Die Ursprünge des bürgerlichen Trauerspiels im 18. Jahrhundert

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Die Ursprünge des bürgerlichen Trauerspiels im 18. Jahrhundert
Technische Universität Darmstadt
Institut für Sprach- und Literaturwissenschaft
HS Aufklärung kompakt
Prof. Dr. Luserke-Jaqui
SoSe 2008
Die Ursprünge des bürgerlichen Trauerspiels im
18. Jahrhundert
Sven Schmidtsdorf
Straße, Hausnummer
PLZ Ort
Email-Adresse
Studiengang
Fachsemester
Matrikel-Nr.: XXXXXX
Modulnummer: XXXXXX
-1-
Inhalt
1.
Einleitung – Zielsetzung der Arbeit
S. 2
2.
Darstellungsteil
S. 3
2.1
Die Wurzeln der Gattungsbezeichnung „bürgerliches Trauerspiel“
S. 3
2.2
Merkmale und Theorien des bürgerlichen Trauerspiels
S. 5
2.3
Die Frage nach dem ersten deutschen bürgerlichen Trauerspiel
S. 9
2.4
Das bürgerliche Trauerspiel am Beispiel von Lessings
„Miß Sara Sampson“
S.11
3.
Schluss – Zusammenfassung der Ergebnisse
S.12
4.
Literaturverzeichnis
S.13
-2-
1. Einleitung – Zielsetzung der Arbeit
In dieser Arbeit sollen die Ursprünge des bürgerlichen Trauerspiels in Deutschland im 18.
Jahrhundert dargestellt und beleuchtet werden. Hierzu ist zunächst zu klären, was in dieser
Zeit unter der Gattungsbezeichnung zu verstehen war und welche ursprüngliche, historische Entwicklung diese durchlaufen hat. Hierbei geht es natürlich nicht um eine sprachwissenschaftliche Analyse der Worte, sondern vielmehr um die inhaltliche Bedeutung der
Bezeichnung. Dazu wird es auch notwendig sein, die Inspiration der ersten deutschen bürgerlichen Trauerspiele durch ausländische Werke ihrer Art darzulegen.
Die Untersuchung der Funktion und Wirkung der Gattung „bürgerliches Trauerspiel“ erfolgt mit besonderem Augenmerk auf einen Text mit dem Titel „Vom bürgerlichen Trauerspiele“, welcher 1755 anonym in der Zeitschrift „Neue Erweiterungen der Erkenntnis und
des Vergnügens“ veröffentlicht wurde. Als Verfasser des Aufsatzes konnte inzwischen
Johann Gottlob Benjamin Pfeil von Alberto Martino ausgemacht werden.1 Die Abhandlung
„Vom bürgerlichen Trauerspiele“ wurde als eine Grundlage für diese Arbeit ausgewählt,
da sie „die erste systematische Abhandlung über die Theorie des neuen Genres“2 darstellte.
Bei Betrachtung des Themas stellt sich sogleich die Frage nach dem wirklich ersten deutschen Werk der Gattung. Gotthold Ephraim Lessings „Miss Sara Sampson“ wird häufig
und gerne als das erste deutsche bürgerliche Trauerspiel bezeichnet. Bereits auf dem Klappentext der Reclam-Ausgabe ist zu lesen: „es war das erste deutsche bürgerliche Trauerspiel“3. Diese Aussage soll im Folgenden dieser Arbeit näher geprüft werden. Unabhängig
davon, ob sich diese Aussage bewahrheitet oder widerlegt werden kann; zweifelsohne ist
Lessings „Miss Sara Sampson“ eines der ersten, populärsten und noch heute weit verbreiteten Trauerspiele in Deutschland.4 Am Beispiel dieses Dramas sollen daher in einem weiteren Teil der Arbeit einige Besonderheiten und typische Merkmale des bürgerlichen Trauerspiels betrachtet und untersucht werden.
1
Vgl. Luserke: Bändigung der wilden Seele, S.145.
Guthke: Bürgerliche Trauerspiel, S.5.
3
Lessing: Miss Sara Sampson.
4
An dieser Stelle soll festgehalten werden, dass sich nach Karl S. Guthke „unter dem Stichwort ‚bgl. Tr.’
eigentlich nur vier Dramen im kollektiven Gedächtnis der Gebildeten erhalten haben: ‚Miß Sara Sampson’,
‚Emilia Galloti’, ‚Kabale und Liebe’ und ‚Maria Magdalena’.“ (Guthke: Bürgerliche Trauerspiel, S.1.)
2
-3-
2. Darstellungsteil:
2.1 Die Wurzeln der Gattungsbezeichnung „bürgerliches Trauerspiel“
Die Bezeichnung „bürgerliches Trauerspiel“ tauchte zum ersten Mal 1750 in einer von
Lessing und Christlob Mylius herausgegebenen Zeitschrift mit dem Titel „Beyträge zur
Historie und Aufnahme des Theaters“ auf. Darin wurde ein Artikel über Voltaires Tragikomödie „Nanine“ (1749) abgedruckt, welcher selbst eine Übersetzung aus dem Französischen darstellte. Im Original fand der französische Terminus „tragédie bourgeoise“ Verwendung, welcher bereits Jahre zuvor gebraucht wurde. Vermutlich handelte es sich bei
dieser frühen französischen Verwendung um eine Bezeichnung für eine Gattung, die
Scherz und Ernst vereinte.5
In Deutschland blieb der Begriff „bürgerliches Trauerspiel“ in den folgenden 1750er Jahren noch vielfach unbestimmt und der Bedeutungsinhalt teilweise schwankend und verwirrend, sodass zunächst keine wirklich allgemein gültige Verwendung ausgemacht werden
konnte. So wurden mit diesem Namen „Komödie[n] bezeichnet, in der Personen auftreten,
die nicht heroisch aber auch nicht pöbelhaft sind“6. Auch wurde der Ausdruck zunächst
„bedeutungsidentisch mit dem rührenden Lustspiel“7, als Alternative zu „Tragikomödie“
oder aber als äquivalent zu „comédie larmoyante“ verwendet.
Eine weitere Schwierigkeit mit dem Begriff „bürgerliches Trauerspiel“ tritt in Verbindung
mit der Wortbedeutung von „bürgerlich“ auf. So meint „bürgerlich […] also nicht primär
den Stand, sondern die Lebensweise, die Gesinnung“8, stellte Karl Guthke fest. „Bürgerlich“ kann demnach soziologisch auf den Stand der Bürgerlichen verweisen, aber auch als
allgemeine Bezeichnung für „privat, häuslich, familiär im Gegensatz zum GeschichtlichPolitischen, Öffentlichen und Heroischen“9 verwendet werden. Hierbei muss jedoch zwischen der Herkunft der bürgerlichen Trauerspiele unterschieden werden, um die eigentliche Hauptbedeutung von „bürgerlich“ erkennen zu können. In George Lillos Drama „The
London merchant“, welches von Henning Adam von Bassewitz als „Der Kaufmann von
London“ übersetzt wurde, hat „bürgerlich“ – aufgrund seines englischen Ursprungs – einen
sozialständischen Sinn. Bei Lessings „Sara Sampson“ dagegen spielt der Standesbegriff im
„bürgerlichen“ eine deutlich untergeordnete Rolle. Hier bezeichnet dieser vielmehr die
5
Vgl. Guthke: Bürgerliche Trauerspiel, S.5-6.
Wierlacher: Bürgerliche Drama, S.32.
7
Guthke: Bürgerliche Trauerspiel, S.6.
8
Ebd., S.13.
9
Ebd., S.9.
6
-4-
Darstellung der Charaktere, also als menschliche Personen mit ihren privaten, häuslichen
und familiären Problemen oder Schicksalen. Der „soziologische Sinn [von ‚bürgerlich’
kann] nur auf die Situation in England bezogen werden […], wo die gesellschaftliche und
ökonomische Emanzipation entschiedenere Formen angenommen hatte als in den deutschsprachigen Territorien.“10 – Es kann also festgehalten werden, dass nach Guthke das Wort
„bürgerlich“ im „bürgerlichen Trauerspiel“ keineswegs zwangsläufig die Standeszugehörigkeit der handelnden Personen widerspiegelt, sondern – besonders im deutsprachigen
Raum – vornehmlich die Inhalte der Dramen nach ihrer Qualität beschreibt.
Das bereits erwähnte Drama „The London merchant“ von George Lillo wurde 1731 in englischer Sprache geschrieben und später zunächst von Clément als „Le Marchand de
Londres, ou l’histoire de Georg Barnwell“ in das Französische übersetzt. Henning Adam
von Bassewitz übersetzte wiederum das Werk, ausgehend von der französischen Übersetzung, in die deutsche Sprache. Es wurde in Deutschland 1752 als „Der Kaufmann von
London, oder Begebenheiten Georg Barnwells“ veröffentlicht.11 Lillos Drama gilt heute
„als wichtigster Prototyp des bürgerlichen Trauerspiels“12, da es bereits wichtige und entscheidende Merkmale der neuen Gattung aufweist. Diese galten zur Zeit der Veröffentlichung als ungebräuchlich und neu. Die handelnden Personen stammen allesamt aus dem
bürgerlichen Stand, die Sprache ist durchgängig in Prosa gehalten und mit seinen wechselnden Schauplätzen und der mangelnden Zeiteinheit verstößt es gegen die klassische
Dramennorm. Die dargestellte Handlung ist lebensnah, wahrscheinlich und realistisch und
überrascht mit seiner „strafbaren Handlungen auf dem Hintergrund bürgerlichen Lebens
[…, welche] ein fast rein kriminalistisches Drama“13 ergibt. „Der Kaufmann von London“
erzielte beim deutschen Publikum eine beeindruckende Wirkung, setzte Gefühle frei und
konnte durch die Erzeugung von Mitleid den Zuschauern viele Tränen entlocken.14
2.2 Merkmale und Theorien des bürgerlichen Trauerspiels
Kommen wir nun zu der Frage, was das bürgerliche Trauerspiel ausmacht. Was sind die
Kennzeichen und Besonderheiten, um eine eigene Gattungsbezeichnung zu erlangen? Na10
Ebd., S.10.
Vgl. Daunicht: Entstehung des bürgerlichen Trauerspiels, S.209-231.
12
Alt: Aufklärung, S.208.
13
Daunicht: Entstehung des bürgerlichen Trauerspiels, S.219.
14
Vgl. Daunicht: Entstehung des bürgerlichen Trauerspiels, S.209-231.
11
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türlich kann man nicht davon ausgehen, dass sich die entsprechenden Werke fast selbstständig und intuitiv mit dem Titel schmücken oder aber, dass in ihnen „überall Gesinnung
und Lebensgefühl des Bürgertums zum Ausdruck komme“15, so wie es Guthke provokant
formulierte. Bereits die damaligen Vertreter und Theoretiker der Gattung beschäftigten
sich mit dieser Fragestellung. Nach und nach wurden zu Beginn der 1750er Jahre die ersten Versuche unternommen, die Bezeichnung „bürgerliches Trauerspiel“ genauer zu fassen
und theoretisch zu bestimmen.
Lessing konnte in der Vorrede aus der „Theatralischen Bibliothek“ (1754) erstmals dem
Terminus eine klarere Bedeutung zuweisen. „Ein ‚bürgerliches Trauerspiel’ ist für Lessing,
anders als für Gottsched und Schlegel, keine Fortentwicklung der Komödie, sondern eine
modifizierte Variante der alten Tragödie. Seinen Ursprung markiert das tragische Genre,
nicht das komische“16.
Johann Gottlob Benjamin Pfeil präsentiert 1755 mit seiner Abhandlung „Vom bürgerlichen
Trauerspiele“ erste theoretische Überlegungen zur neuen Gattung. Gleich zu Beginn des
Textes bricht der Verfasser mit den Beschreibungen des Trauerspiels nach Aristoteles, wonach nur vornehme und hochgestellte Personen die Hauptrolle in einem solchen ausfüllen
könnten. Vielmehr ist für Pfeil das bürgerliche Trauerspiel „die Nachahmung einer Handlung […], wodurch eine Person buergerlichen Standes auf dem Theater als ungluecklich
vorgestellt wird.“17 Allgemein erklärt Pfeil weiter, „ist die Hauptabsicht des Trauerspiels
[…], Schrecken und Mitleid zu erwecken, oder wenn man lieber will, die Tugend auch
ungeachtet ihres Ungluecks liebenswuerdig und das Laster allezeit verabscheuungswuerdig
vorzustellen.“18 Dies trifft zunächst auf alle Trauerspiele zu; erst im weiteren Verlauf des
Textes wird das bürgerliche Trauerspiel gegenüber dem heroischen sowie dem lyrischen
Trauerspiel weiter abgegrenzt.
Betrachtet man die gesamte Abhandlung „Vom bürgerlichen Trauerspiele“ fällt auf, dass
das bürgerliche Trauerspiel zu dieser Zeit, also um 1755, einem starken Legitimationsdruck ausgesetzt zu sein schien. Gerade Pfeil lässt eine Rechtfertigung des Daseins der
neuen Gattungsbezeichnung erkennen und versucht dieser mit seiner Abhandlung gerecht
15
Guthke: Bürgerliche Trauerspiel, S.2.
Alt: Tragödie der Aufklärung, S.156.
17
Pfeil: Vom bürgerlichen Trauerspiele, S.95 (§ 1).
18
Ebd., S.96 (§ 2).
16
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zu werden.19 Hierzu ist es notwendig, das bürgerliche Trauerspiel weiter von anderen
Dramengattungen bzw. der tragischen Dichtkunst abzugrenzen. Dies möchte Pfeil mit der
Darstellung zweier besonderer Kennzeichen erzielen. Zum ersten sieht er den Inhalt der
bürgerlichen Trauerspiele als frei erfunden an und legt ihnen „die Erdichtung allein zum
Grunde“20. Dies wird als großer Vorteil angesehen, da so der Dichter zahlreiche Freiheiten
besitzt, seine Charaktere und die Handlung zu gestalten: „seine Personen duerfen nicht
wahr, sondern nur moeglich und wahrscheinlich seyn“21. Der Stoff der lyrischen oder heroischen Trauerspiele dagegen stammt aus der wahren Geschichte oder bereits bekannten
Fabeln.
Das zweite Merkmal zur Abgrenzung des bürgerlichen Trauerspiels betrachtet den Stand
der handelnden Figuren. So schreibt Pfeil: „Das lyrische Trauerspiel erhebt sich bis zu
Goettern und Helden, das heroische bis zu den Helden, allein das buergerliche schraenket
sich bloß in die Schranken des buergerlichen Standes ein.“22 Wichtig ist ihm weiter, dass
dieser Mittelstand sich weiter auf den „gemeinen Adel mit ausdehnet, [sich] von dem Poebel aber […] absondert“23. Aus den Kreisen des Pöbels könnte niemals eine handelnde
Person entstehen, so heißt es in der Abhandlung, da die fehlende Erziehung beim bürgerlichen Publikum nicht akzeptiert werden würde.
Zu guter Letzt formuliert Pfeil noch ein drittes Kennzeichen, durch welches sich das bürgerliche Trauerspiel von anderen Gattungen tragischer Dichtkunst unterscheidet: „naemlich dass das buergerliche Trauerspiel jederzeit prosaisch, die andern Gattungen aber poetisch abgefaßt wuerden“24. Er zweifelt jedoch selbst an dieser Aussage als sicheres Merkmal, da bereits vereinzelt heroische Werke in Prosa verfasst wurden und sich im Gegensatz
dazu noch kein Dichter an einem bürgerlichen Trauerspiel in poetischer Schreibweise versucht hat. Auf jeden Fall sieht der Verfasser die Prosa als am besten geeignet für das bürgerliche Trauerspiel an, da bereits durch das Altertum die Poesie zur Sprache der Götter
und Helden erhoben wurde. Dies wäre für eine handelnde Person in einem bürgerlichen
Trauerspiel äußerst ungeeignet, da sie sich möglichst authentisch, realistisch und gemäß
ihrer Zugehörigkeit zur Mittelschicht artikulieren sollte. Gleichzeitig gibt Pfeil jedoch zu
19
Diese Beobachtung zeigt sich besonders in §2 und §3 der Abhandlung „Vom bürgerlichen Trauerspiele“
und ist weiter im gesamten Verlauf des Textes zu erkennen.
20
Pfeil: Vom bürgerlichen Trauerspiele, S.99 (§ 5).
21
Ebd.
22
Ebd.
23
Ebd.
24
Ebd., S.100 (§ 6).
-7-
bedenken, die verwendete „Sprache […] allemal noch Poesie seyn [muss]. Es giebt eine
gewisse Prose, welche ueber die ordentliche dialogische Prose im gemeinen Leben erhaben
ist.“25 Die Kunst des Autors ist es, diese poetische Sprache mit seiner Schreibart zu treffen.
Pfeil geht im Verlauf seiner Abhandlung noch etwas genauer auf die Auswahl der handelnden Personen in einem bürgerlichen Trauerspiel ein. Es müssen bürgerliche Charaktere
sein und der Pöbel ist, wie bereits oben erwähnt, von dieser Rolle ausgeschlossen. Auch
Götter und Helden sowie der hochgestellte Adel können nicht als Hauptfiguren in einem
bürgerlichen Trauerspiel auftreten, da ihr Schicksal von den Rezipienten nicht authentisch
genug miterlebt werden kann. Es wirkt unglaubhaft und es ist keine ausreichende Identifikation mit den Charakteren möglich. Und genau das ist die zentrale Absicht in einem bürgerlichen Trauerspiel: die Erregung von Mitleid, welche durch die Identifikation des Rezipienten mit den handelnden Personen erzeugt wird. So schreibt Pfeil weiter: „Ich behaupte,
daß das buergerliche Trauerspiel erstlich unser Herz weit staerker ruehrt und hernach auch
weit eher zu bessern fähig ist, als die uebrigen Gattungen der Schaubuehne.“26 Die Probleme, Laster und Schwächen der auf der Bühne dargestellten bürgerlichen Charaktere versetzen den bürgerlichen Zuschauer intensiver in das Schicksal und das Leiden der Protagonisten hinein. Sie nehmen Anteil an dem Schicksal und entwickeln Mitleid. Durch die
Aufklärung des Verstandes kommt es zu einer „Besserung des Herzens“27, welche „wiederum in einer verbesserten und verfeinerten Affektenkontrolle“28 mündet. Erleidet ein
Prinz oder eine andere heldenhafte Hauptfigur in einem heroischen Trauerspiel einen Unglücksfall, so wird dies nicht annähernd diese Rührung und Mitleid erzeugen, wie dies ein
bürgerliches Trauerspiel bei bürgerlichen Rezipienten verursacht. Dies wird im folgenden
Zitat aus „Vom bürgerlichen Trauerspiele“ deutlich:
Die Ungluecksfälle die wir hier erblicken, haben wir oft selbst empfunden, oder
wir sind sie doch noch wenigstens alle Tage zu empfinden fähig. Wir kennen also die Last derselben genau. Wir bedauren in den ungluecklichen Personen oft
uns selbst. Wir sind desto verschwenderischer mit unserm Mitleid gegen sie,
weil wir es fuer billig halten, daß man es auch gegen uns nicht spare, wenn wir
wirklich dergleichen Ungluecksfälle erfahren sollten.29
25
Ebd., S.102 (§ 7).
Ebd., S.104 (§ 9).
27
Ebd.
28
Luserke: Bändigung der wilden Seele, S.150.
29
Pfeil: Vom bürgerlichen Trauerspiele, S.104 (§ 9).
26
-8-
Ähnlich wie das heroische Trauerspiel wird auch das Lustspiel von Pfeil nicht als ebenbürtig – in Bezug auf die Erregung von Mitleid und die Disziplinierung der Leidenschaft – mit
dem bürgerlichen Trauerspiel eingeschätzt. Im Lustspiel wird eher versucht, das Laster in
das Lächerliche zu ziehen. Pfeil sieht darin jedoch das Problem begründet, dass die Zuschauer im Theater über diese Laster lachen und sobald sie die Theater verlassen, diese
jedoch selbst durchleben. Er begründet seine Haltung damit, das „eine Sache hoeret auf
laecherlich zu seyn, so bald das Laecherliche derselben nicht mehr oeffentlich wahrgenommen wird“30.
Zusammenfassend ist zu sagen, dass das bürgerliche Trauerspiel seine handelnden Personen aus dem Mittelstand, also „zwischen dem Pöbel und den Großen […], kurz, Jedweder,
der Gelegenheit gehabt hat, sein Herz zu verbessern, oder seinen Verstand aufzuklaeren“31,
auswählen muss. Nur so können die Absichten des bürgerlichen Trauerspiels, Schrecken,
Rührung und Mitleid zu erregen, erreicht werden. Bezieht man diese standesorientierte
Erkenntnis auf das Katharsistheorem, muss festgehalten werden, dass die „Katharsis […]
zwar nicht mehr ein gattungsdistinktes Merkmal sein [muss], […] sie […] aber sozialdistinkt“32 ist.
Um die Betrachtung der Merkmale und Besonderheiten des bürgerlichen Trauerspiels abzuschließen, soll an dieser Stelle ergänzend auf die Sichtweise von Gotthold Ephraim Lessing eingegangen werden. Wie von Pfeil ebenfalls beschrieben, war für Lessing „die Identifikation mit dem Helden […] eine Voraussetzung“33 für die Sensibilisierung des Zuschauers. Entscheidende Absicht des bürgerlichen Trauerspiels war für ihn hierfür die Erregung von Mitleid. Daher bezeichnete Lessing das Mitleid als primären Affekt, alle anderen Affekte wurden als sekundäre Affekte betitelt. Schreck oder Bewunderung, welche
beim Zuschauer eines bürgerlichen Trauerspiels ebenfalls hervorgerufen werden können,
deutete er als „Äußerungen des Mitleids: Schrecken auf sich selbst bezogenes Mitleid des
Zuschauers, Bewunderung entbehrlich gewordenes Mitleid“34. Lessing definierte „Mitleid“
als die Vermischung zweier Gefühle: „dem der Liebe zu einem Gegenstand oder einer Per-
30
Ebd., S.105 (§ 9).
Ebd., S.107 (§12).
32
Luserke: Bändigung der wilden Seele, S.149.
33
Barner, Grimm u.a.: Lessing, S.165.
34
Ebd.
31
-9-
son und dem Schmerz über dessen Verlust bzw. deren Unglück“35. Die Empfindungen des
Publikums zu steigern war demnach die „moralische Absicht“ des bürgerlichen Trauerspiels. So sollten die Zuschauer durch die mitleidigen Empfindungen mit der Hauptperson
des Trauerspiels – in Form des Schreckens als Affekt – in einen Zustand der Sensibilisierung gegenüber ihren anderen Mitmenschen erhoben werden.36
2.3 Die Frage nach dem ersten deutschen bürgerlichen Trauerspiel
Die Frage nach dem ersten deutschen bürgerlichen Trauerspiel scheint auf den ersten Blick
sehr schnell und eindeutig beantwortet werden zu können. Im Artikel „Bürgerliches Trauerspiel“ des „Reallexikons der deutschen Literaturwissenschaft“ ist vermerkt: „das erste
deutsche Original der Gattung ist Lessings ‚Miß Sara Sampson’.“37 Bei weiterer Literaturrecherche findet man jedoch vermehrt Hinweise darauf, dass diese Aussage keine uneingeschränkte Gültigkeit besitzt. So schreibt konkret Karl S. Guthke in „Das deutsche Trauerspiel“: „Die Ehre, daß erste deutsche bgl. Tr. zu sein, hat Richard Daunicht vor kurzem
‚Miß Sara Sampson’ streitig gemacht mit dem Hinweis auf Christian Leberecht Martinis
‚Rhynsolt und Sapphira’.“38 Daunicht präsentiert die dazugehörigen Untersuchungen in
seinem Werk „Die Entstehung des bürgerlichen Trauerspiels in Deutschland“, welches
1963 veröffentlicht wurde. Hier schreibt er ziemlich eindeutig und unmissverständlich,
dass es sich nach seinen Erkenntnissen und Nachforschungen bei Martinis „Rhynsolt und
Sapphira“ um das erste deutsche bürgerliche Trauerspiel handelt: Daunicht bezeichnet es
als den „Verdienst Martinis, der erste gewesen zu sein“39.
Es gelingt Daunicht in seinem Werk die Entstehungszeit des Dramas „Rhynsolt und
Sapphira“ mit ziemlicher Sicherheit einzugrenzen. Den frühesten Zeitpunkt sieht er im
Jahre 1751, den spätesten Zeitpunkt macht er im Jahre 1753 aus. Am 2. Juni 1753 hatte
Martini in einer Versammlung der Schönemannschen Schauspielerakademie sein Stück
vorgestellt. Nach seinen Überlegungen datiert Daunicht die Entstehung des Dramas in das
Frühjahr 1753. Lessings „Miß Sara Sampson“ dagegen entstand zwei Jahre später, im Jahre 1755. Als Ursache für den Irrtum, Martini hätte mit seinem Werk „Rhynsolt und Sapphi35
Ebd.
Vgl. Ebd.
37
Eibl: Bürgerliches Trauerspiel. In: Reallexikon, S.286.
38
Guthke: Bürgerliche Trauerspiel, S.23.
39
Daunicht: Entstehung des bürgerlichen Trauerspiels, S.270.
36
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ra“ eine Nachahmung von „Miß Sara Sampson“ geschrieben, macht Daunicht dessen Erstruck im Jahre 1755 aus. Folglich wurde von den ersten Geschichtsschreibern schnell das
Jahr 1755 als Entstehungsjahr von „Rhynsolt und Sapphira“ vermerkt.40 Von der bereits
erwähnten Schönemannschen Schauspielertruppe, zu der auch Martini als Darsteller gehörte, wurde das Stück vermutlich bereits im Jahre 1753 erstmalig vor der Herzogin von
Mecklenburg-Schwerin aufgeführt. Daunicht hält fest: „Das Datum ist deshalb so bemerkenswert, weil es die überhaupt erste Aufführung eines bürgerlichen Trauerspiels in
Deutschland bezeichnen würde“41.
Dass das Drama „Rhynsolt und Sapphira“ vor „Miß Sara Sampson“ entstanden ist, ist von
Daunicht also eindeutig belegt worden und wird auch zum Beispiel von Karl Guthke nicht
angezweifelt. „Ob es folglich auch als erstes Exemplar der neuen Gattung [‚bürgerliches
Trauerspiel’] anzusehen ist, ist jedoch eine andere Frage.“42 Guthke führt an, dass das
Werk „Rhynsolt und Sapphira“ sich selbst mit seinem Untertitel nicht als bürgerliches
Trauerspiel deklariert und auch inhaltlich nicht den Ansprüchen und Merkmalen eines solchen gerecht wird. Richard Daunicht bewertet den Inhalt des Dramas jedoch etwas anders,
auch wenn er dessen „nüchterne“ Wirkung im Vergleich zu „Miß Sara Sampson“ zustimmt.43
Die Frage, ob „Rhynsolt und Sapphira“ als bürgerliches Trauerspiel betitelt werden kann,
wird an dieser Stelle nicht endgültig zu klären sein. Hierzu bedarf es einer intensiven Literaturrecherche und natürlich einer eingehende Betrachtung der Originalausgabe des Dramas. Festzuhalten bleibt jedoch, dass „Miß Sara Sampson“ nicht als das erste deutsche
bürgerliche Trauerspiel zu bezeichnen und – zumindest nach der Entstehungszeit – das
Drama „Rhynsolt und Sapphira“ früher zu datieren ist.44
2.4 Das bürgerliche Trauerspiel am Beispiel von Lessings „Miß Sara Sampson“
In diesem letzten Kapitel sollen nun beispielhaft einige wenige Merkmale und Besonderheiten des bürgerlichen Trauerspiels konkret an Lessings „Miß Sara Sampson“ aufgezeigt
40
Vgl. Daunicht: Entstehung des bürgerlichen Trauerspiels, S.237-252.
Ebd., S.272.
42
Guthke: Bürgerliche Trauerspiel, S.23.
43
Daunicht: Entstehung des bürgerlichen Trauerspiels, S.270.
44
Sehr interessant ist die Tatsache, dass Richard Daunichts „Die Entstehung des bürgerlichen Trauerspiels in
Deutschland“ (1965) als Literatur zum bürgerlichen Trauerspiel angegeben, jedoch im Lexikonartikel
kein Hinweis auf das von Daunicht als erstes deutsches bürgerliche Trauerspiel ausgewiesenen „Rhynsolt
und Sapphira“ vorhanden ist.
41
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werden. Das gesamte Drama ist, wie für ein bürgerliches Trauerspiel üblich, in Prosa geschrieben. Der Inhalt entstammt der Erfindung (und Inspiration) des Autors und die handelnden Personen gehören dem Mittelstand, also den Bürgerlichen und dem niederen Adel,
an.45 Somit sind die zwei bzw. drei entscheidenden Kriterien, die nach Pfeil ein bürgerliches Trauerspiel ausmachen, erfüllt.
Natürlich machen allerdings noch andere Merkmale den besonderen Status von „Miß Sara
Sampson“ und deren Bedeutung für das bürgerliche Trauerspiel aus. Die von Lessing verfolgte und bereits in dieser Arbeit mehrfach beschriebene Erregung von Mitleid ist auch
die Absicht dieses Dramas. Das wird an unzähligen Textstellen deutlich. Zum Beispiel ist
„die Anfangsituation, daß nämlich ein Liebhaber eine Frau verlassen und sich einer anderen zugewandt hat […] ziemlich alltäglich.“46 Viele Zuschauer können sich in diese Lage
Mellefonts hinein versetzten. Ähnlich sieht es mit dem Verhalten der anderen Figuren des
Dramas und den entscheidenden Fehlern, die die Handlung voran schreiten lassen, aus.
Durch die dargestellten Affekte werden diese weiter und weiter in ihrer Dramatik fortgeführt. Sir William Sampson bringt das junge Paar dazu ihn zu verlassen, da er Mellefont
kein Vertrauen schenkt. Sara erhebt Vorwürfe gegenüber Mellefont und erleichtert dadurch
nicht gerade deren Beziehung. Mellefont schafft es nicht, in seine Beziehung zu Marwood
eindeutige Verhältnisse zu bringen und lädt sie sogar zu einem Besuch bei Sara ein. Marwood entwickelt Eifersucht und Rachedurst und möchte Mellefont bestrafen; hierfür sind
ihr letztendlich alle Mittel recht, auch der Mord an Sara. Diese Liste ist fast beliebig erweiterbar; die genannten Beispiele haben alle den gleichen Effekt. Die Zuschauer sehen die
Fehler und Schwächen der Protagonisten als menschlich, also als bürgerlich an, und können sich daher mit den Figuren identifizieren. Durch diese Identifikation erzeugt Lessing
die gewünschte massive Erregung von Mitleid (siehe Ausführungen in Kapitel 2.3). Diese
Mitleidserregung wird besonders dadurch verstärkt, dass die Protagonisten auf der Bühne
ebenfalls selbst leiden. So z.B. in der ersten Szene Sir William, der seine Tränen nicht zurückhalten kann.47 Peter-André Alt stellt daher fest: „Das Trauerspiel ist nicht nur Spiel vor
Mitleidigen und Gerührten, wie es das Gebot der Wirkungspoetik verlangt, es zeigt seinerseits auch mitleidsfähige und gerührte Figuren.“48
45
Vgl. Daunicht: Entstehung des bürgerlichen Trauerspiels, S.276-280.
Ebd., S.286.
47
Vgl. Lessing: Miss Sara Sampson, S.5 (I, 1).
48
Alt: Tragödie der Aufklärung, S.193.
46
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Die realistische und menschliche Wirkung der handelnden Figuren erreicht Lessing ferner
dadurch, dass „man keine ganz schlechten und auch keine ganz guten Charaktere entwerfen dürfe“49. Denn es „kann weder ein vollkommen tugendhafter noch ein vollkommen
lasterhafter Mensch Mitleid erwecken, sondern allenfalls Bewunderung oder Abscheu.“50
Und dies ist nicht die Absicht oder der Anspruch eines bürgerlichen Trauerspiels.
3. Schluss – Zusammenfassung der Ergebnisse
Mit der vorliegenden Arbeit konnte gezeigt werden, dass in Deutschland der Ursprung des
bürgerlichen Trauerspiels in den 1750er Jahren zu finden ist. Seine Bezeichnung erhielt es
nach dem französischen Begriff „tragédie bourgeoise“. Einen wichtigen Anstoß für die
Entstehung der ersten Stücke lieferte Lillos „The merchant of London“, welches als „Der
Kaufmann von London“ die ersten bedeutenden Erfolge eines bürgerlichen Trauerspiels
beim deutschen Publikum hervorrufen konnte. – Durch die theoretischen Abhandlungen
von Lessing und Pfeil konnte sich das bürgerliche Trauerspiel gegenüber anderen Formen
des Trauerspiels als eigene Gattungsbezeichnung positionieren. Besonders bezeichnend
sind die drei von Pfeil beschriebenen „Kriterien, die den neuen Dramentyp von der heroischen Tragödie abgrenzen: der Stoff […] bildet ein Produkt der poetischen Erfindung; das
Personal ist […] bürgerlich oder von niedrigem Adel; die Verssprache der tragédie classique wird durch eine [...] offene Prosadiktion ersetzt“51.
Die Frage nach dem ersten deutschen bürgerlichen Trauerspiel konnte jedoch nicht eindeutig und befriedigend beantwortet werden. Es konnte lediglich nachgewiesen werden, dass
als solches sowohl „Miß Sara Sampson“ wie auch „Rhynsolt und Sapphira“ in der Fachliteratur ausgewiesen wird. Wichtig ist jedoch darauf hinzuweisen, dass „in kompositorischer Hinsicht […] erst Lessing [mit ‚Miß Sara Sampson’] den großen Auftrieb [brachte],
den das bürgerliche Trauerspiel benötigte, um in Deutschland Fuß zu fassen.“52
49
Daunicht: Entstehung des bürgerlichen Trauerspiels, S.282.
Barner, Grimm u.a.: Lessing, S.167.
51
Alt: Aufklärung, S.210.
52
Daunicht: Entstehung des bürgerlichen Trauerspiels, S.270.
50
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Literaturverzeichnis
Primärliteratur
Lessing, Gotthold Ephraim: Miss Sara Sampson. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen. Stuttgart 2003.
Pfeil, Johann Gottlob Benjamin: Lucie Woodvil, ein bürgerliches Trauerspiel in fünf
Handlungen (1756). Vom bürgerlichen Trauerspiele (1755). Hg. von Dietmar Till. Hannover 2006, S. 95-109.
Sekundärliteratur
Alt, Peter-André: Aufklärung. 3.Aufl. Stuttgart, Weimar 2007.
Alt, Peter-André: Tragödie der Aufklärung. Tübingen, Basel 1994.
Barner, Wilfried; Grimm, Gunter; Kiesel, Helmuth; Kramer, Martin: Lessing. Epoche –
Werk – Wirkung. 4.Aufl. München 1981.
Daunicht, Richard: Die Entstehung des bürgerlichen Trauerspiels in Deutschland. Berlin
1963.
Eibl, Karl: Bürgerliches Trauerspiel. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft.
Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Hg. von Klaus Weimar. Berlin, New York 1997, Bd. 1, S. 285-287.
Guthke, Karl S.: Das deutsche bürgerliche Trauerspiel. 3.Aufl. Stuttgart 1980.
Luserke, Matthias: Die Bändigung der wilden Seele. Literatur und Leidenschaft in der
Aufklärung. Stuttgart, Weimar 1995.
Wierlacher, Alois: Das bürgerliche Drama. Seine theoretische Begründung im 18. Jahrhundert. München 1968.