DECKBLATT und INHALTSVERZEICHNIS +

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DECKBLATT und INHALTSVERZEICHNIS +
Universität Bremen ● Sommersemester 2009
Erstgutachterin: Prof. Dr. Sabine Schlickers
Zweitgutachterin: Dr. Ana Luengo-Palomino
Die literarische Aneignung der
Militärdiktaturen in Uruguay und Argentinien
am Beispiel von Primavera con una esquina rota
von Mario Benedetti und A veinte años, Luz
von Elsa Osorio
Inwiefern lassen sich Ähnlichkeiten und
Unterschiede im Umgang mit den Diktaturen
feststellen?
vorgelegt von Dagmar Deutges
Matrikelnr.: 2169401
Hispanistik (HF), Kulturwissenschaft (NF)
Spittaler Straße 1 – 3.03
28359 Bremen
[email protected]
Abgabedatum: 01.08.2009
Danksagung
Matthias Dietz und Christian Agnischock sei hiermit herzlich gedankt.
Ihr Korrekturlesen und hilfreiche Verbesserungsvorschläge haben die Fertigstellung dieser
Arbeit besonders vorangetrieben.
INHALTSVERZEICHNIS
1. Einleitung
1
2. Einordnung in den historischen Kontext
2.1 Uruguay
2.2 Argentinien
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3. Primavera con una esquina rota
3.1 Forschungsstand
3.2 Entstehung
3.3 Sprache
3.4 Exilroman
3.5 Autofiktion?
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14
4. A veinte años, Luz
4.1 Forschungsstand
4.2 Entstehung
4.3 Sprache
4.4 Perspektiven
4.5 Rezeptionsgeschichte
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5. Vergleich
5.1 Ähnlichkeiten
5.1.1 Formale Ähnlichkeiten
5.1.2 Inhaltliche Ähnlichkeiten
5.2 Unterschiede
5.2.1 Formale Unterschiede
5.2.2 Inhaltliche Unterschiede
5.3 Vergleich im Überblick
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6. Fazit
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7. Literaturverzeichnis
7.1 Primärliteratur
7.2 Sekundärliteratur
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38
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Anhang
Erklärung
1. Einleitung
Der Begriff der literarischen Aneignung soll in dieser Arbeit in seiner hermeneutischen Bedeutung verstanden werden. Demnach sind „Aneignungsprozesse
[...] Vorgänge des Verstehens“ (Metzler Lexikon Literatur 2007: 24). Nach Heidegger geht es um das „Zurückgewinnen des Ursprünglichen durch die wiederholende >Destruktion< des Überlieferten“ (ebenda).
Diese Arbeit beschäftigt sich mit der literarischen Aneignung der Militärdiktaturen in Uruguay und Argentinien. Die Romane Primavera con una esquina rota
von Mario Benedetti und A veinte años, Luz von Elsa Osorio werden exemplarisch für die uruguayische und die argentinische Verarbeitung der Diktaturen
untersucht. Die Auswahl dieser beiden Bücher ist sinnvoll, da einerseits das
wichtige Thema Exil in Primavera con una esquina rota bearbeitet wird, andererseits liegt mit A veinte años, Luz ein Werk der jüngsten Verarbeitung der argentinischen Vergangenheit vor. Wie wird in diesen Romanen das sogenannte
Ursprüngliche zurückgewonnen? Welches Bild der Militärdiktaturen möchten die
Autoren in ihren Ländern vermitteln? Im Kern wird nach den Ähnlichkeiten und
Unterschieden im Umgang mit den Diktaturen gefragt und darüber hinaus versucht diese weitergehenden Fragen ansatzweise zu beantworten.
Beide Texte werden einer Einzelanalyse unterzogen, die sich aus den Aspekten
Forschungsstand, Entstehung und Sprache des jeweiligen Romans zusammensetzt. Außerdem werden je zwei Besonderheiten der Romane beleuchtet. Darauf folgt ein Vergleich der Texte. Hier werden formale und inhaltliche Ähnlichkeiten und Unterschiede im Umgang mit den Diktaturen erläutert. Darüber hinaus wird versucht, die Romane in einen größeren Kontext einzuordnen und
weitergreifende Schlussfolgerungen zu ziehen.
Theoretische literarische Konzepte, die in dieser Arbeit Verwendung finden,
sind die Autofiktion, Michael Bachtins Begriff der Polyphonie und die Rezeptionsästhetik. Außerdem wird eine Analyse zur Erzählweise Mario Benedettis
herangezogen.
1
Die Sekundärliteratur setzt sich aus Zeitschriftenartikeln und wissenschaftlichen
Aufsätzen über Primavera con una esquina rota und A veinte años, Luz zusammen. Für die historischen Fakten wird größtenteils auf Veit Straßners Die offenen Wunden Lateinamerikas Bezug genommen. Des weiteren wurde von einigen Standardwerken der Hispanistik Gebrauch gemacht.
Über den Forschungsstand zur literarischen Aneignung von Militärdiktaturen informiert die Lateinamerikanische Literaturgeschichte von Michael Rössner besonders anschaulich. Sabine Schlickers' Aufsatz Vivir entre la muerte und
Tiempo pasado von Beatriz Sarlo sind neuere Beiträge dazu.
Dem Terror und seiner Verarbeitung zwischen 1960 und 1990 im Cono Sur widmet sich Roland Spiller. Er weist auf eine neue Welle von Erzähltechniken in
den 80er Jahren hin: „Fragmentarisierung, Diskontinuität, Polyphonie, Vielfalt
der Sprachregister, Intermedialität [...], Hybridisierung der Gattungen“ (Spiller
2002: 469).
Auffällig [sei] besonders am Río de la Plata die Ambiguität des Erzählers
gegenüber seiner Geschichte (ebenda: 470).
Spiller unterstreicht die Bedeutung, die das Exil während der Diktaturen für das
kulturelle Selbstverständnis hatte. Es war aus diesem Grund ein oftgewähltes
Thema in der Literatur (vgl. ebenda: 472). Nach dem Ende der Diktaturen hatte
die ökonomische Krisenbewältigung vor der historischen Verarbeitung Priorität.
Trotzdem gab es eine große literarische Vielfalt, die sich mit dem höchst komplexen Prozess der Neubestimmung nationaler Identitäten auseinandersetzte
(vgl. ebenda: 477). Als jüngste Entwicklung erwähnt Spiller die „escritura feminina“ (ebenda: 479-481). Schreibende Frauen waren der Doppelbelastung ausgesetzt, einerseits gegen die Diktatur, andererseits gegen den machismo kämpfen
zu müssen (vgl. ebenda: 479).
Die Literatur, die sich das Thema der Militärdiktaturen vorgenommen hat, lässt
sich laut Schlickers zeitlich und räumlich in vier Gruppen unterteilen. Es gibt die
'Literatura de proceso', also während der Diktatur verfasste Werke, sowie die Literatur, die nach der Diktatur entstand. Dabei wurden die meisten Texte im Exil
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geschrieben und ein kleinerer Teil im Inland (vgl. Schlickers 2008: 121). Schlickers hebt hervor, dass sich das sogenannte „Unerzählbare“ (ebenda: 123; Übersetzung der Verfasserin) in allen von ihr untersuchten Romanen in verschiedenen subjektiven Perspektiven ausdrücke. Die meisten literarischen Texte würden die Erzählstrategie verwenden, die Geschichte (historia1) gleichsam mit der
Erzählung (discurso¹) derselben darzustellen. Die Figuren selbst begreifen die
Realität und ihr Leben erst durch das Schreiben (vgl. ebenda: 123).
In Tiempo pasado von Beatriz Sarlo geht es um die auch für diese Arbeit relevante textuelle Aufarbeitung der Militärdiktaturen mit besonderem Fokus auf Argentinien. Das Kapitel La retórica testimonial beschreibt, wie zunächst Zeugenund Opferaussagen veröffentlicht wurden.
Los crímenes de las dictaduras fueron exhibidos en un florecimiento de
discursos testimoniales (Sarlo 2005: 61).
Später tauchten dann auch Erzählungen auf, die nicht mehr so 'unantastbar'
waren, wie die Berichte von persönlich Betroffenen (vgl. ebenda: 62). Beatriz
Sarlo hebt mit Annette Wieviorkas Worten kritisch hervor, dass die individuelle
Erzählung und die persönliche Meinung oft den Platz einer Analyse einnähmen
(vgl. ebenda: 70).
La dimensión intensamente subjetiva [...] caracteriza el presente (ebenda: 49-50).
Für Beatriz Sarlo ist das Verstehen wichtiger als das Erinnern, allerdings sei es
notwendig sich zu erinnern, um zu verstehen (vgl. ebenda: 69).
Dies ist nur ein kurzer Einblick in die derzeitige Forschung zum Thema. Spiller
gibt einen ausführlichen Überblick, der ein guter Ausgangspunkt für neue Untersuchungen bietet. Der Versuch einer Kategorisierung der Texte wurde von
Schlickers (2008: 121) vorgenommen und ein Trend zur subjektiven, wenig
selbstkritischen Erzählweise wurde von Sarlo (2005: 49-50) und Schlickers
(2008: 122) festgestellt. Ob dieser subjektive Trend negativ zu bewerten ist und
wirklich keine Selbstkritik aufkommt, sollte hinterfragt werden.
1 Unterscheidung nach Todorov (vgl. Pomino und Zepp 2004: 225-226)
3
2. Einordnung in den historischen Kontext
In diesem Kapitel werden in einem kurzen Überblick die für die vorliegende Arbeit interessanten Fakten über die Geschehnisse während der Militärdiktaturen
in Uruguay und Argentinien dargelegt.
2.1 Uruguay
Die Zahl der Uruguayer, die während der Militärdiktatur zwischen 1973 und
1985 ins Exil gingen, beläuft sich auf 350.000 bis eine halbe Million (vgl. Straßner 2007: 164). Dies ist eine verhältnismäßig große Zahl, wenn man bedenkt,
dass die gesamte Bevölkerung damals etwa drei Millionen zählte und Uruguay
bis dahin eine Einwanderernation gewesen war (vgl. Straßner 2007: 173). Viele
uruguayische Exilgänger waren Intellektuelle, darunter der Schriftsteller Mario
Benedetti. Die Länder, in die ausgewandert wurde, waren hauptsächlich lateinamerikanische, aber auch Nordamerika oder Europa. Dies wird in Primavera con
una esquina rota an den Beispielen der exilierten Freunde und Angehörigen
Santiagos deutlich. Seine Familie und Rolando sind im mexikanischen (vgl. Benedetti 1982: 201) und Manolo ist im schwedischen Exil (vgl. ebenda: 38). Mario Benedetti bindet zusätzlich seine eigenen Exilerfahrungen in Argentinien
(vgl. ebenda: 83), Peru (vgl. ebenda: 40), Mexiko und Kuba (vgl. ebenda: 58) in
seinen Roman mit ein.
Die politischen Gefangenen der Militärdiktatur wurden zu einem großen Teil in
dem Männer-Gefängnis Libertad und dem Frauen-Gefängnis Punta de Rieles
inhaftiert. Die „Haft war stets mit Folter verbunden“ (Straßner 2007: 164). Santiago aus Primavera con una esquina rota ist Häftling im Gefängnis Libertad.
Zur Militärdiktatur in Uruguay gäbe es mehr zu sagen. Da in Primavera con una
esquina rota die historischen Fakten aber weit weniger Raum einnehmen als in
A veinte años, Luz, fällt dieser Unterpunkt kürzer aus als der folgende.
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2.2 Argentinien
In der Militärdiktatur in Argentinien (1976-1983) verschwanden etwa 30.000
Menschen und etwa 500 Kinder wurden entführt. Den Familien wurde jedwede
Information über den Verbleib ihrer Angehörigen vorenthalten. Es herrschte die
Praktik schwangere Frauen in den Gefängnissen bis zur Entbindung am Leben
zu lassen, um sie dann zu töten und ihre Kinder an linientreue Militärfamilien zu
übergeben. Nicht selten war der Adoptivvater der, der die Mutter des Kindes zuvor gefoltert und ermordet hatte (vgl. Straßner 2007: 78). Die fiktive Geschichte
von Luz in Elsa Osorios Roman veranschaulicht das Schicksal dieser geraubten
Kinder.
Weiblichen Häftlingen ihre Kinder und Neugeborenen wegzunehmen, wurde damit begründet, zu verhindern, dass diese Kinder mit extremistischen Ideen verdorben würden (vgl. Scilingo 2005). In A veinte años, Luz wird das an der Überzeugung Marianas deutlich, Kinder würden nicht zu Subversiven, wenn sie richtig erzogen und kontrolliert würden (vgl. Osorio 1998: 196). El Bestia betont außerdem:
Con nosotros el bebé va a estar bien, lo vamos a educar con buenos
principios, en el orden y las buenas costumbres. (Osorio 1998: 28)
Aus Sicht der Militärs war dieser sogenannte schmutzige Krieg gerechtfertigt, weil
Argentinien von der Subversion befreit werden musste (vgl. Straßner 2007: 75).
Der staatliche Terror, der in Argentinien während der Militärdiktatur verübt wurde, basierte nicht auf Exzessen einzelner, sondern war systematisch und organisiert. Darauf weisen verschiedene Dokumente wie der Bericht Nunca más der
CONADEP2 hin. Personen wurden gezielt verschleppt und ihr Verbleiben im
Unklaren gelassen, um Angst und Schrecken in der Bevölkerung zu schüren.
Dies zeigt sich in Elsa Osorios Roman am Bericht einer Bekannten von Eduardo und Mariana, den vermeintlichen Eltern von Luz. Carola Luccini erzählt von
Freunden, die spurlos verschwanden und deren Verwandte bei einer Reihe von
Anlaufstellen keine Auskünfte erhielten (vgl. Osorio 1998: 195). In Argentinien
2 Abkürzung für Comisión Nacional sobre la Desaparición de Personas
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wurde eine große Zahl von geheimen Haftzentren angelegt, die sogenannten
centros clandestinos de detención, wo die Gefangenen gefoltert und viele auch
ermordet wurden. Die Militärdiktatur in Argentinien ist trotz ihrer kürzeren Dauer
weitaus blutiger als die Uruguays oder auch als die Diktatur in Chile gewesen,
da die „Zahlen der massiven Menschenrechtsverletzungen und der (Todes-)
Opfer [viel höher] liegen“ (Straßner 2007: 77).
Nach der Diktatur war eine Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit aus mehreren Gründen sehr schwer. Das Militär hatte noch immer großen Einfluss und
hielt die Befürchtung wach, es könnte erneut die Macht ergreifen. Der politische
Wille fehlte, mit umfassenden Untersuchungen über die begangenen Menschenrechtsverletzungen zu beginnen. Mit den Gesetzen des Schlusspunktes
und der Gehorsamspflicht sollte die Vergangenheit besiegelt werden (vgl. ebenda: 92-93). Die Straflosigkeit der Täter wurde und wird noch heute von Menschenrechtsorganisationen wie den Madres de Plaza de Mayo scharf kritisiert
(vgl. ebenda: 79-80). General Alfonso Dufau aus Elsa Osorios Roman kann
sich trotz seiner hohen Stellung durch das Gesetz der „obediencia debida“ retten (Osorio 1998: 389). Es wird ihm kein Prozess gemacht, auch wenn er Befehle zur Entführung und Folter erteilte.
Vergleichsweise ist die Aufarbeitung der Vergangenheit in Argentinien zu besseren Ergebnissen gekommen als die anderer Länder, die unter Militärdiktaturen zu leiden hatten. Das mag besonders daran liegen, dass angetrieben
durch die flächendeckende Grausamkeit der Protest und der Widerstand gegen
die Verdrängungspolitik auf Seiten von Opferorganisationen sehr hoch ausfiel
(vgl. Straßner 2007: 157). Am 20. Jahrestag des Putsches (1976-1996) gab es
Massendemonstrationen auf den Straßen von Buenos Aires (vgl. ebenda: 112113). Unter den Demonstranten waren auch Studenten, wie es in A veinte
años, Luz (vgl. Osorio 1998: 431-435) beschrieben wird.
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3. Primavera con una esquina rota
Im folgenden Teil wird Primavera con una esquina rota unter verschiedenen Gesichtspunkten untersucht, um die Besonderheiten des Romans herauszuarbeiten.
Die Geschichte handelt von Santiago, der in politischer Gefangenschaft im Gefängnis Libertad in Uruguay einsitzt, während seine Familie und Rolando, ein
Freund von ihm, im Exil - vermutlich in Mexiko3 - leben. Während seiner fünfjährigen Gefangenschaft entwickelt sich zwischen seiner Frau Graciela und seinem
Freund Rolando eine Liebesbeziehung, von der Santiago nichts erfährt. Der Roman endet mit einem Gedankenfluss von Santiago, als der Flug aus Uruguay
hinter ihm liegt und er kurz davor steht, seine Familie im Exil wiederzusehen.
Unabhängig von dieser Geschichte wird in den mit EXILIOS betitelten Fragmenten in kursiver Schrift von bestimmten Vorkommnissen berichtet, bei denen
Mario Benedetti eine zentrale Rolle spielt.
Das Buch gliedert sich in 45 Fragmente. Es gibt sechs verschiedene Typen von
Fragmenten, die die Überschriften INTRAMUROS (später EXTRAMUROS),
HERIDOS Y CONTUSOS, DON RAFAEL, EXILIOS, BEATRIZ und EL OTRO
tragen. Sie stehen für die Situationen und Perspektiven von Santiago, Graciela,
Rafael, Mario Benedetti, Beatriz und Rolando.
3.1 Forschungsstand
Es gibt mehrere wissenschaftliche Aufsätze, die sich mit Primavera con una
esquina rota beschäftigen.
Flora González stellt heraus, dass die Sprache des Buches der Zensur entkäme, aber gleichzeitig eine Anklage sei, indem im Werk das Leben in Unterdrückung und Leid gespiegelt würde.
Las palabras de Benedetti [...] manejan la posibilidad del lenguaje de
3 vgl. Benedetti 1982, S. 201: „el duque parece que está en méxico“
Anmerkung: Mit „el duque“ ist Rolando gemeint. Im Folgenden wird von Mexiko als Exilland
der Angehörigen von Santiago ausgegangen.
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evadir la censura y de acusar mediante estrategias lúdicas [...]
(González 1992: 47).
Außerdem werden sprachliche Besonderheiten und die „representación comprometida“ (González 1992: 46) angesprochen.
Ein anderer Aufsatz der Universität Alicante betrachtet die Aspekte der verschiedenen Perspektiven und der Kontraste in Primavera con una esquina rota.
An den Figuren des Romans wird jeweils untersucht, für welche Perspektive sie
stehen und welche Kontraste sich bei ihnen zeigen. Bei Santiago spielen die
Kontraste des Ortes und der Zeit eine wichtige Rolle. Im Gefängnis hat er mehr
Zeit als zuvor. Außerdem bemerkt er, dass eine beeindruckende mentale Aktivität möglich ist, wenn der Körper gefangen und damit an einen Ort gebunden ist
(vgl. González 1998: 527).
Neben diesen beiden Aufsätzen gibt es eine Analyse, die die narrativen Techniken von Mario Benedetti untersucht und damit eine Forschungslücke schließt.
Hierin wird Benedettis narratives Werk vom lateinamerikanischen Boom abgegrenzt und herausgestellt, dass Benedetti traditionelle Erzählstile auf seine ihm
eigene Art verwendet. Alle fünf vor 1995 erschienenen Romane von Mario Benedetti werden einer kurzen Analyse unterzogen. Der Autor des Aufsatzes befindet, dass die Struktur von Primavera con una esquina rota von vielen verschiedenen Erzählperspektiven und Brüchen in der narrativen Einheit dominiert
sei (vgl. Weitzdörfer 1995: 444).
Alle drei Sekundärtexte konnten hilfreich verwendet werden. Besonders der zuerst genannte Aufsatz von Flora González weist inhaltlich einige Überschneidungen mit dem Thema dieser Arbeit auf.
In der Forschungsliteratur zu Primavera con una esquina rota fehlt eine Untersuchung zur Bedeutung der Abschnitte, deren autofiktiver Charakter am Ende
dieses Kapitels noch zur Diskussion gestellt wird. Des weiteren wäre es interes8
sant, sich die Rezeptionsgeschichte von Primavera con una esquina rota genauer anzuschauen.
3.2 Entstehung
Primavera con una esquina rota wurde 1982 publiziert. Mario Benedetti hatte zu
dieser Zeit schon mehrere Stationen seines Exils hinter sich. Primavera con
una esquina rota schrieb er in Spanien (vgl. Paoletti 1995: 226-227).
Es handelt sich um einen Exilroman, der während der Zeit der Diktatur entstand
und publiziert wurde. Flora González ordnet ihn der Gattung der „,novela autorial de intención testimonial‛“ (González 1995: 48) zu, weil Primavera con una
esquina rota „un collage de voces en el exilio“ (ebenda) darstelle, „incluyendo la
voz del multiperspectivismo, el uso de diálogos y la participación del autor
como narrador“ (González 1995: 48). Mit dieser Gattungsbezeichnung werden
zwei für den Roman besonders wichtige Punkte genannt. Einerseits tritt Mario
Benedetti als eine erzählende Figur auf. Andererseits stellt Primavera con una
esquina rota keine Autobiographie dar, sondern bemüht sich ein Zeugnis der
damaligen Zeit im allgemeinen und der verschiedenen Exilsituationen im besonderen abzulegen. Beide Punkte werden in den folgenden Kapiteln noch genauer betrachtet werden.
Die Motivation Benedettis für diesen Roman kann in der Verarbeitung der eigenen Exilsituation in literarischer Weise gesehen werden. Benedetti berichtet
über die derzeitigen Vorgänge in seinem Land. Santiagos Vater Rafael dient als
Spiegelfigur Benedettis. Er fühlt sich verpflichtet, Missstände in seinem Land
aufzuzeigen, die er durch das rettende Exil nicht am eigenen Leib erleben
musste (vgl. González 1992: 42). Außerdem ist Rafael gleichzeitig Lehrer, was
als Metapher für Benedettis Schriftstellerei gesehen werden könnte, wenn man
den Beruf des Autors als Lehrer oder als eine moralische Instanz der Gesellschaft definiert. Es muss eine Auseinandersetzung mit den schlimmen Geschehnissen der Diktatur stattfinden, um sie verarbeiten zu können und die spätere Erinnerung daran wachzuhalten.
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3.3 Sprache
Die Sprache in Primavera con una esquina rota erweist sich als ein ergiebiger
Untersuchungsgegenstand, von dem nun einige Teilaspekte betrachtet werden.
Beatriz, die Tochter von Graciela und Santiago, legt in den Fragmenten, die ihren
Namen in der Überschrift tragen, in unschuldig-humorvoller Weise ihre Gedankengänge und Erlebnisse dar. Dieser Humor kontrastiert mit den tragischen Umständen, die im Roman erzählt werden. Durch Doppeldeutigkeiten und Wortspiele hindurch versucht Beatriz hinter die Bedeutung von Worten wie
„Libertad/libertad“ (Benedetti 1982: 109-111) und „amnistía/amnesia“ (ebenda:
173-176) zu kommen. Libertad/libertad sind Homophone, die eine gegenteilige
Bedeutung haben (vgl. González 1992: 46). Während Libertad ein uruguayisches
Gefängnis während der Diktatur bezeichnet, ist mit libertad die Freiheit gemeint.
Bei amnistía/amnesia ist es ähnlich. Die Worte sind nicht ganz gleichklingend,
birgen aber ebenso aufeinanderstoßende Bedeutungsunterschiede. Die Amnestie für die politischen Gefangenen bedeutet laut Beatriz' Wörterbuch, dass die
politischen Verbrechen der Häftlinge vergessen werden (vgl. Benedetti 1982:
174). Gleichzeitig stellt sie fest: „Cuando venga la amnistía se acabará la amnesia“ (ebenda: 176). Das Vergessen der politischen Delikte steht dem Vergessen der Menschenrechte (amnesia) durch Folter gegenüber, das mit der Entlassung der Häftlinge ein Ende haben soll (vgl. González 1992: 46).
Benedetti verwendet oft Satz-Elemente, mit denen ein Fragment oder ein Thema beginnt und auch wieder abschließt. Das Kapitel „BEATRIZ (Una palabra
enorme)“ (Benedetti 1992: 109-111) wird von dem Eingangssatz „Libertad es
una palabra enorme“ (ebenda: 109) und der Frage auf der letzten Seite „¿Ven
como es enorme?“ (ebenda: 111) umrahmt. In dem Kapitel „EL OTRO (Turulato
y todo)“ (ebenda: 133-139) lässt sich Rolando über mehrere Seiten (ebenda:
136-139) in einer Art Bewusstseinsstrom in der dritten Person darüber aus, wie
Graciela und er sich ihre gegenseitige Zuneigung gestanden. In direkter Rede
und ohne typographische Markierungen findet ein Hin und Her zwischen él und
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ella statt und Rolando lässt die Szene Revue passieren. Durch den Einsatz
dieses Stilmittels, dem sogenannten sainete porteño, das aus dem argentinischen Drama stammt (vgl. Castro 1990: 51), wird die eigene Schuld Rolandos
gegenüber seinem Freund Santiago zu einem geteilten Gefühl zwischen Graciela und ihm (vgl. González 1992: 444). Die Phrase „sueño con vos“ markiert
den entscheidenden Punkt ihrer Unterhaltung und mit denselben Worten endet
das Kapitel.
In einem der Kapitel, die mit EXILIOS betitelt sind, spricht Mario Benedetti von
der Sprache, die von allen Repressionen der Welt verwendet wird (vgl. Benedetti 1992: 40). Anhand der Erfahrung, die Benedetti in Peru gemacht hat, als
man ihn des Landes verwies, gibt er dem Leser ein Beispiel, wie eine Abschiebung aus politischen Gründen abläuft. Mit bürokratischen Mitteln wird versucht,
einen Vorwand für eine Abschiebung zu erzielen. Zunächst erscheint jemand in
Zivil gekleidet, zeigt seinen Dienstausweis und möchte Benedetti mitteilen, dass
sein Visum abgelaufen sei. Als Benedetti sein rechtzeitig verlängertes Visum
vorzeigt, muss er trotzdem mit zum Polizeirevier kommen. Ihm wird vorgehalten, er verdiene widerrechtlich Geld. Daraufhin erklärt Benedetti, dass er eine
Sondererlaubnis hat, um für eine Tageszeitung zu schreiben. Schließlich wird
ihm deutlich gesagt, worum es eigentlich geht: Die peruanische Regierung verlangt, dass er so schnell wie möglich das Land verlässt. Er soll sich ein Reiseziel aussuchen, hat aber letztendlich nur zwei Möglichkeiten und entscheidet
sich für den Rückflug nach Buenos Aires. Laut Flora González ist es „la ironía
[...] que desenmascara el supuesto lenguaje figurado de la represión“ (González 1992: 44).
An manchen Stellen des Romans tauchen lyrische Elemente auf. Ein zweiseitiges Gedicht auf den Seiten 143 und 144 berichtet von einem Besuch eines
griechischen Theaters, dessen Akustik besonders gut ist. Benedetti, der als Er4 In der angegebenen Quelle ist wiederholt von Orlando statt von Rolando die Rede (S. 44).
Dies mag nur ein Tippfehler sein, lässt aber Zweifel an der Vertrauenswürdigkeit dieser
Stelle der Quelle aufkommen.
11
zähler oder lyrisches Ich dieses Gedichtes fungiert, grüßt Líber, Héctor, Raúl
und Jaime. Dieser Gruß findet seinen Weg über viele Meere und das Heimweh
hinweg, um sich als Luftstrom zwischen den Gitterstäben niederzulassen. Wie
weit der Exilant Benedetti sich bereits von seinem Heimatland entfernt hat, wird
einerseits an den Meeren, die zwischen ihm und seinem Land liegen, und andererseits an der Antike Griechenlands deutlich, von der sich die Gegenwart unmöglich erreichen lässt.
Die beiden Fragmente, die mit EXTRAMUROS betitelt sind, weisen lyrische
Merkmale auf. Alle Wörter sind kleingeschrieben, die Interpunktionszeichen
werden weggelassen und an ihrer Stelle Schrägstriche eingefügt. Hierin wird
die Aufregung Santiagos transportiert, als er kurz vor dem Wiedersehen mit seiner Familie steht und die fünf Jahre seiner Gefangenenschaft vorbei sind.
Viele der Figuren sehen in der Sprache eine entscheidende Verbindung zu ihrem Heimatland.
Beatriz sagt beispielsweise: „Una de las diferencias es que en mi país hay cabayos y aquí en cambio hay cabaios.“ (Benedetti 1982: 84).
Rolando fasst gerade die Überflüssigkeit von Worten als etwas Heimatvermittelndes auf. Die mexikanischen Frauen gefallen ihm gut, allerdings gebe es
Tage und Nächte, an denen ihm etwas an ihnen fehle. „Son los días y noches
en que echa de menos el sobrentendido“ (Benedetti 1982: 39). Einer Uruguayerin als Geliebte muss Rolando nicht Dinge erklären, die sich für Uruguayer von
selbst verstehen.
Benedetti berichtet auf Seite 185 über ein Phänomen von Sprache und Heimat:
Uruguayische Kinder in Kuba wüchsen mit zwei Tonarten von Sprache, wenn
nicht sogar zweisprachig auf. Im Umgang mit kubanischen Freunden verwenden sie „un crudo acento cubano“ (Benedetti 1982: 185). Sobald sie aber nach
Hause kommen, wo die Eltern bewusst uruguayisches Spanisch sprechen,
seien sie wieder uruguayische „botijas“ (ebenda). Flora González resümiert:
„Para el escritor en el exilio el lenguaje se convierte en la más concreta
conciencia de lo que significa la palabra patria“ (González 1992: 45).
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Der Titel Primavera con una esquina rota findet an mehreren Stellen des Romans Erwähnung. Dieser Frühling ist einerseits der Neuanfang, den Santiago
nach seiner Gefangenschaft erleben wird. Andererseits kann der Titel auch allegorisch auf den Neuanfang bezogen werden, der dem Land Uruguay nach seiner Gefangenschaft, der Militärdiktatur, bevorsteht (vgl. Benedetti 1982: 198199). Zur Zeit der Entstehung des Romans dauerte die Diktatur noch an, aber
es war absehbar, dass sie eines Tages enden würde und dass der Frühling, der
danach käme, nicht ohne Probleme sein würde. Die Beziehung von Santiago
und Graciela ist aufgrund der jahrelangen Trennung aus Sicht Gracielas nicht
mehr als eine Ehe weiterführbar. Santiago scheint zumindest zu ahnen, dass
Graciela sich verändert hat und es Schwierigkeiten bei ihrem Wiedersehen geben könnte (vgl. Benedetti 1982: 195-197). In Uruguay würden nach dem Ende
der Diktatur ebenfalls verschiedene Welten aufeinandertreffen: Exilierte und im
Land Verbliebene, politische Gefangene und Angehörige der Militärjunta, ältere
und jüngere Generationen. Die Wunden, die die Diktatur in Familien und in der
Gesellschaft hinterlassen hatte, würden nicht direkt verheilen können. Diese
Wunden - Verschwundene, Folter und Exilerfahrungen - kommen in dem Zusatz
„con una esquina rota“ zum Ausdruck. In dieser Allegorie, die vor allem die Uruguayer anspricht, liegt gleichzeitig die Sinnintention des Autors. In diesem Zusammenhang ist von einem Spiegel die Rede. Santiago sagt: „la primavera es
como un espejo pero el mío tiene una esquina rota“ (Benedetti 1982: 196). Santiago bezieht den Frühling und den Spiegel auf seine persönliche Situation und
die seines Landes. Er fragt sich, zu welchem Uruguay er zurückkehren müssen
wird. Uruguay „también tendrá una esquina rota y sin embargo reflejará más
realidades que cuando el espejo estaba virgen“ (Benedetti 1982: 198). Das offene Ende des Romans symbolisiert die offene Zukunft Uruguays nach der Militärdiktatur. Der implizite Autor fordert die Menschen auf, nach einer Krise mutig
etwas Neues zu schaffen, einen Neuanfang zu wagen. Der Roman vermittelt
Hoffnung, da trotz aller schlimmen Erfahrungen in der Vergangenheit - der
„abgebrochenen Ecke“ - der Frühling kommt und somit die Hoffnung auf eine
gute Zukunft in dieser Situation überwiegt.
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3.4 Exilroman
In Primavera con una esquina rota spielt das Exil eine entscheidende Rolle. Der
Protagonist Santiago verdeutlicht dies: „El exilio (interior, exterior) será una
palabra clave en este decenio“ (Benedetti 1982: 35). Das äußere Exil der Angehörigen Santiagos steht seinem inneren Exil gegenüber. Somit wird deutlich,
dass die Erfahrung des Exils während der Diktatur sich nicht auf eine Gruppe
beschränkte, sondern äußerst vielschichtig war. Ein beachtlicher Teil der Bevölkerung (350.000-500.000 von drei Millionen) verließ das Heimatland und viele
Tausend Uruguayer befanden sich in politischer Gefangenschaft und wurden
gefoltert (vgl. Straßner 2007: 164).
Primavera con una esquina rota ist auch ein ganz persönlicher Exilroman. Mario Benedetti teilt dem Leser bruchstückhaft Informationen über die verschiedenen Stationen seines Exils mit. Nach dem Militärputsch 1973 war er zunächst
nach Buenos Aires emigriert. Weiter ging es nach Lima, La Habana und Alamar
auf Kuba. 1980 betrat er erstmals europäisches Exil: Palma de Mallorca, wo er
Primavera con una esquina rota schrieb, und später Madrid (vgl. Paoletti 1995:
183, 197, 202, 205, 223, 232). Erst nach dem Ende der Militärdiktatur sah er
1985 sein Land wieder (vgl. Universidad de Alicante 1999).
3.5 Autofiktion?
Mario Benedetti verarbeitet in seinem Roman Primavera con una esquina rota
nicht nur die Exilerfahrungen seiner Landsleute, sondern auch sein persönliches Schicksal. In den kursiv gedruckten Kapiteln, die die Überschrift EXILIOS
tragen, fällt sein Name. Nach einer Definition von Marie Darrieussecq handelt
es sich um das literarische Phänomen der Autofiktion, wenn der Leser vor einer
Unentscheidbarkeit zwischen faktischem Bericht und Fiktion steht. Der Text
ordnet sich beispielsweise durch die Gattungsbezeichnung Roman dem Bereich
der Fiktion zu. Einerseits wird der reale Autor namentlich genannt und gibt bestimmte Fakten als homodiegetischer Erzähler wieder, andererseits kann nicht
sicher gesagt werden, dass sich das Erzählte exakt so zugetragen hat (vgl. Zip14
fel 2002: 141-142). Außerdem bezeichnet Darrieussecq die Autofiktion als „un
genre pas sérieux“ (ebenda: 141). Aus diesem Grund kann bei Primavera con
una esquina rota nur mit Vorsicht von Autofiktion gesprochen werden, da sie
nicht wie üblich in spielerischer Art und nur am Rande (vgl. ebenda: 142), Verwendung findet. Mario Benedetti benutzt diese Passagen nicht, um den Leser
zu verwirren, sondern um eine reale Geschichte neben die von Santiago und
seiner Familie zu stellen. Dies verleiht der fiktiven Geschichte mehr Glaubwürdigkeit und lässt sie als Parallele zur Realität erscheinen. Demnach sollte eher
von autobiographischen Abschnitten als von Autofiktion gesprochen werden.
Die Fragmente in kursiver Schrift, in denen Mario Benedetti vorkommt, könnten
auch unabhängig von den anderen Fragmenten gelesen werden, da sie einen
separaten Erzählstrang bilden. Durch die Gegenüberstellung von Benedettis
Geschichte und dem Schicksal von Santiago und seinen Angehörigen wird der
Leser zum Nachdenken angeregt. Beispielsweise darüber, dass viele Uruguayer ins Exil gingen, was großen Einfluss auf ihre Lebensgeschichten hatte.
Intellektuelle, wie Mario Benedetti, und politisch Andersdenkende, wie Santiagos Familie, hatten im Exil gleichermaßen Probleme.
15
4. A veinte años, Luz
Im folgenden Teil wird A veinte años, Luz unter verschiedenen Gesichtspunkten
untersucht, um die Besonderheiten des Romans herauszuarbeiten.
In A veinte años, Luz wird das dunkle Kapitel der Kindesentführungen durch
das Militär während der Diktatur in Argentinien behandelt. Luz entdeckt im Alter
von zwanzig Jahren ihre wahre Identität. Sie ist nicht die Tochter von Eduardo
und Mariana, der Tochter eines ranghohen Militärs. Kurz nach ihrer Geburt wurde ihre leibliche Mutter Liliana ermordet und sie in die Familie der Tochter des
Verantwortlichen des Gefängnisses, in dem Liliana interniert war, gegeben. In
drei Abschnitten (in den Jahren 1976, 1983 und 1995-1998), einem Prolog und
einem Epilog (beide 1998) wird ihre Geschichte erzählt. Die Handlung wird ausgehend von einem Treffen von Luz und ihrem leiblichen Vater Carlos in Madrid
begonnen.
4.1 Forschungsstand
Zu A veinte años, Luz gibt es (bisher) kaum wissenschaftliche Aufsätze, aber
mehrere Artikel in Zeitschriften und eine Radio-Sendung. Außerdem enthält die
Homepage von Elsa Osorio (www.elsaosorio.com) weiterführende Links und
Rezensionen zu ihren Büchern.
Wissenschaftlich darf der Aufsatz von Anita Cassese, erschienen in der Zeitschrift Hispanorama, genannt werden. Er stellt als zentrales Thema des Buches
die Identitätssuche fest. Mit vielen Textbeispielen und Belegen werden die drei
Teile des Romans beleuchtet und am Ende wird kritisch hinterfragt, an wen sich
das Buch eigentlich richten soll. Dabei wird die Interpretation des Titels kurz angerissen.
Auf den möglichen biographischen Bezug zum Buch geht ein Focus-Artikel ein,
der Osorios Schwangerschaft 1976 erwähnt. Auch die Schwierigkeiten bei der
Verbreitung von A veinte años, Luz werden thematisiert.
16
In einer Radiosendung des Rundfunks Berlin-Brandenburg wird ebenfalls auf
die ungewöhnliche Rezeptionsgeschichte von A veinte años, Luz eingegangen.
Die Sekundärliteratur zu A veinte años, Luz fällt etwas spärlich aus. Aus vielen
kleinen Quellen konnten einzelne Informationen gesammelt werden und die ein
oder andere Rezension zum Buch war ebenfalls hilfreich. Insgesamt muss eine
umfassende wissenschaftliche Behandlung des Romans aber noch geleistet
werden, da das Thema nicht unbeachtet an der Literaturwissenschaft der Hispanistik vorbeigehen sollte. Die Aspekte Sprache und Perspektiven in A veinte
años, Luz werden in dieser Arbeit deshalb hauptsächlich in einer eigenen Analyse untersucht.
4.2 Entstehung
A veinte años, Luz erschien 1998. Das Buch wurde in Spanien verfasst und
erstmals veröffentlicht. Somit handelt es sich um einen Roman, der lange nach
der Diktatur entstand und im Exil geschrieben wurde.
Dieses Buch gehört zur Erinnerungskultur Argentiniens, da es literarisch auf
den Aspekt der systematischen Kindesentführungen während der argentinischen Militärdiktatur eingeht. Somit trägt es zur kulturellen Auseinandersetzung mit der Militärdiktatur bei.
Betrachtet man den Roman in Bezug auf Fiktion, kann er als fiktionaler Erzähltext, der eine fiktive Geschichte fingiert faktual erzählt, eingeordnet werden (vgl.
Zipfel 2002: 168). Elsa Osorio meint zur Fiktion in ihrem Buch:
Creo que hay un momento en que, desde la ficción, se pueden encarar
los hechos verdaderos para que el lector sienta en lo individual una
historia que, sólo en términos externos, no es la suya: hacer que el lector
encarne qué pasa en la vida de alguien a quien día a día se le oculta la
verdad. La ficción tiene este alcance y yo quiero que lo que ocurrió con
estos chicos no se olvide. (Bagnera 1999).
In dem Zitat lässt sich die Motivation der Autorin, ihr Buch zu schreiben, ablesen.
Sie möchte nicht, dass das Schicksal der Kinder, die ihren Eltern geraubt wur-
17
den, vergessen wird. Elsa Osorio war 1976 selbst schwanger und es hätte sie ein
Schicksal wie das ihrer Figur Liliana Ortiz im Roman ereilen können. Gespräche
mit den Madres de Plaza de Mayo führten ihr die Notwendigkeit der Aufarbeitung
dieses dunklen Kapitels der argentinischen Geschichte vor Augen und sie entschloss sich, ein Buch über das Thema des Kinderraubs zu schreiben. Dazu
wählte sie das spanische Exil, um mit genügend Abstand von Argentinien ihr
Schreibprojekt durchführen zu können (vgl. Korff 2000: 75). Gerade aus der
Perspektive eines dieser geraubten Kinder zu schreiben, entsprang der Absicht
der Autorin, den jungen Menschen eine Stimme zu geben, die beispielsweise
nicht von den Abuelas de Plaza de Mayo gesucht werden (vgl. Pohl 2001: 56).
4.3 Sprache
Die Sprache in A veinte años, Luz erweist sich auch hier als ein sinnvoller Untersuchungsgegenstand, aus dem sich verschiedene Interpretationen ergeben.
Eine auffällige narrative Technik in A veinte años, Luz ist die Verwendung einer
„voz narrativa-omnipresente, que se dirige al personaje [d. h. Eduardo] en
segunda persona del singular“ (Cassese 2001: 16). Im zweiten Teil des Romans wird durch diese Erzähltechnik eine starke Empathie für Eduardo erzeugt,
der, als Luz sieben Jahre alt ist, endlich beginnt, nach Luz' Herkunft zu suchen.
In der zweiten Person werden Eduardos Gedanken und Gefühle wiedergegeben. Liebe und Zuneigung für Dolores (vgl. u. a. Osorio 1998: 262) und Luz
(vgl. u. a. ebenda: 276-277) und eine wachsende Abneigung gegen Mariana
(vgl. u. a. ebenda: 279-280) werden in diesen Passagen deutlich.
Elsa Osorio selbst meint zu den Erzähltechniken, die in A veinte años, Luz verwendet werden, dass sie sich bewusst dafür entschieden hat, klar und deutlich
zu schreiben. Ihr war wichtig, dass ihre Geschichte bekannt würde und für jedermann verständlich sei (vgl. La Prensa 1999). Andererseits wird Kritik laut,
dass durch die vielen Argentinismos, die Sprache nur für in Argentinien Leben-
18
de verständlich sei. Beispiele sind die Ausdrücke „los rastis“ (Osorio 1998:
271)5, „Pilón, Pilón, qué grande sos“ (ebenda: 131)6 und „¡Miriam sola no más!“
(ebenda: 131)7. Außerdem werden teilweise Erläuterungen zu Abkürzungen in
Fußnoten gegeben (beispielsweise auf Seite 203: „PRT“ = Partido Revolucionario de los Trabajadores), die Abkürzung AAA8 wird aber nicht erklärt (vgl.
Cassese 2001: 17). So stellt sich die Frage, ob die Sprache, die stark argentinisch geprägt ist, auch andere spanischsprechende Leser ansprechen soll,
oder nur die Argentinier. Elsa Osorio selbst hatte die Absicht, dass ihr Werk
eine möglichst weite Verbreitung findet und hat dieses Ziel auch erreicht. Ihr
Buch ist in Spanien, Deutschland, Frankreich, Italien und vielen weiteren Ländern erschienen (vgl. http://elsaosorio.com/Obras_publicadas.htm). Aus diesem
Grund können die sprachlichen Besonderheiten nicht als Ausschlusskriterium
für nicht-argentinische Leser angesehen werden. Sie vermitteln vielmehr den
regionalen und historischen Kontext und lassen das Werk authentisch wirken.
In Übersetzungen in andere Sprachen wird dieses regionale Kolorit nicht erhalten bleiben können. Die Sprache ist eine Verbindung zu Elsa Osorios Heimat,
was auch an dem Kontrast zum spanischen Spanisch im Prolog deutlich wird:
-Soy yo -y esa <yo> sonó tanto a <io> que Luz se dijo que había sido
una estúpida en ilusionarse así porque perfectamente podía haber un
español que se llamara igual-. ¿Quién eres?
<Eres> la convenció totalmente de que había sido un error (Osorio 1998: 9).
Dass sich allerdings statt mit dem „vos“ mit dem „tú“ an Eduardo gerichtet wird,
verwirrt. Für Eduardo, einen Argentinier, wäre die Verwendung des „vos“ einleuchtender. Vielleicht liegt die Begründung darin, dass dieser innere Monolog
in der zweiten Person nicht nur zu Eduardo, sondern zu jedem spanischsprachigen Leser spricht und das „tú“ deshalb angebrachter erschien. Nicht nur den
Argentiniern, die diese Militärdiktatur erlebten, sondern allen, die in einer Diktatur leben, soll bedeutet werden, dass es immer die Möglichkeit gibt, seine
Handlungen zu überdenken und zu versuchen, Fehler wieder gut zu machen.
5
6
7
8
„juguete de construcción“ (Cassese 2001: 16)
„adapción del tema de la marcha peronista“ (Cassese 2001: 16)
„adapción del tango Leguizamo“ (Cassese 2001: 16)
AAA/Triple A = „Alianza Anticomunista Argentina“ (Straßner 2007: 75)
19
Die Militärs Dufau und Pitiotti werden einerseits privat als Alfonso und el Bestia
bezeichnet, gleichzeitig sind ihre Dienstbezeichnungen (teniente coronel, später
general Dufau und sargento, später sargento primero Pitiotti) wichtig, um dem
Leser ihren militärischen Rang deutlich zu machen. Diese Figuren, die sich in je
eine private und eine offizielle Bezeichnung spalten, können als Menschen mit
zwei Gesichtern interpretiert werden. Es wird klar, dass selbst die Verantwortlichen schlimmster Greueltaten und Folterer Emotionen besitzen und ein normales Leben neben ihrem Beruf führen.
Der Titel A veinte años, Luz birgt ein Wortspiel, das die Übersetzer des Romans
vor Schwierigkeiten stellt, da sich die ambivalente Bedeutung so nicht übersetzen lässt. Einerseits bezieht der Titel sich darauf, dass Luz zwanzig Jahre alt
ist, als sie hinter ihre wahre Identität kommt. Andererseits beinhaltet der Titel
die Aussage, dass mit zwanzig Jahren eine Art Erleuchtung kommen kann,
wenn man aus dem Schatten einer falschen Identität ins Licht der Wahrheit tritt.
Diese Bedeutung lässt es zu, das Buch nicht als eine isolierte Geschichte zu
betrachten, sondern als eine Aufforderung an alle, die zur Zeit des Erscheinens
des Romans zwanzig Jahre alt waren und Zweifel an ihrer Identität haben, sich
auf die Suche zu machen. Somit ist das Buch nicht nur als ein Teil argentinischer Erinnerungskultur zu lesen, sondern besonders an die Generation der
mittlerweile Dreißigjährigen adressiert, die Zweifel über ihre Herkunft haben
(vgl. Cassese 2001: 17). Laut Elsa Osorio geben „die zuständigen Organisationen jungen Leuten [ihr] Buch, um sie zur Suche zu ermutigen“ (Pohl 2001:
56). Ihr „Buch soll[e] zeigen, dass auch der Weg der Wahrheit ein guter sein
kann“ (ebenda).
4.4 Perspektiven
Elsa Osorios Roman beschränkt sich nicht darauf, eine einzelne Sicht der Militärdiktatur in Argentinien darzustellen. Stattdessen werden mehrere und äußerst verschiedene Wahrnehmungen aufgezeigt.
Vor allem Frauen sind die starken, handlungstragenden Figuren inner20
halb eines Inventars, das als Fresko der zeitgenössischen bürgerlichen
argentinischen Gesellschaft dient (Pohl 2001: 56).
Damit wird auf die Bedeutung des Kampfes von Frauen für Menschenrechte
aufmerksam gemacht und ihre Arbeit gewürdigt.
Außerdem gibt es sowohl Opfer- als auch Täterperspektiven. Die Perspektivendarstellung hängt stark mit den Erzählsituationen zusammen. Die Dufau-Familie
und el Bestia repräsentieren die Militärs und damit die Seite der Täter. El
Bestia, Alfonso, Amalia und Mariana sind keine Ich-Erzähler, sondern Figuren,
über die ein heterodiegetischer Erzähler spricht. Die Opferseite, die von Liliana,
Delia, Dolores und Carlos als Verschwundene, Angehörige und Exilierte vertreten wird, wird ebenfalls von einem heterodiegetischen Erzähler beschrieben.
Anders verhält es sich bei den Figuren, die in der Mitte der Gesellschaft stehen
und keine radikalen politischen Ideologien verfechten: Miriam, Eduardo und Luz
werden von innen betrachtet und sind handlungstragend (vgl. Pohl 2001: 57).
Miriam erzählt als unpolitische Prostituierte aus der Ich-Perspektive von ihrem
Leben und ihrer Verstrickung in den Kinderraub durch das Militär. Ihre Wahrnehmung der Dinge als Ich-Erzählerin nimmt im ersten Teil den größten Platz
ein. Später taucht sie noch einmal als Ich-Erzählerin am Ende des dritten Teils
auf (siehe Osorio 1998: 479-484, 488-489, 499-501 und 504-505).
Im zweiten Teil ist Eduardos Suche nach Luz' Herkunft das zentrale Thema.
Durch die allgegenwärtige Erzählstimme9, die in der zweiten Person zu Eduardo
spricht, wird dem Leser Eduardos Innenleben vor Augen geführt und eine Identifikation mit ihm möglich gemacht.
Luz ist die wichtigste Erzählerin im dritten Teil. Sie tritt neben Miriam als zweite
Ich-Erzählerin auf. Durch die Wahl der Perspektive des geraubten Kindes
schafft Elsa Osorio sich die Möglichkeit, Fragen zu stellen, die jemand anderes
als Luz nicht hätte stellen können. Luz wirft ihrem Vater, der ein Opfer der Dik9 Übersetzung der Verfasserin von „voz narrativa-omnipresente“ (Cassese 2001: 16)
21
tatur war, vor, dass er und Liliana sich in so einer gefährlichen Zeit dafür entschieden, ein Kind zu bekommen und es somit der Gefahr aussetzten, ihren Eltern weggenommen zu werden (vgl. Bagnera 1999). Den Dialog zwischen Luz
und ihrem Vater Carlos über das ganze Buch hinweg in kursiver Schrift fortlaufen zu lassen, hält beim Leser das Thema der Identitätssuche wach, das den
anderen Nebenhandlungen, wie Miriams Lebensgeschichte oder der Liebesgeschichte von Eduardo und Dolores, übergeordnet ist.
Durch diese vielen verschiedenen Perspektiven gelingt es Elsa Osorio, ein
möglichst breit gefächertes Bild der argentinischen Gesellschaft unter der Militärdiktatur zu erstellen. Die Figuren haben Schattierungen und sind nicht in einer einfachen Schwarz-Weiß-Malerei unterzubringen.
4.5 Rezeptionsgeschichte
Eine neuere Disziplin in der Literaturwissenschaft ist die Rezeptionsästhetik.
Der Fokus liegt hier auf dem Leser, da „das Arrangement [eines] literarische[n]
Texte[s]“ (Haefner 2004: 107) seine Rezeption durch die Leser stark beeinflusst, aber nicht festschreiben kann (vgl. ebenda). Außerdem ist die Rezeption
einem historischen Wandel unterworfen und an die eigene Situation des Lesenden gebunden (vgl. ebenda: 109). Die Rezeptionsgeschichte von A veinte
años, Luz ist für die Interpretation des Werkes interessant, weil die Reaktionen
auf das Werk so unterschiedlich ausfielen.
A veinte años, Luz ist Elsa Osorios sechster Roman. Obwohl sie schon mehrere Romane in Argentinien veröffentlicht hatte und den Premio Nacional de Literatura erhalten hatte, wollte keiner ihrer argentinischen Verleger A veinte años,
Luz publizieren (vgl. Schumann 2004: 11). Die erste Auflage erschien deshalb
in Spanien. Dort hatte ihr Werk großen Erfolg. Später erreichte Elsa Osorio über
einen mexikanischen Verleger die Publikation in Argentinien mit „einer beachtlichen Auflage von 8.000 Exemplaren“ (Schumann 2004: 12). Der Roman fand
allerdings nie eine 'normale' Verbreitung in Argentinien. Elsa Osorio meint, dass
22
es „eine ganze Reihe von Leuten [gab], die das Buch boykottiert[en]“ (Schumann 2004: 12). In vielen Buchhandlungen lag es unter dem Ladentisch und
stand nicht offen sichtbar in den Regalen. Trotzdem erlangte es einen relativ
großen Bekanntheitsgrad, weil die Menschen sich gegenseitig darüber austauschten (vgl. ebenda).
23
5. Vergleich
Die ausgewählten Romane werden im Folgenden in Bezug auf die Art der literarischen Aneignung der Militärdiktaturen verglichen. Auf formaler und auf inhaltlicher Ebene werden Ähnlichkeiten und Unterschiede gesammelt und analysiert.
Diese Einordnung sorgte bei einigen Aspekten für Schwierigkeiten, da es oft
Überschneidungen von Formalem und Inhaltlichem gibt.
Die Grundlage des literarischen Stoffes ist bei Benedetti der gegenwärtige politische Zustand Uruguays, während Osorio die junge Vergangenheit Argentiniens verarbeitet. Hieraus ergibt sich ein jeweils anderer Ausgangspunkt bezogen auf die zeitliche und die räumliche Dimension der Romaninhalte. Dieser
grundsätzliche Unterschied der beiden Romane muss im Hinterkopf behalten
werden.
5.1 Ähnlichkeiten
Beiden Autoren geht es darum, dass die Zeit der Militärdiktatur und der darunter
begangenen Verbrechen nicht in Vergessen gerät. Dies erreichen sie auf der
formalen und der inhaltlichen Ebene in Teilen auf ähnliche Weise.
5.1.1 Formale Ähnlichkeiten
Beide Romane haben mehrere homodiegetische Erzähler und je einen heterodiegetischen Erzähler.
These: Die Verwendung von mehreren Erzählern dient in beiden Romanen
dazu, verschiedene Wahrnehmungen der Militärdiktatur aufzuzeigen.
Aus dieser formalen Ähnlichkeit lässt sich schließen, dass Benedetti und Osorio
ein ähnliches Ziel mit ihren Romanen verfolgen. Nicht ein einzelnes und eindeutiges Urteil über die Militärdiktatur, sondern mehrere Stimmen sollen vermittelt
werden. Michael Bachtin verwendet für dieses Phänomen den Begriff der Polyphonie: Eine Idee wird durch mehrere eigenständige Stimmen konturiert (vgl.
Schmidt 2006: 121). Die Idee, die von verschiedenen Stimmen beleuchtet wird,
ist in diesem Fall die Militärdiktatur. Die Figuren entwerfen ihre Meinungen da24
rüber, die meistens nicht übereinstimmen.
Diese Darstellungsart bietet ein facettenreiches, vielseitigeres Bild der Militärdiktatur als es Romane tun, die nur von einer Person erzählt werden. Genausowenig könnte dies eine allwissende Erzählinstanz leisten. Sie würde von oben
herab urteilen müssen. Die Erzähler von Primavera con una esquina rota und A
veinte años, Luz stellen sich nicht über das Geschehen und der Leser bekommt
verschiedene Erzählermeinungen mitgeteilt.
These: In beiden Romanen stellt die Sprache eine zentrale Verbindung zur
Heimat dar und schafft Identifikation.
In Primavera con una esquina rota wird die Heimat zum großen Teil durch die
Reflexion der Figuren über Sprache dargestellt. Rolando denkt an uruguayische
Frauen, weil er mit ihnen nicht so viele Worte nötig hat, wie mit anderen Frauen.
Auch Benedetti erfährt Heimat am deutlichsten über Sprache, wenn er von den
uruguayischen Kindern im kubanischen Exil spricht. Beatriz macht den Unterschied zwischen Heimat und Exil schlicht an den Worten cabayos und cabaios
fest (Benedetti 1982: 84).
In A veinte años, Luz spielt die Sprache eine ebenso wichtige Rolle. Hier ist ihre
Verwendung interessant, weil die Sprache der Figuren ihre Identität betont. Das
wird besonders an der Ausdrucksweise von El Bestia deutlich. Seine Sprache
möglichst original zu gestalten, bedeutete für die Autorin, sich in verschiedenen
Dokumenten zu informieren, welche Ausdrücke die Militärs beispielsweise für
die geheimen Haftzentren verwendeten (Gandara 1999).
[...] el clima y la ambientación perfecta del libro de Osorio están logrados
por un conocimiento exacto de las jergas y actitudes de los represores y
sobre las situaciones que viven (Testori 1999).
Allgemein ist die Sprache in Elsa Osorios Roman stark argentinisch geprägt.
Der regionale Kontext ist demnach nicht unwichtig.
Bei diesem Punkt stellt sich die allgemeine Frage, ob in der südamerikanischen
Literatur über die Militärdiktaturen die sprachlichen Besonderheiten der Region
oder des jeweiligen Landes eine so wichtige Rolle spielen, dass ihr Adressaten-
25
kreis auf diese Region begrenzt ist. Da A veinte años, Luz beispielsweise auch
in Spanien eine große Leserschaft fand, wäre dem zu widersprechen. Die volle
Ausdruckskraft wird sich zwar nur mit dem nötigen Hintergrundwissen beim Leser entfalten können, trotz allem ist die literarische Aufarbeitung der Militärdiktaturen auch etwa für den deutschen Leser von Interesse.
5.1.2 Inhaltliche Ähnlichkeiten
Das übergeordnete Thema ist in beiden untersuchten Romanen die Militärdiktatur. Welche inhaltlichen Überschneidungen es bei der literarischen Auseinandersetzung mit ihr gab, soll hier deutlich werden.
These: Die Gewaltdarstellung ist bei Primavera con una esquina rota und A
veinte años, Luz eher implizit.
Gewalt kommt bei Primavera con una esquina rota nur in Erzählungen der Figuren, also auf der hypodiegetischen Ebene vor, sodass eine gewisse Distanz
geschaffen wird.
Rafael hofft, dass die Gefangenschaft und die Folter Santiago nicht um den
Verstand bringen. Er versucht sich in seinen Sohn hineinzuversetzen und beschreibt die Todesangst von Gefangenen:
[...] a veces me imagino que a Santiago le están aplicando la picana en
los testículos y en ese mismo instante siento un dolor real (no imaginario) en mis testículos. O si pienso que le están aplicando el submarino,
literalmente me ahogo yo también (Benedetti 1982: 51)
[...] se me ocurre (a mí que nunca pasé por ese riesgo) que no debe ser
fácil, [...] uno [...] está solo con su capucha, [...] su asfixia o su angustia
sin fin (Benedetti 1982: 95)
Außerdem ergäben sich aus der Folter nicht nur Folgen für den Gefangenen
selbst, sondern auch für seine Angehörigen:
Cuando suplician a un hombre, lo maten o no, martirizan también (aunque no los encierren, aunque los dejen desamparados y atónitos en su
casa violada) a su mujer, sus padres, sus hijos, su vida de relación
(Benedetti 1982: 95-96).
In A veinte años, Luz kommt Folter ebenfalls kaum vor. Es kann aber festgehalten
26
werden, dass auf ein paar Seiten des Romans Folter explizit beschrieben wird:
Apenas llegó la prisionera, se la entregaron, y [...] la golpeó con fuerza
porque se negaba a desvestirse. Y ellos la ataron de pies y manos a la
camilla (Osorio 1998: 179).
Aus Sicht von El Bestia wird distanziert beschrieben, wie das Foltern mit la picana – einem elektrischen Knüppel am besten funktioniert:
Si bien había explicado varias veces (el sargento Pitiotti era considerado
un experto) que lo mejor era aplicar la picana a los músculos largos, los
del antebrazo, los de las piernas primero (llegar al umbral del dolor, pero
no traspasarlo porque después se insensibiliza y ya no habla), esa tarde
pareció olvidar tanta ciencia y pasó rápidamente de las piernas a la
vagina (Osorio 1998: 179)
Demnach ging es beiden Autoren nicht darum, Gewalt detailliert darzustellen.
Diese wird nur zwischen den Zeilen oder wie bei Osorio nur an einzelnen Stellen deutlich. Gewalt nur implizit zu erwähnen, gibt dem Leser von Primavera
con una esquina rota eine bessere Vorstellung von den Lebensumständen zur
Zeit der Diktatur. Der Kontakt von Gefangenen nach außen war nur unter Zensur möglich. Die Gefangenen konnten nicht offen und nicht über alle Themen
schreiben, sondern unterzogen sich zu ihrem Schutz einer Selbstzensur:
escribimos cartas, considerando simultáneamente al destinatario y al
censor, o proyectos de cartas donde por costumbre seguimos autocensurándonos (Benedetti 1982: 79)
Elsa Osorio sagt, dass sie auf Gewaltdarstellungen weitestgehend verzichtet
hat, um nicht in eine Schauergeschichte zu verfallen. Außerdem hält sie es für
ausreichend, den Schmerz der Opfer darzustellen (vgl. La voz del pueblo
1999).
Dass größenteils auf Gewaltdarstellungen verzichtet wird, ließe sich so interpretieren, dass andere Aspekte, wie die Themen Exil und Kinderraub, in den Vordergrund gerückt werden sollen. Möglicherweise würde eine ausführliche Beschreibung von Gewalt dazu führen, dass die Romane von den Lesern darauf
reduziert würden. Weder Benedetti noch Osorio skandalisieren die Umstände
zur Zeit der Militärdiktatur und sind deshalb in diesem Punkt nicht angreifbar,
weil ihnen keine Gewaltverherrlichung vorgeworfen werden kann. Gäbe es
27
mehr Szenen, in denen die Gedanken von Folterknechten, wie el Bestia geschildert würden, bestünde die Gefahr, dass diese Szenen Gewalt implizit als
etwas Positives darstellen könnten.
5.2 Unterschiede
Die Romane haben unterschiedliche Aussagen und Sinnintentionen.
5.2.1 Formale Unterschiede
In der von Schlickers (2008: 121) vorgeschlagenen Einteilung würde der Roman Primavera con una esquina rota unter die Kategorie der im Exil entstandenen „Literatura de proceso“ fallen. A veinte años, Luz dagegen gehört zur
„Postdiktatur-Literatur“, wurde aber ebenfalls im Exil verfasst.
These: Beispielhaft für die meisten Romane, die die Militärdiktaturen in Südamerika behandeln, sind auch die in dieser Arbeit untersuchten Romane im Exil
entstanden.
Die Gründe hierfür sind leicht zu bestimmen. Bei Primavera con una esquina
rota wird aus dem Roman selbst und aus Mario Benedettis Biographie deutlich,
dass es während der Diktatur für Benedetti sehr gefährlich gewesen wäre, in
seinem Land zu verbleiben. Bei A veinte años, Luz lässt sich aus der Rezeptionsgeschichte ablesen, dass eine öffentliche Diskussion über das Thema der
Kindesentführungen unter der Diktatur von vielen Seiten nicht erwünscht war.
Um genügend Distanz zu Argentinien zu haben (vgl. Korff 2000: 75), aber auch
aus persönlichen Gründen ging Elsa Osorio ins spanische Exil, um ihren Roman zu verfassen (vgl. La voz del pueblo 1999).
Primavera con una esquina rota und A veinte años, Luz beachten beide die
chronologische Reihenfolge des Erzählten. Die Geschichte von Santiago und
seinen Angehörigen wird im Präsenz erzählt, die von Benedetti in der Vergangenheit. Es sind zwei Erzählströme, die chronologisch, aber getrennt voneinander ablaufen. Der Ausgangspunkt von Luz' Identitätssuche ist die Gegenwart
von 1998, dann beginnt ein Rückblick, der über die drei Teile des Buches in drei
28
chronologisch aufeinanderfolgende Abschnitte geteilt ist und wieder mit dem
Jahr 1998 abschließt.
These: In dieser unterschiedlichen Struktur spiegeln sich auch die unterschiedlichen Ausgangspunkte der beiden Romane wider.
Mario Benedetti hat nicht die Möglichkeit, die Osorio hat, aus der Rückschau zu
berichten. Deshalb wählt er eine Geschichte, die mit der Gefangenschaft und
dem Exil beginnt und offen endet und stellt ihr seine persönlichen Rückblicke
auf einzelne Episoden seines Lebens gegenüber. Das schafft ihm die Möglichkeit, zu kommentieren und zu analysieren. Als A veinte años, Luz geschrieben
wurde, war die Diktatur schon fünfzehn Jahre vorbei und somit eine gewisse
Distanz zu den damaligen Ereignissen entstanden. Aus der Gegenwart heraus
auf die Diktatur zurückzublicken und den Rückblick bis in die Gegenwart fortzuführen, betont die Aktualität, die das Thema immer noch hat. Somit ist A veinte
años, Luz nicht nur ein historischer, sondern auch ein politischer Roman.
These: Mario Benedetti verarbeitet eigene Exilerfahrungen (betroffen), während sich Elsa Osorio eines Themas annimmt, zu dem sie keine persönlichen
Verbindungen hat (distanziert).
Dies verdeutlicht, dass es für Elsa Osorio wesentlich einfacher gewesen sein
muss, aus einer gewissen Distanz auf die Diktatur in ihrem Land zu blicken, als
es für Mario Benedetti war, der auch darüber berichtet, was ihm am eigenen
Leib geschehen ist.
Grob betrachtet stellt es eine formale Ähnlichkeit dar, dass beide Romane mehrere Erzähler aufweisen. Schaut man jedoch genauer hin, werden unterschiedliche Perspektiven deutlich.
These: Während Benedetti sich auf die Darstellung einer gesellschaftlichen
Gruppe (Exilanten) beschränkt, versucht Osorio ein breit gefächertes Bild der
Gesellschaft darzustellen.
Bei Benedetti wird die Situation des inneren und des äußeren Exils, über drei
Generationen verteilt, in der Fiktion sowie in Teilstücken einer Autobiographie
29
dargestellt. Es gibt vier homodiegetische intern fokalisierte Erzähler, die die drei
Generationen (Rafael = Großvater, Santiago = Vater, Beatriz = Tochter), das innere (Santiago) und das äußere Exil (Rafael, Beatriz, Benedetti) und autobiographische Fragmente Benedettis repräsentieren. Diese Perspektiven sind nicht
völlig einseitig, dennoch ist es nur die eine, wenn auch heterogene, gesellschaftliche Gruppe der Exilanten, die in Benedettis Roman Erwähnung findet.
Bei Osorio dagegen gibt es verschiedenste Gesellschaftsschichten, die repräsentiert werden. Es reicht von Opferperspektiven zu Täterperspektiven. Mariana
ist in gewissem Maß auch Täterin, obwohl sie nicht direkt an Verbrechen mitwirkt und die ersten sieben Jahre nicht weiß, dass Luz nicht ihre Tochter ist. Als
sie es jedoch erfährt, sieht sie nichts Falsches in dem Verbrechen, einer Mutter
ihr Kind wegzunehmen und heißt die Vorgehensweise ihres Vaters gut. Die Verdrängung des Verlustes ihres leiblichen Kindes und dass sie Luz nicht verlieren
will, können Ursachen dafür sein. Außerdem will Mariana keine Schuld auf ihre
Familie kommen lassen, schließlich wurde sie in dieser Militärfamilie sozialisiert.
Außerdem gibt es Sichtweisen, die sich keiner der beiden verfeindeten Seiten
zuordnen lassen. Besonders diese Menschen, die ein normales Leben in der
Gesellschaft führen, sind Elsa Osorio wichtig. Die Prostituierte Miriam, Eduardo
und Luz stehen für diese mittlere Perspektive und gleichzeitig für eine breite
Masse in der argentinischen Bevölkerung (vgl. Pohl 2001: 57).
Hinsichtlich der Fokalisierung ist es interessant, dass die Opfer und Täter eher
von außen dargestellt werden, während von Miriam, Eduardo und Luz eine Innensicht gegeben wird. Außerdem betrachten diese drei Figuren die Opfer und
Täter jeweils subjektiv, was dem Leser auch genügend Eindrücke der anderen
Figuren verschafft.
Das Handlungskonzept der Figuren von Primavera con una esquina rota und
von A veinte años, Luz ist völlig verschieden.
These: In Primavera con una esquina rota spielen politische Ideen und Ideologien eine Rolle, während sich die Handlungsmotive der Figuren in A veinte
años, Luz als emotional und zutiefst menschlich darstellen.
30
Während Elsa Osorio politische Ideologien außen vorlässt, werden die politischen Einstellungen der Figuren und Mario Benedettis in Primavera con una
esquina rota erkennbar. Zwar fällt das Wort Tupamaros nicht im Roman, es ist
aber anzunehmen, dass Santiago zu ihnen gehört. Auch die Begeisterung Benedettis für die kubanische Revolution, seiner politischen Wahlheimat (vgl. Paoletti 1995: 202), wird ersichtlich. Trotzdem ist der Ton des Erzählten bei Benedetti nicht so stürmisch wie bei Elsa Osorio. Bei der Autorin bewegt die Liebe
die Menschen zur Suche nach der Wahrheit. Miriam liebt Lili, wie sie Luz nennt,
und Liliana ist ihr die erste richtige Freundin geworden, obwohl ihre Lebenswelten andere sind. Aus diesen Gefühlen heraus beginnt Miriam für Luz zu
kämpfen, indem sie versucht, sie zu entführen und ihr die Wahrheit über ihre Eltern mitzuteilen. Dolores wiederzusehen und seine Liebe für sie neu zu entdecken, entfacht in Eduardo die Kraft, einen Konflikt mit Alfonso zu provozieren
und nach Luz' Herkunft zu fragen und zu suchen. Durch die Liebe zu Ramiro
und Juans Geburt beginnt Luz mit ihren Nachforschungen.
Hier lässt sich erkennen, dass die beiden Romane in unterschiedlichen Erzähltraditionen stehen. Bei Primavera con una esquina rota stehen die politischen Einstellungen, bei A veinte años, Luz die Emotionen im Vordergrund.
5.2.2 Inhaltliche Unterschiede
Auch wenn der thematische Rahmen für beide Bücher die Militärdiktaturen in
Südamerika sind, so unterscheiden sich die speziell behandelten Themen.
Während in Primavera con una esquina rota das Thema des Exils im Mittelpunkt steht, behandelt A veinte años, Luz das Thema des Kinderraubs und der
Identitätssuche.
Ebenso wie die spezifischen Themen unterscheiden sich auch die Aussagen
der beiden Romane. Primavera con una esquina rota bietet uns heute einen
Einblick in die damalige Situation und kann als Frage nach der Zukunft des
Landes Uruguay verstanden werden. Außerdem wird durch Santiagos Worte in
seinem vorletzten Monolog (vgl. Benedetti 1982: 193-209) versucht, Hoffnung
31
zu vermitteln. Der Titel versinnbildlicht diese Hoffnung mit dem Frühling der
über die abgebrochene Ecke – die Diktatur – hinweghilft. Die Diktatur hat Uruguay gebrandmarkt, aber unter ihrem Schatten ist das Land, das vorher war
und das sich jetzt neu schaffen muss, noch zu erkennen. Santiagos Worte auf
dem Flug zu seiner Familie unterstreichen nochmals die hoffnungsvolle Aussage des Buches:
no importa en qué estado calamitoso esté pero yo quiero recuperar mi
primavera / ellos la taparon con hojas secas [...] pero lo que ignoran es
que bajo esas capas de mierda siguien estando la vieja y la nueva
primavera (Benedetti 1982: 198-199)
A veinte años, Luz entwirft einen ganz anderen Blickwinkel. Es wird eine entscheidende Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart in Argentinien aufgezeigt. Die Auswirkungen der Diktatur sind noch heute spürbar. So erklärt sich
auch die ungewöhnliche Rezeption des Romans und die ablehnende Haltung
von argentinischen Verlegern und Buchhändlern. Das Buch ruft zur öffentlichen
Diskussion über das Thema Kinderraub auf und versucht Menschen zu ermutigen, sich auf die Suche nach ihrer Identität zu machen. Außerdem sorgt(e) es
für Aufregung in der argentinischen Gesellschaft, wie Elsa Osorio erläutert:
Eine Frau wie Miriam, ohne große Bildung oder Kultur, [durchschaut die
Dinge] und handelt, und jede(r) Leser(in) muss sich fragen: Warum hast
du nichts gemerkt? (Pohl 2001: 57)
Primavera con una esquina rota und A veinte años, Luz sind aufgrund ihrer unterschiedlichen Entstehungszeit verständlicherweise nicht mit einer ähnlichen
Aussage versehen. Allerdings lässt sich an ihnen beispielhaft eine Entwicklung
des literarischen Umgangs mit den Militärdiktaturen feststellen. 1982 zeichnete sich das Ende der Diktatur(en) schon ab, aber eine Prognose für die Zukunft konnte nicht getroffen werden. Aus Sicht der 90er Jahre oder auch der
heutigen Zeit kann die Militärdiktatur anders dargestellt werden als noch in den
80er Jahren. Die Distanz zum damaligen Geschehenen von A veinte años, Luz
kann Primavera con una esquina rota noch nicht besitzen. Bei Erscheinen von
Benedettis Roman ist die Militärdiktatur noch im Gange und aus diesem Grund
werden die politischen Fronten relativ deutlich. Es entspannte sich ein breiter
32
Diskurs, der einerseits Texte von Tätern enthielt, andererseits Berichte von
Opfern über ihre persönliche Leidensgeschichte. Elsa Osorio meint, „die
Gegenüberstellung vom Folterer und dem Militanten [sei] ein mehr oder weniger
bekanntes Thema“ (Pohl 2001: 57). Nach dem sich dieses Thema abgenutzt
hat, kann ein neuer Trend ausgemacht werden. Der damalige Konflikt von
militanten Guerrillas und dem Militär ist nicht mehr aktuell, dennoch bleiben die
Nachwirkungen der Diktatur bestehen. Um das Thema neu zu beleben, entwirft
Elsa Osorio einen spannungsgeladenen Roman voller Emotionen, der oftmals
mit einem Kriminalroman verglichen wird.
La novela [...] es un thriller de suspenso casi policial que resulta imposible abandonar (Maruja Torres, zitiert nach DyN 2000).
Neue Perspektiven und Themen, die in der offiziellen Geschichtsschreibung
nicht vorkommen, werden bearbeitet (vgl. Schlickers 2008: 124). A veinte años,
Luz lässt sich der subjektiven Welle von Erzählungen über die Diktatur zuordnen. Der Roman nimmt sich kritisch und distanziert der argentinischen Vergangenheit und Gegenwart an. Nunca más, die Ley de Punto Final und die Ley de
Obediencia Debida werden erwähnt. Dies sind für Argentinien drei wichtige
Eckpunkte des Umgangs mit der Vergangenheit. Luz verschlingt die Berichte
der Opfer, die in Nunca más aufgezeichnet wurden. Sie ist erschüttert über diese Erkenntnisse, die sie vorher nicht hatte. Dies widerspricht Beatriz Sarlos Annahme einer wenig selbstkritischen Verarbeitung der Diktatur in Argentinien.
Bei der Wahl der Protagonisten ist interessant zu beobachten, dass in A
veinte años, Luz meistens Frauen entscheidende Rollen spielen. Die Identifikation mit Miriam und Luz ist über große Teile des Romans gegeben. Elsa Osorio
betont, dass es in Argentinien Frauen - wie die Mütter und Großmütter der Plaza de Mayo - waren, die während der Militärdiktatur Widerstand leisteten. Deshalb sei es kein Zufall, dass sie in ihrem Buch viele weibliche Charaktere auftreten lässt (vgl. Mallo 1998). Die einzige männliche Figur, über dessen Innenleben der Leser etwas erfährt, ist Eduardo.
Bei Primavera con una esquina rota ist es schwieriger sich auf wenige Protago33
nisten festzulegen. Sicher nimmt Santiago eine besondere Rolle ein. Dennoch
sind alle anderen Figuren und Mario Benedetti ebenfalls wichtig.
5.3 Vergleich im Überblick
Die folgende Tabelle weist in aller Kürze alle zuvor behandelten Vergleichspunkte aus und ordnet ihnen die Entsprechungen in den beiden Romanen zu.
Vergleichspunkt
Primavera con una
esquina rota
A veinte años, Luz
Formale Ähnlichkeiten
mehrere Erzähler
Benedetti, Santiago, Rafael, Miriam, Eduardo (tú),
Beatriz, heterod. Erzähler
Luz, heterod. Erzähler
Heimat & Identität
über Sprache dargestellt
über Sprache dargestellt
Inhaltliche Ähnlichkeiten
übergeordnetes Thema
Militärdiktatur
Militärdiktatur
Gewaltdarstellung
eher implizit
eher implizit
Formale Unterschiede
Einteilung (Schlickers)
Exil, literatura de proceso
Exil, Post-Diktatur-Literatur
Erzählstruktur
damalige Gegenwart +
Rückblick + Distanz
Ungewissheit über Zukunft
Perspektiven
Gruppe (inneres &
äußeres Exil, Benedetti)
+ betroffen
Gesellschaft
(Täter, Opfer, Mitte)
+ distanziert
Handlungskonzept (Figuren) politisch, Ideen
menschlich, Emotionen
Erzählweise
stürmisch
ruhig
Inhaltliche Unterschiede
spezifisches Thema &
Sinnintention
Exil; Allegorie
Identitätssuche;
Diskussion anregen
Protagonisten
heterogen, gleichgewichtet zwei Frauen, ein Mann
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6. Fazit
Welches Verständnis der Militärdiktaturen die Autoren vermitteln möchten, soll
an dieser Stelle auf den Punkt gebracht werden.
Mario Benedettis Roman gewährt einen guten Einblick in die neuen Erzähltechniken der 80er Jahre, die Spiller (2002: 469) erwähnt. Fragmentiert und polyphon werden traditionelle Erzählstile virtuos eingesetzt. Obwohl Benedetti exiliert war, gibt sein Roman in verschlüsselter Weise und nur zwischen den Zeilen
(wie in Santiagos Briefen) seine Botschaft an den Leser weiter. Die Allegorie
mithilfe derer sich das Schicksal einer Familie auf die Geschichte eines Landes
übertragen lässt, steht im Mittelpunkt von Primavera con una esquina rota. In
einer poetischen ruhigen Sprache, aber auch mit etwas Humor wird die Ungewissheit über die Zukunft der uruguayischen Gesellschaft für den Leser nachvollziehbar. Das Gefühl der Hoffnung und eine positiv gesinnte Aufbruchstimmung sind besonders am Ende des Romans zu spüren. Hierin manifestiert sich
ein Ausdruck der damaligen Stimmung und Situation der uruguayischen Bevölkerung oder zumindest der Exil-Uruguayer.
Elsa Osorios Roman lässt sich dem von Beatriz Sarlo (2005: 49-50) geschilderten Trend subjektiver Erzähltexte zuordnen. Mit A veinte años, Luz werden neue Impulse zum Nachdenken gegeben und zur Diskussion über die argentinische Gesellschaft und ihre jüngste Geschichte angeregt. Aber auch außerhalb Argentiniens wird dem Buch Aufmerksamkeit geschenkt, da auch Menschen anderer Länder durch Schwierigkeiten bei der Aufarbeitung der eigenen
Vergangenheit für das Thema sensibilisiert sind. Ohne politische Handlungen in
den Vordergrund zu stellen, sondern mit einer spannenden Sprache voller Emotionen wird Erinnerungskultur gestaltet. Handlungen, die aus rein menschlichen
Motiven geschehen, sollen das Thema für möglichst viele Leser zugänglich machen. Der escritura femenina verbunden, verweist A veinte años, Luz mit seinen
vielen Frauenfiguren auf die zentrale Rolle von Frauengruppen wie den Madres
und Abuelas de Plaza de Mayo.
35
Der Roman legt es sehr wohl darauf an, verständlich zu machen, was damals
geschah und fordert kein blindes Erinnern. Damit wäre Beatriz Sarlos Forderung nachgekommen, ein Begreifen zu fördern und etwas mehr Analyse als nur
Meinungen über die Militärdiktatur zu produzieren. Das Bild, das von der Militärdiktatur bisher vorherrschte, war eventuell sehr einseitig und soll mit diesem
Roman überdacht und differenzierter werden.
Beim Vergleich der beiden Romane wurden besonders viele formale Unterschiede deutlich. Für die literaturwissenschaftliche Untersuchung helfen die formalen Charakteristika sehr, um unterschiedliche Erzählweisen festzumachen.
Mario Benedettis Erzähltechniken in Primavera con una esquina rota sind sehr
ausgefeilt, der Roman ist in Fragmente gegliedert und verwendet teilweise eine
lyrische Sprache. Elsa Osorio glänzt dagegen mit ihrer einfachen Sprache, die
distanziert ist und gerade deshalb mehrere Perspektiven aufzeigen kann, ohne
an Glaubwürdigkeit zu verlieren. Es wäre zu vermuten, dass Primavera con una
esquina rota sich eher an ein intellektuelles Publikum richtet, während A veinte
años, Luz für eine breite Masse an Lesern geschrieben wurde.
Als ein Ergebnis dieser Arbeit lässt sich ein Trend in der Literatur über die Militärdiktaturen feststellen, der auch von Spillers literaturgeschichtlicher Analyse
gestützt wird. Er reicht von politisch motivierter Literatur der 80er Jahre über
Texte von Militärs, die sich ihrer Verbrechen rühmen und Texte von Opfern, die
ihr persönliches Leid und Schicksal schildern bis hin zu verschiedensten subjektiven Perspektiven auf die Diktatur.
Des weiteren ergibt sich aus dieser Arbeit ein Widerspruch zu Beatriz Sarlos
Annahme einer wenig selbstkritischen Aneignung der Militärdiktaturen. In A
veinte años, Luz wird sehr wohl eine Kritik einerseits am Regime der Militärs
und andererseits an der gesellschaftlichen Aufarbeitung dieses geschichtlichen
Kapitels Argentiniens deutlich. Die Erwähnung vergangenheitsverdrängender
Gesetze und die Beschäftigung von Luz mit Nunca más soll dem Leser begreif36
lich machen, dass es besser ist, die Wahrheit zu kennen, auch wenn es schwer
fällt. Es wird außerdem aufgezeigt, dass Gesetze für das Vergessen und Vergeben ohne Gerechtigkeit, Wunden nicht heilen können, sondern nur zu einer größeren Kluft in der Gesellschaft führen.
Wie die literarische Aneignung der Militärdiktaturen – beispielsweise in einer
neuen Auflage der Lateinamerikanischen Literaturgeschichte von Michael Rössner – weiter diskutiert wird, bleibt abzuwarten. Werden die Militärdiktaturen
auch in Zukunft ein Thema der Literatur im Cono Sur bleiben? Da es noch viele
Menschen gibt, die diese Epoche persönlich erlebt haben und dieses Thema in
Teilen der Gesellschaft noch tabuisiert wird, ist sicher damit zu rechnen, dass
es weiterhin Aktualität behält.
37
7. Literaturverzeichnis
7.1 Primärliteratur
➢
BENEDETTI, Mario
1982 Primavera con una esquina rota, Madrid: Ediciones Alfaguara, S. A.
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40