Wenn die Seele vereist

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Wenn die Seele vereist
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07.12.2007
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Frauke Teegen
Wenn die Seele vereist
Traumatische Erfahrungen verstehen und überwinden
Kreuz
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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
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Satz: de·te·pe, Aalen
Druck: Clausen & Bosse, Leck
ISBN 978-3-7831-3041-6
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Inhalt
Vorwort
1 Das Trauma verstehen
Traumatische Lebenserfahrungen
Spaltungen im Bewusstsein
Wenn Opfer ihre Täter schützen
Wie Körper und Seele reagieren –
posttraumatische Belastungsstörungen
Exkurs: Die Entdeckung der
»Posttraumatischen Belastungsstörung«
Wenn die Erinnerung immer wiederkehrt
Komplizierte Trauer und andere Folgestörungen
Veränderungen im Gehirn
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2 Traumatische Erfahrungen überwinden
Wer wird krank – wer bleibt gesund?
Notfallpsychologie
Wie man Selbstheilungskräfte stärken kann
Traumatherapie
Bildersprachen
Zeugnisse über Gewalttaten
Traumatisierte Kinder und Jugendliche
Ein Trauma im Alter bewältigen
Reifungsprozesse nach dem Trauma
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3 Berichte von Überlebenden
Attentat auf eine Tennisspielerin: Monica Seles
In Extremis: Einen Flugzeugabsturz überleben
Entführung einer Lufthansa-Maschine:
Gabriele von Lutzau
Das Gefängnis im Innern: Béatrice Saubin
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Die Suche nach Sinn: Viktor Frankl
Familiengeheimnisse: Gisela Heidenreich
Auf der Todesliste der Stasi: Wolfgang Welsch
Die Kronzeugin: Leila Zisko
Obszöne Anrufe: Richard Berendzen
Flucht aus der Licht-Oase: Lea Laasner
In der Eiswüste: Jerri Nielsen
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214
225
243
252
268
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Nachwort
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Anmerkungen
Weiterführende Literatur
Internet-Ressourcen
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Vorwort
Vor zwanzig Jahren arbeitete ich als Therapeutin vor allem
mit Menschen, die unter Somatisierungsstörungen litten –
das sind körperliche Symptome ohne medizinischen Befund. Wenn es den Patienten im Lauf der Behandlungen
gelang, ihre körperlichen und seelischen Beschwerden mit
Lebenserfahrungen und Gefühlen zu verbinden, traten oftmals grauenvolle und durchaus glaubwürdige Erinnerungen
zu Tage. Das Ausmaß sexueller Misshandlungen in der
Kindheit, das sich hinter dem körperlichen Leiden versteckte,
war erschreckend. Eine Befragung von Hamburger Therapeutinnen und Therapeuten zeigte, dass viele ähnliche Erfahrungen von ihren Patienten berichtet wurden. Aber wie
konnte man heilsam mit solchen seelischen Verletzungen
umgehen? Waren sie überhaupt zu heilen? Erhebungen wiesen auf ein hohes Ausmaß von Gewalt gegen Kinder durch
überwiegend männliche Täter hin. Die Erforschung komplexer Folgestörungen stand ganz am Anfang, Informationen über wirksame Behandlungskonzepte gab es noch nicht.
Ich beschloss, die Betroffenen selbst nach ihren Erfahrungen, Beschwerden und Bewältigungsversuchen zu fragen.
Mit diesem Forschungsprojekt begann eine abenteuerliche
und außerordentlich lehrreiche Phase in meinem Leben.
Offensichtlich hatte ich ein Tabuthema berührt. Plötzlich
stürmten Frauengruppen in mein Büro. Sie waren nicht
damit einverstanden, dass wir bei dem Projekt auch Männer
eingeladen hatten, über sexuellen Missbrauch in der Kindheit zu berichten, und dass wir davon ausgingen, dass auch
Frauen Kinder missbrauchten. Außerdem, so wurde uns
vorgeworfen, sei es unverantwortlich, die Opfer durch eine
solche Befragung noch weiter zu schädigen. Ich konnte es
nicht fassen, dass Menschen, nur weil sie Schreckliches
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erlebt hatten, jegliche Fähigkeit zu Selbstbestimmung – z.B.
selbst zu entscheiden, ob sie einen Fragebogen ausfüllen
und zurücksenden wollten – abgesprochen wurde. Über
2000 Personen forderten unseren Fragebogen an. 540
Frauen und 35 Männer schickten ihn sorgfältig ausgefüllt
zurück – einige hatten aus der Psychiatrie oder sogar aus
dem Gefängnis geantwortet. Alle hatten mit ihren Berichten, die vielen sehr schwergefallen waren, dazu betragen
wollen, dass die Folgen des sexuellen Kindesmissbrauchs
gesellschaftlich stärker wahrgenommen würden.
Einige Ergebnisse waren zunächst nicht leicht zu begreifen. Betroffenen, die sich mehrfach in Therapie begeben
hatten, ging es deutlich schlechter als Personen, die ähnlich Schreckliches erlebt hatten, kaum Therapieerfahrung
hatten, jedoch in guten und vertrauensvollen Partnerschaften lebten. Hilft die Therapie nicht? Doch, erkannte ich in
den nächsten Jahren, aber nicht jede Therapie. Traumatisierte Menschen benötigen eine sehr spezifische Behandlung. Auf internationalen Kongressen wurden zunehmend
Forschungsergebnisse präsentiert, die einen Einblick in die
Besonderheiten des psychischen Erlebens und der biologischen Regulationen von traumatisierten Menschen gaben.
Auf dieser Basis wurden schließlich wirksamere Behandlungsmethoden entwickelt.
Durch die Begegnungen mit Kollegen aus Skandinavien,
den Niederlanden, Großbritannien und den USA wurde mir
peinlich bewusst, wie wenig ich über seelische Traumatisierung und die spezifischen Folgeschäden wusste. Mein Wissensdefizit hatte damit zu tun, dass ich in Deutschland
arbeitete und dass dieses Thema hier sehr viel später als in
anderen Ländern in das Bewusstsein der Fachleute geriet.
Auf einem Kongress der Europäischen Gesellschaft für
Psychotraumatologie, der 1995 in Paris stattfand, wären wir
zwölf deutschen Wissenschaftler fast untergegangen – hätte
man uns nicht in der Eröffnungssitzung ganz besonders
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begrüßt und gewürdigt. Ein renommierter niederländischer
Kollege erklärte später feindselig, man habe sehr lange
überlegt, ob man deutsche Wissenschaftler – in Anbetracht
der Untaten der Deutschen im Zweiten Weltkrieg – überhaupt in die Europäische Gesellschaft aufnehmen sollte. An
herablassende und feindselige Bemerkungen gegenüber
Deutschen war ich durch viele Reisen durchaus gewöhnt.
Dass dies auch in einem wissenschaftlichen Rahmen geschah, hatte ich nicht erwartet. Mein Ärger inspirierte
schließlich mehrere Forschungsprojekte, in denen ich mich
mit dem Leiden der deutschen Zivilbevölkerung am Ende
des Zweiten Weltkriegs und den Langzeitfolgen befasste.
Während der internationalen Tagungen lernte ich, dass
die Auseinandersetzung mit seelischem Trauma gefährlich
sein kann. In Jerusalem und Istanbul detonierten Bomben
in der Nähe der Tagungszentren. Bei Veranstaltungen, in
denen zu viele Zeitzeugen über furchtbare Geschehnisse berichteten, verloren auch renommierte Experten die Fassung,
etliche Teilnehmer erkrankten. Mir hat es immer wieder geholfen, die oftmals überwältigenden Erfahrungen, die komplizierten Forschungsergebnisse sowie meine Gefühle und
Fragen mit Kollegen – vor allem in meiner Muttersprache –
offen besprechen zu können.
Mit vielen Kollegen entwickelte sich eine fruchtbare und
freundschaftliche Zusammenarbeit, u.a. mit Sahika, einer
engagierten Professorin an der Universität von Istanbul. Sie
ging das Tabuthema »sexuelle Gewalt« sehr viel klüger an
als ich. Ihr war deutlich bewusst, dass sie mit der Erforschung sexueller Gewalt gegen Frauen und Kinder ein brisantes Tabu in ihrer Kultur berühren würde. So plante sie
ihre Strategie äußert umsichtig: Sie lud eine auswärtige Expertin ein – diese Rolle übernahm ich – und organisierte
Vorträge in verschiedenen Fachbereichen ihrer Universität,
für die Öffentlichkeit und in der Frauenbewegung. Abends
diskutierten wir in romantischen Lokalen am Bosporus oder
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eleganten Universitätsclubs am Goldenen Horn, wie ich das
Thema für Mediziner, Juristen und andere Gruppen jeweils
angehen sollte. Auf der Heimfahrt verstummten wir meist –
ein Auto mit zwei Frauen ohne männliche Begleitung
konnte jederzeit von einer Polizeistreife angehalten werden.
Für den Notfall hatten wir die Telefonnummer eines befreundeten Rechtsanwalts dabei. In den folgenden Jahren
erlebten wir auf verschiedenen Tagungen mit großer Befriedigung, dass dem Thema »sexuelle Gewalt« zunehmend
mehr Beachtung geschenkt wurde. Trotz ihrer Umsicht
konnte auch Sahika negative Reaktionen auf ihr Engagement nicht verhindern: Als sie 1999 als Präsidentin der
Europäischen Traumagesellschaft einen Kongress in Istanbul organisierte und dazu wie üblich auch Schriftsteller und
Zeitzeugen zum Thema Gewalt einlud, wurden politische
Gruppierungen auf sie aufmerksam und versuchten, Einfluss auf ihre Tätigkeit zu nehmen.
Über viele Jahre geriet ich in eine Zeitströmung, in der zu
Themen der Psychtraumatologie relevante Fragen gestellt
wurden und intensiv nach Antworten gesucht wurde. Inzwischen hat sich herauskristallisiert, dass lebensbedrohliche
Ereignisse wie schwere Unfälle, Katastrophen und Gewalttaten durchaus nicht selten sind und dass solche Erfahrungen zu massiven Belastungsstörungen führen können.
Neben der krankheitsorientierten Forschung haben sich auch
Ansätze entwickelt, die sich mit Fähigkeiten und Kraftquellen beschäftigen, die es Menschen ermöglichen, seelische
Ausnahmesituationen gut zu bewältigen. Im Zusammenhang mit diesen Erkenntnissen wurden psychosoziale Hilfen entwickelt, die das Erkrankungsrisiko nach katastrophalen Ereignissen begrenzen sollen, wie auch wirksame
Behandlungskonzepte, die in relativ kurzer Zeit zu einer
deutlichen und stabilen Reduktion posttraumatischer Beschwerden führen können.
Meine psychotherapeutische Tätigkeit hat mir gezeigt,
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dass sich die Erkenntnisse der Forschung in der Praxis wirklich bewähren. Dabei habe ich auch erfahren, dass Menschen durch Schicksalsschläge seelisch schwer verletzt und
zugleich auch sehr stark sein können. Manche hatten eine
Hölle der Gewalt überlebt und waren dennoch fähig, die
Hoffnung zu wählen und an das Leben zu glauben.
Beim Schreiben des vorliegenden Buches lag mir daran,
für Menschen, die ein seelisches Trauma erlitten haben, für
ihre Angehörigen und andere interessierte Personen wichtige Informationen der Psychotraumatologie verständlich
darzustellen. Das Buch gliedert sich in verschiedene Teile.
Zunächst werden Erlebnisse während und nach traumatischen Erfahrungen sowie Krankheits- und Genesungsprozesse erläutert und mit zahlreichen Beispielen veranschaulicht. Abschließend kommen Menschen ausführlicher zu
Wort, die grauenhafte Ereignisse überlebt und seelisch
überwunden haben. Diese Geschichten vermitteln einen
Einblick in oftmals qualvolle Erfahrungen und zeigen zugleich, wie die mutige Auseinandersetzung mit dem Leiden
Genesungsprozesse fördern und ein tiefes Verständnis für
existentielle Fragen erschließen kann.
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1 Das Trauma verstehen
Und Taten unnatürlich
erzeugen unnatürliche Zerrüttung.
William Shakespeare, Macbeth
Amygdala. Was bedeutet es?
Nichts. Es ist eine Stelle. Es ist der dunkle
Fleck des Gehirns.
Ein Ort, wo erschreckende Erfahrungen
beherbergt werden.
Michael Ondaatje, Anils Geist
Monica Seles, ein Wunderkind des Tennissports, 19 Jahre
alt und auf Platz eins der Damen-Weltrangliste, wird in
Hamburg von einem Attentäter hinterrücks mit einem Messer angegriffen und schwer verletzt. – Sechzehn junge Männer überleben einen Flugzeugabsturz in den Anden und
sehen sich ohne Nahrungsmittel eisiger Kälte ausgesetzt. –
Während ihres Rückflugs nach Deutschland werden Urlauber und Crew plötzlich von Terroristen mit Pistolen und
Handgranaten bedroht. – Eine junge Frau wird bei der
Ausreise aus Malaysia festgenommen und landet in der
Todeszelle; ein Liebhaber hatte ihr einen Koffer mit Heroin
untergeschoben. – Der erfolgreiche Radrennsportler Lance
Armstrong geht zum Arzt und erfährt, dass seine Beschwerden durch einen Hodenkrebs ausgelöst werden. Seine Chancen, die weit fortgeschrittene Krankheit zu überleben, sind
äußerst gering.
Diese Ereignisse haben etwas gemeinsam: Die Personen
durchleben eine seelische Ausnahmesituation, die ihr Leben
bedroht und verändert.
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Erfahrungen, die mit dem Tod, mit Gewalt und dem Bösen
konfrontieren, können eine schwerwiegende seelische Verletzung (griechisch: Trauma) erzeugen. Ein seelisches
Trauma wird durch lebensbedrohliche Ereignisse wie
schwere Unfälle, Katastrophen, Gewalttaten verursacht.
Solche Erlebnisse lösen intensive Gefühle von Furcht, Hilflosigkeit und Entsetzen aus. Sie zu bewältigen kann viele
Menschen kurz oder auch langfristig überfordern. Während
traumatischer Ereignisse setzen häufig Bewusstseinsveränderungen ein, die dem Überleben dienen: Panik, Wut und
Schmerzen werden ausgeblendet, die Aufmerksamkeit ist
ganz auf lebensrettende Maßnahmen zentriert. Auch Beziehungen mit extremem Machtgefälle, die durch Demütigungen, Willkür und Gewalt geprägt sind, zwingen die hilflosen
Opfer, Angst, Schmerz und Aggression zu unterdrücken.
Traumatische Erfahrungen sind durchaus nicht selten;
die Mehrheit der Bevölkerung erlebt mindestens einmal
im Leben eine solche existentielle Grenzerfahrung, die sie
aus den vertrauten Lebenszusammenhängen reißt. Fast alle
Betroffenen entwickeln bei einem seelischen Trauma akute
Beschwerden – Desorientierung, Gefühlstaubheit, Angstzustände –, die jedoch häufig aus eigener Kraft und mit
Hilfe tragfähiger sozialer Beziehungen überwunden werden. Acht bis neun Prozent der Bevölkerung leiden unter
einer »Posttraumatischen Belastungsstörung«. Sie zeichnet
sich durch folgende Symptome aus: Schmerzliche Erinnerungen an das schreckliche Erlebnis drängen sich immer
wieder auf. Die Betroffenen vermeiden Situationen, Gefühle und Gedanken, die an das Trauma erinnern könnten. Sie
fühlen sich emotional erstarrt, den anderen nicht mehr
zugehörig. Das anhaltende Bedrohungsgefühl hält auch den
Körper ständig in hoher Erregung und führt zu Reizbarkeit,
Konzentrations- und Schlafstörungen. Wenn das Trauma
nicht überwunden wird und die Belastungsstörung anhält,
entwickeln sich oft zusätzlich Beschwerden – Depression,
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Missbrauch von Alkohol und Drogen sowie körperliche
Erkrankungen.
Posttraumatische Symptome werden durch Besonderheiten der Erinnerungsbildung während und nach seelischen
Ausnahmesituationen erklärt. Eine Schlüsselrolle kommt
dabei spezifischen Prozessen und Veränderungen in Gehirnstrukturen zu, die für die bewusste Erinnerung von zentraler
Bedeutung sind.
Traumatische Lebenserfahrungen
Was ist ein belastendes Lebensereignis – und was ist ein
Trauma?
In der Umgangssprache werden viele Situationen als »traumatisch« beschrieben, z.B. Scheidung, der Verlust des Arbeitsplatzes oder Mobbing. Solche Situationen können sehr
belastend sein, »Stress« erzeugen und uns in eine Krise führen – sie sind jedoch nicht wirklich traumatisch.
Belastende Lebenserfahrungen
Situationen, die uns herausfordern, aber auch überfordern
können, sind u.a. mit bestimmten Entwicklungsphasen verbunden: Schuleintritt, Prüfungen und Berufsbeginn, Verlassen
des Elternhauses, Elternschaft, Berufsende und Ruhestand.
Eine hohe Stressbelastung entsteht auch durch alltäglichen
Ärger, Konflikte mit Kollegen und Vorgesetzten, Krisen in der
Partnerschaft sowie die Trennung von wichtigen Bezugspersonen. Wenn solche ungünstigen Situationen lange andauern
und es nicht gelingt, sich auf die veränderten Gegebenheiten
einzustellen, kann es zu Anpassungsstörungen kommen.
Im Kontrast zu allgemeinen Belastungen konfrontieren uns
traumatische Ereignisse mit existentiellen Grenzsituationen
– mit direkter Bedrohung, körperlicher Gewalt, Lebens- und
Verletzungsgefahr. Solche Ereignisse liegen außerhalb der
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Opfer von Menschenrechtsverletzungen und Überlebende in
Katastrophen- und Krisengebieten. Eine psychologische Begleitung, die mit einem Rückblick auf das gesamte Leben
verbunden wird, kann die Bewältigung psychischer Traumen
im Alter unterstützen. In den Niederlanden wurde in den
letzten Jahren auf der Basis der oben beschriebenen klinisch
erprobten Interventionen eine Behandlung traumatisierter
Patienten per Internet entwickelt. Dabei wird das persönliche
Gespräch durch Schreibaufträge ersetzt, die von Therapeuten angeleitet und kommentiert werden. Erste Studien zeigen
positive Resultate.12 Interessant erscheint eine Internet-Therapie vor allem für Menschen, die auf Grund ihres Wohnortes keinen Zugang zu Versorgungsmöglichkeiten haben, beruflich viel unterwegs sind, durch Körper- Sprach- oder
Hörbehinderung eingeschränkt sind oder aus Schamgefühl
den direkten therapeutischen Kontakt scheuen. Die InternetTherapie wird inzwischen auch in Deutschland wissenschaftlich überprüft.
Bildersprachen
Insbesondere lebensgeschichtlich frühe und sehr schwerwiegende Traumaerfahrungen sind im Gedächtnis nicht über
Sprache, sondern über Bilder abgespeichert und daher zunächst nicht bewusst fassbar. Mit der Hilfe nonverbaler Ausdrucksformen, z.B. über die Sprache von Bildern, können
jedoch auch frühe traumatische Erfahrungen in das Bewusstsein gehoben und schrittweise zum sprachlichen Ausdruck
geführt werden. Die psychologische Aussagekraft von Zeichnungen, Collagen oder Plastiken besteht unabhängig von
einem künstlerischen Talent oder von dem vorgegebenen
Material. Gespräche über solche Gestaltungen müssen jedoch
sehr behutsam geführt werden, denn sie enthüllen ein »unzensiertes«, noch vorbewusstes Wissen, und die Betroffenen
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reagieren oft mit Scheu, Angst oder heftiger Selbstkritik auf
die Betrachtung. Erforscht man die Bilder jedoch vorsichtig
mit einer distanzierenden Perspektive, können wichtige Erinnerungen und Bewertungsmuster zugänglich und neue
Sichtweisen erschlossen werden.
Ein sicherer Ort
Alle Menschen haben schon einmal eine Situation erlebt, in
der sie mit sich und ihrer Umwelt in Einklang waren, Ruhe
und tiefen Frieden spürten. Solche Erfahrungen werden oft
in der Natur und in der Kindheit gemacht und sind meist mit
einem realen Ort verbunden, an dem man sich völlig entspannt und sicher fühlte. Vorstellungen, die mit angenehmen Erinnerungen und Gefühlen verbunden sind, werden
u.a. bei der Progressiven Muskelrelaxation vorgegeben, um
Entspannungsprozesse zu vertiefen. Die Imagination eines
persönlichen Ruhebildes ist auch eine bewährte Selbsthilfemöglichkeit, um sehr belastende medizinische Behandlungen (z.B. bei Krebserkrankungen) durchzustehen. In der
Traumatherapie wird die Vorstellung eines sicheren Ortes
genutzt, um bewusst einen Gegenpol zu extrem beängstigenden Bildern zu schaffen.
Bei der Suche nach einer wirksamen Imagination stellen
sich bei Menschen mit starken Belastungen oft zunächst Erinnerungen ein, in denen Vorstellungen von Geborgenheit
mit beängstigenden Gedanken vermischt sind. Im Gespräch
über solche Vorstellungen werden häufig unbewusste Erinnerungen zugänglich.
Die folgende Abbildung zeigt das »Ruhebild« einer 65jährigen Frau, die an Brustkrebs erkrankt war. Während
der Anleitung zur Entspannung und Imagination erinnerte
sie sich sehr klar an ihre geliebte Großmutter, bei der sie
sich als Kind verstanden und geborgen fühlte. Sie hatte
Freude daran, das Erinnerungsbild zu malen, wurde bei der
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Abb.1 Bei der Großmutter. Das Ruhebild enthüllt traumatische
Erinnerungen.
Betrachtung jedoch sehr unruhig. Das Bild ist einfach und
fast unfarbig gestaltet. Die Malerin sitzt rechts neben ihrer
Großmutter auf einem Sofa, das zum Teil über die Personen
gezeichnet ist. Diese auffälligen »Einkreisungen« können
aus psychologischer Sicht auf emotionale Belastungen hinweisen. Das Gespräch zu diesem Bild enthüllte: Die Einkreisung im Unterleibsbereich der Großmutter wie der Patientin deutete auf traumatische Erinnerungen hin. Beide
waren vor mehr als 40 Jahren am Ende des Zweiten Weltkrieges durch russische Soldaten vergewaltigt worden. Sie
hatten die grauenvollen Erfahrungen geheim gehalten und
auch miteinander nie offen darüber gesprochen.1
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Spaltungen im Selbstbild
Abbildung 2 zeigt das Selbstportrait eines 14-jährigen Mädchens. Es entstand nach dem Amoklauf in Erfurt, als ein
ehemaliger Schülers des Gutenberg-Gymnasiums 2002 vierzehn Menschen getötet hatte. Viele Schülerinnen und Schüler gerieten dabei in Lebensgefahr und fast alle waren mit
extremer Angst und grauenhaften Eindrücken konfrontiert.
Im Rahmen der psychologischen Nachsorge ließ die Kunstlehrerin eine achte Klasse vier Monate nach dem furchtbaren Ereignis Selbstportraits malen. Die Schüler sollten
nicht ihr Äußeres, sondern ihr Inneres darstellen und anschließend ihre Bilder schriftlich kommentieren. Die meisten Portraits zeigten einen Bruch des vertrauten Lebensgefühls, einen Riss und eine Spaltung in der Gefühlswelt.
Die Jugendlichen spürten in sich »eine helle und eine dunkle Seite«; Erinnerungen an die Gewalt und verstörende Gefühle überschatteten einen Teil ihres Lebens und Erlebens.
Abb. 2 Zwei Seiten:
Verzweiflung und Fröhlichkeit. Selbstportrait
einer Schülerin nach
dem Amoklauf am
Gutenberg-Gymnasium
in Erfurt
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In dem abgebildeten Selbstportrait ist eine Gesichtshälfte
ganz mit einem schwarz schraffierten Gitter überdeckt. Das
Auge hinter dem Gitter ist geschlossen, der Mundwinkel
resigniert nach unten gezogen. Die andere Gesichtshälfte
schaut den Betrachter lächelnd an. Die Schülerin schreibt
dazu: »Ich möchte mit diesem Bild ausdrücken, dass ich
zwei Gesichter habe. Das eine ist total happy und das andere verdeckt von einer Fassade, immer verzweifelt. Ich
habe das Bild mit dunklen Farben gemalt, weil die verzweifelte Seite in letzter Zeit sehr oft zum Vorschein kommt, aber
von der fröhlichen Seite so gut es geht verdeckt wird.«2 Mit
ihrem Bild weist die Vierzehnjährige darauf hin, dass sie
noch viel Raum und Verständnis benötigt, um ihre Verzweiflung zuzulassen und zu verarbeiten. Und vielleicht ist sie
auch unsicher, ob sie nach dem furchtbaren Ereignis wieder
»happy« sein darf.
Körperbilder
Das Erleben des eigenen Körpers, seiner wechselnden Zustände und seiner Grenze zur Umwelt ist eine wesentliche
Basis für unser Selbstbewusstsein und unsere Realitätserfahrung. Das Gefühl der Selbstsicherheit ist eng verbunden mit
Nähe oder Entfremdung zum Körpererleben sowie der Fähigkeit, den eigenen Körper als positiv zu empfinden. Menschen, die sexuell und körperlich misshandelt wurden, erleben ihren Körper oft als Ursache von Scham und Verrat an
sich selbst. Bei ansteigender Erregung fühlen sie sich dann
durch ihre körperlichen Reaktionen bedroht und versuchen,
diese Empfindungen von ihrer bewussten Wahrnehmung
auszublenden. Die chronische Abspaltung von Körperwahrnehmungen aus dem Bewusstsein kann langfristig zu Störungen des Selbstgefühls und der Erinnerungsfähigkeit wie
auch zu körperlichen Beschwerden ohne medizinischen Befund (Somatisierung) und Erkrankungen führen. Einfache
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Zeichnungen der eigenen Gestalt veranschaulichen oftmals
ganz direkt, wie tiefgreifend das Selbstbild durch Gewalterlebnisse verstört und destabilisiert werden kann.
Die folgenden Abbildungen geben Zeichnungen zum
Selbst- und Körpererleben von Frauen wieder, die in ihrer
Kindheit jahrelang durch Familienmitglieder schwerwiegend sexuell missbraucht worden waren. Im Rahmen einer
Studie hatten sie detailliert Auskunft über ihre Erinnerungen an sexuelle und körperliche Gewalt, über Bewältigungsversuche und Folgeschäden gegeben.3 Es wurde u.a.
auch der Frage nachgegangen: Wie unterscheiden sich die
Lebenswege schwer traumatisierter Frauen, die unter massiven posttraumatischen Störungen leiden, von den Lebenswegen derjenigen, die relativ beschwerdefrei sind?
Abbildung 3 a (S. 112) zeigt Körperbilder, die charakteristisch für Frauen sind, die unter schweren und komplexen
Belastungsstörungen leiden und sich in ihrem Selbstgefühl
extrem beeinträchtigt fühlen. Seit ihrer Kindheit hatten sie
versucht, qualvolle Erinnerungen durch chronische Gefühlsabspaltung (Dissoziation) und sozialen Rückzug zu vermindern. Diese Frauen hatten große Schwierigkeiten, ihren
Körper zu spüren, und es hatte viel Mut erfordert, die Empfindungen darzustellen. Die Bilder dieser schwer traumatisierten und immer noch hoch belasteten Frauen erinnern an
Kinderzeichnungen und reflektieren auffällige Störungen
des Körperschemas: Die Proportionen sind kindlich; es fehlen Sinnesorgane, Gliedmaßen, Geschlechtsmerkmale. Mit
Rot und Schwarz sind Gefühle von Schmerz, Ekel, Wut und
Hass auf den eigenen Körper eingetragen.
Abbildung 3 b zeigt Körperbilder, die charakteristisch für
Frauen waren, die ihre traumatischen Erfahrungen gut bewältigt hatten und nur noch in geringem Maße unter Folgestörungen litten. Hinsichtlich der Schwere und Dauer der erlittenen Gewalt unterschieden sie sich nicht von der
Gruppen hochbelasteter Frauen. Sie hatten jedoch andere
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Abb. 3 a Kindheitstrauma. Zeichnungen zum Körpererleben von
Frauen mit schwerwiegenden Belastungsstörungen
Abb. 3 b Kindheitstrauma. Zeichnungen zum Körpererleben von
Frauen mit geringer Belastung
Bewältigungsstrategien genutzt: Schon im Jugendalter hatten sie soziale Unterstützung gesucht und sich anderen anvertraut. Hilfe hatten sie u.a. durch Lehrer, Freundinnen und
vor allem in vertrauensvollen Partnerschaften erfahren.
Auch in diesen Zeichnungen sind mit Farben somatische Erinnerungen an den Missbrauch eingetragen, und es zeigen
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sich (leichte) Störungen des Körperschemas: z.B. verkürzte
Arme, fehlende Körpergrenze im Genitalbereich. Insgesamt
wird jedoch ein entwickeltes Körperbild sichtbar, das eine
weibliche Gestalt zeigt und ein positives Selbstgefühl ausstrahlt.
In der Traumatherapie können solche einfachen Zeichnungen helfen, das Leid des missbrauchten Kindes, Gefühle
anhaltender Verletzlichkeit und somatische Erinnerungen
an brutale Gewalt zu verstehen. Behutsame Fragen tragen
dazu bei, Erinnerungen und Bewertungsmuster zu klären
und Fähigkeiten zur Selbstfürsorge zu stärken. Hilfreiche
Fragen könnten z.B. sein: »Was würde das Kind wohl
sehen, wenn es Augen hätte?« (S. Abb. 3a, links) »Was sind
das für Gefühle, die das Mädchen – im Kopf, in den Schultern, im Hals, im Bauch – spürt?« (S. Abb. 3a, Mitte) – »Was
braucht das kleine Mädchen, wie können wir ihm helfen?«
Ein Gespräch über das Körperbild kann auch zum Verständnis körperlicher Erregung genutzt werden: »Was passiert in
Ihrem Körper, wenn Sie jetzt daran denken und mir davon
erzählen? Wie fühlt sich Ihr Bauch gerade an?« Dabei werden häufig Reaktionen zugänglich, mit denen die ansteigende Erregung gemildert wird und unangenehme Empfindungen abgespalten werden.
Imagination zum Körpererleben
Mit Hilfe von Vorstellungsübungen, die behutsam zum Spüren abgelehnter oder schmerzhafter Körperbereiche anleiten, können belastende Empfindungen und ungünstige Bewertungen erkundet werden. Im Rahmen solcher Übungen
wird die Aufmerksamkeit »achtsam« zu verschiedenen Körperbereichen gelenkt und die Person angeregt, sich eine Bild
von deren »Befinden« zu machen. Mit der bildhaften Beschreibung vertieft sich das emotionale Erleben, und zugleich tritt meist eine kritische innere Stimme zu Tage, die
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diesen Einblick verhindern will. Die gegenläufigen Bedürfnisse können durch geleitete Imagination angesprochen und
in einen Dialog verwickelt werden. Eine positive Wendung
nimmt dieser Dialog, wenn die kritische Stimme weicher
wird und beginnt, Verständnis und Mitgefühl für die andere
Seite zu empfinden. Dann kann sich eine neue Sichtweise
herausbilden, die eine Lösung des Konflikts oder Widerspruchs erschließt. Die Konfliktlösung zeigt sich – wie das
folgende Beispiel veranschaulicht – in gesteigerter Selbstachtung, in der Integration vormals abgespaltener und
widersprüchlicher Aspekte der Person sowie in einem erweiterten Verständnis des ursprünglichen Problems.
Die eingemauerte Frau
Ruth, eine 25-jährige Frau, die chronisch unter Blasenentzündungen litt, war akut an einer schmerzhaften Blasen- und
Eileiterentzündung erkrankt. Die Entzündung besserte sich
durch eine medikamentöse Behandlung nicht, und es bestand
die Gefahr, dass Ruth unfruchtbar werden könnte. Im Rahmen einer psychologischen Krisenintervention erfolgte nach
einer Klärung der aktuellen Lebenssituation die Erkundung
des schmerzhaften Körperbereiches und der damit verbundenen Gefühle und Gedanken.
Mit einem inneren »Mikroskopauge« untersuchte Ruth die
Schmerzen im Unterleib und stieß zunächst auf eine »Wattewand«, welche die Wirkung der Medikamente sowie eine Bewusstseinsblockade symbolisierte. Dahinter entdeckte sie die
Eileiter, die in eine enge Kammer eingemauert zu sein schienen. Die Eileiter brachten zum Ausdruck, dass die weibliche
Empfindungsfähigkeit in Ruth verletzt worden war und dass
sie – um ihre Ängste unter Kontrolle zu bringen – hart, überaktiv und »männlich« geworden sei. Als die »männliche«
Seite, die durch den Kopf repräsentiert wurde, sich gegenüber
den geheimnisvollen Mitteilungen der eingemauerten »weiblichen« Seite abweisend und überheblich zeigte, warnten die
Eileiter: »Du tust uns weh, wenn du uns in diese Kammer hier
abstellst und nicht einbeziehst in dein Leben. Deshalb produzieren wir Schmerz und geben ihn dir zu fühlen.« Schließlich
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entwickelte sich ein Gespräch zwischen den beiden Aspekten.
Es offenbarte eine große Furcht der »männlichen« Seite, von
heftigen Gefühlen überrannt zu werden und die Kontrolle zu
verlieren. Der Dialog endete mit dem Versprechen, einander
mehr zu vertrauen, einander zu achten und eine gleichberechtigte Partnerschaft zu leben.
Das Nachgespräch (4 Wochen später) zeigte, dass etwas
Wesentliches geschehen war. Ruth hatte ein neues Selbstbewusstsein entwickelt: »Ich beginne zu spüren, dass ich etwas
in mir habe, das mehr über mich weiß und dem ich vertrauen
kann. Es fühlt sich ernsthaft und solide an. Es hat etwas damit zu tun, dass mir die Erfahrungen nicht nur vom Kopf her
klar werden, sondern dass ich mit den Empfindungen auch
etwas ganz Innerliches und Bewusstes in mir treffe.« Sie
hatte den Arzt gewechselt, es war ihr wichtig, von einer Frau
betreut zu werden. Sie hatte die Medikamente abgesetzt und
per Ultraschall beobachten können, wie die Entzündung
langsam abklang. Ruth hatte auch damit begonnen, das tiefgreifende Gefühl der Verletzung ihrer Weiblichkeit mit Erinnerungen zu verbinden. »Es hat mit einem Erlebnis zu tun,
das sich so wieder geöffnet hat, das ich als kleines Mädchen
mit meinem Vater hatte und wo ich immer dachte, es ist ein
Traum. Und wo ich jetzt weiß und es zulassen kann, dass es
wahrhaftig geschehen ist. Etwas so Schreckliches, als kleines
Mädchen so missbraucht zu werden. Da wird mir als Frau
etwas angetan, als Mensch – Vertrauen geht verloren. Es ist
wie eine Quelle, aus der alle Schwierigkeiten entstehen.«4
Bilder des schlimmsten Albtraums
Eine zentrale Intervention in der Traumatherapie ist die
Konfrontation mit traumatischen Schlüsselszenen. Die Erlebnisse und damit verbundenen unerträglichen Gefühle,
Körperempfindungen und Gedanken werden in der Vorstellung mehrfach wiedererlebt, bis sie ihren Schrecken verlieren. Werden die Erinnerungen an Bedrohung und Hilflosigkeit aufgemalt, entstehen zunächst meist Bilder, in denen –
wie zu Beginn des therapeutisch begleiteten Wiedererlebens
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– besonders grauenvolle Erinnerungen ausgeblendet oder
harmlos verfremdet werden. Manchmal werden Details, die
mit dem Gefühl extremer Entwertung verbunden sind, lange
skizziert, bis sie erträglich werden. Häufig entstehen Bilder,
welche die schrecklichsten Erfahrung offenlegen, erst im
Anschluss an eine Therapie auf der Basis wiedergewonnener Kontrolle und Stabilität. Wie das folgende Beispiel
zeigt, kann das Ringen um die konkrete Darstellung der
grauenvollen Erinnerungsbilder schließlich auch zur Quelle
von Mut, Energie und Befreiung werden:
Vergewaltigt und verschnürt
Nachdem die Schriftstellerin Nancy Raine jahrelang erfolglos
versucht hatte, quälende Erinnerungen an eine lebensbedrohliche Vergewaltigung zu verdrängen, konfrontierte sie sich
schließlich unter therapeutischer Anleitung mit den traumatischen Schlüsselszenen. Der größte Schrecken war mit der Erfahrung verbunden, als »machtloses, hässliches, wertloses
Objekt« dem Willen des bewaffneten Täters hilflos ausgeliefert zu sein. Sie stellte sich vor, wie sie mit auf dem Rücken
gefesselten Händen auf dem Bett lag, die Augen mit Klebeband verschlossen, der Körper von der Hüfte abwärts nackt,
der BH aufgehakt, das Hemd aufgerissen. Hinzu kam, dass
eine Polizistin, die ihren Bericht über die Vergewaltigung aufgenommen hatte, sich spontan an ein »bratfertig verschnürtes
Hühnchen« erinnert fühlte – ein weiteres widerliches Bild der
Kränkung, das Nancy Raine verarbeiten musste.
Im Anschluss an die Therapie, die ihr geholfen hatte,
angstfrei mit den Erinnerungen umzugehen und wieder ein
normales Leben zu führen, setzte sie sich weiter mit den traumatischen Erinnerungen auseinander. Sie beschrieb und
skizzierte zentrale Symbole – »ein Stück lebloses Fleisch«,
»der Hühnerkadaver und das Bett, auf dem er lag« – und fügte
sie schließlich zu dem Bild ihres »vergewaltigten Selbst«
zusammen. Während ihr Bild allmählich Gestalt annahm,
stellte sie fest: Je mehr sie an diesen Elementen arbeitete,
desto weniger Macht schienen sie zu besitzen. Der Schmerz
wurde zunehmend handhabbar, Gefühle von Entsetzen,
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Demütigung und Hilflosigkeit verblassten. Das Bild hängte
sie an die Wand ihres Studios, in dem sie einen Bericht über
ihre Vergewaltigung schrieb. Sie sah es jeden Tag an, es
machte ihr keine Angst mehr. Und schließlich wurde das Erinnerungsbild zu einer »Quelle der Energie.« Auf Anregung
einer befreundeten Malerin reichte sie das Bild mit dem Titel
»Vergewaltigt und verschnürt« für eine Ausstellung ein. Bei
der Vernissage beobachtete sie zunächst etwas verlegen, wie
die Leute sich ihren schlimmsten Albtraum ansahen. Dann
spürte sie jedoch auch voller Dankbarkeit, dass sie sich von
dem Albtraum innerlich hatte befreien können.5
Sandspieltherapie
Unbewusste Erinnerungsfragmente können auch durch Gestaltungen mit Ton oder im Sandspiel berührt, dargestellt
und dann schrittweise zum sprachlichen Ausdruck geführt
und verstanden werden. Die von Dora Kalff entwickelte
Sandspieltherapie nutzt einen mit Sand gefüllten Kasten
und eine großen Anzahl von Gegenständen und Figuren, um
Kinder wie auch Erwachsene zur Gestaltung innerer Erfahrungen anzuregen.6 Man kann mit dem weichen Sand spielen und Gesichter, Wellen, Flächen, Hügel, Grenzen, Labyrinthe, Höhlen formen. Mit den bereitgestellten Figuren
lassen sich im Sand auch Szenen aufbauen, belastende Erlebnisse darstellen oder Lösungswege erproben. Zwischen
Gestaltung und Aussprache lässt man einige Zeit vergehen,
um körperlich-emotionale Veränderungsprozesse nicht zu
stören.
Das folgende Beispiel zeigt, wie das Sandspiel dazu beitragen kann, mit extrem traumatisierten Menschen, die über
ihre Erlebnisse zunächst überhaupt nicht sprechen können,
eine Kommunikationsbasis aufzubauen: Eine langjährig
hospitalisierte Patientin, die unter einer dissoziativen Identitässtörung7 litt und völlig verstummt war, entdeckte auf einer psychiatrischen Station ein Sandspiel und begann, damit
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zu arbeiten. Ihre Ärztin versuchte, sich in die verschiedenen
Szenen, die im Sand aufgebaut wurden, einzufühlen. Sie
ermutigte die Patientin behutsam, die Gestaltungen zu beschreiben und ihre Erlebnisse und Gefühle auch mit Worten
auszudrücken. Es zeigte sich, dass die Patientin im Sand
grauenhafte Erinnerungen an erlittene Gewalt aufbaute,
über die sie nie hatte sprechen können. Die Gestaltungen im
Sand ermöglichten es ihr, Schweigegebote, die mit der Androhung des Todes verbunden gewesen waren, zu umgehen
und allmählich zu durchbrechen. Mit der Enthüllung der
Biographie wurden extreme Traumatisierungen zugänglich,
die sie im Kindes- und Jugendalter erlitten hatte, die zur
Entwicklung ihrer massiven Beschwerden geführt hatten
und die auch die Spaltung in unterschiedliche Persönlichkeitsanteile erklärten.8
Abbildung 4 veranschaulicht, dass der Sandkasten – ganz
ähnlich wie eine Bildfläche – auch zur Darstellung von verschiedenen Erlebnisbereichen diente: Im linken Raum baute
die Patientin vergangene Erlebnisse auf, im Zentrum stellte
sie die unerträglichsten und bedrohlichsten Erfahrungen
dar, und im rechten Bereich des Sandkastens entwickelte sie
eine Auseinandersetzung mit aktuellen Fragen und Bedürfnissen.
LINKS
(Vergangenheit)
MITTE
(zentrale Bedeutung)
RECHTS
(Gegenwart)
Darstellung von
körperlichen und
sexuellen Misshandlungen durch Familienmitglieder in der
häuslichen Umgebung.
Darstellung vielfältiger Szenen sadistischer Folter im
Rahmen eines generationsübergreifenden
satanistischen Kults.
Figuren und Szenen,
die Gefühle, Gedanken, Motivationen im
Hier und Jetzt repräsentieren.
Abb. 4 Traumatische Erinnerungen werden im Sandspiel
nachgestellt9
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Nachwort
Für Menschen, die Schreckliches erlebt haben, ist zunächst
nichts mehr so, wie es vorher war. Sie fühlen sich von einem
vertrauten Lebensgefühl abgeschnitten, in einer düsteren
Erlebniswelt eingeschlossen, den anderen Menschen nicht
mehr zugehörig. Obwohl sie noch am Leben sind, fühlen sie
sich nicht lebendig, die Seele scheint wie vereist.
Die Berichte von Menschen, die mit brutaler Gewalt und
dem Tod konfrontiert waren, weisen jedoch auch darauf hin,
dass ein seelisches Trauma im Laufe der Zeit bewältigt und
überwunden werden kann. Durch die offene Auseinandersetzung mit den schmerzlichen Erfahrungen und Gefühlen
verlieren die Erinnerungen allmählich ihren Schrecken.
Nach und nach finden sie wieder eine vertrauensvolle Beziehung zu sich selbst und zu den Mitmenschen.
Die Forschung zeigt, dass es der Mehrheit der Betroffenen gelingt, posttraumatische Beschwerden aus eigener
Kraft, mit Hilfe tragfähiger Beziehungen oder durch eine
wirksame Psychotherapie zu überwinden. Subjektive Sichtweisen sind für die Bewältigung oftmals bedeutsamer als
das objektive Geschehen. Die Fähigkeit, positive Erwartungen, die Gefühle von Sinn und Hoffnung stärken, für Genesungsprozesse zu nutzen, wurde möglicherweise im Laufe
der Evolution im Erbgut des Menschen verankert.
Traumatische Erfahrungen bewirken Veränderungen in
der Erlebniswelt, die nicht rückgängig gemacht werden können, da sie die Erfahrung der Wirklichkeit zutiefst berühren
und erschüttern. Die qualvollen Erinnerungen und Gefühle,
die meist nach lebensbedrohlichen Erfahrungen einsetzen,
kann man jedoch normalisieren und überwinden. Und während der Genesung verbinden sich die düsteren Erlebnisse
schließlich wieder mit normalen und lichten Lebenserfah299
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rungen. Auf diesem Weg eröffnen sich meist neue Einsichten, und es kann zu unerwartet positiven Entwicklungen
kommen.
Seelische Verletzungen, das Durchleben von Verlust und
Kummer führen viele Menschen durch Reifungsprozesse,
die ungeahnte Kraftquellen, Wachstumschancen und weisheitsbezogenes Wissen erschließen können. Krisenhafte Ereignisse, die nicht Teil der natürlichen Entwicklung sind,
können eine umfassende Erweiterung des Selbst- und Weltbildes einleiten. Es ist nicht auszuschließen, dass wir alle
ein eingeborenes Wissen in uns tragen, das nach einem
Trauma sowohl die komplexe Regeneration körperlicher
Kräfte als auch eine seelisch-geistige Transformation ermöglicht.
Ich hoffe, dass diejenigen Leserinnen und Leser, die
selbst schweres Leid erfahren haben, sich durch Erkenntnisse, Beispiele und Geschichten, die in diesem Buch dargestellt werden, verstanden oder auch getröstet fühlen. Vielleicht ermutigen einige Anregungen auch dazu, die eigenen
Erlebnisse und Empfindungen zum Ausdruck zu bringen
und zu klären.
Wenn man den Mut aufbringt, das eigene Leiden aufrichtig zu betrachten, kann man entdecken, dass es nicht nur von
vergangenen Erlebnissen herrührt. Das Leiden beruht vielmehr zu einem großen Teil auf der Art und Weise, wie wir
mit den Auswirkungen umgehen, die ein Trauma in der
Gegenwart für uns hat. Die Erinnerung an ein furchtbares
Erlebnis kann man nicht löschen. Aber es kann einen Unterschied machen, ob man anschließend resigniert oder ob
man lernt, auch extreme Belastungen als Teil des Lebens
anzunehmen.
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