Ärzteblatt Sachsen 08/2010

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Ärzteblatt Sachsen 08/2010
Medizingeschichte
Heilender Schimmel
Die Entdeckung des
Penicillins
Das St. Mary’s Hospital in London ist
fast ein kleiner Stadtteil für sich. Vom
Haupteingang aus führen zahlreiche
Straßen zu den einzelnen Kliniken
und Gebäuden, die sich im Laufe der
Jahrzehnte unaufhaltsam vermehrt
haben. Es herrscht ein ständiges
Kommen und Gehen, ohne die vielen Wegweiser könnte man sich auf
dem Gelände glatt verlaufen. Das
ursprüngliche Hauptgebäude der Klinik liegt direkt an der belebten
Hauptstraße, auf der ein unablässiger Strom von Autos, Bussen, Lastwagen und Taxis vorbei fließt. Das
ehrwürdige Gebäude aus roten Ziegeln ist mit liebevollem Stuck aus
Sandstein verziert. Eine breite Steintreppe führt zur schweren Eingangstür. Dahinter wird es schlagartig
ruhig, lediglich eine Flügeltür aus
Holz quietscht in den Angeln. Die
Gänge sind still und leer. Das Haus
wirkt, als sei es im Dornröschenschlaf
versunken. Und tatsächlich ist der
einzige anwesende Mensch ein junger Gehilfe, der auf einer Bank im
Flur direkt neben seinem Wäschewagen eingeschlafen ist. Am Ende des
Ganges führt eine steinerne Wendeltreppe durch ein enges Treppenhaus
in die oberen Etagen. Durch eine
schmale Holztür tritt man in ein kleines Labor. Die drei Fenster sind lange
nicht geputzt worden, vom Staub
der Stadt sind sie fast blind, das Sonnenlicht fällt nur gedämpft herein.
Das Zimmer geht nach Süden, auch
ohne Heizung ist es warm hier drin.
Unten auf der Straße sieht man den
Verkehr, dessen Lärm nur noch leise
herauf klingt. Auf den hölzernen
Arbeitstischen an den Fenstern stehen zwei alte Lichtmikroskope und
einige kleine Regale mit Reagenzgläsern. Dazwischen liegen stapelweise
Petrischalen und alte Zeitungen.
Neben dem Mikroskop ist ein Botanikbuch aufgeschlagen, zu sehen ist
die feine Zeichnung eines Schimmelpilzes. In diesem kleinen Raum ereignete sich vor 81 Jahren etwas, das
die Welt verändert hat.
Der 3. September 1928 ist ein typischer Montag. Irgendwann gehen
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Das alte Hauptgebäude des St. Mary‘s Hospital
auch sechs Wochen Sommerferien
zu Ende, und am ersten Arbeitstag
heißt es: Labor aufräumen. Die Mikroskope werden entstaubt, die Petrischalen mit den Nährböden für die
Bakterienkulturen kontrolliert. Nach
so langer Zeit sind sie häufig verunreinigt und dann nicht mehr brauchbar. Alexander Fleming tauscht Ferienanekdoten mit seinem Arbeitskollegen Dr. Hayden aus, der seit einer
Kinderlähmung im Rollstuhl sitzt. Die
Petrischalen sind aus Blech und
scheppern, wenn sie in den Abfallkorb fallen. Wieder ist eine Bakterienkultur verschmutzt. Fleming will
sie gerade wegwerfen, da stutzt er.
Diese eine zögerliche Sekunde wird
die Welt verändern. Auf dem
­Nährboden wachsen Streptokokken,
durch Zufall hat sich ein Schimmelpilz direkt daneben angesiedelt. Um
den Pilz herum aber sind die Bakterienkolonien abgeblasst und teilweise
ganz verschwunden. Ein ärgerlicher
Betriebsunfall, doch Fleming erkennt
auf einen Blick die ungeheure Bedeutung: der Pilz hat die Bakterien
besiegt! Was keinem Forscher bisher
gelang, schafft ausgerechnet dieser
ungeliebte Schädling. Den Rest seines Lebens wird Fleming darauf verwenden, ihm auf die Spur zu kommen.
Wer ist dieser Mann mit den großen
ernsten Augen, dem bis auf den
heutigen Tag unzählige Menschen
ihr Leben zu verdanken haben? Alexander Fleming wurde am 6. August
1881 im schottischen Lochfield geboren. Mit 13 Jahren verließ der Bauernsohn sein Heimatdorf und zog zu
seinem älteren Bruder nach London.
Dort schlug er sich zunächst als Versandarbeiter bei einer Schiffgesellschaft durch, ein Job, den er hasste.
Die Erbschaft eines Onkels ermöglichte ihm unverhofft, Medizin zu
studieren. 1901 schrieb er sich in der
St. Mary‘s Hospital Medical School
ein. Man sagt, dass er gerade dieses
Krankenhaus auswählte, weil es eine
besonders gute Wasserpolomannschaft hatte, denn Fleming war ein
begeisterter Sportler. Allerdings muss
er auch in seinem Fach fleißig gewesen sein, denn 1908 erhielt er die
Goldmedaille der Universität von
London als bester Medizinstudent
seines Jahrgangs. Eigentlich wollte er
Chirurg werden, da aber keine Stelle
frei war, nahm er einen Job in der
Impfabteilung an. Aus der Wartestelle wurde eine Lebensstellung. Die
Arbeit dort gefiel ihm so sehr, dass er
beschloss, Bakteriologe zu werden.
Es ist ein ironischer Spielzug des
Schicksals, dass letztendlich die Entdeckung des Penicillins der Chirurgie
mehr half, als der beste Meister seines Faches es vermocht hätte.
Die Jahrhundertwende ist das große
Zeitalter der Bakteriologie. Louis Pasteur und Robert Koch konnten be­­
weisen, dass die gefürchteten Krankheiten und die schlimmsten Seuchen
der Zeit durch Bakterien hervorgerufen wurden. Ihre Gestalt ist bekannt,
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Medizingeschichte
Die ersten Flaschen mit stabilem Penicillin
sie tragen eindrucksvolle Namen,
aber es gibt kein Gegenmittel.
Im Winter des Jahres 1921 hatte Alexander Fleming wie Tausende Londoner einen Schnupfen. Während der
Arbeit tropfte es aus seiner Nase und
fiel in die Petrischale auf dem
Arbeitstisch. Fleming beobachtete,
dass sich die Bakterien daraufhin auflösten. Seine Untersuchungen zeigten, dass sich im Nasensekret und
mehr noch in der Tränenflüssigkeit
Stoffe befanden, die Bakterien abtöten konnten. Lysozym nannte er
diese geheimnisvolle Verbindung, das
erste menschliche Enzym mit antibakterieller Wirkung. Für seine Versuche brauchte er jede Menge Tränen, und damit kamen schwere Zeiten auf seine Mitarbeiter zu. Die
nämlich mussten sich Zitronenscheiben in die Augen klemmen, damit
die Tränen reichlich flossen. Die seltsamen Versuche des Dr. Fleming
wurden zum Gesprächsstoff in der
ganzen Stadt, Zeitungskarikaturen
zeigten Schulkinder, die übers Knie
Flemings Arbeitsplatz mit seinem Mikroskop
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gelegt und verprügelt werden, während ihre Tränen mit Trichtern in
Kanister abgefüllt werden. Leider
blieben alle diese Mühen ohne Erfolg,
die Lysozyme zerstörten nur harmlose Bakterien, während die gefährlichen Streptokokken davon unbeeindruckt blieben.
Das ändert sich erst an jenem Septembertag des Jahres 1928, als Fleming auf den wundersamen Schimmelpilz stößt, und nun forscht er
ruhelos. Er blättert Bücher, befragt
Botaniker und findet heraus, dass es
sich bei seinem Pilz um Penicillum
notatum handelt. Den Wirkstoff, der
im Schimmelsaft existieren muss,
nennt er deshalb von nun an Penicillin. Versuche zeigen, dass dieser
machtvolle Pilz, der unter dem Mikroskop aussieht wie ein Blumenstrauß, für Menschen unschädlich ist.
Der Mitarbeiter Stuart Craddock verzehrt eine Probe des Schimmelpilzes
und befindet, dass er wie Stilton
Käse schmeckt. Er versucht, damit
seine Nebenhöhlenentzündung zu
kurieren, hat aber keinen Erfolg.
Nach einigen erfolglosen Behandlungsversuchen wird es wieder still
um Flemings Entdeckung. Es gelingt
einfach nicht, den Wirkstoff zu analysieren und zu isolieren.
Ernst Chain ist ein deutscher Biochemiker, der 1933 am Anfang einer
hoffnungsvollen Karriere steht. Seit
Abschluss seines Studiums arbeitet
er an Deutschlands berühmtestem
Krankenhaus, der Berliner Charité.
Als Hitler an die Macht kommt, ist
ihm klar, dass er als Halbrusse und
Jude mit linken politischen Ansichten
in diesem Land keine Zukunft hat. Er
flieht vor den Nationalsozialisten
nach England und bekommt eine
Stelle als Chemiker an der Universität
Oxford. Zehn Jahre nach Flemings
Entdeckung macht sich sein Team
nun daran, den erstaunlichen Schimmelsaft systematisch zu erforschen.
England ist im Krieg, die allgemeine
Mangelversorgung führt zu aben­
teuerlichen Arbeitsbedingungen. Zur
Laborausrüstung gehören Milchkannen, Bettpfannen und Badewannen.
Falls es zu einer Invasion durch die
Deutschen kommen sollte, planen
die Forscher, Proben des Schimmelpilzes auf die Innenseite ihrer Jacken
zu schmieren und damit nach Nordamerika zu entkommen. Unter diesen widrigen Umständen gelingt es
Ernst Chain, das Penicillin zu isolieren, zu reinigen und zu einem wirksamen Medikament zu verarbeiten.
Am 12. Februar 1941 ist es schließlich soweit: der neue Wirkstoff wird
zum ersten Mal an einem Patienten
ausprobiert. Albert Alexander, ein 43
Jahre alter Polizist aus Oxford, hatte
sich bei der Gartenarbeit an einem
Rosenstrauch verletzt. Die scheinbar
harmlose Wunde entzündete sich,
dann breitete sich die Infektion im
gesamten Körper aus. Alexander verlor ein Auge und es war nur eine
Frage der Zeit, bis er an der Blutvergiftung sterben würde. In dieser aussichtslosen Situation erhält er als erster Mensch Penicillin gespritzt, und
wie durch ein Wunder bessert sich
sein Zustand. Innerhalb von 24 Stunden sinkt das Fieber, sein Appetit
kehrt zurück und die Infektion
scheint überwunden. Dann aber geht
der Vorrat an vorhandenem Penicillin
zur Neige. Eine Zeit lang kann man
einen Teil aus dem Urin des Patienten zurückgewinnen und erneut injizieren. Bald jedoch ist die Aktivität
des Wirkstoffs erschöpft und Albert
Alexander stirbt.
Unter diesem Eindruck wählt man für
den zweiten Behandlungsversuch
bewusst ein Kleinkind, weil es
wesentlich kleinere Dosen des neuen
Wirkstoffs benötigt. Die alten Filmaufnahmen von damals sind schwarzweiß, sie sind wackelig und haben
jede Menge Kratzer. Dennoch ist
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Medizingeschichte
ten mit Penicillin geheilt wurden.
Denn zunächst wurde der neue
Wirkstoff auf den Schlachtfeldern
des Zweiten Weltkriegs eingesetzt,
da Winston Churchill frühzeitig seine
militärische Bedeutung erkannt hat­
­te. Für die militärische Kampfkraft
erwies sich das Medikament als
ebenso wichtig wie die Munitionsvorräte. Alte Filmaufnahmen zeigen,
dass das Penicillin direkt in die infizierten Wunden gespritzt wurde.
Wesentlich undramatischer, aber
umso häufiger wurde das Penicillin
allerdings zur Behandlung von Ge­­
schlechtskrankheiten der Soldaten
eingesetzt.
Kirchenfenster der St. James‘ Church in
Paddington
deutlich zu erkennen, dass dieses
Kind eine ausgedehnte Entzündung
hinter den Augen hat. Die gesamte
Augenhöhle ist dick angeschwollen,
das Kind ist todgeweiht, die verzweifelten Eltern willigen in den Versuch
ein. Auch diesmal tritt eine eindrucksvolle Besserung ein, die
Schwellung bildet sich zurück, der
kleine Patient erholt sich. Dann aber
bricht die Entzündung ins Gehirn ein,
es kommt zu einer Hirnblutung, an
der das Kind stirbt.
Wie man heute weiß, war die Anreicherung des Penicillins in den ersten
Jahren nur unvollständig, die verwendeten Medikamente hatten
gegenüber heute nur einen etwa
zehnprozentigen Penicillingehalt. Von
daher ist es nicht verwunderlich, dass
manche Behandlungen nicht erfolgreich waren. Dennoch bedeutete es
eine medizinische Revolution. Bis
dahin konnte man gegen bakterielle
Infektionen fast nichts unternehmen.
Eine Lungenentzündung oder Hirnhautentzündung endete häufig tödlich. Kleinste Verletzungen führten
nicht selten zu einer Blutvergiftung.
Ein Viertel aller chirurgischen Patienten starben regelmäßig an postoperativen Infektionen. Das gefürchtete
Kindbettfieber verlief nahezu immer
tödlich. Es sollten aber noch einige
Jahre vergehen, bis solche KrankheiÄrzteblatt Sachsen 8 / 2010
Erst nach dem Krieg stand das Penicillin auch für die Zivilbevölkerung
zur Verfügung. Die geheimnisvolle
Wunderkur, bisher für den Normalverbraucher unerreichbar, zog nun
die Aufmerksamkeit auf sich. Man
verband mit ihr höchste Erwartungen und die Hoffnung auf eine neue,
bessere Zukunft nach den düsteren
Jahren des Krieges. Es entstand eine
regelrechte Euphorie, die sich bis
zum modischen Irrsinn steigerte. Bald
schon fand das Penicillin seinen Platz
im täglichen Leben, wie auf bunten
Werbeplakaten der Fünfzigerjahre zu
sehen ist. Die Zahnpasta wurde
damit versetzt, ein Lippenstift mit
Penicillin sollte den perfekt hygienischen Kuss garantieren. Die Kehrseite dieses maßlosen und auch von
den Ärzten praktizierten unkritischen
Einsatzes von Penicillin zeigte sich
erst Jahre später. Es kam zur Ausbildung von Resistenzen, die diese
neue Waffe im Kampf gegen Krankheiten stumpf machte. In einem
ständigen Wettlauf mussten immer
neue Wirkstoffe entwickelt werden,
um Infektionen zu heilen.
Alexander Fleming wandte nur ein
einziges Mal Penicillin bei sich selbst
an, als er im letzten Lebensjahr an
Lungenentzündung erkrankte. Während der gesamten Arbeitsjahre
inmitten von Bakterienkulturen hatte
er sich nie mit Keimen angesteckt.
Die Entdeckung des Penicillins
brachte Fleming weltweiten Ruhm
ein. Er wurde mit Ehrungen überhäuft und von der Königin zum Ritter
geschlagen. Der Höhepunkt war der
Ärzteblatt Sachsen
ISSN: 0938-8478
Offizielles Organ der Sächsischen Landes­
kam­­
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Medizingeschichte
Nobelpreis für Medizin, den er 1945
gemeinsam mit Ernst Chain und dem
Pathologen Howard Florey für die
Entdeckung und Entwicklung des
Penicillins zuerkannt bekam. Fleming,
der Zeit seines Lebens ein leidenschaftlicher Raucher war, starb am
11. März 1955 an einem Herzanfall.
Seine Asche ist in der Krypta der
Sankt Pauls Kathedrale in London
begraben. Nicht weit von der Klinik
entfernt, in der Fleming seine weltbewegende Entdeckung machte,
steht die St. James‘ Church. Ein Kirchenfenster zeigt Alexander Fleming
im weißen Kittel, wie er in seinem
Labor eine Petrischale gegen das
Licht hält.
Dr. med. Martin Glauert
Zwehrener Weg 44
34121 Kassel
Anmerkung: Auch der Autor ver- tet wird das Museum von dem Medidankt dem Penicillin sein Leben. zinhistoriker Kevin Brown, der auch
Seine Mutter erkrankte nach der
selbst Besucher durch die Räume
Geburt eines älteren Geschwisters an
führt und lebendig zu erzählen
Kindbettfieber und wäre ohne dieses
weiß.
Medikament gestorben.
„Alexander Fleming Laboratory
Museum“
Information:
St. Mary’s Hospital
Das „Alexander Fleming Laboratory
Praed Street, Paddington
Museum“ wurde 1993 in dem Labor
London W2 INY
eingerichtet, in dem Fleming jahre- Tel.: 020-7886-6528 oder
lang arbeitete und auch das Penicillin
020-3312-6528
entdeckte. Die originale Ausstattung
E-Mail: [email protected]
ist dort nahezu unberührt zu sehen. Geöffnet Montag bis Donnerstag
In Nebenräumen kann man alte Film- 10 – 13 Uhr.
aufnahmen ansehen. Zahlreiche Aus- Eintritt: Erwachsene 2,00 Pfund,
stellungsstücke, Briefe und Plakate
Kinder und andere Ermäßigungen
drehen sich um die Entdeckung des 1,00 Pfund.
Penicillins und beleuchten die Wir- Verkehrsverbindung: Underground
kung, die diese Entdeckung auf die
Station Paddington.
Gesellschaft bis heute ausübt. Gelei- Buslinien 7,15,27,36.
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