Materialsammlung - Theater Marburg

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Materialsammlung - Theater Marburg
Fatzer
Materialsammlung
Spielzeit 2012/13
Inhalt
A) Zur Einführung: Der schwarze Stern
Seite
3
B) Bertolt Brecht: Die Fatzer-Zeit
Seite
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Mittenzwei, Werner: »Das Leben des Bertolt Brecht«
C) Zum Text: Entstehung und Inhalt
Seite 21
Knopf, Jan: »Fatzer« - aus: »Brecht-Handbuch«
Völker, Klaus: »Brecht-Kommentar«
Brecht, Bertolt: »Arbeitsjournal«
D) Zur Form: Theater/Fragment
Seite 32
Barck, Karlheinz: »Fragment« - aus: »Ästhetische Grundbegriffe«
Müller, Heiner. »Wir machen Dinge, von denen wir nicht wissen, was sie sind«
Bosse, Claudia: »vorbemerkung zu einer dokumentation«
E) Das Lehrstück
Seite 73
Steinweg, Reiner: »Das Lehrstück«
F) Wer ist der Chor?
Seite 90
Brecht, Müller, Mickel, Standfest, Bosse, Dupius, Szeiler
G) Aufführungsgeschichte/Deutungen
Seite 93
Knopf, Jan: »Fatzer« - aus: »Brecht-Handbuch«
Wyss, Monika: »Brecht in der Kritik«
Müller, Tobi: »Brecht/Müller, mal melodisch«
Bosse, Claudia/theatercombinat: »Dokumentation«
andcompany&Co.: »FatzerBraz«
Müller, Heiner: »Fatzer plusminus Keuner«
Müller, Heiner. »Es gilt, eine neue Dramaturgie zu finden«
Müller, Heiner: »Notate zu Fatzer«
H) Geschichten von Herrn Keuner
Seite 115
I) Miscellanea
Seite121
Marighella, Carlos: »Minihandbuch für Stadtguerilleros«
Müller, Heiner/Kluge. Alexander: »Transkript: Anti-Oper«
Enzensberger, Hans Magnus: »Die Schrecken der Weimarer Republik«
Natan, Alex: »B.B. und der Boxer«
Müller, Heiner: Zwei Gespräche (Frank M. Raddatz, Wolfgang Heise)
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A) Zur Einführung: Der schwarze Stern
»Fatzer« ist ein Mythos des deutschen Theaters, selten gespielt doch oft umraunt, der schwarze
Stern im System »Brecht« – ein unvollendetes Textgebirge aus unzähligen Fragmenten, die auf
immer neuen Flugbahnen um immer wieder dieselben Themen kreisen. Die Logik des Umsturzes,
die Ausgrenzung und Ablösung vom Kollektiv als notwendiges Element der Individuation, das
Verhältnis von revolutionärer Aktion, Gruppe und einzelnem, die Utopie in schweren Zeiten, das
Fressen und die Moral: Darum geht‘s. Aber nicht nur. Denn Brechts Anliegen als Theatermacher
tritt hier noch deutlicher hervor als in seinen anderen, vollendeten Arbeiten: Der politische Aspekt
des Theaters liegt nicht nur in dem, was verhandelt wird, sondern vor allem auch darin, wie es
verhandelt wird. »›Fatzer‹ spielen heißt: den Aufstand proben«, hat der Frankfurter
Theaterwissenschaftler und Fatzer-Experte Nikolaus Müller-Schöll einmal geschrieben. Wie probt
man also den Aufstand?
Brechts Theorie des Lehrstücks, die er um 1930, also erst gegen Ende der Arbeit an den »Fatzer«Texten, vor allem zusammen mit Kurt Weill und Elisabeth Hauptmann entwickelte, ging es um
eben das: Theaterspiel als Mittel zur Schulung des einzelnen in seinem Verhältnis zu
Gemeinschaft und Gesellschaft, als Mittel zur Schulung politischen und damit auch:
aufständischen Verhaltens. Schon der Begriff des »Lehrstücks« lädt dabei zu Missverständnissen
ein. Er schmeckt nach Didaktik, nach sozialistischer Zeigefingermoral, nach Agitprop. Dabei hatten
Brecht und seine Teams eigentlich nichts weniger im Sinn als die Verkündung ewiger Wahrheiten
von der Rampe herab. Im Gegenteil: Das Lehrstück sollte gerade der Darstellung von
Widersprüchen und Fehlern dienen, es sollte immer auch gegensätzlich interpretierbar sein und
somit den Spielenden, aber auch den Verfassern und Zuschauern immer wieder erneutes Lernen
ermöglichen. Das Lehrstück ist somit eigentlich ein Lernstück. Doch für wen?
Mit der Frage nach der Zielgruppe schließt sich gleich das zweite grundlegende Missverständnis
des Begriffs an. In einer seiner letzten Notizen aus dem Arbeitsjournal schreibt Brecht, der sich mit
der Theorie des Lehrstücks, übrigens ebenso wie mit dem Fatzer-Fragment, im Laufe seines
Lebens immer wieder auseinandergesetzt hatte: »Diese Bezeichnung gilt nur für Stücke, die für die
Darstellenden lehrhaft sind. Sie benötigen also kein Publikum.« Theater ohne Zuschauer? Liegt
hier etwa die Geburtsstunde der berüchtigten inszenatorischen Egomanie des deutschen
Theatersystems, die das Publikum am liebsten ganz abgeschafft sähe?
Wieder ist eher das Gegenteil der Fall. Niemand wusste besser als Brecht, dass Theater ohne
Zuschauer kein Theater ist – niemand wusste auch besser, dass Theater unterhaltsam und
vergnüglich sein muss, wenn es diese Zuschauer erreichen will. »Das Theater bleibt Theater, auch
wenn es Lehrtheater ist, und soweit es gutes Theater ist, ist es amüsant«, schreibt er 1954 in dem
Aufsatz »Vergnügungstheater oder Lehrtheater?«. Brechts Projekt als Theatermacher war, die
Gegensatzpaare von »vergnüglich« und »wertvoll«, »politisch« und »künstlerisch«, »Epik« und
»Dramatik«, mithin also die bekannten Dichotomien der bürgerlichen Ästhetik in Richtung einer
neuen, politisch wie künstlerisch revolutionären Kunst zu überwinden. Das Paradox eines
»Theaters ohne Zuschauer«, wie es die Lehrstücktheorie fordert, übertrug dieses Projekt auf den
Gegensatz zwischen Publikum und Spielern. Brechts Konzept eines Lernens durch Handlungen
und Gesten, eines mithin zuerst körperlichen und erst danach kognitiven Lernens, war dabei die
entscheidende Voraussetzung einer solchen Überwindung. Zum Zwecke nicht der Belehrung,
sondern der Selbstbelehrung sollte »durch das Einnehmen bestimmter Haltungen und Gesten
körperlich-szenisch ein Konflikt durchgespielt und diskutiert werden«, schreibt Hans-Thies
Lehmann. Der Zuschauer, der diesen Prozess rein passiv betrachtet, wird dabei nicht ausgesperrt
– es soll und darf ihn weiterhin geben. Er wird aber – und dies ist eher als utopischer Endpunkt zu
verstehen denn als konkrete Maßgabe einer Inszenierung – irgendwann einmal nicht mehr
benötigt.
»Fatzer« ist entstanden, noch bevor Brecht seine Lehrstücktheorie vollständig formuliert hatte, und
die Brecht-Experten streiten noch heute darüber, ob es sich überhaupt um ein Lehrstück handelt.
Unbezweifelbar aber ist, dass der Aufstand gegen das Theater, der sich in der Lehrstücktheorie
ebenso wie in der Dramaturgie des epischen Theaters formiert, in »Fatzer« seine vielleicht
radikalste Form gefunden hat. Nicht zuletzt probte Brecht mit diesem Stück den Aufstand gegen
sich selbst: »so ist das fatzerdokument zunächst hauptsächlich zum lernen des schreibenden
gemacht. wird es späterhin zum lehrgegenstand so wird durch diesen gegenstand von den
schülern etwas völlig anderes gelernt als der schreibende lernte.«
»Fatzer« ist somit auch der Aufstand gegen das Naheliegende, gegen jeglichen Auftrag, gegen
das bestehende Theater mit seinen literarischen und gattungsspezifischen Traditionen. Als ein
solcher Aufstand bleibt »Fatzer« das vielleicht wichtigste, sicher aber das radikalste Stück Brechts:
ein Traum von einem neuen Theater in einer anderen Zeit. Gerade die Tatsache, dass »Fatzer«
ein aus Brechts Sicht unmögliches Theater darstellt, schreibt Nikolaus Müller-Schöll, lässt dieses
Fragment gebliebene Stück aus der Distanz als einen der Texte Brechts erscheinen, die auf ein
immer noch kommendes Theater verweisen, die größte Potentialität bergen – Möglichkeiten der
Realisierung, an die Brecht noch nicht denken konnte.
B) Bertolt Brecht:
Die Fatzer-Zeit
aus: Mittenzwei, Werner: "Das Leben des Bertolt Brecht,
oder Der Umgang mit den Welträtseln." FfM: Suhrkamp,
1987
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C) Zum Text: Entstehung und Inhalt
aus: Jan Knopf (Hrsg.): "Brecht-Handbuch in fünf
Bänden." Stuttgart: Metzler, 2001–2003
Jan Knopfs "Brecht-Handbuch" ist eine der wohl umfangreichsten
Übersichten zu Brechts Werk und ein Standardwerk der BrechtForschung. Wer ansonsten gar nichts lesen mag, sollte zumindest
diesen Text kennen.
Die Abschnitte "Analyse und Deutungen" sowie "Theaterrezeption"
finden sich im Kapitel "Aufführungsgeschichte" dieser
Materalsammlung.
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[...]
Eine kurzer Überblick über Entstehung, Inhalt, Werkkontext
und Aufführungsgeschichte.
Kennzeichnend für diese Bewertung, die aus dem eher
konservativen Lager der Literaturwissenschaft stammt, ist
die Einschätzung des Fatzer-Fragments als rein
biographisch relevanter Text Brechts.
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aus: Völker, Klaus: "Brecht Kommentar", München:
Winkler, 1983, S. 118ff.
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Brecht, Bertolt: "Arbeitsjournal", Bd. I 1938-1942.
Hg. von Werner Hecht, FfM: Suhrkamp, 1973
Unter Brechts persönlichen Äußerungen über seine Arbeit findet
sich nicht allzu viel mit Bezug auf das "Fatzer"-Fragment. Ein Indiz
für die Bedeutsamkeit, die dieser Text für seinen Autor wohl
dennoch gehabt haben wird, ist die Dauer der Beschäftigung mit
ihm. Von 1926/27, den Jahren der ersten Niederschrift von FatzerTexten, bis zu 1951, fünf Jahre vor seinem Tod, hat Brecht sich
immer wieder mit "Fatzer" beschäftigt.
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D) Zur Form: Theater/Fragment
aus: Barck, Karlheinz (et al.) (Hrsg.): "Ästhetische
Grundbegriffe", Bd. II. Stuttgart/Weimar: Metzler,
2001
Ein übersichtlicher Abriss der Begriffs- und
Ideengeschichte des Fragments in Philosophie,
Literatur und Kunst.
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Wir machen Dinge, von denen wir nicht wissen, was sie sind
Heiner Müller im Gespräch mit Teilnehmern des Brecht-Oberseminars im Bereich
Theaterwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin am 13. März 1984. Leitung: Prof. Dr. Ernst
Schumacher
ERNST SCHUMACHER Zur Eröffnung: Brechts Grund-Satz war: Die Welt ist nicht nur
interpretierbar, sie ist auch veränderbar, es kann in sie eingegriffen werden, auch mit den Mitteln
der Kunst. In Deinen Anfängen hast Du diese Überzeugung geteilt. Seit den Siebzigern scheint
sich Dein Welt-, mit ihm Dein Menschenbild, eingeschwärzt zu haben. Man könnte es zugespitzt
als pessimistisch geworden bezeichnen. Das liegt im Trend der »neuen Philosophen«, die sich
nach ’68 vom Marxismus abgewandt haben und einen Neoexistentialismus begründet haben.
Kunst auf dieser Basis zu produzieren – läuft das nicht letztlich auf bloßen Selbstausdruck, sprich
Selbstbefriedigung, bestenfalls die Befriedigung eines elitären Bewußtseins über eine verfahrene
Welt, der nicht zu helfen ist, hinaus?
HEINER MÜLLER Nun, ich bin ja immerhin noch da, es kann ja nochmals werden ...
MARIANNE STREISAND Diese Vorhaltung gegen Müller hat es schon in den späten fünfziger
Jahren gegeben.
MÜLLER Die wird es immer geben.
STREISAND Damals lautete der Vorwurf noch nicht Geschichtspessimismus, sondern »negative
Abbildung der Wirklichkeit«. Aber daß in den siebziger Jahren eine Änderung eingetreten ist, das
glaube ich schon. Und da möchte ich doch fragen: Dieses Weggehen von Brecht ist sicher auch
ein Hingehen, ja wohin? Mich interessiert in diesem Zusammenhang Dein Interesse an den
Dunkelzonen, für die subjektiven Triebkräfte in der Geschichte oder Massenphänomene wie
Faschismus, der ja auch subjektive Komponenten hatte. In Bezug auf das Kunstmachen sodann
Deine Anerkennung von Traum als einer Form der Erkenntnismöglichkeit in Gestalt von Visionen
oder Bildern.
MÜLLER Es gibt in den Svendborger Gesprächen zwischen Brecht und Walter Benjamin einen
Dialog über Stalin. Darin sagt Brecht, das ist zwar nicht eine Diktatur des Proletariats, aber eine
Diktatur über das Proletariat im Interesse des Proletariats. Worauf Benjamin erwidert, das komme
ihm vor, wie das Auftauchen eines gehörnten Fisches aus der Tiefsee. Das sind zwei Haltungen zu
einem Problem. Die von Brecht ist sicher für eine ganze Weile die einzig produktive gewesen. Ich
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glaube, dass sie heute nicht mehr ganz ausreicht. Was den Vorwurf des Pessimismus betrifft: Das
ist doch auch der Vorwurf, ein gutes Gedächtnis zu haben, und Optimismus beruht auf der
Fähigkeit, zu vergessen und zu verdrängen.
SCHUMACHER Das muss nicht unbedingt so sein.
MÜLLER Aber das ist ein wesentlicher Bestandteil von Optimismus.
SCHUMACHER Das hat die Menschheit immer so gehalten.
MÜLLER Sicher, aber was mir jetzt an mir selber so unheimlich ist, wenn ich die Entwicklung von
den frühen Stücken zu den letzten ansehe, das ist, dass mir dasselbe passiert wie Brecht, nämlich
dieser Abflug ins Parabolische, diese Realitätsflucht bei Brecht genauso, bei Schiller genauso, bei
Goethe genauso. Nur weil andere jung gestorben sind, haben sie das nicht mehr geschafft,
Büchner zum Beispiel, der an der Realität gestorben ist. Das muss auch etwas zu tun haben mit
einem Problem der deutschen Geschichte, mit diesen immer neuen Anläufen, die immer wieder
versandet oder jedenfalls ins Stocken geraten sind. Das kann man also nicht abtun mit Begriffen
wie Pessimismus oder Optimismus. Es gibt jetzt eine Situation, wo, poetisch gesagt, uns die
Geschichte mit Sie anredet. Ich möchte mal wieder mit Du angeredet werden. Damals, in der Zeit
der UMSIEDLERIN und des LOHNDRÜCKER, gab es, nicht nur subjektiv für mich, eine Situation,
wo, poetisch gesagt, uns die Geschichte mit Du angeredet hat, auch wenn es viel härter zuging.
Das hängt vielleicht unmittelbar damit zusammen, dass Sachen offen ausgetragen wurden,
vielleicht auch brutal, aber es gab eine wirkliche Bewegung. Im Moment aber ist das aus Gründen,
die nicht Schuld der DDR oder der Sowjetunion sind, viel schwieriger. Und das macht es auch
schwieriger, unmittelbare Gegenwartsdramatik zu schreiben, wenn man nicht moralisiert, wie die
sowjetische Dramatik es tut, da geht es um Verantwortung, das Ethos, die Qualität des Einzelnen,
weil man auf dem Theater über Systemprobleme nicht handeln kann oder will; deshalb sind die
Stücke hier so nützlich, die Stücke von Gelman und wer weiß noch. Das sind sicher gute Stücke,
sie geben Impulse, aber es bleibt immer in den Grenzen der Moralität.
SCHUMACHER Nun, Brecht wollte durch das Theater Impulse vermitteln, die die Menschen
befähigen sollten, sich selbst als Veränderer zu verstehen, nicht bloß als Interpreten. Ist diese
Haltung historisch überholt, ist sie nicht mehr brauchbar?
MÜLLER Die Frage ist doch, wie man Impulse noch an und in die Leute bringt. Da ist die Methode
Brechts inzwischen zu simpel, zu primitiv.
SCHUMACHER Deine Haltung ist inzwischen die, die Leute zu schocken ...
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MÜLLER Nicht nur.
SCHUMACHER Aber es sind Deine Formulierungen.
MÜLLER Formulierungen sind Glücksache ...
SCHUMACHER Nun, ich weiß, dass Du ein Bibelanhänger bist: Ärgernisse müssen sein, aber
wehe dem, durch den Ärgernis kommt. Das hast Du für Dich einkalkuliert ... Aber doch
nachgefragt: Welche Impulse sollen denn mit Deiner Schocktherapie vermittelt werden? Glaubst
Du ernsthaft, dass Kunst schocken kann?
MÜLLER Das wäre ja auch viel zu einfach. Worum es geht, und zwar in jedem Fall, ist,
Gewohnheiten und Verdrängungen zu stören. Es geht gar nicht um Schock, das ist wirklich
modisch, auch wenn ich es gesagt habe, das ist nicht so ernst zu nehmen. Es geht wirklich darum,
Verdrängungen zu stören und die Auslöschung von Gedächtnis zu bekämpfen, die auf der ganzen
Welt stattfindet.
SCHUMACHER Zu welchem Zwecke willst Du dieses Gedächtnis bewahrt wissen? Du bist also
doch »positiv geladen«?
MÜLLER Es ist diese Auslöschung von Gedächtnis, ob sie im nationalen Rahmen oder individuell
erfolgt, im Westen zum Beispiel ganz extrem durch diesen Videomarkt. Da wird Freizeit völlig
besetzt, und es bleibt überhaupt kein Raum für Phantasie, auch nicht für soziale Phantasie. Alle
Energien werden aufgesogen. Da braucht man gar keinen Faschismus mehr, das klappt schon mit
viel Videokassettenkrieg, da braucht man nichts anderes mehr. Und wir hier sind nicht ’raus aus
diesem Wirrwarr, und zwar nicht nur, weil es auch bei uns über das Westfernsehen geschieht,
sondern weil es bei uns auf humanere Weise auch geschieht, dieser Versuch, das Gedächtnis
auszulöschen und Verdrängung zu lehren als Pflichtfach. Diese Störung halte ich für ganz
wesentlich, und das ist eine Variante, ein neuer Ansatz von Aufklärung von einer anderen Flanke
her ...
SCHUMACHER ... sozusagen von der »negativen Dialektik« her. Letztlich geht es also auch Dir
darum, diese Menschheit nicht zugrunde gehen zu lassen.
MÜLLER Ich will nur vorher noch herauskriegen, woran es gelegen haben könnte, das interessiert
mich. Du kennst es ja, 1929 hat Freud die These aufgestellt, daß die Menschheit einfach auf
Grund ihrer psychologischen Struktur eine Waffe entwickeln wird, die die Auslöschung der Gattung
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ermöglicht. Das war offenbar ausrechenbar, und es interessiert mich nun, woran das liegt.
SCHUMACHER Einstein hat schon 1921 ausgerechnet, dass ein Kohleeimer von Atomenergie
genügen wird, die Menschheit auszulöschen. Sie wussten, woran sie arbeiteten.
MÜLLER Das ist natürlich ganz schwer, das ist ein wirkliches Problem für das Schreiben, was
Christa Wolf vielleicht am simpelsten in ihrer Vorlesung formuliert hat: Niemand kann behaupten,
dass das nicht passieren kann, das kann kein vernünftiger Mensch mehr behaupten. Aber wie
kann man von Leuten verlangen, ihre Arbeit zu machen, sie so gut zu machen wie möglich, und
dabei gleichzeitig dieses Bewusstsein zu haben: Es kann passieren, dass es alles nichts nützt.
Das ist die neue Situation. Und Du merkst es in jedem Bereich, und gerade in der Literatur wie in
den anderen Künsten auch, dass das Handwerk immer mehr verkommt. Das hat etwas mit dieser
Situation zu tun, das ist eine schleichende Krankheit. Und dagegen muss man etwas tun. Dagegen
kann man aber nichts tun, wenn man einfach die Augen davor verschließt. Ich glaube, auch wenn
es religiös klingt, an so etwas wie die Schwerkraft einer Gesellschaft. Ich habe das mit großem
Entzücken in der U-Bahn gelesen, dass ich das irgendwann gesagt habe, ich wusste das gar nicht
mehr: Wenn man in die Luft gesprengt werden soll, muss man sich ganz schwer machen. Also
schwer auch mit Kunst, nicht? Kunst gehört zum spezifischen Gewicht einer Gesellschaft und
Kultur. Da darf man sich nichts wegnehmen lassen davon. Das ist keine sehr direkte, das ist eher
(im Sinne von Marx) eine sehr vermittelte Verbindung.
SCHUMACHER Aber warum hast Du die eine Linie in Deinem Schaffen, die näher an dieser
Wirklichkeit dran war, fast völlig aufgegeben?
MÜLLER Weil es der Gesellschaft nichts mehr bringt, unmittelbar an dieser Wirklichkeit zu bleiben.
Nimm doch jetzt das neue Stück »Georgsberg« von Rainer Kerndl. Er wollte ein paar der aktuellen
Probleme dieser Gesellschaft benennen, aber das ging nicht. Es ist lächerlich, aber es ist so. Mich
interessieren diese Probleme gar nicht, sie sind für mich kein Vorwurf für ein Stück.
BERT KOSS Aber mit der Konstruktion eines solchen Problems fängt es ja doch an. Für uns, die
wir doch später Theater machen wollen, bleibt die Frage, wie stellt man sich einem solchen
gesellschaftlichen Problem, dass alles kaputtgehen kann, wenn man sich soviel Optimismus, wie
er offiziell verkündet wird, gar nicht zutrauen kann?
MÜLLER Es gibt so einen schönen Satz von Brecht: »In der ›Roten Fahne‹ stand noch: ›Wir
werden siegen‹, da hatte ich mein Geld schon auf einem Schweizer Konto.« Das äußerte er, als er
für Erwin Strittmatter, der an »Katzgraben« arbeitete, Geld beschaffen wollte, es aber keinen gab,
der das verantworten wollte.
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KOSS Der Optimismus, der aus dieser Haltung spricht, macht mich ja noch unglücklicher.
MÜLLER Man muss doch grundsätzlich davon ausgehen, und jetzt wird es etwas theologisch, was
Schumacher als Bayern ja nicht stört, dass der Einzelne sowieso weiß, dass er sterblich ist. Es gibt
diesen schönen Spruch: Der Mensch ist das einzige Tier, das weiß, dass es sterben wird, und das
macht seine Würde aus, und eben alles so zu tun, so gut zu machen, wie er kann, obwohl er weiß,
dass er stirbt. Und das gilt inzwischen für die ganze Menschheit. Ich sehe darin keinen so
wesentlichen Unterschied. Es geht nur darum, wie man sich darüber verständigt. Das Problem der,
mal ganz doof gesagt, Völkerverständigung oder Kommunikation wird immer dringlicher. Sehr hoch
gegriffen, geht es jetzt letztlich darum, so etwas wie ein Gattungsbewusstsein zu entwickeln. Das
klingt sehr metaphysisch, aber das ist die einzige Chance. In dieser Situation gilt auf ganz andre
Weise dieser Commune-Grundsatz: »Keiner oder alle ...«
SCHUMACHER Das hört sich gut an, ich stimme dem voll zu. Aber wenn ich zum Beispiel an
Deine letzte Inszenierung in der Volksbühne, nämlich von MACBETH, denke, da kommt als
»Botschaft« zum Schluss doch nur das buddhistische Rad der ewigen Wiederkehr des Gleichen
heraus, nämlich dass die Welt ein Schlachthaus sei.
MÜLLER Aber eines wirst Du mir nicht widerlegen können: Die Welt, so wie wir sie bisher aus
Überlieferung und Erfahrung kennen, ist nun mal ein Schlachthaus. Das muss nicht so bleiben.
Aber bisher ist das Gegenteil nicht konkret geworden. So sieht das für mich mal aus.
SCHUMACHER Tut mir leid, aber hier habe ich eine etwas andere Meinung.
BERT BREDEMEYER Brechts Courage bringt mir auch nicht die Erfahrung, auch wird die
mögliche Erkenntnis an die Zuschauer delegiert, und die Courage bringt mir auf alle Fälle aber
weniger als Macbeth. Aber ich wollte ein anderes Problem berühren. In den Siebzigern tritt für Sie
offensichtlich die Dritte Welt mehr in den Vordergrund, und zwar das Prinzip, das Lévy-Strauss im
»Wilden Denken« beschreibt. Wie ist diese Erfahrung über die Bühne herunterzubringen?
MÜLLER Da ist sicher was dran, wobei ich den Lévy-Strauss wahrscheinlich erst viel später
gelesen habe. Zuerst habe ich den Fanon gelesen, wo das unter sehr politischem Aspekt formuliert
ist, und das finde ich nach wie vor wichtig, dass diese Länder in der Dritten Welt nicht einfach
europäische Modelle nachmachen, das geht auf jeden Fall schief. Und da gibt es auch immer
wieder fürchterliche Enttäuschungen. Wir oder auch die Sowjetunion liefern Waffen für die
Befreiung, und dann brauchen sie Geld, und da reicht unseres nicht, so dass jetzt zum Beispiel
Moçambique einen Freundschaftsvertrag mit Südafrika schließt. Das ist natürlich tragisch, aber
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das ist eine reine Notlage.
KOSS Aber auf den AUFTRAG bezogen, der ja letztlich an den Schwarzen, den Neger delegiert
ist, kommt mir dieses »wilde Denken« schon ein bisschen komisch vor. Diese Dritte Welt ist ja
schon in einer starken Form pervertiert, geprägt von dem sich nach dem Geldbeutel Strecken, vom
Nachahmen des Konsumstrebens. Wir haben ja nicht den Einblick, aber ein bisschen hat man
schon immer das Gefühl, dass da ein Pflänzchen heranwächst, das den falschen Saft eingesogen
hat.
MÜLLER Das ist vielleicht doch zu kurz gesehen. Zunächst doch noch der schöne Kommentar von
Brecht aus der »Heiligen Johanna«: »Nicht der Armen Niedrigkeit hast du mir gezeigt, sondern der
Armen Armut.« Das muss schon immer voraus gesagt werden. Dann glaube ich schon, dass das
Schlussmanifest aus einem brasilianischen Roman stimmt: Der christlich-jüdische Zyklus ist zu
Ende, es beginnt der lateinamerikanische Zyklus. Der dauert mindestens so lange.
SCHUMACHER Das klingt nicht sehr überzeugend, denn dieser lateinamerikanische Zyklus beruht
auf der Hispanisierung des südamerikanischen Kontinents, die nicht rückgängig gemacht werden
kann.
MÜLLER Jetzt bist du der Geschichtspessimist. Das wird ungeheuer lange dauern und es wird
keine friedlichen Lösungen dafür geben. Das ist ja ein Problem der Friedensbewegung insgesamt,
dieses Fixiertsein auf die Wahnidee, dass es je Frieden gegeben hat, außer einem solchen wie
jetzt gerade in Europa. Der Frieden ist immer erkauft worden mit Kriegen woanders. Es geht daher
im Moment auch eher darum, Krieg noch zu ermöglichen, einen sinnvollen Krieg. Man kann doch
Menschen in solchen Situationen wie in Lateinamerika und ähnlichen Regionen nicht den Krieg
verbieten.
SCHUMACHER Aber das ist nicht das Kernproblem der Friedensbewegung heute.
MÜLLER Grundfrage und Grundlage der Friedensbewegung heute ist doch das Überleben der
Menschheit. Kann man einen solchen Krieg verhindern, der die Menschheit zu vernichten droht,
den Atomkrieg oder diesen »Krieg der Sterne«, das ist die Grundfrage. Dass solche Kriege, wie Du
sie angesprochen hast, unvermeidlich sind, das glaube ich auch.
LOTHAR SACHS Ich möchte das Problem der Realitätsnähe oder -ferne von Dramatik durch eine
Nachfrage zu Ihren Antike-Bearbeitungen stärker geklärt haben. War oder ist diese Verwendung
der Antike notgedrungen, weil es nach der UMSIEDLERIN" nicht mehr möglich war, die Realität
unmittelbar abzubilden?
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MÜLLER Der Abfolge nach ist das nicht so gewesen. PHILOKTET habe ich vor der
UMSIEDLERIN zu schreiben angefangen. Das Gedicht, das sozusagen den ersten Entwurf
enthielt, ist lange vor irgendeinem Bezug zur DDR-Realität entstanden. Es ergab sich aus der
Schulbildung und daraus, dass ich sehr früh die antiken Werke gelesen habe. Dabei haben mich
bestimmte Stoffe interessiert, u. a. eben Philoktet, und das sicher auch aus autobiographischen
Gründen. Da kann man lange hin- und herrätseln. Es ist nicht einfach so, dass ich, weil das eine,
eben diese realistische Abbildung der Wirklichkeit, nicht geklappt hat, das andere gemacht hätte.
Das stimmt höchstens in dem einen Fall, als die Aufführung des BAUS im Deutschen Theater, die
ja schon festgelegt war, nach dem 11. Plenum untersagt wurde und mir Benno Besson, der die
Regie übernehmen sollte, noch für eine Weile Geld zukommen lassen wollte und mich fragte, ob
ich einen Sinn darin sehen könnte, »Ödipus« zu bearbeiten. Er selbst konnte aus seiner BrechtTradition heraus und auch, weil er den Text nur aus einer von Voltaire kommentierten
französischen Übersetzung kannte, wenig anfangen. Voltaire meinte ja, die Tragödie hätte sich
vermeiden lassen, wenn es in Theben eine Kanalisation gegeben hätte, denn dann hätte es keine
Pest gegeben, so daß es dann auch nicht zu diesem privaten Heckmeck gekommen wäre. Das ist
jetzt etwas vereinfacht wiedergegeben, aber so ungefähr war die Version von Besson. Mir fiel
jedoch rechtzeitig ein, daß es da auch die Übersetzung des »Ödipus« von Sophokles durch
Hölderlin gibt, und ich dachte mir, da kann ich mit wenig Silben für eine Weile gutes Geld
verdienen Und so verlief es dann ja auch. Ich habe einfach die Hölderlinsche Übertragung
abgetippt und da und dort was geändert. Das war eine reine Gelegenheits- und Auftragsarbeit.
Aber damit war ich dann auch schon abgestempelt. Wenn irgendeiner etwas Antikes wollte, wurde
entweder ich oder Hacks angerufen. Plötzlich entsteht da eine Bewährung für etwas. Aber in
keinem Fall war es so, dass diese Aneignung der Antike eine Fluchtbewegung gewesen wäre,
dass ich gemeint hätte, hier sei eine Allegorisierung nötig. So etwas kann ich sowieso nicht, ein
aktuelles Problem antik einkleiden. Wenn ein solcher Eindruck entsteht, so war das nicht kalkuliert,
in jedem Fall nicht kalkuliert als ein Ausweichen vor der Unmöglichkeit, bestimmte Realitäten
abzuhandeln, wie etwa Enzensberger anzunehmen schien, der mich als erster zu PHILOKTET
fragte: »Müller, wo haben Sie die Stiche her?« Ich hatte keine Ahnung, er war viel gebildeter als
ich, er hatte so etwas in der bildenden Kunst gesehen.
WOLFGANG RINDFLEISCH Trifft das auch für die Antike-Bearbeitungen, wie etwa LANDSCHAFT
MIT ARGONAUTEN im VERKOMMENEN UFER, in den sechziger und siebziger Jahren zu, oder
ist da doch ein Unterschied im Kalkül, wenn man zum Beispiel an die Szenenanweisungen in
»Strausberg« denkt?
MÜLLER Also was mein Herangehen an die Antike betrifft: Brecht ist mit den antiken Vorlagen viel
freier umgegangen als ich und auch viel ideologischer. Mein Umgang mit dem antiken Material war
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immer völlig unideologisch. Mich hat mehr die Schönheit des Materials gereizt, ich habe darin dann
herumgegraben, aber nie mit einer Konzeption. Dass in die Arbeit Überlegungen einfließen, ist
eine andere Frage, aber ich habe nie, wie es Brecht zum Beispiel bei der »Antigone« getan hat,
einen Text mit einer klaren Konzeption bearbeitet. Das kann ich nicht, und ich habe nie
ideologische Interessen in diesem Sinn gehabt und pädagogische auch nicht.
SCHUMACHER Ideologische vielleicht schon, aber nicht unmittelbar pädagogische?
MÜLLER Nein, ich meine, mein Impuls war nicht subjektiv, von irgendwelchen Absichten bestimmt.
KOSS Ist dann Ihre Ausführung in »Rotwelsch«, wo Sie sagen, es geht um das Patt in der
russischen Revolution, die Unmöglichkeit einer Revolution in Russland, ein Witz oder was?
MÜLLER Das ist diese Schwierigkeit bei Interviews, ich sage da zu selten nein, dann kommen fast
immer Missverständnisse heraus, weil man sich auf einer ganz anderen Ebene bewegt. Wenn man
als Auskunftei über die eigenen Texte befragt wird, dann entwickelt man immer einen Nebentext,
das ist nicht zu vermeiden.
RINDFLEISCH Nochmals zur Gedächtnisauslöschung. Es ist ja doch so, dass man, wenn man
Gedächtnis bemüht, in gewisser Weise auch Produktivität unterdrückt. Bei der
Gedächtniserhaltung sind ja immer wieder Vorgänge in der Geschichte da, die diese Produktivität
ausgelöscht haben. Gibt es, sagen wir mal, eine mögliche Produktivität, die man auch als eine
optimistische Variante bewerten, sozusagen als Fahne hochhalten kann?
MÜLLER Es gibt einen ganz bösen Satz dazu, von dem ich hoffe, dass er nicht stimmt:
Kapitalismus ist eine ökonomische Kategorie, Sozialismus ist eine ethische. Bis jetzt. Das ist das
Problem der Beantwortung einer solchen Frage.
SCHUMACHER Machen wir einen Sprung von der Neuaneignung der Antike zum Verhältnis zur
Klassik. Als Brecht noch gerade dabei war, Marxist zu werden, verfocht er die Auffassung, die
Klassiker besäßen für die Zeitgenossen nur noch Materialwert. Um sie selbst für hier und heute
lebendig zu halten, müssten sie umgeformt werden. Ist das eine Haltung, die auch gegenüber dem
»Klassiker Brecht« anzuwenden ist, um ihn, falls er wirklich so tot sein sollte, wie verschiedentlich
behauptet wird, wiederzubeleben? Was würdest Du mit Brecht anfangen, wenn Du mit ihm so
umgehen könntest, wie Brecht es schließlich mit den Klassikern doch nicht getan hat?
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MÜLLER Ich habe mal mit dem Dokumentarfilmer Peter Vogt eine Bearbeitung der »Tage der
Commune« gemacht. Das hätte ein Beispiel werden können, scheiterte aber natürlich an den
Erben.
SCHUMACHER Könntest Du das erläutern?
MÜLLER Ich erinnere mich nicht mehr genügend. Ich weiß bloß, dass alles, was an dem Stück
historiographisch ist, durch Dokumente visueller Art, also Fotos, Grafiken, Film ersetzt werden
sollte, und dazu der Versuch, das Melodram der Familie Cabet herauszuschneiden. Das ging, das
wurde eine schlanke Sache, zusammen mit dem Film ging das sehr gut.
SCHUMACHER Bleibt die Frage, wie man mit dem klassischen Erbe darüber hinaus umgeht. Von
Brecht stammt ja der Satz: »Wir können den Shakespeare ändern, wenn wir ihn ändern können.«
Er billigt Shakespeare immerhin zu, mit seinen Stückschlüssen den jeweils letzten Schluss
gefunden zu haben. Vielleicht, sagte Brecht, brauchen wir überhaupt keine Bearbeitung, wenn die
Intelligenz, verbunden mit dem ästhetischen Vermögen, entwickelt genug ist, um das, was zu
sehen und zu hören ist, richtig zu bewerten. Man braucht zum Beispiel im »Coriolan« die dort
gezeigten Klassenverhältnisse auf keinen marxistischen Nenner zu bringen, weil die Zuschauer sie
auch in der Shakespeareschen Darstellung richtig verstehen. Hat sich damit in der Zwischenzeit
der Eingriff, oder sagen wir die verdeutlichende Darstellung der Klassenverhältnisse, wie sie
Brecht bei »Coriolan« vorgenommen hat (oder jedenfalls anstrebte), erübrigt?
MÜLLER Der erste Text, den Brecht doch sehr entscheidend bearbeitet hat, war ja »Leben
Eduards II.« von Marlowe. Er blieb nahe an der überlieferten Geschichte, aber der Text war doch
hauptsächlich ein sprachliches Manövergelände, um eine neue Verssprache zu finden. Das war,
so glaube ich, ungemein wichtig. Auch für mich ist ein solches Verfahren sehr wichtig gewesen.
Das nächste war dann für Brecht die Bearbeitung von »Maß für Maß« von Shakespeare, aus der
schließlich »Die Rundköpfe und die Spitzköpfe« hervorgegangen sind. Brecht hat damit schon um
1931 begonnen. Durch die Situation in Deutschland, also durch das Heraufkommen des
Faschismus, wurde Brecht immer mehr dazu gedrängt, ein Stück mit einem direkten Bezug darauf
zu machen. Es ist eines seiner plattesten Stücke geworden, weil es so unmittelbar auf die aktuelle
politische Situation reagieren wollte und sollte. Aber formal war es andererseits auch wieder ein
richtiger Kramladen an Mitteln und Technik. Viel bescheidener in Umgang mit den alten Texten
wurde er dann nach der Emigration. Im »Coriolan« ist der Eingriff mit ziemlich viel Respekt
gemacht worden, aber er war trotzdem falsch, und was Brecht selbst dazu geschrieben hat, ist
unsäglich.
SCHUMACHER Es sind ja eigentlich nur Bruchstücke.
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MÜLLER Ja, aber zum Beispiel diese Begegnung der Bauern: »Bäckt sie immer noch die kleinen
Fladen?«, also dieses Kunstgewerbevolk, das in den späten Brecht-Stücken so unerträglich ist.
Aber da hat sich Shakespeare gerächt, weil der Ablauf bei Shakespeare viel mehr transportiert als
die Mutter-Sohn-Geschichte. Er transportiert das Soziale mit, aber auf eine viel komplexere Weise.
Ich glaube, daß hier Brechts Rechnung nicht aufgegangen ist, denn eigentlich war ja die
»Coriolan«-Bearbeitung ein Stalin-Stück, angegangen noch vor, intensiviert nach dem Tod Stalins,
in der Zeit vor dem XX. Parteitag der KpdSU. In dieser Zeit war der Eingriff, war die Verengung des
Shakespeare-Materials aus aktuellem Anlass, richtig. Aber diese Bearbeitung dann zehn Jahre
später so zu spielen, wie sie entstanden war unter den Verhältnissen der fünfziger Jahre, war
Kunstgewerbe. Das war der Niedergang des Berliner Ensembles auch vom Bühnenbild her. Zum
ersten Mal gab es ein nichtfunktionales Bühnenbild. Wenn Theater in seiner gesellschaftlichen
Funktion so unsicher wird, dann werden die Bühnenbilder immer wichtiger. Es gibt jetzt eine
Hypertrophie von Bühnenbild, und das konnte man an den Berliner Theatern in den letzten
Jahrzehnten sehr gut verfolgen. Mit »Coriolan« hat es angefangen, dann kam »Der Drache« und
dann alle Tiere aller Länder auf allen Bühnen.
SCHUMACHER Dazu könnte man einiges bemerken, auch zum Bühnenbild der MACBETHInszenierung in der Volksbühne. Um aber in der Problemerörterung über Brecht heute
voranzukommen, die sich dieses Oberseminar gestellt hat, würde ich gerne auf das Problem
dramaturgischer Situations- und Typenschaffung zu sprechen kommen. Ein dramaturgisches
Muster war die Szenenfolge »Furcht und Elend des dritten Reiches« von Brecht. Du hast es
aufgenommen, zum Beispiel in DIE SCHLACHT. Könntest Du Dir eine Anwendung für die
Gestaltung von typischen Situationen der gegenwärtigen sozialistischen Gesellschaft vorstellen?
Franz Xaver Kroetz hat ja nach dem Brechtschen Vorbild seine Szenen »Furcht und Hoffnung der
BRD« geschrieben, ich finde, kein sehr geglücktes Unternehmen, und hier in diesem Oberseminar
werden wir noch Szenen von Bonaventura aus Kolumbien zur Erörterung bringen, in denen die
Probleme Lateinamerikas dargestellt werden.
MÜLLER »Furcht und Elend des dritten Reiches« ist für mich leider ein absolut missglücktes
Produkt. Es gibt nämlich ein illusionäres Bild von Nazideutschland, ein Bild wirklich nach dem
Schema der KPD. Zugrunde lag eine völlig unzureichende Faschismusanalyse, die mit dazu
geführt hat, dass diese Partei vernichtet wurde. Brecht machte das viel zu sehr mit. Er war
angewiesen auf Informationen von anderen und Berichte, und das funktionierte nicht. Ich glaube
nicht, dass diese Dramaturgie hier und heute benutzt werden kann. Es gibt da diesen schönen
Satz von Brecht: Eine Fotografie der Kruppwerke sagt nichts über die Kruppwerke. Und eine
Fotografie der DDR sagt nichts über die DDR. Die Zukunftsstruktur der DDR findet man nur
gleichzeitig mit der Vergangenheitsstruktur, und das ist sehr problemreich, das geht nicht mit einer
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so einschichtigen und simpel montierten Dramaturgie, und das kann auch bei Kroetz nicht
aufgehen.
MATTHIAS THALHEIM In diesem Zusammenhang möchte ich auf das »Fatzer«-Fragment zu
sprechen kommen, weil das für mich heute noch modern ist, so in der Feinstruktur der Sprache, in
ihrer Gebundenheit oder in dem, was man den Fatzer-Vers nennt, weil da noch eine
Sprachanarchie oder -spontaneität möglich ist, die Bedeutung ausschreitet, die diese SprachBatzen von allen Seiten beschaut. Da ist noch ein ganzes Stück Valentin mit drin: »Also, wir gehen
jetzt los, und wenn wir wohin kommen, bleiben wir halt da ...«, und dazu das Exotische, dieses
Austasten der Situationen, das einem angenehme Fluchtfelder zur eigenen Nebenproduktion
verschafft. Nun begegnet einem aber in Ihren letzteren Stücken tendenziell mehr eine sprödere
Prosa, die weniger aus der besagten Rhythmisierung oder Spontaneität wie bei »Fatzer«
herkommt.
MÜLLER Das finde ich aus zwei Gründen interessant. Zum einen: Was die Qualität des »Fatzer«Textes bis in die kleinsten Elemente ausmacht, ist das Provinzielle. Und ein Aspekt der
Auslöschung von Gedächtnis ist die Zerstörung der Provinzen. Das ist ungeheuer wichtig, wenn
man über Brecht redet, diese seine Verwurzelung im süddeutschen Sprachraum. Das ist der
einzige wirkliche Kulturraum in Deutschland, den es je gegeben hat. Das ist leider wahr, obwohl
Schumacher Bayer ist. Aber meine Großmutter stammt ja auch aus Rosenheim.
SCHUMACHER Damit kommen wir auf alte Gespräche zurück, bei denen wir zum Schluß immer
wieder festgestellt haben, wir müssen gemeinsame Urgroßväter haben, und das können nur die
alten Römer gewesen sein, womit wir ja dann geadelt waren, und eben die Römer haben diesen
Kulturraum geschaffen.
MÜLLER Zum zweiten nun: Was in meinen letzten Texten mir selber unheimlich ist, und was etwas
zerstört schon im VERKOMMENEN UFER vorkommt, das ist, dass sie immer rhetorischer werden.
Das heißt, es sind nur noch Äußerungen eines »Clowns ohne Massen«, also eines Einzelnen. Und
da kann man sich zwar gut anhängen, als Intellektueller, aber man sollte nicht übersehen, dass
das ein Krisensymptom ist, dieses Abheben in die Rhetorik, was nicht nur bei mir so ist, dass es
immer mehr ein Autorentext wird.
SCHUMACHER Was macht das Theater dann damit, steht es ihnen hilflos gegenüber? Ich war
jedenfalls mehrfach beeindruckt, wie Theater gerade aus solchen fragmentarisierten, scheinbar
oberflächlich kollationierten, jedenfalls sehr mittelbaren, verschlüsselten, verfremdeten Texten zu
ganz Eigenem inspiriert wurde.
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MÜLLER Ohne Zweifel ein echtes Problem. Ich fand ganz einleuchtend, was Robert Wilson zu mir
sagte, nachdem er von mir einige Sachen in Übersetzung gelesen hat. Nach den Informationen,
die er hat, denn er hat ja nichts gesehen, hat man, so sagte er, immer versucht, meine Texte – und
es geht hier nur um meine letzten – dem Publikum mehr oder weniger nahezubringen. Nach seiner
Meinung geht es aber darum, sie vom Publikum zu entfernen und sie in einen Kunstraum zu
stellen, eben den, den das Theater schafft.
SCHUMACHER Aber es gibt da die gegenläufige Behauptung, dass auch Deine Texte für Wilson
nur Anlässe für illustratives Bildertheater waren.
MÜLLER Das ist die Meinung von Herrn Merschmeier.
SCHUMACHER Nicht nur, es gibt diese Meinung auch von anderen, dass in der Bilderflut dieses
Theaters der Text und seine Bedeutung untergehen.
MÜLLER Ich bin nicht ganz dieser Meinung. Es waren ja auch gar keine Texte von mir, ich habe
nur collagiert und schnell gemerkt, das geht gar nicht, ich kann dafür nichts schreiben, insofern
stimmt der Vorwurf. Aber wenn jetzt ein Text von mir da ist, und er macht Bilder dazu, ist das eine
andere Situation. Dann geht es.
SCHUMACHER Vielleicht für die Seminarteilnehmer noch einige Informationen, worum es ging.
MÜLLER Ich wurde von Wilson gefragt, ob ich an dem deutschen Teil eines Riesenprojektes
mitarbeiten würde, an dem er seit drei Jahren arbeitet. Der Ausgangspunkt für dieses Projekt
waren Fotos aus dem amerikanischen Bürgerkrieg, und das war der erste fotografisch
dokumentierte Krieg überhaupt. Die Fotos haben wirklich eine ungeheure Qualität, eben die
Qualität des ersten Blicks. So grausig ist ein Krieg nie wieder fotografiert worden, weil man es
danach ja schon konnte. Das waren ja damals noch solche Monumentalkameras, die ungeheuer
geschleppt, aufgebaut, wieder abgebaut werden mussten ...
ZWISCHENRUF ... wie eine Haubitze ...
MÜLLER So ähnlich, ja. Das war der Ausgangspunkt für dieses Projekt, das Wilson jetzt »Civil
Wars« nennt, also Bürgerkriege, wobei er sich gegen diese Übersetzung wehrt, weil er auch zivile,
familiäre Konflikte, Geschichten von Familien, berühmten Familien im Zusammenhang mit
bürgerkriegsähnlichen Situationen meint. Da gibt es einen Teil in Japan mit japanischen Familien,
einen Teil in Köln mit deutschem Material, einen in Holland mit holländischen Geschichten, einen in
Frankreich, einen in Rom, einen in Minneapolis, und das Ganze soll dann für die Olympiade 1984
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zusammengestellt werden zu einem 12-Stunden-Spektakel, einer einmaligen Aufführung vor 6 000
Leuten. Das ist der Plan, daran hat er drei Jahre gearbeitet, das heißt, er hat zunächst alles
gezeichnet, denn er versteht sich ja als bildender Künstler, er sagt, er wäre gern ein guter Maler, ist
es aber nicht, deswegen braucht er das Theater. Also, er kann seine Vorstellungen genau
aufzeichnen, aber er kann sie als Maler nicht umsetzen, und deshalb benutzt er das Theater, damit
er seine Bilder sehen kann. Das ist ein ganz legitimer Impuls, aber dafür braucht er Geld, sehr viel
Geld. Fertig ist jetzt eigentlich nur der Kölner und der holländische Teil. Alle anderen existieren nur
als Workshops. Auch für den Transport ist noch kein Geld da. PanAm wollte nicht und die
Lufthansa auch nicht. Das Interessante an Wilson ist für mich, das stammt jetzt nicht von mir,
sondern von Bernard Sobel, den Du ja kennst, ein französischer Regisseur, der mehrere Jahre am
Berliner Ensemble gearbeitet hat, und der sagte zu mir, er habe schon vor fünf Jahren zu Strehler
gesagt, der darauf einen Tobsuchtsanfall kriegte: »Was der Wilson macht, ist episches Theater,
das ist ›Kleines Organon‹.« Und er meint auch etwas damit, und zwar ein Theater (und das ist von
Brecht) mit einem Minimum an dramaturgischer Anstrengung, ein Theater, für das nicht der
Unterschied zwischen Laien und Schauspielern essentiell ist, ein Theater also, das wirklich ein
sozialer Freiraum ist, als Entwurf, als Möglichkeit. Und das Auffälligste an diesen WilsonProduktionen ist wirklich, dass Wilson als Regisseur die meisten Schwierigkeiten mit
Schauspielern, besonders mit deutschen – nicht mit japanischen! – hat, mit Laien aber überhaupt
keine.
SCHUMACHER Aber sind denn solche Laien, die für Wilson ein brauchbares Material abgeben,
überhaupt in der Lage, solche hochkomplizierten, hochstrukturierten Texte vorzutragen, wie Du sie
schreibst, oder kommt es schon gar nicht mehr auf den Sinn im einzelnen an?
MÜLLER Das ist für mich wirklich eine Frage, die ich nicht so einfach beantworten kann. Das
einzige Theater, das mich in der letzten Zeit wirklich nicht nur angeregt, sondern erschüttert hat,
waren ein paar Aufführungen von Pina Bausch, ein Theater ohne Text. Das ist ein Theater, in dem
die Tragödie plötzlich wieder da ist. Nicht bei Stein, nicht in der Schaubühne, in keiner noch so
berühmten Aufführung. Bei Bausch, da findet etwas unterhalb von Text statt. Das hat sicher auch
etwas zu tun mit der zunehmenden optischen Inflation, dieser Überschwemmung, und dass immer
weniger Leute Zeit haben, ein Buch in die Hand zu nehmen und einen Text zu lesen, einfach weil
es soviel zu sehen gibt.
SCHUMACHER Aber genau das lässt sich gegen das Theater Wilsons einwenden: dass er
vorrangig ein Bildermacher ist, nur dass er die Bilder in anderer Struktur und Abfolge präsentiert.
MÜLLER Wobei die Bilder ja nicht alle von ihm waren, wir haben sie auch zusammen gemacht.
Zwei Bilder sind leider rausgefallen, weil die Zeit zu knapp und der technische Aufwand zu
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wahnsinnig war. Das waren die besten, und das weiß er auch, das sagt er auch. Da war ein Bild
dabei, in dem nichts passiert, als dass sämtliche Figuren einschließlich Friedrichs des Großen
irgendwelche mechanischen Tätigkeiten ausführen, schalten, tippen oder so etwas, aber
pantomimisch, und ganz blökend dazu ist ein Ton darunter, und dazu habe ich den Fahrstuhl-Text
aus AUFTRAG gesprochen. Das ging, denn der Text ist völlig selbständig und das Bild auch. Ich
bin ganz einfach zu spät hereingekommen, ich konnte nichts mehr dafür schreiben.
SCHUMACHER Damit ist grundsätzlich das Problem des Verhältnisses zwischen dramatischem
Text und Umsetzung im Theater, angemessener »Verkörperung«, angemessener »Demonstration«
berührt.
Brecht selber äußerte, zu seinen Lebzeiten könne er nur »30 %« einer idealen epischen
Spielweise verwirklichen, nämlich verkürzt, mit starken Ellipsen, demonstrativ, mit gestischer
Geprägtheit im Ausdruck, weil weder die Schauspieler zu mehr fähig noch das Publikum mehr
hinzunehmen willig seien. Deine dramatischen Texte sind in einem weitaus stärkeren Maße als
zumindest beim »klassischen« Brecht dialektisch strukturiert, elliptisch, assoziativ-andeutend,
paradoxal zugespitzt. Wieviel Prozent der Brechtschen Verfremdungsmittel sind für sie
angemessen?
MÜLLER Ich glaube zum Beispiel, dass die hier schon mehrfach erwähnte MACBETHInszenierung in der Volksbühne, und soviel ich weiß, hast Du das auch geschrieben, ungeheuer
viel mit Brecht zu tun hatte, freilich mit dem bei uns nicht bekannten Brecht ...
SCHUMACHER ... oder dem nicht realisierten ...
MÜLLER Ich erinnere mich, wie Peter Palitzsch, der bei der »Kreidekreis«-Inszenierung der
Regieassistent von Brecht war, ein bisschen erschrocken war über das, was da rauskam: Alles war
so harmlos und bunt, und er fragte Brecht: »Ist das nun episches Theater?« Und Brecht erwiderte:
»Überhaupt nicht. Episches Theater kann es erst geben, wenn die Perversität aufhört, aus einem
Luxus einen Beruf zu machen«, also den des Schauspielers, diese Spezialisierung. Aber Brecht
war so eingespannt, auch in die Tageskämpfe hier, dass er gar nicht dazukam, seine radikalen
Vorstellungen von Theater zu realisieren.
SCHUMACHER Auch wegen des Publikums nicht.
MÜLLER Ja, auch wegen des Publikums, klar. Und ich merke das jetzt wieder. Wolfgang Heinz
sagt ganz ehrlich und ohne Bosheit: »Das hat ein Verrückter inszeniert.« MACBETH, das ist für ihn
verrückt. Das kann man ihm auch nicht erklären, das versteh ich auch. Und er sagt: »Das werde
ich in hundert Jahren auch nicht verstehen«, was ich einen optimistischen Satz finde. Bloß, da
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kann man sich kaum verständigen, glaube ich. Aber beim Publikum, da hat sich ein bisschen was
geändert. Das Publikum unter dreißig ist jedenfalls ansprechbar für eine solche Art Theater, das
über vierzig sowieso nicht.
SCHUMACHER Wo siehst Du im europäischen Raum, der für die Studenten einigermaßen
überblickbar ist, Theater entstehen und gehandhabt, das Deinen Vorstellungen einigermaßen
entspricht, oder gilt auch für Dich immer noch die Situation von Brecht mit den »30 %«, wenn nicht
gar von »10 %«?
MÜLLER Da sind nur Pina Bausch, die mich wirklich interessiert hat, und einzelne Inszenierungen.
Als Gesamttendenz sind es diese Sachen. Und ich frage mich, wie man das für einen Text
produktiv machen kann. Das ist ein ungelöstes Problem. Es geht wahrscheinlich nur mit Mitteln,
wie sie Brecht beschrieben hat, wo sie einen aber für verrückt erklären, wenn man sie anwendet,
wenn man also mit einem Text so umgeht wie das Kabuki-Theater, ich meine in der Annäherung.
Dann halten mich schon die Schauspieler für einen Irren und wollen erklärt haben, warum, und da
bist Du schon verloren, denn erklären kann man das nicht.
SCHUMACHER Man könnte es noch extremer formulieren, denn der Text ist im Kabuki überhaupt
nur Anlaß für Aktion.
MÜLLER Sprache als Material, Text als Material zu behandeln, die Mißverständnisse darüber,
auch dass meine Texte schwierig sind, entstehen doch daraus, dass die Schauspieler sie für
schwierig halten und Mühe haben, sie zu verstehen, und deswegen, dem Publikum gegenüber
auch noch von der Regie dazu angehalten, die Haltung von Pädagogen oder Erklärern einnehmen.
Wir sind ein bisschen klüger als ihr, ihr seid ein bisschen dümmer, wir erklären euch das jetzt,
damit ihr es versteht. Und schon wird ein Text schwierig.
Ein ganz einfaches Beispiel. Benno Besson wollte in der Volksbühne Brechts »Guten Menschen
von Sezuan« inszenieren, was er dann ja auch getan hat. Er fragte mich: »Sag mal, wie mache ich
das bei der Situation in Berlin, wo Shen Te sagt: ›Wenn in einer Stadt ein Unrecht geschieht ...‹
und so, dann ist es besser, daß sie ›untergeht / Durch ein Feuer, bevor es Nacht wird‹, wie mach
ich das?« Ich sagte: »Das weiß ich auch nicht, das musst Du wissen.« Dann hat er probiert und
sagte zu Karusseit: »Usch, mach mal, wie würdest Du das machen?« Und die Karusseit mit dem
Instinkt der Theaterbestie ging natürlich an die Rampe und brüllte den Satz ins Publikum. Besson
raufte sich die Haare und sagte: »Das ist falsch, ganz falsch. Du musst das ganz anders machen.
Pass auf, Du bleibst hinten und sagst es ganz leise, und Du musst ganz anders betonen.« Und
dann machte er ihr vor, ganz leise: »Wenn in einer Stadt« und so weiter, dann ganz laut »bevor es
Nacht wird.« Das war wirklich die Erfindung des Manierismus. Kein Mensch verstand mehr den
Satz, alle lachten darüber: warum nicht »nachher«? So entsteht der Manierismus in unseren
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Inszenierungen.
SCHUMACHER Im Grunde diskutieren wir damit über den Zentralbegriff der Verfremdung bei
Brecht. Wie weit weg von der Alltagswirklichkeit muss die theatrale Abbildung getrieben werden,
um die Darstellung vom bloßen Imitat abzuheben, und wo erfährt die szenisch-darstellerische
Auffälligmachung ihre Begrenzung, wenn sie noch den Sinn, irgendeine »Botschaft«, wie immer
man das nennen will, mitvermitteln will, wenn sie »rational« kommunikabel bleiben soll. Deine
Texte sind diesbezüglich vielfach sehr hermetisch, sie wirken wie Ausdruck der
Selbstverständigung des Subjekts Heiner Müller, in dem die Widersprüche des 20. Jahrhunderts,
wenn nicht des Menschseins, zusammenschießen und auf die komprimierteste Form gebracht
sind. Hier ist schon im Text eine solche Verdichtung erreicht, dass ein Publikum, wie ich es zum
Beispiel am Freitagabend im Metropol erlebt habe, damit gar nicht kommunizieren kann.
MÜLLER Mit einem Goethe-Text auch nicht, mit Shakespeare auch nicht. Man muss sich, glaube
ich, die Illusion abgewöhnen, dass es in einer Zeit der Massenmedien Volkstheater geben kann.
Das hat Strehler schon vor zehn oder fünfzehn Jahren gesagt. Das ist eine sozialdemokratische
Illusion, Volkstheater im Zeitalter der Massenmedien. Man muss also überlegen, wie man – und
das ist ja auch ein Aspekt der Theatertheorie und -praxis von Brecht– das Theater gegen den Sog
des Fernsehens und des Films absichern, wie man es gegen den zerstörenden Einfluss dieser
Medien abdichten kann.
SCHUMACHER Aber es gibt nun einmal das Bedürfnis nach einem Theater, das dem Publikum
Unterhaltung in der herkömmlichsten Form bietet. In der von mir erwähnten Vorstellung im
Metropol am Freitagabend war diese Unterhaltung auf das denkbar niedrigste Niveau gedrückt,
»Die Tante aus Brasilien«, eine Variante von »Charly‘s Tante«, aus der Sowjetunion importiert,
nachdem sie dort über 500mal gespielt worden ist, mit der schmissigen Rotzmusik der
heruntergekommenen Operette. Aber das Publikum ließ sich das nicht nur um die Ohren hauen,
sondern ging mit, bis nach der Pause ein Chargenschauspieler aus dem 19. Jahrhundert, der die
Rolle eines Butlers spielt, das Publikum fragte: »Seid ihr noch alle da?« Da sprang im ersten Rang
ein junger Mann auf und rief. »Das ist eine künstlerische und politische Instinktlosigkeit erster
Güte, was hier passiert«, was den Mimen an der Rampe so verdatterte, dass er von einer
Inspizientin hinter den Vorhang gezogen werden musste, und der Intendant oder Chefdramaturg
des Metropol am nächsten Morgen die Zeitungen anrief, sie möchten keine Kritik veröffentlichen,
weil es sich nicht um die Premiere, sondern um die Generalprobe gehandelt habe. Das Publikum
hätte sich ohne den Zwischenrufer diese Art von heruntergekommenem Theater durchaus gefallen
lassen. Wie unter diesen Umständen Theater machen, das schon in der textlichen Vorgabe eine
solche Verdichtung erreicht hat, wie sie bei Deinen Texten erreicht ist, und dafür theatrale Formen
der Versinnlichung finden, die sie kommunikabel machen und halten? Als Du noch Marxist und
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Brechtianer warst, hast Du noch die Meinung von Theater als einem Laboratorium sozialer
Phantasie gehabt. In der Konsequenz hieße das heute, einem Theater, das die Bedürfnisse breiter
Massen befriedigt, eine Art experimentellen Theaters, eines avantgardistischen Theaters neuer Art
hinzuzufügen oder gegenüberzustellen.
MÜLLER Das ist doch ganz einfach. In der Antike gab es nur einmal im Jahr Theateraufführungen.
Es gab da noch nicht diesen Repertoirezwang, dem heute der Theaterbetrieb unterliegt. In großen
Theaterzeiten, so auch in den zwanziger Jahren, wurden doch die großen Stücke nicht fünfzigmal
durchgejagt, wie es heute aus Mangel an Stücken und an Beweglichkeit der Apparate geschieht.
Ich bin sicher, für jedes meiner vorhandenen Stücke gibt es in Berlin ein Publikum für zwanzig
Vorstellungen, und mehr muss nicht sein. Der Rest ist eben wirklich dieser Bewegungslosigkeit der
Apparate zu verdanken, der Dramaturgie, dem Ministerium, was immer, das sind doch alles
Bremsen.
SCHUMACHER Im Grunde gibt es für Dich in Berlin vier Theater: das Berliner Ensemble, die
Volksbühne, das Gorki Theater und natürlich das Deutsche Theater. Aber in jedem dieser Theater
vermag nur eine Minderheit der Leute, die dort reingehen, mit Deinem Theater, als Ausdruck eines
neuen zeitgenössischen Theaters verstanden, etwas anzufangen. Könnte dem Problem ab- oder
vorangeholfen werden, indem jedem Theater ein experimenteller Freiraum zugebilligt würde,
jedem Theater eine Experimentierbühne?
MÜLLER Das ist eine ganz pessimistische Einschätzung. In Westberlin ist jetzt etwas
Merkwürdiges passiert. Am Schiller Theater hat ein sehr mittelmäßiger Regisseur Gundling
inszeniert. Die Dramaturgie hatte Irene Böhme; Hilmar Thate und Angelica Domröse waren die
wichtigsten Darsteller. Das Ergebnis war mittelmäßig, aber der Skandal riesig. Während der
Premiere gingen zwei Drittel des Publikums weg, so ist mir erzählt worden.
SCHUMACHER Das stimmt nicht. Ganze acht Leute sind rausgegangen, sah ich selber.
MÜLLER Aber die Presse, die »Bildzeitung« und die ganze Springer-Presse waren entsprechend
dagegen. Friedrich Luft schrieb: »Ich musste drei Schnäpse trinken, um das runterzuwürgen«.
Aber vielleicht gerade deswegen sind die Leute dann reingegangen, die sonst nie ins Schiller
Theater gingen. Man sollte also nicht so schnell aufgeben.
SCHUMACHER Trotzdem die Frage: Hat Brechts Aufsatz von 1939 Ȇber experimentelles
Theater«, mit dem er sein Entrée in Schweden vor Studenten der Stockholmer Universität gemacht
hat, mit seiner Grundaussage, Theater des 20. Jahrhunderts müsse, wenn nicht in Gänze, so doch
partiell einen experimentellen Charakter haben, auch noch Gültigkeit im Sozialismus?
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MÜLLER Das Problem ist doch die Kulturpolitik. Es ist ja nicht so, dass es zu viel Kulturpolitik gibt,
sondern zu wenig, und dass sie rein defensiv eingestellt ist. Es ist doch schon oft über dieses
Projekt eines Theaters für solche Zwecke in Berlin gesprochen worden, was ja durchaus ginge.
Aber es ging nie, weil die bestehenden Theater immer genügend Schwierigkeiten haben. Trotzdem
muss man immer wieder darauf kommen.
SCHUMACHER Wir haben über den Begriff der Verfremdung bei Brecht gesprochen. Kannst Du
mit dem Komplementärbegriff der Historisierung noch etwas anfangen?
MÜLLER Es ist die Frage, was man darunter versteht. Ich würde darunter nicht verstehen die
sogenannte Treue des Details, dieses Stimmige im Umgang mit Geschichte. Es gibt da die
Anekdote, dass Brecht Elisabeth Hauptmann angeregt hat, ein Stück über Karl XII. zu schreiben.
Ihm gefiel an der Geschichte eine Episode: Karl XII. wird eingeschlossen, ich weiß jetzt nicht mehr,
von welcher Armee, und es gibt nichts mehr zu essen, es ist Winter, die Soldaten erfrieren und
verhungern, und als das Schloss dann eingenommen wird, entdecken die Eroberer unter einem
Haufen gefrorener Leichen ganz unten das Gesicht von Karl XII., auch im Eis, und alle hatten sich
um ein Stück Brot gekloppt; darüber wollte Brecht ein Stück. Die Hauptmann fing an, das zu
schreiben, und dann kam sie irgendwann mit der Fabel oder ihrer Dramaturgie nicht weiter. Sie
kam zu einem Punkt, wo sie sagt, jetzt im dritten Akt kann ich nur weiterschreiben, wenn eine
Nachricht von einem Ort zum anderen gelangt, schneller als es mit den Transportmitteln der
damaligen Zeit möglich war. Da sagte Brecht: »Dann lassen Sie doch telefonieren.« Das finde ich
eine realistische Haltung zur Frage der Historisierung. Also wenn das der Aussage dient, dann soll
man telefonieren.
SCHUMACHER Der Begriff der Historisierung impliziert bei der praktischen Anwendung eine
Paradoxie. Ideell gesehen soll das, was gezeigt werden soll, weit weggerückt werden, um den
Schritt der Geschichte, der seitdem getan wurde und damit Veränderungen einschließt, bewusst zu
machen. Praktisch lebt das Theater jedoch vom Gegenwärtigsein, das immer Gegenwärtigmachen
bedingt.
MÜLLER Das Verfahren hat ja eine zusätzliche Tücke. Diese so eng verstandene Historisierung
wird dann eben auch benützt, um zu sagen, so schlimm war es einmal, aber mit uns hat das
überhaupt nichts zu tun. Das hat auch mit dem platten Inhalt zu tun.
THALHEIM Ich möchte nochmals auf die »Fatzer«-Bearbeitung für das Berliner Ensemble
zurückkommen. Wie kam es dazu?
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MÜLLER Es gab in den Sechzigern einen Hospitanten oder Assistenten im Berliner Ensemble,
Guy de Chambure. Das war der einzige Millionär, der je am Berliner Ensemble engagiert war, ein
Rothschilderbe, der leider nach einer Entziehungskur vom Alkohol an einem Herzinfarkt gestorben
ist, in Paris, wohin er zurückgekehrt war. Er war ein sehr intelligenter Mann, einfach eine schöne
Farbe in dieser etwas grauen Mannschaft des Berliner Ensembles. Der besorgte immer Whisky für
alle, na, ich kannte ihn ein bisschen, und wir sprachen einmal darüber, ob man mit diesem
»Fatzer« Material etwas anfangen sollte. Das ging natürlich nur, wenn man es auf eine Darstellung
durch Ekkehard Schall hin anlegte. Das haben wir dann auch gemacht. Da gab es dann ein paar
Sitzungen, aber im wesentlichen ist nicht viel mehr herausgekommen, als was Alexander Stillmark
davon aufgeschrieben hat. Das Vorhaben wurde irgendwie in der Dramaturgie nicht ernst
genommen. Man hielt es nicht für machbar, und gab anderen Projekten, die für wichtiger gehalten
wurden, den Vorzug. Es ist irgendwann eingeschlafen.
BREDEMEYER Aber Sie haben ja den »Fatzer« später dann doch für eine Aufführung in Hamburg,
glaube ich, bearbeitet.
MÜLLER Ja. Zuerst hatte ich ja auch nur das Fragment in den »Versuchen« gelesen, ein Stück
aus dem dritten Teil, die Fleischbeschaffung, die Schlägerei mit den Fleischern. Dann kam dieser
Ansatz einer Bearbeitung im Berliner Ensemble. Schließlich die Aufführung in der Schaubühne, die
schlecht war, weil die versuchten, das als eine Historie, also richtig mit Milieu und so, zu zeigen,
was natürlich schief ging. Daraufhin habe ich mir das ganze Material aus dem Brecht-Archiv geben
lassen. Das waren ungefähr 500 Seiten, was gewaltiger klingt, als es ist, denn manchmal ist auf
einer Seite nur ein halber Satz oder eine Notiz oder eine Zeichnung. Und sehr viele Varianten.
Dann habe ich mich allmählich durchgewühlt, es war ganz schwer, deswegen lüge ich dann immer,
wenn ich versuche, das zu beschreiben, weil es eine so blinde Praxis war. Ich erinnere mich,
Hanns Eisler hatte DIE UMSIEDLERIN gelesen und sagte daraufhin nicht zu mir, sondern zu Hans
Bunge: »Er ist eine große Begabung, aber leider eine dumpfe.« Und da war aus seiner Sicht was
dran. Das ist aber auch meine Sicht, denn meine Überlebensfähigkeit liegt in dieser Dumpfheit,
dass ich wirklich nicht kalkuliert arbeite. Ich kann hinterher viel darüber reden, auch analytisch, und
viel darüber nachdenken, aber es ist so instinktmäßig, mein Arbeiten. Ich habe also einfach diese
Blätter in meinem Zimmer ausgebreitet, und das Zimmer reichte dann nicht, und dann bin ich von
einem Platz zum anderen gegangen. Es musste ja anfangen mit dem ersten Weltkrieg, das war
klar, und dann setzte sich allmählich eine Struktur zusammen. Es gilt ja wirklich der Satz: Wir
machen Dinge, von denen wir nicht wissen, was sie sind. Das erfährt man hinterher, wenn sie
fertig sind. Daran muss man auch festhalten, glaube ich, und auf diesem Recht bestehen, dass
man blind produziert. So entsteht Realismus. Sonst entstehen Plakate oder Allegorien oder was
immer.
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RINDFLEISCH Gab es da nicht Schwierigkeiten mit den Erben?
MÜLLER Überhaupt nicht. Barbara (Schall-Brecht) war sehr begeistert und sagte: »Du kriegst für
die Bearbeitung 1 % der Tantiemen.« Ich habe dann zäh gehandelt, und sie sagte: »Also mehr hat
noch keiner gekriegt. Aber weil Du es bist und weil es mir so gut gefallen hat, kriegst du 1 1/2
Prozent.« Nun war ich sehr stolz auf dieses Verhandlungsergebnis.
SCHUMACHER Wieviel hat denn Palitzsch jetzt für den »Jakob Geherda« ausgehandelt?
MÜLLER Bestimmt nicht mehr als 1 1/2 Prozent. 1 1/2 krieg nur ich.
SCHUMACHER Du stehst ja in einer außerordentlichen Gunst bei ihr, das ist erstaunlich. Sie hat
eben doch nicht vergessen, dass Du von Brecht hergekommen bist.
MÜLLER Na, zwischendurch war ich natürlich auch mal Verräter. Aber das gibt es bei so engen
Beziehungen, das ist unvermeidlich.
SCHUMACHER Irgendwie ist es traurig, dass alle diese Fragmente mit Ausnahme des
»Brotladens« nicht im Berliner Ensemble, sondern außerhalb das Licht der Bühne erblickt haben.
Das letzte Beispiel war die Aufführung des eben erwähnten Fragments »Das wirkliche Leben des
Jakob Geherda« in Köln, das Peter Palitzsch inszeniert hat. Das liegt aber sicher nicht allein an
der Leitung des Berliner Ensembles, sondern auch an der Vorsicht der Brecht-Erben, die das
Brecht-Bild freihalten wollen von diesen unausgereiften, jedenfalls nicht vollendeten Entwürfen
usw., um das Bild des wahren, guten, schönen Klassikers zu erhalten. Dabei zeigte die Aufführung
des »Brotladens«, dass an solchen Fragmenten sich sehr viel demonstrieren lässt, was für die
Lebendighaltung Brechts von Interesse ist. Zum Beispiel kam Agnes Kraus, die die Witwe Queck
spielte, zum ersten Mal aus einer braven Mittelmäßigkeit heraus und war wirklich herausragend.
Aber insgesamt geht es ja heute um die Frage, wie auch der »Klassiker« Brecht lebendig gehalten
werden kann. Vor dieser Frage stehen Sie, meine Damen und Herren, ja bald selbst.
KOSS Ich sehe das aber auch so: Was machen wir mit Heiner Müller?
THALHEIM Da würde ich gerne eine Gretchenfrage stellen. Sie bezieht sich auf die so nebenbei,
vielleicht ironisch gemachte Bemerkung von Professor Schumacher: »... als Du noch Marxist warst
...« Wie steht es damit wirklich?
MÜLLER Ich habe da Schwierigkeiten, genau zu sagen, wer Marxist und wer keiner ist. Ich bin
Schriftsteller und schreibe Stücke. Ich würde nie sagen: Ich bin Marxist, das wäre mir ganz fremd.
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Das würde mir wie eine Pose vorkommen. Marx selbst hätte auch nie gesagt, ich bin Marxist. Da
gibt es ja diesen Spruch: »Gott behüte mich vor den Marxisten.« Um es mal seriös zu behandeln:
Natürlich geht es um eine solche Unterscheidung, das finde ich dann schon richtig. Godard hat das
mal ganz gut formuliert: Es ist unsinnig, politische Filme zu machen, es geht darum, Filme politisch
zu machen. Um diese Unterscheidung geht es eigentlich, dass man das nur auf seine Praxis
beziehen kann. Deswegen kann ich nicht sagen, ich bin Marxist. Ich schreibe vielleicht mit
marxistischem Wissen, das ich habe oder nicht habe, damit schreibe ich meine Texte, aber ich
könnte das nie so sagen.
SCHUMACHER Bringen wir doch das Problem nach christlichem Vorbild einfach auf die
Überzeugung: Anima naturaliter marxistica ...
MÜLLER Da möchte ich mit Brechts Galilei antworten. Als der von Virginia die ethischen
Grundsätze von Montaigne vorgelesen bekommt, sagt er nur immer: »Weiter, weiter.« Aber als sie
vorliest: »Bewundernswert ist das Gute«, sagt er: »Lauter«, und dann wiederholt sie:
»Bewundernswert ist das Gute.« Das finde ich enorm.
(Redaktion: Ernst Schumacher)
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Die Regisseurin Claudia Bosse (* 1969) zählt zu den Gründerinnen der experimentellen
Theatergruppe »theatercombinat«. Von Januar 1999 bis Dezember 2000 erarbeitete das
Kollektiv das Projekt »massakermykene«, eine zweijährige Forschungsarbeit zu den Themen Chor, Improvisation und Raum im 50.000 qm großen Schlachthof St. Marx, Wien. Zentrale Textgrundlagen der Arbeit waren die »Orestie« von Aischylos sowie das »Fatzer«-Fragment. Bereits im Jahr zuvor hatte Bosse »Fatzer« am Grütli-Theater in Genf inszeniert.
Bosses Arbeit an und mit dem Fatzer-Text ist umfangreich im Netz dokumentiert. In der folgenden Vorbemerkung erläutert sie einige ihrer grundlegenden Gedanken zum Theater in
diesem Kontext. Die fehlende Großschreibung (ein Markenzeichen u.a. Brechts) ist aus dem
Originaltext übernommen.
vorbemerkung zu einer dokumentation
claudia bosse
die wichtigkeit einer aufführung bezieht sich nicht primär aus der arbeit an der vorher bestimmten
botschaft für das publikum, sondern aus dem produktionsprozess, d.h. der wichtigkeit für alle teilnehmenden. nur so kann eine produktion in einen direkten dialog mit dem zuschauer treten – in
der individuellen konfrontation im arbeitskollektiv und danach mit dem zuschauer, dem keine bedeutung fertig geschnürt übermittelt wird, sondern der anhand der gezeigten haltungen seine bedeutung finden muß, in dem der raum für eine erfahrung zugestanden wird.
die auslassung konfrontiert den zuschauer mit seiner realität, die präsentation bezieht daher ihre
gesellschaftliche relevanz.
das grundproblem betrifft das kommunikationsschema eines theaters, das mit seiner "wirkung" kalkuliert. die suche nach der vorherbestimmung der emotion des zuschauers, mit scheinbar aktiver
kompositionsbeteiligung des zuschauers, ist ein produkt von spekulation. in der scheinbaren freiheit suche nach direkter manipulation. effektkonsum bei polizeilicher wiedererkennung der einzeleffekte. ein völlig autoritärer prozess nach beiden seiten: einerseits unterwerfe ich mich wirkungsstrategien, die aus einem abstrakten schema vom "zuschauer" bezogen sind, andererseits unterliegt der zuschauer der ideologischen unterweisung des machers. was will er mir mitteilen? was
soll ich verstehen? die frage "was nehme ich wahr" kommt nicht auf.
ein harmonisch geschlossenes kunstwerk ist einfacher rezipierbar, beschreibt einen geschlossenen kosmos und verhindert das eindringen in die wirklichkeit außerhalb des theaters. eine flucht in
andere welten, und keine "sehnsucht nach einem anderen zustand der welt" (jean genet), weil die
wirkung bei beendigung der aufführung aufhört.
ausgangspunkt ist die wiederholung des bereits bekannten ausgehend von gewohnten emotionen,
keine suche nach dem unbekannten, ungewohnten.
ist die bestätigung oder die infragestellung von wirklichkeit das entscheidende in der kunst?
was ist wahrheit? wer entscheidet darüber?
im theater heute existiert wahrheit nur als konstruiertes schema von wirklichkeit, die es auch nur
da als solche gibt, die aber vom zuschauer als wahrheit – und nicht bloß als wiedererkennen von
bereits bekanntem – abgelehnt wird.
ist die pathetische erregung eines darstellers oder einer szenischen führung gleichzusetzen mit der
erregung des zuschauers? was erzeugt beim zuschauer erregung und lässt ihn aus einem zustand
in den nächsten passieren?
wo existiert ein theatraler raum, in dem der zuschauer erfahrungen machen kann und keine bereits
gemachten zur konsumtion bekommt?
in einer reihe von arbeiten mit dem theatercombinat wird versucht, diese fragen und das damit verbundene theatrale interesse praktisch zu entwickeln und zu präzisieren.
im folgenden soll durch eine auswahl von arbeitsmaterial, überlegungen und kritiken zu der jüngsten arbeit, am fatzer-fragment von bertolt brecht (théatre du grütli, genf, märz bis juni 1998), ein
anfang gemacht werden, diese arbeitsansätze zu dokumentieren.
Quelle: http://www.theatercombinat.com/projekte/fatzer/fatzer_vorbemerkung.htm (23.3.2012)
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E) Das Lehrstück
aus: Steinweg, Reiner: "Das Lehrstück. Brechts
Theorie einer politisch-ästhetischen Erziehung."
Stuttgart: Metzler, 1972. 13ff.
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aus: Steinweg, Reiner: "Das
Lehrstück. Brechts Theorie einer
politisch-ästhetischen Erziehung."
Stuttgart: Metzler, 1972. 87ff.
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[...]
F) Wer ist der Chor?
B21
WER IST DER CHOR?
Vor dem Schluss:
Aber auch er ist doch
Ein Mensch wie ihr!
Unbestimmt von Ausdruck
Frühzeitig verhärtet, vieles
Versuchend
Äußerte er viel:
Haltend ihn doch
Nicht bei dem was er sagte bald
Ändert er´s...
Nichts Endgültiges saht ihr und alles
Änderte sich vor es einging
Warum
Nehmt ihr ihn beim Wort?
Wen ihr beim Wort nehmt der
Ist´s der euch enttäuscht !
Aber sie brauchen doch auch
Obdach und Wasser und Fleisch!
Bertolt Brecht, aus »Fatzer«
»Die Schwerkraft der Massen« - der Chor ist ein Gravitationszentrum und dadurch provoziert er
Bewegung. Es gibt diese alte Formel: der Chor als Instrument der Dialektik, aber Instrument, nicht
Lehrer, der Chor hat überhaupt keinen didaktischen Zug, im Gegensatz zu dem, was im christlichen Drama und bei Brecht daraus geworden ist, wo der Chor im Besitz einer Wahrheit ist. Hier
ist der Chor nicht im Besitz einer oder der Wahrheit. Er will vielleicht die Wahrheit wissen, aber er
weiß sie nicht, er gibt nicht vor, sie zu wissen. Sie wird ihm dann gesagt; der Chor provoziert das
durch die Schwerkraft, er fragt die Bewegung nach der Richtung, dadurch, daß er stehen bleibt.
Heiner Müller in Aischylos, Die Perser
Fatzer-Fragment: der Chor ist aus der Gesellschaft verschwunden. Entinnert. Der Fatzer-Text
formuliert ein ständiges Ringen gegen die Unmöglichkeit des Chors. Es existiert kein bindendes
Verhältnis zwischen den Figuren und dem Chor. Die Chortexte bezeichnen die Differenz. Chor und
Individuum scheitern.
Karl Mickel zitiert Brecht
nach Paul Dessau: »Aus Gesprächen«, Leipzig 1974
Im Chor vervielfältigen sich die Schreckensmomente. Der Sprechvorgang alleine hat als Widerstände gegen diese Selbstzersetzung zunächst Statisches: den Text, den Raum. Oder findet in gesetzten szenischen Ordnungen statt, als Dialog z.B. oder als Bericht, Erzählung, Bezeichnung.
D.h., es gibt ein Minimum an Richtungen, an Entfernungen, die gegeben sind, die ich von mir aus
überwinden, ansteuern und so, durch Hören z.B., überprüfen, korrigieren kann. Mit Raum und Zeit
dazwischen. Im Chor fehlt dieses individuelle Raum-Zeit-Kontrollmoment. Jegliche Differenz,
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falsche Nähe oder falsche Distanz ist hörbar, jede Ängstlichkeit oder allgemeiner, jede Differenz
trägt sich im Moment (in Echtzeit) aus: wer beginnt, wer nicht, wer folgt, wer nicht, wer ist stärker,
schwächer, wer findet den Text gut, wer nicht, verhält sich dazu oder nicht. Wiederum: Furcht. Vor
dem Alleinsein im Chor genauso wie vor dem Zusammensein im Chor. Begreift man den Chor als
spezifische Kommunikationsform und nicht als ästhetisches Mittel für irgendwelche Effekte, d.h.
verzichtet man auf technische Instrumentarien der Steigerung und der Synchronisation, auf den
Dirigenten als Sinnstifter, ist der Chor Brennglas sozialen Verhaltens und seiner Grenzen. Auch
das ist eine Konditionsfrage. Auch das geht nur über Training, nicht über Interpretation und
Ausdruck.
Christine Standfest/theatercombinat
Auszug aus einem Dokumentationsentwurf zur Arbeit an Fatzer, Genf 1998
In der Orestie ist der Chor das Ausgangsmoment. Durch die Präsenz des Chors lassen sich die
Protagonistenhaltungen (Agamemnon, Klytaimnestra, Orestes) vorführen; durch die Protagonisten
werden die Chorhaltungen befragt. Die Orestie zeichnet das Verschwinden des Chors über den
Verlauf der drei Teile. Orest geht aus dem tragischen Diskurs hervor. Die chorische Ordnung verliert sich.
Der Chor in der Tragödie ist nicht die Wahrheit der antiken Seele. Es sind Chöre: der Chor der
Greise, der Sklavinnen, der Erinyen. Chöre sind Kommunikationsschemata. Sie repräsentieren keine Identität, schon gar nicht die Identität des Publikums. Der Chor ist eine Konstellation, zu der
sich der Betrachter in Beziehung setzen muss.
Claudia Bosse/theatercombinat
Fatzer-Fragment. Der Chor ist aus der Gesellschaft verschwunden. Entinnert. Der Fatzer-Text formuliert ein ständiges Ringen gegen die Unmöglichkeit des Chors. Es existiert kein bindendes Verhältnis zwischen den Figuren und dem Chor. Die Chortexte bezeichnen die Differenz. Chor und Individuum scheitern.
Claudia Bosse/theatercombinat
Josef Szeiler: ... daß ein Fragment die Präzision im Detail braucht. D.h. je präziser der Chor ist,
desto fragmentarischer wird das andere, was ja real so ist. (...) Schlicht und ergreifend die
Präzision oder die Genauigkeit oder die Energie oder die Freude, was alles der Chor vermittelt, je
mehr man das hat, desto mehr fragmentiert sich das andere.
Rein technisch muß man ja mal fragen, was das heißt, in dem Jahrhundert den Chor wieder zu installieren, nicht als irgendein Beiwerk, sondern als die zentrale Qualität. Diese Versuche von
Brecht, letztlich auch irgendwie von Müller, im deutschen Sprachraum wieder auf den Chor zu gehen. Als zentralem Punkt der Dramatik. Nicht nur ein Chörchen irgendwo, sondern dass der Chor
im Zentrum ist. Und du kannst dieses Verhältnis natürlich nicht mehr so installieren wie in der Antike, das ist Quatsch.
Sylviane Dupuis: Das erste Mal, dass mich das wirklich interessierte, einen Chor zu sehen. Es
gab keine Einheit, und gleichzeitig, denn das ist die einfachste, die uninteressanteste Art wenn alle
gleichzeitig sprechen, aber es gab eine Einheit, die sich mit den Differenzen konstituiert. Das ist
sehr schön, und das ist die einzige Art, den Chor zu arbeiten, was mich die ganze Zeit über an der
Arbeit interessiert.
JS:... aus der Präzision des Chores heraus kann man jegliche andere Unpräzision oder Präzision
aktivieren, installieren, zerfallen lassen, neu konstruieren, aber das braucht den Moment. Ich persönlich glaube, der zentrale Moment von Fatzer ist der Chor. Auch im Schreiben. Und dass das
misslungen ist, hat meiner Meinung nach damit zu tun, dass Brecht nicht damit umgehen konnte,
dem Verhältnis Chor und Protagonist, mit dem parteiischen Verhältnis von Chor und Protagonist.
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Das hat er in allen Dingen hingekriegt und zwar über den Kompromiss, dass er den Chor negiert
oder musikalisiert hat in einer populären Weise.
(aus einem Arbeitsgespräch zu »Fatzer« mit Sylviane Dupuis und Josef Szeiler, Genf 1998
Auszug aus einem Dokumentationsentwurf von theatercombinat)
Quelle: http://www.consyder.com/massakermykene (22.12.2012)
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G) Aufführungsgeschichte/
Deutungen
aus: Jan Knopf (Hrsg.): "BrechtHandbuch in fünf Bänden." Stuttgart:
Metzler, 2001–2003
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aus: Wyss, Monika: "Brecht in der Kritik. Rezensionen
aller Brecht-Uraufführungen", München: Kindler 1977,
S. 440ff.
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Brecht/Müller, mal melodisch
Zum Gastspiel des Teatro Stabile an der Volksbühne Berlin
22. Januar 2012
Tobi Müller
Der Fatzer-Stoff ist im deutschsprachigen Theater ein Mythos im eigentlichen Sinn. Ein
Mythos, weil unentziffert. Es gibt vier- bis fünfhundert Seiten, aber kein Stück. Nicht von
Brecht jedenfalls. Es gibt eine Fassung der alten Schaubühne, noch so ein deutscher
Mythos. Und es gibt Heiner Müllers Bearbeitung. Müller, Master of Myth, der Herrscher
über die Rückprojektion der deutschen Geschichte in die Unerbittlichkeit der Antike. Über
Fatzer wird vor allem geraunt: Brechts Schock der Großstadt, als er nach Berlin kam; die
Konsequenz des Umsturzes, seine Logik der immer neuen Ausgrenzung; das Verhältnis
von Individuum und Kollektiv, das ist der Kern, der die berühmteren Lehrstücke wie »Die
Maßnahme« umtreibt. Ein Mythos bleibt nur so lange Mythos, wie an seiner Interpretation
gearbeitet wird und er also unverstanden bleibt. Ich bin nicht sicher, ob das für Heiner
Müller zutrifft. Oder auf die Figur Brechts. Sicher aber auf diesen einen Un-Text, das
Fatzer-Fragment.
Wer Müllers Fassung liest, hört das ästhetische Familienverhältnis der beiden wichtigsten
deutschen Theaterautoren des 20. Jahrhunderts einmal mehr sofort. Der Schrecken des
Krieges wird einerseits ein Stück weit gebannt in der Sprache, und doch wieder in ihrer
Deutlichkeit abgebildet. Man hört die Drastik dialektisch in der strengen Formalisierung
mitzittern. In Pausen, Sprachbildern wie Kirchen, ein Denken und Schreiben, das die
Abgeschiedenheit der Emigration – der äußeren bei Brecht, der inneren bei Müller? –
vorwegnimmt.
Die Geschichte der Deserteure, die aus dem Ersten Weltkrieg flüchten, die Revolution
wollen und sogleich wieder scheitern, ist das Gegenteil des Geplauders. Nun sehen wir
aber italienische Schauspieler in der Volksbühne, sie kommen aus Turin, aus dem Teatro
Stabile, und zeigen uns »Fatzer Fragment – Getting Lost Faster« mit deutschen Übertiteln.
Und es sieht, trotz einiger angedeuteten Tableaux vivants, die man auch von Müllers
Inszenierungen oder mehr noch: von jenen Einar Schleefs kannte, es sieht einfach sehr,
sehr anders aus. Wo kein Text mehr hilft, wird improvisiert. Für deutschsprachige Ohren
oft: wortreich charmiert. Man gibt sich diesem Sound hin, der die Melodie stärker gewichtet
als das Deutsche mit seinen harten Rhythmen, zumal wenn sie im Vers gehalten werden
wie bei Brecht/Müller. Das Italienische wirbt um den Hörer, um das Deutsche muss man
als Hörer selbst werben. Das ist eine ungewöhnliche, im Sinne der Unterbrechung des
Bekannten, des vermeintlich Verstandenen auch: eine sinnliche Erfahrung.
Die Revolution als Casting Show mit dem Publikum, die Musik als oft romantisches
Elektro-Intermezzo: Der Text, und es ist viel Text, erscheint so nicht als Evangelium,
sondern als Projektion. Für Müller war es die RAF. Für die Turiner sind es die kommenden
Aufstände unserer Zeit. Dass man zwischen diesen Klängen und Improvisationen auch
immer wieder den Text nach dem Buchstaben zu spielen versucht und auf dieser großen,
Brecht- wie Müller-gestählten Bühne nur schwerlich durchdringt, ist am Ende vielleicht
nebensächlich.
wanderlust blog http://www.wanderlust-blog.de/?p=4531 (27.1.2012)
99
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Ein weiterer Auszug aus der Dokumentation der Schweizer Erstaufführung von "Fatzer" am Theater Grütli in Genf,
1998. Weiteres Material (siehe Inhaltsverzeichnis links) befindet sich unter http://www.theatercombinat.com/projekte/
fatzer/
theatercombinat | 1998 fatzer-fragment brecht - 4 monate + 18 präsentationen, schweizer erstaufführung, th
grütli, genf (ch)
sprache: deutsch
vorbemerkung
raum
improvisation
komposition
thesen
fragen
zusammenfassung der
arbeitsansätze
probenprotokolle
gespräch zu regie
gespräch zur position des
zuschauer
fotos
raum
der raum war wesentlicher bestandteil der theatralen auseinandersetzung, teil der
theatralen komposition. der theaterraum des theatre du grütli wurde skeletiert, di
zuschauertribühne abgebaut, die funktionsräume, d.h. die werkstätten, der gang z
lagerung von scheinwerfern und die zugänge zu den notausgängen wurden geöffn
bar leergeräumt. alle türen und die fenster des theatersaals, die nach teils in das
und teils nach außen gehen, wurden ebenfalls aufgemacht. es gab spuren von fatz
haus und an der fassade des grütli, große tafeln in der farbe der hocker mit fatzer
die züge sowie der inspizientenraum waren sowohl dem spieler, als auch dem zusc
zugänglich. das theater wurde in seinen funktionen offengelegt, eine räumliche tr
von zuschauer und spieler war nicht mehr vorhanden. der bezug zur aussenwelt w
durch sichtbar vorbeigehende füsse von passanten. der theaterraum wurde zum
seiner funktion. die illusion fand nicht mehr statt. lichteffekte ausser durch wech
tageslicht durch die fenster waren nicht vorhanden. jeder der räume wurde in sein
funktionslicht benutzt, d.h. es gab unterschiedliche lichtqualitäten bei unterschied
raumgrösse und struktur, wobei alle räume miteinander verbunden waren.
die zentralperspektive war abgeschafft, da es keinen punkt in der raumanlage gab
dem aus man alles überblicken konnte. die spieler sahen sich nicht immer, der zus
mußte sich entscheiden, wohin er sich bewegte, im bewußtsein stets etwas zu verp
die wahl des blickwinkels und der akustischen auswahl lag beim betrachter; ebens
entscheidung, inwieweit er sich räumlich thematisiert oder in kommunikation mit
spielern tritt.
den zuschauern war immer alles zugänglich. als angebote gab es einzeln gestellte
in der gesamtraumanlage, deren anordnung sich aus den jeweiligen räumen ergab
weiteres angebot waren auf den boden geschriebene schriftspuren mit fabelentwü
brecht zu fatzer, die die räume verbanden: den zuschauer lesend zu bewegung an
die raumstruktur für die spieler war rigider geordnet.
für jede arbeitsphase gab es eine räumliche grundstruktur:
I
die spieler des fatzerchors durften sich nur ausserhalb des zentralen theaterraums
bewegen, ihn nur durchqueren, aber keine aktionen entwicklen. bei jeder ansage
fragmentwechsels, die von mir laut während der aufführungen angesagt wurde, m
jeder spieler auf seinen körperlich genau von ihm bestimmten (manchmal von mir
korrigierten) ausgangspunkt zurückkehren und wieder beginnen für das nächste, v
nicht im voraus im ablauf gewusste fragment. der spielerin des kommentartexts w
während der 1. arbeitsphase der zentrale theaterraum zugeordnet, wo sich zu beg
gewohnheit, meist die größte anzahl von zuschauern befand. akustisch waren alle
verbunden, dialoge fanden z t. über eine distanz von 30 metern statt. um jedoch d
aktionen der spieler zu sehen, mußten sich die zuschauer zu einzelnen spielern
hinbewegen, andere sichten erkunden.
II
in der II. arbeitsphase, bei der die texte weniger entwurfscharakter als theatral sz
charakter haben, sammelten sich alle spieler im zentralen raum, um zu einer vorh
angesagten reihenfolge mit den textfragmenten zu improvisieren. meine möglichk
jederzeit einzuschreiten, zu unterbrechen, zu schneiden, indem ich vor beendigun
fragments ein anderes ansagte oder währendessen die reihenfolge veränderte. die
stets abhängig von den jeweiligen entwürfen der spieler, den reaktionen der zusch
dem rhythmus der kommunikation. d.h. die komposition fand hinsichtlich aller erw
bedingungen im augenblick statt, wobei material der improvisationen thematische
fixierungen, genauere räumliche fixierungen, textliche fixierungen sein konnte (in
regel bestimmten die spieler, wer aufgrund welcher räumlichen konstellation welch
sprach, wobei die genaue interpunktion und der fragmentinterne rhythmus eingeh
werden mußten. jeder spieler beherrschte den kompletten text in der präzisen
rhythmischen struktur.)
100
5.11.2012 20:58
2 of 2
die spielerin der kommentartexte, die sich immer in distanz zu den anderen spiele
dennoch in beziehung, verhalten mußte, bewegte sich und sprach die kommentart
den gängen, werkstätten, im foyer etc. jedoch durfte sie den zentralen raum nicht
betreten.
während der ganzen aufführungszeit gab es einen für alle zugänglichen tisch, an d
material auslag und parallel an der übersetzung der arbeitsphasen 4 und 5
weitergearbeitet wurde.
III
in der dritten arbeitsphase war für alle spieler der gesamtraum frei (entwickelt au
veränderten textqualität diese phase), mit der bedingung, den gesamtraum zu hal
immer in kommunikation zu bleiben, räumlich und akkustisch.
ein mögliches ende der versuchsreihe z.B. war mit dem fragment a 31, während d
spieler die raumkonstruktion verliessen und sich ausserhalb des theaterraums im
zum innenraum an den unterschiedlichen fenstern positionierten. die zuschauer w
theaterraum zurückgelassen.
der ablauf wurde von abend zu abend variiert, unter verschiedenen inhaltlichen
gesichtspunkten, wobei die räumliche grundstruktur der jeweiligen arbeitsphase g
blieb. die dauer der öffentlichen versuche betrug zwischen 2 und 5 ½ stunden. un
erarbeitetes material umfasste ca. 7 stunden, was aus ökonomischen gründen auf
auflage des theaters, drei wochen lang jeden abend zu spielen, nicht gezeigt werd
konnte. was der erklärten absicht, die arbeit am fragment auch als solche zu beha
und kein logisches ganzes zu konstruieren, nahekommt.
www.theatercombinat.com theatrale produktion und rezeption
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5.11.2012 20:58
Théâtre du Grütli, Genf
1998
theatercombinat/Claudia Bosse
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FatzerBraz
Noch ist Lulas Nachfolgerin Dilma, ehemals Guerillakämpferin der im Untergrund entstandenen
brasilianischen Arbeiterpartei PT, nicht ganz ins Präsidentenamt gewählt, da zeigt die Berliner
Performanceguerilla andcompany&Co. auch schon, was übrigblieb von der tropikalischen Revolution. Am
Vorabend des zweiten Wahlgangs erlebt Berlin am Beispiel von Brechts Fragment vom „Untergang des
Egoisten Johann Fatzer“ (1927), was aus der Welt werden könnte, wenn sie nach allen Regeln des
„Antropophagen Manifests“ (1928) von Oswald de Andrade von Brasilien verschlungen würde.
Gemeinsam mit vier Mitstreitern aus brasilianischen Aktions- und Theatergruppen erarbeitete die
andcompany&Co. in São Paulo aus dem umfangreichen Fatzer-Material die zweisprachige,
antropophagische Performance „FatzerBraz“ – als Spaziergänge, Expeditionen, Vertilgungen und
Verherrlichungen eines asozialen, anarchischen „Helden ohne Charakter“ (wie es über Macunaima heißt,
den emblematischsten Protagonisten der brasilianischen Moderne). Brechts Deserteure aus dem Ersten
Weltkrieg treffen auf Marighellas Stadtguerilla, und die RAF auf den Zorn Gottes, Fitzcarraldo&Co.
Die Fragen nach Desertion, revolutionärem Defätismus und Guerillakampf stehen im Zentrum des »Fatzer«Fragments von Bertolt Brecht. Eine Gruppe Soldaten des Ersten Weltkriegs beschließt, »keinen Krieg mehr
zu machen« und versteckt sich in Mülheim an der Ruhr, um auf einen allgemeinen Aufstand zu warten.
Bevor es jedoch zu einer Erhebung gegen den Krieg kommt, zerfleischt sich die Gruppe gegeseitig. Die
Situation im Untergrund erinnert an das Schicksal der Stadtguerilla, deren »Minihandbuch« Carlos
Marighella verfasst hat, ein brasilianischer Abgeordneter und Widerstandskämpfer gegen die
Militärdiktatur. Im Milieu der Studentenbewegung wurde dieses »Handbuch« auch in Deutschland
folgenreich (Bewegung 2. Juni, RAF).
Diese Texte bilden den Ausgangspunkt für »FatzerBraz«, die neueste Inszenierung von andcompany&Co.
Das internationale Künstlerkollektiv um Alexander Karschnia, Nicola Nord und Sascha Sulimma inszeniert
das Stück in São Paulo gemeinsam mit brasilianischen Künstlern. Diese Zusammenarbeit bietet die Chance
einer gegenseitigen Verfremdung: von São Paulo und dem Ruhrgebiet, Erstem Weltkrieg und Stadtguerilla,
revolutionärer Bewegung und Reformregierung. Dabei geht es darum, mit Hilfe der stark entwickelten
brasilianischen Brecht-Tradition Wege zu einem »anderen«, tropikalischen Brecht zu finden. Der kulturelle
und ideologische »Remix«, charakteristisch für die Arbeiten von andcompany&Co., lässt neue Formen der
Aneignung und Einverleibung zu, die in Brasilien eine lange Tradition haben. Am Ende wird es darum gehen,
Fatzer zu fressen…
http://www.andco.de/index.php?context=project_detail&id=3822
Ein weiteres Beispiel, nach dem theatercombinat, für die Auseinandersetzung einer experimentell orientierten
Theatergruppe mit den "Fatzer"-Texten. Das Frankfurter Kollektiv andcompany&Co. wurde 2003 von Nicola Nord,
Alexander Karschnia und Sascha Sulimma gegründet und zählt mittlerweile zu den etablierten Playern des
internationalen Festival- und Performance Art-Betriebs.
103
Heiner Müller
FATZER ± KEUNER
Ich scheiße
auf die Ordnung der Welt
Ich bin
verloren
Das Ausbleiben der bürgerlichen Revolution in Deutschland ermöglichte zugleich und erzwang die
Weimarer Klassik als Aufhebung der Positionen des Sturm und Drang. Klassik als
Revolutionsersatz. Literatur einer besiegten Klasse, Form als Ausgleich, Kultur als Umgangsform
mit der Macht und Transport von falschem Bewusstsein. Goethes bewußte Entscheidung gegen
die hungernden Weber von Apolda für die Jamben der Iphigenie ist paradigmatisch. Das vielleicht
folgenreichste Unglück in der neueren Geschichte war das Scheitern der proletarischen Revolution
in Deutschland und ihre Abwürgung durch den Faschismus, seine schlimmste Konsequenz die
Isolierung des sozialistischen Experiments in der Sowjetunion auf ein Versuchsfeld mit
unentwickelten Bedingungen. Die Folgen sind bekannt und nicht überwunden. Die Amputation des
deutschen Sozialismus durch die Teilung der Nation gehört nicht zu den schlimmsten. Die DDR
kann damit leben.
Für Brecht bedeuteten die Austreibung aus Deutschland, die Entfernung von den deutschen
Klassenkämpfen und die Unmöglichkeit, seine Arbeit in der Sowjetunion fortzusetzen: die
Emigration in die Klassizität. Die Versuche 1-8 enthalten, was die mögliche unmittelbar politische
Wirkung angeht, den lebendigen Teil seiner Arbeit, den im Sinn von Benjamins
Marxismusverständnis theologischen Glutkern. Hollywood wurde das Weimar der deutschen
antifaschistischen Emigration. Die Notwendigkeit, über Stalin zu schweigen, weil sein Name,
solange Hitler an der Macht war, für die Sowjetunion stand, erzwang die Allgemeinheit der Parabel.
Die von Benjamin referierten Svendborger Gespräche geben darüber Auskunft. Die Situation der
DDR im nationalen und im internationalen Kontext bot in Brechts Lebenszeit keinen Ausweg aus
dem klassischen Dilemma.
Zu den Svendborger Gesprächsthemen von Brecht und Benjamin gehört Kafka. Zwischen den
Zeilen Benjamins steht die Frage, ob nicht Kafkas Parabel geräumiger ist, mehr Realität
aufnehmen kann (und mehr hergibt) als die Parabel Brechts. Und das nicht obwohl, sondern weil
sie Gesten ohne Bezugssystem beschreibt/darstellt, nicht orientiert auf eine Bewegung (Praxis),
auf eine Bedeutung nicht reduzierbar, eher fremd als verfremdend, ohne Moral. Die Steinschläge
der jüngsten Geschichte haben dem Modell der »Strafkolonie« weniger Schaden zugefügt als der
dialektischen Idealkonstruktion der Lehrstücke. Die Blindheit von Kafkas Erfahrung ist der Ausweis
ihrer Authentizität. (Kafkas Blick als Blick in die Sonne. Die Unfähigkeit, der Geschichte ins Weiße
im Auge zu sehen als Grundlage der Politik.) Nur der zunehmende Druck authentischer Erfahrung,
104
vorausgesetzt, daß er »die Massen ergreift«, entwickelt die Fähigkeit, der Geschichte ins Weiße im
Auge zu sehen, die das Ende der Politik und der Beginn einer Geschichte des Menschen sein
kann. Der Autor ist klüger als die Allegorie, die Metapher klüger als der Autor.
Gertrude Stein, in einem Text über die elisabethanische Literatur, erklärt ihre Gewalt mit dem
Tempo des Bedeutungswandels in der Sprache: »Es bewegt sich alles so sehr.« Der
Bedeutungswandel ist das Barometer des Erfahrungsdrucks in der Morgenröte des Kapitalismus,
der die Welt als Markt zu entdecken beginnt. Das Tempo des Bedeutungswandels konstituiert das
Primat der Metapher, die als Sichtblende gegen das Bombardement der Bilder dient. »Der Druck
der Erfahrung treibt die Sprache in die Dichtung.« (Eliot) Die Angst vor der Metapher ist die Angst
vor der Eigenbewegung des Materials. Die Angst vor der Tragödie ist die Angst vor der Permanenz
der Revolution.
Ich erinnere mich an eine Bemerkung von Wekwerth bei der Vorbereitung seiner Inszenierung der
»Heiligen Johanna der Schlachthöfe«. Es käme darauf an, was Brecht klargelegt hätte, zu
verdunkeln, damit es neu gesehen werden kann; Hegel: das Bekannte ist nicht erkannt usw. Die
Geschichte der europäischen Linken legt den Gedanken nahe, ob Hegel nicht auch in diesem Fall
vom Kopf auf die Füße gestellt werden muss. Noch in jedem Territorium, das die Aufklärung
besetzt hat, haben sich »unversehens« unbekannte Dunkelzonen aufgetan. Immer neu hat die
Allianz mit dem Rationalismus der linken den Rücken entblößt für die Dolche der Reaktion, die in
diesen Dunkelzonen geschmiedet wurden. Das Erkannte ist nicht bekannt. Brechts Insistieren, in
seinen letzten Gesprächen mit Wekwerth, auf der Naivität als der primären Kategorie seiner
Ästhetik beleuchtet diesen Sachverhalt.
Brechts Anstrengung, Kafka nicht oder wenigstens falsch zu verstehen, ist in Benjamins Notierung
der (Svendborger) Gespräche ablesbar.
Etwa 1948 sendete der NDR ein Programm über zwei Repräsentanten engagierter Literatur, den
Katholiken T. S. Eliot und den Kommunisten Brecht. Als Klammer musste ein Satz von Eliot
herhalten: poetry doesn't matter. Ich erinnere mich an einen Satz aus dem Interview mit Brecht:
das Weitermachen, die Kontinuität, schafft die Zerstörung. Brecht hat das später, in einem Text,
der von der Theatersituation im Nachkriegsdeutschland ausgeht, näher ausgeführt: die Keller sind
noch nicht ausgeräumt, schon werden neue Häuser darauf gebaut usw. Die Parallele zu Thomas
Manns Bemerkung über die deutsche Geschichte, in der keine Epoche zu Ende gelebt worden ist,
weil keine Revolution erfolgreich war, ablesbar am deutschen Stadtbild, ist offensichtlich. Was nicht
bedeutet, dass Brecht den »Faustus« gelesen haben muss. Der Germanist Gerhard Scholz erzählt
von einem Gespräch mit Brecht im gemeinsamen skandinavischen Exil über die Zukunft des
Sozialismus in Deutschland. Brecht polemisierte, zumindest halb ernsthaft, gegen die
Volksfrontkonzeption mit dem »Fatzer«-Traum von der Konstituierung einer kommunistischen
Diktatur (Zelle) z. B. in Ratibor oder sonstwo, um ein Beispiel zu schaffen.
Im gleichen Jahr 1948, in einer Diskussion mit Studenten in Leipzig, formulierte Brecht als die
Zielstellung seiner Arbeit in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands: 20 Jahre
105
Ideologiezertrümmerung und sein Bedürfnis nach einem eigenen Theater »zur wissenschaftlichen
Erzeugung von Skandalen«, ausgehend auf die politische Spaltung des Publikums statt auf eine
illusionäre »Vereinigung« im ästhetischen Schein. Mit anderen Worten: seine Hoffnung auf ein
politisches Theater jenseits der Verkaufszwänge des Marktes. Ein Theater, das im Widerspruch
zwischen Erfolg und Wirkung seine Chance hat, statt, wie in der kapitalistischen Gesellschaft, sein
Dilemma. Das war ein Vorgriff, eine Projektion auf eine Zukunft, die auch 23 Jahre nach Brechts
Tod noch nicht Gegenwart ist. Die Skandale fanden nicht, als Initialzündung für die große
Diskussion, im Theater statt, sondern, als Behinderung der Diskussion, auf den Kulturseiten der
Presse. Die neuen Häuser mussten schneller gebaut werden als die Keller ausgeräumt werden
konnten. Der Belagerungszustand, in den die DDR durch den Kalten Krieg versetzt war, der, was
die gesamtdeutsche Situation betrifft, andauert, brauchte und braucht Ideologie. Zwischen dem
Leipziger Statement und dem Satz im späten Vorwort zu den frühen Stücken, der den Verzicht auf
das Ideal der tabula rasa, des reinen Beispiels, formuliert: die Geschichte macht vielleicht einen
reinen Tisch, aber sie scheut den leeren... liegt Brechts DDR-Erfahrung. Ein wesentlicher Teil
dieser Erfahrung ist die Entdeckung der Freundlichkeit als einer politischen Kategorie. Brechts
Theaterarbeit: ein heroischer Versuch, die Keller auszuräumen, ohne die Statik der neuen
Gebäude zu gefährden. (Die Formulierung enthält das Basisproblem der DDR-Kulturpolitik.) In
diesem Kontext sind die Klassikerbearbeitungen kein Ausweichen vor der Forderung des Tages,
sondern Revision des Revisionismus der Klassik, bzw. ihrer Tradierung.
Brechts Schwierigkeit, ein DDR-Material in den Griff zu bekommen, ist an der Geschichte des
»Büsching«-Projekts abzulesen. Der erste Entwurf geht auf ein Historienstück, der Arbeiter
(Garbe) als historische Figur. Mit dem epochalen Unterschied zu Plutarch-Holinshed-Shakespeare,
dass der Held sein eigener Chronist war. (Brecht ließ von Käte Rülicke nach
Tonbandaufzeichnungen von Erzählungen Garbes ein Material herstellen.) Der Unterschied steht
für das Problem: das Petroleum sträubt sich gegen die fünf Akte, der bewusstlose Held ist nicht
dramatisch oder es muss ein andres Drama her. Brecht hatte sein Formenarsenal ausgebildet im
Umgang mit einer anderen Wirklichkeit, ausgehend von der Klassenlage und den Interessen des
europäischen Proletariats vor der Revolution.
Die Revolution in der DDR konnte nur für die Arbeiterklasse gemacht werden, nach Dezimierung
der Avantgarde, Depravierung der Masse, Zerstörungen des zweiten Weltkriegs im Osten
Deutschlands und in der Sowjetunion - nicht von ihr. Der Nachvollzug im Bewusstsein musste ihr
unter den Bedingungen des Kalten Krieges abgefordert werden, in einem besetzten und geteilten
Land, im Trommelfeuer der täglichen Werbung für die Wunder des Kapitalismus im anderen
deutschen Staat, Rechtsnachfolger des Deutschen Reichs, gesundgeschrumpft in zwei
Weltkriegen. Diese Wirklichkeit ist mit den klassisch marxistischen Kategorien nicht zu greifen: sie
schneiden ins Fleisch.
Mit der Bemerkung, das ganze reiche nur für einen Einakter, er, Brecht, sähe keine Möglichkeit,
seinem Helden die Ausdrucksskala zu verleihen, die er brauche, um ein Stück zu schreiben, wurde
106
das »Büsching«-Projekt zunächst aufgegeben. Das erinnert an Plechanows These von der
(positiven) Uninteressantheit des proletarischen im Gegensatz zur negativen Interessantheit des
bürgerlichen Helden, die erste Qualität des Proletariats, seine Quantität usw. ... Brecht nahm das
Projekt wieder auf, diesmal als Lehrstück »mit Chören, im Stil der Maßnahme« nach dem 17. Juni
53, wo er zum ersten Mal wieder »die Klasse« hatte sprechen hören und auftreten sehn, wie
depraviert immer und manipuliert von ihren Feinden. Die Konfrontation als Chance zur Eröffnung
der Großen Diskussion, die die Voraussetzung der Produktion ist. Es blieb Fragment.
Das Netz seiner (Brechts) Dramaturgie war zu weitmaschig für die Mikrostruktur der neuen
Probleme: schon »die Klasse« war eine Fiktion, in Wahrheit ein Konglomerat aus alten und neuen
Elementen, gerade die Bauarbeiter, die den ersten Streik in der damaligen Stalinallee in Berlin
initiierten, zu großen Teilen deklassierter Mittelstand: ehemalige Wehrmachtsoffiziere, Beamte des
faschistischen Staatsapparates, Studienräte usw., dazu gescheiterte Funktionäre der neuen
Bürokratie; der Große Entwurf zugeschüttet vom Sandsturm der Realitäten, nicht
einsehbar/freizulegen mit der einfachen Verfremdung, die auf der Negation der Negation
basiert/beruht. In diesem Zusammenhang mag Brechts Griff nach Gerhart Hauptmann und sein
Scheitern mit der Bearbeitung von »Biberpelz/Roter Hahn« interessant sein: die Gewalt des
Tribalismus und die Schrecken der Provinz.
»Die Tage der Commune«, geschrieben mit bewusster Senkung des »technischen Standards« für
das Repertoire eines sozialistischen Theaters, verhält sich zum realen Sozialismus wie »Don
Carlos« zur bürgerlichen Revolution. Seine Schönheit ist die Schönheit der Oper, sein Pathos das
der Utopie. Brecht selbst sah bis zu seinem Tod offenbar keine Möglichkeit, das Stück ohne
Wirklichkeits(Wirkungs-) Verlust aufzuführen. Der Zeitpunkt der Premiere am Berliner Ensemble,
1961 nach der Schließung der Grenze, war der erste mögliche. Die Anwendung des Modells auf
die gegebenen Verhältnisse, die nur mit der nachfolgenden Aufführung neuer Stücke hätte
geleistet werden können, blieb aus. Als isoliertes Ereignis kam die Inszenierung gleichzeitig zu
spät und zu früh: zu viele Möglichkeiten waren verpasst, zu viele Probleme vertagt worden.
»Turandot«, Brechts letzter Versuch, im Rekurs auf die Parabel mit der alten Scheiße
aufzuräumen, die er neu hochkommen sah, ist ein genuines Fragment. Die gewaltsame
Vollendung im Rekurs auf den Antifaschismus, der, was die Verhältnisse in der DDR anging,
Alibicharakter hat, zerstört die Struktur/das Stück. In andern Verhältnissen, z. B. Militärdiktaturen
der dritten Welt, mag der Riss, der durch das Stück geht, den Durchblick freigeben/ermöglichen,
der die Voraussetzung des Eingriffs ist. Brecht: was den Kunstwerken die Dauer verleiht, sind ihre
Fehler.
Der Name Büsching, wie andre Namen im Garbeprojekt, verweist auf das Fatzermaterial, Brechts
größten Entwurf und einzigen Text, in dem er sich, wie Goethe mit dem Fauststoff, die Freiheit des
Experiments herausnahm, Freiheit vom Zwang zur Vollendung für Eliten der Mit- oder Nachwelt,
zur Verpackung und Auslieferung an ein Publikum, an einen Markt. Ein inkommensurables
Produkt, geschrieben zur Selbstverständigung.
107
Der Text ist präideologisch, die Sprache formuliert nicht Denkresultate, sondern skandiert den
Denkprozeß. Er hat die Authentizität des ersten Blicks auf ein Unbekanntes, den Schrecken der
ersten Erscheinung des Neuen. Mit den Topoi des Egoisten, des Massenmenschen, des Neuen
Tiers kommen, unter dem dialektischen Muster der marxistischen Terminologie,
Bewegungsgesetze in Sicht, die in der jüngsten Geschichte dieses Muster perforiert haben. Der
Schreibgestus ist der des Forschers, nicht der des Gelehrten, der Forschungsergebnisse
interpretiert, oder des Lehrers, der sie weitergibt. Brecht gehört am wenigsten in diesem Text zu
den Marxisten, die der letzte Angsttraum von Marx gewesen sind. (Warum soll nicht auch für Marx
gelten, dass die erste Erscheinung des Neuen der Schrecken ist, die erste Gestalt der Hoffnung
die Furcht.) Mit der Einführung der Keunerfigur (Verwandlung Kaumann/Koch in Keuner) beginnt
der Entwurf zur Moralität auszutrocknen. Der Schatten der Lenin‘schen Parteidisziplin, Keuner der
Kleinbürger im Mao-Look, die Rechenmaschine der Revolution. »Fatzer« als Materialschlacht
Brecht gegen Brecht (= Nietzsche gegen Marx, Marx gegen Nietzsche). Brecht überlebt sie, indem
er sich herausschießt. Brecht gegen Brecht mit dem schweren Geschütz des
Marxismus/Leninismus. Hier, auf der Drehscheibe vom Anarchisten zum Funktionär, wird Adornos
höhnische Kritik an den vorindustriellen Zügen in Brechts Werk einsichtig. Hier, aus der
revolutionären Ungeduld gegen unreife Verhältnisse, kommt der Trend zur Substitution des
Proletariats auf, die in den Paternalismus mündet, die Krankheit der kommunistischen Parteien. Es
beginnt, in der Abwehr des anarchisch-natürlichen Matriarchats, der Umbau des rebellischen
Sohns in die Vaterfigur, der Brechts Erfolg ausmacht und seine Wirkung behindert. Der Rückgriff
auf die Volkstümlichkeit durch Wiedereinführung des Kulinarischen (in sein Theater), der das
Spätwerk bestimmt, geriet im Verblödungssog der Medien und angesichts posthumer
Zementierung der Vaterfigur durch sozialistische Kulturpolitik zum Vorgriff. Was ausfiel, war die
Gegenwart, die Weisheit das zweite Exil.
Brecht ein Autor ohne Gegenwart, ein Werk zwischen Vergangenheit und Zukunft. Ich zögere, das
kritisch zu meinen: die Gegenwart ist die Zeit der Industrienationen: die kommende Geschichte
wird, das ist zu hoffen, von ihnen nicht gemacht; ob sie zu fürchten ist, wird von ihrer Politik
abhängen. Die Kategorien falsch oder richtig greifen am Kunstwerk vorbei. Die Freiheitsstatue
trägt bei Kafka ein Schwert statt der Fackel. Brecht gebrauchen, ohne ihn zu kritisieren, ist Verrat.
1979
(In: Heiner Müller Material, Fatzer ± Keuner, Leipzig 1989, S. 30-36)
108
Es gilt, eine neue Dramaturgie zu finden
Ein Gespräch mit Wend Kässens und Michael Töteberg über Terrorismus und Nibelungentreue
sowie das »Fatzer«-Fragment
FRAGE Der Klassiker Brecht scheint Allgemeingut geworden zu sein. So liest man es wenigstens
in den bürgerlichen Geburtstagsfeuilletons. Sie bringen, indem Sie den Blick auf das »Fatzer«Fragment lenken, eine wenig bekannte, schwer zu goutierende Seite Brechts ans Tageslicht. Was
interessiert Sie, was könnte uns interessieren an der Geschichte vom Untergang des Egoisten
Johann Fatzer?
HEINER MÜLLER Für eine produktive Auseinandersetzung mit Brecht sind meiner Meinung nach
die Texte aus den zwanziger Jahren interessant, die noch in direktem Bezug zu den
Klassenkämpfen in Deutschland entstanden sind. Das »Fatzer«-Fragment ist schon deshalb
bedeutsam, weil Brecht irgendwann gemerkt hat, daß er daraus kein Ganzes machen kann, und
es dann als Experimentierfeld benutzt hat. Er hat daran gearbeitet, ohne auf ein Resultat zu zielen,
ohne darauf zu sehen, daß etwas Verkäufliches daraus wird. Das ermöglichte eine ungeheure
Freiheit im Umgang mit dem Material. Zugleich blieb der Prozeßcharakter gewahrt. Denn die
Fragmentarisierung verhindert das Verschwinden der Produktion im Produkt, die Vermarktung.
FRAGE Sie haben das ganze Material im Ostberliner Brecht-Archiv einsehen können. Der größte
Teil ist in den Jahren zwischen 1927 bis 1932 entstanden. Was hat sich innerhalb dieses
Zeitraums verändert?
MÜLLER Wenn man das Material durchschaut, kann man sehr genau verschiedene Schichten
feststellen. Die ersten Entwürfe stammen aus einer Zeit, in der Brechts Beschäftigung mit dem
Marxismus noch ganz frisch war, noch keine selbstverständliche Voraussetzung. Der Marxismus
hat Brecht Erkenntnisse vermittelt, die er vorher nicht gehabt hat. Aber zugleich hat er Sachen aus
dem Blick verloren, die er vorher genauer gesehen hat. So z. B. das Problem »Massenmensch«,
ein Begriff, der nicht orthodox marxistisch ist, der aber ein zentrales Thema des »Fatzer«Fragments ist. »Dieser Geist des Massenmenschen lähmt mich besonders, seine Art ist
mechanisch, einzig durch Bewegung zeigt er sich, jedes Glied auswechselbar, selbst die Person
mittelpunktlos«, heißt es im Chor vom Massenmenschen. Da bekommt Brecht die technologische
Seite des Geschichtsprozesses in den Griff, die von der gegenwärtigen marxistischen Analyse viel
zu wenig wahrgenommen wird. »Die großen Städte«, so lautet die Metapher Brechts für die neuen
Formen menschlicher Existenz. Das war ein soziologisches, meinetwegen soziologistisches
Konzept, das später von der marxistischen Analyse abgelöst wurde. Zugleich ging etwas verloren
an Detailgenauigkeit.
109
FRAGE Heißt das, dass der Marxismus nicht mehr in der Lage ist, die wesentlichen
gesellschaftlichen Erscheinungsformen zu erkennen?
MÜLLER Nein. Sobald aber der Marxismus an die Existenz eines Staates gebunden ist, so etwas
wie eine Staatsphilosophie wird (und das ist er faktisch seit 1917), entsteht eine neue Situation für
die marxistische Analyse. Die Lage der Sowjetunion in der kapitalistischen Einkreisung bedingte
gewisse Reduktionen. Das hat sich bis heute nicht geändert; obwohl diese Reduktionen nicht mehr
nötig wären, ist es schwierig, so etwas wieder aufzubrechen. Ich denke, man sollte die
vormarxistischen Philosophen stärker beachten, z. B. die Thesen zur Kriminalität bei Charles
Fourier einmal nachlesen. Sie sind wichtig, fallen bei Marx aber unter den Tisch. Bei Fourier steht,
daß Kriminalität im Kapitalismus immer etwas sei, was mit der Zukunft schwanger geht. Auch in
einem Typ wie Fatzer sind Kräfte wirksam, die sich mit dem Gegebenen nicht abfinden, also
potentiell revolutionär sind.
FRAGE »Das Neue ist das Böse« ist ein zentraler Satz im »Fatzer«. Wer davon ausgeht, kann
keinen positiven Helden mehr auf der Bühne präsentieren.
MÜLLER Brecht hat das einmal so formuliert: Die Gesellschaft könne aus der Vorführung asozialer
Verhaltensmuster den größten Nutzen ziehen. Die Darstellung des Asozialen löst mehr Impulse
aus als irgendeine Beispielgebung. Nicht nur Fatzer hat asoziale Züge, sondern auch der Leninist
Koch. Seine Reaktion auf das asoziale Verhalten Fatzers läßt ihn so radikal werden, daß er den
Boden der Tatsachen verläßt und reine Ideologie fabriziert. Er baut ein ungeheures ideologisches
Gebäude auf, hetzt die Gruppe in einen Amoklauf. Koch hat die Illusion, daß man etwas wirklich
bereinigen kann: indem er die Liquidierung Fatzers fordert und durchsetzt. Was am Ende steht, ist
nicht ein reiner Tisch, sondern ein leerer.
FRAGE Die Selbstzerfleischung der Revolutionäre um Fatzer erinnert an die isolierten,
destruktiven Aktionen der Baader, Meinhof usw. Würden Sie so weit gehen und auch diese
Terroranschläge mit dem Satz »Das Neue ist das Böse« kommentieren? Enthält auch hier die
Kriminalität Elemente einer zukünftigen Gesellschaft? An einer Stelle Ihrer »Fatzer«-Montage
schlagen Sie als Regieanweisung die Projektion von Fotos von Luxemburg, Liebknecht und
Meinhof vor, der Chor spricht in diesem Moment von den »Besten«.
MÜLLER Das ist natürlich etwas provokant und soll es auch sein. Ich finde es ziemlich widerlich,
wenn eine Bevölkerung sich immer alles hat gefallen lassen, immer alles gemacht hat, ohne den
geringsten Skrupel und ohne das geringste moralische Aufstoßen, obwohl ihr Wohlstand auf
Ausbeutung von großen Teilen der Welt beruht. Nun entdeckt diese Bevölkerung plötzlich ihr Ethos
gegenüber Leuten, die aus Verzweiflung in die Kriminalität getrieben werden. Konkret zum
110
»Fatzer«-Text: Ich sehe die aktuellen Bezüge gar nicht so sehr im ideologischen Bereich. Das ist
ein sehr deutlicher Stoff, man kann darin das »Faust«-Modell und auch die Nibelungengeschichte
entdecken. Zunächst einmal ist es die Geschichte von vier Leuten, die isoliert von der Masse auf
eine Revolution hoffen. Es ist die Misere der Linken in Deutschland, die seit den Bauernkriegen
isoliert ist. Da, wo politische Bewegung stattfinden sollte, ist ein Vakuum Auf der einen Seite dieses
Vakuums steht die konservative Mehrheit, auf der anderen Seite eine durch die Isolation
radikalisierte Linke. Es gibt keine linke Mitte in Deutschland, überhaupt keine polemische Mitte,
das entspricht dem Nibelungen-Modell.
FRAGE Und der Nibelungen-Treue bei den Revolutionären ...
MÜLLER Was sollen sie anderes machen? Wenn man in diesem Kessel ist, da bleibt gar nichts als
Treue, wenn man so abgeschnitten ist, jegliche Verbindung zur Bevölkerung verloren hat. Daraus
ergibt sich zwangsläufig auch die starke Ideologisierung der Treue. Wie sich Fatzer verhält und wie
sich Baader/Meinhof verhalten: das ist ja mehr ein Produkt von Verzweiflung als von politischem
Kalkül. Sie tun es in der Hoffnung, daß andere nachfolgen. Wenn das nicht stattfindet, bleibt nur
der Weg in den individuellen Terror, ein sehr romantischer Import, der viel schlimmere Folgen hat
als die beabsichtigten. Der Terrorismus – besonders in seiner deutschen Form – ist doch nichts
weiter als eine Verlängerung des bürgerlichen Humanismus. In diesem Sinn – etwas pointiert
formuliert – ist ein Molotowcocktail das letzte bürgerliche Bildungserlebnis.
FRAGE Das »Fatzer«-Fragment wird in Hamburg zusammen mit Kleists »Prinz von Homburg«
gespielt – eine sicher ungewöhnliche Kombination. Worin bestehen die Zusammenhänge?
MÜLLER Man kann den »Prinzen von Homburg« lesen als ein Stück über eine Zähmung, die
Zähmung eines Außenseiters, der angepaßt wird mit diesem groben Scherz der gespielten
Hinrichtung.
FRAGE Aber Fatzer läßt sich nicht anpassen ...
MÜLLER Eben, da gehts tödlich aus. Bei Kleist geht es gut aus – und darum ist es viel tödlicher.
Wenn ich diese beiden Stücke in einen Zusammenhang stelle, dann deshalb, weil ich etwas
herausfinden will. Ich versuche meine Unruhe, mein Aufgestörtsein durch einen Stoff auf das
Publikum zu übertragen. Wenn diese Homburg-/Fatzer-Verbindung Proteste im Zuschauerraum
auslöst, dann wäre schon eine Störung des Geschäftsablaufs erreicht.
FRAGE »Störung des Geschäftsablaufs«, so könnte man auch Ihre Funktion in der DDR nennen.
In den letzten Wochen war wieder einmal im »Neuen Deutschland« zu lesen, der Dramatiker
111
Heiner Müller sei kein Marxist. Schränken solche Angriffe Ihre Arbeitsmöglichkeiten ein?
MÜLLER Ganz und gar nicht. Ich bin froh, daß es wieder so heftige Polemiken gibt. Das war im
letzten Jahr nicht so, da hat man alles mit dem Mäntelchen des allgemeinen Konsensus’
zugedeckt. Daß man jetzt wieder etwas schärfer formuliert, das finde ich eher angenehm.
FRAGE In welchem Zusammenhang steht das »Fatzer«-Projekt zu Ihrem eigenen Schaffen?
MÜLLER Seit ich Teile aus dem »Fatzer«-Stück in Brechts »Versuchen« gelesen habe, war mir
klar, daß ich damit das Interessanteste von Brecht entdeckt hatte. Schon vor zehn Jahren habe ich
versucht, ein »Fatzer«-Projekt am Berliner Ensemble zu verwirklichen. Damals sah es nicht so
aus, als wenn man aus diesem Rohmaterial etwas Spielbares zusammenstellen könnte. Was mit
dem Konflikt Fatzer–Koch beschrieben wird, das ist auch ein bißchen Vorgeschichte von
Konfliktkonstellationen in meinen Stücken. An dieser Problematik ist mir jetzt auch einiges über
meine Stücke aus den letzten zwanzig Jahren deutlich geworden. »Fatzer« war für mich wichtig,
um eine Phase abschließen zu können, sie wirklich wegräumen zu können. Jetzt stehe ich vor
dem Nichts und muß etwas Neues finden. Vom LOHNDRÜCKER bis zur HAMLETMASCHINE ist
alles eine Geschichte, ein langsamer Prozeß von Reduktion. Mit meinem letzten Stück
HAMLETMASCHINE hat das ein Ende gefunden. Es besteht keine Substanz für einen Dialog
mehr, weil es keine Geschichte mehr gibt. Ich muß eine andere Möglichkeit finden, die Probleme
der Restaurationsphase darzustellen.
FRAGE Zeit der Restauration – gilt das für beide deutschen Staaten?
MÜLLER Ich rede immer nur von dem Staat, an dem ich primär interessiert bin: die DDR. Und da
befinden wir uns in einer Zeit der Stagnation, wo die Geschichte auf der Stelle tritt, die Geschichte
einen mit »Sie« anredet. Es gilt, eine neue Dramaturgie zu entwickeln oder das Stückeschreiben
aufzugeben. Vor dieser Alternative stehe ich. Da weiß ich selbst nicht weiter.
1978
112
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KULTUR
Einige Überlegungen zu meiner Brecht-Bearbeitung
17.03.1978 - 07:00 Uhr
Von Heiner Müller
Die Frage, die mich beschäftigt und auf die ich keine schlüssige Antwort habe, ist die
Interessantheit des Fragmentarischen. Es gibt noch ein paar Leute, die perfekte Stücke
schreiben. Die sind langweilig, außer für das Publikum. Es geht um die Frage, was Literatur
überhaupt noch soll. Ich selbst kann keine Geschichten mehr lesen, kann auch keine
Geschichten mehr erzählen und schreiben. Ich glaube auch, daß das jedenfalls für sehr lange
Zeit, vielleicht nur in Europa, vorbei ist, Geschichten zu schreiben. Und das bedeutet fürs
Theater einen Verzicht auf Publikum. Ich glaube nicht an irgendeine besonders eingreifende
Funktion oder Möglichkeit von Theater. Im Moment muß man diese Apparate benutzen, um
das zu machen, was einen interessiert, ohne Rücksicht darauf, was das Publikum interessiert.
Stückeschreiben wird immer mehr eine Sache der Leute, die die Stücke schreiben, das StückeInszenieren wird immer mehr eine Sache der Leute, die die Stücke inszenierte Das heißt die
Bedürfnisse der Autoren, Regisseure der Schauspieler und des Publikums fallen immer weiter
auseinander. Das ist im Moment die Situation des Theaters.
Keine Dramatik hat sich als so wenig veränderbar erwiesen wie die von Brecht. Man müßte mal
ein Stück aus dem klassischen Brechtkanon bearbeiten, um zu sehen, was da überhaupt zu
machen ist. Ich glaube nicht sehr an die Veränderbarkeit der klassischen Brecht-Stücke.
Während man Shakespeare immer und vielfach verändern kann. Aber wenn gesagt wird, das
Fatzer-Fragment ist ein mit Theaterwimpeln behängtes Sentenzensammelsurium, dann muß ich
sagen: Ich glaube nicht, daß das Sentenzen sind. Es gibt keinen Satz darin, der nicht in dem
Brechtschen Sinn gestisch formuliert ist. Keiner ist ablösbar von der Situation und von der
Figur. Man kann so was nicht zitieren, wie man Schiller zitiert.
Was an ‚Fatzer‘ wichtig ist, das hängt zusammen mit dem Fragment-Charakter. Da geht es gar
nicht um Literatur, da geht es um Geschichte und Politik. Und was wichtig ist, ist der FragmentCharakter der deutschen Geschichte, der dazu führt, daß so ein Stück, das ganz unmittelbar mit
deutscher Geschichte zu tun hat, Fragment bleibt. Der Fabelansatz von Brecht: vier Leute
desertieren aus dem Ersten Weltkrieg, weil sie glauben, die Revolution kommt bald, verstecken
sich in der Wohnung des einen, warten auf die Revolution, und die kommt nicht. Und nun sind
sie ausgestiegen aus der Gesellschaft. Da es keine besseren, keine expansiven Möglichkeiten gibt
für ihre angestauten revolutionären Bedürfnisse, radikalisieren sie sich gegeneinander und
Fortsetzung nächste Seite
Fortsetzung von Seite 9
negieren sich gegenseitig. Das ist eine große Formulierung einer Situation, die sich in der
deutschen Geschichte immer wieder ergeben, immer wiederholt hat. Also die Isolierung der
Linken seit den Bauernkriegen. Das ist ein deutsches Thema. Und da drin steckt ein noch viel
älteres. Es ist wichtig für die Wirksamkeit von Theatertexten, daß möglichst viele alte
Modellsituationen vorkommen: die Nibelungen-Situation, ein Faust-Entwurf, ‚Die Räuber‘,
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4.12.2012 21:23
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Danton. Es gibt von Brecht keinen einzigen anderen Entwurf, kein ausgeführtes Stück, das
diesen Ansatz aufnimmt oder fortsetzt.
Die Rede ist von der Isolierung der Linken. Da es nun aber nur bürgerliches Theater in
Deutschland gibt, denunziert die Theaterform das Stück, und das Stück denunziert die
Theaterform. Das ist der Grund, warum ich mich trotzdem szenisch mit dem Text beschäftigt
habe, um das evident zu machen. Ich fürchte, das gilt auch für einen großen Teil meiner Arbeit.
Für mich ist jetzt eine Phase abgeschlossen, und diese Arbeit mit dem Fatzer-Material gehört zu
diesem Abschluß. Jetzt muß ich einen neuen Ansatz finden. Die historische Substanz ist für
mich jetzt unter dem Gesichtspunkt, unter dem ich sie versucht habe zu notieren – verbraucht.
Jetzt wäre interessant, die Geschichte der Beziehung von zwei oder drei Leuten, und zwar in
ihrer privaten oder sogenannten privaten Beziehung zu beschreiben. Das wäre jetzt interessant.
Ibsen-Renaissance jetzt, und Tschechow sowieso, deuten da auf ein Bedürfnis und die
Möglichkeiten des Eingreifens in eine Mikrostruktur. In die Makrostrukturen kann man nicht
mehr eingreifen mit Literatur. Jetzt geht es in die Mikrostruktur. Dafür hat Brecht nur in
seinem Frühwerk Techniken und Formen angeboten, Instrumentarien angeboten, aber nicht in
den „klassischen“ Stücken. Deshalb sind die jetzt auch so sakrosankt und langweilig.
Es geht darum, daß es nicht mehr erlaubt ist, nicht über sich selbst zu reden, wenn man
schreibt. Der Autor kann nicht mehr von sich absehen. Wenn ich nicht über mich rede, erreiche
ich keinen mehr.
Dabei gibt es einen wesentlichen West-Ost-Unterschied: Ich/DDR kann über mich nicht reden,
ohne über Politik/DDR zu reden. Während es in Westdeutschland ein ganz abgeschirmter
Bereich ist oder sein kann. Der Intimbereich kann in der DDR nie so abgeschirmt sein. Nach
wie vor ein Vorteil.
Mein Problem dabei ist, herauszukommen aus Rollentexten. Der Brecht redet sehr viel über
sich. Aber er ist immer, auch wenn er sagt: „Ich, der Stückeschreiber“, nicht Brecht. Es ist nicht
die Person Brecht, es ist immer auch die Rolle – also immer auch die Figur.
Interessant ist das Problem des Verhältnisses von Fatzer und Koch, vor allem, was Brecht den
„Typus Fatzer“ nennt. In der ersten Arbeitsphase bei Brecht ist dieser Fatzer ziemlich deutlich
eine Identifikationsfigur und der Koch wird erst allmählich zum Korrektiv. Später versucht
Brecht den Fatzer zu verurteilen, historisch abzuschaffen, oder seine Abschaffung zu
empfehlen. Und da hat sich inzwischen, seit der Entstehungszeit dieses Materials, wieder etwas
verschoben: heute muß man, von der DDR aus gesehen, den Typus Koch sehr viel kritischer
sehen – den Funktionär. Damit liefert es, liefert Brecht Kritik an der eigenen Person.
QUELLE: DIE
ZEIT, 17.3.1978 Nr. 12
ADRESSE: http://www.zeit.de/1978/12/notate-zu-fatzer/komplettansicht
114
4.12.2012 21:23
H) Geschichten von Herrn Keuner
aus: Brecht, Bertolt; "Geschichten von Herrn
Keuner. Zürcher Fassung". FfM: Suhrkamp, 2004
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116
Auszug aus: Wizisla, Erdmut: "Wie dürfte ich jedem die
gleiche Geschichte erzählen?" Nachwort zur KeunerAusgabe, FfM: Suhrkamp 2004
[...]
[...]
117
aus: Steinweg, Reiner: "Das
Lehrstück. Brechts Theorie einer
politisch-ästhetischen Erziehung."
Stuttgart: Metzler, 1972. 104ff.
118
119
[...]
I) Miscellanea
Carlos Marighella (* 5. Dezember 1911 in Salvador da Bahia; † 4. November 1969 in São
Paulo) war ein brasilianischer Revolutionär und Theoretiker der Stadtguerilla.
Das ehemalige Mitglied des Kongresses gründete unter der brasilianischen Militärdiktatur
eine Guerillabewegung (Stadtguerilla) und wurde zum bedeutendsten Vertreter der These,
die Guerilla müsse vom Land in die Großstädte geführt werden. Marighella wurde am 4.
November 1969 in Brasilien in einem Hinterhalt von Militärs erschossen. Zur Zeit seines
Todes operierten mindestens sechs verschiedene, bewaffnete revolutionäre Gruppen in
Brasilien, so das Comando de Libertação Nacional.
Dieser Text, der sich heute liest wie eine Anleitung zum »James-Bond-Werden«, ist bitter
ernst gemeint. Carlos Marighellas »Minimanual of the Urban Guerilla« wurde in der
amerikanischen Zeitschrift »Tricontinental« (Nr. 16, Jan./Feb. 1970) in vollem Wortlaut
abgedruckt. Eine deutsche Übersetzung unter dem Titel »Minihandbuch des Stadtguerilleros«
erschien kurz darauf in »Sozialistische Politik« (Hg: Otto-Suhr-Institut Berlin. 2.Jg., Nr. 6/7
1970, S. 143-166).
Diese Schrift hatte maßgeblichen Einfluss auf westeuropäische Stadtguerillagruppen,
darunter auch die Rote Armee Fraktion. Es war eines der ersten derartigen Anleitungsbücher,
das Flugzeugentführungen als Aktion der bewaffneten Propaganda aufführte. Von Mai 1970
bis 1996 erschien der Text immer wieder in mindestens fünf unterschiedlichen
selbstständigen deutschsprachigen Ausgaben als Untergrundschrift.
Carlos Marighella
»Minihandbuch des Stadtguerilleros«
Der Stadtguerillero
Der Stadtguerillero muss sich ein Minimum an politischen Kenntnissen aneignen und daher versuchen, gedruckte oder in Form von Pamphleten abgezogene Arbeiten zu lesen, z.B. »Der GuerillaKrieg« von Che Guevara. »Die Erinnerungen eines Terroristen«, »Aktionen und Taktiken der Guerillas«, »Über strategische Probleme und Prinzipien«, »Einige taktische Prinzipien für die Kameraden, die Guerillaaktionen durchführen«, »Organisationsfragen«, »O Guerillero« u.a.
Persönliche Eigenschaften des Stadtguerilleros
Der Stadtguerillero ist durch seinen Mut und seine Entscheidungskraft gekennzeichnet. Er muss
ein guter Taktiker sein und gut schießen können. Er muss schlau und umsichtig sein, um damit die
Tatsache zu kompensieren, dass er an Waffen, Munition und Ausrüstung nicht stark genug ist. Das
BerufsmiIitär und die Polizei, die der Regierung dient, verfügen über moderne Waffen und Fahrzeuge und können sich frei zu jedem beliebigen Ort bewegen, wobei sie alle Mittel der bestehenden Staatsmacht zur Verfügung haben. Der Stadtguerillero verfügt nicht über solche Mittel – seine
Praxis ist die des Untergrunds. Die moralische Überlegenheit ist die Stütze des Stadtguerillero, mit
der er seine wichtigste Pflicht erfüllen kann, nämlich anzugreifen und zu überleben. Dazu muss der
Stadtguerillero auf seinen Erfindungsgeist zurückgreifen, jene Fähigkeit, ohne die er nicht in der
Lage wäre, seine revolutionäre Rolle auszuüben.
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Die Eigenschaften des Stadtguerilleros sind Initiative, Einfallsreichtum, Flexibilität, Vielseitigkeit
und Geistesgegenwart. Vor allem die Fähigkeit zur Initiative muss er in besonderem Masse besitzen. Es ist nicht möglich, alle Situationen vorauszusehen; trotzdem darf es nicht vorkommen, das
der Stadtguerillero nicht weiß, was zu tun ist, nur weil die entsprechende Anweisungen fehlen. Es
ist seine Pflicht zu handeln, eine angemessene Lösung für jedes auf tretende Problem zu finden
und diesem nicht auszuweichen. Es ist besser, zu handeln und Fehler zu machen als nicht zu handeln, um Fehler zu vermeiden. Ohne Initiative gibt es keine Stadtguerillera.
Weitere notwendige Fähigkeiten des Stadtguerilleros sind die folgenden: Er muss ein guter Läufer
sein, muss Müdigkeit, Hunger, Regen und Hitze ertragen können. Er muss Wache halten und sich
verstecken, sich verkleiden und jeder Gefahr ins Auge sehen können. Er muss bei Tag und bei
Nacht handeln, darf sich nicht überhasten, muss eine unbegrenzte Geduld haben. Er muss stets
die Ruhe bewahren und seine Nerven auch unter ungünstigsten Bedingungen und in ausweglosen
Situationen kontrollieren können. Niemals darf er Spuren oder Hinweise hinterlassen. Vor allem
darf er sich nicht entmutigen lassen. Nicht selten desertieren oder entfernen sich Kameraden von
der Stadtguerilla, wenn sie sich vor nahezu unüberwindbaren Schwierigkeiten gestellt sehen.
Die Aktion der Stadtguerilla ist aber nicht das Geschäft einer Handelsgesellschaft, die Tätigkeit an
einem gewöhnlichen Arbeitsplatz oder die Vorführung eines Theaterstücks. Die Stadtguerilla ist wie auch die Landguerilla eine Verpflichtung, die der Guerillero sich selbst gegenüber auf sich
nimmt. Wenn er nicht in der Lage ist, den Schwierigkeiten entgegenzutreten oder nicht aber die
notwendige Geduld verfügt, um abwarten zu können, ohne die Nerven zu verlieren, oder zu verzweifeln, dann ist es besser für ihn, von dieser Verpflichtung Abstand zu nehmen, fehlen ihm doch
die in der Tat elementarsten Fähigkeiten, um ein Stadtguerillero zu werden.
Wie lebt und erhält sich der StadtgueriIIero?
Der Stadtguerillero muss es verstehen, inmitten des Volkes zu leben, er muss darauf achten, nicht
als Fremder zu erscheinen oder sich vom normalen Leben eines Durchschnittsbürgers zu unterscheiden. Er darf in seiner Kleidung nicht von der gewöhnlichen anderer Personen abweichen.
Ausgefallene Kleidung und die neueste Mode für Männer und Frauen sind oft unangebracht, wenn
der Stadtguerillero beauftragt ist, in Arbeiterbezirke oder dorthin zu gehen, wo eine solche Mode
nicht üblich ist. Wichtig ist für jeden Stadtguerillero, sich jederzeit bewusst zu sein, das er nur überleben kann, wenn er entschlossen ist, Polizisten und all jene zu töten, die der Repression als ausführende Organe dienen, und wenn er entschlossen ist, wirklich entschlossen ist, die großen Kapitalisten, die Großgrundbesitzer und Imperialisten zu enteignen.
Die Revolution versucht durch die Enteignung der gefährlichsten Feinde des Volkes diese in ihren
lebenswichtigen Zentren zu treffen; sie greift daher vornehmlich und in systematischer Form das
Banknetz an, d.h. sie versetzt dem Nervensystem des Kapitalismus ihre konzentriertesten Schläge. Dies ist der Grund dafür, das der Stadtguerillero zur bewaffneten Aktion übergeht und sich nur
erhalten kann, wenn er seine Aktivität auf die physische Beseitigung der Agenten der Repression
konzentriert und sich 24 Stunden am Tag der Enteignung der Enteigner des Volkes widmet.
Die technische Vorbereitung des Stadtguerillero
Niemand kann ein Stadtguerillero werden, der nicht seiner technischen Vorbereitung besondere
Aufmerksamkeit widmet. Diese technische Vorbereitung reicht vom körperlichen Training bis zur
Perfektionierung oder ErIernung von Berufen und Fähigkeiten aller Art, vor allem einer handwerklichen Geschicklichkeit.
Der StadtguerilIero kann nur dann eine gute physische Widerstandskraft haben, wenn er systematisch trainiert. Er kann kein guter Kämpfer sein, wenn er nicht die Kunst des Kämpfens erlernt hat.
Er muss mehrere Formen des Kampfes, des Angriffes und der Selbstverteidigung erlernen und
üben. Weitere sinnvolle Formen physischen Trainings sind Wanderungen, Zelten, Übungen im
Dschungel, Besteigen von Bergen, Rudern, Schwimmen, Tauchen, Training als Froschmann, Fischen, Tiefseejagd und alle Arten von Kampfsportarten.
Wichtig ist, ein Auto fahren, ein Flugzeug führen und Schiffe steuern zu können, sowohl Motor- als
auch Segelschiffe, weiter Kenntnisse der Kraftfahrzeugmechanik und der Elektrotechnik zu besitzen, um z.B. Radios und Telefone reparieren zu können.
122
Von gleicher Wichtigkeit sind elementare Kenntnisse der Topographie sowie die Fähigkeit, sich mit
Instrumenten und praktischen Mitteln zu orientieren, Entfernungen abschätzen, Landkarten und
Lagepläne herzustellen, eine Skala benutzen, Zeitrechnungen herstellen, mit dem WinkeItransporter, mit Kompass usw. umgehen zu können. Kenntnisse der Chemie, die Mischung von Farben, die
Herstellung von Stempeln, das Beherrschen der Schreibtechnik und Schriftfälschung sowie andere
Fertigkeiten bilden einen Teil der technischen Vorbereitung des Stadtguerilleros, der gezwungen
ist, Dokumente zu fälschen, um in einer Gesellschaft leben zu können, die er zerstören will.
Das Leben des Stadtguerilleros ist abhängig von seiner Schießkunst, von seiner Fähigkeit, die vorhandenen Waffen einzusetzen und selbst nicht getroffen zu werden. Wenn wir von Schießen reden, so meinen wir die Treffsicherheit.
Diese muss solange geübt werden, bis das Schießen und das Treffen des Stadtguerillero zu einer
Reflexreaktion geworden ist. Um gut und treffsicher zu bleiben, muss er systematisch trainieren
und dabei die verschiedensten Methoden anwenden. Jede Gelegenheit zu Schießübungen ist auszunutzen, auch auf Rummelplätzen und zu Hause mit dem Luftgewehr.
Logistik der Stadtguerilla
Die konventionelle Logistik kann durch die FormeI ausgedrückt werden »N K A M«.
N (Nahrungsmittel), K (Kraftstoff), A (Ausrüstung), M (Munition). Die Logistik des Stadtguerillero
der bei NULL anfängt und zunächst über keine Stütze verfügt, kann mit der Formel »M G W M S«
beschrieben werden: M (Motorisierung), G (Geld), W (Waffen), M (Munition) und S (Sprengstoff).
Ursprüngliche Vorteile sind:
1. Überraschung des Feindes;
2. die bessere Kenntnis des Gebietes, in dem die Aktion durchgeführt wird;
3. eine größere Beweglichkeit als die Polizei und die übrigen Kräfte der Repression;
4. ein Informationsapparat, der besser ist als der des Feindes;
5. eine Entschlossenheit und Geistesgegenwart, die alle unserer Seite Kämpfenden stimuliert
und nicht schwanken lässt, die feindliche Seite entmutigt und paralysiert, damit zur Gegenwehr unfähig macht.
Der Banküberfall, populärste Art des Überfalls
Banküberfälle sind zu der populärsten Art von Überfällen geworden. Diese Überfallart wird heute
weitestgehend benutzt und dient dem Stadtguerillero als eine Art Vorexamen, in dem die Technik
der Revolution erlernt wird.
Die Stadtguerilla, Auswahlschule des Guerilleros
Die Intellektuellen stellen die zentrale Säule des Widerstandes gegen die Willkür und gegen die
gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten dar. Sie geben der Revolution ständig neue Impulse und sie
haben ein riesiges Kommunikationspotential und einen großen Einfluss auf das Volk. Der Intellektuelle Stadtguerillero oder der Künstler- Stadtguerillero sind die Neueste Bereicherungen des revolutionären Krieges.
123
Transkript: Anti-Oper
Ein Gespräch zwischen Heiner Müller und Alexander Kluge
[...]
KLUGE Du hast ja einen Dramenentwurf, den du machen willst, und deine Anspielung auf 24
Stunden verstehe ich so, dass von Stalingrad bis Berlin das ein 24-Stunden-Werk wird. Wenn du
aber jetzt die Aufgabe auf dich nehmen müsstest, zur Strafe, du solltest einen Abschied von 1914
machen, Abschied von 1916 und Abschied von der Erfahrung des Ersten Weltkriegs - Fortsetzung,
also "Fatzer", zweiter Teil. Was würdest du machen? "Faust", zweiter Teil, "Fatzer", zweiter Teil
MÜLLER Das ist ein wirkliches Problem, das weiß ich nicht. Weil im Moment sieht es für mich so
aus, dass in diesem »Fatzer«-Text alles auch beschrieben ist, was jetzt passiert, was im Zweiten
Weltkrieg passiert ist. Und was jetzt, 1989, passiert. In dem »Fatzer«-Material gibt es am Anfang
eine Szene im Ersten Weltkrieg. Sie beschreibt die Erfahrung der Materialschlacht, das ist eine
Verzweiflungsreaktion darauf, und der Koch, der später Funktionär wird, schreit ...
KLUGE Der Koch? Oder heißt der Koch?
MÜLLER Koch, er heißt Koch.
KLUGE Er heißt Koch, er ist kein Schauspieler?
MÜLLER Später, in einer anderen Version, heißt er Keuner, und das wird dann eine Lenin-Figur,
das war aber nur geplant von Brecht, nicht geschrieben. Und der schreit in der Schlacht, überall ist
der Feind und es wird geschossen. Und dann kommt dieser enorme Schluss, wo er sagt, wo soll
man da hinfliehen, überall ist der Mensch. Und dann sagt Büsching, der Mensch ist der Feind und
muss aufhören.
KLUGE Was verstehst du unter Materialschlacht?
MÜLLER Verdun, oder die Somme, und einfach diese Erfahrung des Angenageltseins an den
Boden oder in den Graben ...
KLUGE Der Mensch ist angeschmiedet durch Befehl, und die Materialschlacht ist im Grunde die
tote Arbeit gegen die tote Arbeit?
MÜLLER Ja, ja. Und deswegen ist der logische Schluss, der Mensch ist der Feind und muss
124
aufhören. Der Mensch, der sich so materialisiert hat, mitten in dieser Maschine. Das finde ich
einen ganz enormen Punkt in dem Text. Die Materialschlacht ist eigentlich der Entwurf von
Auschwitz. Wenn man eine Entsprechung sucht zu dem nationalen Stoff von Shakespeare, die
Rosenkriege gibt’s in Deutschland nicht. Es gibt in Deutschland keinen nationalen Stoff. Deswegen
ist die Schwärmerei von Schiller, auch von Goethe über Friedrich den Großen eine Zeitlang ganz
interessant. Das war die Hoffnung auf einen nationalen Stoff, aber es ging nicht. Schreiben konnte
man es nicht. Das war nicht dramenfähig.
KLUGE Nun gibt es eine Kontinuität. Wenn ich die Kürze der Wiedervereinigung betrachte, also
’70/’71, das reicht bis ’45, und jetzt kommt wieder eine neue Wiedervereinigung auf der einen
Seite, auf der anderen Seite die hohe Kontinuität der beiden Weltkriege. Also was 1914 begann, ist
1918 nicht beendet und geht über die Freicorps und über alle möglichen Dinge ...
MÜLLER Und das ist der Punkt bei »Fatzer«. Schon die Namen. Ich muss vielleicht kurz die
Geschichte erzählen. Sie ist nicht zu Ende geschrieben bei Brecht, aber es gibt eine
Fabelerzählung von Brecht selbst. Soldaten beschließen im Ersten Weltkrieg in Frankreich, den
Krieg zu beenden, also zu desertieren. Der Titel ist »Liquidation des Ersten Weltkriegs durch
Johann Fatzer«. Fatzer ist die führende Figur bei dieser Desertion. Er erklärt den anderen die Lage
und macht eine Zeichnung, wo er beschreibt, dass Feuer und Wasser auf beiden Seiten
gegeneinander stehen, d. h. der, auf den wir schießen, ist unser Bruder, hinter ihm steht unser
Feind, hinter uns steht unser Feind, der auch sein Feind ist. Sein letztes Argument macht die
anderen zögern: Ich rauche jetzt meinen Tabak auf, weil es die eiserne Ration ist, damit ihr hier
nichts mehr habt, denn sonst macht ihr noch weiter, dann ist Schluss. Und dann gehen sie nach
Mülheim, da ist auch die Ortswahl interessant ...
KLUGE Mülheim/Ruhr?
MÜLLER Mülheim/Ruhr. Und sie verstecken sich in der Wohnung eines der vier, der aus Mülheim
stammt, und warten auf die Revolution.
KLUGE Und die kommt nicht.
MÜLLER Und die kommt nicht. Und dann gibt es den Kernsatz, der Krieg hat uns nicht
umgebracht, aber bei ruhiger Luft im stillen Zimmer bringen wir uns selber um.
KLUGE Wenn du das Wort Gaskrieg hörst, was stellst du dir da vor? Du hast ja Gaskrieg selber
nicht kennengelernt?
125
MÜLLER Ja, ich habe noch eine Gasmaske getragen, aber es gab keinen Gaskrieg mehr. Und das
ist ja auch interessant, dass das im Zweiten Weltkrieg keine Erfahrung mehr geworden ist. Der
Erste Weltkrieg war eine Erfahrung für alle Beteiligten.
KLUGE Hitler, der wusste, was Gaskrieg ist, hat widerstanden. Das war einer der wenigen Punkte,
an denen dieser Mann irgendeine Hemmung hatte. Und wenn du aber mal das Wort Gaskrieg
hörst, wie stellst du dir das vor?
MÜLLER Ja, der Hauptpunkt ist die absolute Hilflosigkeit, das Zurückgeworfensein auf animalische
Reaktionen. Für mich ist eine Metapher für den Gaskrieg was ganz Dummes. Ich war in
Disneyland bei Los Angeles und bin mit dieser Montblanc-Bahn gefahren, ich weiß nicht, ob du die
kennst. Du fährst also durch einen kleinen Montblanc mit einer ungeheuer schnellen Bahn, und es
ist stockdunkel da drin, und die Kurven sind gewaltig, und plötzlich bist du völlig zurückgeworfen
auf eine ganz kreatürliche Angst, dich festzuhalten in den Kurven, das ist die Erfahrung des
Gaskriegs, die ich kenne.
KLUGE Die Lunge versagt als letztes, du kannst ja nicht willkürlich ertrinken, also du kannst dich
nicht selber ertränken, denn im letzten Moment würde die Lunge, im Gegensatz zu deinem
Verstand oder Herzen, dich wieder hochtreiben.
MÜLLER Der Erstickungstod ist der schrecklichste.
KLUGE Gleichzeitig die dauerhafte Westwindrichtung unseres Planeten.
MÜLLER Ja, ja.
KLUGE So dass man Windstille oder Ostwind auf deutscher Seite brauchte.
MÜLLER Deswegen sind die Armenviertel ja immer im Osten der Städte.
(Quelle. http://muller-kluge.library.cornell.edu/de/video_transcript.php?f=100 – 5.1.2013)
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In diesem kurzen Aufsatz, einem Ausschnitt aus seiner Monographie »Hammerstein
oder der Eigensinn« (Frankfurt: Suhrkamp, 2008), gibt der deutsche Schriftsteller Hans
Magnus Enzensberger (*11. November 1929) einen prägnanten Überblick über die
politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse zur Entstehungszeit der »Fatzer«Fragmente.
Hans Magnus Enzensberger: Die Schrecken der Weimarer Republik
Wir sollten dankbar dafür sein, dass wir nicht dabei gewesen sind.
Die Weimarer Republik war von Anfang an eine Fehlgeburt. Das ist keine besserwisserische
Charakteristik aus der Retrospektive. So hat sie bereits Ernst Troeltsch in seinen SpectatorBriefen aus den Jahren 1918-1922 beschrieben, und er war nicht der einzige. Ein Blick in Joseph Roths frühe Romane und Reportagen sollten jeden überzeugen, der daran zweifelt.
Nicht nur, dass die alten Eliten nicht bereit waren, sich mit der Republik abzufinden. Viele,
die aus dem verlorenen Kriege nach Hause kamen, mochten den »Kampf als inneres
Erlebnis« nicht aufgeben und sannen auf Revanche. Sie erfanden die »Dolchstoßlegende«,
später hieß es dann ein Jahrzehnt lang: »Und ihr habt doch gesiegt.« Justiz und Polizei
klammerten sich an ihre wilhelminischen Normen und Gewohnheiten. An den Hochschulen
überwogen autoritäre, antiparlamentarische und antisemitische Stimmungen. Mehr als
einmal entlud sich die gereizte Atmosphäre in dilettantischen Putsch- und Umsturzplänen.
Auf der Seite der Linken sah es nicht viel besser aus. Auch sie hielt wenig von der Demokratie und ihre Kader planten den Aufstand. Die wirtschaftliche Misere trug zur Instabilität der
deutschen Gesellschaft bei. Die Kriegsschulden und Reparationszahlungen belasteten den
Haushalt der Republik schwer. Die Inflation ruinierte den Mittelstand und das Kleinbürgertum. Dazu kam die endemische Korruption, die bis in die höchsten Staats- und Parteiämter
reichte und unmittelbar politische Folgen hatte. Der Fall des Reichspräsidenten Hindenburg
ist notorisch. Die einzige ökonomische Atempause, die an eine Erholung denken ließ, dauerte ganze vier Jahre, von 1924 bis 1928. Dann machte ihr die Weltwirtschaftskrise ein brutales Ende. Der ökonomische Zusammenbruch und die folgende Massenarbeitslosigkeit führten zur Verbitterung der Lohnabhängigen und zu massiven Deklassierungsängsten.
Dazu kamen die außenpolitischen Belastungen, die zeitweise ein unerträgliches Maß annahmen. Der Versailler Vertrag, weit entfernt von dem intelligenten Frieden, den die Briten und
die Amerikaner nach dem Zweiten Weltkrieg ins Auge fassten, rief in der deutschen Gesellschaft vehemente Ressentiments hervor. Die Ruhrbesetzung, der Separatismus und die ethischen Konflikte begünstigen und verschärften die chauvinistischen Stimmungen. Die unmittelbaren Nachbarn, vor allem die Franzosen und die Polen taten alles, was in ihrer Macht
stand, um die Deutschen weiter zu demütigen, und auch die Sowjetunion versuchte, die Republik, so gut sie konnte, zu destabilisieren.
Mit einem Wort, das Land befand sich in einem latenten Bürgerkrieg, der nicht nur mit politischen Mitteln ausgetragen wurde, sondern immer wieder gewaltsame Formen annahm.
Vorm Spartakus-Aufstand bis zu den Aggressionen und Fememorden der Freikorps und der
»Schwarzen Reichswehr«, von den mitteldeutschen Märzkämpfen bis zum Aufmarsch der
Nationalsozialisten vor der Münchner Feldherrenhalle, von den Hamburger und Wiener Arbeiterkämpfen bis zum Berliner »Blutmai« wurde die Demokratie von den Militanten beider
127
Seiten immer wieder in die Zange genommen.
Unter dem Stichwort Systemzeit findet man heute folgende politisch unverdächtige Definition: »S., die in einem Computer von der internen Uhr bereitgestellte und durch das Betriebssystem an die Software weitergegebene Uhrzeit.« In den zwanziger und dreißiger Jahren las
man es anders. >Das System< war ein Kampfbegriff, der in der Weimarer Zeit geprägt wurde
(und der 1968 eine sonderbare Renaissance erlebte). Er wurde von rechts und von links, von
Goebbels ebenso wie von Thälmann, gegen die Republik ins Feld geführt.
In den Jahren 1932 und 1933 nahm die Spaltung der Gesellschaft, nicht nur in Deutschland,
sondern auch in Österreich, geradezu libanesische Formen an. Milizen – SA, Roter Frontkämpferbund, Stahlhelm, Hammerschaften, Reichsbanner, Schutzbund und Heimwehr – bekämpften sich auf offener Straße, und die Agonie der Weimarer Republik erreichte ihren kritischen Punkt.
Dass die Lüge von den »Goldenen Zwanziger Jahren« von den Nachgeborenen jemals geglaubt werden konnte, ist rätselhaft und weder durch Ignoranz zu entschuldigen, noch durch
Mangel an historischer Vorstellungskraft zu erklären. Dieser fragile Mythos nährt sich viel
eher aus eine Mischung von Neid, Bewunderung und Kitsch: Neid auf die Vitalität und Bewunderung für die Leistung einer Generation von großen Begabungen, aber auch wohlfeile
Nostalgie. Man sieht sich die tausendste Vorstellung der Dreigroschenoper an, staunt über
die Preise, die Beckmann, Schwitters und Schad auf den Aktionen erzielen, begeistert sich
für die Repliken der Bauhausmöbeln und weidet sich an Filmen wie Cabarét, die ein hysterisches, polymorph perverses, »verruchtes« Berlin zeigen. Ein wenig Dekadenz, eine Prise Risiko und eine starke Dosis Avantgarde lassen den Bewohnern des Wohlfahrtsstaates angenehme Schauer über den Rücken rieseln.
Diese Blüte einer höchst minoritären Kultur lässt den Sumpf vergessen, auf dem sie gedieh.
Denn auch die intellektuelle und künstlerische Welt der zwanziger Jahre war durchaus nicht
immun gegen die Erregungszustände des Bürgerkriegs. Dichter und Philosophen wie Heidegger, Carl Schmitt oder Ernst Jünger, aber auch Brecht, Horkheimer und Korsch setzten
der Hasenherzigkeit der politischen Klasse das Pathos der Entschlossenheit entgegen –
wozu entschlossen, darauf kam es ihnen erst in zweiter Linie an. Auch ihre Mitläufer, die linken wie die rechten, schwelgten in der Attitüde des Unbedingten.
Die Politiker des Mittelmaßes konnten da nicht mithalten. Sie wirkten blass und hilflos. Die
Fähigkeit, die Ängste, die Ressentiments, die Begeisterungsfähigkeit und die destruktive
Energie der Massen zu mobilisieren, fehlte ihnen ganz und gar. Auch aus diesem Grund
haben sie Hitler, der sich darauf wie kein anderer verstand, ausnahmslos unterschätzt. Es
blieb der politischen Klasse am Ende kaum mehr übrig, als zwischen Panik und Lähmung zu
lavieren.
Das Gefühl der Ohnmacht verführte die meisten zur Flucht ins Extrem. Schutz und Sicherheit
glaubten die Leute nur noch in den Organisationen wie der KPD, der NSDAP, dem Reichsbund oder der SA zu finden. Die Massen schwankten zwischen links und rechts; die Fluktuation zwischen beiden Polen nahm epidemische Formen an. Aus Furcht vor der Isolation suchen die Menschen das Kollektiv, flohen in die Volksgemeinschaft oder in den Sowjetkommunismus. Paradoxerweise endete diese Flucht für viele die sie antraten, in der totalen Einsamkeit: im Exil, im KZ, in den Säuberungen, im Gulag oder in der Vertreibung.
128
Der Bühnenbildentwurf zur Fatzer-Produktion in Marburg sah zunächst einen stilisierten Boxring vor. Dieser ist zwar mittlerweile wieder verschwunden bzw. hat sich weiterentwickelt,
dennoch sind die Querverbindungen zwischen Brecht, Bühne und Boxsport nicht uninteressant im Kontext der Fatzer-Themen. Der Boxring ist ein Ort des Kampfes zwischen zwei
herausgehobenen Antagonisten, ein mythischer Schauplatz eines Stellvertreterkampfes,
vergleichbar etwa der römischen Gladiatorenarena. Insofern der Boxer Stellvertreter einer
Masse ist, ist aber jeder Boxkampf auch ein Kampf zwischen dem Einzelnen und dem
Kollektiv.
B. B. und der Boxer
Als Bert Brecht sich von Samson-Körner inspirieren ließ
Von Alex Natan
Die großen Schriftsteller unserer Zeit, die eine sportliche Begebenheit zum Thema ihrer Kunst gewählt haben – Hemingway, Schulberg, Gallico, Jack London oder Greuze –, haben stets das Problem in den krassen, naturalistischen Schattenseiten des Sports gefunden. Sie spürten unter der
ölig glänzenden Haut eines geschäftig propagierten Olympioniken die wirkliche Tragödie des
Kämpfers, die der Sykophant unter den Sport-Portraitisten durch Lorbeergewedel von sich zu
scheuchen weiß. Sport als Thema für einen großen Schriftsteller bedeutet eine Goya-Vision, den
Dunst von Blut und Schweiß und Verrat, die großartige Einsamkeit der Niederlage, die Entfesselung aller Triebe, wie sie sich beim Boxkampf, beim Sechs-Tage-Rennen oder im Catcherzelt offenbaren, wo es um mehr als die Ehre, wo es um die Existenz selbst geht.
Neben Gerhart Hauptmann ist Bertolt Brecht der größte Dramatiker, der in deutscher Sprache in
diesem Jahrhundert geschrieben hat. Es sollte deswegen nicht ohne Interesse sein, wie sich
Brecht zum Sport als auffälligem Phänomen seiner Zeit gestellt hat, selbst wenn sich die eigene
Betätigung auf das Autofahren beschränkt hat. Bert Brecht versuchte erstmalig zu Beginn der
zwanziger Jahre, als es in Deutschland zur Mode geworden war, angelsächsische Klischees nachzuahmen. Damals herrschte eine unechte Vergötterung englischer Lebenseinstellung vor. Bertolt
Brecht nannte sich »Bert«, Georg Grosz wurde zu »George«. Walter Mehring gab sich zeitweise
als »Walt Merin« aus, während der Dadaist und Pazifist Hellmut Herzfelde sich »John Hartfield«
hieß. Sport, der in der angelsächsischen Welt die Realität einer Selbstverständlichkeit besitzt, wurde der damaligen Generation genauso zu einer mythischen Vorstellung, wie ihr der Negerjazz ein
musikalisches Ideal und die Heilsarmee eine esoterische Welterlöserreligion bedeutete. Bereits
Wedekind und Bernard Shaw hatten in dem seltsamen Milieu der Heilsarmee und in ihren naturalistischen Hymnen eine ähnliche Anziehungskraft verspürt wie in dem Kraftmeiertum des damaligen Sports. Es war die gleiche lärmende, trunkene, ungebärdige volkstümliche Mischung, die wohl
auf Rimbaud zurückzuführen ist, die auch andere Dichter der zwanziger Jahre, wie etwa Cocteau,
Lorca und Mayakowski faszinierte.
Sport, Whisky und »Virginia«
Boxen, Ringkampf, Sechs-Tage-Rennen wurden ihnen allen zu symbolischen Formen des Kampfs
ums Dasein, um eine Welt, die seit 1914 aus den Fugen geraten war. Ähnlich dem Sport nahmen
auch Whisky und Gin und der fremde »Virginia«-Tabak symbolische Bedeutung für eine Wandlung
an, die im Zeichen einer neuen Gesellschaft stehen würde. Lion Feuchtwanger, einer der frühesten
Freunde Brechts, drückte dieses neue kraftprotzende Gefühl in »J. L. Wetcheek’s Amerikanischem
Liederbuch« aus. Der expressionistische Dramatiker Georg Kaiser ließ seinen betrügerischen Kassierer den Abglanz des Lebens in »Von Morgens bis Mitternachts« auf einem Sechs-Tage-Rennen
und im Vereinslokal der Heilsarmee erleben. Joachim Ringelnatz mokierte sich über Boxen, Ringen und Radfahren in seinen »Turngedichten« ebenso wie über die teutonische Mentalität der Turner. Arnolt Bronnen, auch einer der frühesten Freunde Brechts, schrieb in der Zeitschrift »Die Sze-
129
ne« über die zeitgenössische Literatur: »Für mich sind ihre Aspekte grenzenlos. Sie reichen von einem Boxkampf bis zur Jazzband.« Walter Mehring schreibt in einem Sketch aus dem Jahre 1924,
den er bezeichnenderweise »Kult des Sports« nannte, über ein Sechs-Tage-Rennen:
»Hart
Am Start
Die Muskeln auf der Lauer
Zweimalhunderttausend
Augen:«
Jedenfalls hatte der sogenannte »Kulturbolschewismus« den Sport früher entdeckt als seine späteren nationalistischen Schönfärber.
Es ist die gleiche schweißgetränkte Atmosphäre des Rings, die für Bert Brecht symbolischen Charakter erhält. Im Vorspruch zu seinem Stück »Im Dickicht der Städte« (1921 bis 1924 verfaßt) gibt
der Dichter dem Leser den folgenden Rat: »Sie befinden sich im Jahre 1912 in der Stadt Chicago.
Sie betrachten den unerklärlichen Ringkampf zweier Menschen und Sie wohnen dem Untergang
einer Familie bei, die aus den Savannen in das Dickicht der großen Stadt gekommen ist. Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf über die Motive dieses Kampfes, sondern beteiligen Sie sich an den
menschlichen Einsätzen, beurteilen Sie unparteiisch die Kampfform der Gegner und lenken Sie Ihr
Interesse auf das Finish.«
»Kunst und Boxsport«
In den Bühnenanweisungen zum Schlussakt des »Elephantenkalbes« heißt es: »Alle ab zum Boxkampf«. Der Kampfsport der Berufssportler interessierte Brecht enorm, so dass dieser Zug in den
meisten seiner Stücke zu spüren ist, besonders stark in seiner Kurzgeschichte »Der Kinnhaken«.
Brecht beriet 1930 seinen Freund Ferdinand Reyher, der damals sein Stück »Harte Bandagen«
veröffentlichte. Es war typischer Zeitgeist, der sich hier bemerkbar machte. Als der Kunsthändler
Alfred Flechtheim seine Galeriemitteilungen in den »Querschnitt« umwandelte, nannte er ihn eine
»Zeitschrift für Kunst und Boxsport«. In seinem Kreis galt es als »chic«, in der Körperschule von
Breitensträter zu boxen oder sich dort den Leib wegmassieren zu lassen. De Fiori schuf damals
seinen »Schmeling«, Belling seinen »Neusel« und Renée Sintenis ihren »Nurmi«. Mit seinem
Freund, dem damaligen Schwergewichtsmeister Samson-Körner ging Brecht bei Flechtheim aus
und ein. Gemeinsam mit diesem Boxer begann Brecht ein neues Werk »Die Menschliche Kampfmaschine« zu schreiben, das indessen nicht vollendet wurde. Als die »Literarische Welt« 1926 ein
lyrisches Preisausschreiben veranstaltete, war Brecht einer der Richter. Er entschied sich für ein
Gedicht seines Freundes Hannes Küpper, das in einer Radsportzeitschrift erschienen war. Es
schilderte die Legende des australischen Sechs-Tage-Fahrers Mac Namara, den man den »Eisernen Mac« auf dem Heuboden, des Berliner Sportpalastes nannte. Jede Strophe des Gedichtes
schloß bezeichnenderweise mit dem englisch geschriebenen Refrain : »Hé, hé! The Iron Man!«
Bühne und Boxring
Wir wissen heute, daß Brecht seinen Posten als Dramaturg bei Max Reinhardt aufgab, weil ihm die
Plüschatmosphäre eines Theaters für den wohlhabenden Mittelstand nichts mehr zu sagen hatte.
Carl Zuckmayer hat darüber 1948 in Iherings »Theaterstadt Berlin« berichtet. Damals schwebte
Brecht ein »Theater der Raucher und des Schweiß’ « vor. Er wollte von seinem Publikum den
Schauspieler wie einen kämpfenden Sportsmann beurteilt sehen. Ihn zog der Boxring mit seinen
hölzernen Sitzen und seinen grellen, unbarmherzigen Bogenlampen immer wieder an. Im Jahre
1926 schrieb er dann einen Artikel für den Berliner Börsen-Courier, den er »Mehr guten Sport«
(Hinweis, den guten Sportbetrieb aufs Theater anzuwenden) nannte. Diese Gedanken führte er
130
dann im gleichen Jahre in seinem Stück »Mann ist Mann« durch. Sein Regisseur, Jakob Geis, hat
darüber in einem Aufsatz in »Die Szene« berichtet, wie Brecht danach gestrebt hätte, die neutrale,
unbestechliche, glasklare Atmosphäre eines Boxkampfes auf die Bühne zu bringen. Im gleichen
Jahren wurde die Bühne auch wirklich zum Boxring, als Melchior Vischer Brechts Einakter »Die
Hochzeit« in Frankfurt zur Aufführung brachte. Der Regisseur kommentierte danach: »Sport muss
zum Sammelpunkt des Theaters werden, eines neuen Theaters.« Unter dem direkten Einfluss
Brechts schrieb Vischer dann ein Stück »Fußballspieler und Indianer«. Die Analogie des Boxrings
taucht auch noch in der »Dreigroschenoper« auf, wie dies gleichfalls die Inszenierungen des Singspiels »Mahagonny« und des Lehrstücks »Die Maßnahme« erwiesen haben, wo ganze Szenen
auf einem Podium stattfinden, das durch Seile vom Rest der Bühne abgeteilt war.
Brecht hat seine grundsätzliche Einstellung zum Sport in einem Beitrag »Die Krise des Sports«
niedergelegt, den er 1928 für Willy Meisls Buch »Der Sport am Scheidewege« verfasst hatte. Darin
äußert er sein Misstrauen einem Sport gegenüber, der ihm immer mehr zu einer politischen Bemühung des deutschen Bürgertums wird, ihn gesellschaftsfähig zu machen. »Das Scheußlichste, was
man sich ausdenken kann, ist Sport als Äquivalent.« Hier liegt die Antwort an alle jene, die aus
dem Sport eine Lebensideologie machen möchten. Brecht weist es als unwürdig ab, im Sport den
Ausgleich für den Geist zu sehen, um dann wörtlich zu schließen: »Ich bin gegen alle Bemühungen, den Sport zu einem Kulturgut zu machen, schon darum, weil ich weiß, was diese Gesellschaft
mit Kulturgütern alles treibt, und der Sport dazu wirklich zu schade ist. Ich bin für den Sport, weil
und solange er riskant (ungesund), unkultiviert (nicht gesellschaftsfähig) und Selbstzweck ist.«
Aus: DIE ZEIT, 22.2.1963 Nr. 08
Quellle: http://www.zeit.de/1963/08/b-b-und-der-boxer/komplettansicht (14.11.2012)
131
Ein Gespräch zwischen Wolfgang Heise und Heiner Müller
[...]
HEISE Wie verstehst du »Schrecken«?
MÜLLER Der Augenblick der Wahrheit, wenn im Spiegel das Feindbild auftaucht. Ich habe kürzlich
einen Text von Brecht gelesen, zitiert in einer Beschreibung einer »Fatzer«-Aufführung in Wien:
»Nicht nahe kommen sollten sich die Zuschauer und Schauspieler, sondern entfernen sollten sie
sich voneinander. Jeder sollte sich von sich selber entfernen, sonst fällt der Schrecken weg, der
zum Erkennen nötig ist.« Das ist, glaube ich, ein sehr zentraler Punkt bei Brecht, und viele seiner
Innovationen oder Techniken lassen sich da subsumieren unter diese Kategorie der Entfernung.
Man sieht ja nur aus der Distanz; wenn man mit dem Auge auf dem Gegenstand liegt, sieht man
ihn nicht. Wer bei sich bleibt, lernt nicht. »Man muss das Volk vor sich selbst erschrecken lehren,
um ihm Courage zu machen.«
HEISE Das wäre Distanzlosigkeit und Herstellen von Distanz in einem Akt und durch einen Akt,
Zusammenhang von Zerstörung und Produktivität, da steckt die Dialektik drin, die Marx für die
Scham entwickelt hat.
MÜLLER In diesen Zusammenhang gehört der Begriff Furchtzentrum im »Fatzer«-Material. Jetzt
kann man das wieder in Beziehung setzen zu Aristoteles, aber es ist schon eine Dialektisierung,
glaube ich. Es geht grundsätzlich darum, das Furchtzentrum einer Geschichte zu finden, einer
Situation und der Figuren, und dem Publikum das auch zu vermitteln als Furchtzentrum. Nur wenn
es ein Furchtzentrum ist, kann es ein Kraftzentrum werden. Aber wenn man das Furchtzentrum
verschleiert oder zudeckt, kommt man auch nicht an die Energie heran, die daraus zu beziehen ist.
Überwindung von Furcht durch Konfrontation mit Furcht. Und keine Angst wird man los, die man
verdrängt.
HEISE Da wäre Katharsis vielleicht gegenüber Brechts Kritik zu rehabilitieren: aber nicht in einem
nur psychologischen Sinne der Abfuhr, sondern sehr komplexer Aktivitäten, sich von Furcht zu
befreien. Und mir scheint, dass du den Schrecken extremisierst, ihn jedoch – ich denke dabei an
deine Theaterarbeit, aber auch an die Texte – mit Komischem konterst, verfremdest, damit weniger
die Person, mehr die Zuschauerbeziehung wertmäßig organisierst. Das Komische ließe sich als
besiegter Schrecken, komische Form als Form des besiegten oder besser besiegbaren
Schreckens begreifen. Das hängt freilich jeweils vom Gegenstand ab. Ich möchte noch einmal auf
Galilei zurückkommen. Er ist – in unserem Text – am Ende, auf dem Grund. Das scheint analog
der Endsituation des »Fatzer«-Fragments, die zugleich Produktionskrise und Ausweglosigkeit
132
anzeigt. Offensichtlich ist das Fatzer-Problem für Brecht nicht erledigt mit dem Übergang zur
kommunistischen Position, zu den Lehrstücken, zum »Me-ti« etc., es muss auf neuer Ebene immer
wieder angegangen werden ...
MÜLLER Die in »Fatzer« formulierte Endposition ist eigentlich die: Und von heute an und für eine
lange Zeit wird es auf dieser Welt keine Sieger mehr geben, sondern nur noch Besiegte. Das ist
eine Formulierung von 1932. Und das Furchtzentrum, wenn man mal etwas vereinfacht
formulieren will, war die Angst vor dem unauflösbaren Clinch von Revolution und Konterrevolution.
HEISE Das führt auf Gegenwartsprobleme, die wir uns ja nicht ausgesucht haben, ist also
individuell und gesellschaftlich allgemein, auch ein Hintergrundgedanke von »An die
Nachgeborenen«.
MÜLLER Ich lese mal ein in den Sammlungen nicht veröffentlichtes Gedicht dazu vor, das offenbar
keinen Titel hat:
»Und er verglich nicht jene / mit andern / und auch nicht sich mit / einem andern / sondern /
schickte sich an / bedroht / sich rasch zu verwandeln in / unbedrohbaren Staub. / Und alles, was
noch geschah, / vollzog er wie / ausgemachtes, / als erfülle er / einen Vertrag. / Und ausgelöscht /
waren ihm / im Innern die Wünsche. / Jegliche Bewegung / untersagte er sich streng. / Sein
Inneres schrumpfte / ein und verschwand / wie ein leeres Blatt, / entging er allem, / außer der
Beschreibung.«
HEISE Schwer scheint mir hier der Punkt angebbar, wo äußerste, verzweifelte Not nicht in
Schicksalstugend umschlägt.
MÜLLER Ich würde es nicht nur so sehen. Ich glaube, das ist geschrieben ungefähr in der Zeit von
»Fatzer«, auch in der Zeit von dem Gedicht »Fatzer komm«. Und das ist die private Formulierung
dieses »Fatzer komm«. Und was mich interessiert daran, ist der Nullpunkt, den er erreicht hat.
Einfach aus seiner genaueren, pessimistischen Einsicht in den Gang der Dinge. Vor 1933. Er
wusste es besser als die andern. Er wusste, was kommt, besser als die meisten anderen Linken.
Und er hatte auch nicht die Illusion über die kurze Dauer dieser Sache. Und das, meine ich, ist
interessant, weil, von da ab kommt dann die Erfüllung des Vertrags, die Parabelstücke. Also im
Abgeschnittensein von der konkreten Situation in Deutschland, in der Entscheidung für Stalin, nicht
mit Churchill, gegen Hitler.
HEISE Im Gedicht »Fatzer komm« hat Brecht den Nullpunkt objektiv und politisch gefasst.
»Verlass deinen Posten. / Die Siege sind erfochten. Die Niederlagen sind / Erfochten: / Verlass
jetzt deinen Posten.«
133
Und die zweite Strophe heißt: »Tauche wieder unter in die Tiefe, Sieger. / Der Jubel dringt dorthin,
wo das Gefecht war. / Sei nicht mehr dort. / Erwarte das Geschrei der Niederlage dort, wo es am
lautesten ist: / In der Tiefe. / Verlass den alten Posten.« Und die letzte Strophe dieses Gedichts
lautet:
»Der Geschlagene entrinnt nicht / Der Weisheit. / Halte dich fest und sinke! Fürchte dich! Sinke
doch! Auf dem Grunde / Erwartet dich die Lehre. / Zu viel Gefragter / Werde teilhaftig des
unschätzbaren / Unterrichts der Masse: / Beziehe den neuen Posten.«
Der Unterricht der Masse ist natürlich nicht nur ein Unterricht durch Kenntnisnahme der Meinungen
von Massen, sondern auch durch ihr wirkliches Verhalten.
MÜLLER Vor allem auch dadurch, daß er selbst Teil der Masse wird. Zu dieser Strophe hat Walter
Benjamin einen Kommentar geschrieben, der mir wichtig erscheint. »Sinke doch ... Im
Hoffnungslosen soll Fatzer Fuß fassen. Fuß, nicht Hoffnung. Trost hat nichts mit Hoffnung zu
schaffen. Und Trost gibt Brecht ihm: Der Mensch kann im Hoffnungslosen leben, wenn er weiß,
wie er dahin gekommen ist. Dann kann er darin leben, weil sein hoffnungsloses Leben dann
wichtig ist. Zugrunde gehen heißt hier immer: auf den Grund der Dinge gelangen.«
HEISE Diese Einsicht Brechts betrifft ihn selbst mit – vielleicht hat er sie auch beiseite geschoben
– im Festhalten einer Überlegenheits- und Wissenshaltung, als die Erfahrung ihm widersprach.
Das Wörtliche ist zugleich metaphorisch und anwendbar: »Der Geschlagene entrinnt nicht / Der
Weisheit / Halte dich fest und sinke!« Das ist keine Selbstaufgabe, sondern ein Selbstsuchen in
der Extremsituation von Ohnmacht und Fragwürdigwerden des als sicher Gewussten und
Behaupteten. Dies »Fatzer«-Gedicht weist schon auf den Weg des »Me-ti« – und mir scheint, er
beleuchtet auch das Bemühen um den »Büsching«-Stoff.
MÜLLER Etwas verbindet »Galilei« und »Fatzer«. »Fatzer« ist eins der persönlichsten Stücke von
Brecht, von der ganzen Textur her, und »Galilei« ist von den ganzen späten Stücken das einzige
persönliche, wo auch direkt Autobiografisches verarbeitet ist. In den letzten Proben, die er gemacht
hat – und das hatte, finde ich, durchaus auch eine tragische Note –, hat er sich immer mit Busch
gestritten, ihm gesagt: Busch, Sie spielen einen Verbrecher, das ist ein Krimineller, ein Mann, der
die Wahrheit weiß und sie nicht sagt. Und Busch sagte immer: Aber Brecht, das haben Sie nicht
geschrieben. Und Brecht bestand immer darauf: Busch, Sie sind ein Krimineller. Und Busch sagte
immer wieder: Brecht, das haben Sie nicht geschrieben.
Die Wunde im Text erscheint auf dem Theater als Narbe. Da liegt ja auch ein Dilemma von
Theater, das Brecht selbst mal formuliert hat: Dramatik ist immer avancierter als das gleichzeitige
Theater. Weil, um Neuerungen im Theater durchzusetzen oder zu präsentieren, muß man einen
riesigen Apparat bewegen, da ist also viel mehr Materialaufwand als beim Schreiben. Und das
andere Dilemma: Theater hängt auch immer oder lebt in der Spannung zwischen Aktualität und
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Material, zwischen der politisch-moralischen Intention mit der Eigenbewegung des Materials. Das
ist eben besonders deutlich bei »Galilei«. Ein Punkt, der überhaupt wichtig ist, wenn man über
Brecht redet: dass die politischen Impulse, die der Motor seiner ästhetischen Innovationen sind,
auch als Bremse funktionieren.
HEISE Das hat Brecht selbst gesagt, 1941 notierte er im Arbeitsjournal: »wann wird die zeit
kommen, wo ein realismus möglich ist, wie die dialektik ihn ermöglichen könnte? schon die
darstellung von zuständen als latente, balancen sich zusammenbrauender konflikte stößt heute auf
enorme schwierigkeiten, die zielstrebigkeit des schreibers eliminiert allzu viele tendenzen des zu
beschreibenden zustandes. unaufhörlich müssen wir idealisieren, da wir eben unaufhörlich partei
nehmen und damit propagandieren müssen.« (31. 1. 1941) Mir scheint das objektiv historisch
bedingt zu sein. Welche Wahl hatte er? Darin liegt zugleich ein moralisch-politisches
Verantwortungsbewusstsein, das den Hass auf die Tuis ebenso durchdringt wie sein Verarbeiten
der Erfahrung des 17. Juni - so in den »Buckower Elegien«, besonders: »Böser Morgen«. Da
kommt das Verhältnis von »Erfahrung« und »Urteil« unter andrem Aspekt wieder hoch, mit allem,
was darin liegt: der selbstgesetzte Auftrag, seine gewählte Identität und Rolle in den
Klassenkämpfen der Zeit, die seine Möglichkeiten nicht schlechthin erschöpfte, Unterschiede und
Widersprüche zwischen dem Philosophen, dem Moralisten und dem Poeten, zwischen Gewolltem
und Erreichtem, Erwartetem und Gefundenem ... Von diesem Drama (»viele Männer sind in einem
Mann«) kennen wir ja nur einige Bruchstücke.
in: Theater der Zeit, Jg. 43, Nr. 2 (Februar 1988), S. 22-26
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Aus einem Gespräch zwischen Heiner Müller und Frank M.
Raddatz
Unsere Zivilisation hat Auschwitz hervorgebracht. Bataille unterscheidet zwischen Zivilisationen
der Verschwendung – er macht das an den indianischen Hochkulturen fest – und der europäischen
Zivilisation der Ökonomie, die allein auf den Nutzen ausgerichtet ist. Ich sehe den Katholizismus
mehr in der Nähe einer Zivilisation der Verschwendung. In einer Zivilisation der Verschwendung
wäre Auschwitz nicht möglich gewesen. Unsere Zivilisation ist eine Zivilisation der Ausgrenzung.
Dass Marx und Engels das Lumpenproletariat aus der revolutionären Bewegung ausgegrenzt
haben, war die Grundlage der stalinistischen Perversion. Jetzt geht es um die Wiedergewinnung
des Lumpenproletariats, um alle, die aus den herrschenden Strukturen herausfallen. Alle Energie
der kapitalistischen Staaten zielt auf die Ausgrenzung und auf das Vergessenmachen der
Ausgegrenzten. Und gegen dieses Vergessen muss man arbeiten. Zu den Ausgegrenzten gehören
alle, die sich nicht mit der hier als Realität gehandelten Wirklichkeit zufriedengeben oder
identifizieren. Das ist das Fatzer-Problem, es ist das Grundthema des Jahrhunderts, und
Auschwitz ist das Modell des Jahrhunderts.
Nach Auschwitz hat das Gute geführt, nicht das Böse. Das Gute will selektieren, also Minderheiten
produzieren. Die sind dann böse und müssen ausgerottet werden.
Die Unterdrückung des Bösen führt nach Auschwitz. Das Gute produziert eine Struktur, die auf
Ausgrenzung und Selektion basiert, daraus entsteht das massenhaft, das institutionell Böse.
Auschwitz fängt damit an, dass man einem Kind auf die Finger haut, wenn es die linke Hand
benutzt, weil es Linkshänder ist, und sagt: die gute Hand.
Es gibt in den herrschenden Strukturen kein rationales Argument gegen Auschwitz. Wenn das
nicht gefunden wird, geht diese Zivilisation unter. Das ist die Grundfrage, und die kann nur
beantwortet werden durch die Mobilisierung der Ränder – nicht nur der sozialen, geographischen,
sondern auch der intellektuellen Ränder.
Wenn die Intellektuellen ins Zentrum drängen, verlieren sie die Kraft zur Veränderung. Sie müssen
am Rand bleiben, am Rand arbeiten. Vom Zentrum aus kann man nichts mehr bewegen. Ins
Zentrum gehören die Beamten. Die Intellektuellen müssen raus aus der Politik. Da verlieren sie
ihre Kraft. Susan Sontag kehrte neulich von einer Konferenz über das Schicksal Osteuropas
zurück und meinte: »Jedesmal, wenn man als Intellektueller an so einer Konferenz teilnimmt,
verliert man ein Stück seiner Unschuld.« Unschuld ist Kraft und gehört zum Rand wie die Naivität
oder der Traum.
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