E-Book - Leipziger Buchmesse

Transcription

E-Book - Leipziger Buchmesse
bücherleben
Das Magazin der Leipziger Buchmesse
Januar 2015
Erinnerungen neu erfinden: Der Autor und Filmemacher Ron Segal über Wahrheit,
Fiktion und den Holocaust im Animationsfilm +++ Familienaufstellung: Nachwuchsautorin Madeleine Prahs und ihr langer Weg zum ersten Roman +++ Forever young!
Unabhängige Verlage im Aufwind +++ Klassenzimmer der Zukunft: Sachsens Kultusministerin Brunhild Kurth im Interview
Leipziger
Buchmesse
Leipzig liest
12.–15. März 2015
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bücherleben | ausgabe januar 2015
Voll das Leben: Knapp 20 Minuten dauert die Fahrt vom Hauptbahnhof zum Messegelände. Demokratie – jetzt oder nie! In der Tram-Linie 16 sind alle gleich: Verlagsmenschen in feinem Zwirn, HipHopper mit Riesen-Kopfhörern, kinderwagenschiebende
Familien, Omas und Opas mit Enkel, aufgedrehte Schulklassen und Lehrer. Geben Sie
bitte die Türen frei! Die Buchmesse dauert nur vier Tage, deshalb wird’s eng. In die Welt
der Literatur kann man immer aufbrechen.
bücherleben | ausgabe januar 2015
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Editorial
„Zweieinhalb Tage auf Händen
getragen durch die Buchmesse.“
Max Frisch, Berliner Journal, 1973
In Leipzig mischen sich Ost und West, Hoch- und Subkultur, Alt und
Jung. Die Stadt überrascht – und das nicht nur wegen der vielen Gründerzeithäuser, der Passagen, Parks und Kanäle, der Fabriken, hinter
deren Backsteinmauern sich nun Künstler und kreative Firmengründer eingerichtet haben. Es sind die Menschen, ihre Neugier und Offenheit, die es Besuchern auf Anhieb leicht macht, sich wohl zu fühlen.
6 Autoren
Herausgeber
Leipziger Messe GmbH
Postfach 100720
04007 Leipzig
www.leipziger-buchmesse.de
Projektteam Leipziger Buchmesse
Direktor: Oliver Zille
Tel. +49(0)341 678-82 40
Fax +49(0)341 678-82 42
[email protected]
Projektleitung:
Julia Lücke,
[email protected]
Projektkoordination, Text:
Nils Kahlefendt, Leipzig
Gestaltung, Layout:
Angela Schubert & Jo Schaller, Halle (S.)
Abbildungen:
Tobias Bohm (Titel, S. 7, 8, Rückseite), Fotolia – FotolEdhar (S. 19), Robert Gommlich
(S. 15), Nils Kahlefendt (S. 11, 12, 13, 16),
Karen Lemme (S. 22, 23), Gert Mothes (S.
2/3), naTo (S. 24), Nils A. Petersen (S. 27),
Peyo 2014, Licensed through I.M.P.S. (S. 10),
Brussels, privat, Swen Reichold (S. 25),
Monique Wüstenhagen (S. 17)
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Erinnerungen neu erfinden
Der Autor und Filmemacher
Ron Segal über Wahrheit,
Fiktion und den Holocaust
im Animationsfilm.
10 Comic & Manga
Wir hatten immer unsere
Beziehungskrisen
Sailormoon, Hellboy,
die Schlümpfe oder
ein seltsames Mischwesen
aus Schwein und Vogel:
Wie gezeichnete Helden
das Leben von Comic-Fans
verändern.
bücherleben | ausgabe januar 2015
Die vermutlich beste Zeit, Leipzig und seine Möglichkeiten zu erkunden, sind die vier Buchmessetage
im März. Ein wenig Ausnahmezustand, eine Art
fünfte Jahreszeit. Für die übrigen 361 Tage des Jahres
gilt: Nach der Messe ist vor der Messe. Mit unserem
neuen Magazin, das den „Leipziger Bücherbrief“
ablöst, wollen wir Sie auf den kommenden März
einstimmen. Es geht, Sie ahnen richtig, um mehr
als short cuts aus der Werkstatt. Natürlich wird
bücherleben auch über langfristige Pläne und neue
Projekte unserer Messe berichten, in gebotener Tiefe
Hintergründe ausleuchten.
Vor allem aber wollen wir – in unterschiedlichsten
journalistischen Formaten – die eigentlichen Akteure
der Buchmesse stärker in den Blick nehmen: Was
treibt Autoren, Verleger, Buchhändler, nicht zuletzt
unsere zahllosen Veranstaltungs-Partner? Informativ,
unterhaltsam und nah am Leben wollen wir sein,
dabei so subjektiv und überraschend, wie man es von
der Buchmesse erwartet. Das gedruckte Heft wird
künftig von einer Online-Ausgabe flankiert werden –
so können wir auch in digitalen Zeiten aktuell bleiben
und Ihre Messevorbereitungen übers Jahr mit interessanten Hintergrund-Geschichten begleiten.
Neugierig geworden? Wir hoffen, dass sich der Spaß,
den wir am Ideenfinden und -umsetzen hatten, auf
Ihre Lektüre überträgt. Halten Sie mit Anregungen
und Kritik nicht hinter den Berg, beides ist uns willkommen! Lesen Sie wohl, lassen Sie sich inspirieren –
und auch ein wenig auf Händen tragen. Auf bald!
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2
2
Unabhängige Verlage
Forever young!
In Zeiten zunehmender
Marktkonzentration
stehen Independents
für eine bunte,
vielfältige Bücherlandschaft .
Ihr
Oliver Zille
Direktor der Leipziger Buchmesse
[email protected]
Leipzig liest
Magische Orte
An mehr als 400
Spielstätten wird
im März gelesen,
diskutiert und
gefeiert. Drei MesseHotspots im Porträt.
18 Bildung
26 Autoren
Klassenzimmer
der Zukunft
Sachsens Kultusministerin
Brunhild Kurth
über Medienbildung
in der Schule.
Familienaufstellung
Schreiben, weiß
Madeleine Prahs,
ist ein oft einsames
und langwieriges
Geschäft.
www.facebook.com/leipzigerbuchmesse
twitter.com/buchmesse
www.leipziger-buchmesse.de/youtube
bücherleben | ausgabe januar 2015
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Autoren
„Erinnerungen neu erfinden“
Kunst darf alles, meint der Autor und Filmemacher Ron Segal.
Ein Gespräch über Wahrheit und Fiktion, den Holocaust im Animationsfilm
und den Gaza-Streifen, mitten in Berlin.
Das kleine Kaffee am Rand des Prenzlauer Bergs ist gut
gefüllt; der schmale jungen Mann mit Brille, der hinter
einem Milchkaffee in sein Notebook tippt, könnte als
Student durchgehen, der an seiner Hausarbeit schreibt.
Doch Ron Segal, der Autor und Filmemacher, sitzt
wieder einmal auf gepackten Koffern. Seine deutsche
Freundin studiert in London; in wenigen Tagen fliegt
er zu seiner Familie nach Tel Aviv. Seit 2009 lebt Segal,
mit Unterbrechungen, in Berlin. Ein DAAD-Stipendium ermöglichte ihm die Recherche im Shoah Foundation Institute für Visual History an der Freien Universität, in dem 52.000 Interviews mit HolocaustÜberlebenden aus mehr als 50 Ländern aufbewahrt
werden. Aus unzähligen dieser Puzzleteile erstand
Adam Schumacher, der Held von Segals erstem Roman
„Jeder Tag wie heute“: Ein 90jähriger Schriftsteller, der
nach Jahrzehnten der Verweigerung wieder nach
Deutschland reist, um seine Erinnerungen aufzuschreiben – im Wettlauf mit einer ausbrechenden AlzheimerErkrankung. Ron Segal hat große Pläne: Aus seinem
Debütroman soll ein abendfüllender Animationsfilm
werden. Im Herbst 2015, hofft er, kann die Produktion
beginnen. Segal weiß, dass er ein Marathon-Projekt vor
der Brust hat: „Das wird ein langer Prozess. Viel länger,
als ein Buch zu schreiben.“
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Was bringt einen jungen, lebenslustigen Israeli von
knapp 30 Jahren dazu, sich mit dem Holocaust zu
beschäftigen – noch dazu in Berlin?
Ron Segal: Ich fand immer, dass alles, was ich über
dieses Thema wusste, bereits vor mir gedacht und
gesagt wurde. Ich wollte etwas eigenes sagen – und
konnte das nicht. Ich musste recherchieren. Dazu
kommt die Geschichte meiner Großeltern. Sie lebten
in Berlin und schafften es, rechtzeitig zu fliehen. Sie
waren beide sehr jung; meine Oma kam mit 16 Jahren
nach Israel. An Berlin hatten sie eigentlich gute Erinnerungen, wollten jedoch nie zurück. Als ihr Mann 70
wurde, haben die beiden Deutschland noch einmal
besucht. Das Tagebuch, das Großmutter damals
geführt hat, hat sie mir vorgelesen. Das fand ich sehr
spannend: Eine Mischung aus Hass und Liebe…
Als Sie das erste Mal in Deutschland waren, haben Sie
die Schuhe Ihres Opas getragen?
Segal: Stimmt. Es waren sehr schöne Schuhe, vermutlich in Deutschland gearbeitet. Ich habe es gemocht,
hier mit ihnen zu laufen, eine interessante Erfahrung.
Die Idee, der Hauptfigur meines Romans den Namen
„Schumacher“ zu geben, kam mir allerdings beim
Lesen eines Märchens der Gebrüder Grimm. Sie
bücherleben | ausgabe januar 2015
Ron Segal, 1980 im israelischen
Rehovot geboren, studierte nach
seinem Armeedienst an der Sam
S p ie gel F il m an d Tele v ision
School of Jerusalem; sein Abschlussfilm wurde auf vielen
internationalen Festivals gezeigt
und vom Goethe Institut ausgezeichnet. Seit 2009 lebt er mit
Unterbrechungen in Berlin, derzeit als Stipendiat der Akademie
der Künste.
bücherleben | ausgabe januar 2015
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kennen es bestimmt: Der Schuster, dessen Schuhe
nachts von fleißigen Wichtelmännchen besohlt werden… Ich dachte: Was, wenn wir an Stelle des Schuhmachers einen Schriftsteller hätten? Und statt der
Schuhe Erinnerungen – oder Geschichte?
Erinnerungen muss man immer wieder neu erfinden.
Ich versuche, eine zweite oder sogar dritte Ebene der
Erinnerung zu bauen. Eine Interpretation von authentischer Erfahrung. Das darf Literatur! Kunst, die etwas
nicht darf, ist für mich nicht interessant.
Wie kann Literatur mit dem Holocaust umgehen, wenn
ihr nur noch die Fiktion oder die Erinnerung aus zweiter, dritter Hand bleibt?
Segal: Sie schafft eine persönliche Verbindung zu den
Lesern. Es ist beispielsweise sehr schwierig, eine
Gedenkstätte zu besuchen – und tatsächlich etwas zu
fühlen. Man weiß natürlich, wie man sich respektvoll
verhält, was man spüren müsste. Aber das passiert
nicht immer. Die Situation ist ein bisschen künstlich.
Mit einer guten Geschichte ist der Leser gleichsam in
den Schuhen der Figuren unterwegs.
Sie haben für Ihr Buch 18 Monate im Visual History
Archive des Shoah Foundation Institute an der FU
Berlin recherchiert. Eine einschneidende Erfahrung?
Segal: Zugegeben, ich hatte Angst davor. Aber es war
einfacher, als ich dachte. Vielleicht hat sich das auch auf
die Stimmung des Buches ausgewirkt. In den Videos
begegneten mir Männer und Frauen, die oft mit viel
Humor über ihre schlimmen Erfahrungen sprechen.
Auch bitterem Humor. Manchmal musste ich sogar
laut lachen, was die Archivare natürlich geschockt hat.
Viele der Zeitzeugen sind tatsächlich gute GeschichtenErzähler! Und genau die habe ich gesucht.
Sie nähern sich Ihrem ernsten Thema sehr leicht, mitunter mit schwarzem Humor. In Deutschland taucht da
reflexartig die Frage auf: Darf man das?
Segal: Das geschieht auch in Israel. Doch wenn sich
nur die Generation der Holocaust-Überlebenden zu
Wort melden darf, wäre die Geschichte auserzählt.
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Momentan arbeiten Sie daran, einen Animationsfilm
zu Ihrem Roman fertigzustellen. Wieso gerade dieses
Genre?
Segal: Warum soll ein Klavierspieler nicht Trompete
spielen? (lacht) Animation erscheint mir sinnvoll,
bücherleben | ausgabe januar 2015
gerade bei diesem heiklen Gegenstand: Dokumentarfilme benutzen Archivmaterial, für Spielfilme werden
Locations und Geschehnisse nachgebaut. Ich würde
mich dort verlieren, das ist nicht meine Welt. In der
Animation kann ich mich auf die persönliche Geschichte hinter der erdrückenden Erzählung vom
Holocaust konzentrieren.
Sehen Sie sich in Israel mit Blasphemie-Vorwürfen
konfrontiert? Oder ist so etwas spätestens seit Art Spiegelmans „Maus“ kein Thema mehr?
Segal: Filme wie „Persepolis“ oder „Waltz with Bashir“
haben gezeigt, dass sich das Genre auf seriöse Weise
zeitgeschichtlichen Themen annähern kann. Wir sind
also nicht die ersten, die so etwas tun. Die Japaner
machen es schon seit vielen Jahren: Es gibt AnimeeFilme über Hiroshima und Nagasaki. Anne Frank ist
Heldin in einem Dutzend Animee-Streifen! Für uns,
die wir es gewohnt sind, Pixar- und Disney-Filme zu
schauen, mag es etwas Neues sein.
Sie leben abwechselnd in Berlin und Tel Aviv. Was haben
beide Städte gemeinsam?
Segal: Die kosmopolitische Stimmung der Städte ist
durchaus vergleichbar. Auch, dass man viel Fahrrad
fährt. Und inzwischen gibt es hier in Berlin so viele
Israelis, dass es mir manchmal tatsächlich wie ein
zweites Tel Aviv vorkommt. Beide Städte sind ziemlich
groß, trotzdem findet man in seinem Kietz alles, was
man zum Leben braucht.
Wie funktioniert das Zusammenleben mit Palästinensern, Libanesen, Syrern in dieser Stadt? Geht man sich
eher aus dem Weg – oder aufeinander zu?
Segal: Wir sind weit entfernt von den Konfliktzonen
des Nahen Ostens. Wahrscheinlich können wir hier
deshalb besser miteinander reden. Wir müssen zumindest nicht streiten.
Berlin als gelobtes Land?
Segal: Ich habe im Rahmen meines Stipendiums gerade
zwei Monate in Moabit gelebt, wo es 40 Prozent Menschen mit Migrationshintergrund gibt. Ich wohnte in
einer Art Künstler-Kommune, dem Zentrum für Kunst
bücherleben | ausgabe januar 2015
& Urbanistik. Auch hier gab es ein paar Leute aus dem
Iran – wir haben uns sehr gut angefreundet. Ich habe
viel Arabisch auf der Straße gehört, Türkisch, ein wahres Sprachgemisch – es funktioniert irgendwie!
Der Nahostkonflikt ist jedoch auch hier Thema, als
junger Israeli können Sie dem nicht ausweichen. Eine
Bürde?
Segal: Ich glaube, kein Schriftsteller möchte auf die
Rolle eines Posterboys für die israelische Politik reduziert werden. Ich bin Autor – kein Politiker. Ich verstehe die Neugier, ich schätze sie auch. Es ist gut,
Fragen zu stellen. Das bedeutet ja, dass man sich auf
den anderen einlässt.
Manchmal würden Sie lieber nur über Filme, Musik
oder Literatur reden?
Segal: Literatur und Politik lassen sich nicht trennen.
Man kann auch kluge politische Fragen stellen. Dann
bekommt man die richtigen Antworten.
Ron Segals erster Roman
„Jeder Tag wie heute“
ist 2014 im Wallstein Verlag
erschienen.
»
Im Rahmen des Programmschwerpunkts 50 Jahre deutschisraelische diplomatische
Beziehungen wird Ron Segal im
März zusammen mit zahlreichen
prominenten Autoren von Amos Oz
bis zu Dan Diner, Chaim Noll oder
der Übersetzerin Mirjam Pressler
Gast der Leipziger Buchmesse sein.
Im Leipziger Literaturhaus wird
auch die Installation „Migrating
Books“ zu sehen sein; das Projekt,
an dem Segal mit einem Architekten-Team arbeitet, kreist um
Zeugenschaft, Erinnerung und
Schreiben.
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Comic
& Manga
„Wir hatten immer
unsere Beziehungskrisen“
Sailormoon, die Schlümpfe, harte Typen in den Suburbs von Los Angeles oder ein
seltsames Mischwesen aus Schwein und Vogel: Gezeichnete Helden verändern nicht
selten auch das Leben von Akteuren der Szene. Ein Bestiarium, so bunt wie die Welt
von Comic und Manga.
Dr. Joachim Kaps, Jahrgang 1964, war freier Autor, Übersetzer,
Ausstellungs-Kurator und Herausgeber der „Comixene“, 1996
wechselte er zu Carlsen Comics, wo er lange Jahre als Verlagsleiter arbeitete. Seit 2004 ist Kaps Managing Director von
Tokyopop in Hamburg.
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Blaue Zwerge Man hat es bei all den Debatten über
die Literaturfähigkeit der Graphic Novels fast vergessen: Comics dürfen auch ganz einfach intelligent
unterhalten, ohne sich dafür schämen zu müssen.
Diese Kunst beherrschte kaum einer so brillant wie
der 1992 verstorbene Belgier Pierre Culliford, der
unter dem Pseudonym Peyo als der geistige Vater der
Schlümpfe bekannt wurde. Mich begleiten die blauen
bücherleben | ausgabe januar 2015
Dirk Rehm, Jahrgang 1963, gründete
1991 in Berlin den Verlag Reprodukt, der
sich seither mit Künstlern wie Daniel
Clowes, Chris Ware, Barbara Yelin oder
Mawil zu einer der wichtigsten Adressen
für Comics abseits des Mainstreams
entwickelt hat.
Zwerge schon seit meiner Kindheit, in der ich ihre
Abenteuer in Rolf Kaukas „Fix und Foxi“-Heften als
Fortsetzungsgeschichten verfolgen durfte. Ihre multimediale Vermarktung von Vader Abraham bis zu
den Techno-Schlümpfen, die dem ersten Zeichentrickfilm in den 1970er Jahren folgte, hatte die Genialität der 16 ersten Schlumpf-Alben, an deren Entstehung Peyo selbst mitgearbeitet hat, zu Unrecht eine
Weile in den Hintergrund gedrängt.
Dem Splitter-Verlag aus Bielefeld ist es zu verdanken,
dass man diese Abenteuer inzwischen in einer großartigen Neuausgabe wieder lesen und sich daran
erfreuen kann, wie die Schlümpfe mittels ihres grandiosen Humors auch unsere Welt besser verstehen
helfen: Kulturkonflikte („Rotschlümpfchen und
Schlumpfkäppchen“), ausufernder Kapitalismus
(„Der Finanzschlumpf“) und Geschlechterrollen
(„Schlumpfinchen“) werden auf so großartige Weise
seziert, dass man sie den RTL-Comedians unserer Zeit
um die Ohren hauen müsste, falls sie sie nicht lesen
können. Über all das kann ich heute noch genauso
herzlich lachen wie damals in meinem Kinderzimmer.
Und: Nach dem Lesen komme ich mir auch heute
noch jedes Mal ein wenig klüger vor.
bücherleben | ausgabe januar 2015
Hamburger Schule Ich bin, wie viele Jugendliche
meiner Generation, mit „Petzi“ und „Micky Maus“
aufgewachsen, später kamen mit dem „Zack-Magazin“ franko-belgische Comics, Jean Giraud oder
Hugo Pratts „Corto Maltese“ dazu.
Als ich Anfang der 90er in Hamburg mein Studium
abschloss, entdeckte ich amerikanische UndergoundZeichner wie Gilbert und Jaime Hernandez, die in
den Achtzigern mit ihrer „Love & Rockets“-Serie eine
Art Sittengemälde südkalifornischer Punks geschaffen hatten. Das traf mich wie ein Faustschlag. Zum
ersten Mal dachte ich: Da schöpft jemand aus den
gleichen Quellen, auch wenn er woanders lebt. Total
spannend! Jugendliches Aufbegehren fühlt sich wahrscheinlich überall gleich an – egal, ob in den Suburbs
von L.A. oder am Hamburger Lerchenfeld. „Der Tod
von Speedy“, die deutsche Ausgabe des ersten Bands
der „Love & Rockets“-Serie, ist dann meine Abschlussarbeit an der Hamburger Hochschule für Bildende
Künste geworden: Ich habe mich um die Rechte
gekümmert, einen Übersetzer gesucht, alles handgelettert, in der Dunkelkammer der Hochschule wurden die Druckfilme hergestellt. Und plötzlich war ich
Comic-Verleger.
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Der Klempner Ich bin mit „Tim und Struppi“ oder
„Lucky Luke“ aufgewachsen und kann mit richtigen
Superhelden eigentlich gar nichts anfangen – selbst
mit „Batman“ tue ich mich schwer. In den 90er Jahren
bin ich dann bei „Hellboy“ gelandet, Carlsen hatte die
Serie nach Deutschland gebracht; Anfang der Nullerjahre startete der Kleinverlag Cross Cult dann einen
neuen Anlauf. Ziemlich düster, aber ich fand die Story
gut. Sein Schöpfer, der Amerikaner Mike Mignola, hat
Hellboy mal als „Klempner unter den Superhelden“
bezeichnet: Einer, der einfach seinen Job macht.
Nur das der eben aus der Bekämpfung von Monstern,
Vampiren und Nazis besteht.
Sebastian Röpke, geboren 1968 und aufgewachsen im Rheinland, studierte ab 1993 an der TH Dresden. 1997 startete er in
Leipzig die „Comic Combo“, der heute als dienstältester ComicLaden Ostdeutschlands gilt.
Big in Japan Angefangen hat alles mit „Sailormoon“,
„Pokemon“ und den ganzen Serien auf RTL II,
damals war ich sieben, acht Jahre alt. Und genau
genommen ging’s wahrscheinlich noch früher los,
mit „Heidi“ und „Biene Maja“: Das waren ja, so
gesehen, auch schon Animes, wenn man den Begriff
für in Japan produzierte Zeichentrick-Serien verwendet. Erst sehr viel später begann ich mich für japanische Kultur zu interessieren und bin bewusst auf
Manga und Anime zugegangen. Mit 16 kamen die
ersten Conventions – ich habe Nähkurse belegt und
begonnen, meine Kostüme selber zu schneidern. Ein
großer Spaß, aber auch jede Menge Arbeit. Ein besonderes Lebensgefühl? Für die meisten von uns sind
Cosplay, Manga und Anime ein tolles Hobby. Nicht
mehr – aber auch nicht weniger!
Charline-Nana Lenzner wurde 1992 in Hamburg geboren und
arbeitet dort in einer Werbeagentur. In ihrer Freizeit organisiert
sie ehrenamtlich Cosplay-Wettbewerbe, so auch auf der Manga
Comic Convention (MCC) in Leipzig.
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bücherleben | ausgabe januar 2015
Schwarwel, geboren 1968 in Leipzig, ist
Comic-Zeichner, Illustrator und Art
Director von Glücklicher Montag, einem
Studio für Animation, Grafik und Multimedia. Eine 25-jährige Zeitreise durch
den Comic-Kosmos rund um seine
berühmteste Figur ermöglichen die
beiden dicken Bände „Schweinevogel
Total-o-Rama“ (2010 und 2013).
Hossa! Schweinevogel, dieses seltsame Mischwesen,
hat mich seit meinem 19. Lebensjahr begleitet. Ein
echtes Kind der DDR, wo man nirgends legal Comics
drucken konnte. 1987 habe ich mich also einfach in
ein Messehaus geschlichen – und die ersten Exemplare meines Fanzines „Klump’n’Schlomp“ an einem
Minolta-Kopierer vervielfältigt. 1989 erschien Schweinevogel dann als wöchentlicher Strip in der frisch
gewendeten „Leipziger Volkszeitung“. Inzwischen tritt
er, ganz old-fashioned, im Digitalen auf – in der
„Leipziger Internetzeitung“. Ich habe immer mal
wieder versucht, ihn mainstreamiger zu machen, zum
Geldschwein, sozusagen. Aber Schweinevogel lässt sich
nicht einfangen und verwursten. Er ist ein sperriger
Charakter; jeder neue Strip eine Herausforderung,
weil er sein Eigenleben nie aufgegeben hat. Wir hatten
immer unsere Beziehungskrisen, Liebe und Hass, wie
das in Familien so ist.
Kaum zu glauben: Über der Arbeit am SchweinevogelFilm bin ich Veganer geworden, mit 39.
bücherleben | ausgabe januar 2015
Und meine beiden Kinder sind mit diesem Geschwister-Kind aufgewachsen. Es war immer klar: Da gibt’s
noch jemanden, der in der zweidimensionalen Welt zu
Hause ist. Der aber dazugehört.
»
Comics für alle: Parallel zur Buchmesse
öffnet im März die 2. Manga-Comic-Convention (MCC) ihre Tore: In Halle 1 präsentieren
sich auf rund 20.000 Quadratmetern alle
Größen der Branche, dazu Aussteller aus
dem Games-Bereich sowie zahlreiche Händler. In die bunte Welt der Kinder-Comics
können große und kleine Messebesucher in
der neuen Kindercomicecke eintauchen. All
das erleben Messebesucher ohne Aufpreis:
Mit ihrem Ticket können sie problemlos
zwischen den Hallen wechseln. Literarische
Comics und Graphic Novels sind am ComicGemeinschaftsstand (Halle 5, Stand B209)
oder an den Messeständen deutscher
Kunsthochschulen (Halle 3) zu erleben.
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Unabhängige
Verlage
Forever young!
Voland & Quist, Bilger, Mikrotext: In Zeiten zunehmender Markt-Konzentration
stehen unabhängige Verlage für eine bunte, vielfältige Bücherlandschaft.
Das Alter spielt dabei keine Rolle. Und ob ihre Entdeckungen gedruckt oder nur
noch digital erscheinen, ist egal.
Es gibt Verlage, die am Reißbrett irgendeiner Konzernzentrale erfunden werden. Andere entstehen aus
einer übermütigen Weinlaune heraus oder weil da
Bücher sind, die unbedingt in die Welt müssen. Die
Geschichte von Voland & Quist beginnt 2001, fast
drei Jahre vor der eigentlichen Gründung, als Planspiel zweier Studenten. Sebastian Wolter und Leif
Greinus hatten sich während ihres Studiums an der
Leipziger Hochschule für Technik, Wirtschaft und
Kultur angefreundet und brüteten in ihrer WG
nächtelang über einer Fallstudie fürs Fach Controlling. Das Thema: Die Gründung eines Verlags.
Eigentlich unmöglich, zu diesem Schluss kommen
sie. Unmöglich? Warum nicht die Literatur der
Poetry Slams und Lesebühnen, die sie in ihrer Freizeit organisieren, zwischen Buchdeckel bringen?
Und: Wieso nicht Bücher konsequent mit CDs kombinieren, da die Texte ihre volle Wirkung erst in der
performativen Praxis erzielen? „Live-Literatur“
nennen die beiden das. „Für uns lag das Konzept auf
der Hand“, erklärt Wolter. „Unsere Autoren können
hervorragend vorlesen – und das soll man auch zu
Hause nachhören können.“ Im Herbst 2004 erscheinen die ersten Titel von Voland & Quist. Den Ver14
lagsnamen borgen sich die Neu-Gründer in der
Weltliteratur aus. Seither rätseln nicht nur Freunde,
ob sich im finster-mephistophelischen Voland aus
Bulgakows „Meister und Margarita“ oder dem
freundlich-friedensstiftenden Quinten Quist aus
Harry Mulischs „Entdeckung des Himmels“ Wesenszüge von Greinus und Wolter wiederfinden lassen.
Verleger, die nicht nur Bilanzen lesen, sondern auch
Bücher entdecken können, hat es immer gegeben.
Trau keinem über 30? Wagenbach, Rotbuch, Stroemfeld: Viele, die ihren Weg in den politisch aufgeheizten Jahren der Alt-Bundesrepublik um 1968 begannen, feiern inzwischen runde Geburtstage. Dem
Osten bescherte der Mauerfall vor 25 Jahren noch
einmal einen regelrechten Gründungsboom. Mitte
des neuen Jahrtausends, als Voland & Quist ihre
ersten Schritte gehen, wird der Buchmarkt wieder
aufgemischt: Junge, ambitionierte Nachwuchsverleger drängen aufs umkämpfte Parkett. Gegen Konzernkonkurrenz und Massenware setzen die „Independents“, wie sie sich in Analogie zur Musik-Szene
nennen, auf sorgfältig zusammengestellte Programme und liebevoll gestaltetes Buchdesign.
bücherleben | ausgabe januar 2015
Vom Studium zum eigenen
Verlag: Sebastian Wolter und
Leif Greinus
Ihre Geschichten erzählen von
Freiheitsnischen, von geglückter
Improvisation und fröhlichen
Zufällen. Sie fürchten die Logik
der Ökonomie eben so wenig
wie die Konkurrenz der Großen.
bücherleben | ausgabe januar 2015
Sie wollen erfolgreich Bücher verkaufen – und doch
authentisch, ganz nah bei ihren Lesern bleiben.
In Leipzig, wo seit 2001 der Kurt-Wolff-Preis vergeben
wird, sind die Indies mit originellen Veranstaltungsformaten und immer wieder neuen, ausgefallenen
Veranstaltungs-Orten Magneten fürs Lesepublikum.
Gemeinsam hat man viel erreicht: Der „Indiebookday“, vom Hamburger Mairisch Verlag in bester
Graswurzel-Tradition angestoßen, hat sich im Kalender etabliert. Die „Hotlist“ lenkt das Scheinwerferlicht
von den großen Literatur-Preisen auf den Reichtum
der Verlagslandschaften insgesamt. Kein Zweifel:
Sichtbarer sind sie geworden, die unabhängigen Verlage aus Deutschland, Österreich und der Schweiz –
und das ist beileibe keine Frage des Alters.
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Aus ganz jungen Independents werden erfahrene –
wenn sie gut sind. Als Ricco Bilger 1983, wenige Gehminuten vom Zürcher Hauptbahnhof entfernt, seine
Buchhandlung eröffnete, galt das Viertel noch als
Problembezirk. Heute dominieren im Kreis 5 schicke
Bars und Galerien. Sec 52 heißt sein Laden. Die Ziffern stehen für die Hausnummer in der Josefstraße,
„sec“ meint so viel wie „astrein“, „ohne Schnickschnack“. Heute würde man vermutlich „cool“ sagen,
doch damit hat Bilger nichts am Hut. „Es bedeutet so
viel wie auf den Punkt gebracht“, erklärt er.
„Unprätentiös. Nicht ideologisch.
Jenseits des Zentrums,
den Rändern entlang.“
Eine Schlüsselformel, die auch für den Büchermacher Bilger gilt. Schon in den 1980er Jahren trat er
verlegerisch in Erscheinung; 2001 gründete er mit
dem Grafik-Designer Dario Benassa den Bilgerver-
Stets präsent, wo’s brennt:
Buchhändler und Verleger
Ricco Bilger
16
lag. 1996 startete er an seinem Geburtsort im Wallis
das Internationale Literaturfestival Leukerbad, das
er über zehn Jahre leitete. Im Herbst 2007 war er
Gründungspräsident der Plattform SWIPS. Was an
eine Sektlaune denken lässt, ist ernst gemeint und
steht für Swiss Independent Publishers. Ein Dach,
unter dem heute knapp 30 unabhängige Deutschschweizer Verlage gemeinsame Interessen formulieren: Es geht um faire Wettbewerbsbedingungen,
sinnvolle Fördermodelle und, natürlich: größere
Sichtbarkeit in den Medien. Den Staffelstab des
SWIPS-Präsidenten hat Bilger inzwischen abgegeben. Es zieht ihn weiter, tolle Bücher macht er immer
noch. Sein Bruder im Geist ist der seefahrende
Comic-Held Corto Maltese, der Käpt’n ohne Schiff,
der rund um die Welt durch alle Literaturen reist.
Und stets dort präsent ist, wo es brennt.
Die runde Geburtstagsparty feierten Voland & Quist
gerade in ihrem Dresdner Lieblings-Club, der
„Scheune“. In zehn Jahren hat der Verlag rund 100
Titel veröffentlicht: Bücher mit und ohne CD, dazu
DVDs, Comics und Musik-Alben. Zu Lesebühnenliteratur und Spoken-Word-Lyrik gesellten sich Kinderbücher und eine Reihe mit jungen Autoren aus
Osteuropa („Sonar“). „Nach all den Umbrüchen dort
liegen die Geschichten förmlich auf der Straße“, sagt
Sebastian Wolter. „Die wollen wir entdecken!“ Die
beiden Verleger haben Durststrecken überstanden;
Liquiditätsengpässe und kaffeegedopte Lektorate bis
in den frühen Morgen – und dafür mehr als nur
wohlwollendes Schulterklopfen geerntet. 2010 mit
dem Kurt-Wolff-Förderpreis ausgezeichnet, sind sie
heute selbst Vorbild für nachwachsende junge Kollegen. Stehenbleiben gilt nicht: Mit der Kurzgeschichten-App „A story a day“ haben Voland & Quist eben
ein Publikationsmodell für mobile Endgeräte gestartet. „Mit Blick auf den digitalen Wandel“, erklärt
Wolter, „wollten wir etwas Neues ausprobieren.
Neben dem klassischen Format Buch.“
Die Euphorie der Nullerjahre, in denen junge PrintVerlage an den Festen der Buchhandels-Welt rüttelten, ist längst in der digitalen Welt angekommen.
bücherleben | ausgabe januar 2015
Young Excellence: Verlegerin Nikola
Richter setzt auf E-Book-Originale
Doch die Lage ist heute komplizierter: Im flüchtigen
Raum des Digitalen versenden sich Dinge leichter.
Die Vielfalt ist gewachsen – aber es ist schwieriger
geworden, den eigenen Platz und die eigene Stimme
zu finden. Zu den neuen Verlagen, die ihre Autoren
ausschließlich digital publizieren, gehört Mikrotext
aus Berlin. Gerade einmal fünf Jahre ist es her, dass
Gründerin Nikola Richter an ihr erstes Smartphone
kam – über einen Blogger-Wettbewerb. Heute verlegt die studierte Literaturwissenschaftlerin Autoren
wie Alexander Kluge oder das Tagebuch des Syrers
Aboud Saeed, der auf Facebook seine eigene kleine
Revolution angezettelt hat.
Das Medium ist schnell;
viele Bücher sind inspiriert von
Diskussionen in sozialen Medien
und dem Blick auf
internationale Debatten.
bücherleben | ausgabe januar 2015
Mit der Genre-Literatur, wie sie
auf Internetportalen und FanForen zirkuliert, hat Richter
nichts am Hut. Die mutige Seiteneinsteigerin, die im Oktober
mit dem erstmals vergebenen
„Young Excellence Award“ des
„Börsenblatt“ ausgezeichnet
wurde, setzt ganz auf klassische
Verlagsarbeit. Während die Dickschiffe der Branche E-Books
meist als Beiprodukt des physischen Buchs behandeln, versteht
Nikola Richter ihre digitalen
Ausgaben nicht als billige Kopie
– sondern als Originalprodukt.
Mit der von ihr im letzten Sommer mitorganisierten „Electric
Book Fair“, Deutschlands erster
Messe für E-Book-Verlage, hat die
Netzwerkerin der digitalen Aufbruchstimmung eine neue Plattform geschaffen. Es bleibt dabei:
Jede Verlegergeneration muss sich, immer wieder,
neu erfinden; Programme entwickeln, die mit der
Zeit gehen, ohne im „Zeitgeist“ aufzugehen. Aus
ganz jungen Independents werden ältere, erfahrene
– wenn sie gut sind.
»
Die Unabhängigen heißt das neue Forum, das
ab März 2015 das Herzstück des Auftritts der
Independents in Leipzig sein wird. Gemeinsam mit
der Kurt-Wolff-Stiftung organisiert, ist das Forum
in Halle 5 nicht nur feste Adresse für die in der
Stiftung assoziierten Verlage, sondern auch für die
Hotlist-Aktivisten, SWIPS, die Arbeitsgemeinschaft
der Österreichischen Privatverlage und weitere
Indie-Initiativen. Neben einem attraktiven
Programm der Verlage wird das Forum auch dem
unabhängigen Buchhandel eine Plattform geben.
Da Büchermenschen beim Lesen und Diskutieren
den speziellen Kick schätzen, ist auch für
gastronomische Betreuung gesorgt – guter Kaffee
inklusive!
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Bildung
Klassenzimmer der Zukunft
Der sächsische Weg: Für Kultusministerin Brunhild Kurth ist die Entwicklung
umfassender Medienkompetenz eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe
Frau Ministerin, Angela Merkel gilt als leidenschaftliche
Twitterin, und auch Ihr Haus hat fast 1700 Follower.
Twittern Sie selbst, beruflich oder privat?
Brunhild Kurth: Ich kenne die technischen Möglichkeiten des Twitterns, sehe aber für meine Arbeit keine
direkte Notwendigkeit. Noch immer sind mir die
realen Kontakte und Begegnungen mit Menschen und
Freunden wichtiger, als diese über eine begrenzte
Anzahl von Buchstaben über mein Tun und meine
Gefühle zu informieren.
Der Deutsche Lehrertag, der im März 2014 parallel zur
Buchmesse stattfand, stand unter dem Motto „Unterricht der Zukunft“. Aktuell kommt die erste internationale Vergleichsstudie zur Medienkompetenz bei Jugendlichen, auch als „Computer-Pisa“ bekannt, zu dem
Schluss, dass 30 Prozent der deutschen Achtklässler nur
sehr geringe computer- und informationsbezogene
Kenntnisse haben. Zugespitzt heißt das: Unsere Schüler
sind zwar fit bei Facebook, Twitter & Co., es fehlt ihnen
aber an systematischer Medienkompetenz – macht
Ihnen das Sorgen?
Kurth: Die Studie sagt leider nichts darüber aus, wie
die sächsischen Schüler abschneiden. Aus meiner Sicht
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wird es in unserer medial geprägten Welt für Kinder
und Jugendliche immer wichtiger, sich ganz bewusst
und auch kritisch mit Medien und deren Mechanismen auseinandersetzen. Eine umfassende Medienkompetenz zu entwickeln ist dabei eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe: Elternhaus und Schule sowie die
Verantwortlichen in Politik, Wirtschaft und Kultur
können das nur gemeinsam bewältigen.
Medienkompetenz gehört zu den Schlüsselfähigkeiten
der Zukunft. Müssen junge Leute das gezielte Recherchieren von Fakten, die Unterscheidung von Glaubhaftem und Unseriösem, das Strukturieren und Aufbereiten von Informationen nicht ebenso lernen wie
Lesen und Schreiben?
Kurth: Genau das ist Ziel schulischer Medienbildung.
Es handelt sich dabei um einen dauerhaften, pädagogisch strukturierten und begleiteten Prozess. Die
Schüler sollen sich konstruktiv und kritisch mit der
Medienwelt auseinandersetzen.
Dazu gehört auch, dass die Kinder und Jugendlichen
lernen, sich verantwortungsvoll in der virtuellen Welt
zu bewegen, die Wechselwirkung zwischen virtueller
und materieller Welt begreifen und neben den Chancen
bücherleben | ausgabe januar 2015
Schule 2.0: Über die beiden Landesprogramme MEDIOS I und II hat moderne
Technik Eingang in Sachsens Schulen
gefunden. Neben den Medienentwicklungsplänen, die jede Schule individuell
entwickelt, wurde am Sächsischen Bildungsinstitut das Mediendistributionssystem MESAX installiert, über das die
Schulen Unterrichtsmedien in digitaler
Form bestellen und downloaden können.
bücherleben | ausgabe januar 2015
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auch die Risiken und Gefahren zu erkennen. Zeitgemäße Bildung in der Schule ist nicht ohne Medienbildung denkbar; sie ist als wichtiger Beitrag zu Lernprozessen zu sehen, die aus Wissen und Können, Anwenden und Gestalten sowie Reflektieren, Bewerten,
Planen und Handeln erwachsen.
Kinder, denen das Smartphone heute buchstäblich in
die Wiege gelegt wird, haben einen natürlichen, gleichsam generationsbedingten Wissensvorsprung gegenüber
ihren Lehrern – die im europäischen Vergleich eher zu
den Ältesten gehören. Ein Problem?
Kurth: Überhaupt nicht. Den generationsbedingten
Wissensvorsprung gab es immer – und es wird ihn
weiterhin geben. Das ist in allen Ländern so. Trotzdem
schauen wir nicht tatenlos zu, sondern unterstützen
unsere älteren Kollegen, in dem wir ihnen zahlreiche
Möglichkeiten der Fortbildung anbieten. Aus Gesprächen mit diesen Kollegen weiß ich, dass das Interesse
an Fortbildungen zu neuen technischen Möglichkeiten im Unterricht groß ist. Entsprechende Angebote
der Medienpädagogischen Zentren werden zahlreich
wahrgenommen.
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Einer der Gründe dafür, dass digitale Medien so selten
im Unterricht genutzt werden, erklären bisherige Studien mit der eher distanzierten Einstellung der Lehrkräfte; anders als zum Beispiel in skandinavischen
Ländern stellt hier nahezu die Hälfte der Pädagogen
den Mehrwert des Computer-Einsatzes im Unterricht
infrage. ‚Die Kids’, heißt es gern, ‚sitzen eh’ schon lange
genug vor dem Bildschirm’. Wie lässt sich diese Skepsis
aufbrechen?
Kurth: Wir haben eine völlig gegensätzliche Erfahrung
gemacht. Das Interesse der Lehrerschaft an der Nutzung der neuen technischen Möglichkeiten ist
erstaunlich hoch, was diverse lokale und zentrale
Fortbildungen immer wieder beweisen. Außerdem
wäre ein Lehrer, der sich nicht der Realität anpassen
würde, ein schlechter Lehrer und dieses würden ihm
auch seine Schüler spiegeln.
Müsste sich aus Ihrer Sicht auch die Lehrplangestaltung
ändern? Hierzulande werden Lerninhalte häufig nach
Fächern definiert, der Computer kommt also bevorzugt
im Informatikunterricht zum Einsatz – dabei ließen sich
doch praktisch überall mit digitalen Medien arbeiten,
auch im Biologie- oder Chemieunterricht, den Fächern,
die Sie einst lehrten?
Kurth: Die Medienbildung ist in den sächsischen
Lehrplänen aller Schularten bereits integrativer
Bestandteil und wird als Querschnittsaufgabe von Unterricht
verstanden. Das ist nicht in allen
Bundesländern selbstverständlich.
Dennoch ist es auch in Sachsen
notwendig, die Lehrkräfte weiterhin in Fragen von Medienkompetenz fortzubilden und zunehmend
auch die erste und zweite Phase
der Lehrerbildung verstärkt in den
Fokus zu nehmen. Bereits jetzt
werden über die 13 Medienpädagogischen Zentren fächerspezifische Fortbildungen für alle Schularten angeboten, die den Einsatz
digitaler Medien im Unterricht
veranschaulichen.
bücherleben | ausgabe januar 2015
Dass das Schulbuch auf dem Tablet, das Whiteboard als
Schultafel längst keine Utopie mehr sind, zeigt nicht
zuletzt das sächsische Pilotprojekt „Klassenzimmer der
Zukunft“. In einer ersten Projektphase werden 20 Lehrkräfte aus Oberschulen und Gymnasien in Workshops
fortgebildet. Ist das, angesichts der mehr als 30.000
Lehrer im Freistaat, nur ein Tropfen auf den berühmten
heißen Stein? Wie geht es weiter?
Kurth: Wir haben uns ganz bewusst für diesen Ansatz
entschieden. Dabei waren für uns die Ergebnisse
vieler Tablet-Projekte in anderen Bundesländern
entscheidend, um nicht deren Fehler zu wiederholen.
Ein großes Problem liegt vor allem darin, dass man
zuerst die Schulen mit Tablets ausgestattet hat und
danach die Lehrer fortbildet.
Gerade für den Einsatz von
Tablets im Unterricht gibt es
zu Beginn viele offene Fragen
zu klären.
Von der ausreichenden Verfügbarkeit digitaler Schulbücher über Finanzierungs- und Versicherungsfragen
bis zu didaktischen Konzepten für den Fachunterricht.
Aus diesem Grund haben wir uns für den sächsischen
Weg entschieden – und bilden zunächst Lehrkräfte
aus unterschiedlichen Fächern aus, die auch die Wirksamkeit von Tablets in ihren jeweiligen Fachgebieten
prüfen werden. Parallel dazu erarbeiten Expertenteams Vorschläge für einen landesweiten Einsatz
dieser Technik. Die Experten kommen aus dem
gesamten Bundesgebiet und sind hervorragende
Fachleute auf diesem Gebiet. Ab dem Schuljahr
2015/16 sollen dann gemeinsam mit dem Schulträger
ausgewählte Pilotschulen mit Tablets zur Erprobung
ausgestattet werden.
Seit Computer, Tablets und Smartphones neben das
bedruckte Papier getreten sind, ist die digitale Revolution auch auf der Leipziger Buchmesse mit Händen zu
greifen – dennoch hält der Ansturm von Lehrern und
Lesernachwuchs ungebrochen an. Was wünschen Sie
sich für die Zukunft der Messe?
bücherleben | ausgabe januar 2015
Kurth: Lesen ist die Schüsselkompetenz für Bildung.
Aus diesem Grund ist die Leseförderung auch von
herausragender Bedeutung. Leipziger Buchmesse und
Bildung gehören deshalb untrennbar zusammen. Das
beweisen die zahlreichen ausstellenden Bildungsverlage, die rund 30.000 Lehrer, die jährlich die Buchmesse besuchen sowie die verschiedenen Fachveranstaltungen im Rahmen von Fokus Bildung. Ich wünsche der Leipziger Buchmesse deshalb, dass es ihr
weiterhin so hervorragend gelingt, für Literatur zu
begeistern und dabei die neuen Medien und das
gedruckte Buch gleichermaßen einzubeziehen.
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Fokus Bildung: Zukunftsfragen zur
Bildung werden in diesem Jahr aus
Sachsen gesteuert; 2015 hat das Bundesland die Präsidentschaft der Kultusministerkonferenz inne. Aus diesem
Anlass findet im Rahmen der Leipziger
Buchmesse die Frühjahrssitzung der
Kultus- und Wissenschaftsminister statt.
Mit ihrem rund 200 Veranstaltungen
umfassenden Fachprogramm für Lehrer
und Erzieher gilt die Messe als führende
Bildungsveranstaltung in den neuen
Bundesländern. Zu den Höhepunkten
gehören der Deutsche Lehrertag, zu dem
unter dem Motto „Schüler unter Druck.
Die Schule als Ventil?“ rund 1000 Pädagogen erwartet werden, ein mit dem
Didacta Verband organisiertes Symposion zur frühkindlichen Bildung oder
das Symposion des Arbeitskreises für
Jugendliteratur e. V. zum Thema „Erstlesebücher – Türöffner oder Falltüren“.
Der zum vierten Mal gemeinsam mit der
Stiftung Lesen herausgegebene
Leipziger Lesekompass hilft Lehrern
und Eltern bei der Suche nach Titeln, die
Lust am Lesen wecken. Ebenfalls zum
vierten Mal kürt das Georg-Eckert Institut
für internationale Schulbuchforschung
(GEI) in Braunschweig das Schulbuch
des Jahres: 2015 werden dabei
Lehrwerke für die Sekundarstufe I
ausgezeichnet.
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Leipzig
liest
Magische Orte
An mehr als 400 Spielstätten wird im
März gelesen, diskutiert und gefeiert.
Drei Messe-Hotspots im Porträt.
Im Westen was Neues! Auf der Georg-SchwarzStraße, zwischen dem alten Arbeiterviertel Lindenau
und dem angrenzenden Leutzsch, atmet fast jeder
Pflasterstein Geschichte: Hier, wo die Tram-Linie 7
entlangrumpelt, erinnern Jugendstilfassaden und
verblasste Schriftzüge an einst florierende Geschäfte,
Gaststätten oder Kinos – weniger an die soziale Not
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der Gründerzeit oder
aufmüpfige JugendMeuten, die gegen das
NS-Regime opponierten. Nach 1989 drohte
das unangepasste, zu
DDR-Zeiten immer
grauer gewordene Viertel jedoch endgültig den
Anschluss zu verlieren.
Längst hat die wundersame Wandlung des Leipziger Westens vom ProblemKietz zum Trendquartier auch die Georg-SchwarzStraße erreicht: Ein Biotop für Lebenskünstler, Studenten und junge Familien auf der Suche nach günstigem
Wohnraum ist sie geworden. Vieles ist hier in Bewegung, fast alles möglich – sogar eine eigene Internetseite. Getragen werden die Aktivitäten von einem
bücherleben | ausgabe januar 2015
Netzwerk lokaler Akteure: Das
Magistralenmanagement, dazu
Bürgervereine oder sozio-kulturelle Initiativen, die alte Häuser
selbst in Schuss bringen und neu
beleben. Die urbane Ideenwerkstatt „kunZstoffe“, die Künstlern, Manufakturisten und Handwerkern Räume für kreatives
Arbeiten zur Verfügung stellt. Das
„hinZundkunZ“, das in einem selbst renovierten ehemaligen Uhren- und Schmuckgeschäft zu Konzerten,
Lesebühnen und Filmabenden einlädt. Das Kinderbüro „Tüpfelhausen“, aus einem Familienportal entstanden. Der „Wollzirkel“ einer Modedesignerin oder
die „Autodidaktische Initiative“, die auch Deutschkurse
für Migrantenfamilien anbietet. Im Mai, wenn in den
grünen Höfen, vor den Läden und Lokalen der wieder
wachgeküssten Schönen das Georg-Schwarz-Straßenfest swingt, mit Live-Bands, Bratwurst und veganer
Schoko-Tarte, trifft man sie alle.
Mit der Reihe „westwärts“ hat seit 2012 auch „Leipzig
liest“ den Sprung in das immer bunter werdende
Viertel gewagt. Ob Krimis im Büro des Bürgervereins,
junge Dichter im „Café Schwarz“ oder ein Abend über
Leipzigs „Lost Places“ in einem der selbstverwalteten
Projekte-Häuser – zu den mehr als ein Dutzend Veranstaltungen kommt das Publikum längst nicht mehr
nur aus der Nachbarschaft. Einmal mehr erweisen sich
bücherleben | ausgabe januar 2015
die vier Tage im März als Inspirationsquelle und
Mutmacher für neue, spannende Ideen. Davon haben
am Ende alle etwas: Kietz-Akteure, Büchermacher –
und neugierige Leser.
Leipzigs Wilder Westen: Die Fotos von Karen Lemme sind dem
wunderbaren Georg-Schwarz-Straßen-Blog entnommen, den die
Studentin Helena Mohr von Juni 2012 bis November 2013 betrieb.
www.georgschwarzstrasse.wordpress.com
Grenzüberschreitungen Die Geschichte der naTo
handelt vom mutigen Ausloten kultureller Freiräume
– und sie beginnt 1982 mit einer heute fast wundersam anmutenden freundlichen Übernahme. Bis dahin
hat der Geist der Ulbricht-Ära noch immer wie Mehltau über dem Saal des Kulturhauses „Nationale Front“
in der Leipziger Südvorstadt gelegen: Tanzstunden,
Seniorennachmittage und Schachklub; einmal pro
Woche hält der ABV, eine Art Stadtteilpolizist, seine
Sprechstunde ab. Auch Reisepässe und Devisen werden im schummrigen Ambiente an westreisende
Rentner ausgereicht, ein absurdes Ritual.
Und nun? Fast über Nacht avanciert das Haus, von
der Stasi misstrauisch beäugt, mit Lesungen, nächtlichem Jazz und genreübergreifenden Happenings zum
Ort der Alternativkultur. Neben der offiziellen Bezeichnung kursiert in der Szene bald der Spitzname
naTo. Ein Wortwitz, der sich nicht auf Anhieb erschließt – vermuten wir ein kleines Stück Anarchie in
einem Land, das Mitglied im Warschauer Pakt ist. Die
naTo wird zum Forum für junge Experimentalkünst-
23
ler, Theaterprojekte, Dichter mit Auftrittsverbot, die
Jazz-, Rock- und Punkszene. Unvergessen die mit Judy
Lübke, dem Galeristen der Eigen+Art, eingefädelte,
offiziell als „Faschingsveranstaltung“ deklarierte Verleihung des unabhängigen
Kunstpreises „Prix de
Jagot“. Grandios die Auftritte des „Front-Theaters“
mit Peter Turrinis „Rattenjagd“. Irrwitzig das Titanicfest, das am 30. Juni 1990
das monetäre Ende der
DDR besiegelt.
Der alte Schriftzug „Nationale Front“ ist von der Fassade verschwunden. Doch
noch immer beweist die naTo, dass die Grenzen zwischen Musik und Theater, Profis und Amateuren,
Avantgarde und Volksfest fließend sein können – ob
mit den legendären Badewannen- und SeifenkistenRennen oder der Weltpremiere einer Band wie
Rammstein. Neben Musik, Filmkunst und Off-Theater hat sich die naTo, gerade in Buchmesse-Zeiten,
längst auch als wichtiger Literatur-Veranstaltungsort
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etabliert. Dabei blicken die Programm-Macher gern
über den eigenen Tellerrand hinaus: Länder-Specials
wie die Nordische Literaturnacht sind Highlights im
„Leipzig liest“-Programm. Egal, ob Ost, West, Nord
oder Süd: Die Mutter aller Kulturkneipen ist immer
für eine literarische Weltreise gut. Immer geht es um
spannende Autoren, um packende Geschichten. Wetten, dass das Licht in der naTo, wie vor 30 Jahren, erst
gegen Morgen ausgeht?
Unangepasst & eigensinnig: Der Band „30 Jahre naTo“
(Passage Verlag, Leipzig 2012) bietet in persönlichen
Erinnerungen, Anekdoten und hunderten Fotos und Fundstücken eine beeindruckende Zeitreise durch die Geschichte
dieses besonderen Kulturortes.
naTo, Karl-Liebknecht-Straße 46
Im Schatzhaus der Bücher Martin Walser hat hier
seinen Geburtstag gefeiert, Michael Krüger und Josef
Haslinger lasen aus dem Briefwechsel zwischen Siegfried Unseld und Thomas Bernhard. Ob intime
Runden im Fürstenzimmer oder großes Kino mit
Margret Atwood, Dave Eggers, Christian Kracht,
Franz Xaver Kroetz – Abende in der Bibliotheca
Albertina sind Sternstunden im an Höhepunkten
nicht eben armen Prog ramm von „Leipzig
liest“. Wenn es in den
prächtigen, bis auf den
letzten Platz gefüllten
Lesesälen, in denen tagsüber gelernt, geforscht,
vielleicht auch geträumt
wird, mucksmäuschenstill wird, wenn sich das
Haus der Bücher in eine
pulsierende Bühne der
Literatur verwandelt –
dann schlägt die Bibliothek lesende Autoren und
Publikum gleichermaßen
in Bann.
bücherleben | ausgabe januar 2015
Die Halbmillionenstadt Leipzig verfügt über
eine lebendige
Bi b l i o t h e k s landschaft, um
die sie mancher
beneidet – doch
die Albertina ist
ein besonderer
Glücksfall. Rund 64 Millionen Euro flossen von 1992
bis 2002 in den Wiederaufbau der Bibliothek. Nach
zehn Jahren waren 31.000 Quadratmeter benutzbar
gemacht, 750 moderne Arbeitsplätze geschaffen und
240.000 Werke in Freihand aufgestellt – auch dort, wo
vorher Kohlen unter freiem Himmel lagerten. Und die
Zeit steht nicht still: Mehr und mehr entwickeln sich
wissenschaftliche Bibliotheken zu Lernorten, in denen
bücherleben | ausgabe januar 2015
weniger gelesen als konzentriert geschrieben wird. Die
Nutzer erwarten heute lange Öffnungszeiten und
unterschiedlichste Arbeitsplatzqualitäten – bis hin
zum Eltern-Kind-Raum. Im Frühjahr eröffnen eine
Lese-Lounge mit Café und ein neuer, großer Vortragsraum mit 250 Plätzen. Mit einem attraktiven Veranstaltungs- und Ausstellungsprogramm ist die Bibliotheca Albertina ein Kultur-Ort für alle Leipziger, nicht
nur für Studierende und Wissenschaftler. Wer den
Zauber des Hauses an einem Messeabend gespürt hat,
kommt wieder.
Universitätsbibliothek Leipzig, Bibliotheca Albertina,
Beethovenstraße 6
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Autoren
Familienaufstellung
Schreiben, weiß Madeleine Prahs, ist ein oft einsames und langwieriges Geschäft,
vom ersten Satz bis zu ihrem reifen Roman-Debüt „Nachbarn“ sind fast zehn
Jahre vergangen. Autorenwerkstätten und die „Prosa Prognosen“ der Leipziger
Buchmesse bieten Freiräume für das schriftstellerische Coming-out.
„Nachbarn“ heißt die Kurzgeschichte, mit der sich
Madeleine Prahs 2005 in München für die Autorenwerkstatt „Manuskriptum“ bewirbt. Die Frage des
Kursleiters, ob dies der Anfang eines Romans sei, lässt
sie stutzen. Doch sie merkt: Ihr Stoff lässt sie nicht los:
Sechs Menschen, vom arbeitslos gewordenen Eisenbahner bis zum Intellektuellen mit IM-Vergangenheit,
die ihre biografischen Wurzeln in der DDR haben –
und sich mit ihren Sehnsüchten und Träumen plötzlich in einem von Grund auf veränderten Leben
behaupten müssen. Prahs verließ die Industriestadt
Chemnitz, die damals noch Karl-Marx-Stadt hieß,
1989 zusammen mit ihren Eltern. Und fand sich mit
Neun in der Idylle Oberbayerns wieder. Die Suchbewegung ihrer Figuren ist ihr nicht fremd.
„Meine Figuren sind mit der Zeit
wie Mitbewohner geworden, eine
kleine Familie."
Solche Verwandtschaft, weiß Prahs, kann anstrengend
sein: „Man will sie aus seinem Leben schieben. Doch
wenig später stehen sie wieder vor der Tür.“ Irgend26
wann ist klar: „Ich muss sie zu Ende schreiben.“
Sechs Leben, begleitet über eine Zeitspanne von 17
Jahren: Es gibt Tage, an denen Madeleine Prahs vor
den Stoffmassen kapitulieren möchte. Sie arbeitet
weiter, verrennt sich in Sackgassen, nimmt falsche
Abbiegungen. Doch ihre Figuren kennt sie bald besser
als sich selbst. Mit 40 Seiten bewirbt sie sich 2007 für
die Autorenwerkstatt Prosa am Literarischen Colloquium Berlin. Als die Zusage kommt, ist sie überrascht
und glücklich zugleich. Zehn Jahre zuvor war die
Werkstatt begründet worden, ihre Mentoren Katja
Lange-Müller und Burkhard Spinnen arbeiteten
damals mit jungen, noch unbekannten Autoren wie
Judith Hermann oder Georg Klein. Vier lange
Wochenenden trifft Prahs im geschützten Raum der
Wannsee-Villa auf Gleichgesinnte, diskutiert wird mit
offenem Visier. Kritik, sagt Prahs, kann sehr produktiv
sein. „Den eigenen Ton gilt es jedoch auch zu schützen
– sonst landet man in der Beliebigkeit.“
Als sie im Rahmen der „Prosa Prognosen“ auf der
Leipziger Buchmesse ihren Text erstmals einer größeren Öffentlichkeit vorstellt, ist sie nervös; zu wenig
Schlaf in den Nächten zuvor. Es läuft gut: Mehrere
bücherleben | ausgabe januar 2015
Madeleine Prahs, geboren 1980 in
Karl-Marx-Stadt, ist dort und am
Ammersee aufgewachsen. Sie
studierte Germanistik und Kunstgeschichte in München und Sankt
Petersburg. „Nachbarn“, ihr erster Roman, erschien 2014 bei dtv.
Madeleine Prahs lebt und arbeitet
in Leipzig.
Lektoren hinterlassen diskret ihre Visitenkarten. Doch
Prahs will nichts Unfertiges aus der Hand geben.
Irgendwann ist der Gipfel erreicht, fügen sich die
Puzzleteile plötzlich zu einem Ganzen. Dann kann
Schreiben wie eine Schussfahrt vom Mont Ventoux
sein. „Man strampelt sich ab – und auf einmal ist
alles ganz einfach.“ Am Ende ist es der Schriftsteller
Michael Wildenhain, ihr Seminarleiter an der
Schreibwerkstatt des Berliner Brecht-Forums, der
das fertige Roman-Manuskript an den Deutschen
Taschenbuchverlag empfiehlt. Ein Glücksfall, auch
für Lektor Günther Opitz: „Es war sofort spürbar:
Der Text ist gewachsen, sehr dicht, durchgearbeitet.
Da kann jemand erzählen!“ Als Madeleine Prahs
2014 die ersten Exemplare ihres Romans in der Post
findet, der eigene Name auf dem Umschlag, hat der
Moment nach Jahren des Kampfes etwas Unwirkliches. Freude? Ja, natürlich. Das Buch wird nun seinen eigenen Weg nehmen. Doch auch Loslassen will
gelernt sein. „Plötzlich reagiert man wie eine überbesorgte Mutter. Und möchte seinen Figuren am
liebsten hinterher rufen: Bitte geht nicht bei Rot über
die Kreuzung!“
bücherleben | ausgabe januar 2015
Madeleine Prahs erster Roman
„Nachbarn“ ist 2014 im Deuteschen
Taschenbuch Verlag erschienen.
»
Die Autorenwerkstatt Prosa wird
seit 1998 vom Literarischen Colloquium Berlin (LCB) ausgerichtet.
Ihr Ziel ist es, jüngere deutschsprachige Autorinnen und
Autoren, die noch keine eigenständige Buchpublikation
vorgelegt haben, zu entdecken
und zu fördern. Im Rahmen der
Reihe „Prosa Prognosen“ werden
die Stipendiaten auf der Leipziger
Buchmesse vorgestellt.
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MLBM0103
Erinnerungen muss man
immer wieder neu erfinden.
Das darf Literatur!
Kunst, die etwas nicht darf,
ist für mich
nicht interessant.*
*Ron Segal (Israel)
Gast der Leipziger Buchmesse 2015
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bücherleben | ausgabe januar 2015