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Scholl | Russland
Whiskey statt Wodka
Russland vor den Wahlen im kommenden Winter: Die Opposition
ist zerstritten und schwach – das Establishment zittert trotzdem
Stefan Scholl | Das Ergebnis der Duma- und Präsidentschaftswahlen am
2. Dezember und 2. März gilt als jetzt schon festgelegt: Es wird, so die allgemeine Erwartung der Russen, von Präsident Wladimir Putin entschieden.
40 Prozent der russischen Wähler finden das aber auch ganz in Ordnung –
nicht zuletzt, weil die Opposition ein so erbarmungswürdiges Bild abgibt.
STEFAN SCHOLL,
geb. 1962, lebt als
freier Autor in Twer.
Zuletzt erschien von
ihm „Aus dem
macht ihr keinen
Menschen mehr“
(2004).
Seit Breschnjews Zeiten ist Politik in
Russland nicht mehr so langweilig
gewesen wie heute. Am 2. Dezember
wird ein neues Parlament gewählt, am
2. März 2008 ein neuer Präsident.
Aber nur 15 Prozent der Wähler glauben, das Ergebnis der Duma-Wahlen
hänge von ihrem Willen ab, 45 Prozent nehmen an, es werde von Präsident Wladimir Putin und seiner Umgebung entschieden.1 Ebenso gilt es
als sicher, dass im März der Kandidat
Staatschef wird, den Putin persönlich
als seinen Nachfolger empfiehlt. Oder,
wie es der Schriftsteller Wiktor Jerofejew in Anspielung auf die AugustWahlen in Kasachstan formuliert, bei
der die Staatspartei „Licht des Vaterlands“ mit 88,5 Prozent der abgegebe1
2
3
nen Stimmen alle Sitze im nationalen
Parlament gewann: „Es wird so geschehen, wie es ein Mann im Land
entscheidet.“2
Putin wird mehr Vielfalt gewähren als sein kasachischer Amtskollege
Nursultan Nasarbajew – zumindest
nominell. Nach jüngsten Umfragen
ist wahrscheinlich, dass außer den
Kreml-Schwesterparteien „Geeintes
Russland“ (59 Prozent der Stimmen)
und „Gerechtes Russland“ (neun Prozent) auch die Kommunisten (18 Prozent) und Wladimir Schirinowskijs
Liberaldemokraten (sieben Prozent)
in die neue Duma einziehen.3 Allerdings gelten Kommunisten wie Liberaldemokraten
längst
als
Weisungsempfänger des Kremls.
www.levada.ru/press/2007052801.html.
Kommersant Wlast. Nr. 33. 27.08.07. S. 10.
www.levada.ru/reitingi2007.html.
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Ähnlich wie Kasachstan hat Russland
Aussichten auf ein Parlament, in dem
kein wirklicher Oppositionspolitiker
sitzen wird. Der Kreml hat in den
vergangenen Jahren alle Zugänge zur
politischen Willensbildung systematisch verbarrikadiert: Die legalen Parteien wurden durch die Pflicht dezimiert, sich neu zu registrieren und
dabei mindestens 50 000 Mitglieder
aufzuweisen. Ist man oppositionell,
wie etwa Wladimir Ryschkows „Republikanische Partei“, so läuft man
Gefahr, dass die Registrationsbehörden massenhaft Mitgliederunterschriften annullieren. Ryschkow,
einer der letzten Putin-Kritiker in der
Duma, kann auch seinen Sitz als unabhängiger Abgeordneter nicht verteidigen, weil alle Direktmandate abgeschafft wurden. Wer Präsident werden will, braucht wiederum eine
Duma-Fraktion, die ihn als Kandidat
nominiert, oder zwei Millionen (!)
Unterstützungsunterschriften.
So drohen die Winter-Wahlkämpfe zu äußerst exklusiven Partys zu
werden. Und die russische Staatsduma ist ab Dezember voraussichtlich
ein Klub, vor dessen Tür die FaceController des Kremls stehen. Hinein
lassen sie nur Leute mit ausgeprägt
loyalem Gesichtsausdruck und dem
richtigen Parteiabzeichen. Politiker,
die trotzdem versuchen, Opposition
zu veranstalten, werden auch anderswo ausgesperrt. Überall im Land riskieren sie, dass ihre Veranstaltungssäle kurzfristig anderweitig besetzt
sind. Oder dass sie von kremltreuen
Jungaktivisten ausgebuht werden.
Alle Fernsehsender schweigen ihre
Auftritte tot. Aber dadurch verliert
das TV-Programm nicht unbedingt an
Qualität. Denn viele demokratische
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Politiker führen sich auf, als gelte es,
dem Volk die letzte Lust am Pluralismus auszutreiben.
Seit die Demokraten mit Putins
Amtsantritt 2000 in die Opposition
geraten sind, will es ihnen nicht gelingen, sich zu einen. Grigorij Jawlinskijs
sozialliberale „Jabloko“-Partei und die
unternehmernahe „Union der rechten
Kräfte“ (russisch
abgekürzt
SPS) Die russische Staatsduma
scheiterten bei den wird zum Klub, vor dessen
vergangenen Parla- Tür die Face-Kontroller
mentswahlen 2004 des Kremls stehen.
an der Fünf-Prozent-Klausel – getrennt. Aber obwohl
die Hürde inzwischen schon auf sieben
Prozent liegt, verweigert Jawlinskij
weiter jedes Wahlbündnis mit anderen
Demokraten. Viele Moskauer vermuten, Jawlinskij antichambriere insgeheim im Kreml. „Es wird solange keine
geeinte Opposition geben, wie einzelne
Parteien versuchen, mit dem Kreml
Sonderkonditionen auszuhandeln“,
sagte Wladimir Ryschkow dem Autor
schon im April 2006.
Jawlinskij will auch selbst bei den
Präsidentenwahlen kandidieren; viele
Basisaktivisten aber kooperieren
längst mit dem außerparlamentarischen Bündnis „Anderes Russland“.
Anlass genug für die Moskauer Jabloko-Spitze, Ende August die ersten Parteiausschlussverfahren einzuleiten.
Dem „Anderen Russland“ haben
sich außer Exweltmeister Gari Kasparow und seiner „Offenen Bürgerfront“
auch die SPS, Menschenrechtsgruppen sowie der anarchistische Schriftsteller Eduard Limonow mit seinen
inzwischen verbotenen Nationalbolschewisten angeschlossen. Ein Zweckbündnis. Aber es droht an der Aufgabe zu scheitern, einen gemeinsamen
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Wladimir Putin kann entspannt angeln gehen: Seine Kader haben
Russland fest in der Hand und die Opposition ist zerstritten
Oppositionskandidaten für die Präsidentschaftswahlen zu nominieren. Im
Sommer scherte Expremier Michail
Kasjanow mit seiner „Volksdemokratischen Partei“ aus. Stein des Anstoßes: Kasjanow, der sich von seinen
Volksdemokraten schon zum Präsidentschaftskandidaten küren ließ,
lehnte es ab, sich den Primaries zu
stellen, die Kasparow und die SPS vorgeschlagen hatten. Als Alternativkandidaten standen der in England leben4
5
6
Moskowskij Komsomolez, 6.6.2007.
Nowaja Gaseta, 14.7.2000.
So etwa der Moderator Alexej Wenediktow im Interview mit Kasjanow für Radio Echo Moskwy
am 10.7.2007, www.echo.msk.ru/guests/1835.
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de frühere Sowjetdissident Wladimir
Bukowskij bereit sowie Viktor Geraschtschenko, Exchef der russischen
Zentralbank. Bukowskij allerdings ist
nicht im Besitz eines russischen Passes, Geraschtschenko wiederum
scheint die Sache nicht besonders
ernst zu nehmen. In einem Zeitungsinterview amüsierte er sich schon über
die Opposition als „Liliputaner“.4
Jedenfalls veranstaltet das „Andere Russland“ zurzeit eine Reihe von
lokalen Vorwahlkonferenzen. Achtmal gewann dabei Kasparow, der gar
nicht kandidieren möchte, zehnmal
Kasjanow, der diese Primaries nicht
akzeptiert. Dabei gilt Kasjanow seit
seinen Amtszeiten unter Jelzin als
einer der korruptesten russischen Politiker. Insider tauften ihn sogar auf
den Spitznamen „Mischa zwei Prozent“, weil er als Finanzminister bei
der Verwaltung der Staatsschulden
für jede Unterschrift zwei Prozent der
dokumentierten Summe kassiert
haben soll.5 Kasjanow war bis 2004
Premier, jetzt klingt seine Kritik gegenüber dem Kreml eher zahm. Viele
Russen glauben, er stecke mit Putins
Wahlkampfmanagern unter einer
Decke: Seine Aufgabe sei es, die Kandidatur eines starken Einheitskandidaten der Opposition zu verhindern.6
Korruptions- und Verratsgerüchte,
Egoismus statt Kompromissfähigkeit
– Russlands führende Oppositionelle
scheinen sich teilweise selbst nicht
mehr ernst zu nehmen. Boris Nemzow
etwa, Galionsfigur der liberalen SPS,
hat gerade eine neue Autobiographie
veröffentlicht. Vielversprechender
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Titel: „Aufzeichnungen eines Rebellen“. Darin kritisiert er Putins Korruptokratie, beklagt neoimperale Phrasendrescherei, Heuchelei und Selbstzufriedenheit. „Was aber tun? Sich von
der Ausweglosigkeit erdrücken lassen?
Dasitzen, vergangener Größe nachtrauern und Tränen über Fotos mit
Jelzin vergießen?“7 Als Antwort verkündet der „Rebell“ weder seine Präsidentschaftskandidatur noch ruft er die
Leser zu zivilem Ungehorsam auf.
Stattdessen erklärt er kapitellang,
Wein und Whiskey seien gesünder als
Wodka und Bier. Und was er täglich
im Fitnessstudio mache, um seine athletische Figur zu halten.8 Botschaft:
Ich habe Prinzipien, aber zurzeit lohnt
es sich nicht, dafür zu kämpfen.
Auch Anarchist Limonow ergeht
sich in Hedonismus: „Radikale Politiker können morgen verhaftet oder getötet werden. Deshalb sollen sie sich
mit Wein, Frauen und schönen Dingen
umgeben“.9 Man mag bezweifeln, dass
Kasjanow, Nemzow oder Limonow
wirklich ein für Russland segensreiches Kabinett formieren könnten. Aber
nach den jüngsten Umfragen würden
sowieso nur drei Prozent der Wähler für
den „liberalen“ Kandidaten stimmen.
So läuft alles auf ein Wettrennen
zwischen den Favoriten des Kremls
hinaus. Ganz vorne die beiden Ersten
Vizepremiers Sergej Iwanow und
Dmitrij Medwedjew, zwei Weggefährten Putins aus Leningrader Zeiten.
Iwanow gilt mit 36 Prozent in der
Wählergunst als bislang aussichtsreichster Kandidat auf Putins Thron7 Boris Nemzow: Ispowed Buntarja, Moskau
8 Ebd. S. 190–210.
9 Excile, 15.12.2005.
10 http://www.levada.ru/vybory2008.html.
11 http://www.levada.ru/vybory2008.html.
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erbe, gefolgt von Medwedjew (34 Prozent).10 Allerdings hat Putin mit der
Ernennung des bis dahin fast völlig
unbekannten Finanzgeheimdienstlers
Viktor Subkow zum neuen Premier
Mitte September
einmal mehr de- Mit der Ernennung von Viktor
monstriert, dass Subkow zum Premier hat
von ihm jede Über- Putin erneut bewiesen, dass
raschung zu erwar- er für Überraschungen gut ist.
ten ist. Und jetzt
zerbrechen sich Politologen und Journalisten den Kopf darüber, ob besagter
Subkow der Kandidat sein wird oder
etwa Sergej Naryschkin, ein weiterer
alter Bekannter Putins aus St. Petersburg, der es inzwischen zum Vizepremier gebracht hat. Sie alle verbreiten
ähnliche Farblosigkeit wie jener Putin,
den Jelzin vor sieben Jahren aufs
Schild heben ließ.
Aber die Russen warten zurzeit
auch auf niemanden, der mit rebellischen Beichten glänzt. Sie hoffen darauf, dass sich die Stabilität der Ära
Putin fortsetzt, 40 Prozent der Wähler
wollen schon jetzt für den Kandidaten
stimmen, den er vorschlägt.11 Umso
mehr erstaunt, wie heftig der Kreml auf
jede öffentliche Regung der Opposition
reagiert. Im April verprügelten Einsatzpolizisten in Moskau und St. Petersburg bei Demonstrationen von „Anderes Russland“ nicht nur die zahlenmäßig unterlegenen Teilnehmer, sondern
auch Passanten und Journalisten. Anfang August feuerte das staatliche Autowerk WAS in Togliatti zwei Gewerkschaftler, weil sie sich an der Organisation eines Streikes beteiligt hatten. Und
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es gibt erste Fälle von Provinzjournalisten, die wegen Kritik am Kreml in
Psychiatrien eingewiesen werden.12
84 Prozent der Russen stehen hinter Präsident Putin13 – der Staat aber
benimmt sich, als kämpfe er ums
nackte Überleben. Ende August klagte
GeneralstaatsanDer Staat benimmt sich,
walt Jurij Tschajka
anlässlich der Festals kämpfe er ums
nahmen im Mordnackte Überleben.
fall der regimekritischen Journalistin Anna Politkowskaja mit viel Pathos im Ausland sitzende Auftraggeber an, die die
russische Verfassungsordnung stürzen wollten, um zu jener Ordnung
zurückzukehren, in der „Geld und
Oligarchen alles entschieden“.14 Dabei
bediente er sich sehr ähnlicher Wendungen wie Präsident Putin, als er bei
seiner letzten Ansprache an das russische Parlament im April über ausländische Kräfte klagte, die Russland
seine wirtschaftliche und politische
Selbstständigkeit nehmen wollten.15
„Drahtzieher im Ausland“
Das neue Feindbild von den pseudodemokratischen Verschwörern, deren
Drahtzieher im Ausland sitzen, ist ein
sehr sowjetisches Stereotyp, das allerdings aus der Perspektive des Kremls
durch die „orangene Revolution“ von
2004 bestätigt wurde, als in der benachbarten Ukraine prowestliche
Massenproteste den getürkten Wahlsieg eines von Russland unterstützten
Präsidentschaftskandidaten kippten.
Das geschockte Moskau machte dafür
massive logistische und finanzielle
Unterstützung des Westens verantwortlich – und unterstellt seitdem,
dass dieses Szenario auch in Moskau
wiederholt werden soll. Der Kreml
mobilisiert präventiv Jugendmassenorganisationen, um diese im Ernstfall
gegen orangene Revoluzzer auf die
Straße schicken zu können. Allerdings bleibt zweifelhaft, ob die asthmatische Opposition fähig sein wird,
anlässlich ihrer schon jetzt als sicher
geltenden Wahlpleite Proteste zu organisieren, die im täglichen Moskauer
Einkaufstrubel besonders auffallen
würden. Tatsächlich wirkt die Nervosität der Bürokratie hausgemacht.
Wladimir Putin hat die Macht in
Russland zentralisiert. Er und seine
engste Umgebung entscheiden Sachund vor allem Kaderfragen in allen
Regionen, aber auch in den großen
Wirtschaftsunternehmen. Seine so
genannte „Vertikale der Macht“ stellt
eine – sehr steile – Karrierepyramide
dar. Oben das Staatsoberhaupt. Darunter seine alten Leningrader Bekannten, die Schlüsselpositionen in
Staat und Wirtschaft innehaben: Vizepremier Dmitrij Medwedjew und
Wirtschaftsminister German Gref im
Aufsichtsrat von Gazprom, Igor Setschin, stellvertretender Leiter der
Präsidialadministration, im Aufsichtsrat der staatlichen Ölfirma Rosneft, Finanzminister Kudrin im Aufsichtsrat des Diamantenkonzerns
Alrosa. Jeder Putin-Intimus hat wieder seine eigenen Leute im Schlepptau. So formieren sich ganze Seilschaften, die alle an der Spitze der
Pyramide hängen.
12 Newsweek, www.msnbc.msn.com/id/20438310/site/newsweek/.
13 www.levada.ru/prezident.html.
14 Newsweek, www.msnbc.msn.com/id/20438310/site/newsweek/.
15 Rossijskaja Gazeta, 27.4.2007, www.kremlin.ru.
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Jetzt zittert Kader-Russland, weil
Putin, der Gipfel- und Fixpunkt des
Systems, zu verschwinden droht.
Selbst wenn sein Nachfolger ein enger
Freund und Gesinnungsgenosse sein
wird, selbst wenn er Putin persönlich
Treue geschworen hat, wird er nach
allen Traditionen russischer Machtpolitik seine eigenen Favoriten nachziehen, die wiederum ihre eigenen
Mannschaften … Das heißt, hunderten, ja tausenden von Topbeamten in
der Präsidialadministration, den Ministerien und Parteien, aber auch den
großen Rohstoffkonzernen droht unangenehmes Stühlerücken.
Die Putinsche Pyramide aber ist
nicht nur personenabhängig, sie gilt
auch als sehr einträglich. Und seine
Nomenklatura muss jetzt außer Karriereknicks auch den Verlust ergiebigster Schmiergeldquellen fürchten.
Wie groß die Unruhe in der Bürokratie ist, zeigt die Eile, mit der Duma
und Kreml dieses Jahr in nur vier Monaten einen Staatshaushalt auf drei
Jahre im Voraus bewilligt haben. Offenbar hofft man so, zumindest bis
2010 die Geldströme für die gewohnten Kanäle zu sichern. Auch der unerwartete Haftbefehl gegen den Ölmagnaten Michail Guderzijew zeugt von
hektischen Bemühungen einflussreicher Leute in Putins Umgebung, vor
dessen Abgang noch einmal Kasse zu
machen. Die Staatsanwaltschaft ermittelte schon seit Ende 2006 wegen
Steuerhinterziehung und illegalem
Unternehmertum gegen Guderzijew,
den Chef des Ölkonzerns Rosneft (geschätzter Marktwert acht Milliarden
Dollar). Offenbar unter diesem Ermittlungsdruck verkaufte Guderzijew
16
Rosneft im Juli für drei Milliarden
Dollar an den kremlnahen Oligarchen
Oleg Deripaska. Danach ließ man
Guderzijew nach London fliehen, um
ihn dann per Haftbefehl endgültig Jetzt zittert Kader-Russland,
zum Emigranten weil Putin, der Fixpunkt
zu machen. Dabei des Systems, zu
gilt Guderzijew im verschwinden droht.
Gegensatz zu dem
opponierenden Michail Chodorkowskij als politisch loyaler Unternehmer.
„Mit einer Wahrscheinlichkeit von 90
Prozent geht es um eine ‚vorzeitige‘
Neuverteilung von Besitz“, vermutet
der Moskowskij Komsomolez. „Wenn
so etwas passiert, solange Wladimir
Putin noch die Funktion des Oberschiedsrichters ausübt, welch siedende Leidenschaften erwarten uns dann
2008!“16 Auch die Unternehmer müssen also die Zeit nach Putin fürchten.
Den Oligarchen drohen feindliche
Übernahmen, kleineren Betrieben der
Verlust ihrer Ansprechpartner in den
Staatsorganen und das fragliche Vergnügen, sich mit deren – voraussichtlich hungrigeren – Nachfolgern erst
wieder einigen zu müssen.
Aber die größten Unwägbarkeiten
drohen dem Establishment selbst. In
Moskau und den Provinzmetropolen
gibt es inzwischen eine ganze Schicht
von Schmiergeldmillionären. Das
heißt von Beamten, die auf einem
Berg illegalen Geldes sitzen. Boris
Nemzow berichtet von Diebesbanden,
die sich im Villenviertel an der prestigeträchtigen Rubljowka-Chaussee
auf die Privatsafes von Staatsdienern
spezialisiert haben, in dem Bewusstsein, dass deren Geld schwarz sei und
die beraubten Beamten keine Anzeige
Moskowskij Komsomolez, 30.8.2007.
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bei der Miliz erstatten würden. Bei
ausreichendem politischen Willen sei
es ein leichtes, diese Korruptionäre zu
überführen. „Darum kämpfen die Bürokraten jetzt so hysterisch und verbiestert um die Fortsetzung des korrupten politischen Kurses.“17
Es gehörte zu Putins Alltagsrhetorik, den Kampf gegen die Korruption zu predigen, um das Image seiner
„harten Hand“ zu
Sobald Putin geht,
pflegen. Vor allem
in der Provinz gab
droht einem Teil seiner
es deshalb immer
Pyramide der Absturz.
wieder lautstarke
Schauprozesse gegen korrupte Polizeioffiziere und Stadträte, sogar
gegen Gouverneure – fast immer
Männer, die unter Jelzin groß geworden waren. Es ist sehr wahrscheinlich, dass auch Putins Nachfolger
versucht sein wird, sich als Antikorruptionskämpfer zu profilieren. Und
dabei könnte manch ein Kader ins
Visier geraten, der seine Karriere
und sein Geld unter Putin gemacht
hat. Sobald Putin geht, droht einem
Teil seiner Pyramide ein Schwindel
erregender Absturz. Kein Wunder,
dass Parlamentarier, Gouverneure
und Parteipolitiker Putin immer wieder um eine dritte Amtszeit bitten.
Und dass nur 31 Prozent der Bevölkerung gegen eine entsprechende
Verfassungsänderung wären.18 Wladimir Putin widerspricht mit seinem
cetero censeo, er werde das russische
Grundgesetz auf keinen Fall anrühren, um seine Amtszeit zu verlängern, der inneren Logik des eigenen
Systems: Dort waren persönliche
Macht und Loyalität immer wichtiger als das Gesetz.
In politischer Hinsicht hat Putin
die Weichen für Russland eher in
Richtung Byzantinismus gestellt. Tritt
er jetzt wirklich ab, wäre dieser Akt
der Selbstbeschränkung sein vielleicht
größter Beitrag zur Wahrung eines
Restes von Demokratie. Die Alternative demonstrierte sein kasachischer
Amtskollege Nursultan Nasarbajew:
Dieser bewilligte sich im Mai per Verfassungsänderung das Recht auf eine
unbeschränkte Zahl von Amtszeiten.
So wird die spannendere Frage des
bevorstehenden politischen Winters
nicht sein, wie Putins Nachfolger heißen wird. Sondern ob er wirklich
einen Nachfolger haben wird.
17 Nemzow, ebd. S. 154 f.
18 www.levada.ru/srok.html.
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