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EU.L.E.N-SPIEGEL
Wissenschaftlicher Informationsdienst des Europäischen Institutes für Lebensmittel- und Ernährungswissenschaften (EU.L.E.) e.V.
Der EU.L.E.N-SPIEGEL ist unabhängig und werbefrei • ISSN 1863 - 1495 • www.das-eule.de
Schlaraffenländer
Von Monika Niehaus
Kulinarische
Klassiker
3 Italien: Pizza e
Pasta
7 Bayern: Hopfen
und Salz, Gott
erhalt‘s
11 Sri Lanka: Currys
15 Polen: Borschtsch
19 Kannibalismus
24 Impressum
25 Facts & Artefacts
28 Besondere
Erkenntnis
1 / 2012
18. Jahrgang
Die mittelalterliche Handschrift Carmina Burana nennt es das Land Cucania, die Franzosen Pays de Cocagne,
die Italiener Paese di Cuccagna, die
Engländer Cockaigne, die Flamen Luilekkerland, die Deutschen Schlaraffenland.
Wer in dieses Utopia gelangen will,
wo Wein, Milch und Honig fließen und
einem die gebratenen Tauben in den
Mund fliegen, muss sich je nach Lesart
erst mühsam durch Berge von Hirseoder Buchweizenbrei oder Parmesankäse futtern oder nach der englischen
Version sieben Jahre bis zum Hals
durch Schweinedreck waten.
Doch dann findet er sich an einem
Ort wieder, an dem sämtliche Moralvorstellungen auf den Kopf gestellt
sind: Faulheit und Völlerei sind Tugenden, Sport (damals „Fleiß“ genannt,
also körperliche Arbeit) und Diät (damals „Mäßigung“) gelten als Sünde.
Kochkünstler
Vom Mittelalter bis in unsere Tage hat
der Mensch, egal wo er lebt, die gleiche Grundvorstellung vom Glück: satt
zu werden, ohne sich dafür zu Tode zu
schinden. Während sich im fleißigen
Deutschland das Wort Schlaraffenland
von Sluraff, dem Faulenzer, dem faulen Affen ableitet, steckt im französischen Cocagne das lateinische Wort
coquere („kochen“). Cocagne - das
bedeutete kochen, was die Küche
hergab, bis sich die Tische unter der
Last von Pasteten, Torten und kunstvoll garnierten Fleischgerichten bogen.
Der Hochadel ließ es sich immer wieder angelegen sein, seinen Reichtum
zu zelebrieren, und mit Szenen wie
aus dem Schlaraffenlande die soziale
Distanz gegenüber seinen Untertanen zu festigen. Bei Festbanketten
wurden nicht nur demonstrativ ungeheure Mengen an gebratenen Mastochsen, Kapaunen, Spanferkeln und
Rebhühnern aufgefahren, manche
Küchenchefs statteten ihre Kreationen sogar mit Automaten aus, was
die Illusion hervorrief, die gebratenen
Spanferkel seien lebendig und böten
sich, Messer und Gabel im Rücken,
den Tafelnden eilfertig zum Verzehr
an.
Liebfrauenmilch
Der Wein floss dabei zwar nicht in
Flussbetten, wie es in alten Handschriften heißt, aber Tischspringbrunnen, aus denen unterschiedliche Rebsorten sprudelten, waren üblich. Eine
besondere Version verblüffte das Publikum beim Regierungsantritt Karls
V. im Jahre 1515. „Bei dieser Gelegenheit“, schreibt der Schlaraffenlandforscher Herman Pleij, „brachte
man es fertig, drei nackte, auf dem
Rücken liegende Frauen darzustel
len, aus deren Brüsten Milch sowie
2 Editorial
Rot- und Weißwein flossen. Die Zuschauer bekamen Stielaugen, denn alles war so
lebensecht gemacht, dass man dachte,
es handele sich bei den Sprudeldamen um
echte Frauen mit magischen Kräften.“
den zwischen dem unauslöschlichen Trieb
nach Sättigung und der alles beherrschenden Sucht nach der Hungereuphorie, wie sie
für Anorektiker kennzeichnend ist.
Anschauen, nicht anfassen
Männeken Pils
Auch mangelte es nicht an Brunnen mit
Knäblein, die mit kräftigem Strahl Bier spendeten. Eine Reminiszenz an diese Idee
des Schlaraffenlandes bietet das Männeken
Piss, bei dem allerdings ein weniger edles
Getränk hervorsprudelt.
Als Pieter Brueghel der Ältere um 1567 sein
berühmtes Gemälde „Das Schlaraffenland“
schuf, wurde seine niederländische Heimat
gerade vom spanischen Heer mit Feuer und
Blut überzogen. Die Erfahrung von Zerstörung und Not war für die Menschen der
damaligen Zeit beklemmend real, und bekanntlich ist es die Erfahrung des Hungerns,
die die Phantasie anregt und von überreichlichen Speisen träumen lässt.
Heute leidet kaum ein Europäer unter Nahrungsmangel, dennoch nimmt die Zahl der
Menschen zu, die glauben, dem Hunger
im Rahmen einer „besonderen Ernährungsform“ frönen zu müssen. Sie fürchten sich
vor der Ess-Sünde, zu der sie das reichhaltige Angebot im Schlaraffenland von Discountern und Fast-Food-Restaurants verführen könnte. Was Wunder, dass mit dem
selbst auferlegten Verzicht Ess-Phantasien
blühen.
Bei Magersüchtigen beispielsweise dreht
sich das ganze Denken nur noch ums Essen,
ständig komponieren sie neue Menüs im
Kopf, aber sobald auch nur die Vorspeise vor
ihnen steht, reagieren sie mit Panik. Nur die
ätherische Nahrung, die imaginäre Speise,
das Bild bedient die Sucht und schafft Frie-
So sehnen sich auch die Menschen einer
Überflussgesellschaft wieder nach einem
Schlaraffenland, in dem unbeschwert getafelt
und danach geruht werden kann, und seine
Bewohner dennoch jung und schön bleiben.
Den Weg ins Land dieser Träume weisen
längst nicht mehr die Märchenbücher, sondern das Fernsehen.
Dort werden uns täglich Speisen aufgetischt, die wir zwar sehen, aber nicht schmecken können. Im virtuellen Schlaraffenland
zaubern Fernsehköche, die jüngsten Emporkömmlinge der TV-Prominenz, rund um die
Uhr immer exotischere kulinarische Kreationen. Und wie bei den üppig gedeckten Tischen des historischen Adels, die das gemeine Volk nur hungrig begaffen konnte, heißt
es: Nur anschauen, nicht anfassen.
In unseren Gourmettempeln wird immer
ausgefallener, aufwendiger und teurer gekocht, um das Publikum zu beeindrucken.
Für den Hausgebrauch werden die traditionellen und damit meist sehr nahrhaften Gerichte ferner Kulturen sogleich in eine
„leichte Fitnessküche mit frischen Kräutern“
umgearbeitet, die mit dem Original nur noch
den Namen teilen.
Dabei sind die Küchen der Welt seit jeher darauf bedacht, aus begrenzten Ressourcen möglichst viel „Schlaraffenland“ zu
zaubern – damit ein jeder herzhaft zulangen
kann. Am Ende wollen alle satt und zufrieden
sein, ohne dafür ein kleines Vermögen ausgeben zu müssen.
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Italien 3
Kulinarische Klassiker
Von Andrea Fock und Udo Pollmer
Pizza e Pasta
Pizza und Pasta sind die kulinarischen
Speerspitzen, mit denen Italien die Welt erobert hat. Pizzerien prägen das Italienbild
in der Fremde mehr als das Colosseum, die
Squadra Azzurra und die Mafia zusammen.
Dabei ist eine Pizza eigentlich nichts anderes als ein heiß serviertes Weizenbrot, das
wahlweise mit Käse, Salami oder Schinken
belegt ist. Nur, dass der Belag schon vor
dem Backen auf den Hefeteig kommt. Seit
wann es Pizzen gibt, lässt sich heute nicht
mehr feststellen. Auffällig ist jedoch, dass
sich heutige neapolitanische Pizzaöfen nur
wenig von den Öfen unterscheiden, die Archäologen in Pompeji vorgefunden haben.
fen, lege artis mit Vorteig und langer, kühler Führung. Das Ergebnis ist um eine ganze
Klasse bekömmlicher als die aufgebackenen Tiefkühlbrötchen vom „Frische-Bäcker“.
Das erklärt übrigens auch einen Teil des Erfolgs der Pizzerien in Deutschland. Die wenigsten Bäcker sind noch in der Lage, einen vernünftigen Hefeteig herzustellen, was
früher offensichtlich genau umgekehrt war:
Im 15. Jahrhundert kam bei vornehmen Italienern nur deutsches Brot auf den Tisch.2
Pizzaöfen erzielen ganz besondere Ergebnisse. Ihre optimale Temperatur liegt bei
485 Grad, sodass der Fladen bereits nach
60 bis 90 Sekunden fertig ist. Zum Vergleich: Unsere Backöfen erreichen höchstens 280 Grad, gebacken wird bei fallender Temperatur. Und das dauert. Da unsere Backöfen nicht für Pizza-Temperaturen ausgelegt sind, schmecken die Pizzen
vom heimischen Herd etwas anders. Aufgrund der längeren Backzeit trocknen die
Beläge an und werden strohig. Diese extrem hohe Temperatur ist der grundlegende
Unterschied zu einem belegten Fladenbrot.
Beim klassischen Pizzateig findet dank der
extrem kurzen Backzeit kein fermentativer Abbau von Antinutritiva wie beim deutschen Brot statt. Deshalb eignet sich nur
Weißmehl zum Pizzabacken, je heller, desto
besser. Vollkornpizza gehört nicht umsonst
zum Unappetitlichsten, was sich aus Getreide herstellen lässt. Schon den alten Römern war die Kleie gerade gut genug, um
daraus Hundekuchen zu backen.1 In guten
Pizzerien nimmt man möglichst wenig Hefe,
lässt dafür aber den Teig noch richtig rei-
Neapoletanisches Fingerfood
C Brogi (1850-1925): Maccheronaio napoletano
Pasta - aus der Not geboren
Warum backen und kochen die Italiener aus
ihrem Weizenmehl keine knusprigen Baguettes oder Brötchen, sondern lieber Pizza
und Pasta? Anders als in Deutschland gedeiht in Italiens sonnigem Klima der Durum-
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4 Italien
weizen besonders gut. Durum (Triticum durum) enthält weniger elastisches Klebereiweiß, daher lässt sich daraus kein voluminöses Gebäck herstellen, sondern nur Fladenbrote oder Pasta. In dieser Hinsicht
ähnelt der Durum dem Emmer (Triticum di-
Hauptsache fett: Schwein, Sardine & Olive
Italien gilt als das Land des Olivenöls – doch das wäre viel zu kurz
gegriffen, spielen doch durchaus auch andere Fette hier eine Rolle. Bis Mitte des 18. Jahrhunderts diente zum Backen neben Olivenöl auch Schweineschmalz. Schließlich hielten die Landwirte
dort reichlich Schweine, aus denen man so berühmte Spezialitäten wie Parmaschinken oder Lardo, den lang greiften, gekräuterten Speck herstellt. Schmalz kam auch in die Piadine, ein süditalienisches Fladenbrot. Erst als die Tomate das Terrain eroberte
(s.u.), wurde das Schmalz ganz gegen Olivenöl ausgetauscht.
Die Wahl des Fettes in Abhängigkeit vom Klima schlägt sich auch
in anderen europäischen Gebäckspezialitäten nieder: Der elsässische Flammkuchen wird logischerweise mit Schmand, also Milchfett bestrichen, und unser Brot mit Butter geschmiert. Auch die
traditionelle Küche Italiens verzichtet nicht auf Butter. Natürlich gehört sie nicht auf die Pizza: Bei Temperaturen von fast 500° C, die
direkt auf den etwa fünf Millimeter dünnen Fladen einwirken, würde die Butter aufgrund ihres Eiweißgehaltes sofort verbrennen.
Also übernimmt das Olivenöl deren Rolle.
Besser aufgehoben ist das Milchfett in so delikaten Mischungen
wie der Bagna Cauda, einer fetten Soße mit Anchovis und Knoblauch. Es gibt so viele Rezepte wie Köche, aber die meisten Mischungen bestehen je etwa zur Hälfte aus Olivenöl und Butter, die
im Wasserbad miteinander amalgamiert werden. Bagna Cauda
wird wahlweise als Dip, Fondue oder warme Sauce für Gemüse
verwendet. Naheliegend, dass es sich hier um eine Piemonteser
Spezialität handelt, denn dieser Landstrich grenzt an die Schweiz,
und seine saftigen Weiden erlauben die Haltung von Milchvieh.
Im übrigen Italien und selbstredend an der Küste trägt neben Oliven vor allem Fisch wie Anchovis, Sardinen, Sardellen, Makrelen,
Thunfisch und Aal zur Deckung des Fettbedarfs der Bürger bei.
coccum), der Weizenart der alten Römer.11
Während sich die Historiker streiten mögen, wer denn nun die Nudel erfunden
habe, sprechen praktische Gründe dafür,
dass die italienische Pasta bis auf die alten Römer zurückgeht. Ihre Erfindung ist
geradezu unvermeidlich, wenn die Getreidevorräte ständig dem Angriff von Schädlingen ausgesetzt sind. Doch der Reihe
nach: Für die Völker des Mittelmeerraumes war bekanntlich seit Jahrtausenden
Getreide, im Besonderen die alten Getreidearten wie der Emmer, ein haltbares,
lange lagerfähiges Grundnahrungsmittel.
Aber mit dem Aufstieg des Römischen
Reiches mussten immer größere Lager angelegt werden, aus denen die römischen Kaiser einmal monatlich das
Volk mit Getreide beglückten; eine Aufgabe, die heutigen Logistikern den kalten Schweiß auf die Stirn treiben würde.
Hatte Rom 264 v.u.Z. noch 100.000 Einwohner, waren es wenige Jahrhunderte später
bereits eine Million! Um diese Menschenmassen zu ernähren, organisierte die Obrigkeit ein Versorgungssystem, das von Sizilien über Nordafrika bis in den Nahen Osten reichte. Nachschubschwierigkeiten durch
Missernten oder Schiffsunglücke sorgten oft
genug dafür, dass das Volk hungern musste.
Selbst wenn dsd Getreide unversehrt die
römischen Kornspeicher in Ostia erreichten, war es gefährdet: Ratten, Mäuse, Käfer und anderes Geziefer freuten sich
ebenfalls auf das nahrhafte Futter. Kaiser Nero musste einmal (62 v.u.Z.) den Inhalt sämtlicher Getreidespeicher der Stadt
in den Tiber entleeren, weil er selbst Hungernden nicht mehr zuzumuten war.
Den Brotkorb höher gehängt
Die Römer machten das Korn haltbar, indem
sie es rösteten. Dieses war bei den klassischen Getreidearten wie Gerste oder Einkorn unverzichtbar, um die Spelzen abtrennen zu können.1 Viele Suppen basierten auf
geröstetem Getreide. Die Röstung erhöhte
nicht die Bekömmlichkeit durch Abbau der
Antinutritiva, sondern tötete Schädlinge damit zuverlässig ab, aber nach dem Rösten
war das Korn natürlich wieder dem Getier
ausgesetzt. Dagegen half dann das Mahlen,
denn es machte jedwedes Ungeziefer samt
den im Getreide enthaltenen Gelegen platt.
So gewann man erneut Zeit zum Lagern.
Natürlich war auch das Mehl nicht gegen einen neuen Befall gefeit, außerdem konnte
es jetzt leichter verschimmeln. Zwei naheliegende Technologien schufen Abhilfe: Die
erste war das Backen, vor allem, wenn man
den Vorgang einmal wiederholte. Das Ergebnis war eine Art Schiffszwieback, der
– sofern man ihn sicher in trockenen Tongefäßen lagerte – sehr lange haltbar war.
Aber auch einfaches Backen erfüllte seinen Zweck. Aus dem kleberschwachen Emmer buk man vorwiegend Fladenbrote, und
je trockener sie waren, desto länger hielten sie sich. Dieses Prinzip nutzen übrigens auch die Skandinavier mit ihrem Knä-
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Indem man die Nudeln in langen Teigbahnen
aufhing, wurde damit auch allerlei krabbelnden Insekten sowie Mäusen und Ratten der
Zutritt verwehrt, ein in vielen Kulturen übliches Verfahren zur Aufbewahrung von Speisen. Bei der traditionellen italienischen Pastaherstellung wurde der Teig mehrfach mit
Wasser angefrischt und bis zur Trockenbrüchigkeit stehengelassen.9 Dadurch hatten vor allem die malzeigenen Enyzme Gelegenheit die Antinutritiva abzubauen, ein
Prozess, der erst beim langsamen Trocknen in der Seebrise sein Ende findet. Dadurch entsprach das Resultat in etwa der
Wirkung des Hefevorteigs wie bei der Pizza.
Allerdings setzen beide Verfahren die Verwendung von hellem Mehl voraus - egal ob
mit oder ohne Hefe, mit oder ohne Seebrise.
Die Gewinnung von hellem Mehl ist technologisch keine sonderliche Herausforderung
und war bei den Römern üblich, ihre Weißmehlbäcker nannten sich Similiginarii.1 Ohne
Weißmehl keine Pizza und keine Nudel.
Parmesan e Pomodori
Während die italienische Küche mit ihren
Hartweizenteigen aus Weißmehl eine antike
römische Tradition fortsetzt, ist ihr zweites
Kennzeichen neuzeitlich: die Tomate. Die
Spanier brachten die roten Früchte in ihre
Ländereien nach Italien, also in das Königreich Neapel, zu dem auch Sizilien gehörte. Man betrachtete das Kraut mit seinen
hübschen gelben Blüten und dekorativen
Früchten anfänglich als Zierpflanze.
Hartnäckig hielt sich die Vorstellung, nicht
nur das Nachtschattengewächs sei giftig, sondern auch seine Früchte. Dabei
sollten wir nicht vergessen, dass die älteren Tomatensorten sicherlich noch erhebliche Gehalte an Alkaloiden aufwiesen.5
Jedenfalls gedieh das tropische Gewächs
aus dem heißen Mittelamerika in Süditali-
ens Klima prächtig, und es ist sehr wahrscheinlich, dass die Pflanzen mithilfe der
Gärtner hie und da den Sprung über hochherrschaftliche Gartenzäune schafften.
Die ärmere Bevölkerung dürfte die Früchte
schon aus purem Hunger verzehrt haben.
Italien 5
Nach ihrer anfänglichen Ablehnung erwärmten sich aber auch die besseren Kreise für
die rote Frucht aus der Neuen Welt. Man
kochte sie, um sie dann in Scheiben ge-
IBVderBLE 2008
cke – sie müssen wegen der langen Wintermonate viel Vorratshaltung betreiben.
Die zweite Technologie bestand darin, Mehl
mit Wasser anzuteigen, in dünne Lagen auszurollen und in der Sonne trocknen zu lassen. Der Mehlbrei wurde nicht mal wie Brotteig mit Hefe gelockert. Damit war die Nudel geboren. Eher aus Zufall, weil man nach
einer Methode suchte, das Mehl haltbarer und zugleich besser genießbar zu machen, um so die Unwägbarkeiten der nächsten Getreidelieferungen abzufedern.10
Züchtung machts möglich: Tomatenvielfalt
schnitten und in Mehl gewendet zu frittieren. Oder sie wurden in Öl gebraten und
mit Grüner Minze und Knoblauch gewürzt.
Bis die Pomo d’ori (Goldäpfel) an die Spaghetti oder auf die Pizza kamen, dauerte es aber noch eine Weile. Erst um das
Jahr 1770 war die Tomatensoße bekannt,
wie wir einem italienischen Kochbuch entnehmen können, dem „Il cuoco galante“,
von Vincenzo Corrado (1734-1836).10
Bulgur
Auch die arabische Küche verwendet Durumweizen für eines ihrer Grundnahrungsmittel, den Bulgur. Dies ist wie die Pasta eine
gekochte und nicht gebackene „Mehl“-Speise. Für traditionellen
Bulgur wird Durum gekeimt, getrocknet und ein Teil der Randschichten entfernt. Industriell werden die Körner unter Druck mit
Heißdampf bzw. heißem Wasser behandelt, damit die Stärke gelatiniert, dann werden die Körner getrocknet und geschält. Es geht
aber auch umgekehrt: Erst wird geschält, dann grob gemahlen
und zuletzt mit heißem Wasser gelatiniert.
Egal wie, alle Verfahren sind darauf bedacht, die Antinutritiva zu
entfernen. Durch diese Art der Entgiftung des Korns ist es möglich, Bulgur sogar für Rohkost zu verwenden. Für den erfrischenden Salat Tabbouleh weicht der Koch seinen Bulgur eine
Dreiviertelstunde in Salzwasser ein und gibt dann zu den nussartig schmeckenden Körnchen Petersilie, Tomaten, Zwiebeln und
Minze.
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6 Italien
Der Durchbruch ließ aber noch auf sich warten. Neapolitanische Aquarelle aus dem frühen 19. Jahrhundert zeigen die Maccheroni stets mit geriebenem Käse, der sich
dank seines Gehaltes an Glutamat auch im
Norden wachsender Beliebtheit erfreute.
Die Grazerin Katharina Prato empfahl 1858
in ihrem berühmten Kochbuch zu Maccheroni den Parmesan.12 Ihre Kollegen Habs
und Rosner, die Autoren des 1894 in Wien
erschienenen „Appetitlexikons“, waren begeistert: „Die Macceroni werden recht eigentlich erst durch die Parmesanzuthat ein
anständiges Gericht ... Dabei nahrhaft und
nicht schwerer verdaulich als jedes andere
Gewürz, ist er in der That eine ‚Schmackreizung’ erster Klasse, wirklich ‚Manna für
den Mund und Balsam für den Gaumen’.“6
Doch schon beginnen in Italien die frischen
Tomaten dem teuren Parmesan den Rang
abzulaufen. Belegt sind „Vermicelli co‘ le
pommodore” erstmals für das Jahr 1839 in
dem neapolitanischen Kochbuch von Ippolito Cavalcanti. Gebildete Italiener konnten
Cavalcantis Kochbuch den Rat entnehmen,
Tomatensoße nur auf Nudeln, nicht aber auf
Fleisch, Fisch und Gemüse zu geben, da
sich hierfür Butter wesentlich besser eigne.3
Esskultur dank Nudeln mit Soße
Jedenfalls erwies sich die Tomate auch für
unsere Tischkultur als folgenreich: Denn
die flüssige Soße machte die Vermicelli
glitschig, was das Schlucken erleichterte,
aber auch dazu führte, dass sie nicht mehr
mit den bloßen Fingern gegessen werden
konnten, ohne sich vollzukleckern. Und
so brachte die Nudelsoße in bürgerlichen
Haushalten ein damals durchaus noch ungebräuchliches Werkzeug auf den Tisch: die
Gabel. Im Übrigen ist die Gabel mit den vier
Zinken, die heute weltweit Tische ziert, das
Modell, das ursprünglich zum Spaghettiessen entworfen wurde.10
Dass sich die Tischsitten an die wenig nahrhafte Tomate anglichen und nicht umgekehrt, muss an deren besonderen Inhaltsstoffen liegen. Dazu gehören mutmaßlich das eine oder andere NachtschattenAlkaloid und natürlich der ungewöhnlich
hohe Gehalt an Serotonin und Tryptamin. Daraus leiten sich beim Simmern der
Tomatensoße interessante stimmungsbeeinflussende Stoffe ab, wie beispielsweise Dimethyltryptamin oder Bufotenin.4,
7, 8
(Vgl. EU.L.E.N-SPIEGEL 6/08-1/09)
Inzwischen hat es sich ja herumgesprochen, dass der Welterfolg der italienischen
Küche gleichermaßen auf dem natürlichen
Glutamatgehalt ihrer Zubereitungen beruht.
Denn die beiden typischen Zutaten italienischer Kochkunst, die Tomatenmatsche und
der Parmesankäse, sind reichlich mit dieser
appetitanregenden Aminosäure gesegnet.
Die beiden großen europäischen Küchen,
nämlich die französische Haute Cuisine mit
ihrer konzentrierten Fleischbrühe, der Consommé, und die italienische Küche nutzen somit die gleiche kulinarische Strategie. Und selbst in Japan, einer Küche, die
traditionell Zutaten mit hohem Glutamatgehalt wie Thunfischbrühe und Meeresalgen einsetzt, haben Spaghetti mit Tomatensoße bei Jugendlichen althergebrachten
Gerichten den Rang abgelaufen. Respekt!
Literatur
1.
André J: L’alimentation et la cuisine à Rome.
Klincksiek, Paris 1961
2.
Beckmann J: Beytraege zur Geschichte der Erfindungen. Zweytes Stück. Leipzig 1781
3.
Cavalcanti I: Cucina Teorico-Practica. Cucina
Casareccia in Dialetto Napoletano. G Palma, Napoli 1839
4.
Diem S, Herderich M: Reaction of tryptophan with
carbohydrates: identification and quantitative determination of novel β-carboline alkaloids in foods.
Journal of Agricultural and Food Chemistry 2001;
49: 2486-2492
5.
Frohnde D, Pfänder HJ: Giftpflanzen. WVG, Stuttgart 2004
6.
Habs R, Rosner L: Appetit-Lexikon. CG Sohn,
Wien 1894
7.
Kärkkäinen J et al: Potentially hallucinogenic 5-hydroxytryptamine receptor ligands bufotenine and
dimethyltryptamine in blood and tissues. Scandinavian Journal of Clinical and Laboratory Investigation 2005; 65: 189-199
8.
Ly D et al: HPLC analysis of serotonin, tryptamine,
and the hydroxycinnamic acid amides of serotonin
and tyramine in food vegetables. Journal of Medicinal Food 2008; 11: 385-389
9.
Maurizio A: Die Geschichte der Pflanzennahrung.
Parey, Berlin1927
10. Milioni S: Columbus Menu: Italian Menu after the
First Voyage of Christopher Columbus, 1492-1992.
Italian Trade Commission, New York 1992
11. Nesbitt M, Samuel D: From staple crop to extinction? The archaeology and history of the hulled
wheats. In: Padulosi S et al (Eds): Hulled Wheats.
IPGRI, Rome 1996: 41-100
12. Prato K: Die süddeutsche Küche auf ihrem gegenwärtigen Standpunkte. Leykam, Graz 1858
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Hopfen und Salz Gott erhalt‘s
Der Gerstensaft leidet nämlich unter einem
Kaliumüberschuss und kann damit bei regelmäßigem Genuss einen Mangel an seinem Gegenspieler, dem Natrium, verursachen.6 Die Niere benötigt aber Natrium, um Wasser ausscheiden zu können, andernfalls kommt es langfristig zu
Ödemen, Schwellungen von Gehirn und
Lunge. Aus diesem kühlen Grunde zieht
es den notorischen Biertrinker stets zum
Salz, zum Natriumchlorid. Sesambrezeln
sind im Biergarten also kontraindiziert.
Die Brezel entstand ursprünglich aus einem besonders harten Teig, der nach dem
„Brechen“ nicht gebacken, sondern in Salzwasser gesotten wurde.18 Die namensgebende „Lauge“ kam erst später in Gebrauch.
Dazu wurden Asche mit Ätzkalk oder Eierschalen mit Salzwasser gekocht, in das die
Teiglinge vor dem Backen getaucht wurden.9 Fertige Natronlauge gibt’s erst seit einem Jahrhundert. Doch egal wie – die Brezeln enthalten durch die Behandlung mehr
Natrium, ein Effekt, der durch das Bestreuen mit Salz noch verstärkt wurde.
Münchner Stadtmuseum, Sammlung Fotografie, Archiv Kester
Bei der bayerischen Küche denkt man vor
allem an bäuerlich-deftiges Essen – doch
das gibt’s überall auf der Welt. Etwas Besonderes ist aber die Biergartenkultur mitsamt der Brotzeit. Um den inneren Zusammenhang dieses kulinarischen Ensembles zu klären, müssen wir ausnahmsweise mit dem Getränk beginnen, dem
Bier! Die übrigen Schmankerl wie Brez’n,
Weißwürscht und Radi sollen nur Bekömmlichkeit und Nährwert des bajuwarischen Grundnahrungsmittels optimieren.
Ketzerkost
Die populäre Vorstellung, die Brezel sei ein
altes Kulturgut der Römer, das von den
Christen übernommen wurde, ist nur
schwer nachvollziehbar: Die Brezel soll
durch ihre Verschlingung an gekreuzte
Arme erinnern, einer Gebetshaltung der
Urchristen. Deshalb hätten diese beim
Abendmahl statt Oblaten fleißig Brezeln
geknuspert. Und womöglich, statt einen
Schluck Wein, eine Maß Bier geleert.
Doch im Mittelalter, als der Begriff Brezel sich aus einem lateinischen Brachiola („gekreuzte Arme“) gebildet haben soll,
wurden nur Ketzer mit gekreuzten Armen
dargestellt – als Zeichen ihrer Gottesleugnung. 13 Da ist es wahrscheinlicher,
dass sich das Wort Brezel vom Lateinischen bracchiatus für „verzweigt“ ableitet
und nichts mit der etymologischen Frömmelei zu tun hat.14
Bayern 7
Die Kunst der Verführung
Brezn-Verkäuferin auf dem Oktoberfest anno 1921
Rohkost für Grantler
Der Salzzufuhr wegen passt auch der Rettich ins kulinarische Bild. Der ernährungsbewusste Bayer bereitet seinen Radi vor dem
Verzehr mit einer ausgeklügelten Technik zu.
Er schneidet ihn spiralförmig in dünne Scheiben, wodurch sich der Rettich schließlich
wie eine Ziehharmonika auseinanderziehen
lässt, um ihn so auch innerlich mit reichlich Salz versorgen zu können. Dann übt
er sich so lange in Geduld, bis der Rettich
Wasser lässt. Sobald sich eine ansehnliche
Pfütze gebildet hat, wird der Radi genüss-
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8 Bayern
lich verspeist. Schließlich deckt der Gast
seinen Flüssigkeitsbedarf in Form von Bier
und nicht von Rohkost. Mit einem frischen
Rettich würde er sogar mehr Wasser zu sich
nehmen als mit der gleichen Menge eines
landestypischen Bieres.
Der Rettich ist ein bewährtes Functional
Food, denn seine Senföle wirken desinfizierend und regen den Gallenfluss an. Da der
biergartengängige Bayer aber auch sprichwörtlich als Grantler gilt, erscheint eine regelmäßige Stimulation der Galle vom volksmedizinischen Standpunkt aus vernünftig.
Dies gehörte einst zum A und O der Medizin, als sie noch der sogenannten Säftelehre anhing. Aus naheliegenden Gründen
sollte dies möglichst im Freien stattfinden,
da die schwefelhaltigen Senföle nicht ohne
Folgen bleiben. Wenn diese sich im Laufe
des Besuches lautstark Luft machen, bietet
eine Krachlederne ein zünftiges Ambiente.
Aus den Anfängen der Lebensmittelanalytik
Bestimmung des Stammwürzegehaltes mit Lederhose, Bank und Sanduhr.
Löste die bis dahin gebräuchlichen Daumenschrauben und Halseisen zur
Wahrheitsfindung ab.
Joseph Puschkin (1827-1880), Bierbeschau
Die Krachlederne taugte sogar zur Bieranalyse, zumindest solange es noch keine
chemischen Labors gab. Um den Stammwürzegehalt des Maibocks zu bestimmen, d.h., herauszufinden, ob auch genügend Malz zum Brauen verwendet worden war, wurde eine Maß auf eine Bank gegossen. Dann setzten sich drei Herren in
die Lache. Blieben die Lederhosen nach
einer Stunde braven Sitzens beim Aufstehen kleben, sodass die Bank ein wenig gelupft wurde, entsprach die Stärke
des Bieres der Verbrauchererwartung.8
Wurst zum Bier,
das rat ich Dir!
Wer sich schon vormittags im Biergarten
tummelt, bestellt zum Frühschoppen gern
ein Paar Weißwürste. Sie bestehen traditionell aus Kalb- und Schweinefleisch,
gekochten Schwarten, Kalbskopfhäuten sowie reichlich Wasser. Heute gibt
man stattdessen Eis zur Kühlung in den
Kutter sowie Kutterhilfsmittel – aber kein
Pökelsalz. Gewürzt wird mit Salz, Pfeffer,
Muskat, Zitronenschale und frischer Petersilie. Nach dem Abfüllen in Schweinsdärme wird die Masse eine halbe Stunde lang bei etwa 70°C gebrüht. Das sorgt
für eine gewisse, wenn auch nicht optimale Haltbarkeit. Ohne Kühltechnik verdarb
die Wurst schnell, weshalb die Weißwürste früher das 12-Uhr-Läuten der Kirchenglocken nicht mehr hören durften – ein,
wie es damals hieß, „unerbittliches Lebensgesetz“.11 Bei der heutigen Hygieneund Kühltechnik ist diese Regel nur noch
von nostalgischem Wert.
Die Weißwurst ist keine Erfindung der
Neuzeit. Sie ist lediglich der Nachfolger
der einstmals berühmten Altmünchner „Bockwurst“.4 Der Name rührt daher, dass sie jeweils im Mai als solide
Grundlage zum kräftigen Bockbier, das
hochprozentiger und damit länger haltbar ist, genossen wurde. Mit unserer
heutigen Bockwurst hatte sie also nichts
zu tun. Schon die Altmünchner Bockwurst
wurde in weite Schweinsdärme gefüllt,
gebrüht und vor dem Verspeisen in irdenen Töpfen warmgehalten – so wie
später die Weißwurst. Diese ist nur eine
im wahrsten Sinne des Wortes abgespeckte Variante, eine Light-Version mit
(damals) teuren Gewürzen wie Zitronenschale und Muskatblüte. Da Bier dem
Körper nur Kohlenhydrate liefert, sorgt
die eiweiß- und fetthaltige Wurst für eine
ausgeglichenere Nährstoffbilanz.
Ohne Eis kein Preis
Warum gehören zu einem Biergarten Kastanien und keine Linden oder Ahornbäume? Die Rosskastanie ist ja kein heimischer Baum, sondern eine Zuagroaste.
Sie stammt aus Asien und gelangte über
den Balkan nach Bayern. Nun, die Kastanie macht das Bier haltbarer. Aber nicht,
weil man dem Gerstensaft geheimnis-
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volle Rosskastanienextrakte zusetzte,
sondern weil Kastanienbäume als dichtlaubige und schnell wachsende Schattenspender die Bierkeller vor der Sommersonne schützen – Linden würden mit ihren tief reichenden und verzweigten Pfahlwurzeln schon mal einen Keller sprengen.
Trinken gegen den Alkoholismus
In frostarmen Wintern bekamen die Brauereien naturgemäß Probleme mit der Eisversorgung. Und so verdanken wir unsere Kühlschränke und Gefriertruhen den wetterbedingten Nöten der Brauereien. Denn Carl
Linde konstruierte im
Auftrag einer Münchner
Brauerei 1876 die erste
Kühlmaschine. Damit
war es endlich möglich,
ganzjährig untergäriges, lagerfähiges Bier
zu brauen, wo auch der
internationale Name
„Lager“ für ein „Helles“
herrührt. Dieser etwas
alkoholreichere Gerstensaft konnte endlich auch ins Ausland
geschickt werden.
Im Gegensatz zu ihren norddeutschen Kollegen verfügten die
Münchner nicht über
probate Wasserwege
Ohne Fleiß kein Eis - Eisernte im Klöntal
– die Isar ist viel zu
Lithographie von J. Weber, Neue Alpenpost, 17. März 1877, Repro
flach, um das Bier in
großem Stil auf Schiffen mit ausreichendem Tiefgang in die anDas große Problem der Brauer war nun mal
grenzenden Länder zu exportieren. Sie wadie Kühlung. Sommers konnte nur obergären auf den beschwerlichen Landweg angeriges Bier (obergärige Hefe tut ihren Dienst
wiesen. Erst der Ausbau des Straßen- und
auch bei höheren Temperaturen) gebraut
Schienennetzes und die Kühltechnik erwerden, dessen Qualität und Haltbarkeit jemöglichten im 19. Jahrhundert einen weltdoch zu wünschen übrig ließen. Das helle,
weiten Export des Münchner Lagerbiers.
gut haltbare untergärige Bier ließ sich früher
Nicht zufällig war die allererste Fracht der
leider nur in der kalten Jahreszeit brauen.
ersten deutschen Eisenbahn - zwischen
Die Bierwürze musste vor der Gärung soNürnberg und Erlangen - ein Fass Bier.16
gar bis auf 5 Grad gekühlt werden. Damit endete die Brausaison für UntergäriDie Technik des untergärigen Bierbrauens
ges Anfang April. Das Märzenbier war frübreitete sich alsbald von Bayern nach Böhher das letzte „gute“ Bier, daher der Name.
men und Norddeutschland aus. Das hatte
Natürlich ließ die Branche nichts unversucht, einen beachtlichen sozialen Fortschritt zur
Folge. Denn das „bairisch Bier“ erwies sich
um das schmackhaftere untergärige Helle
als probates Mittel gegen den Alkoholisbis weit in den Sommer zu kühlen, z.B. wurmus. Was aus heutiger Sicht völlig absurd
den die Bierkeller mit Eisblöcken bestückt,
klingt, ist offenbar eine historische Tatsache.
die man im Winter von den gefrorenen Seen
Wer zur Entspannung nach einem langen,
geerntet hatte. Die Schatten spendenden
schweißtreibenden Arbeitstag in einer ManuKastanien lockten im Sommer Gäste an, die
faktur seinen Durst mit Branntwein löschte,
sich gern an der Quelle niederließen, die
war schnell sturzbetrunken. Die bayerische
richtige Biergartenkultur entstand allerdings
Brautechnik erlaubte die Produktion eines
erst vor 200 Jahren. Im Januar 1812 wurde
schmackhaften Bieres, das bekömmlicher
der Ausschank am Keller durch einen Erlass
und der Geselligkeit förderlicher war als der
seiner Majestät König Maximilian I. legaliSchnaps, der sedierende Hopfen tat sein
siert. Die Brotzeit mussten die Gäste allerdings selbst mitbringen, denn eine Bewirtung Übriges. So wurden die Deutschen Biertrinker - zu Lasten des Branntweins.7, 15, 17
mit Speisen war den Wirten nicht gestattet.
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Bayern 9
10 Bayern
Zaubertrank Nubierbier
Es ist müßig, auf die zahlreichen pharmakologisch interessanten
Kräuterzusätze beim Brauen einzugehen, die einmal weltweit genutzt wurden, und von denen heute praktisch nur der Hopfen übrig geblieben ist. Aber es gibt bzw. gab einen Wirkstofftyp, den
niemand im Bier erwarten würde: potente Antibiotika, wie kürzlich
bei Ausgrabungen in Nordafrika ans Licht kam. Denn unter UVLampen leuchteten die Knochen der antiken Mumien verdächtig
auf. Wie Analysen zeigten, kam die Fluoreszenz durch Ablagerungen von Tetracyclinen zustande – probate Antibiotika, die sich
bis heute in der Arztpraxis und dem Schweinekoben bewähren.
Zwanzig Liter
schäumendes,
frisches Hirsebier
im sandgekühlten
Tonkrug
Literatur
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Foto: M Richard,
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Als Quelle erwies sich das Hirsebier, das vor gut 1500 Jahren
von den Nubiern gesüffelt wurde, die in der Gegend um den heutigen Assuanstaudamm lebten. Tetracycline stammen weder aus
der Bierhefe, dem Hopfen noch dem Malz, sondern werden von
Bakterien erzeugt, den Actinomyceten.10 Actinomyceten sind im
Boden allgegenwärtig, über die in Erdmieten und Tongefäßen
gelagerten Körner gelangten sie in die Maische. Hirsebrei hätte viel zu wenig von diesem Antibiotikum enthalten. Also mussten die Nubier die Tetracycline irgendwie aufkonzentriert haben,
und das geht nur beim Bierbrauen. Denn in der Maische wird es
für die Actinomyceten ungemütlich, weil ihnen die Lactobazillen
mit ihrer Milchsäureproduktion das Leben schwer machen. Um
sich der garstigen Konkurrenten zu erwehren, bilden sie ihrerseits
auch chemische Kampfstoffe, in diesem Falle reichlich Tetracyclin. Der Antibiotikumgehalt des Bieres wurde auch dadurch garantiert, dass die Brauer der Maische etwa zehn Prozent übrig behaltenes Tetracyclinbier als Starterkultur zusetzten.12
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18. Zedler JH: Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste. Halle und
Leipzig 1733, Dritter Band, Spalte 1324
Der jüngste Nubier, in dessen Knochen Tetracycline nachgewiesen wurden, war gerade mal zwei Jahre alt.3, 5, 12 Es steht zu
vermuten, dass er seine Antibiotika ebenfalls nicht über seinen
morgendlichen Hirsebrei abbekam, sondern über eine tägliche
Ration Bier.2 Diese Form der Ernährung dürfte die Kindersterblichkeit damals deutlich vermindert haben.
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Sri Lanka 11
Currys
Dies liegt aber weniger an dem dort heimischen schwarzen Pfeffer, der schon vor
zwei Jahrtausenden die römische Handelsflotte diese Insel vor Indiens Südostküste ansteuern ließ, sondern
an den Portugiesen. Anfang
des 16. Jahrhunderts gründeten sie dort Handelsniederlassungen, weil die Insel so lukrative Waren
wie Edelsteine und Zimt
bot. Im Gegenzug bereicherten sie die ceylonesische Küche mit zwei Nachtschattengewächsen, die sie
aus ihren Besitzungen in der
Neuen Welt mitbrachten, der Tomate und dem Chili. Sie eroberten
sich schnell einen Stammplatz in der Küche.
Der dauerhafte Erfolg der scharfen Schoten auf Sri Lanka ist bemerkenswert. Das
dort eigentlich „exotische“ Gewürz trägt
zum Aroma der Speisen nämlich herzlich wenig bei, denn neben seiner Schärfe
hat es keinen charakteristischen Eigengeschmack zu bieten – Chili bedient, sinnesphysiologisch betrachtet, nur die Schmerzrezeptoren im Mund. Damit sollte für ihn
angesichts des reichhaltigen Angebotes
an altbewährten Scharfmachern der Gewürzinsel wie Pfeffer, Senf und Ingwer,
die ebenfalls ein ausgeprägtes Eigenaroma verströmen, eigentlich kein Platz
mehr in der Küche sein. Doch weit gefehlt.
Am Geschmack also kann es nicht liegen,
dass die Chilis eine sowieso schon scharfe
Küche bereichern durften; es muss einen
anderen Grund für die innige Liebe der Singhalesen zu dem amerikanischen Importgewürz geben. Nun, vielleicht weil es ihnen half, zwei der brisantesten gesundheitlichen Probleme der Tropen zu lösen. Eines
ist die unerträgliche, lähmende Hitze. Chilis brennen zwar wie Feuer, aber paradoxerweise ist es gerade das, was sie so wirksam
macht. Denn das scharfe Capsaicin der Chilis senkt die Temperatur im Inneren des Körpers, und dadurch wird das Leben erträglicher. Die Hitze wird über die Haut nach außen abgeleitet, wodurch zunächst ein Wärmegefühl entsteht, zugleich werden aber
auch einige Wärmerezeptoren ausgeschaltet, sodass die Hitze nicht mehr in
dem Maße empfunden wird.19
Dieser Effekt setzt eine gewisse Dosis voraus, und
deshalb sind üppige Mengen Chilis in tropischen
Gerichten ein Muss.
Das gilt auch für das
zweite Problem, die Parasiten. Sie lauern überall und sind für die niedrige Lebenserwartung in vielen tropischen Ländern verantwortlich. Der Scharfstoff Capsaicin „ätzt“ gewissermaßen die Würmer
aus dem Verdauungstrakt, bevor sie sich
darin häuslich niederlassen können. Deshalb wird in vielen Ländern mit geringem Hygienestandard und hohem Infektionsdruck
extrem scharf gegessen. Der Chili ist daher ein echtes Nahrungsergänzungsmittel
– er beugt dort tatsächlich Krankheiten vor.
pixabay
Unter Curry versteht man hierzulande meist
nur ein pseudo-indisches gelbes Pulver zum
Bestreuen einer Currywurst, aber in Asien
werden alle mit den vielfältigen Currypulvern
oder -pasten gewürzten Gerichte als „Currys“ bezeichnet. Sie sind überall in den Tropen äußerst beliebt, und viele zeichnen sich
durch ihre beißende Schärfe aus. Auch für
den hartgesottensten europäischen Gaumen sind diese nahrhaften Soßen in der Regel zu scharf, selbst dann, wenn sie wie üblich mit ungewürztem Reis verspeist werden. Besonders „heiße“ Currys kommen bei
den Bewohnern Sri Lankas auf den Tisch.
Mit Gewürz und Spucke fängt
man eine Mucke
Für Europäer sind die Tropen eine lebensfeindliche Region. Die Kolonialreiche forderten nicht nur von den unterworfenen Völkern
einen hohen Blutzoll, sondern auch von den
Kolonialherren, die der heißen Klimazonen
nicht angepasst waren. Am heftigsten wü-
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12 Sri Lanka
Gift im Essen hält gesund
Wenn’s darum geht, das Überleben ihrer Geschöpfe
zu sichern, ist die Natur höchst erfinderisch. Im südlichen
Europa, wo die Malaria jahrtausendelang heimisch war,
ist darum eine relativ harmlose Erbkrankheit noch heute vertreten: Es handelt sich um einen Enzymmangel, der
die Blutkörperchen vor den Malariaparasiten schützt. Das
Enzym heißt „Glucose-6-Phosphat-Dehydrogenase“, kurz
G6PD. Der G6PD-Mangel ist mit circa 400 Millionen Betroffenen einer der häufigsten angeborenen Enzymdefekte der Welt.24 An ihm lässt sich die Bedeutung der Malaria in der Geschichte der Menschheit ermessen. Doch
der G6PD-Mangel hat auch seinen Preis: nämlich Insulinresistenz und Fettsucht – also das altbekannte metabolische Syndrom.22
Saubohnen
Seine volle Schutzwirkung entfaltet der G6PD-Mangel
aber erst in Verbindung mit dem richtigen Menü. Rohe
Ackerbohnen (Vicia faba), auch Sau- oder Pferdebohnen genannt, enthalten zwei spezielle Wirkstoffe, Isouramil
und Divicin. Nach dem Verzehr gelangen sie ins Blut, wo
sie reaktiven Sauerstoff bereitstellen – ja, hier gibt es sie
wirklich, die berühmten „freien Radikale“. Der Gendefekt verhindert deren schnelle Entgiftung, und so bleibt
ihnen genug Zeit, die Malaria-Erreger plattzumachen.
In Malariagebieten sind die frischen rohen Bohnen daher ein wichtiges Nahrungsmittel, ja sie gelten als Delikatesse, weil sich die Infizierten danach besser fühlen.
An der Adriaküste liebt man einen Snack aus unreifen
Saubohnen mit Pecorino-Käse. Verzehrt ein Mensch mit
G6PD-Mangel aber zu viel rohe Bohnen, erkrankt er an
Favismus. Das ist eine Lebensmittelvergiftung, die auch
mal tödlich verlaufen kann.14 Menschen, die nicht von
Malaria bedroht sind, meiden solche Gifte natürlich und
kochen ihre Bohnen möglichst gründlich - je länger, desto besser.
Maniok
Ein weiteres Lebensmittel, das
zur Behandlung
der Malaria genutzt wird, ist der
Maniok, auch
Cassava genannt (Manihot
esculenta). Dieses Wolfsmilchgewächs wehrt
seine Fraßfeinde mit dem giftigen Linamarin ab. Schwere
Vergiftungen mit
Linamarin – namentlich Konzo,
eine Lähmung
tete unter den Neuankömmlingen die Malaria. Die einheimische Bevölkerung hatte sich
im Laufe der Generationen auf diese Bedrohungen eingestellt – und auch wenn es zunächst unglaublich klingen mag, höllisch
scharfe Currys sind ein probates Mittel gegen diese weitverbreitete Tropenkrankheit.
Um die Wirkung zu entschlüsseln, hilft
uns abermals die geschmacklich sinnlose Kombination von Pfeffer (Piper nigrum) und Chili weiter. Die Malaria wird bekanntlich von einzelligen Parasiten verursacht, die sich in den roten Blutkörperchen einnisten. Der wichtigste Scharfstoff
des schwarzen Pfeffers ist das Piperin, das
bis ins menschliche Blut gelangt. Dort bindet es an Bluteiweiße und verändert die
Durchlässigkeit der Zellmembranen der
roten Blutkörperchen.28 Und genau das
macht den Malariaparasiten den Garaus.
Das Piperin des Pfeffers ist also ein Malariamittel.7, 13 Es ist zwar deutlich weniger wirksam als die später entdeckte Chinarinde (von div. Chinarindenbäumen Cin-
Der giftige Milchsaft wird aus dem geriebenen und eingeweichten Maniok ausgepresst. A. Hugentobler, Ecuador 2004
chona ssp.), aber das lässt sich mit einer höheren Dosis ausgleichen. Je mehr
Pfeffer im Essen, desto höher die Piperin-Pegel im Blut. Darum musste der
Pfeffer – so wie später auch das Chinin – tagtäglich genossen werden.
Leider wirkt Piperin nur in hoher Dosierung
gegen den Blutparasiten. Also wurde die Gewürzmischung durch weitere Wirkstoffe optimiert. Da bot sich die Gelbwurz (Curcuma
ssp.)26 mit ihrem typisch gelben Farbstoff
Curcumin an, das übrigens als Lebensmittelzusatzstoff die E-Nummer 100 trägt. Verfüttert man E 100 an malariakranke Mäuse,
sinkt der Befall mit Parasiten um 80-90 Prozent.21,23 Da Capsaicin und Piperin sich gegenseitig verstärken,29 ergänzen sich diese
beiden Gewürze pharmakologisch.12
Doch die echten Currys helfen nicht nur gegen Malaria, sondern auch gegen andere
gefährliche Einzeller, insbesondere gegen Trypanosomen, die schwere Tropenkrankheiten wie die Chagas-Krankheit, die
Schlafkrankheit und die Leishmaniose ver-
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Sri Lanka 13
der Beine – sind in
Malariagebieten
recht häufig. Die
These, Malaria würde durch die Blausäure bekämpft,
die aus dem Linamarin des Manioks
freigesetzt wird, 10,
11
haben wir bereits
vor 15 Jahren im
EU.L.E.N.-SPIEGEL postuliert
(Heft 5/1996,S.11).
Inzwischen bestätigte sich, dass
vor allem Personen
mit Sichelzellanämie vom Linamarin
profitieren.27
sen Schutz vor Malaria gewähren4 und deren Wirksamkeit durch geeignete Speisen wie Cassava erhöht werden
dürfte.
Absinth
Warten auf die grüne Fee
Absinth-Trinker, Edgar Degas, 1876
Darüber hinaus muss es aber einen weiteren Mechanismus geben. In Thailand verschwand die Malaria, als die
Wälder gerodet und Maniok-Plantagen angelegt wurden.
1980, als der Maniok-Markt zusammenbrach, pflanzte
man Gummi- und Obstbäume an und die Malaria kehrte
zurück.3 Da die Sichelzellanämie in Thailand relativ selten ist, sollten wir die zahlreichen weiteren Erbdefekte
nicht aus den Augen verlieren, die ebenfalls einen gewis-
Der Absinth war ursprünglich ebenfalls ein Malariamittel,
genau wie die weitaus bekannteren gallebitteren Chininlimonaden, die vor allem die britischen Soldaten in den
Kolonien täglich trinken mussten. Allerdings lag der Gehalt an Chinin weitaus höher als heute beim „Indian Tonic“, das keinerlei malariapräventive Wirkung mehr hat.
Die französischen Kolonialtruppen bekamen von den Militärärzten stattdessen Absinth verabreicht, der alkoholische Auszüge einer anderen bitteren Pflanze enthielt,
dem Wermut (Artemisia absinthium L.). Nach ihrer Rückkehr aus Algerien machten die Soldaten das Getränk in ihrer Heimat populär. Alsbald wurde der Likör jedoch als gefährliche Droge gebrandmarkt und sein Konsum verboten.
Die Wirksamkeit von Wermut gegen Malaria war zwar
volksmedizinisch wohlbekannt, aber da dem Absinth
psychedelische Wirkungen nachgesagt wurden, weigerte sich die westliche Medizin, das Mittel auch nur zu testen. Der entscheidende Inhaltsstoff Artemisin ist nicht nur
außergewöhnlich effektiv, sondern hat auch weniger Nebenwirkungen als die üblicherweise verordneten Medikamente. Auf Druck der Pharmakologen aus der 3. Welt hat
sich die WHO mittlerweile sehr für dieses vorzügliche Mittel stark gemacht.31
ursachen.5, 8, 17 Offenbar wirken sie auch gegen die Amöbenruhr und den Erreger der
Tuberkulose.25 Die Pharmaindustrie versucht darum seit Jahren fieberhaft, die Wirkstoffe von Pfeffer und Curcuma chemisch
abzuändern, damit sie ihre Mittel patentieren kann.6, 18 Bei den Currys gilt die alte Regel des Hippokrates tatsächlich: Eure Nahrungsmittel sollen eure Heilmittel sein.
staunlicherweise hält sich diese FischSpezialität etwa eine Woche lang selbst
bei 30 Grad im Schatten frisch. Natürlich
spielt hier auch der Salzgehalt eine Rolle,
aber das eigentliche Geheimnis heißt Goraka, die zuerst sonnengetrockneten und
danach geräucherten Fruchtschalen des
Gummigutt-Baums (Garcinia quaesita,
syn: G. gummi-gutta, syn. G. cambogia).
In alter Frische: Ambul Thiyal
Zunächst senken die extrem sauren Früchte
aufgrund ihres hohen Gehaltes an Hydroxyzitronensäure den pH-Wert des Currys auf
3,5, was Fäulniserregern wenig behagt.
Doch damit nicht genug. Da mit anderen
sauren Zutaten wie Zitrone oder Tamarinde
sich die Haltbarkeit von Ambul Thiyal nicht
nennenswert verlängern lässt,1, 2, 9, 30 braucht
man für eine tropentaugliche Konserve
schon heftigere Geschütze, nämlich die antimikrobiellen Benzophenone der Gorakas
wie das Garcinol.15, 16, 20 Dadurch wird beim
Thunfisch die sonst unvermeidliche Bildung
von Histamin und anderer bakterieller
biogener Amine unterbunden. Diese Form
der Frischhaltung bei „Zimmertemperatur“
Das feuchtwarme Tropenklima bietet Bakterien und Schimmelpilzen in Lebensmitteln ideale Vermehrungsbedingungen. Vor
der Erfindung des Kühlschranks stellte
der schnelle Verderb jeden Koch vor eine
echte Herausforderung, zumal die Mikroben reichlich Gifte, insbesondere kanzerogene Schimmelgifte bilden. In den Tropen
ist der durch Mykotoxine verursachte Leberkrebs eine bedeutende Todesursache.
Eine wunderbare Konservierungsmethode
stammt aus dem heißen Süden Sri Lankas und das Ergebnis heißt Ambul Thiyal, ein sauer-würziger Thunfischcurry. Er-
EU.L.E.N-SPIEGEL • Nr. 1 / 2012 • © EU.L.E. e.V. • www.das-eule.de
14 Sri Lanka
ist den Menschen von Indien bis Malaysia
natürlich nicht verborgen geblieben.
Bei uns sind Benzophenone nur zur
Konservierung für Kosmetika zugelassen.
In unseren Breiten schützt uns Hygiene
vor Bakterien, Pilzen, Viren und Parasiten. In den heißen Ländern aber soll die
reichliche Verwendung antibiotischer Rinden, Früchte, Kapseln und Schoten, die
wir in Unkenntnis ihrer tatsächlichen Funktion naiverweise als Gewürze bezeichnen,
Schutz bieten. So müssen wir uns nicht eingestehen, dass in den Küchen dieser Welt
starke Konservierungsmittel zentraler Bestandteil traditioneller Rezepturen sind.
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Polen 15
Borschtsch, Barszcz, борщ
Über das Ausmaß des einstigen BarszczSuppen-Areals gibt der schweizerisch-polnische Botaniker Adam Maurizio Auskunft:
„Die eingesäuerten Blätter und Stiele gaben
einen Aufguss, „Barszcz“ genannt. ... Dieser echte ursprüngliche Barszcz war ungemein verbreitet, er war bekannt in Nord- und
Osteuropa, im ganzen nördlichen Asien bis
nach Kamtschatka und im nördlichen und
nordwestlichen Küstenstrich Nordamerikas.“
Die dicken Stängel und die großen Blätter der stattlichen Pflanze versprechen nicht
nur eine ergiebige Ernte, sondern auch einen würzigen Geschmack, denn als naher Verwandter von Petersilie, Dill und Sellerie (Familie Apiaceae, bzw. Umbelliferae) zeichnet sich der Bärenklau durch eine
Vielzahl aromatischer Inhaltsstoffe aus.
Allerdings enthalten diese Doldenblütler
auch Furocumarine, Substanzen, die bei
empfindlichen Menschen zu bösen Ekzemen führen können, man denke nur an ei-
nen nahen Verwandten des Barszcz, den
berüchtigten Riesenbärenklau (Heracleum
mantegazzianum). Und nicht zuletzt zählen
auch veritable Giftpflanzen zu den Doldenblütlern, z.B. der Schierling (Conium maculatum), dessen Alkaloid Coniin einst Sokrates den Garaus machte. Da sich viele Doldenblütler mit ihrem meist weißen, schirmförmigen Blütenstand und den gefiederten Blättern zum Verwechseln ähneln, war
beim Sammeln größte Vorsicht angezeigt.
C Fischer wikimedia
Nicht nur beim Wodka, auch wenn’s um den
Borschtsch geht, beanspruchen Polen wie
Russen, die deftige süßsaure Suppe aus
Rote Bete, Kohl, Suppenfleisch und saurer Sahne erfunden zu haben. Aber damit nicht genug, die slawische Seele erhitzt
sich zudem heftig an der Frage, ob Rote
Rüben tatsächlich zu ihren klassischen Ingredienzen gehören. Dabei entbehrt dieser Streit eigentlich jeder Grundlage, denn
so wie die Geschichte des Königreichs Polen oder des Zarenreichs ihren Lauf nahm,
erfuhr auch der Ur-Borschtsch tiefgreifende Wandlungen, bis er seinen Weg in
unsere Imbissbuden antreten konnte.
Ursprünglich war der heute rote Borschtsch
ziemlich grün, denn seine Hauptzutat war
Barszcz. So heißt der Wiesenbärenklau
(Heracleum sphondylium) auf Polnisch
und Russisch. Mit diesem bis zu ein Meter fünfzig hohen Doldenblütler ergänzte die
Landbevölkerung Osteuropas früher ihre
oft karge oder eintönige Kost. Die Staude
wächst übrigens auch hierzulande überall an Ufern oder auf feuchten Wiesen.
Wiesenbärenklau
Der Stoff, aus dem die Sünden sind
Die Zubereitung des Barszcz war simpel: Blätter und Stängel wurden mit Wasser übergossen und etwa eine Woche lang
stehen gelassen. Dabei setzte ähnlich wie
beim Sauerkraut eine Milchsäuregärung
ein. Die allgegenwärtigen Hefen und Bakterien sorgten dabei auch noch für ein bis
zwei Prozent Alkohol. Deshalb verwendete man den Barszcz nicht nur als Suppengrundlage, sondern man seihte ihn ab
und trank ihn bei Malaisen jeglicher Art als
probates Hausmittel.6, 7, 8 Dabei dürfte dessen niedriger Alkoholgehalt nicht der entscheidende Beweggrund für den Konsum
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16 Polen
gewesen sein, denn dafür hatte man den
Kwass, das erfrischende „Bier“ aus vergorenem altbackenem Schwarzbrot, gesäuertem Mehl oder allerlei Obst und Blattwerk.
Für die Attraktivität des Barszcz-Getränkes
dürften wohl eher andere Stoffe gesorgt haben. Chemische Analysen fehlen leider, da
dieses Getränk nicht mehr hergestellt wird.
Aber einen ersten Hinweis liefert der Umstand, dass die Samen und Knollen des Bärenklaus ein paar Prozent Myristicin enthalten könnten,3 das Halluzinogen der Muskatnuss. Zudem gibt es vielsagende Berichte
zur Wirkung eines Produktes, das weit im
Osten Russlands aus dem vergorenen Gemüse erzeugt wurde: des Barszcz-Schnaps‘.
Volle Dröhnung
wikipedia
Die Destillation erfordert gewisse technische
Kenntnisse, die erst von den Kosaken nach
Kamtschatka mitgebracht wurden. Bis dato
aßen die ansässigen Itelmen die Pflanze nur
als Barszczgemüse oder delektierten sich
am Zucker, der beim Trocknen der Stängel austrat. Für die Maischebereitung gaben
die Kosaken zur Erhöhung des Zuckergehalts noch Beeren dazu, namentlich Rauschbeeren (Vaccinium uliginosum) oder die des
Blauen Geißblatts (Lonicera caerulea).
Dieser Wald-und-Wiesen-Fusel hatte es in
sich, wie der deutsche Forschungsreisende
Georg Wilhelm Steller aus Kamtschatka berichtete: „So kamen die Kosaken, nachdem
sie aus allerhand Beeren, Kräutern, ja sogar
aus faulen Fischen probiret Branntewein zu machen, hinter
dieses Kraut,
und nachdem
sie wahrgenommen, daß
es sich bei der
Zubereitung
stark und geschwind fermentire und betrunken mache, angefangen in Kesseln mit hölzernen Deckeln, woran sie gezogene Röhre
applicirt, Branntewein zu destilliren ... Es
hat aber dieser Branntewein folgende, besondere Eigenschaften: ... die Leute werden sehr geschwind davon betrunken, und
im Trunk ganz unsinnig und toll, ganz blau
in dem Gesichte, wer nur einige Schalen davon getrunken, wird die ganze Nacht hindurch von den seltsamsten und abenteu-
erlichsten Phantasien und Gesichtern beunruhiget, und den andern Tag so ängstlich, traurig und unruhig, als wenn man die
größten Missetaten begangen hätte ...“15
Offenbar steckt auch im sibirischen Bärenklau einiges, auf das man besser verzichtet. Steller berichtet nämlich weiter, dass
der Schnaps aus ungeschälten Stängeln
noch weitaus schlimmere Auswirkungen
hatte, wohl eine Folge der diversen Cumarine und Furocumarine, aber auch des Octanols und seiner Ester, die sich im ätherischen Öl der Pflanze finden4: „Wenn
man dieses Kraut nicht abschälet, sondern nur in vier Teile spaltet und trocknet,
bekommet man zwar eben so viel Branntewein, welcher aber so ungesund ist,
daß die Leute davon Steckflüsse bekommen, und am ganzen Leib blau anlaufen.“
Sündenbabel
Man ahnt, welche umwerfenden Wirkungen
dann später polnische Barsczc-Schnäpse
gehabt haben müssen, als sich die Destillierkunst im Westen auszubreiten begann.
Denn im Gegensatz zu den meisten anderen
Kulturen gelangten in Polen die BärenklauStängel ungeschält in die Brennmaische.
Der Bärenklau sorgte auch ohne Brennblase
für eine Begeisterung, wie Steller sie in dieser Form bisher nur aus Regionen mit Weinbau oder Milchwirtschaft kannte: „Wenn das
Kraut gesammelt wird, so gehet es eben so
her wie bei der Weinlese, oder in der Butterwoche, wer Unzucht treiben will, gehet nur
auf das Feld, wo man aller Orten bereitwillige Mädgens ohne Widerrede in dem Gras
findet, und kan niemand sein Gesinde härter strafen, als wo er sie diese Zeit zu Hause
behält: und haben die Mädgens die Manier, daß sie allezeit die abgeschnittene
Stengel bundweis liegen lassen, wo sie dabey geschändet worden, und kan man im
Spazierengehen allezeit die Rammelplätze
an diesen Objectis fascibus erkennen.“
Lieber rot als tot
Im 16. Jahrhundert bekam der wildwachsende Bärenklau scharfe Konkurrenz aus
dem Hausgarten: Damals gelangte nämlich die Rote Bete (Beta vulgaris ssp. vulgaris) aus Italien zuerst nach Deutschland
und dann nach Polen. Dort fand die Rübe
ein ideales Klima, alsbald stieg sie neben
dem Kohl zu einer der wichtigsten Gemüsearten auf.1 Ein Grund war wohl, dass die
Rote Bete länger verfügbar war: Die ers-
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ten Rüben lassen sich bereits im Juli ernten und können bis tief in den Winter im
Hausgarten oder der Miete gelagert werden. Nicht so der Bärenklau, der nur sommers und frisch genutzt werden kann. Bereits um 1660 stellte man Barszcz in Polen offenbar bevorzugt mit Rote Bete her.12
Adam Maurizio, Botanik-Professor und Lebensmittelforscher aus dem 19. Jh., gibt
ein Rezept zum Besten: „In Polen wird die
Suppe wie folgt bereitet: süße rote Rüben
werden gereinigt, geschält und in dünne
Scheiben geschnitten, gelangen in ein irdenes Gefäß, wo sie mit weichem Wasser soweit übergossen werden, daß sie ganz bedeckt und etwa 2-3 Finger hoch darüber
steht. Das mit einem Leintuche bedeckte
Gefäß wird an einen warmen Ort gestellt
... und nach 6-7 Tagen ist der Barszcz fertig. Nun wird er zum Gebrauch durch ein leinenes Tuch geseiht (um ihn von der Pilzdecke und den Rübenscheiben zu trennen), oder man stellt ihn einfach an einen
kühlen Ort.“ Der auf diese Weise erhaltene Barszcz ist eine ziemlich viscose
manchmal
fadenziehende Flüssigkeit von
himbeerroter Farbe, von
aromatischem
Geruch
und angenehm süß-säuerlichem Geschmack.“ 9
sie doch erhebliche Mengen L-Dopa, sprich
Dihydroxyphenylalanin5 – einen Baustein der
roten Rübenfarbstoffe. L-Dopa gelangt direkt
ins Hirn und wird dort in den Neurotransmitter Dopamin umgewandelt. Als Medikament
kann es Euphorie hervorrufen und zu Abhängigkeit führen.14 Zur Wirkungsverstärkung
tragen sogenannte MAO-Hemmer bei, die
den Abbau des L-Dopa im Körper blockieren. Diese stecken im Borschtsch als typischer Inhaltsstoff in Form von Tyrosin, einer
wichtigen Vorstufe der Rote-Bete-Farbstoffe.
Polen 17
Nastrowje
Doch im Laufe der Zeit kam es immer weniger auf den Gehalt an psychotropen Wirkstoffen an, auch der Alkoholgehalt spielte
keine Rolle mehr. Denn nun erfreute sich
das Wodkatrinken allgemeiner Beliebtheit.
Das erste Mal wurde Wodka in Polen urkundlich zu Beginn des 15. Jahrhunderts erwähnt, und um 1580 war Posen zur Hauptstadt der polnischen Wodkabrennerei aufgestiegen. Parallele Entwicklungen gab es
übrigens auch in Deutschland, wo sich der
Es handelt sich also nicht
mehr um eine typische
Milchsäuregärung, sondern um eine „schleimige Gärung“, die Suppe
soll sich „ziehen“; neben Milchsäure entstehen
auch Dextran und Mannit.11 Dafür verantwortlich
ist das „Froschlaichbakterium“ (Leuconostoc mesenteroides), das zuckerhaltige Lösungen in kurzer Zeit in Gallerten verwandelt. Die leichtverdaulichen Dextrane sorgen
für das typische „vollmunWeichbild von Bolscherezk
dige“ Mundgefühl. Mit alDas vielfältige kulturelle Angebot in Kamtschatkas Metropolen inspirierte die Kosaken,
lerlei neuen Zutaten wie
ungewöhnliche Alkoholika zu erzeugen.
Kupferstich A Hogg, London o. Jahr
Gemüse, Fleisch oder
der polnischen Wurst ergab dies die Grund- Korn Anfang des 17. Jahrhunderts zunächst
lage vieler Suppengerichte, vergleichbar vor allem in den Städten steigender Beliebtdem Suppenfond der französischen Küche. heit erfreute. In der Getreide-Exportnation
Polen13 war es möglich, Brotgetreide vermehrt in Alkohol zu verwandeln. Und saubeAnders als der Bärenklau enthält die Rote
rer Wodka ist natürlich wesentlich bekömmRübe keine toxischen Rauschdrogen. Dielicher als jeder Barszcz-Brand, in dem eisen Mangel gleicht sie auf allseits bekömmgentümliche Heracleum-Stoffe schwimmen.
licherem Wege ein klein wenig aus, enthält
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18 Polen
Fastfood
Während es mit der Güte der Spirituosen bergauf ging, ging es mit dem roten
Borschtsch allmählich bergab. Aus einem
zeitaufwendig fermentierten Gericht, das
sich im katholischen Polen auch als Fastenspeise eignete, wurde im 20. Jahrhundert ein sättigender Schnelleintopf, dessen saurer Geschmack kurzerhand mit einem kräftigen Schuss Essig erzeugt wurde.
Da der Wodka nach und nach zum flüssigen Grundnahrungsmittel wurde,2 brauchte
man eine deftige Grundlage für den Alkohol. Daher steckt im modernen Rote-Rüben„Borschtsch“ jede Menge Fleisch und Fett,
oder er wird – vor allem in Russland - noch
mit Sauerrahm (Smetana) angereichert.
Der Weg zum aktuellen Barszcz war weit.
Aus einem mehr oder weniger berauschenden grünen Bärenklaugemüse entstand zunächst ein rotes Gärprodukt aus
Rote Bete und schließlich unser bekannter Borschtsch, ein saurer, roter Eintopf,
der mit dem ursprünglichen Barszcz außer dem Namen nichts mehr gemein hat.
Adam Maurizio beklagte sich 1931 dann
auch bitter: „Der saure Aufguß des Heracleums heißt wohl in allen slawischen Sprachen wie die Pflanze selbst: Barszcz oder
ähnlich. Ganz gleichen Namen haben die
Aufgüsse der Nachkommen mitbekommen.
Nun hat die Eile der Zeitgenossen der nachdenklichen milchsauren Gärführung ein
Ende bereitet. Sie bringt es fertig, mit Essig sauer gemachte Suppe mit roten Rüben,
„polnische Borszczsuppe“ zu nennen; so in
deutschen Kochbüchern. Mit diesem mißratenen Sprößling stirbt aus die edle Sippe
der ursprünglichen milchsauren Getränke.“10
Literatur
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Czyzowska A, Libudziz E: The influence of lactic
acid fermentation process of red beet juice on the
stability of biologically active colorants. European
Food Research and Toxicology 2006; 223: 110-116
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Debowska B: Polen. In: Dominé A et al (Hrsg): Culinaria. Könemann, Köln 1999
3.
Hegnauer R: Chemotaxonomie der Pflanzen, Band
9, Birkhäuser, Basel 1990
4.
Iscan G et al: Bioactive essential oil of Heracleum
sphondylium ssp. ternatum (Velen.) Brummitt.
Zeitschrift für Naturforschung 2003; 58c: 195-200
5.
Kugler F et al: Determination of free amino acid
compounds in betalainic fruits and vegetables by
gas chromatography with flame ionization and
mass spectrometric detection. Journal of Agricultural and Food Chemistry 2006; 54: 4311-4318
6.
Luczaj L: Dziko rosnace rosliny jadalne w ankiecie
Józefa Rostafinskiego z roku 1883. Wiadomosci
Botanicze 2008; 52: 39-50
7.
Luczaj L, Szymanski WM: Wild vascular plants
gathered for consumption in the Polish countryside: a review. Journal of Ethnobiology and Ethnomedicine 2007; 3: e17
8.
Luczaj L: Changes in the utilization of wild green
vegetables in Poland since the 19th century: a
comparison of four ethnobotanical surveys. Journal
of Ethnopharmacology 2010; 128: 395-404
9.
Maurizio A: Die Geschichte unserer Pflanzennahrung. Parey, Berlin 1927
10. Maurizio A: Geschichte der gegorenen Getränke.
Parey, Berlin 1931
11. Panek MK: Mikroby oraz chemizm kismenia barsczczu. (Bakteriologische und chemische Studien
über die „Barsczcz” genannte Gährung der roten
Rüben). Etude bacteriologique et chimique du
„barsczcz“ produit de la fermentation de la betterave rouge. Bulletin International de l’Academie des
Sciences de Cracovie 1906; 1: 5-45
12. Pieroni A, Gray C: Herbal and food folk medicines
of the Russlanddeutschen living in Künzelsau/
Thaläcker, South-Western Germany. Phytotherapy
Research 2008; 22: 889-901
13. Schilling H: Aufbruch und Krise. Deutschland 15171648 in: Siedler Deutsche Geschichte. Siedler,
Berlin 1994
14. Spigset O, von Scheele C: Levodopa dependence
and abuse in Parkinson’s disease. Pharmacotherapy 1997; 17: 1027-1030
15. Steller GW: Beschreibung von dem Lande Kamtschatka. JG Fleischer, Frankfurt 1774
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Kulinarisches Armageddon
Kannibalismus 19
von Monika Niehaus
Wenn es heute noch ein kulinarisches Tabu
gibt, dann ist es der Verzehr von Menschenfleisch. Was in Notlagen wie Flugzeugabstürzen mit Schaudern noch als überlebensnotwendig akzeptiert wird, gilt als unvorstellbar und unverzeihlich, wenn es beispielsweise um den netten Nachbarn von nebenan
geht. Dabei ist der sogenannte Gourmetkannibalismus ein weltweites Phänomen.26 Es
begleitet uns, seit unsere Vorfahren Steinwerkzeuge benutzen, und reicht bis weit
in die Neuzeit.4, 5, 6, 12, 13, 14, 15, 17, 34, 39 Warum
ist das so? Die Antwort erscheint ebenso
simpel wie verstörend: Weil’s schmeckt!
Rumpfes höben sie auf, um damit ihre süßen Kartoffeln zuzubereiten.“30 Auf den Fidschis und im Kongo wurde Menschenfleisch
gern konserviert, in der Karibik und auf den
Salomonen wurden Gefangene gelegentlich kastriert, das erhöhte den Masterfolg.35
Die Maori bevorzugten Gehirn, Schulter und Gesäß; die Xhosa in Natal begeisterten sich als wahre Gourmets für
den strengen Hautgout, den gut abgehangenes Menschenfleisch verströmt;
andere schätzten es in Öl mazeriert
oder in Bananenblättern gedünstet.35
Hier ein paar Kostproben aus der reichhaltigen Literatur über den Genuss von Menschenfleisch: Die Fidschi-Insulaner vergleichen Menschenfleisch (puaka balava,
Langschwein) mit Schweinefleisch (puaka
dina, Kurzschwein), und ziehen es sogar
der vierbeinigen „Kurzversion“ vor.10 Aber
auch die schwarzafrikanischen Völkergruppen der Baja, Pambia, Manjema, Wadai und
Haussa, um nur einige Beispiele zu nennen, ziehen Menschenfleisch allen anderen
Fleischsorten vor. Als man den südafrikanischen Basuto (heute: Sotho, eine Bantu-Ethnie) Rindfleisch anbot, um sie vom Kannibalismus abzubringen, wiesen sie das Angebot nach einer Kostprobe dankend zurück.3
Leibspeise
Die Frauen der Fore auf Neuguinea aßen
Menschen, weil sie „köstlich“ schmecken.26 Gleiches galt für Gesellschaften auf den Salomonen, auf der Inselgruppe Neukaledonien und in Neuseeland.
Ein neuseeländischer Häuptling namens
Touai, der um 1818 eine Zeit lang in London lebte, gesteht, am meisten vermisse er
„Menschenfleisch. Er sei es leid, englisches
Rindfleisch zu essen … Frauen- und Kinderfleisch schmecke für ihn und seine Landsleute am besten, während die Maori das eines 50-jährigen Mannes vorzögen und hierbei wieder einen Schwarzen lieber mochten
als einen Weißen. Seine Landsleute äßen
das Fleisch niemals roh, und das Fett des
Grillfeier
Kupferstich von Théodore de Bry aus dem Jahr 1593
nach der Erzählung «Voyage au Brésil» von J Le Moyne de Morgues 1562
Busenfreunde
In China sind im 11. Jahrhundert Menschenfleischrestaurants eine häufige Erscheinung, und die Gerichte aus den Schlachtkörpern von Männern, Frauen und Kindern haben spezielle Namen,35 während die Feinschmecker im modernen China im Laufe der
Kulturrevolution es vor allem auf die Leber
der „Klassenfeinde“ abgesehen hatten.39
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20 Kannibalismus
Die afrikanischen Baja-Könige am Albertsee aßen nur Frauen und Mädchen. AobaHäuptlinge (Neue Hebriden, heute Vanuatu) verzehrten nur die Brüste junger Mädchen, ebenso hielt es der tatarische Hochadel. Und in den 1960er Jahren verspeiste
der König von Süd-Kasai (international nicht
anerkannter Staat während der Kongo-Wirren) im Rahmen eines ausgedehnten Gela-
schweige denn bis in jüngste Zeit gibt, befinden Sie sich in guter Gesellschaft. Als der
Bioarchäologe Christy G. Turner 1967 behauptete, die Anasazi, prähistorische Pueblo-Indianer im Südwesten Nordamerikas, die bis dato als friedfertige Ackerbauern galten, seien Kannibalen gewesen, stieß er bei seinen Kollegen und Indianervertretern auf Empörung.17 Daran
sollte sich Jahrzehnte lang nichts ändern.
Hexenjagd
Genussmenschen
Ute Düll 2012
ges einen Minister und fünf Parlamentarier,
wie ein Pariser Wochenblatt berichtet. Den
1964 angestrengten Verleumdungsprozess
gegen das Blatt verlor Seine Majestät.35
Über Geschmack lässt sich bekanntlich trefflich streiten, doch in der Regel herrschte
folgender Konsens: Frauen und Kinder
schmeckten besser als Männer, Schwarze
besser als Weiße und junge Menschen besser als alte.3, 35 Wenn es eine Mahlzeit gibt,
die in allen Küchen der Welt gleich beliebt
war, dann gut zubereitete Artgenossen.
Damit lässt sich „Langschwein“ zweifelsohne als Weltküche bezeichnen, als wahres internationales Gericht, das uns Menschen kulinarisch einigt und unsere Kulturen schon seit Jahrtausenden begleitet – der älteste Nachweis für kulinarischen Kannibalismus stammt übrigens
aus Europa, aus einer altsteinzeitlichen
Höhle in Gran Dolina (Spanien), wo unsere Vorfahren bereits vor 800.000 Jahren diesem Genuss frönten.14, 15, 17
Wenn Sie jetzt immer noch nicht glauben
wollen, dass es so etwas jemals gab, ge-
Einer der Wortführer der KannibalismusSkeptiker ist der amerikanische Anthropologe William Arens, der in seinem Buch „The
Man-eating Myth“ (Der Mythos vom Menschenfresser)2 den Kannibalismus als Legende geißelte, der allein der Ausbeutung
der Naturvölker diene. Historische Augenzeugenberichte wie denjenigen von Hans
Staden, der Mitte des 16. Jahrhunderts über
Kannibalismus bei brasilianischen Indios berichtete,28 lehnte er als Seemannsgarn ab.
Aber Staden ist nicht allein: Vom 16. bis ins
19. Jahrhundert gab es so zahlreiche glaubhafte Beschreibungen von Augenzeugen unterschiedlicher Nationalitäten und Professionen, darunter der berühmte englische Entdecker James Cook, dass die globale Verbreitung des Kannibalismus damals zum
Allgemeinwissen gehörte.1, 9, 11, 16, 23, 28, 36, 37
Arens lehnt die Berichte von Augenzeugen
mit dem Hinweis ab, es sei noch nie von einem Anthropologen ein solcher Fall berichtet
worden. Das ist kaum verwunderlich, denn
dieses Fachgebiet begann sich erst Ende
des 19. Jahrhunderts zu etablieren. Dennoch berichtet einer der namhaftesten Vertreter der Zunft, Pierre Clastres,8 ausführlich von einem solchen Festmahl. Aber auch
handfeste materielle Beweise wie menschliche Knochenfunde, die verräterische Spuren
aufweisen, lassen die Kannibalismus-Skeptiker nicht gelten: Sie behaupten, es handele sich um die Überreste ritueller Bestattungen, kriegerischer Handlungen, Hexenhinrichtungen oder Opfer von Raubtieren.
Freitags frische Fischer
„Die Arbeit der katholischen Missionare in Neuguinea“, vertraute der amerikanische UN-Botschafter Adlai Stevenson
einmal dem Schauspieler und Spötter Peter Ustinov an, „beginnt Früchte zu tragen. Wie Statistiken zeigen, kommen freitags inzwischen vorwiegend Fischer auf
den Tisch.“33
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Das Ende eines Mythos
Um diesen Einwänden zu begegnen, stellte das Ehepaar Turner 1992
eine Reihe von Kriterien auf:
• Waren die menschlichen Knochen
absichtlich aufgebrochen,
• wiesen sie Schnittspuren auf,
• wurden sie gegart,
• zeigten sie Zeichen einer Bearbeitung
auf Amboss-Steinen,
• fehlten Wirbel oder waren sie zerdrückt
was auf die Extraktion von Fett und
Mark hinweist,
so könne man davon ausgehen, dass es
sich um Kannibalismus handelt.6, 31, 32
gische Pendant zu Clintons Ausspruch, er
habe die Marihuanazigarette zwar angezündet, aber nicht inhaliert“, spottete White.17
Kannibalismus 21
Inzwischen ist ein weiteres Kriterium für kulinarischen Kannibalismus hinzugekommen: Isabel Cáceres und ihr Team fanden in Spanien an menschlichen Wirbeln
und Rippen aus der Bronzezeit Zahnabdrücke und Nagespuren,6 die, wie Vergleichsuntersuchungen mit Schimpansen-Bissspuren24 zeigen, nicht von einem Raubtier, sondern von einem großen Primaten stammen – da bleibt im bronzezeitlichen Europa nur der Homo sapiens.
Aber selbst wenn es sich tatsächlich um
Kannibalismus handeln sollte, wandten
die Gegner ein, dann niemals zum Nahrungserwerb, sondern allein aus rituellen Gründen, ein Ahnenkult beispielsweise.
Also machten sich Turners Kollegin Paola
Villa und ihre Mitstreiter in Spanien erneut an die Arbeit und definierten Kriterien
für den gastronomischen Kannibalismus:
• Wenn menschliche und tierische Überreste in ähnlicher Weise zerlegt waren,
• die markhaltigen Röhrenknochen in
ähnlicher Weise aufgeschlagen wurden,
• wenn menschliche und tierische
Überreste auf demselben Müll landeten,
• die brauchbaren Stücke bei der Zubereitung ähnlich behandelt wurden,
so kann man davon ausgehen, dass
keine rituellen, sondern rein kulinarische Gründe vorlagen.6, 34
Die Gegner gaben nicht nach: Schön und
gut, aber es lasse sich schlicht nicht beweisen, dass menschliche und tierische „Haxen“ auf die gleiche Weise zubereitet worden seien. Doch, dies lasse sich sehr wohl
beweisen, konterte der Evolutionsbiologe
Tim D. White: Dies erkenne man am pot polishing (wörtlich „Kochtopf-Polieren“), eine
fettige Glätte, die die Endstücke von Knochen zeigen, wenn sie beim Umrühren ständig an der Wand von Tongefäßen schaben. Sie wurde an zubereiteten Tier- wie
Menschenknochen nachgewiesen.17, 38
„Manche … Anasazi und Neandertaler verarbeiteten ihre Kollegen. Sie häuteten sie, grillten sie, trennten ihre Muskulatur ab, durchtrennten ihre Gelenke,
brachen ihre Röhrenknochen mit Amboss und Hammersteinen auf, zermalmten ihre Schwammknochen und taten die
Stücke in einen Topf. Zu sagen, sie hätten
sie dann nicht gegessen, ist das archäolo-
Immer auf dem Sprung
Staden28 beschreibt sich als „Essen auf Abruf“, das jederzeit auf
dem Grill landen konnte. Auf diesem Holzschnitt nähert er sich mit
gebundenen Beinen dem Häuptling Cunhambebe. Die Indios rufen: „Da kommt ja unser Essen gehüpft.“
Vom Topf in den Nachttopf
Den Todesstoß versetzte den Kannibalismus-Skeptikern ausgerechnet ein rund 850
Jahre alter Koprolith (fossiles Exkrement),
den ein wohlgesättigter Anasazi nach dem
Mahl an seiner Herdstelle bei Cowboy Wash
in Colorado absetzte. Der Pathologe Richard
Marlar und seine Kollegen wiesen in diesem
Koprolithen humanes Myoglobin nach, ein
Eiweiß, das nur in der menschlichen Skelettund Herzmuskulatur vorkommt: Die Anasazi hatten Menschen also nicht nur zubereitet, sondern auch verzehrt, verdaut und ausgeschieden.22 Noch 1997 hatte der Archäologe Paul Bahn seinen Kollegen White herausgefordert: „Offen gesagt, sehe ich nicht,
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22 Kannibalismus
wie er das [i.e. kulinarischen Kannibalismus]
beweisen kann, es sei denn, man findet
ein Stück menschlichen Darm mit menschlichem Knochen oder Gewebe darin.“17
Drei Jahre später hatte er seinen Beweis.
Glaubenssachen
Der katholischen Kirche kann nicht völlig
entgangen sein, dass dieser Art des Nahrungskonsums auch bei uns gefrönt wurde
– warum sonst wurden hiesige Bußfertige in mittelalterlichen Beichtspiegeln regelmäßig nach Sünden wie dem Verzehr von Menschenfleisch gefragt?25
Natürlich untersagten Missionare auch ihren
Schäfchen diese Kost stets aufs Schärfste,
also frönten sie ihrer Tradition fürderhin im
Verborgenen. Im 19. Jahrhundert nehmen
die Augenzeugenberichte allmählich ab. Frei
nach dem Motto „Was nicht sein darf, das
nicht sein kann“ wurden und werden westliche Reisende und Forscher, die überzeugende Belege für Kannibalismus fanden, der
Verleumdung ursprünglicher Gesellschaften
geziehen. So warf man auch dem Pathologen Marlar vor, er würde mit dem Nachweis,
dass die Anasazi Kannibalen waren, die Indianer „entmenschlichen“. Brian Billman, der
leitende Archäologe der Koprolithen-Fundstelle, meinte dazu nur trocken: „So verhalten sich Menschen nun leider einmal!“–
sprich, das Auftischen von Artgenossen ist
ein typisches Merkmal unserer Spezies.19
William Arens ist Wissenschaftler genug, inzwischen zuzugeben: „Ich denke, die methodische Vorgehensweise ist solider geworden und es gibt heute mehr Belege für
Kannibalismus als zuvor.“17 Anders seine
Kollegin Andrea Zeeb-Lanz, die den steinzeitlichen Fundort im pfälzischen Herxheim
mitbetreut. In dieser Siedlung, die von nicht
einmal 100 Personen bewohnt worden war,
entdeckten die Archäologen die Überreste
von mehr als 1000 Opfern. „Mittlerweile wissen wir genau, dass Menschen nach einer
festgelegten Prozedur auseinandergenommen wurden“, so Zeeb-Lanz. „Zuerst wurden Arme und Beine abgetrennt, und beim
Zerlegen des Oberkörpers wurden die Rippen direkt an der Wirbelsäule abgeschnitten. All das entspricht der Zurichtung von
Schlachtvieh.”21 Dennoch lehnt Zeeb-Lanz
den Begriff Kannibalismus entschieden ab
und bemüht stattdessen das Transzendentale: „Vielleicht entwickelte sich eine neue
religiöse Bewegung, die sich in neuen außergewöhnlichen Ritualen manifestierte“.20
Schmeckt Menschenfleisch?
Offensichtlich - weil’s bekommt. Und warum bekommt’s? Weil’s fett ist. Wie wichtig die Versorgung mit tierischem Fett für
den Menschen schon immer war und noch
immer ist, zeigt die Muttermilch: Sie enthält fast vier Mal soviel Fett wie Eiweiß. Und
auch gut genährte Exemplare der Spezies
Homo weisen einen relativ hohen Fettanteil auf. Das ist den Liebhabern dieser Spezialität nicht verborgen geblieben, und so
weiß der deutsche Afrikaforscher Georg
Schweinfurth (1836–1925) über die Monbuttu zu berichten: „Von allgemeinstem Gebrauch indessen ist bei ihnen das Fett der
Menschen; dies [ist] für sie der Inbegriff aller ihrer kulinarischen Genüsse.27 Und so
waren es in der Regel auch die fettesten
Teile, die kulinarisch besonders begehrt waren – dementsprechend fanden die Brüste
der Frauen auch bei Tisch ihre Liebhaber.
„Es gibt kein Ding noch Speise“, so der Arzt
Gerolamo Manfredini im späten 15. Jahrhundert, „das zur Ernährung des Menschen geeigneter ist als das menschliche Fleisch“.7
Perfekt auf die artspezifische Physiologie
zugeschnittene Eiweiße und mehr Fett als
in jagdbarem Wild – diese physiologischen
Vorzüge registriert das Bauchhirn des Gourmets und signalisiert „lecker“. Das ist ernährungsphysiologisch so simpel, dass die
eigentliche Frage, die wir uns stellen sollten, nicht ist, warum Kannibalismus früher
allgemein verbreitet war, sondern warum
wir diesen Brauch weitgehend aufgaben.
Schwein gehabt!
Das Ende des kulinarischen Kannibalismus
wurde durch die Domestikation von Rindern,
Ziegen, Schafen und Schweinen eingeläutet.18 Die Versorgung mit tierischem Fett
besserte sich nämlich erst, als Haustiere domestiziert und gemästet wurden: Kuh und
Ziege geben fette Milch, Schaf und Schwein
ebensolches Fleisch. So ist eine der ältesten
Haustierrassen denn auch das Fettschwanzschaf, das selbst heute noch weltweit einen
Anteil von rund 25 Prozent aller Schafe hält.
Noch älter ist das Hausschwein, dessen Fleisch seit rund 9000 Jahren geschätzt wird, und wer eine fette Sau mit ihren schlanken wilden Kollegen vergleicht,
sieht auf dem ersten Blick, worauf es den
Verbrauchern ankam: aufs Fett. Völker, denen Kurzschwein & Co. eine sichere Versorgung mit Fett boten, konnten daher auf
„Langschwein in Kokosmilch“ verzichten
und Gefangene nutzbringender einsetzen.
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Wie eng fettes Vieh und Kannibalismus zusammenhängen, zeigt die Hochkultur der
Azteken. Da die Azteken praktisch kein Vieh
und somit auch keine Lasttiere hatten, perfektionierten sie den Kannibalismus und
transportierten ihre Nahrung als „wandelndes Vieh“ in Form von wohlgenährten Gefangenen in die Hauptstadt. Dazu der Anthropologe Marvin Harris: „Sie behandelten ihre Gefangenen auf dieselbe Art wie
die Farmer des Getreidegürtels im Mittelwesten ihre Mastschweine.“ Als eine Art Gulasch mit Pfeffer, Tomaten und Kürbisblüten mundete es den Azteken am besten. Die
Zahl derer, die Jahr für Jahr verspeist wurden, wird auf bis zu 250.000 geschätzt.18
Naschkatzen
Also alles Schnee von gestern? Nicht
ganz: Noch vor 100 Jahren wurden auch in
Deutschland Menschen konsumiert. Mumia
aegyptica vera war einst ein Renner in den
Apotheken; sie sollte, meist in Pulverform
verabreicht, vor allem bei Kranken und Kindern die gleichen wunderbaren Wirkungen
entfalten wie heute die Vitamine. Um den
Bedarf zu decken, wurden in Ägypten antike
Begräbnisstätten geplündert – dabei kamen
nicht nur mumifizierte Vorfahren in den Handel, sondern für ärmere Schichten auch einbalsamierte Ibisse, Katzen und Krokodile.
Doch da dies alles nicht reichte, widmeten
sich die Zulieferer vor Ort der Eigenfabrikation frischer Mumien, hergestellt aus Gefangenen oder Sklaven, die getötet, einbalsamiert und abgehangen wurden. Aber auch
hiesige Apotheker erkannten die geschäftliche Gunst der Stunde und fertigten die begehrte „Mumia“ im stillen Kämmerlein.7, 29
Für unsere Gesundheit sind wir offenbar bereit, auch über Leichen zu gehen – dann lieben wir unseren Nächsten nicht nur, wir haben ihn buchstäblich zum Fressen gern!
Literatur
Spezialitäten aus deutschen Apotheken
Gemahlene ägyptische Mumie
Medizinhistorisches Museum: Sammlung Kugener, Keramik nach hist. Vorlage 1997
Für Kulturen, die über Landwirtschaft, namentlich über eine effektive Tierhaltung verfügten, wurde der Kannibalismus als Methode der Nahrungsbeschaffung unwirtschaftlich. Nun war die Sklavenhaltung produktiver, denn ein Gefangener, der jahrzehntelang Schweine hütet, bringt mehr
Nutzen als ein einmaliges Festmahl. Da war
es dann an der Zeit, den Genuss von Menschenfleisch zu tabuisieren und Kannibalismus als barbarisch zu verdammen.18 Erst
mit dem Verzicht auf die traditionelle Spezialität konnte der Ekel vor Menschenfleisch
verinnerlicht werden, so wie sich viele Mitteleuropäer heute vor Hundespießchen, Katzenbraten oder Pferdewurst ekeln, die früher auch bei uns und heute noch anderenorts mit großem Genuss verspeist werden.
1.
Andrée R: Die Anthropophagie. Von Veit, Leipzig
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Bananen: Das Ende vom Lied
Bei der Banane hat der Kunde nicht wie beim Apfel die Wahl zwischen Cox Orange, Gravensteiner
oder Boskoop, sondern muss sich fast ausschließlich mit der Sorte „Cavendish“ begnügen. Da sie
geschmacklich akzeptiert wird und sich auch noch
unbeschadet über die Weltmeere transportieren
lässt, wäre dies eigentlich nicht weiter schlimm.
Leider geht die Sorte langsam in die Knie, denn
ihr setzen immer mehr Schädlinge zu.
Mittlerweile hat nicht nur der Bananenrüsselkäfer (Cosmopolites sordidus) aus Südostasien den
Sprung in die lateinamerikanischen Anbauzentren geschafft, auch Bananenwurzelnematoden (Radopholus similis), Pilzerkrankungen wie die
Schwarze Sigatoka (Mycosphaerella fijiensis) und
diverse von Fusarien ausgelöste Welkekrankheiten setzen „Cavendish“ immer heftiger zu.
Ertragseinbußen begegnet man daher mit einem
immensen Pestizideinsatz. Dies schadet nicht
nur den Plantagenarbeitern und der Umwelt, es
verursacht auch hohe Kosten.
Wenn eine Sorte verbraucht ist, wird sie gegen
eine neue, schädlingsresistente ausgetauscht. So
löste auch „Cavendish“, die Anfang der 1950er in
Südchina entwickelt wurde, die bis dahin übliche
„Gros Michel“ ab. Ein würdiger Nachfolger für
„Cavendish“ ist noch nicht in Sicht. Experten befürchten, dass die Sorte schon in wenigen Jahren
ausgemustert werden muss, falls es nicht gelingt,
sie mit neuen Resistenzgenen aufzurüsten.
Beim Apfel würde man neuen Krankheiten und
Schädlingen mit Resistenzzüchtung begegnen,
indem man entsprechende Gene einkreuzt. Doch
bei der Banane ist das wesentlich schwieriger.
Denn die Früchte bilden sich parthenocarp, d.h.
sie entstehen ohne Befruchtung. Deshalb enthalten sie auch keine Samen. Die Blüten der meisten
Kulturbananen sind steril. Deshalb kann man verschiedene Bananen auch nicht miteinander kreuzen, um neue, bessere Sorten zu erzielen.
Da die zahlreichen und harten Samen der Stammformen die Obst-Banane ungenießbar machen
würden, musste man die Stauden seit Anbeginn
der Kultur vegetativ durch Schößlinge vermehren. Die „Cavendish“-Stauden stammen von
einem einzigen Klon ab und haben daher alle
das gleiche Genom – ein gefundenes Fressen für
Schädlinge jeder Couleur. Wollte man warten, bis
bei den Pflanzen in absehbarer Zeit von selbst
passende Mutationen auftreten, die zu Resistenzen führen, kann man genauso gut auf einen
Sechser im Lotto hoffen.
Facts &
Artefacts
Bisher griff man vor allem zur Mutationszüchtung,
um das Erbgut der Pflanze zu verändern. Meist
benutzt man als Strahlungsquelle das radioaktive Cobalt 60. Die bestrahlten Schösslinge werden dann normal vegetativ vermehrt, ausgepflanzt
und geprüft. Natürlich lassen sich mit der Mutationszüchtung alle möglichen Eigenschaften beeinflussen, allerdings erfordert dies die Bestrahlung
einer riesigen Zahl von Proben, und dann heißt
es, auf einen glücklichen Zufall zu hoffen. Aktuell
versuchen lateinamerikanische Wissenschaftler
dem Windbruch bei der Banane mit Gammastrahlen beizukommen. Tropische Stürme verursachen
in den Erzeugerländern erhebliche Verluste, und
niedrigere Stauden bieten dem Wind naturgemäß
weniger Angriffsfläche.
Manchmal hilft auch die Suche nach historischen
Sorten weiter. Unter der Leitung von Andreas
Bürkert entdeckten Wissenschaftler von der Universität Kassel 2009 im Oman eine ursprüngliche, vermutlich aus Indien stammende Sorte.
Diese reagiert auf den Befall mit dem Bananenrüsselkäfer mit einer verstärkten Produktion von
Phenylphenalenonen. Und diese Phytoalexine bekommen den Insekten gar nicht. Zumindest ließe
sich damit eines der Schlaglöcher im Genom der
Banane ausbessern.
Doch im Falle der „Cavendish“ ist es praktisch
aussichtslos, sie ohne Gentechnik mit den Erbanlagen der Omanbanane auszustatten, denn
eine Bestäubung der sterilen Blüten bleibt ein
fruchtloses Unterfangen. Und ob Kreuzungsprodukte der Omanbanane mit Sorten, die fruchtbare Blüten tragen, in Farbe, Form, Nährwert,
Größe und Geschmack in absehbarer Zeit an
„Cavendish“ heranreichen werden, ist eher unwahrscheinlich. Hier bahnt sich ein ernsthafter
Zielkonflikt an: Wenn der deutsche Verbraucher
auch künftig auf seiner gewohnten Banane und
der Forderung nach Gentechnikfreiheit besteht,
sollte er sich wieder regionalen Früchten wie Mispeln, Sanddorn oder Hagebutten zuwenden.
Literatur
Bermúdez-Caraballoso I et al: Mutant plantains (Musa spp.)
with height reduction obtained by in vitro mutagenesis. Euphytica 2010; 176: 105-112
Bürkert A et al: Ecology and morphological traits of an ancient
Musa acuminata cultivar from a mountain oasis of Oman. Genetic Resources and Crop Evolution 2009; 56: 609-614
Sun D et al: Cloning and analysis of Fusarium wilt resistance
gene analogs in ‘Goldfinger’ banana. Molecular Plant Breeding 2009; 7: 1215-1222
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26
Facts &
Artefacts
Verbortes Mineralwasser
Mineralwasser wird aufgrund
seines Gehaltes an Mineralien
geschätzt. Leider können sich
darunter auch allerlei giftige Stoffe
befin­den. Denn in den unterirdischen Was­seradern kommt das
edle Nass auch mit mineralischen
Giften in Be­rührung. Dazu zählt
das Element Bor. Verbindliche
Grenzwerte fehlen. Natürliche
Mineralwässer ent­h al­t en teilweise zehnmal mehr Bor als die
WHO für Trinkwasser ver­t ret­bar
hält. (Journal of Consumer Protection
and Food Safety 2010; 5: 459-463)
Warnung vor Probiotika
Kalifornische Pharmazeuten warnen vor dem Einsatz von Probiotika bei Patienten, die unter einer
Infektion mit Clostridium difficile
leiden. Dabei seien eine Reihe
von sekundären Fungämien durch
den probio­tischen Keim Saccharomyces bou­lar­dii aufgetreten.
(Emerging Infectious Diseases 2010; 16:
1661-1665)
Süße Weine
Die Beobachtung von Winzern,
dass Weine auch unabhängig von
der Zuckermenge eine gewisse
Süße entwickeln können, stieß bei
Chemikern bislang eher auf Kopfschütteln. Jetzt zeigte sich, dass
bei der Autolyse von Wein­hefen in
der Tat süße Peptide freigesetzt
werden. (Journal of Agricultural and
Food Chemistry 2011; 59: 2004-2010)
Asthma durch Baden
Das Umweltbundesamt weist da­
rauf hin, dass Kinder durch ge­
chlortes Wasser beim Baby­schwim­
men eine Prädispositon für Asthma
entwickeln können. Verantwortlich dafür scheint Trichlor­amin zu
sein. Aufgrund der hygienischen
Risiken kann jedoch auf eine Desinfektion des Badewassers nicht
verzichtet werden. (Bundesgesund-
heitsblatt 2011; 54: 142-144)
Folsäure wichtige Krebsursache
Baggott JE et al: Meta-analysis of cancer risk in folic acid supplementation trials.
Cancer Epidemiology 2012; 36: 78-81
Folsäure gilt als Vitamin, weil es ein Methylgruppendonator ist. Das
bedeutet auch, dass es die DNA methylieren kann. Unter Toxikologen gilt dies definitionsgemäß als Voraussetzung für eine krebsfördernde Wirkung. Aus dieser Logik heraus werden Folsäure-Blocker
(Antifolate) zur Therapie von Krebs, namentlich Brustkrebs verordnet. Das bekannteste Medikament dieser Art ist Methotrexat.
Bei einer Recherche in der Datenbank Pubmed wurden zum Thema
Folsäure und Krebs mehr als 1100 Studien identifiziert. Der Datenmüll enthielt immerhin sechs große prospektive Studien von über
einem Jahr Dauer, die zur Auswertung herangezogen werden konnten. Wurden supplementierte Personen mit den Placebogruppen
verglichen, lag die Krebsrate mit Folsäure im Schnitt um etwa 20
Prozent höher. Das Konfidenzintervall betrug 1.05 – 1.39. Demnach
sollte das Resultat verwertbar sein. Bei der Analyse zeigte sich weiter, dass die Krebsrate mit der Dauer der Einnahme anstieg.
Anmerkung: Da der Verkauf von Folsäure erhebliche finanzielle
Vorteile verspricht, ist zu erwarten, dass die Originaldaten tendenziell
zugunsten der Supplementierung verzerrt wurden. Insofern wird der
krebsfördernde Effekt der Folsäure derzeit wohl noch unterschätzt.
Das Max-Rubner-Institut warnt in einer Pressemitteilung vor Multivitaminsäften, da die Folsäure überdosiert würde, um bei Erreichen
des Mindesthaltbarkeitsdatums noch die deklarierten Mengen aufzuweisen. Dadurch würde die tolerierbare Tagesdosis überschritten.
(MRI: Frisch abgefüllt – schnell überdosiert. Pressemitteilung vom 12.3.2012)
Kräuter statt Bier
Begemann K et al: Ärztliche Mitteilungen bei Vergiftungen 2010. BfR, Berlin 2012
Junge Menschen sind naturgemäß daran interessiert, die Welt und
ihre Wunder zu erforschen. Dazu gehören auch Erfahrungen mit bewusstseinserweiternden Drogen. Selbstredend achten sie darauf,
möglichst risikoarme und legale Produkte auszuprobieren. Aufgrund
des guten Rufes von Kräutern stoßen „Kräutermischungen“ auf reges Interesse; namentlich Mixturen, die laut Etikett Bestandteile des
Großblättrigen Löwenohrs, des Sibirischen Löwenschwanzes, des
Falschen Marihuanas oder des Indian Warriors enthalten sollen.
Diesen Pflanzen werden im Internet psychodelische Effekte nachgesagt. Als Mischung gelangen sie meist unter dem Namen „Spice“
oder als „Räuchermischung“ in den Handel. Da Kräutern nichts illegales anhaftet, finden sie lebhaften Zuspruch.
Allerdings enthalten die Mixturen in aller Regel nicht die deklarierten
Bestandteile, sondern allerlei Laubwerk, dem synthetische Cannabinoide aufgesprüht wurden. Dadurch kommt es zu einer Rauschwirkung, wenn sie als Tütchen geraucht, als Tee getrunken oder
per Wasserpfeife inhaliert werden. Da einige dieser synthetischen
Cannabinoide eine höhere pharmakologische Potenz aufweisen als
THC, der Hauptwirkstoff von Haschisch, werden immer wieder Vergiftungen beobachtet.
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Facts &
Artefacts
Gedeckelte Garnelen
Van Poucke C et al: Investigation into the possible natural occurence of semicarb­
azide in Macrobrachium rosenbergii prawns. Journal of Agricultural and Food
Chemistry 2011; 59: 2107-2112
Die belgische Lebensmittelüberwachung wunderte sich, dass sie
im Gegensatz zu anderen Ländern immer wieder Felsengarnelen
(Giant Prawns) wegen Semicarbazidrückständen beanstanden
musste. Semicarbazid wurde der deutschen Öffentlichkeit vor einigen Jahren als Rückstand in Babykostgläschen bekannt. Man benötigte die Substanz, um geschäumte Deckel luftdicht abschließen
zu können. Darüber hinaus ist sie auch ein Abbauprodukt von Nitrofuranen. Die wiederum werden (oftmals illegal) gegen bakterielle
Infektionen bei Geflügel und Garnelen eingesetzt.
Zunächst zeigte sich, dass die Untersuchungsergebnisse in anderen Ländern deshalb günstiger ausfielen, weil dort nur das Fleisch
untersucht wurde, während die belgischen Chemiker auch die Panzer unter die Lupe nahmen. Darin sind die Semicarbazid-Gehalte
aber um ein Vielfaches höher als im Fleisch. Es gab aber noch eine
Überraschung: Garnelen, die für experimentelle Zwecke in nitrofuranfreiem Wasser gehältert wurden, bildeten selbst ein klein wenig
Semicarbazid. Damit handelt es sich bei dem Umweltgift gleichermaßen um einen Naturstoff.
Hungertod durch Heilpflanzen
Gurley ES et al: Fatal outbreak from consuming Xanthium strumarium seedlings
during time of food scarcity in northeastern Bangladesh. PLoS ONE 2010; 5: e9756
In Bangladesh kam es im Gefolge der schweren Überschwemmun­
gen zu zahlreichen Todesfällen durch ungewöhnliche Lebensmittelvergiftungen. Um ihren Hunger zu stillen, aßen die Menschen
eine beliebte und universell genutzte Heilpflanze, die Gewöhnliche
Spitzklette (Xanthium strumarium). Ihre Blätter werden mancherorts
als Gemüse konsumiert und ihre Samen bei Nahrungsmangel oft
zu Mehl und Brot verarbeitet.
Die Pflanze enthält als toxisches Wirkprinzip Carboxyatractylosid.
Durch eine Überdosis kam es bei zahlreichen Personen zu Erbrechen, Leberschäden und neurologischen Symptomen, die zunächst
zu Bewusstlosigkeit und schließlich zum Tode führten.
Anmerkung: Auch wenn in deutschen Lehrbüchern fleißig die Mär
von Vitaminmangelzuständen bei Hungersnöten verbreitet wird,
handelt es sich meist um Vergiftungen, entweder weil die Menschen Verschimmeltes und Verdorbenes essen oder weil sie in ihrer Not ihre Mägen mit Wildkräutern und fragwürdigen Sämereien
füllen.
Dass hier Vitamine helfen können, hat ganz andere Gründe: Bei
manchen Toxinen, insbesondere bei einigen Schimmelpilzgiften,
haben sich einige Vitamine – vor allem aus der B-Gruppe – als Gegenmittel erwiesen.
Ballaststoffe floppen
Eine niederländische Langzeitstudie, die Männer und Frauen im
Alter von 13 bis 36 Jahren untersuchte, fand keinen Zusammenhang zwischen der Ballaststoffaufnahme und der Häufigkeit
des Metabolischen Syndroms.
Ballaststoffe konnten weder Insulinsensivität noch Übergewicht
positiv beeinflussen. (Journal of
Human Nutrition and Dietetics 2010;
23: 601-608)
Süßer Schwindel
Der Süßstoff Sucralose hat eine
bit­tere Nebenwirkung: Er reagiert
schnell und effektiv mit Vitamin B12.
Da viele gesundheitsbewusste Zeitgenossen auf tierische
Lebensmittel ver­zichten, sind sie
grenzwertig damit versorgt. Die
Verwendung von Su­cralose dürfte
also nicht ohne Fol­gen bleiben.
(Food & Chemical Tox­icol­ogy 2011;
49: 750-757)
Synthetisches HDL
Die Pharmaindustrie will der
Arteriosklerose künftig mit Lipoprotein-Mimetika Paroli bieten. Das
sind Stoffe, die beispielsweise
das HDL-Cholesterin nachahmen.
Mittels Nanotechnologie sollen nun
anorganische HDL-Partikel erzeugt
werden. Mit diesem enormen Aufwand hofft man die Wirkung des
Cholesterins auf synthetischem
Wege zum Vorteil des Patienten
nachahmen zu können. (Trends in
Molecular Medicine 2010; 16: 553-560)
Melamin in Gemüse
Nicht nur Milch wird in China mit
Melamin verfälscht, auch bei Düngemittel soll so ein höherer Stickstoffgehalt vorgetäuscht werden.
Das brachte Forscher auf die Idee,
einmal zu prüfen, ob Pflanzen entsprechende Rückstände enthalten. In der Tat können Pflanzen
Melamin aufnehmen, aber nicht
wei­ter verstoffwechseln. (Zhongguo
Turang Yu Feiliao 2010 (1) 11-18)
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28 Besondere
Erkenntnis
Ferkel auf’m
Pott
Die taiwanesische Regierung subventioniert den
Bau von Toiletten – und zwar für die Schweine
des Landes. Bei den Klos handelt es sich um 20
Zentimeter hohe Stahlkisten mit einem Gitterrost als Deckel, die täglich geleert werden. Sie
erinnern ein wenig an das klassische Ein-EimerSystem, wie es vor den Zeiten der Kanalisation
bei uns verbreitet war.
Nun muss das Borstenvieh aber erst noch davon überzeugt werden, auf die Toilette zu gehen. Um die Ferkel auf den Geschmack zu
bringen, wird die Stahlkiste beim ersten Mal mit
etwas Kot gefüllt, bevor die Ferkel aufgestallt
werden. In den ersten Tagen ist es erforderlich,
den Boden des Stalles gründlich zu reinigen.
Sobald alle Ferkel gelernt haben, auf ihre Klokiste zu klettern, bevor sie ihr Geschäft verrichten, klappt es dann von ganz alleine. Der Sinn
der Übung sind Wassereinsparungen von bis
zu 80 Prozent. (Anon: Toiletten für Schweine. DLGMitteilungen 2011; H.4: 9)
Suche Job – Finde Ernährungsberaterin
So langsam scheinen den Volkserziehern die Beratungswilligen auszugehen, oder wie kommt man
sonst auf die Idee, gerade im Arbeitsamt auf Kundenfang zu gehen?
Ein Forscherteam der Univeristät Greifswald jedenfalls sieht hier großes Potential. Es befragte
fast 800 Arbeitslose, die gerade zum Beratungsgespräch ins Arbeitsamt trotteten. Ergebnis: Arbeitslose rauchen mehr, trinken mehr und greifen
häufiger zu illegalen Drogen. Noch dazu sind sie
etwas kräftiger gebaut, schließlich suchen mehr
Bauarbeiter einen neuen Job als Bankdirektoren.
Der BMI ist zudem, welch erstaunliche Erkenntnis,
bei älteren Personen höher als bei jüngeren. Und
die Alten sind auch nicht wirklich sportbegeistert.
Danach befragt, wie sie ihre eigene Gesundheit einschätzen, antworteten knapp 10 Prozent
der Arbeitslosen, ihre Gesundheit wäre exzellent, über 20 Prozent fühlten sich sehr gesund,
50 Prozent gesund. Lediglich 13 Prozent beurteilten ihre Gesundheit als passabel und weniger als 5 Prozent als schlecht. Eigentlich
sollte das die ForscherInnen froh stimmen. Demnach beeinträchtigen weder die Arbeitslosigkeit noch der Verzicht auf Äpfel das gesundheitliche Selbstwertgefühl nennenswert. Man hätte
Schlimmeres erwartet, zumal Sozialwissenschaftler gern beklagen, dass Arbeitslose häufiger krank
sind und deshalb eine sozialpädagogische Betreuung benötigen.
Wie dem auch sei. Mit diesem Ergebnis ist es
schwierig, einen großartigen Beratungsbedarf zu
begründen. Da hilft nur noch die Statistik. Also
splittete man die Probanden flugs in zwei Gruppen. In der Gruppe 1 (bessere Gesundheit) waren nur Personen, die ihre Gesundheit als ex-
zellent oder sehr gut beurteilten. Das trifft für ein
knappes Drittel der Teilnehmer zu. Die Gruppe derer, die ihre Gesundheit als „gut“ einschätzten – immerhin die Hälfe aller Teilnehmer – wurde
in „schlechtere Gesundheit“ umdefiniert und mit
dem Rest in einen Topf geworfen. Und schon waren die Übergewichtigen, Inaktiven und Gemüsemuffel mehrheitlich in dieser Gruppe zu finden.
Damit ließen sich wiederum 2/3 der Arbeitslosen
als „beratungsbedürftig“ definieren.
Die Forscher waren begeistert, dass fast 80 Prozent der angesprochenen Personen die Befragung
mitmachten – versuchen Sie das mal in einer Fußgängerzone! Auf die Idee, dass die Menschen froh
sind, wenn sie bei dem unangenehmen, meist
frustrierenden, mit viel Warterei verbundenen
Gang zum Arbeitsamt ein bisschen auf andere
Gedanken kommen, sind sie wohl nicht gekommen. Dafür machte diese Erfolgsquote übermütig. Jetzt empfehlen die Forscher, den Arbeitslosen im Job-Center mitzuteilen, wie schlecht es
ihnen geht und sie anschließend mit mit Gesundheitserziehungsmaßnahmen zu traktieren, wenn
Sie denn schon mal da sind. Denn zum Arbeitsamt müssen sie immer wieder und sind insofern
leichte Beute.
Dabei wäre es für die Ernährungs- und GesundheitsberaterInnen aus Gründen der Prävention sicherlich gesünder, sie würden, statt in den langen
Gängen der Arbeitsämter ihren Opfern aufzulauern, regelmäßig zu körperlicher Gartenarbeit
an der frischen Luft im öffentlichen Grün herangezogen. Dort könnten sie beiläufig auch die vielen gesunden Kräuter naschen, die sie ihrer Kundschaft so gern an die Leber legen.
Freyer-Adam J et al: Health risk factors and self-rated
health among job-seekers. BMC Public Health 2011, 11: e
659
EU.L.E.N-SPIEGEL • Nr. 1 / 2012 • © EU.L.E. e.V. • www.das-eule.de