Versuch: Kerbschlagbiegeversuch

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Versuch: Kerbschlagbiegeversuch
Versuch:
Kerbschlagbiegeversuch
1 Versuchsziel und Anwendung
Die Aufgabe des Kerbschlagbiegeversuches ist es, die Zähigkeit eines Werkstoffes bei
schlagartiger Beanspruchung und vorhandener Kerbwirkung zu bestimmen. Zur Anwendung
gelangt dieser besonders bei der Untersuchung von Stahl und Stahlguss, aber auch bei
Nichteisenmetallen und deren Legierungen.
2 Grundlagen
Die in der Technik Anwendung findenden Werkstoffe unterliegen vielfach schlagartigen
Beanspruchungen. Die Erfahrung hat gezeigt, dass dabei um so häufiger verformungsarme
Brüche vorkommen, je tiefer die Beanspruchungstemperaturen und um so mehrachsiger der
Beanspruchungszustand ist. Zur Beurteilung des Werkstoffverhaltens unter diesen
Bedingungen sind daher die in quasistatischen Zugversuchen an glatten Proben mit geringen
Verformungsgeschwindigkeiten ermittelten Werkstoffkenngrößen nicht mehr oder nur
bedingt geeignet. Sowohl die Zunahme der Verformungsgeschwindigkeit als auch die
Abnahme der Verformungstemperatur bewirkt einen Anstieg der Streckgrenze und der
Zugfestigkeit, womit meist auch eine Verringerung der Bruchdehnung und
Brucheinschnürung und damit der bis zum Bruch erforderlichen Verformungsarbeit
(Zähigkeit) verbunden ist. Die dabei auftretende Tendenz zum Übergang zu
verformungsarmen Brüchen wird oft mit den Schlagworten "Geschwindigkeitsversprödung"
und "Temperaturversprödung" beschrieben. Ferner wirkt eine vorzeichengleiche mehrachsige
Beanspruchung im gleichen Sinne festigkeitssteigernd und versprödend. Man spricht
demzufolge von "Spannungsversprödung". Somit stellen erhöhte
Verformungsgeschwindigkeit, tiefe Temperaturen und große gleichsinnige Mehrachsigkeiten
sprödbruchfördernde Faktoren dar. Dieser Sachverhalt erforderte die Entwicklung geeigneter
Prüfverfahren.
Unter den verschiedenen Versuchen mit großer Beanspruchungsgeschwindigkeit ist wegen
seiner Einfachheit der Kerbschlagbiegeversuch der Wichtigste. Er ist neben der Härtemessung
und dem Zugversuch der am häufigsten angewandte Versuch der mechanischen
Werkstoffprüfung. Dabei wird, wie aus Bild 1 hervorgeht, mit Hilfe eines Pendelschlagwerkes
eine gekerbte Normprobe zerschlagen. Der Pendelhammer fällt mit vorgegebener kinetischer
Energie auf die der Kerbe gegenüberliegende Seite einer Biegeprobe und ruft im
kerbgrundnahen Probenbereich mit großer Anstiegsgeschwindigkeit eine mehrachsige
Beanspruchung hervor. Eine Variation der Beanspruchungsgeschwindigkeit ist durch
Veränderung der Fallhöhe des praktisch reibungsfrei gelagerten Pendelhammers möglich.
Bild 2 zeigt ein modernes Gerät für derartige Versuche.
Als Zähigkeitsmaß des zu untersuchenden Werkstoffes bzw. Werkstoffzustandes wird die
Arbeit angesehen, die zum Bruch der Kerbschlagbiegeprobe erforderlich ist.
Erreicht der in der Höhe H unter dem Winkel α0 gegenüber der Ruhestellung
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ausgelöste Pendelhammer mit dem Gewicht G = m * g (m - Hammermasse; g - Erdbeschleunigung) nach Zerschlagen der Probe die Endhöhe h unter dem (durch Schleppzeiger
angezeigten) Winkel α gegenüber der Ruhestellung, so entspricht sein durch
W = G * (H-h)
gegebener Energieverlust der an der Probe geleisteten Schlagarbeit.
Bild 1: Prinzip der Versuchseinrichtung
beim Kerbschlagbiegeversuch
Bild 2: Modernes Pendelschlagwerk
(Bauart Mohr u. Federhaff)
Die auf den gekerbten Probenquerschnitt Ak bezogene Schlagarbeit
wird Kerbschlagbiegezähigkeit oder abgekürzt Kerbschlagzähigkeit genannt. Neuerdings wird
in DIN 50 115 als Symbol der Kerbschlagarbeit auch AV genutzt. Die bei Kerbschlagbiegeversuchen gebräuchlichen Probenformen sind in Bild 3 einander gegenübergestellt.
In Deutschland wird häufig die DVM-Probe benutzt. Da die Schlagarbeiten
geometrieabhängig sind, werden mit den einzelnen Probenformen unterschiedliche Beträge
der Kerbschlagzähigkeit ermittelt. Dies ist beim Vergleich von Ak - Werten zu beachten. Bei
der Verwendung von ISO-Proben mit festgelegter Größe des Kerbquerschnittes ist man
überein gekommen, als Zähigkeitsmaß nur noch die Schlagarbeit anzugeben.
Dementsprechend ist
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Bild 3: Abmessungen und Bezeichnungen der bei Kerbschlagbiegeversuchen
Anwendung findenden Proben (vgl. auch DIN 50 115)
Der Kerbschlagbiegeversuch liefert somit als Zähigkeitsmaß entweder die absolute Schlagarbeit oder die auf den Probenquerschnitt bezogene Kerbschlagzähigkeit. Damit ist klar, dass
Kerbschlagzähigkeitswerte - im Gegensatz beispielsweise zu Streckgrenze, Zugfestigkeit oder
Wechselfestigkeit - keine Basis für die Berechnung und Dimensionierung von Bauteilen
bieten. Es kann nur gesagt werden, dass sich ein Werkstoff mit großer Kerbschlagzähigkeit
bei gegebener Temperatur unter mehrachsiger Schlagbeanspruchung günstiger verhält, als ein
solcher mit kleiner Kerbschlagzähigkeit.
Große Kerbschlagzähigkeiten sind im Allgemeinen gleichbedeutend mit relativ großen Bruchdehnungen und -einschnürungen. Wegen der Einfachheit des Kerbschlagbiegeversuches wird
auch immer wieder versucht, zwischen Ak und anderen Werkstoffkenngrößen quantitative
Beziehungen aufzustellen.
Ferner werden bestimmte Werkstoffeigenschaften (z.B. Anlassversprödung,
Alterungsanfälligkeiten) über Ak - Messungen nachgewiesen. Letzteres ist möglich, weil
erfahrungsgemäß die Kerbschlagzähigkeit relativ empfindlich auf Veränderungen von
Werkstoffzuständen reagiert, die sich beispielsweise bei zügiger Beanspruchung kaum oder
gar nicht auswirken.
Bei Kerbschlagbiegeversuchen, wo Probenform und Versuchsdurchführung den Spannungszustand und die Beanspruchungsgeschwindigkeit bestimmen, ist natürlich für einen
gegebenen Werkstoffzustand der Zusammenhang zwischen Kerbschlagzähigkeit und
Temperatur von besonderem Interesse.
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Typ I-Kurven sind charakteristisch für Baustähle,
unlegierte und legierte Stähle mit ferritischperlitischer Gefügeausbildung sowie für krz - und
hex. - Metalle. Dies wird beispielhaft durch die AkT-Kurven für normalisierte unlegierte Stähle in
Bild 5 belegt. In allen Fällen werden bei hohen
Temperaturen relativ große (Hochlage), bei tiefen
Temperaturen dagegen relativ kleine
Kerbschlagzähigkeiten (Tieflage) beobachtet. In
den dazwischenliegenden Temperaturintervallen
fallen die Kerbschlagzähigkeiten mehr oder
weniger steil mit sinkender Temperatur ab
(Steilabfall).
Bild 4: Ak-T-Kurven (schematisch)
Bild 5: Ak – T – Kurven unlegierter Stähle
Bild 6: Temperatureinfluss auf Bruchflächen
von Kerb-Schlagbiegeproben aus S 235
Man sieht, dass der Übergang von der Hochlage zur Tieflage (im Bild 5) der Kerbschlagzähigkeit um so steiler erfolgt, je kleiner der Kohlenstoffgehalt ist. Gleichzeitig tritt eine
starke Zunahme der Ak-Werte in der Hochlage auf. Von einem Steilabfall im strengen Sinne des
Wortes kann man also nur bei kleinen Kohlenstoffgehalten sprechen. In den einzelnen
Temperaturbereichen der Ak-T-Kurven beobachtet man unterschiedliche Bruchflächenausbildung. In Bild 6 sind von einem Baustahl, der bei unterschiedlichen Temperaturen
zerschlagen wurde, Bruchflächen gezeigt.
In der Hochlage (25 °C u. 0 °C) treten duktile Verformungsbrüche, in der Tieflage (-196 °C)
Trennbrüche auf. Im Bereich des Steilabfalls (-17 °C) werden Mischbrüche beobachtet mit
duktilen und spröden Bruchflächenanteilen.
Als charakteristisch für die Temperaturabhängigkeit der Kerbschlagzähigkeit derartiger Stähle
kann die Übergangstemperatur TÜ am Ende des Steilabfalls angesehen werden, bei der Ak
einen Wert von 27 J/cm2 annimmt. Selbstverständlich kann die Übergangstemperatur auch in
anderer Weise festgelegt werden, z.B. durch quantitative Bewertung der Bruchflächen der
zerschlagenen Proben hinsichtlich spröder und duktiler Bruchflächenanteile oder einfach in %
des Ak – Wertes der Hochlage.
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Als Beispiel zeigt Bild 7, wie die
Korngröße von S 235 die Temperatur
beeinflusst, bei der noch 50 % der
Kerbschlagzähigkeit der Hochlage
auftritt. Mit kleiner werdender
Korngröße nimmt die so festgelegte
Übergangstemperatur ab. Auch andere
Kenngrößen des Werkstoffzustandes
sowie die Versuchsbedingungen
beeinflussen die TÜ – Werte.
Bild 7: Korngrößeneinfluss auf die Kerbschlagzähigkeit von S 235
Tabelle 1 fasst einige versuchs- und werkstoffbedingte Einflussgrößen und deren Auswirkungen zusammen. Durch Wärmebehandlungen lässt sich die Übergangstemperatur eines
Werkstoffes sowohl erhöhen als auch erniedrigen.
Beispiele für die unterschiedliche Auswirkung verschiedener Wärmebehandlungen auf die
Ak – T – Kurven von C 15 zeigt Bild 8.
Tab. 1: Einflussgrößen auf TÜ
⇑ Erhöhung, ⇓ Absenkung von TÜ
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Bild 8: Ak-T-Kurven von C 15 nach
verschiedenen Vorbehandlungen
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Kerbschlagzähigkeits-Temperatur-Kurven vom Typ II (vgl. Bild 4) sind durch sehr kleine
Ak-Werte ausgezeichnet und lassen keine eindeutige Differenzierung zwischen Hoch- und
Tieflage mehr zu. Dieses Verhalten wird bei Werkstoffen angetroffen, bei denen zum Bruch
unter zügiger Beanspruchung nur kleine Verformungsarbeiten notwendig sind. Typische
Vertreter sind Gusseisen mit Lamellengraphit, hochfeste Stähle und martensitisch gehärtete
Werkstoffzustände. Ak-T-Kurven vom Typ III schließlich zeigen ebenfalls keine Hoch- und
Tieflagen, sind aber durch sehr große Kerbschlagzähigkeiten auch bei tiefen Temperaturen
ausgezeichnet. Werkstoffe, die sich so verhalten, nennt der Praktiker kaltzäh. Dazu zählen
reine kfz-Metalle und homogene Legierungen dieser Metalle sowie austenitische Stähle.
Abschließend sei nochmals betont, dass die Kerbschlagzähigkeit zwar ein nützliches Maß für
die Sprödbruchanfälligkeit metallischer Werkstoffe ist, keinesfalls aber Aussagen über
mögliche Temperaturgrenzen für den Werkstoffeinsatz liefert.
3 Aufgabe
An Proben aus S 235 und einem zweiten Werkstoff, ist die Kerbschlagzähigkeit in Abhängigkeit von der Temperatur zu ermitteln und zu bewerten. Die Ergebnisse werden in einem
Ak-T-Diagramm dargestellt.
4 Versuchsdurchführung
Es liegt eine größere Zahl vorbereiteter ISO-Rundkerbproben (DVM-Proben) vor. Für die
Kerbschlagbiegeversuche wird ein ähnliches Pendelschlagwerk, wie das im Bild 2 gezeigte,
benutzt. Die Versuchsproben werden vor Beginn des Versuches ausgemessen. Anschließend
werden sie in einem Eis-Wasser-Gemisch auf 0 °C, in einer Klimakammer auf –20 °C und –70
°C, im flüssigen Stickstoff auf –196 °C und im Muffelofen auf +70 °C, +150 °C und +400 °C
gebracht. Eine Probengruppe verbleibt bei Raumtemperatur von +20°C. Nach erfolgter
Temperierung werden die Proben rasch in das Pendelschlagwerk eingesetzt und zerschlagen.
Das Arbeitsvermögen des benutzten Pendelschlagwerkes beträgt je nach verwendeten
Hammer 300 J bzw. 150 J. Nach dem Zerschlagen der Probe kann die Schlagarbeit direkt aus
der Stellung des Schleppzeigers an der Anzeigeskala abgelesen werden.
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Bei der Versuchsdurchführung sind folgende Hinweise zu berücksichtigen:
1. Ausmessen der Proben unter Beachtung der zulässigen Maßabweichungen und der
Temperatur von 20 °C +10 K.
2. Auflageentfernung der Widerlager einstellen bzw. kontrollieren.
3. Erforderliche Hammergröße festlegen und einen Leerversuch durchführen. Die
Schlagarbeitsanzeige darf nicht mehr als ± 0,5 % der maximalen Schlagenergie bzw.
mehr als ein J abweichen.
Vor der Durchführung des Versuches sind die festgelegten Sicherheitsbestimmungen zu
beachten.
4. Auflegen der Probe und ausrichten.
5. Schleppzeiger auf "Null" stellen.
6. Pendel anheben und ausklinken.
7. Vor dem Ausklinken überzeugen, dass sich niemand im Schwingbereich bzw. im
Bereich der wegfliegenden Bruchstücke befindet.
8. Nach Durchschlag der Probe das Pendel abbremsen und die verbrauchte Schlagarbeit
ablesen.
9. Die Probenwerte in das Auswertungsprotokoll eintragen und die Ak-T-Kurven
zeichnen.
10. Eine Auswertung der Bruchflächen hinsichtlich ihrer spröden und duktilen
Anteile ist vorzunehmen.
11. die Festlegung der Übergangstemperatur ist nach einer geeigneten Methode
vorzunehmen!
5 Literatur
Weißbach:
Werkstoffkunde und Werkstoffprüfung
Vieweg Verlag
Macherauch:
Praktikum Werkstoffkunde
Vieweg Verlag
Seidel:
Werkstofftechnik
Hanser Verlag
DIN 50 115; 1991-04
Prüfung metallischer Werkstoffe; Kerbschlagbiegeversuch;
Besondere Probenformen und Auswerteverfahren
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Messwerte zum Kerbschlagbiegeversuch
Stahlsorte 1:
Probennummer
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
Temp. [°C]
B (Breite) [mm]
Arbeitsvermögen des Hammers:
H (Höhe) [m m]
(H-t) [mm]
Ku [J]
Ak [J/ cm²]
Bruchaussehen
350
150
70
20
0
-20
-70
22
23
-196
24
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Messwerte zum Kerbschlagbiegeversuch
Stahlsorte 2:
Probennummer
A
B
C
D
E
F
G
H
Arbeitsvermögen des Hammers:
Temp. [°C]
350
150
70
20
0
-20
-70
-196
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B (Breite) [mm]
H (Höhe) [m m]
(H-t) [mm]
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Ku [J]
Ak [J/ cm²]
Bruchaussehen
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