihre Idee
so lebhaft interessiert, wie ich. Aber Fräulein Lind,« fuhr er dann
mit einem Anflug von Erstaunen fort, »gehören auch Sie zu der
Besatzung der ›Vesta‹, die doch –«
Ein einziger Blick traf den Sprecher aus den Augen Johannas,
daß er plötzlich eine Pause machte und dann weitersprach:
»– die doch nur aus New-Yorker Damen bestehen soll?«
»Ausnahmen bestätigen nur die Regel,« nahm Miß Petersen das
Wort. »Doch dürfen wir uns erkundigen, was Sie hierher nach
Konstantinopel führte?«
»Miß Lind hat Sie vorhin doch nicht ganz richtig belehrt,« sagte
der Herr, der inzwischen am Tische Platz genommen hatte, »indem sie mich als Ingenieur vorstellte. Allerdings habe ich Ingenieurwissenschaften studiert, aber meine Neigungen galten dem
Schiffsbau, und nachdem ich einige Reisen gemacht, widmete ich
mich vollständig dem Seeleben. Ich führe jetzt ein eigenes Schiff,
den ›Blitz‹, den Sie vielleicht schon in Galata haben liegen sehen.«
»Ah,« riefen die Damen wie aus einem Munde, und Johanna
lauschte von jetzt ab aufmerksamer als zuvor, »so ist das schwarze
Schiff das Ihrige!«
»Ja, es wird immer mehr Mode, daß man seine Reisen als Kapitän auf einem eigenen Schiffe macht,« sagte lächelnd Hoffmann.
»Selbst Damen finden ja Geschmack daran. Gleich Ihnen befahre
122
© wasser-prawda
Sprachraum
ich seit einem Vierteljahre alle Meere, besehe mir die Hafenplätze
und mache ab und zu einen Abstecher ins Land.«
»Nun,« spottete Jessy Murray gutmütig, »in drei Monaten können Sie wohl noch nicht ›alle‹ Meere befahren haben.«
Der Herr wurde etwas verlegen.
»Wie gefällt Ihnen mein Fahrzeug?« fragte er ausweichend.
»Es scheint ein ausgezeichneter Segler zu sein. Aber wie sonderbar, daß Sie schwarz zur Farbe gewählt haben! Wir ließen uns den
Schiffsrumpf so gefallen, aber selbst alles Tauwerk und die Segel
schwarz zu streichen, das ist doch übertrieben. Ferner müssen Sie
eine starke Besatzung an Bord haben, mindestens sechzig Mann.
Das Deck wimmelt ja förmlich von Leuten.«
»Ich brauche sie,« antwortete Hoffmann, dessen Aufmerksamkeit nur Johanna zu gelten schien, abermals verlegen.
»Sie scheinen nicht viel auf der Kommandobrücke zu stehen,
oder vielmehr, da der ›Blitz‹ sonderbarerweise keine besitzt, sich
an Deck selten aufzuhalten,« bemerkte Jessy. »Sehen Sie uns an,
wie wir von der Sonne erbraunt sind.«
»Wirklich, sehr, aber es steht Ihnen gut,« sagte der Mann kopfschüttelnd und bog sich vor, als wolle er Johannas Antlitz in Bezug auf Echtheit der Farbe prüfen.
Die beiden anderen Damen konnten sich das rätselhafte Betragen des Ingenieurs nicht erklären, höchstens Johanna mochte
etwas ahnen.
»Wir haben für übermorgen vormittag mit der Besatzung der
englischen Brigg ›Amor‹ und der eines französischen Lustdampfers ein Wettrudern in achtriemigen Booten vor,« begann wieder
Miß Ellen die Unterhaltung. »Würden Sie sich vielleicht an der
Regatta beteiligen?«
»Ich? Nein, danke, die Boote des Blitz gewinnen doch. Na ja,«
fuhr er plötzlich fort, als er die erstaunten Mienen der Damen bemerkte, und wurde wieder verlegen, »wir können ja auch einmal
verlieren. Gut, ja, ich nehme die Einladung an.«
Er erfuhr noch, wo und wann das Zusammentreffen der Boote
stattfinden sollte.
»Wir müssen fort,« sagte Miß Ellen. »Die Dunkelheit bricht an,
und wir brauchen wenigstens eine halbe Stunde, ehe wir einen
Pferdebahnwagen oder ein anderes Fuhrwerk treffen.«
»Um Gottes willen, gehen Sie nicht allein bei Nacht durch die
Straßen Konstantinopels!« rief Hoffmann, sich direkt an Johanna
wendend. »Ich weiß, wie gefährlich sie sind.«
»Aber nicht für eine Vestalin,« entgegnete lächelnd Johanna.
»Bravo!« stimmten die beiden anderen Damen ihr bei.
»Meine Begleitung werden Sie doch nicht ausschlagen?«
»Auch das müssen wir,« sagte Miß Petersen. »Wir würden den
Namen unseres Schiffes beschimpfen, wenn wir in Herrenbegleitung an Bord kämen. Leben Sie wohl! Also auf Wiedersehen
übermorgen vormittag.«
»Dieser Herr Hoffmann hat ein seltsames Betragen,« meinte Ellen auf der Straße. »Kennen Sie ihn näher, liebe Jane?«
»Er ist ein einfacher, bescheidener Charakter, der sich nicht verstellen kann und nicht in Gesellschaft paßt. Ich kenne ihn nicht
genauer als Sie.«
»Wir? Wieso?«
»Er hat einen wahren Abscheu davor, sich bekannt oder berühmt
zu machen, obgleich er es leicht könnte, denn er soll eminente
© wasser-prawda
123
Sprachraum
Talente besitzen. Bei jenem schrecklichen Dammbruche am Oberonsee, als auch ich Gelegenheit hatte, meine schwachen Kräfte
im Dienste der Nächstenpflicht anzuwenden, that sich bekanntlich ein Herr hervor, dessen Namen später vergeblich von den
Zeitungen zu erforschen gesucht wurde. Ich bin wohl die einzige,
die ihn kannte. Zum Vergnügen am Oberonsee weilend, eilte er
beim ersten Signal nach der Unglücksstelle, vollbrachte Wunder
von Rettungsthaten, gegen welche die meinigen nur Spielereien
waren, und als der die Dammarbeiten leitende Pionieroffizier von
den Fluten verschlungen worden war, ergriff Hoffmann das Kommando. Sein genialer Blick übersah sofort die Situation, und nur
ihm ist es zu danken gewesen, daß dem durchbrechenden Wasser
Einhalt geboten wurde. Doch als die Gefahr vorüber, war auch er
spurlos verschwunden. Erinnern Sie sich noch dessen?«
»Wir entsinnen uns,« versicherten die Damen; »der Klub ›Ellen‹
scheute keine Bemühungen und Kosten, um den Namen des Helden zu erfahren.«
»Er will nicht, daß jemand die Sache berührt. Wenn Sie ihm
Schmeicheleien gesagt hätten, wäre er aus der Verlegenheit gar
nicht herausgekommen. Ich wiederhole, er ist ein Mann der That
und nicht der Gesellschaft.«
Die drei Damen waren im Eifer der Unterhaltung stehen geblieben. Plötzlich fiel mitten zwischen sie ein weißes Zettelchen.
Miß Ellen hob es auf, blickte nach oben, von wo es gekommen
war, konnte aber in der von den Sternen beleuchteten Nacht an
der nackten Hauswand nur ein kleines, vergittertes Fenster wahrnehmen.
»Merken Sie sich den Namen der Straße und die Lage des Hauses,« sagte Ellen, nachdem sie das Papier aufmerksam betrachtet
hatte, im Weitergehen. »Ich kann wohl Schriftzüge erkennen, sie
aber bei der schwachen Beleuchtung nicht lesen. Da in diesem
Viertel keine Laterne zu existieren scheint, so müssen wir warten,
bis wir in belebtere Straßen kommen.«
Nach einer kleinen Weile bogen sie in eine breite, aber auch
noch dunkle Straße ein, welche nach dem Hafen führte. Kaum
waren sie in diese eingetreten, als Johanna sagte:
»So, jetzt können Sie es lesen, ich habe Streichhölzer bei mir.«
»Warum sagen Sie das erst jetzt?«
»Ich nehme an,« sagte Johanna lächelnd, »daß dieses Papier irgend etwas enthält, was andere nicht wissen sollen, sonst wäre es
uns nicht so geheimnisvoll zugestellt worden.«
»Wirklich,« sagten beiden Damen überrascht, »Sie haben recht.«
Bei dem Scheine eines brennenden Streichholzes überflog Miß
Petersen die Schrift. Erstaunen, vermischt mit Freude, prägte sich
dabei in ihren Zügen aus, dann sagte sie:
»Es ist in gutem Französisch geschrieben. Hören Sie nur, das ist
etwas für uns:
»Ich werfe dieses Billet der ersten Person zu, welche ich
englisch sprechen höre, weil ich weiß, daß die Engländer
die Sklaverei nicht dulden. Ich bin die Tochter des Scheichs
Mustapha-ibn-Hamed vom Stamme der Beni-Suef, deren
Zelte zwischen Fayum und den Natronseen stehen. Man
hat mich geraubt und nach Konstantinopel verkauft. Zufällig habe ich erlauscht, daß ich und siebzehn andere Mädchen morgen Abend an Bord der ›Undine‹, ankernd in Galata, zweite Brücke, gebracht und nach Smyrna geschaff t
124
© wasser-prawda
Sprachraum
werden sollen. Wer du auch seiest, kannst du nichts für
mich thun, so teile wenigstens meinem Vater mit, welches
Schicksal seine Tochter getroffen hat.
Sulima.«
»Und darunter,« fuhr die Leserin fort, »steht noch flüchtig gekritzelt:
»Allah sei Dank, mein Billet fällt in die Hände edler Damen.
Sie werden mir helfen! Das letztere gilt natürlich uns,« schloß Miß
Ellen.
»Ein himmlisches Mädchen,« rief Miß Jessy enthusiastisch,
»diese Sulima! Endlich mal eine Gelegenheit zu einem kleinen
Abenteuer!«
»Wie fangen wir es an, die Sulima und womöglich alle ihre Genossinnen zu befreien?« sagte Ellen nachdenklich.
»Sehr einfach,« entgegnete die hitzige Jessy, »wir gehen an Bord,
alarmieren unsere Freundinnen, dringen in das Haus, zünden es
© wasser-prawda
125
Sprachraum
meinetwegen an und bringen im Triumphe die Befreiten in ihre
Heimat. Dann hat unsere Reise wenigstens einen Zweck gehabt.«
»Und in der nächsten Stunde sitzen wir wegen Einbruchs,
Brandstiftung, gewaltsamer Entführung u.s.w. fest,« ergänzte lächelnd Johanna. »Nein, das ist nichts. Ich kenne die türkischen
Gesetze, sie sind dem Mädchenhandel viel zu günstig gestimmt,
weil dabei etwas für den Staat abfällt. Nein, ich habe bereits einen
anderen Plan.«
»Der ist?« fragte Ellen begierig.
»Wir orientieren uns, ob in Galata wirklich ein Schiff Namens
›Undine‹ liegt –«
»Es liegt dort, ich habe es selbst gesehen, eine kleine Bark. Sie
ladet Wein,« sagte Jessy.
»Desto besser! Also spionieren wir morgen abend, ob die Mädchen wirklich an Bord gebracht werden, und nehmen der ›Undine‹ auf offener See ihren Raub ab. Das macht der ›Vesta‹ Ehre.«
»Bravo!« rief Ellen. Miß Lind hat wieder den besten Einfall.«
Auch Jessy stimmte freudig bei.
»Aber,« wendete sie doch ein, »der griechische Kapitän wird seine Passagiere nicht gutwillig herausgeben.«
»Miß Murray,« rief Ellen ganz erstaunt, »ich verstehe Sie nicht!
Wozu haben wir denn Geschütze an Bord? Denen streifen wir
eben einmal die Leinwandbezüge ab, jagen der ›Undine‹ ein paar
Kugeln in den Leib und zwingen die Besatzung mit dem Revolver in der Hand, die Mädchen uns zu überlassen. Wir wollen uns
doch nicht umsonst ein Jahr lang am Geschütz ausgebildet haben.«
»Jetzt schnell an Bord,« rief Jessy und lief schon mit stürmischen
Schritten voraus. »Heute nacht wird vor Freude keine Vestalin
schlafen.«
Lachend folgten die beiden anderen der Aufgeregten.
Die Straße verengte sich an einer Stelle so, daß der Sternenhimmel weiterhin kaum zwischen den Dächern der Häuser durchblickte. Fast vollständige Dunkelheit umgab die drei Mädchen.
Da sah Miß Ellen mit einem Male, welche einige Schritte hinter
den beiden anderen zurückgeblieben war, wie eine Menge dunkler Gestalten von allen Seiten herzusprangen und jenen große
Decken über den Kopf warfen.
»Hilfe!« gellte es aus Ellens Munde durch die Nacht, und gewandt wich das Mädchen einem Angreifer aus. Ehe er seinen
Versuch erneuern konnte, erhielt er von der kräftigen Ellen einen
solchen Schlag ins Gesicht, daß er hintenüber zur Erde fiel.
Sie griff in die Tasche, um den Revolver zu ziehen, aber ehe sie
ihn noch in der Hand hatte, fühlte sie ihre Arme gefaßt und zusammengepreßt. Vergebens versuchte sich die Jungfrau von dem
eisernen Griffe zu befreien, noch einmal stieß sie einen Hilferuf
aus, dann fiel eine Decke über sie und erstickte ihr Geschrei.
So fest war die Hülle um sie gewickelt worden, daß sie weder
Füße, noch Arme regen konnte.
Ellen wurde emporgehoben und kam auf den muskulösen Arm
eines Mannes zu sitzen, aber kaum war dieser einige Schritte gelaufen, als so laute Stimmen an ihr Ohr schlugen, daß sie deutlich
selbst durch die dicke Decke drangen und das Herz des Mädchens mit Entzücken erfüllten.
Sie kannte diese tiefe, donnernde Stimme, die fröhliche helle,
wie auch alle die anderen.
126
© wasser-prawda
Sprachraum
© wasser-prawda
127
Sprachraum
»Banditen, Räuber,« schrie der Baß, »da, eins, zwei, drei ...«
Jede Zahl war von einem Schlag begleitet, wie wenn ein Ochse
gefällt wird.
»Halt! Reißt nicht so schnell aus! Ich bin nicht so gut zu Fuß,«
rief dann die lustige Stimme. »Entschuldigen Sie, es that doch nicht
weh?«
Der Frage war ein Weheruf vorausgegangen.
Dies alles hatte nur einen Augenblick in Anspruch genommen, im
nächsten fühlte sich Ellen heftig zu Boden gesetzt; die Decke wurde
ihr abgerissen.
Vor ihr stand Lord Harrlington, der sie mit besorgten und zugleich zärtlichen Blicken betrachtete.
Ehe Ellen noch ein Wort sagte, wandte sie sich um, und zu ihrer
unaussprechlichen Freude bemerkte sie, daß auch die beiden Freundinnen eben von den Hüllen befreit wurden.
Der lustige Charles half dabei Miß Jessy, und wie gewöhnlich,
konnte er auch jetzt nicht eine lustige Bemerkung unterdrücken.
»Sie erlauben doch, daß ich Ihnen ablegen helfe,« sagte er im höflichsten Tone. »Wenn Sie aber frieren sollten, so behalten Sie meinetwegen nur die Pferdedecke um.«
Acht Herren vom ›Amor‹ waren es, welche die Damen gerettet
hatten, aber der Mann, welcher jetzt Miß Lind aus der Decke schälte, war jener Herr aus dem Café, der deutsche Ingenieur.
Ellen erzählte in Kürze, wie alles gekommen war; sie hatte nicht
viel zu sagen, weil der Ueberfall so überraschend ausgeführt worden
war.
»Wir hatten Sie in der Cisterna Basilika beobachtet,« berichtete
Lord Harrlington, »waren Ihnen nach dem Café gefolgt uud hatten
Sie dort hineingehen sehen. Nun müssen Sie aber das Lokal durch
eine Hinterthür verlassen haben, denn als fast eine Stunde verstrichen, überzeugten wir uns, daß Sie nicht mehr drinnen waren. Seltsam, zum ersten Male verloren wir Ihre Spur, und gerade da mußte
eine Gefahr für Sie auftauchen.«
»Glücklicherweise holten wir gleich darauf einen Herrn ein, welcher unsere Absicht, Ihnen nahezubleiben, kennen mußte, denn er
fragte uns, ob wir Sie verloren hätten. Wir bejahten, und er sagte,
er sei Ihnen auf der Fährte. Unterwegs stellte er sich uns vor und
behauptete, bereits in jenem Café Ihre Bekanntschaft gemacht zu
haben.
»Als wir dort oben um die Ecke bogen, ertönte Ihr erster Hilferuf, gleich darauf der zweite, und ehe wir nur noch daran dachten,
unseren Gang zu beschleunigen, schoß schon Herr Hoffmann wie
ein Pfeil uns voraus und schlug den Träger von Miß Lind zu Boden.
Dann machten auch wir uns an die Arbeit.«
»Wo ist denn unser Retter, Mister Hoffmann?« fragte Ellen uud
sah sich nach allen Seiten um.
»Ja, wo ist er?« sagte Charles. »Er schälte Miß Lind so behutsam
aus, als hätte er ein weiches Ei vor sich, und dann, hui, weg war er.«
»Ein seltsamer Mensch.«
»Schade, daß wir keinen der Straßenräuber festgehalten haben,«
meinte ein anderer Herr. »Wir waren alle so in Sorge um die Damen, daß keiner daran dachte, sich weiter um die am Boden Liegenden zu kümmern. Natürlich haben sie sich eilends ans dem Staub
gemacht.«
»Laßt die armen Kerle laufen,« erwiderte Charles Williams sorglos, »denen schmeckt heute doch das Abendbrot nicht mehr. Ich habe dem einen Burschen mit einem Male alle Zähne ausgezogen! Das
128
© wasser-prawda
Sprachraum
mache mir einmal ein Zahnarzt nach. Ein Glück ist es nur, daß ich
Lord Hastings zuvor das heilige Gelübde abgenommen habe, bloß
ganz vorsichtig zuzuschlagen, sonst könnten wir die ganze Nacht
mit der Karre die Leichen fortbringen. Hagel und Haubitzen – Pardon, meine Damen –« unterbrach er sich mit einem Male und hob
etwas von der Straße auf, »hier hat wohl gar ein Bandit noch seine
Photographie hinterlassen?«
Er zündete ein Streichholz an.
»Ah, Pardon, Miß Petersen, es ist die Ihrige, die Sie wahrscheinlich Ihrem Entführer zum Andenken mitgeben wollten.«
»Meine Photographie?« rief Ellen im Tone des höchsten Erstaunens.
Sie beleuchtete das Bild.
»Wirklich! Wer von den Herren war im Besitze meiner Photographie?«
»Niemand,« versicherten alle, auch die Damen verneinten.
Gedankenvoll wandte Ellen langsam den Kopf, bis ihre Blicke denen Harrlingtons begegneten. Die übrigen lachten eben über die
Spaße des lustigen Charles.
»Wissen Sie, wer sie verloren haben kann?« fragte Lord Harrlington leise. – »Nein!« – »Besaß keiner der Räuber, der gedungenen
Mörder Ihr Bild?«
Entsetzt starrte sie den jungen Mann an. Unwillkürlich strichen
ihre schlanken Finger an der Kante der Photographie hin und her,
und plötzlich verließ alle Farbe ihr Gesicht, die Lippen fingen an zu
beben, und wieder und wieder fuhren die Finger an der Seite des
Bildes herunter, bis sie allemal wieder auf einer Stelle haften blieben.
»Lord!« stöhnte sie endlich. »Ich kenne das Bild, ich weiß, wem es
gehört, eine entsetzliche Ahnung dämmert in mir auf.«
»Was Sie nur ahnen, ist bei mir Gewißheit,« sagte finster Harrlington. »Und sehen Sie,« fuhr er mit herzlichem Tone fort und trat auf
das zitternde Mädchen zu, »weil ich es wußte, darum bin ich Ihnen
gefolgt und werde nicht von Ihrer Seite weichen.«
»Verzeihen Sie mir,« erwiderte stammelnd und mit erstickter Stimme Ellen, »ich bin ein thörichtes, eigensinniges Mädchen gewesen.
Geben Sie mir die Hand! So! Ich nehme von jetzt ab Ihre Begleitung
an. Nun gerade aber will ich zeigen, daß die ›Vesta‹ doch um die
Erde kommt, wenn auch gefolgt vom ›Amor‹!«
»An Bord, meine Damen,« rief sie, sich zur Fröhlichkeit zwingend.
»Die Herren werden uns hoffentlich sicher hinbringen.«
»Hundert oder fünfzig Meter Distanz?« fragte Charles.
»Einen Meter,« war die Antwort. – – – –
Zwei Stunden später, es war fast Mitternacht, legte ein Boot zur
Seite des ›Blitzes‹ an.
»Der Kapitän an Bord?« fragte der Bootsführer.
»Ja, was giebt‘s?« klang es von oben herab.
»Einen Brief persönlich an den Kapitän abzugeben.«
»So kommt an Deck!«
Der Ruderer befestigte sein Boot mit einem kunstvollen Knoten
am Fallreep, einer auf Schiffen gebräuchlichen, aufziehbaren Treppe, und stieg diese hinauf.
Eine halbe Minute später öffnete der deutsche Ingenieur, jetzt
Kapitän des ›Blitzes‹, das zierliche Briefchen. Helle Ueberraschung
spiegelte sich in den edlen Zügen wieder, die sich aber sofort in
Freude verwandelte, als er die Unterschrift ›Johanna Lind‹ las. –
Die neue Vestalin hatte zum zweiten Male die Gesetze der ›Vesta‹
übertreten.
© wasser-prawda
129
ERSCHEINUNGSDATUM:
10.03.2014
UWE SAEGER: FAUST JUNIOR
Justus verlässt die mütterliche Wohnung, um sich
auf die Suche nach seinem Vater zu begeben. Er begegnet drei Gesellen, die ihn nach einem anständigen Saufgelage in eine von seinem vermeintlichen
Erzeuger geführte Irrenanstalt entführen. Eine an
ein Gehirn erinnernde Architektur und absurde
Vorkommnisse verhindern jede Orientierung. Er
findet einen Freund, irgendetwas entwickelt sich
zwischen ihm und Wagner und eine Idee reift in
ihm: Er will Superstar werden. Doch das bedeutet
nicht nur anspruchsvolle Prüfungen zu bestehen
und den eigenen Charakter zu formen.
Er trifft Heiner Hohlen und tötet Goethe.
HARDCOVER, CA. 550 SEITEN
PREIS: 24,95 EUR (D)
ISBN: 978-3-943672-35-0
Uwe Saegers Faust junior ist verstörend, widerspenstig, brutal und zuweilen obszön. Eine Abrechnung mit dem Irrsinn der Mediengesellschaft und
ihren fragwürdigen Protagonisten, die verschiebt,
demontiert, zerstückelt und sprachlos zurücklässt.
PAULINA SCHULZ: DAS EILAND
John verbringt die Sommerferien mit seinen Eltern
in einem Ferienhaus auf einem Eiland mit romantischen Sandstränden und ausgedehnten Wäldern.
Er unternimmt lange Streifzüge über die Insel und
hält seine Eindrücke mit seiner Kamera fest; nach
einigen Tagen begegnet er den Zwillingen Milan
und Milena. Einer gemeinsamen Nacht, in der
John seine ersten sexuellen Erfahrungen macht,
folgt eine verstörende Entdeckung. Als er Milena
Jahre später zufällig trifft, scheint sich der Kreis zu
schließen.
Diese Erzählung fesselt, sie reißt mit, ist wie ein
Fluss, der sich unaufhaltsam seinen Weg bahnt und
dennoch gleichmäßig schön vor sich hinströmt.
Paulina Schulz schreibt über das Erwachsenwerden
und das Gefühlschaos, das beinahe jeder erlebt hat,
über Liebe, Schmerz und unerträgliche Sehnsucht.
www.freiraum-verlag.de
Gestaltet von Maximilian-Leonard Wienold
SOFTCOVER, CA. 120 SEITEN
PREIS: 12,95 EUR (D)
ISBN: 978-3-943672-32-9