Standarddokumentenvorlage für das LISA

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Standarddokumentenvorlage für das LISA
Kultusministerium des Landes Sachsen-Anhalt
Schriftliche Abschlussprüfung Deutsch
Schuljahrgang 2001/2002
Realschulbildungsgang
10. Schuljahrgang
Thema 1
Schön, schöner – mehr wert?
Setzen Sie sich mit dem im Text beschriebenen Schönheitsideal erörternd auseinander!
Legen Sie Ihre Ansichten zur Problematik dar!
Thema 2
Heinrich Böll:
Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral
Interpretieren Sie den Text!
Beschreiben Sie, wie durch die Darstellung der Figuren Lebensansichten deutlich werden!
Beziehen Sie dabei das kommunikative Verhalten des Fischers und des Touristen ein!
Thema 3
Hans Bender:
Forgive me
Versetzen Sie sich in die folgende Situation:
Die Erzählerin führt ein Tagebuch, dem sie ihre Gedanken und Gefühle zu dem Geschehen
in den letzten Apriltagen anvertraut.
Vergegenwärtigen Sie sich die Ereignisse von der Englischstunde bis zum Tod des Schulkameraden.
Formulieren Sie eine Folge von Tagebucheintragungen!
Thema 4
Frederik Hetmann und Harald Tondern: Die Nacht, die kein Ende nahm. Hörspiel
[Auszug]
Eine Schulklasse aus Berlin-Kreuzberg verbringt ihre Klassenfahrt an der mecklenburgischen Ostseeküste. Sie übernachtet in einem abseits gelegenen Hotel. Eines Abends
werden Susan und Nemed, zwei der Mitschüler, im nächsten Ort von einer Gruppe Skinheads abgefangen und gezwungen, die Skins zu dem Hotel zu führen.
Beschreiben Sie die Entwicklung der Konfliktsituation!
Untersuchen Sie dabei auch, wie die Sprache zur Charakterisierung der Figuren eingesetzt
wird!
Thema 5
Johann Wolfgang Goethe:
Der Zauberlehrling
oder
Joachim Ringelnatz:
Interpretieren Sie eines der Gedichte!
Reklame
2
Material zu Thema 1
Schön, schöner – mehr wert?
SIE (♀)
ER (♂)
Mitte zwanzig, schlank, hochgewachsen,
Mitte zwanzig, muskulöser, durch-
mit guten Proportionen, kein überflüssiges
trainierter Körper, Waschbrettbrauch,
Gramm Fett, sonnengebräunt ...
getönter Teint, elegante Frisur ...
Zusammen sind sie das perfekte Paar, und das nicht nur bei uns in Deutschland. Wer in der
globalisierten Welt Erfolg haben will, muss auch für alle attraktiv sein und sich elegant
bewegen.
Werbung, Magazine und Kinofilme zeigen Traumfrauen und Traummänner mit Idealmaßen,
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die zu einer internationalen Normierung von Schönheit führen. Dieses Ideal wird heutzutage
nicht mehr nur von Frauen als Aufforderung zum Nacheifern verstanden.
Der gestylte Körper verspricht Anerkennung, steigert das Selbstwertgefühl und bewahrheitet
sich oft als Eintrittskarte in die Welt der Erfolgreichen. Im beruflichen Alltag ist zunehmend zu
beobachten, dass Schönheit heute mehr wiegt als jedes Empfehlungsschreiben. Der Markt
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für die Superschlanken, Geschönten und Gestylten ist da; viele Frauen und Männer sind
mittlerweile bereit, ihren Marktwert so zu steigern.
Dafür werden unzählige Stunden schweißtreibender Übungen im Fitness-Studio, Hungerkuren, ja sogar kostspielige Schönheitsoperationen in Kauf genommen. Der Weg ist hart und
steinig, doch es zählt, was am Ende herauskommt: Bewunderung und für die wirklich Erfolg-
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reichen Reichtum, sogar Ruhm. Model-Karrieren á la Claudia Schiffer oder Naomi Campbell
sowie Hollywood-Größen Arnold Schwarzenegger oder Sylvester Stallone bestätigen dies.
Ist es aber fair, dies alles nur als billige Vermarktung optischer Reize abzutun? Ist es fair zu
behaupten, dass solche Leute auf diese Weise mangelnde Intelligenz ersetzen? Zeugt es
etwa nicht von Intellekt, wenn sie sich die Freude an einem schönen Anblick auch für ihre
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berufliche Karriere zu Nutze machen? Ist es nicht anerkennenswert, dass sie Tugenden wie
Ausdauer, Leistungsbereitschaft und Disziplin entwickeln?
Empörte Aufschreie aus der Menge der „Unansehnlichen“, die Parolen wie „Rund, na und??“
oder „Ich mag mich so, wie ich bin!!“ unter die Leute streut, kommen von den Neidern, die
das Ziel selbst nicht erreichen.
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Auch sollte man medizinischen Warnungen nicht unbesehen Glauben schenken, wenn sie
figurbewussten Menschen fragwürdige Essgewohnheiten vorhalten. Nicht jeder, der auf sein
Äußeres bedacht ist, wird zwangsläufig magersüchtig.
So viele Meinungen. So viele Fragen ...
3
Material zu Thema 2
Heinrich Böll:
Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral
In einem Hafen an der westlichen Küste Europas liegt ein ärmlich
gekleideter Mann in seinem Fischerboot und döst. Ein schick angezogener Tourist legt eben
einen neuen Farbfilm in seinen Fotoapparat, um das idyllische Bild zu fotografieren: blauer
Himmel, grüne See mit friedlichen, schneeweißen Wellenkämmen, schwarzes Boot, rote
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Fischermütze. Klick. Noch einmal: klick, und da aller guten Dinge drei sind und sicher sicher
ist, ein drittes Mal: klick. Das spröde, fast feindselige Geräusch weckt den dösenden Fischer,
der sich schläfrig aufrichtet, schläfrig nach seiner Zigarettenschachtel angelt; aber bevor er
das Gesuchte gefunden, hat ihm der eifrige Tourist schon eine Schachtel vor die Nase
gehalten, ihm die Zigarette nicht gerade in den Mund gesteckt, aber in die Hand gelegt, und
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ein viertes Klick, das des Feuerzeuges, schließt die eilfertige Höflichkeit ab. Durch jenes
kaum meßbare, nie nachweisbare Zuviel an flinker Höflichkeit ist eine gereizte Verlegenheit
entstanden, die der Tourist – der Landessprache mächtig – durch ein Gespräch zu
überbrücken versucht.
„Sie werden heute einen guten Fang machen.“
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Kopfschütteln des Fischers.
„Aber man hat mir gesagt, daß das Wetter günstig ist.“
Kopfnicken des Fischers.
„Sie werden also nicht ausfahren?“
Kopfschütteln des Fischers, steigende Nervosität des Touristen. Gewiß liegt ihm das
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Wohl des ärmlich gekleideten Menschen am Herzen, nagt an ihm die Trauer über die
verpaßte Gelegenheit.
„Oh, Sie fühlen sich nicht wohl?“
Endlich geht der Fischer von der Zeichensprache zum wahrhaft gesprochenen Wort
über. „Ich fühle mich großartig“, sagt er. „Ich habe mich nie besser gefühlt.“ Er steht auf,
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reckt sich, als wollte er demonstrieren, wie athletisch er gebaut ist. „Ich fühle mich
phantastisch.“
Der Gesichtsausdruck des Touristen wird immer unglücklicher, er kann die Frage nicht
mehr unterdrücken, die ihm sozusagen das Herz zu sprengen droht: „Aber warum fahren Sie
dann nicht aus?“
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Die Antwort kommt prompt und knapp. „Weil ich heute morgen schon ausgefahren bin.“
„War der Fang gut?“
„Er war so gut, daß ich nicht noch einmal auszufahren brauche, ich habe vier Hummer
in meinen Körben gehabt, fast zwei Dutzend Makrelen gefangen ...“
4
Der Fischer, endlich erwacht, taut jetzt auf und klopft dem Touristen beruhigend auf die
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Schultern. Dessen besorgter Gesichtsausdruck erscheint ihm als ein Ausdruck zwar unangebrachter, doch rührender Kümmernis.
„Ich habe sogar für morgen und übermorgen genug“, sagt er, um des Fremden Seele
zu erleichtern. „Rauchen Sie eine von meinen?“
„Ja, danke.“
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Zigaretten werden in Münder gesteckt, ein fünftes Klick, der Fremde setzt sich kopfschüttelnd auf den Bootsrand, legt die Kamera aus der Hand, denn er braucht jetzt beide
Hände, um seiner Rede Nachdruck zu verleihen.
„Ich will mich ja nicht in Ihre persönlichen Angelegenheiten mischen“, sagt er, „aber
stellen Sie sich mal vor, Sie führen heute ein zweites, ein drittes, vielleicht ein viertes Mal
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aus und Sie würden drei, vier, fünf, vielleicht gar zehn Dutzend Makrelen fangen ... stellen
Sie sich das mal vor.“
Der Fischer nickt.
„Sie würden“, fährt der Tourist fort, „nicht nur heute sondern morgen, übermorgen, ja,
an jedem günstigen Tag zwei-, dreimal, vielleicht viermal ausfahren – wissen Sie, was
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geschehen würde?“
Der Fischer schüttelt den Kopf.
„Sie würden sich in spätestens einem Jahr einen Motor kaufen können, in zwei Jahren
ein zweites Boot, in drei oder vier Jahren könnten Sie vielleicht einen kleinen Kutter haben,
mit zwei Booten oder dem Kutter würden Sie natürlich viel mehr fangen – eines Tages
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würden Sie zwei Kutter haben, Sie würden ...“, die Begeisterung verschlägt ihm für ein paar
Augenblicke die Stimme, „Sie würden ein kleines Kühlhaus bauen, vielleicht eine Räucherei,
später
eine
Marinadenfabrik,
mit
einem
eigenen
Hubschrauber
rundfliegen,
die
Fischschwärme ausmachen und Ihren Kuttern per Funk Anweisung geben. Sie könnten die
Lachsrechte erwerben, ein Fischrestaurant eröffnen, den Hummer ohne Zwischenhändler
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direkt nach Paris exportieren – und dann ...“, wieder verschlägt die Begeisterung dem
Fremden die Sprache. Kopfschüttelnd, im tiefsten Herzen betrübt, seiner Urlaubsfreude
schon fast verlustig, blickt er auf die friedlich hereinrollende Flut, in der die ungefangenen
Fische munter springen.
„Und dann“, sagt er, aber wieder verschlägt ihm die Erregung die Sprache.
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Der Fischer klopft ihm auf den Rücken, wie einem Kind, das sich verschluckt hat. „Was
dann?“ fragt er leise.
„Dann“, sagte der Fremde mit stiller Begeisterung, „dann könnten Sie beruhigt hier im
Hafen sitzen, in der Sonne dösen und auf das herrliche Meer blicken.“
„Aber das tu ich ja schon jetzt“, sagt der Fischer, „ich sitze beruhigt am Hafen und
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döse, nur Ihr Klicken hat mich dabei gestört.“
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Tatsächlich zog der solcherlei belehrte Tourist nachdenklich von dannen, denn früher
hatte er auch einmal geglaubt, er arbeite, um eines Tages einmal nicht mehr arbeiten zu
müssen, und es blieb keine Spur von Mitleid mit dem ärmlich gekleideten Fischer in ihm
zurück, nur ein wenig Neid.
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Material zu Thema 3
Hans Bender:
Forgive me
Herr Studienrat Runge sagte mit einschläfernder Stimme: „Forgive me“1 ist ein starker Ausdruck. Der Engländer gebraucht ihn eigentlich nur Gott gegenüber, im Gebet, in der höchsten Gefühlsaufwallung. Ihr werdet ihn selten hören, selten gebrauchen. Häufiger kommen
vor „excuse me“2 und „sorry“3, ja, vor allem „sorry“.
5
„Sorry“ könnt ihr bei jeder Entschuldigung anwenden. Wenn ihr an jemandem vorbeigehen
wollt, wenn ihr jemandem auf den Fuß getreten seid, sagt „I’m sorry“ ...
Ich war vierzehn Jahre alt. Ich saß in der letzten Bank und war nicht besonders aufmerksam.
Vor mir auf der polierten Platte lag ein blaues Oktavheftchen, in das ich die neuen Wörter
eintragen sollte. Doch ich malte rechts und links von meinem Namen eine Blume. Unter dem
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Oktavheftchen lag ein Spiegel, in den ich ab und zu sah. Ich sah gern in den Spiegel, zupfte
an meinen Haaren vor der Stirne und schnitt Gesichter. Ich wollte nämlich Schauspielerin
werden. Auf dem Heimweg überholten mich drei Jungen der Parallelklasse: Walter, Horst
und Siegbert. Siegbert sagte: „Da geht die Brigitte Horney!“4 Die anderen lachten. – Was
hatte nur dieser Siegbert gegen mich? Er reizte, neckte mich, blies die Backen auf, ich aber
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freute mich, wenn ich ihn sah ...
Es war Anfang April. Der Krieg ging dem Ende zu. Von Vater kamen keine Briefe mehr.
Mutter saß am Abend ohne Worte an meinem Bett.
Einige Tage später wurden wir aus der Schule nach Hause geschickt. Um die Mittagszeit
surrten amerikanische Tiefflieger über die Dächer. In der Nacht fuhren Lastwagen mit SS-
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Leuten der Rheinbrücke zu und die Fenster schütterten vom Gedröhn der Front. Dann
drängten sich Autos, Pferdewagen und Panzer durch die Straßen, über die Trottoirs.
Infanteristen zogen zurück, in Gruppen, vereinzelt, abgerissen, verwundet.
Unsere kleine Stadt wurde aufgewühlt von Angst, Unruhe, Ungewissheit und der Erwartung,
dass alles zu Ende sei. Beck, ein fanatischer Anhänger Hitlers, bewaffnete junge und alte
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Leute. Er verteilte Gewehre und Panzerfäuste, er ließ Sperren errichten, Gräben ausheben.
Die Alten machten nur widerwillig mit, aber die Jungen hatten keine Ahnung und deshalb
waren sie vielleicht sogar begeistert. Auch Siegbert. Siegbert lag unter dem Befehl eines
ehemaligen Weltkriegsoffiziers auf einem Hügel vor der Stadt. Ich trug Wasser zum Hügel,
Kaffee, Kuchen, Zigaretten, und die letzte Tafel Schokolade, die Vater zu Weihnachten
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geschickt hatte, brachte ich Siegbert. Ich saß im Graben neben ihm. Er sagte: „Du, ich habe
mich getäuscht, du bist kein Flittchen – eher ein Junge.“ Das machte mich stolz. Ich rauchte
kurz danach, ohne zu husten, meine erste Zigarette. Aber ich war kein Junge! Nein, ich war
1
verzeih, vergib mir
entschuldige mich
3
Leid tun
4
bekannte Schauspielerin der 30er und 40er Jahre
2
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kein Junge ...
An einem frühen Vormittag ging ich wieder zum Hügel. Die Wege und Felder lagen wie
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ausgestorben, nur die Lerchen stiegen aus den Furchen. Seit diesem Morgen weiß ich, wie
schön Gesang der Lerchen ist. Auf dem Hügel wurde ich nicht gerade freundlich empfangen.
Einer sagte: „So’n Wahnsinn.“ Und der Weltkriegsoffizier sagte: „Tolles Mädchen, du kannst
nicht mehr zurück.“
„Warum?“, fragte ich.
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„Es geht los“, sagte er.
„Was? Was geht los?“
Niemand antwortete. Eine unheimliche Stille. Ich stolperte über den Hügel zu Siegbert. Er
riss mich in den Graben, neben sich, presste meinen Kopf in seine Arme und sagte: „Warum
bist du nur gekommen! Warum bist du nur heute gekommen!“
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Dann explodierte die Ruhe. Einschläge schüttelten den Hügel. Zornige Granaten durchwühlten die Erde, die wenigen Leben herauszuwerfen, herauszupflügen wie Kartoffeln auf dem
Felde. Hatte ich Angst? Hatte ich keine Angst? Ich weiß es nicht.
Erdfontänen sprangen hoch. Splitter regneten und der Rauch nahm den Atem.
Eine Stimme gellte: „Sie sind auf der Straße!“
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Dann wurde es ruhig, doch in der Ruhe war ein dunkles Rollen.
Siegbert sagte: „Mal nachsehen.“ Er richtete sich auf und schaute, den Kopf über dem Grabenrand, zur Straße hinüber. Ich sah zu ihm auf und fragte: „Siehst du etwas? Siehst
du - - -?“ Da schoss das Blut aus seinem Hals, ein roter Strahl, wie aus einer Röhre ...
In der Kirche war ein Bild: Das Lamm Gottes über einem Kelch, Blut, ein roter Bogen, wölbte
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sich aus einer klaffenden Halswunde zum Kelchrand. So war es bei Siegbert. Ich hatte das
Bild in der Kirche lange nicht gesehen. Jetzt sah ich es genau. Das Bild war mein einziger
Gedanke, ein dummer, deplatzierter Gedanke. Lähmend. Ich konnte nicht schreien, nichts
tun. Ich sah das Blut aus seinem Hals stoßen – und dachte an das Bild in der Kirche ... Dann
brach sein Körper zusammen, nach vorn, zu mir, sackte in die Hocke, die Stirn schlug auf die
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Knie und die Hände legten sich nach unten geöffnet neben die Füße auf die Erde.
In die Unheimlichkeit meiner Angst fiel ein Schatten. Oben, am Grabenrand, stand ein Soldat, ein fremder Soldat, in fremder Uniform, mit einem fremden Stahlhelm und einer fremden
Waffe, die noch nach Siegbert zielte.
Sein Mörder!
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Aber der senkte die Waffe, warf sie auf die Erde und sagte: „Forgive me.“ Er beugte sich
herab, riss meine Hände an seine Brust und sagte: „Forgive me.“
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Material zu Thema 4
Frederik Hetmann
und Harald Tondern: Die Nacht, die kein Ende nahm. Hörspiel
[Auszug]
Figuren des Stückes u. a.
Skinheads: Rocky, Franse, Stuka, Goebbels
Lehrer: Frau Karst, Herr Naumann
Schüler: Susan, Nemed, Matthias, Ayse, Petra, Kemal
[ ... ] Es klingelt Sturm.
FRAU KARST:
Ich mache auf.
NAUMANN:
Lass mal, ich bin näher dran ... Er geht in den Flur und öffnet die Haustür.
Susan wird hereingestoßen.
5
NEMED außer Atem und aufgeregt: Herr Naumann, ich konnte ...
ROCKY tritt gegen die Tür, dass sie gegen die Wand kracht: Maul halten, Türke ... das ist
wohl euer Pauker. An die Wand da. Gesicht zur Mauer. Die Hände hinter
den Kopf, alter Sack.
NAUMANN:
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Was soll das? Was fällt Ihnen ein? Was geht hier vor?
ROCKY lachend: Dies ist ein Überfall. – Franse! Du sorgst dafür, dass er hier erst mal so
stehen bleibt. Geht weiter durch den Flur in den Aufenthaltsraum, in dem
Herr Naumann gerade aus Tom Sawyer vorgelesen hatte.
GOEBBELS:
Franse, lass den Pauker los. Er soll auch reinkommen in die gute Stube.
Schritte.
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ROCKY:
Achtung Leute! Alle mal herhören!
MATTHIAS leise zu Ayse: Hast du gesehen, Ayse? Der hat ’nen Schlagring dabei.
AYSE:
Skinheads sind das.
ROCKY:
Jeder bleibt, wo er ist. Keiner spricht ... Scheißbuch hier im Weg. Er tritt
gegen das Buch. Es segelt durch die Luft und fällt dann klatschend zu
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Boden.
NAUMANN:
Hören Sie mal: So ein Buch kostet Geld. Gelächter bei den Skinheads.
ROCKY:
Scheiß auf Bücher! Rausgeschmissenes Geld. Wir machen die action,
klar?
FRAU KARST:
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Verlassen Sie sofort dieses Haus. Das ist Hausfriedensbruch. Wenn Sie
nicht auf der Stelle verschwinden, rufe ich die Polizei.
SKINS:
Gelächter.
ROCKY:
Na los doch ... tu dir keinen Zwang an, Muttchen. Man hört nur seine
Schritte. Er bleibt vor Ayse stehen. Na, Kindchen, nun sag dem bösen
Onkel mal: Wo ist das Telefon?
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AYSE:
Ich ... weiß nicht. Wir sind doch gerade erst angekommen.
FRANSE:
Immer schön bei der Wahrheit bleiben, Türkin! Oder ich brech’ dir alle
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Knochen im Leib.
AYSE:
Es ... es gibt ... es gibt gar kein Telefon.
PETRA vorwurfsvoll: Ayse!
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ROCKY:
Lass mal, du hast nichts verraten. Ist doch logisch: Wenn hier’n Telefon
wär’, hätten die beiden ja wohl kaum aus’ner Zelle im Ort telefoniert. Ey,
Stuka, Franse, Goebbels ... sorgt mal für’n bisschen Kleinholz. Ein paar
Stuhlbeine brauchen wir. Man hört die Geräusche der zerbrechenden
Stühle.
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PETRA sehr leise zu Matthias: Das ist Sachbeschädigung ... dafür können die ins Gefängnis
kommen.
MATTHIAS:
Können nützt nichts ... jemand müsste los, Hilfe holen.
PETRA:
Aber hier kommt doch keiner mehr raus, Matti!
ROCKY laut und unflätig: So. Nun mal Klartext! Uns gefällt’s hier bei euch. Richtig gemütlich
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ist es hier. Wir werden gut miteinander auskommen, wenn ihr immer
schön gehorcht. Und das üben wir jetzt gleich mal mit eurer Lehrerin. Na
los, Muttchen. Runter auf alle Viere und Miau gemacht.
MATTHIAS:
Die Karst? – Das macht die nie!
ROCKY:
Hast du was gesagt, Kleiner? Ach, du meinst, du kannst hier ’ne große
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Lippe riskieren. Da wär’ ich vorsichtig an deiner Stelle ... Ey, Franse,
schlag ihm mal eben das Nasenbein ein.
FRANSE:
Geht klar.
KINDER schreiend: Nein! Schritte.
ROCKY:
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Schon gut, Franse. Das Muttchen hat kapiert.
MATTHIAS fast tonlos: Mein Gott, sie tut’s wirklich.
FRAU KARST:
Miaut.
GOEBBELS:
Und nun der Herr Lehrer! He, du Wichser! Du machst jetzt den Hund zu
der Katze.
NAUMANN:
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Sie sind ja krank!
MATTHIAS leise zu Petra: Der Naumann wird dem was husten ...
GOEBBELS:
Wird’s bald? Runter!
PETRA fassungslos: Nein, er kniet sich neben die Karst ...
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KEMAL:
Er ist doch unser Klassenlehrer. Er will uns schützen.
ROCKY:
Ich höre kein Bellen!
NAUMANN:
Bellt. Sie haben’s doch im Hirn. Bellt erneut.
ROCKY:
Und noch mal die Katze!
NAUMANN UND KARST: Miauen und bellen gleichzeitig.
Gespenstische Ruhe. Keiner der Schüler lacht oder sagt etwas. [ ...]
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Material zu Thema 5
Johann Wolfgang Goethe:
Der Zauberlehrling
Hat der alte Hexenmeister
Sich doch einmal wegbegeben!
Und nun sollen seine Geister
Auch nach meinem Willen leben.
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Seine Wort’ und Werke
Merkt’ ich und den Brauch,
Und mit Geistesstärke
Tu’ ich Wunder auch.
Walle! walle
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Manche Strecke,
Daß zum Zwecke
Wasser fließe,
Und mit reichem, vollem Schwalle
Zu dem Bade sich ergieße!
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Und nun komm, du alter Besen!
Nimm die schlechten Lumpenhüllen!
Bist schon lange Knecht gewesen;
Nun erfülle meinen Willen!
Auf zwei Beinen stehe,
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Oben sei ein Kopf,
Eile nun und gehe
Mit dem Wassertopf!
Walle! walle
Manche Strecke,
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Daß zum Zwecke
Wasser fließe,
Und mit reichem, vollem Schwalle
Zu dem Bade sich ergieße!
Seht, er läuft zum Ufer nieder;
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Wahrlich! ist schon an dem Flusse,
Und mit Blitzesschnelle wieder
Ist er hier mit raschem Gusse.
Schon zum zweiten Male!
Wie das Becken schwillt!
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Wie sich jede Schale
Voll mit Wasser füllt!
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Stehe! stehe!
Denn wir haben
Deiner Gaben
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Vollgemessen! –
Ach, ich merk’ es! Wehe! wehe!
Hab’ ich doch das Wort vergessen!
Ach, das Wort, worauf am Ende
Er das wird, was er gewesen.
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Ach, er läuft und bringt behende!
Wärst du doch der alte Besen!
Immer neue Güsse
Bringt er schnell herein,
Ach! und hundert Flüsse
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Stürzen auf mich ein.
Nein, nicht länger
Kann ich’s lassen;
Will ihn fassen.
Das ist Tücke!
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Ach! nun wird mir immer bänger!
Welche Miene! welche Blicke!
O, du Ausgeburt der Hölle!
Soll das ganze Haus ersaufen?
Seh’ ich über jede Schwelle
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Doch schon Wasserströme laufen.
Ein verruchter Besen,
Der nicht hören will!
Stock, der du gewesen,
Steh doch wieder still!
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Willst’s am Ende
Gar nicht lassen?
Will dich fassen,
Will dich halten,
Und das alte Holz behende
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Mit dem scharfen Beile spalten.
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Seht, da kommt er schleppend wieder!
Wie ich mich nun auf dich werfe,
Gleich, o Kobold, liegst du nieder;
Krachend trifft die glatte Schärfe!
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Wahrlich, brav getroffen!
Seht, er ist entzwei!
Und nun kann ich hoffen,
Und ich atme frei!
Wehe! wehe!
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Beide Teile
Stehn in Eile
Schon als Knechte
Völlig fertig in die Höhe!
Helft mir, ach! ihr hohen Mächte!
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Und sie laufen! Naß und nässer
Wird’s im Saal und auf den Stufen.
Welch entsetzliches Gewässer!
Herr und Meister! hör’ mich rufen! –
Ach, da kommt der Meister!
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Herr, die Not ist groß!
Die ich rief, die Geister,
Werd’ ich nun nicht los.
„In die Ecke,
Besen! Besen!
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Seid’s gewesen!
Denn als Geister
Ruft euch nur zu seinem Zwecke
Erst hervor der alte Meister.“
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Material zu Thema 5
Joachim Ringelnatz: Reklame
Ich wollte von gar nichts wissen.
Da habe ich eine Reklame erblickt,
Die hat mich in die Augen gezwickt
Und ins Gedächtnis gebissen.
5
Sie predigte mir von früh bis spät
Laut öffentlich wie im Stillen
Von der vorzüglichen Qualität
Gewisser Bettnässer-Pillen.
Ich sagte: „Mag sein! Doch für mich nicht!
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Nein, nein!
Mein Bett und mein Gewissen sind rein!“
Doch sie lief weiter hinter mir her.
Sie folgte mir bis an die Brille.
Sie kam mir aus jedem Journal in die Quer
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Und säuselte: „Bettnässer-Pille.“
Sie war bald rosa, bald lieblich grün.
Sie sprach in Reimen von Dichtern.
Sie fuhr in der Trambahn und kletterte kühn
Nachts auf die Dächer mit Lichtern.
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Und weil sie so zähe und künstlerisch
Blieb, war ich ihr endlich zu Willen.
Es liegen auf meinem Frühstückstisch
Nun täglich zwei Bettnässer-Pillen.
Die ißt meine Frau als „Entfettungsbonbon“.
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Ich habe die Frau belogen.
Ein holder Frieden ist in den Salon
Meiner Seele eingezogen.
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Literaturangaben
zu Thema 1:
Schön, schöner – mehr wert?
Bearbeitung des Textes „Spieglein, Spieglein ...“ von Tamara Knoll
zu Thema 2:
Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral
Text nach: Heinrich Böll, Erzählungen. Hrsg. von Viktor Böll und Karl Heiner Busse. Köln
(Kiepenheuer & Witsch) 1994, S. 775 ff.
zu Thema 3:
Forgive me
Text nach: Schlaglichter. Zwei Dutzend Kurzgeschichten. Stuttgart/Düsseldorf/Leipzig (Klett),
S. 54 ff.
zu Thema 4:
Die Nacht, die kein Ende nahm
Text nach: Hörfunkmanuskript des Norddeutschen Rundfunks/NDR 4 vom 20.11.1994
zu Thema 5:
Der Zauberlehrling
Text nach: Goethe, Gedichte. Herausgegeben und kommentiert von Erich Trunz. München
(Beck) 1988, S. 276 ff. (= Sonderausgabe der Hamburger Ausgabe von Goethes Werken)
Reklame
Text egalisiert nach: Tandem deutsch/Ein Deutschbuch für die Jahrgangsstufe 8, Paderborn
(Schöningh) 1997, S. 78