Ausgabe 105 - Buchkultur

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Ausgabe 105 - Buchkultur
01_COVER_105
16.05.2006 9:55 Uhr
Seite 1
BUCHKULTUR
P.b.b. Verlagspostamt 1150 Wien Nr. 02Z033122M Erscheinungsort Wien EURO 4,35/SFR 8,50
Das internationale Buchmagazin
Heft 105 | Juni/Juli 2006
PACKEND
Michael
Stavaric
EINFÜHLSAM
Thomas
Sautner
SCHRÄG
Norbert
Zähringer
W I L D E R O ST E N
Merle Hilbk
Geschichten vom neuen Europa
E
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Weitere Infos und viele Gewinnspiele unter
www.dan-brown.de
www.davincicode-derÿ lm.de
www.luebbe.de
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˜ e Da Vinci Code
Das o° zielle Begleitbuch zum Film
Paperback
ISBN 3-404-28502-6 | € 17,40 [A]
03-05 edito/inhalt
16.05.2006 12:00 Uhr
Seite 3
Editorial
Die Volltextsuche
CHEFREDAKTEUR
Europäische Stellen im Bibliotheksbereich dachten
zwar schon länger darüber nach, aber es fehlte einfach an den Mitteln. Google
jedoch hatte das Geld – und vor allem die Technologie. Jean-Noël Jeanneney,
der Präsident der Französischen Nationalbibliothek, hat über „Googles Herausforderung“ ein Buch geschrieben (Wagenbach). Darin erläutert er seine Bedenken gegen Google und versucht stattdessen ein von staatlichen europäischen Stellen gefördertes Projekt zu positionieren. Er argumentiert etwa,
Google wäre von Werbung abhängig … Schon bei der normalen Suchfunktion
würden bestimmte Pages weiter oben gereiht und hätten dadurch mehr Besuch.
Das würde nicht anders aussehen, wenn es sich um Bücher dreht. Außerdem
sei nicht das reine Erfassen der Bücher zentral, die dann irgendwo auf einem
Server landen, sondern eine Systematik, wie bestimmte Inhalte gefunden
werden können. Und schließlich wäre Google auch nicht unsterblich. Und
wer hätte in diesem Fall die Verfügungsgewalt über die ganzen Daten?
DAS BÖSE.
DAS GRAUEN.
DIE
ANSTALT.
Ein Psychothriller
von John Katzenbach
Nun soll das europäische Projekt langsam auf Schiene kommen. Und in fünf
Nicht das Erfassen der
Jahren könnte dann jeder Zugriff auf rund
Bücher ist das Problem,
sechs Millionen Bücher haben. Eine stolze
sondern die Systematik,
Zahl, doch verschwindend im Verhältnis zu
wie Inhalte wieder geden Büchern, die es insgesamt gibt. Über
funden werden können.
die organisatorischen, technischen und
rechtlichen Fragen wird noch diskutiert.
Währenddessen entwickeln Google und auch Amazon schon wieder etwas
Neues. Mit einem Tool namens „Pages“ soll es möglich sein, auch nur einzelne
Teile eines Buches zu erstehen, und Google bietet Verlagen die Möglichkeit,
Onlineversionen ihrer Bücher über eine Plattform zu verkaufen. Doch was
werden denn dort für Bücher vorrätig sein? Wenig Literatur, dafür juristische,
technische und wissenschaftliche Texte. Abgesehen davon wird wohl kaum wer
einen Roman oder einen Lyrikband online lesen wollen. Es ist also schon erfreulich, wenn es ein europäisches Projekt gibt, das vielen Menschen kostenlos zur
Verfügung steht. Aber die Kriterien, nach denen die Inhalte, sprich: Bücher,
ausgesucht werden, werden eben in Gremien verhandelt. Und wenn dann das
Ergebnis bekannt ist, gibt es möglicherweise große Augen …
Vor kurzem hat der Börsenverein des deutschen Buchhandels eine Initiative
für den deutschsprachigen Raum gestartet, die auch Buchhandlungen integriert. Sie könnten damit zu Informationsstellen werden, mit neuen Angeboten
und erweitertem Service. Über 120 namhafte Verlage sollen ihre Bereitschaft
zur Mitarbeit bereits gegeben haben. Nützliches Werkzeug oder digitale
Revolution – das wird die Zukunft weisen.
BUCHKULTUR 105 | Juni/Juli 2006
752 Seiten
€ [A] 9,20
www.knaur.de/die-anstalt
Tobias Hierl
Viele werden bei dem Begriff „Volltextsuche“ an ein
nützliches Werkzeug bei digitalen Texten denken, die
manche Arbeit erleichtert. Doch dann gibt es noch jene,
die damit eine „digitale Revolution“ verbinden. Anlass
war vor rund eineinhalb Jahren die Ankündigung der
Gründer von Google, rund 15 Millionen Bücher einzuscannen und deren Inhalt im Internet zur Verfügung
zu stellen. So wurde es plötzlich hektisch in Europa.
16.05.2006 12:13 Uhr
Seite 4
BUCHKULTUR HEFT 105 | 19. JHRG.
I N H A LT
■ SPEKTRUM
6
■ B U C H W E LT
13
Vom Dasein Dazwischen ......................................................14
Die unbekannte Literatur Mittel- und Osteuropas
Ein Mann der Bilder ..............................................................17
Über den Autor und Filmemacher Georg Stefan Troller
Blutorte mit Panorama ........................................................18
„Transflair“: Paulo Lins traf Alfred Komarek zum kulturellen Austausch
Über den Wolken ..................................................................20
Norbert Zähringer sprach über seinen neuen Roman mit Tobias Hierl
Gewonnen! Gewonnen! ........................................................22
Thomas Sautners Debütroman war nach wenigen Tagen vergriffen
Lebe. Atme. ............................................................................23
Michael Stavaric lässt die Protagonistin seines ersten Romans leiden
Fußballfieber ..........................................................................24
Hannes Lerchbacher über die Bücherflut vor der WM
■ M A R K T P L AT Z
Entdeckungen im neuen
Europa: u. a. mit Merle
Hilbk (li.), Karl-Markus
Gauß – und fotografiert
von Kurt Kaindl.
SEITE 14
FOTO: SUSANNE SCHLEYER, AUS „DER RAND DER MITTE“ VON KURT KAINDL/OTTO MÜLLER
03-05 edito/inhalt
29
Belletristik ..............................................................................29
Kolumne von Peter Hiess ....................................................42
Taschenbuch ..........................................................................43
Sachbuch ................................................................................48
Hörbuch ..................................................................................55
Neue Medien ..........................................................................56
■JUNIOR
FOTO: SUSANNE SCHLEYER
58
Geprüfte Qualität ..................................................................58
Prämierte Kinder- und Jugendbücher
Runde Sache ..........................................................................60
Fußballbücher
für Jungen und Mädchen
<
3x3 ............................................................................................61
Buchtipps für alle Alterstufen
■ CAFÉ
Norbert Zähringer verblüfft gerne seine
LeserInnen.
SEITE 18
62
■ SCHLUSSPUNKT
FOTO: AUS „365 FUSSBALL-TAGE“ VON KAI SAWABE/WERKSTATT
Buchkultur-Gewinnspiel ......................................................62
Kolumne von Thomas Feibel ..............................................64
Impressum ............................................................................64
Zeitschriftenschau ..............................................................65
66
COVERFOTO: SUSANNE SCHLEYER
www.buchkultur.net
Chimärismus
Der rumänische Schriftsteller Vasile Baghiu über die Sehnsucht nach der
Freiheit, die Welt zu erkundschaften.
4
Š Aktuell auf www.buchkultur.net:
ŠLangfassung des Interviews mit
Christfried Tögel zu Freud.
ŠAusführlicher Überblick: die
Bücher zu Freud
ŠNoch mehr Fußball-Bücher
Lesen Fußballfans? Sie haben auf alle Fälle Gelegenheit
dazu: Fußballbücher im Überblick!
SEITE 24
BUCHKULTUR 105 | Juni/Juli 2006
03-05 edito/inhalt
16.05.2006 12:17 Uhr
Seite 5
www.rororo.de
JUNI/JULI 2006
■ ALLE BÜCHER
Belletristik
29
Abdolah, Kader: Dawuds Traum
29
Ayoub, Susanne: Schattenbraut
37
Broeckhoven, Diane: Einmal Kind, immer Kind 38
Chaplet, Anne: Sauberer Abgang
40
Dean, Debra: Palast der Erinnerungen
34
Dempf, Peter: Das Amulett der Fuggerin
37
Ford, Ford Madox: Der Mann, der aufrecht blieb 35
Francic, Franjo: Heimat, bleiche Mutter
33
Frankenberg, Pia: Nora
34
Franzetti, Dante Andrea: Passion
31
Gaudé, Laurent: Die Sonne der Scorta
31
Grill, Evelyn: Der Sammler („Pro & Contra“)
38
Hahn, Ulla: Dichter in der Welt
32
Hofstadter, Douglas R: Gödel, Escher, Bach
30
King, Dave: Homecoming
29
Kramer, Theodor: Laß still bei dir mich liegen 39
Moody, Bill: Bird lives!
40
Nothomb, Amélie: Attentat
36
Riel, Jørn: Vor dem Morgen
33
Schuemmer, Silke Andrea: Remas Haus
36
Seth, Vikram: Zwei Leben
30
Vázquez, Ángel: Das Hundeleben der Juanita
Narboni
30
Vázquez-Rial, Horacio: Der Mann, der sich Carlos
Gardel nannte
41
Widmer, Urs: Ein Leben als Zwerg
30
Zähringer, Norbert: Als ich schlief
32
.
Sachbuch
48
Gürtler, Christa: Ingeborg Bachmann
Koebner, Thomas: Filmklassiker
Lattmann, Dieter: Einigkeit der Einzelgänger
Medici, Lorenzo de’: Die Medici
Thema: Bildband
Heimkehr
in den Tod
51
52
51
52
46
Balog, James: Baumriesen
Thema: Freud
48
Bücher von und über den Jubilar Sigmund Freud
Thema: Kulinarisch Lesen 53
Fuchs, Christa, Gudrun Harrer: Besoffene Kapuziner
Gates, Stefan: Der Gastronaut
Schott, Ben: Schotts Sammelsurium Essen & Trinken
Steingarten, Jeffrey: Der Mann, der alles isst
Steinhauer, Erwin, Günther Schatzdorfer:
Einfach. Gut.
Waberer, Keto von: Vom Glück eine Leberwurst
zu lieben
Thema: Alltag im Irak
€ 9,20 (A) / sFr. 16,50
54
Anderson, Jon Lee: Die verwundete Stadt
Reuter, Christoph, Susanne Fischer: Café Bagdad
Riverbend: Bagdad Burning
Sgrena, Giuliana: Friendly Fire
Eigentlich wollte er nur seine Mutter beerdigen. Doch als Privatdetektiv Edward
Loy nach vielen Jahren erstmals wieder in seine Heimat Dublin kommt, bittet ihn
die Frau seines besten Freundes, ihren verschwundenen Mann zu finden. Kurz darauf
wird sie erdrosselt aufgefunden, und Loy stürzt in einen lebensgefährlichen Strudel
aus Lebenslügen, Gewalt und Rache.
Exklusive Leseprobe unter: www.rororo.de/lesen
06_12 spektrum
15.05.2006 16:01 Uhr
Seite 6
SPEKTRUM
BEQUEM
DURCHBLICK
Buchzusammenfassungen online
n der Schule waren sie beliebt,
um den Inhalt eines Romans
nacherzählen zu können, ohne diesen gelesen zu haben und Readers
Digest bot einmal eine ganze
Bibliothek davon an: Kurzfassungen. Wer sich den Genuss des Lesens
sparen und trotzdem mitreden will,
greift angeblich gerne darauf
zurück. In den USA haben bereits
eine halbe Million Kunden die
Kurzversionen des auf Sachbücher
spezialisierten Unternehmens
Business Book Review (http://
businessbookreview.com) abonniert.
Beim deutschen Anbieter short-
I
Al Pacino
ist überall
SYLVIA TREUDL
I
n einem meiner absoluten Lieblingsfilme spielt Al Pacino den
Teufel. Zwar geht sich im Verlauf der Handlung selbst für
Beelzebub das Spiel nicht ganz wunschgemäß aus, trotzdem triumphiert er letztlich. In der Schlusssequenz lächelt er maliziös
und spricht den genialen Satz: „Meine Lieblingssünde ist die
Eitelkeit.“ Mir geht’s wie dem Teufel.
Ich kann mich ebenfalls nicht von der Lieblingssünde trennen,
denn sie begegnet einem auf Schritt und Tritt, hat sich im Literaturbetrieb ein geradezu paradiesisches Nestchen eingerichtet. Wir sprechen (wieder) nicht vom scriptor vulgaris, der
gehätschelt, getröstet, psychotherapeutisch betreut und vor
allem auf dem roten Teppich gelobt werden muss – in der Funktion als kreativer Schöpfer. Es geht um die Metaebene, auf der
Netzwerke auf- und ausgebaut werden, Berufsrelevantes diskutiert wird, durchaus berechtigte Forderungen an die Kulturpolitik angedacht werden. Unglaublich geradezu, wie man (seltener
frau) sich auch auf dieser eher trockenen Ebene der innerbetrieblichen Verwaltung gerieren kann – pfau! Exemplarisch soll
hier – sagen wir – Eduard vorgeführt werden. Eduard hat eventuell ein Problem mit seiner Eigenwahrnehmung und seiner narzisstischen Bedürftigkeit.
Kein Satz, der nicht mit einem fetten ICH beginnt, um der Genialität und Wichtigkeit seines Tuns das nötige Gewicht zu verleihen. Gepaart mit blanker Lüge, die schamlos aus der Behauptung „Ich möchte nur ganz kurz anfügen ...“ grinst und ihre Meisterschaft in dem hinterhältigen Nachschuß „Ich möchte also
vorschlagen ...“ erreicht. Diese Absichtserklärung ist eine nachlässig maskierte Forderung im Eigeninteresse, das in der
Eduardwelt mannigfaltig erscheint, aber nur dem Ziel dient,
Eduard mit allen Mitteln in den Mittelpunkt zu stellen, und wird
so lange vorgeschlagen, bis sich die demokratische Minderheit
geschlagen gibt. In der nächsten Runde geht es dann zu einem
kurzen Exkurs, der lediglich der Verschleierungstaktik für die
nachfolgende Durchsetzung von Eduard-Zielen dient. Abgebrühte im Betrieb, die aus Resignation oder schlichter Langeweile
nicht mehr die Kraft zum Formalprotest aufbringen, verlassen
an dieser Stelle ungeniert das Forum, welches längst zur
Eduard-Plattform geworden ist, um getrost auf mehrere Biere
zu gehen, das geht sich aus bis zum nächsten Tagesordnungspunkt. Hält man/frau es bis zum bitteren „Allfälliges“ aus,
kommt die Rede eventuell auch noch auf kreative Leistungen.
Zum Beispiel die Ausstrahlung eines Features im Regionalsender von Ulan Bator über die Interkulturalität der Banane und
ihren Einfluss auf die artbedrohte Verwendung der Genetivmetapher im Schreibgestus zeitgenössischer Autoren.
Al Pacino lacht sich schief.
6
books (http://www.shortbooks.de),
der auch Romane und Klassiker
anbietet, können sich Lesefaule die
Zusammenfassung sogar als mp3
vorlesen lassen und beim Schweizer Unternehmen getAbstract
(http://www.getabstract.com) werden je nach Bedarf verschiedene
Abonnements angeboten.
Das Veröffentlichen von Kurzfassungen unterliegt übrigens dem
Copyright und ist nur mit Zustimmung der betroffenen Verlage möglich, die aber zunehmend eine weitere Verbreitungsschiene darin
sehen.
AUFGEKLAPPT
Der lyrische Zettelkasten
ie Idee ist klar und einfach: Es sind meist
nur ein oder zwei
Gedichte eines Bandes, eines Autors
oder einer Autorin, die
man in Erinnerung
behält und immer wieder liest oder zitiert.
Der gegenwärtigen Beliebtheit von
Cross-Media folgend, hat daher die
Künstlerin Angelika Richter einen
Zettelkasten entworfen, in dem 50
Gedichte aus 3 Jahrhunderten auf
liebevoll gestalteten Karten und
noch einmal 50 Leerkarten für die
eigenen Lieblingsgedichte Platz
finden. Geeignet zum Sammeln,
D
Verschenken und Tauschen. Warum auf Naheliegendes wie
Gedichte des für
seine Zettel berühmten Autors Arno
Schmidt oder das
eine oder andere
Sonett des begnadeten Spötters und Jubilars Heinrich
Heine verzichtet wurde, ist nicht
ganz einsichtig, da sich sowohl
moderne Autoren (Erich Fried) als
auch Romantiker und Klassiker
(Novalis, Goethe) darin finden.
Angelika Richter:
Der lyrische Zettelkasten. Edition
Büchergilde 2006, 100 Karten,
EurD/A 24,90/sFr 45,90
A LT U N D N E U
Gebrauchtbücher online
er Onlinemarkt war schon in
seinen Anfängen ideal für den
Vertrieb von Büchern. Besonders
bei antiquarischen Büchern ist die
Präsentation nicht zentral, denn
hier genügen Titel und Autor.
Wen wundert es da, dass der Online-Markt mit Gebrauchtbüchern
schneller wächst als der mit
Neubüchern! 22 Prozent des
Gesamtmarktes bei Gebrauchtbüchern laufen bereits über das
Internet, bei Neubüchern macht
D
dieser Anteil nur 7 Prozent aus.
Der Vorteil des Vertriebskanals
Internet liegt in der Verfügbarkeit der weltweiten Angebote, was
die früher mühsame Suche nach
einem vergriffenen Buch per Mausklick erheblich erleichtert. Und
darin liegt, neben der Kostenersparnis, ein triftiger Grund für die
gestiegene Nachfrage nach
Antiquarischem: 98 Prozent der
jemals gedruckten Bücher werden
nicht neu aufgelegt.
BUCHKULTUR 105 | Juni/Juli 2006
06_12 spektrum
16.05.2006 12:59 Uhr
Seite 7
SPEKTRUM
ÖSTERREICH
HILFREICH
Lomographien aus Kikuyu
esen kann Blinde sehend
machen. Und zwar indem
man ein Exemplar des Buches „It’s
good to see (again) – LOMO
KIKUYU“ ersteht. Der Betrag
entspricht exakt den Kosten einer
Operation von Grauem Star, wie
sie im Kikuyu Eye Hospital in
L
Kenia durchgeführt werden. Ein
Tiroler finanzierte feinerweise
zusammen mit der Lomographischen Gesellschaft die Produktion der ersten 10.000 Exemplare
– somit geht der Kaufpreis direkt
an die Licht-für-die-Welt-Mission. Der Graue Star kann unbehandelt zur Erblindung führen.
Und diese wiederum kann in 15
Minuten durch den einfachen Austausch der Linse behoben werden.
Das dokumentiert der Band
„LOMO KIKUYU“ in unprätentiösen Bildern und Sachtexten.
It’s good to see (again)
Lomography 2006, 142 S., Euro 30
Buchlieblinge gewählt!
ie Leserinnen und Leser der
Alpenrepublik wählten im
ersten Jahresviertel ihre Lieblingsbücher aus den unterschiedlichsten Kategorien. Organisiert vom
Verlagsbüro Schwarzer
und unterstützt vom
heimischen Bildungsministerium und dem
Buchhandel ist der Rücklauf überraschend groß gewesen. An die 26.000 Buchnominierungen wurden genannt. Höhepunkt der Aktion war eine Gala
in der Wiener Urania, zu der die
D
PreisträgerInnen kamen, u. a. Autor
Felix Mitterer („Superhenne
Hanna“) aus Irland, Waris
Dirie („Wüstenblume“)
aus Afrika und Klaus
Baumgart brachte aus
Berlin „Lauras Weihnachtsstern“. Die Literaturpreise wurden von
der literaturkundigen
Direktorin der Österreichischen Nationalbibliothek, Johanna Rachinger, überreicht. Alle PreisträgerInnen und
weitere Informationen finden Sie
unter www.buchliebling.com
VERMISCHT
INTERESSANT
Habsburgisch
Cool English
echs neue Musiksprachkurse
der feinen Art sind jetzt bei
digital publishing herausgekommen: „The Grooves“ heißen die Sprachkurse mit Pfiff.
Fremdsprachentraining mit Pop- und
Jazz-Begleitung –
wenn das keinen Appetit macht! Das System ist einfach, aber wirkungsvoll: Da werden Vokabeln und Redewendungen in die Musikumrahmung
gepackt und im Wechsel von
Deutsch und der jeweiligen Fremdsprache mehrmals wiederholt.
S
digital publishing hat die Reihe des Düsseldorfer Media Verlags geschickt in sein eigenes Hörbuchprogramm
aufgenommen. Die
ersten sechs CDs, etwa
mit dem Schwerpunkt „Flirten und
andere schöne Dinge“
oder „Reisefieber – Travelling the world“, lassen
einen mit dem „Ohrwurm-Effekt“
schnell und sicher neue Sprachen
lernen. Die Kurspakete mit AudioCD und Lernheft kosten 16,90 Euro
(das Angebot wird ausgebaut!).
Info: www.digitalpublishing.de
Sammelsurien kommen noch immer gut.
Es ist ein Buch und doch keines, es lässt
sich lesen, aber enthält keine langen
Texte. Es ist nur wichtig, ein neues
Thema oder Sammelobjekt zu finden.
Der Rest lässt sich drumherum arrangieren. So auch im „Habsburger
Sammelsurium“ erschienen im Styria
Verlag. Bei einer Rekordherrschaft von
640 Jahren fällt ja einiges Material ab.
Kurzweilig und nicht nur
Harald Havas, der schon das „Wiener
für Fans geeignet: „Habsburger Sammelsurium“
Sammelsurium“ vorlegte, hat wieder
fleißig gesammelt. Nun erfährt man darin die komplette Besetzung der Franziskanergruft, den Wortlaut des
Habsburgergesetzes und mancherlei Anekdoten über ausgewählte
Kaiserfiguren wie Sisi oder Maximilian. Despektierliche Geschichten
kommen bei den Fundstücken nicht vor. Zwar gäbe es so manches zu
erzählen, doch wichtiger erscheint die Frage, wie die Habsburger in
Manga-Comics vorkommen. Kurzweiliges für Habsburgfans.
06_12 spektrum
16.05.2006 12:20 Uhr
Seite 8
SPEKTRUM
PERSONALIA
Christa Gürtler
Ingeborg Bachmann
Klagenfurt – Wien – Rom
blue notes 30
128 Seiten, Halbleinen
€ 14,40 / ISBN 3-938740-11-6
Auf literarischen Spuren folgen wir Ingeborg Bachmann
(–) in ihre Kindheit
in Klagenfurt, später nach
Wien und Rom und begleiten sie auf ihren Reisen nach
München, Berlin, Zürich und
zu anderen Orten.
Inga Westerteicher
Das Paris der
Simone de Beauvoir
blue notes 4
128 Seiten, Halbleinen
€ 14,40 / ISBN 3-931782-60-3
Ein Spaziergang durch Beauvoirs Paris mit Auszügen aus
ihren Werken, Briefen und
Tagebuchnotizen – und
natürlich mit vielen Fotos.
Eine Paris-Karte sowie ein
Register der Örtlichkeiten
erleichtern dem weiblichen
wie männlichen Flaneur die
Orientierung.
edition ebersbach
Horstweg 34
14059 Berlin
www.edition-ebersbach.de
■ Der Österreichische
Staatspreis für Kinderlyrik des Jahres 2005 wurde an Heinz Janisch verliehen. Mit dieser, alle 2
Jahre verliehenen und
mit 7.300 € dotierten,
Auszeichnung wurde einmal mehr verdeutlicht,
was der Redakteur der Ö1-Sendereihe „Menschenbilder“, der Radiojournalist und Fotograf
im Besonderen ist: ein Dichter. Von der Lyrik
über Romane und Erzählungen für Kinder bis zu
den Ideen und Buchvorlagen für Tanz- und Kindertheater reicht sein breites Spektrum. Mit
„Ich schenk dir einen Ton aus meinem Saxophon“ setzte er Maßstäbe im Umgang mit
Gedichten, Geschichten und Wortspielen. Für
sein Bilderbuch „Rote Wangen“ (Ill. Aljoscha
Blau; Aufbau) bekam Janisch übrigens bei der
diesjährigen Kinderbuchmesse in Bologna den
großen „Fiction Award“. (siehe Seite 58)
■ Mit dem seit 1917
jährlich vergebenen
Pulitzer-Preis hat
Geraldine Brooks heuer den wichtigsten
amerikanischen Literaturpreis erhalten. Die
1955 in Sydney geborene Autorin lebt heute
in Virginia. Sie bereiste
11 Jahre lang als Auslandskorrespondentin des
Wall-Street-Journals verschiedene islamische
Länder wie Bosnien, Somalia und den Mittleren
Osten. Mit ihrem ersten Roman „Das Pesttuch“
landete sie einen Bestseller. Ihr nun ausgezeichneter Roman erschien im Herbst 2005
zeitgleich mit der amerikanischen Ausgabe
„March“ auf Deutsch unter dem Titel „Auf freiem Feld“. Er zeichnet das schwierige Verhältnis
zwischen familiären und leidenschaftlichen Bindungen vor dem Hintergrund des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges nach. „Geraldine
Brooks gelingt das Kunststück, aus einer
modernen Perspektive die damaligen Ereignisse zu schildern“, schrieb die Detroit Free Press.
■ Die österreichische Lyrikerin und Präsidentin der
Grazer Autorenversammlung Heidi Pataki ist am
25. 4. 2006 unerwartet
an einer schweren Erkrankung gestorben. Sie hatte
Anfang des Monats noch
wie jedes Jahr die Lyrikim-März-Veranstaltung
der Grazer Autorenversammlung an der Univerrsität Wien unter dem Motto „Schwanenhals
und Luderloch“ zusammengestellt und sich
somit bis zuletzt für die Lyrik engagiert. Heidi
Pataki hat in Wien Publizistik und Kunstgeschichte studiert, sie war von 1970 – 1980
Redakteurin der Monatszeitschrift „Neues
Forum“. Sie war Mitarbeiterin des österreichischen Rundfunks, der „Presse“, des „Jüdischen
Echo“, des Senders Freies Berlin. 1968 erschienen bei Suhrkamp erste Gedichte: „Schlagzeilen“. Es folgten u. a. 1972 „Fluchtmodelle“ in
der Edition Literaturproduzenten, 1978 „Stille
Post“ in der edition neue texte, 1993 „Kurze
Pause“ in der herbstpresse, 1994 „Amok und
Koma“ bei Otto Müller, wo auch 2001 ihr letzter
Band „Contrapost“ erschienen ist.
■ Den bedeutenden Georg-Büchner-Preis der
Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung
in Darmstadt bekommt heuer Oskar Pastior. In
Rumänien geboren, lebt der 78jährige Schriftsteller heute in Berlin. Pastior ist vor allem
durch seine „Lautmalereien“ bekannt, experimentelle Lyrik und Prosa, geprägt vom Dadaismus. Aber auch als Petrarca-Übersetzer erwarb
er Renommee. 2002 erhielt Oskar Pasior für
seine Arbeitenbereits den Erich-Fried-Preis.
(Der Büchner-Preis ging in den vergangenen
Jahren u.a. an Brigitte Kronauer, Elfriede Jelinek, Alexander Kluge.)
BUCHKULTUR 105 | Juni/Juli 2006
FOTOS: PATMOS VERLAG, JUNGBRUNNEN VERLAG, GERRIT FOKKEMA, LITERATURHAUS SALZBURG
Mit Bachmann
und Beauvoir
unterwegs
■ Am 30. Mai 2006 wird
Georg Bydlinski 50 Jahre
alt. Ein guter Anlass, um
dem neben vielen anderen
Preisen auch mit dem
Österreichischen Staatspreis für Kinderlyrik ausgezeichneten Lyriker und Kinderbuchautor zu gratulieren. Der Vater von vier Söhnen, der mit seiner
Familie in Mödling lebt, hat in den letzten 24
Jahren über 50 Bücher verfasst und zahlreiche
Lesereisen mit Texten und selbstkomponierten
Liedern für Kinder und Erwachsene bestritten.
Er wurde in verschiedene Sprachen übersetzt
und übersetzte seinerseits unter anderem
gemeinsam mit Käthe Recheis Gedichte nordamerikanischer Indianer. Sein neuestes Buch
„Wie ein Fisch, der fliegt“ ist ein buntes Mosaik
bezaubernder Geschichten über das Glück. Es
wurde von der Deutschen Akademie für Kinderund Jugendliteratur e. V. als Kinderbuch des
Monats März 2006 ausgezeichnet.
06_12 spektrum
15.05.2006 16:08 Uhr
Seite 9
SPEKTRUM
WOLFGANG KOEPPEN
Gedenkausstellung
nlässlich des 100sten Geburtstages von Wolfgang Koeppen
(1906 -1996) gerät eine wahre
Medienlawine ins Rollen. Briefwechsel (mit Siegfried Unseld),
Fragmente und hunderte
Versionen einzelner
Textpassagen werden
aufgestöbert, diverse Werke wieder aufgelegt und alle diese Aktivitäten werden im Feuilleton rauf
und runter rezipiert. Der
soeben bei Suhrkamp erschienene Band „Ich wurde eine Romanfigur“ von Hiltrud und Günter
Häntzschel wird bis zum 25. Juli
von einer Ausstellung in der
Münchner Stadtbibliothek am
Gasteig begleitet. Exponate aus
dem Greifswalder Nachlass stellen
einige der „gewandten Lügen“, die
A
Koeppen gewissermaßen als das
Handwerk des Schriftstellers hinstellte, richtig. Zum Beispiel, dass
nach Erscheinen seines ersten
Romans „Eine unglückliche Liebe“ Arbeitslager für den
Verfasser gefordert worden sei. Tatsächlich
hieß es Arbeitsdienst, und dieser
Forderung standen
zahllose positive Kritiken gegenüber. Dass
aber das Arbeitszimmer
nachempfunden statt nachgestellt wurde und von mehr oder
weniger zentralen Metaphern der
Ausstellung zum Werk Wolfgang
Koeppens die Rede ist, lässt mutmaßen, dass Tatsachentreue auch
nicht unbedingt zum Handwerk
von Ausstellungsmachern gehört.
Info: www.koeppen-ausstellung.de
BIBLIOPHIL
Lyrisch
in schmaler, aber feiner
Gedichtband, bibliophil, vom
Hamburger Schriftsteller und Journalisten Peter Engel. 111 Exemplare, 12 Seiten, 7 Gedichte, Bleisatz in Garamond-Antiqua, fadengeheftet, Papier, das es genießt,
angegriffen zu werden. Eines der
Gedichte kann als Paradigma stehen: „VERWISCHTE SPUR / Ein
winziges Tierchen, / das wie ein iPunkt / über die Tagebuchseite lief:
/ Statt es unter der Lupe genau zu
betrachten, / wischte ich es weg mit
/ ungeduldigem Finger / zu einer
blaßroten Spur, / einem mißverständlichen Akzent / in meinen
Notizen.“ Genauso wenig sollte
man diesen Gedichtband wegwischen und nicht stattdessen zu
einem Romanschmöker greifen,
sondern das winzige Tierchen unter
der Lupe genauer betrachten.
Peter Engel. 7 Gedichte. Peter Luedwig 2005, 12 S., EurD 11/
EurA 11,40/sFr 19,80
ENGAGIERT
30 Jahre Antje Kunstmann Verlag
ücher für Mehrheiten, die wie
Minderheiten behandelt werden“, lautete das Motto des von
Antje Kunstmann 1976 gegründeten Frauenbuchverlags. Inzwischen hat auch die Mehrheit der
Frauen Eingang in die Männerwelt
gefunden und mag nicht so gerne
an die Anfänge des Aufbruchs erinnert werden. Dieser Entwicklung
trug Antje Kunstmann Rechnung,
indem sie 1990 den Verlagsnamen
änderte und das Programm in
Richtung Belletristik entwickelte. Mit dem großen Erfolg von Axel
Hackes „Der kleine Erziehungsberater“ ging es schließlich weiter
in Richtung höhere Komik, die
von Erfolgsautoren und -autorinnen wie Wiglaf Droste und Marie
Macks beigesteuert wurde.
Heute bringt der Verlag pro
Jahr etwa 30 neue Bücher und fünf
Hörbücher heraus, und zwar nach
wie vor Sachbücher zu brennen-
B
den politischen Themen wie Barbara Ehrenreichs Recherchen in
der Welt der Working poor und
der hochqualifizierten Arbeitslosen oder die erschütternde Dokumentation des russischen Fotografen Igor Kostin zum zwanzigsten Jahrestag der Atomreaktorkatastrophe von Tschernobyl, in
der zum ersten Mal die Geschichten zu den Fotos erzählt werden:
Blühende Landschaften, die nicht
mehr betretbar sind oder eine Geisterstadt, die für 48.000 Jahre verstrahlt ist. Damit auch der seit
Jahrzehnten sorgfältig gepflegte
belletristische Bereich nicht in den
Schatten fällt, wurden neun
Erfolgsbücher, unter denen sich
klingende Namen wie Fay Weldon mit „Die Teufelin“ und Véronique Olmi mit „Meeresrand“ finden, als limitierte Edition zum
wohlfeilen Einzelpreis von zehn
Euro wieder aufgelegt.
Zum 150. Geburtstag: Die erste große,
populär geschriebene
Freud-Biografie vollständig aktualisiert
Der österreichische
Publikumsliebling
in einer persönlichen
Biografie zum
80. Geburtstag
Zeitgeschichte und
Kulturgeschichte: Die
Autobiografie eines
der vielseitigsten
Künstler Österreichs
Das neue Buch der
Erfolgsautorin: Herzerfrischender Einblick
in die österreichische
Seele
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Die Kriminalgeschichte Österreichs
vom Mittelalter bis
in die Gegenwart –
packend-informativ
256 Seiten, € 17,90
ISBN 3-85002-546-2
288 Seiten mit Abb., € 24,90
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JETZT IM BUCHHANDEL  BEI AMALTHEA UND LANGENMÜLLER
352 Seiten mit Abb., € 22,90
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FOTOS: STEFAN MOSES, ANTJE KUNSTMANN VERLAG
E
Enthusiatische Verlegerin: Antje Kunstmann
Das beliebte
Ö1-Kulturquiz
als Buch mit
444 Fragen
und Antworten
06_12 spektrum
15.05.2006 16:11 Uhr
Seite 10
SPEKTRUM
P H A N TA S T I S C H
■ T-Online hat gemeinsam mit
dem S. Fischer Verlag ein Literaturspecial ins Leben gerufen.
Neuerscheinungen, Porträts,
Gewinnspiele und vieles mehr
unter http://onleben.tonline.de/lesezeichen
■ Hohe Auszeichnung für die
Chefin: „In Anerkennung und
Wüdrigung ihrer besonderen
Leistungen im Bereich der
Wahrnehmung des frankophonen Literaturerbes“ wurde die
Direktorin der Österreichischen
Nationalbibliothek, Dr. Johanna
Rachinger, zum „Chevalier de
l’Ordre National du Merité“
ernannt.
■ Die Bezirkshauptstadt Perg im
südlichen Mühlviertel wird
Bücherstadt. Unter Einbindung
der Volksschule und des Kindergartens finden viele interessante Projekte statt, die unter dem
Motto Rad-KulTOUR vorbeikommende Touristen dazu bewegen
sollen, öfter mal vom Donauradweg abzuzweigen.
■ Das Schweizerische Literaturarchiv der Schweizer Landesbibliothek hat das literarische
Archiv von Peter Bichsel und
von Franz Böni erworben sowie
den Nachlass von Otto Marchi
übernommen.
■ Die schwedische Bestsellerautorin Liza Marklund schrieb
jüngst die Vorlage für ihr erstes
eigenes PC-Spiel „Dollar“, das
sie mit dem schwedischen
Publishing-Partner von Modern
Games entwickelt hat.
■ 70% des weltweit hergestellten Insulins werden von 16 %
der Bevölkerung verbraucht.
Daher startet der Verband
österreichischer DiabetesberaterInnen zusammen mit dem
Hubert Krenn Verlag eine Insulin-Sammelaktion. Info:
www.hubertkrenn.at
■ Die Constantin Film AG plant
die Neuverfilmung des Romans
„Effi Briest“ von Theodor Fontane unter der Regie von Hermine
Huntgeburth. Es ist bereits die
fünfte Verfilmung des Stoffs.
■ Auf Initiative der Künstlerin
Erika Kronabitter erhielt
Feldkirch einen Literaturbahnhof, in dessen Halle wartende Passagiere verschiedene
Texte der heimischen und internationalen Literatur auf
Monitoren lesen können.
■ Book on Demand, die Alternative zum herkömmlichen Publikationsweg über Verlagslektorate für finanzstarke Autoren,
bekommt prominente Unterstützung: Vito von Eichborn, Verlagsgründer und Erfinder des
„Programms der Frechheiten“
mit Titeln wie „Kleines
Arschloch“ wird ab sofort die
Edition BoD herausgeben.
Augenblickmal
etallschrott und Bakelit-Teile, wie sie in alten Elektrogeräten vorkommen, werden unter
Zuhilfenahme von ein paar Knöpfen, Sieben und alten Kabeln zu
unterschiedlichsten Robotermännchen, fliegenden Untertassen,
Micky-Mouse oder bizarren Vögeln.
Der Züricher Maler Orlando Vazau
lässt in Alltagsutensilien, aus denen
er seine „objets recyclés“ formt,
Gestalten erkennen, die uns die
M
ÜBERSCHÄUMEND
Bier-Export
Wer denkt beim Seidl nicht ans Bier? Das Hohlmaß schreibt sich zwar mit -e-, aber lautlich ist
es nicht vom Namen des österreichischen „Bierpapstes“ Conrad Seidl zu unterscheiden. Und der
hat 2006 wieder einen Bier-Guide herausgebracht – der sich ebenso dafür eignet, neue Bierlokale und -sorten wie das Emmer-Einkorn-Dinkel zu entdecken, wie dafür, das eigene Lieblingsbeisl mit anderen zu vergleichen. Ab 2007 gibt
es neben der österreichischen Ausgabe auch
einen eigenen Guide für die Bierlandschaft Deutschlands. Und der soll
ebenso mit der strengen Beurteilung zwischen einem und fünf Krügeln
aufwarten. Österreichweit wurde die Höchstmarke „5 Krügel“ nur zehn
Mal vergeben. Der „Diewald“ in Raach zum Beispiel, auf den abseits
vom Bier-Guide ein Autorenfilm des Duos Ilse Kilic Fritz Widhalm aufmerksam macht, weil die beiden darauf den „Wohnzimmerweg“ zum
besagten Gasthaus beschreiten, liegt mit drei Krügeln in der ehrenhaften Mitte, die dem Vernehmen nach dem Standard des Münchener Hofbräuhauses entsprechen.
Conrad Seidl Bier-Guide-2006. KGV 2006, 332 S., EurD/A 14,40/sFr 26
Das besetzte Paris, Anfang der vierziger Jahre:
Ein Flaneur zwischen zwei Welten.
Eine Frau mit zwei Gesichtern. Und eine
unschuldige Liebe, die nie unschuldig war.
© Mathias Bothor
»Das erinnert an Schlinks Vorleser.
Ein Buch, das man von Herzen
verschenken kann.« Angela Wittmann, Brigitte
April in Paris. Roman. 240 Seiten. € 20,60 [A]
Auch als Hörbuch bei Random House Audio. www.luchterhand-literaturverlag.de
magischen Bedeutungen von Kindheitsobjekten in
Erinnerung rufen. Und nicht nur
das: Wer einmal selbstgebautes Kinderspielzeug aus Afrika gesehen hat,
wird sich von den Objekten im
Fotoband „Augenblickmal“ gewiss
daran erinnert fühlen.
Orlando Vazau. Augenblickmal
Gerstenberg 2006, 160 S.
EurD 15,90/EurA 16,40/sFr 28,50
ILL: AUS „AUGENBLICKMAL“ VON ORLANDO VAZAU/GERSTENBERG; FOTO: KGV
KURZMELDUNGEN
06_12 spektrum
15.05.2006 16:13 Uhr
Seite 11
SPEKTRUM
VERSCHENKT
D R . T R A S H E M P F I E H LT
Innsbruck liest
nderswo mag man darauf setzen, das Image einer Stadt
durch die Namen von Bestsellerautoren aufzupolieren, in Innsbruck
hat man sich entschieden, die Ressourcen einer Stadt zu nützen, um
unterschätzter Literatur ein Sprungbrett zu bieten. Deshalb wurde die
Jury der jährlichen Gratisbuchaktion verpflichtet, für ein trotz seiner Qualität kaum wahrgenommenes Buch einer lebenden Autorin oder eines lebenden Autors des
deutschsprachigen Raumes zu
votieren und damit kulturpolitische Impulse zu setzen. Und damit
fiel heuer die Wahl auf Dimitré
Dinevs Erzählband: „Ein Licht über
dem Kopf“, dessen Öffentlichkeitswirkung hinter Dinevs fulminantem Romandebüt „Engelszungen“ zurück blieb.
A
Die faszinierenden, berührenden und komischen Geschichten
des aus Bulgarien stammenden und
in Österreich in deutscher Sprache schreibenden Autors packen
auch thematisch ein heißes Eisen
an: Sie sind im Soziotop der Immigranten angesiedelt und schieben
so die Kultur der Ränder ins Zentrum.
Allerdings gilt auch für Innsbruck, was für Wien gilt: Obwohl
Frauen die überwältigende Mehrzahl der Belletristik-Lesenden stellen, wurde im Rahmen der Gratisbuchaktionen noch keine einzige AutorIn mit einem Werk einer
breiten Öffentlichkeit zugänglich
gemacht. Vielleicht ist die Werteskala insgeheim noch immer zwischen herrlich und dämlich angesiedelt.
PRAKTISCH
Flüssige Sprachen
ie Welle der Innovationen, die
das Langenscheidt-Jubiläumsjahr 2006 prägt, ist noch lange nicht
verebbt. In einer limitierten Auflage erschienen im März Sprachführer für die vier wichtigsten Sprachen Englisch, Französisch, Italienisch und Spanisch mit einem transparenten Umschlag als Eyecatcher.
Vor ozeanblauem Hintergrund
schwimmen Wasserbälle, Quietschenten und Fische, deren Anblick
schon zur Konversation beitragen
D
kann. „De qué
material es?“ „Ich
glaube aus Plastik.“ Und schon hat man das Fischlein an der Angel! Ansonsten: alles,
von der klar strukturierten Seitengestaltung bis hin zur Lautschriftangabe bei allen fremdsprachigen
Übersetzungen in der gewohnten
Langenscheidt-Qualität.
Sprachführer Spanisch. Langenscheidt
2006, 256 S., EurD 9,95/EurA
10,30/sFr 18,20
NIEDERÖSTERREICH
Literatur zum Hören
Die Dokumentationsstelle für Literatur in Niederösterreich trägt
dem Prinzip Rechnung, regionale Kultur zu pflegen und internationale Größen an die Region zu binden. Zuletzt, indem sie die verstärkte Nachfrage nach Hörbüchern nützte, um eine CD mit Texten
und Textausschnitten niederösterreichischer Autoren wie Manfred
Chobot, Karin Ivancsics, Elisabeth Schawerda, Margit Schreiner,
Peter Henisch und Silke Hassler zusammenzustellen, die von diesen selbst auf Veranstaltungen oder für die Edition vorgelesen
wurden. Das kann und will sich nicht mit Aufnahmen von
Profisprechern im Studio messen, bringt aber interessante Texte
unter die Leute. Info: www.literadio.org
BUCHKULTUR 105 | Juni/Juli 2006
Der Doc hasst Hippies
S
o, jetzt ist es heraußen (obwohl es sich
mancher Leser schon gedacht haben
wird). Der Doc hegt eine tiefe und seit
Jahrzehnten währende Abneigung gegen die Alt-68er, die sich
nach dem langen Arschkriechen durch die Institutionen an die
Sessel der Macht klammern. Er möchte kotzen, wenn er vor
Bahnhöfen Sandler-Punks herumhängen sieht, die nichts anderes sind, als die alten Gammler im neuen Kostüm. Er hält „alternative“ Stadtzeitungen und Radiosender, Museumsquartiere
und pseudo-avantgardistische Literaturvereinigungen für verbeamtete Subventionskassierer, die sich vor allem mit gegenseitigem Steigbügelhalten beschäftigen und die Welt mehr verblöden, als es die sogenannte Hochkultur oder Bourgeoisie je
gekonnt hätte.
Kurz und gut: Der Autor dieser Zeilen hat sich nie irgendeiner
„Gegenkultur“ zugehörig gefühlt – schon allein deswegen, weil
er in guter alter Tradition bei keinem Verein sein möchte, der
Leute wie ihn als Mitglieder aufnimmt. Deshalb verfiel er auch
gleich in klammheimliche Freude, als er den Buchtitel „Konsumrebellen. Der Mythos der Gegenkultur“ (Rogner & Bernhard bei
Zweitausendeins) in einer Verlagsvorschau erblickte. Schließlich weiß niemand besser als er, dass all die Verweigerer, Widerständler und „Outlaws“, die sich in Kultur, Politik und Kulturpolitik herumtreiben, in Wahrheit die schlimmsten Verräter, EUBefürworter und Machtmenschen sind.
Die kanadischen Autoren/Wissenschaftler Joseph Heath und
Andrew Potter schlachten in ihrem provokanten Buch dann
auch ein paar heilige Kühe ab, dass es eine Freude ist: Sie weisen nach, dass die selbsternannten „Konsumverweigerer“
selbst die schlimmsten Einkaufs-Junkies sind und mit den
erworbenen Alternativ-Kulturerzeugnissen, genfreien Biotechnik-Lebensmitteln, Häuschen im Grünen etc. nur cooler, besser
und klüger dastehen wollen als ihre dummen, manipulierten
Mitmenschen. Sie zerlegen die Argumente der „Rebellen“ und
zeigen, dass in Wahrheit niemand konformer und uniformierter
agiert als die Leute, die dauernd beweisen müssen, wie unkonventionell sie sind.
Wunderbar. Das alles musste schon lang einmal gesagt und
geschrieben werden. Das Problem bei Heath und Potter ist nur
ihre Alternative zum angeprangerten Nichtdenken der HippieYuppies und ihrer Erben. Da fällt ihnen nämlich auch nichts
Besseres ein als die angebliche Selbstregulierungsfähigkeit des
freien Marktes, kombiniert mit politischen und „Grassroots“Reformen. Und das, meine Herren, ist leider pure Sozialdemokratie – deren Folgen wir ja täglich in den Nachrichten erleben
müssen.
Es bleibt also dabei: Der Doc hasst Hippies. Auch wenn sie so
tun, als wären sie gar keine …
11
06_12 spektrum
15.05.2006 16:15 Uhr
Seite 12
SPEKTRUM
RUHE LOS
SOMMERLICH
Waldviertelfestival
■ Literaturfestival Leukerbad von
30. Juni bis 2. Juli 2006
von Wortkünstler Bodo Hell durch
die Rieden hinauf zur Weingartenhütte mit dem Tanzplatz, wo
bereits Andràs Fekete mit seinen
Musikern wartet.
Mei Tschtschtschenereschn: 16.
Juli, in einem aufgelassenen Steinbruch in Schönberg am Kamp und
am 8. September, in einem leer
stehenden Geschäftslokal in
Gmünd: Im Rahmen dieses Projektes schreiben und lesen drei alte
(in den 1960er Jahren geborene)
und drei junge Literaten (Geburtsjahr 80+) mit- und gegeneinander.
Eine ruhelose Geschichte: Die
Kulturbrücke Fratres gibt an zwei
Tagen im Juli Einblick in die
regionale jüdische Geschichte.
Dazu gehört auch eine Lesung des
Autors Erich Hackl aus seinem
Buch „Die Hochzeit von Auschwitz“.
Info: www.viertelfestival-noe.at
Vor der Bergwelt der Walliser Alpen
findet heuer bereits zum 11. Mal das
Literaturfestival im historischen Thermalbad Leukerbad statt. Die Mitter-
Österreichische Sportjournalisten schreiben
über 22 der größten
und wichtigsten Fußball-Länderspiele aller
Zeiten,
von
England
gegen Schottland 1872
bis
zu
Griechenland
gegen Portugal 2004.
Dabei geht es nicht nur
um die 90 Minuten auf
dem
Rasen,
sondern
auch um die damalige
Zeit, die Gesellschaft,
das
Zustandekommen
des Spiels und dessen Auswirkungen. Die
Texte geben Einblicke
in die Denkweisen der
Trainer, porträtieren die
Stars, nennen Namen
und Zahlen.
236 Seiten,
Reich bebildert, Hardcover, runde Ausführung
Preise: € 29,90 (A),
€ 29,10 (D), SFR 47,00
ISBN-10: 3-902480-16-5
ISBN-13: 978-3-90248016-5
Erscheinungstermin:
05/06
■ Comic-Salon Erlangen von 15. bis
18. Juni 2006
Alle 2 Jahre steht die Stadt Erlangen
ganz im Zeichen des Comics. Wesentlicher Punkt heuer: Erstmals wird der
Max und Moritz-Preis in der Kategorie
„bester auf deutsch erschienener
Manga“ vergeben. Und am Familiensonntag gibt es das Gesamtpaket zu
stark reduzierten Eintrittspreisen für
Kinder und Jugendliche.
Info: www.comic-salon.de
■ Literaturlandschaften Bayern 2006
noch bis 30. Juni
Viel los im Waldviertel
iteRADtour: Anfang Mai werden in allen teilnehmenden
Gemeinden Texte auf Wegen mit
Kalkfarbe aufgebracht. Jeder ist
eingeladen, sich aktiv zu beteiligen und seine LiteRADtour zu
schreiben.
Dreh.punkt: am 17. Juni 2006
geht es vom Loisum in Langenlois
zu einer Weinberg-Wanderung
unter der fachkundigen Führung
L
GEWINNSPIEL
Fussballspielen online
Die Buchhandelskette Thalia läßt sich für ihre Kunden ständig neue
Attraktionen einfallen. Vor Weihnachten konnten Kinder beim Bälle-
Mit dem Welttag des Buches beginnend feiert Bayern zum zweiten Mal
zehn Wochen lang Literatur und Musik
und setzt dabei vorwiegend auf
Bewährtes von Adalbert Stifter,
Friedrich Nietzsche, Arnold
Schönberg. U.a. mit Alfred Komarek,
Konstantin Wecker, Herbert
Rosendorfer und Veit Relin.
Info: www.dieliteraturlandschaftenbayerns.de
werfen in den Filialen Bilderbücher vom Feinsten ergattern und nun
gibt es für alle, die ihre Geschicklichkeit beim Online-TorwandSchießen unter Beweis stellen, zwei Wochenenden im Wellnesshotel
zu gewinnen. Man kann aber auch ganz klassisch tippen, denn die
Fußball-WM steht vor der Tür. Und zwar jedes einzelne Ergebnis oder
gleich den Weltmeister. Damit lässt sich eine ganze Woche Skiurlaub
am Nassfeld gewinnen. In allen Filialen in Österreich, Deutschland
und der Schweiz. Info: www.thalia.at, www.thalia.de, www.thalia.ch.
PREISE UND AUSZEICHNUNGEN
PREIS
PREISTRÄGER
BUCHTITEL
Preis der Literaturhäuser
Heinrich Mann-Preis
Hans Christian Andersen-Medaille
LiteraTour Nord
Riverton-Preis
Hermann Lenz-Preis
Friedrich Glauser-Preis
Henri Nannen-Preis
Bertha von Suttner-Preis
Max und Moritz-Preis
Uwe Kolbe
Peter von Matt
Margaret Mahy, Wolf Erlbruch
Karl-Heinz Ott
Frode Grytte
Jürgen Becker
Astrid Paprotta
Joachim Fest
Peter Bürger
Jacques Tardi
Vermittlung von Literatur
Essayistik
Gesamtwerk
Endlich Stille
Flytande Bjorn
Schnee in den Ardennen
Die Höhle der Löwin
Gesamtwerk
Kino der Angst
Lebenswerk
PREISGELD
9.000 €
8.000 €
50.000 €
15.000 €
Goldener Revolver
15.000 €
5.000 €
5.000 €
2.000 €
undotiert
BUCHKULTUR 105 | Juni/Juli 2006
FOTO: VIERTELFESTIVAL NÖ – WALDVIERTEL 2006
Spiele, die
Geschichte
schrieben
nachtslesung auf dem Gemmipass
und die literarische Schluchtenwanderung haben dabei schon Tradition.
Heuer werden neben BestsellerautorInnen wie Margriet de Moor und Cees
Noteboom auch wieder etliche Newcomer sowie Autoren aus der arabischen Welt erwartet. Auch die beiden
Österreicher Josef Haslinger und
Werner Kofler haben ihre Teilnahme
zugesagt. Info: www.wuerfelwort.ch
Das Beste vom
vagabundierenden
Kulturwissenschafter
Zum 65. Geburtstag von
Roland Girtler versammelt
dieses Lesebuch das Beste
und Schönste aus seinem
Werk. Ein Leckerbissen für
Fans, Wiederentdecker
und Neueinsteiger.
Roland Girtler
Ein Lesebuch
Das Beste vom vagabundierenden
Kulturwissenschafter
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Böhlau Verlag Wien • Köln • Weimar
10.05.2006 15:33:35 Uhr
13-28 buchwelt
15.05.2006 16:18 Uhr
Seite 14
Kurt Kaindl versteht
es, Atmosphäre und
Lebenswelten einzufangen. Hier am
Stadtplatz von Levoca,
Slowakei.
Vom Dasein dazwischen
Europa wächst, die literarischen Landschaften kommen sich näher. JournalistInnen und SchriftstellerInnen
bereisen unbekannte Regionen in Mittel- und Osteuropa.
Und mancher fragt sich: Ist diese ganze Osterweiterung
nicht eigentlich ein Witz? VON ALEXANDER KLUY
utschatsch, Pidvolotschysk, Zolotonoscha. Namen mit exotischem
Klang. Orte, die literarische Landvermesser erkunden, Reporter ohne
Auftrag, Reporter aus Ostmitteleuropa.
Doch deren Geschichten aus Glaisín Álainn
und Kapustin Jar, Pogradec und Boliqueime, Virbails, Leoncin, Vardø und Hohenlychen handeln vom Verschwinden, von Pauperisierung, Nivellierung, Auslöschung.
Nicht die Patina des Pittoresken beschreiben sie, sondern die Tristesse und Unentrinnbarkeit des Verfalls. Denn Ostmitteleuropa, so der Ukrainer Juri Andruchowytsch, „das fast ein halbes Jahrhundert
unbeweglich und unveränderlich zwischen
zwei eisernen Vorhängen festzusitzen schien, spürte, wie es langsam von seinem kanonischen Territorium verdrängt wurde – dem
B
14
Territorium der neuen Mitgliedsstaaten der
EU. Es ist eine sanfte, aber konsequente und
stetige Verdrängung, die ihm keinen Raum
mehr lässt. Die Ambiguität, das „Dasein
dazwischen“, verschwindet auf allen Ebenen – von der Unifizierung der Landschaft
zur Pragmatisierung der Mentalitäten.“ Ein
Antidot zu realpolitischer Amnesie sind
jüngst erschienene literarische und journalistische Arbeiten.
Es beginnt in einer Küche in Hamburg.
Und endet in einem Zimmer einer burjatischen Wodka-Schamanin. Dazwischen liegen drei Monate im tiefsten Sibirien. Ein Stipendium ermöglichte es der Hamburger Journalistin Merle Hilbk, im Sommer 2004 diese Region zu bereisen. Sie traf Akademiker
und Sciencemanager, Schamaninnen, die einen
Automobilclub gründeten, „businesmeny“,
Punkrocker und Handleser, lebt in einer Wissenschaftsstadt, in heruntergekommenen
Wohnblöcken, badet in abgelegenen Seen,
lauscht melancholischen Liedern.
„Warum habe ich nur die ganze Zeit
geglaubt, ich müsste die Russen nachahmen, um den russischen Rock’n’Roll, die
russische Seele zu finden?“ Die Antwort darauf gibt sie umgehend: „Ich habe sie doch
schon ein paar Mal gespürt, in Kasachstan,
in Nowosibirsk und im Altai, als einen leisen, melancholischen Hauch, der meine
Gefühle verwirrt und mich wach und lebendig gemacht hat; und so ist es doch nur
wahrscheinlich, dass ich sie die ganze Zeit
in mir getragen habe – und vielleicht nur
ein bisschen intensiver in mich hineinhorchen muss, um sie auch wahrzunehmen.“
Reisen als Lebenskunst, Reisen als Selbsterkenntnis – das führt Hilbk in ihrer sehr
lesenswerten Reportage vor. Was macht Reisen nach Russland aus? Hilbks Fazit fällt
etwas floskelhaft aus. „Die Fähigkeit, sich
mit jeder Faser auf das Leben einzulassen.
Besser gesagt: die Kunst, das richtige Leben
im falschen zu leben“, was dann doch sehr
im Modernekitsch verharrt.
BUCHKULTUR 105 | Juni/Juli 2006
13-28 buchwelt
15.05.2006 16:21 Uhr
Seite 15
B U C H W E LT
FOTOS: AUS „DER RAND DER MITTE“ VON KURT KAINDL/OTTO MÜLLER
Eine Reportage der anderen Art stammt
auch von Kurt Kaindl mit Texten von Karl
Markus Gauß. Gauß hat schon einige
berührende Bücher über vergessene Landstriche und deren Menschen geschrieben.
Begleitet wurde er dabei vom Fotografen
Kurt Kaindl. Dieses Mal wurden die Rollen getauscht. Zu sehen sind die sehr stimmigen Fotoarbeiten von Kaindl, zu denen
Gauß begleitende Texte verfasste.
Lebensreisekunst hat elementar mit Grenzen und Grenzübertritt zu tun. „An der
Grenze leben! Wäre das nicht eine Bereicherung, an beiden Welten teilzuhaben und
einer neuen Identität gehören, oder ist das
Leben an der Grenze etwa der Anfang eines
Verlustes?“ räsoniert Lindita Arapi und
nimmt den Titel der Textsammlung „Grenzverkehr“, den Annemarie Türk für KulturKontakt Austria edierte, wörtlich. Wie
dies auch die anderen Autorinnen und Autoren aus Ostmitteleuropa tun, die KulturKontakt einen Arbeitsaufenthalt in Wien
verdanken. Sie vermessen das „besondere
Territorium des Visums, wo der Druck einer
Doppelherrschaft wirkt“ (Nelly Bekus).
Inklusive Ernüchterungen wie Grenzkontrolle und konsularischer Demütigung. Doch
das Problem von Stipendiatenanthologien
ist an dieser gut zu studieren: mitunter polyphone Unschärfe, thematisch unvermeidliche Beliebigkeit und ein stark schwankendes Niveau. Höchst lesenswerte Beiträge
finden sich neben bemüht formulierten.
Das ist dem Band „Last & Lost“ von Katharina Raabe und Monika Sznajderman
nicht vorzuhalten. Raabe, Lektorin im Suhrkamp Verlag, und Sznajderman, Leiterin
des Czarne Verlags und Ehefrau des Romanciers Andrzej Stasiuk, luden namhafte
europäische Autoren ein, Orte des Verschwindens zu dokumentieren, „an denen
das süße Gift der Begeisterung unser Herz
stillstehen ließ“ (Andrzej Stasiuk). „Wie
wenige kennen eigentlich Vergangenheit!“,
zitieren die Herausgeberinnen Friedrich
Wilhelm Schelling. „Ohne kräftige, durch
Scheidung von sich selbst entstandene
Gegenwart“, so der deutsche Philosoph,
„gibt es keine. Der Mensch, der sich seiner
Vergangenheit nicht entgegenzusetzen fähig
ist, hat keine, oder vielmehr er kommt nie
aus ihr heraus, lebt beständig in ihr.“
K. M. Gauß schrieb über die Menschen von Svinia, Slowakei, ein beeindruckendes Buch.
Der geographische Bogen der Spurensu-
che, der entgegenzusetzenden Historie,
reicht von Südirland bis an die Wolga, von
Sizilien bis Nordnorwegen, von der Algarve bis Brandenburg, von East Anglia bis
zu einer untergegangenen Donauinsel, vom
BUCHKULTUR 105 | Juni/Juli 2006
Szene aus Vilnius: In Litauen war
Kurt Kaindl auf der Suche nach den
Memeldeutschen.
In der Slowakei besuchten Kaindl und
Gauß die Zipser. Hier vor einer Kirche
in Ladomirová.
15
13-28 buchwelt
15.05.2006 16:23 Uhr
Seite 16
solchem. Hier währt immer noch der
Anfang, ziehen sich immer noch die ersten
sechs Tage der Schöpfung hin.“
Staunen machen auch die überaus lesens-
In der Tiefe des Vergangenen ruht auch
Sarmatien. Sarmatien? Worum es sich dabei
handelt, darauf gibt der Wiener Übersetzer
und Schriftsteller Martin Pollack in der Anthologie „Sarmatische Landschaften“ Auskunft. „Sarmatien“, so definiert es Pollack,
„ist eine Welten-Gegend, in der die
Geschichte grausam gewütet hat wie kaum
sonst wo. Eine Gegend, vergiftet von gegenseitigem Hass und Verachtung, die Vorurteile und Feindbilder hervorbrachten. Nicht
nur, dass sich diese bis heute als ungemein
hartnäckig und langlebig erweisen, sie werden auch noch durch andere, neue ergänzt.“
Das europäische Sarmatien umfasst den
Raum vom Don bis zur Slowakei.
Versammelt hat Pollack allerdings einen
„Multigemüsecocktail“, so der Titel des Textes von Natasza Goerke. Vieles, zu vieles,
vor allem die Beiträge deutscher Autoren,
wirkt schwerfüßig, überanstrengt und akademisch abgehoben. Die besten Beiträge
stammen von Jan Maksymiuk, der von seinem Großvater erzählt, der in drei Jahrzehnten in fünf verschiedenen Staaten lebte – und sein Dorf nie verließ. „Es waren
eher die Staaten, die hier die Zuwanderer
waren.“ (Jan Maksymiuk) Und von Andrzej
Stasiuk. Dieser steuerte einen brillanten
Essay bei. Dort findet man folgenden trefflichen Gedanken: „In gewissem Sinne sind
diese Gebiete Europas noch immer ‚Wilde
Felder‘ – im siebzehnten Jahrhundert,
irgendwo am Dnjepr, im polnisch-tatarischtürkisch-russisch-moldawischen Grenzgebiet. Hier herrscht immer noch Kampf, Verwirrung, Panik und Angst vor dem Zukünftigen und Unbekannten. Es gibt zwar keine Kriege mehr, kein Pferdegetrappel, keine Krummsäbel, keine Turbane, kein Brandschatzen, keine Kosaken und Tataren, kein
Pfählen – Orthodoxie, Katholizismus und
Islam springen sich nicht gegenseitig an die
Kehle. Und doch scheint dieser Teil des
Kontinents zu mentaler Unsicherheit, geistigem Waisentum und ewigen Minderwertigkeitskomplexen verurteilt zu sein.
Alles ist mit Angst durchsetzt, mit Groteske und Staunen angesichts des Seins als
DIE BÜCHER
Merle Hilbk |Sibirski Punk. Eine Reise in das Herz des
wilden Ostens| Gustav Kiepenheuer 2006, 256 S., EurD
17,90/EurA 18,40/sFr 32,50
Kurt Kaindl |Der Rand der Mitte. Reisen ins unbekannte
Europa| Texte von Karl-Markus Gauß. Otto Müller 2006,
144 S., EurD/A 25/sFr 43,80
Annemarie Türk (Hg.) |Grenzverkehr. Literarische Streifzüge zwischen Ost und West| Drava 2006, 320 S., EurD/A
21/sFr 36,90
Katharina Raabe und Monika Szajderman (Hg.)
|Last & Lost. Ein Atlas des verschwindenden Europas|
Suhrkamp 2006, 336 S., EurD 29,80/EurA 30,70/sFr 52,70
Martin Pollack (Hg.) |Sarmatische Landschaften. Nachrichten aus Litauen, Belorus, der Ukraine und Deutschland| S. Fischer 2006, 368 S., EurD 28/EurA 28,80/sFr 49
Martin Pollack (Hg.) |Von Minsk nach Manhattan. Polnische Reportagen| Zsolnay 2006, 272 S., EurD 21,50/
EurA 22,10/sFr 38,70
Spannende Literatur, andererseits öde
Landstriche in „Last & Lost“ (re. u. o.)
16
BUCHKULTUR 105 | Juni/Juli 2006
FOTOS: AUS „LAST & LOST“ VON KATHARINA RAABE UND MONIKA SZNAJDERMAN (HG.)/SUHRKAMP
früheren Regierungsviertel in Tirana zum
Zufluchtsflecken sozialer Drop-outs in
Amsterdam. Durchgehend auf hohem
Niveau, findet sich hier von melancholischen Fotografien begleitete exzeptionelle
Prosa von Christoph Ransmayr, Lavinia
Greenlaw, Mircea Cartarescu, Geert Mak
und Vetle Lid Larssen, Juri Andruchowytsch
und Andrzej Stasiuk. Letzterer träumt davon,
„eines Tages die melancholische Geographie
unseres Kontinents (zu) schreiben. Dort werden Orte zu finden sein, die keiner besucht,
Orte, deren Gegenwart die Vergangenheit
ist, Orte, die man der Zeit zum Fraß vorgeworfen hat, wie sie einst den Barbaren zur
Beute wurden. Nach den Einfällen der
Nomaden sind sie aus Schutt und Asche auferstanden. Doch unter dem Einfluss der Zeit,
dieser zarten Kraft, die leichter als Luft ist,
sind sie zerfallen, verwittert und streben mit
dem Trotz der ursprünglichsten Materie in
die Tiefe der Erde, des Vergangenen.“
werten elf Reportagen aus der polnischen
Zeitung „Gazeta Wyborcza“ im Band „Von
Minsk nach Manhattan“, Prosaglanzstücke
von heutzutage im Westen ungewohnter
Tiefe, Präzision, Formulierungslust und Länge. Als „Die Presse“ „Reality“ von Mariusz
Szczygiel nachdruckte, war es der umfangreichste, jemals dort publizierte Text. Szczygiel zufolge müsse eine Reportage wie ein
guter Roman sein. Diesen Anspruch erfüllen diese Texte über neben anderem einen
Suizidanten, einen Ahnenforscher, eine Graphomanin vorbildlich. So führte Tomasz
Paturas und Marcin Stelmasiaks „Hautjäger von Lodz“ über Machenschaften von
Bestattungsunternehmern und Medizinern
zu Verhaftungen. Von solcher Ost-Erweiterung wünschte man sich mehr.
Aber: „Ist diese ganze ‚Osterweiterung’
nicht eigentlich ein Witz?“, fragt Juri Andruchowytsch ketzerisch. „Denn hier bin ich
ja doch zuhause – es ist nicht ihr [der Politiker], sondern mein Europa, unser Europa,
ein anderes Europa. Gut, dass es existiert.“
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Ein Mann der Bilder
Anlässlich der Präsentation seines neuen Bandes „Ihr Unvergesslichen. 22 starke Begegnungen“ traf der Dokumentarfilmer und
Autor Georg Stefan Troller für ein Gespräch SYLVIA TREUDL.
r ist ein Mann der Bilder, auch beim
Schreiben. Denn: „Filmen ist aufregender als Schreiben. Die Kombination von
Bild, Bewegung, Sprache, Ton, Musik ist ja
sozusagen für mich geschaffen worden.“
Gelassen, voller hintergründigem Humor,
mit milder Nachsicht und brennend vor Zorn,
eloquent in Schrift und gesprochenem Wort
– so begegnet Georg Stefan Troller seinem
Publikum. Ein Grandseigneur des Dokumentarfilms und eine beeindruckende, markante Erscheinung. Die Schreiberei ist für
ihn eher eine Art von Beschäftigung gegen
den Stillstand zwischen zwei Filmen. Und
so sind die Porträts in dem Band „Ihr Unvergesslichen“ auch angelegt, den LeserInnen
wird der Blick durchs Kameraobjektiv gestattet, sie sind mitten am Set dabei. Und durchlaufen eine gigantische Flut an Material, die
atemlos macht in der Mischung aus dramatischen, eitlen, und anrührenden Schicksalen, Momentaufnahmen, Sätzen. Woody Allen
möchte man aus seiner Attitüde schütteln,
Muhammad Ali weckt sehr ambivalente
Gefühle, genau wie die Piaf, das Axel-Corti-Porträt darf eine Liebeserklärung genannt
werden.
E
FOTO: PATMOS VERLAG
Es handelt sich bei dieser Publikation weni-
ger um ein „Skript“ zum Filmmaterial, sehr
viel mehr ist es diesem Band gelungen, Film
in literarischer Form zu werden.
Und alle diese großen und klingenden
Namen haben sich der Choreografie des Meisters gefügt, egal wie arrogant, widerborstig
oder medienverwöhnt sie sein mögen. Nach
der Methode gefragt, meint er schlicht: „Ich
habe sie nicht bloß reden lassen, sie ‚erscheinen‘, mit ihrer ganzen Körpersprache, wie
im Film. Aber ich frage nicht den VIP, ich
frage aus echter Neugierde – und das hat
ihnen gefallen. Außerdem“, kommt der
schmunzelnde Nachsatz, „trifft hier Eitelkeit auf Eitelkeit, das ergibt einen Dialog,
wenn man’s richtig macht, dann geht es um
den Kern und man vergisst auf die ganze
Berühmtheit.“
Troller ist einer, der über die eigenen
tektonischen Schichten recht genau Bescheid
weiß: Wäre da nicht dieser Spaß am ProvoBUCHKULTUR 105 | Juni/Juli 2006
zieren und Evozieren, trügen seine Arbeiten
nicht die unverwechselbare Handschrift, hätte er nicht „das Privileg, mit jenen Personen zu filmen, die ich haben will“. Gleichzeitig sieht er sich selbst als „introvertiert,
menschenscheu, ablehnend – bis heute“, als
jemanden, „der lieber eine halbe Stunde in
die falsche Richtung geht, bevor er nach dem
Weg fragt“.
Zu seiner Einschätzung der aktuellen TVLandschaft befragt, verortet Troller, der das
Medium in- und auswendig kennt, eine
„erschütternde Plattheit vor allem der Reality-Shows“ und fragt sich: „Wieso interessieren sich Leute dafür, die ich vor Jahren
interessieren konnte?“ und liefert im selben
Atemzug eine seiner wunderbaren Anekdoten: „Als ich mit den ‚Pariser Journalen‘
begonnen habe, war das Anforderungsprofil
eigentlich empörend, nämlich locker, lecker,
leicht gewürzt. Heute schätzt man dasselbe
Zeug als viel zu anspruchsvoll ein.“
„Politiker müssen ja lügen, sonst können
sie ihren Job nicht machen!“
großes Freilichtmuseum, das ist schon in
Ordnung. Aber für mich wohnen da zu viele Erinnerungen.“
Ein Standpunkt von einem Emigranten
wider Willen, von einem, der nie aufgehört
hat zu fragen, „wie wird man, was man geworden ist“, von einem, den die Menschen interessieren. Einer, der ohne großes Brimborium
erzählt: „Ich hab auch viele Filme im Knast
gemacht, mit Mördern, und um die zum echten Erzählen zu bewegen, muss man ihnen
vermitteln, dass man sich selbst den Moment
des Außer-sich-Seins ebenfalls vorstellen kann,
sich für fähig dazu hält – denn das Verstehen
ist ja der Beginn jeder menschlichen Verbindung.“
Jener Mann, der das Ehrenkreuz der Repu-
blik Österreich ausgeschlagen hat und bis
heute auf eine Reaktion auf seinen Ablehnungsbrief wartet, tut diese Angelegenheit
mit einem beinahe schelmischen Schulterzucken ab: „Ist auch in Ordnung, hat man
halt Portokosten gespart. Aber ich war ja in
Paris mit auf der Straße bei den Protesten
gegen Haider – da kann ich doch so einen
Orden nicht annehmen.“
Bei all dieser Leichtfüßigkeit an der Oberfläche darf aber der scharfe Blick auf die (internationale) Politik nicht unterschätzt werden.
Neben einem publikumswirksamen Ausspruch wie „Politiker müssen ja lügen, sonst
könnten sie ihren Job nicht machen“, steht
die brillant verdichtete Analyse des angeblich mächtigsten Mannes der Welt: „Ich
erkenne im entschuldigenden Lächeln des
ehemaligen Trunkenbolds die einzige echte
Erfahrung, die er je gemacht hat: die Bekehrung zum „anständigen“ Menschen – und
Millionär.“
Zu Wien mag Georg Stefan Troller nicht
allzu viel sagen, „sein“ Wien ist ja nachzulesen in dem Band „Das fidele Grab an der
Donau“. Ansonsten: „Ein Touristenstadl, ein
AUTOR & BÜCHER
Georg Stefan Troller, geboren 1921 in
Wien, emigrierte 1938 über die Tschechoslowakei nach Frankreich, wo er als
„feindlicher Ausländer“ interniert wurde, gelangte 1941 in die USA, wurde
US-Bürger, diente 1943-46 freiwillig in
der US-Army und lebt seit 1949 in Paris.
1962-94 drehte er neben diversen
anderen Filmen für WDR und ZDF die
Fernsehserien „Pariser Journal“ und
„Personenbeschreibung“. 2005 wurde
G. S. Troller mit dem Theodor-KramerPreis ausgezeichnet.
Zu seinen Buchveröffentlichungen zählen:
Dichter und Bohemiens. |Literarische Streifzüge durch
Paris| Artemis & Winkler 2003, 240 S., EurD 19,90/
EurA 20,50/sFr 34,90
|Das fidele Grab an der Donau. Mein Wien
1918-1938|
Artemis & Winkler 2005, 300 S.,
EurD 24,90/EurA 25,60/sFr 43,70
|Ihr Unvergesslichen. 22 starke
Begegnungen|
Artemis & Winkler 2006, 296 S., EurD
19,90/EurA 20,50/sFr 34,90
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Blutorte mit Panorama
„Transflair“ nennt sich eine spannungsvolle literarische Begegnung im ULNÖ, dem Literaturhaus in Niederösterreich. Eingeladen waren zuletzt Paulo Lins und Alfred Komarek. Moderiert wurde das Treffen VON KLAUS ZEYRINGER, der es für die Buchkultur dokumentierte.
B
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Eine spannende Begegnung:
Paulo Lins (m.) und Alfred Komarek (re.)
Literarischen eine Atmosphäre. Das Inferno
kann sich in allen möglichen Gegenden befinden.
Komarek und Lins schildern Blutorte, die
Bücher sind verfilmt, die Polt-Krimis und
„City of God“, mit mehreren Oscar-Nominierungen versehen. Für Paulo Lins bildet
freilich Rios schreckliches Viertel keine Krimikulisse: Hier geht es kaum um die Suche
nach dem Täter, hier ist offensichtlich, wer
wen umlegt. Für die Entstehung des Romans
„Die Stadt Gottes“ spielte ein austrobrasilianischer Kritiker eine wesentliche Rolle,
und nun ist der Autor dieses Bestsellers zum
ersten Mal in Österreich. Er liest in seinem
weichen, melodiösen Rio-Portugiesisch. Die
vom Moderator vorgetragene deutsche Fassung klingt härter. „Fehlt das Wort. Spricht
die Kugel“, heißt es, wenn der Dichter nach
alter Manier die Poesie anruft, „Falha a fala.
Fala a bala“ im Original.
Paulo Lins ist im Armenviertel aufge-
wachsen, hat in Rio de Janeiro studiert. Zwischen 1986 und 1993 arbeitete er an einem
Projekt der Anthropologin Alba Zaluar über
Kriminalität in unteren sozialen Schichten
mit, über organisiertes Verbrechen und Drogenhandel. Die tatsächlichen Begebenheiten
und den Bandenkrieg in der Cidade de Deus
verdichtete er unter diesem Titel zu einem
schonungslosen, erschütternden Roman, in
einer mit dem Vokabular der Favela durchsetzten Sprache. Mehrere Handlungsstränge, Rückblicke sowie auch Vorgriffe ergeben
eine Spannung und eine Dynamik, die dem
Leben in der Stadt Gottes gerecht werden.
Dialoge und innere Monologe erhöhen die
Glaubwürdigkeit, die Elemente der Poesie
müssen es mit dem Lärm der Schüsse aufnehmen. Die Kugel spricht dauernd in dieser Vorhölle. „Inferninho“, kleine Hölle, heißt
der erste der drei Romanteile. Sie sind jeweils
nach einem Gangsterchef benannt und enden
mit seiner Ermordung. Die Gewalt ist repetitiv und blank, sie braucht kaum eine andere Motivation als die sozialen Zustände, den
Blutort. Die Kindheit in der Favela, die
Armut, die die Menschen in einen aggressiven Alltag zwingt, mit eigenen Regeln, einem
Macho-Ehrenkodex. Laut Alba Zaluar lag
hier die Lebenserwartung bei 25 Jahren, im
Bandenkrieg der Cidade de Deus starben über
720 Jugendliche.
In Göttweig liest Paulo Lins aus einer
anderen Welt. Österreich sei sehr seriös, sagt
der Dichter aus Rio, der ein Buch über die
Sklaverei in Arbeit hat. Für ihn sei das Schreiben eine Möglichkeit, seine persönliche Erfahrung mit dem Rassismus zu verarbeiten.
Célia Mara steigt mit der Gitarre aufs Podium. „Mercado modelo“ singt sie über einen
Sklavenmarkt, ihre Stimme wechselt eindrucksvoll zwischen weich und rau. „Bastardista“ heißt ihre CD.
Mit Alfred Komarek kommt ein anderes
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FOTOS: PETER WILLENSDORFER
oa tarde, guten Abend, auf dem Podium Paulo Lins, ein Romancier aus Rio
de Janeiro, eine Dolmetscherin, ein
Moderator, Alfred Komarek, ein österreichischer Krimidichter, später eine brasilianische Sängerin, die das halbe Jahr in Wien
lebt, zwischendurch ein Winzer und Weine
aus der Gegend. „Transflair“ Drive: Sitzt man
spätabends im Panoramasaal des hügelhoch
gelegenen Stiftes Göttweig, bedarf es keiner ausufernden Phantasie, sondern nur einer
Filmreminiszenz, um aus dem Lichtermuster
da unten in der Ebene bis zur Donau, bis
Krems ein Nachtbild von Los Angeles entstehen zu lassen.
Boa tarde, der Carioca Lins hat seinen bunten Wollschal abgelegt, er blickt lächelnd
ins Publikum, der Saal ist gesteckt voll, Alfred
Komarek nippt verschmitzt am Wasserglas,
im Panorama leuchtet L. A. an der Donau.
Die Veranstalter, das ULNÖ diesmal mit
dem Wiener Lateinamerikainstitut, haben
den Abend als Kontrapunkt zum klösterlichen Raum unter den Titel „Blutorte. Rio.
Weinviertel“ gestellt. Idylle und Inferno,
Kellergassen und Kriminalfall. Die einschlägige Gattung, in der Gewalt als Rätsel
angelegt und aufgelöst wird, ist der Krimi,
der literarisch an Bedeutung gewonnen hat.
Bei allem Variantenreichtum bleiben eine
Detektivfigur und eine örtliche, regionale
Fixierung seine spezifischen Fundamente.
Die Umwelt des Tatortes setzt das Unmenschliche in einen menschlichen Kontext, sie gibt
dem Verbrechen einen Hintergrund, dem
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Ambiente zur Sprache. Er trägt eine PoltGeschichte vor, in den Dialogen dialektal.
Lins erzählt vom Plündern, Morden, Vergewaltigen im Elendsviertel, vom jungen Banditen als eine Art Popstar dieses Milieus, in
dem Kinder Whisky trinken und koksen.
Bei Komarek geht es weit weniger wild zu,
da wird in Preßhäusern bei einem guten Tropfen sinniert. Und dennoch ist in seinen Romanen weder das Weinviertel noch das Salzkammergut nur eine gemütliche Gegend.
Komarek hat sich seine Blutorte gut ausgesucht. Ihn habe es gereizt, einen Krimi in
einer oberflächlich ereignisarmen Gegend
anzusiedeln. Das fiktive Wiesbachtal, in dem
der bedächtige Gendarm Simon Polt waltet,
verweist namentlich auf einen locus amoenus. Bis der gewaltsame Tod im Mittel der
Gemütlichkeit sichtbar wird: In den Rebensaft mischt sich das Blut des Mordopfers. Die
Jurybegründung des Glauser-Preises für den
besten Krimi in deutscher Sprache, den Alfred
Komarek 1999 erhielt, lobt insbesondere die
bildhafte, die atmosphärisch dichte Schilderung des Schauplatzes. Hier agiert Polt,
der jedoch keinen Maigret auf dem Dorfe
gibt, er ist selbst ein Landmensch und ermittelt gegen jene, die ihm nahe stehen.
FOTO: HIGHLIGHT VIDEO
So weltenweit unterschiedlich sie erschei-
nen – in dem von Sigrid Stroh fein gedolmetschten Gespräch sind sich Lins und Komarek einig, dass ihre Literatur eine präzise,
nachvollziehbare Örtlichkeit braucht. Seine
Topographie der Weinkeller, sagt Komarek, führe in eine Unterwelt, die einige
Geheimnisse berge. Der Mord sei die größte mögliche Ausnahme im Leben. Da solle
die Darstellung glaubhaft sein und zeigen,
wie die Dorfgemeinschaft reagiert. Um mit
Aufrüttelnd: Szenenfoto aus „City of Gods“
Verbrechen einen Lektürespaß zu bereiten,
müsse der Krimi ein Spiegelbild einer sozialen und einer geographischen Wirklichkeit
liefern. Paulo Lins betont, dass er selbst aus
einer Realität der Gewalt komme und auch
eigene Erfahrungen wiedergebe. Die Blutorte bemühe er sich umso genauer darzustellen, als er ihnen eine Persönlichkeit
zuschreibe.
Sowohl bei Paulo Lins als auch bei Alfred
Komarek bilden eindringliche Dialoge einen
wesentlichen Aspekt der Erzählung, in der
„Stadt Gottes“ im kräftigen Soziolekt und
im Weinviertel in der Sprache eines Umgangs,
der ins Ungemütliche kippen kann. Auf die
Frage, was die Poesie vermöge, wenn die
Kugel spricht, antwortet Komarek, das
Unrecht müsse einen Ausdruck finden – im
Weinviertel werde viel geschwiegen, es handle sich um eine Gesellschaft mit starken Ressentiments gegen „das Andere“. Dies könne,
im ganz unterschiedlichen Kontext, auch für
Brasilien gelten, erklärt Paulo Lins, der seinen starken Bezug zur Poesie, etwa von Guimarães Rosa, betont. Von Anfang an sei die
Entwicklung seines jungen Staates mit Gewalt
verbunden gewesen, sagt er und verweist auf
Seit Monaten auf der Bestsellerliste:
»Dieses Buch wird Ihr
Leben verändern.« Sunday Times
den großen brasilianischen „Nationalroman“
„Os sertões“ von Euclides da Cunha. Über
Ungerechtigkeiten, Armut, Rassismus werde oft geschwiegen. Es bestehe ein Zusammenhang zwischen Hautfarbe und Armut;
in den Favelas, schätzt Lins, leben zu 90 Prozent schwarze Bewohner. Von Sklaverei und
Rassismus werde sein nächstes Buch handeln.
Célia Mara steigt auf das Podium, sie singt
eine Antwort auf das weiße Brasilien: Manifesto bastardista. Die beiden Schriftsteller
signieren. Man spricht dem Wein zu. An
Worten fehlt es nicht. Das Panorama sind
Lichter in der Nacht.
Klaus Zeyringer ist Vorstand des Deutsch-Département an
der Université Catholique de l’Ouest, Angers/F und Dozent
an der Universität Graz
THEMA
„Transflair“ heißt die Lese-GesprächsSerie, die seit zwei Jahren im Unabhängigen Literaturhaus Niederösterreich
(ULNÖ; www.ulnoe.at) stattfindet. Literatur bietet Transfer über diverse Grenzen
hinweg, das Flair des Bekannten mit dem
Flair des Fernen, des Anderen vermengend. „Transflair“ präsentiert Literatur
verschiedener Provenienz, Gespräche
österreichischer Autorinnen und Autoren
mit Kolleginnen und Kollegen von anderswo. Sie vermögen eine Momentaufnahme
von Ästhetik, Schreiben und Öffentlichkeit, von Verfahrensweisen und Vorstellungen zu bieten.
Paulo Lins |Die Stadt Gottes – City of God| Übers. v.
Nicolai von Schweder-Schreiner. Heyne 2006, 496 S.,
EurD 9,95/EurA 10,30/sFr 18,20
Alfred Komarek |Die Schattenuhr| Haymon 2005,
208 S., EurD/A 17,90/sFr 31,70
»Harry G. Frankfurts
Traktat erklärt
das Geschwätz der
Gegenwart.« Die Zeit
80 S. Geb. € 8,30 (A)
Suhrkamp
www.suhrkamp.de
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premium
Über den Wolken
Das Tor
zum Himmel.
Das Tor
zur Hölle.
I
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k
k
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REMES
Das
hiroshima-Tor
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premium
Thriller
Übersetzt von Stefan Moster
Deutsche Erstausgabe
440 Seiten ¤ 15,–
ISBN 3-423-24535-2
Atemlose Spannung im zweiten
Thriller des Bestsellerautors.
»Verschwörungstheorien und alte
Kulturen geben sich bei Ilkka Remes
die Hand wie in dem Erfolgsroman
von Dan Brown. Doch Remes ist
glaubwürdiger, ›Das Hiroshima-Tor‹
einer seiner besten Romane.«
Etelä-Saimaa
Es hat einige Zeit gedauert, bis Norbert Zähringer auf sein
vielbeachtetes Debüt „So“ einen weiteren Roman folgen ließ.
Über den jüngsten Roman sprach er mit TOBIAS HIERL.
er ein gelobtes Debüt vorlegt, hat es nicht so? In dem Roman ist es so, dass
einigen Druck durchzustehen. Denn der Erzähler, der die meiste Zeit im Koma
das zweite Buch wird am ersten liegt, der Einzige ist, der diese ganzen Zusamgemessen. Bei Norbert Zähringer menhänge kennt. Die anderen Figuren, die
hat es fünf Jahre gedauert, bis der neue Roman miteinander zu tun haben, begegnen sich,
fertig war. Doch das Warten hat sich gelohnt aber wissen gar nicht um diese Zusammen(siehe auch Rezension auf Seite 32). Dazwi- hänge, dass sie sich kennen oder dass sie
schen waren Arbeiten fürs Radio, immer mal gemeinsame Wurzeln in der Vergangenheit
wieder Geschichten in Anthologien und Zei- haben. Ich hatte ja vorher kein Konzept oder
tungen. Das erste Buch hatte sich auch nicht so eine komplizierte Struktur, die gebaut
so schlecht verkauft und hin und wieder wird und sich am Schluss wieder löst, sonbekam er auch ein Stipendium. „Das sollte dern das passiert einfach. Das ist für mich das
man nicht unterschätzen“, meint Zähringer, Spannende beim Schreiben und da steckt für
„einen Autor auszuhalten kostet nicht viel mich auch ein Stück Welterfahrung dahinGeld.“ Es ging, aber es wurde schon ein wenig ter. Jeder spricht über die Globalisierung
eng. Doch dann war sie fertig, eine sehr ver- heute und was ich da vielleicht gemacht habe,
zahnte Geschichte. Eigentlich viele Geschich- ist eine Art der Globalisierung der kleinen
ten, die zu unterschiedlichen Zeiten spie- Leute. Aber das ist schon ein wenig Interlen, nach dem 2. Weltkrieg, in den 1980er pretation.
Jahren, in der Gegenwart, und doch hängen BUCHKULTUR: Was war eigentlich
sie alle miteinander zusammen. Geschickt zuerst da, die Idee für die Geschichte oder
verwebt Zähringer seine verschiedenen Erzähl- der Erzähler?
stränge und hat sich dafür einen ungewöhn- Zähringer: Ich habe immer so eine Idee, worlichen Erzähler einfallen lassen. Den Stu- auf alles hinauslaufen könnte. Bei diesem
denten Alp Tazafhadi,
Buch jetzt hatte ich am
der bei einer DemonAnfang mehrere Bilder
Die Figuren stellten sich im Kopf. Zuerst von
stration bewusstlos gedann ein, ich begann sie dem Jungen, der sich im
schlagen wird, ins Koma
auszuschreiben und
fällt, aber im Weiteren
Fahrzeugschacht verals Erzähler fungiert.
steckt. Dann war mir
irgendwann, wenn ich
Daneben treten noch
diese seltsame AtmosGlück habe, werden sie
eine Reihe anderer,
phäre der 1980er-Jahre
selbstständig.
manchmal wunderlicher
im Kopf geblieben, und
schließlich war ich in den
Gestalten auf. Und noch
etwas zeichnet Zähringer aus, er scheut sich USA auf diesem Versuchsgelände. Die Figunicht davor witzig zu sein, wenn er es für ren stellten sich dann ein, ich begann sie auszuschreiben und irgendwann, nach einem
nötig hält.
BUCHKULTUR: Ihr Buch spielt in sehr
Drittel etwa, wenn ich Glück habe, werden
sie selbstständig. Sie machen dann, was sie
unterschiedlichen Gegenden, es lässt sich
wollen, lassen sich dann auch nicht mehr
nicht genau verorten, spielt auch in verzwingen, etwas anderes zu machen. Das ist
schiedenen Zeitebenen. Über allem
für mich schön, also zum Schreiben.
schwebt ein Erzähler, der überall heimisch
W
ist. Wollten Sie aufzeigen, dass alles
irgendwie zusammengehört und zusammenpasst?
BUCHKULTUR: Man merkt eine gewisse
Norbert Zähringer: Das ist die große Frage, die ich mir auch selbst immer wieder stelle: Hängt alles mit allem zusammen? Hat
alles was wir tun Auswirkungen in der nächsten Zeit oder in der nächsten Welt oder ist
Zähringer: Das Abgedrehte kommt nur
überbordende Fantasie. Sie lieben also
eher schrägere, abgedrehte Geschichten?
durch die Zusammenballung zustande. Manches lasse ich mir einfallen, doch manches,
hat einen realen Hintergrund. Und ich habe
eine Freude daran, immer viele Geschich-
www.dtv.de – Ihr Kulturportal
BUCHKULTUR 105 | Juni/Juli 2006
13-28 buchwelt
16.05.2006 12:07 Uhr
Seite 21
Norbert Zähringer: Der Autor verschwindet, und nur noch das Buch ist da.
BUCHKULTUR: Man könnte auch sagen,
unter Umständen wäre es auch ein Berlinroman oder würden sie das gezeigte Berlin eher als eine Metapher ansehen?
Zähringer: Ich würde schon sagen, dass ist
eine Art Metapher für eine Art Insel und auch
eine Metapher für eine Art Bundesrepublik,
die es eine Weile lang gab, aber im Weiteren auch für eine Insel, wo man überhaupt
nicht merkt, was um einen herum passiert.
Wenn die Welt aufbricht, merkt es keiner
bis auf den Erzähler, der im Koma liegt. Aber
einen Berlin-Roman oder unsere Zeit in der
WG und so oder einen 80er-Jahre-Roman,
das würde ich keine 30 Seiten durchhalten.
Weil ich versuche es in einen größeren Zusammenhang zu setzen.
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erschien, ist einige Zeit vergangen?
Zähringer: Fünf Jahre. Ich war schon
ten zu erzählen. Am Ende hängt das damit
zusammen, dass ich selbst ein ganz langweiliges Leben führe. Ich denke, die eine Welt
reizt mich und warum soll ich nicht noch ein
paar andere dazu bauen.
BUCHKULTUR: Es ist nicht nur der Witz,
der sie antreibt, es gibt auch da und dort
politische Markierungen drin. Das beginnt
mit den Demonstrationen und mit dem
Doppelagenten und endet noch lange
nicht mit den SS-Ärzten. Das ist nicht
unbedingt witzig.
Zähringer: Naja, um es in einen weiteren
Kontext zu bringen, Sie nehmen so viel auf
an Informationen, doch das, was wir sehen,
ist doch sehr abstrakt. Wir haben die Information, aber nicht die Geschichte dahinter
und wenn man historische Wegmarken aufgreift, sollte man versuchen, diesen in die
Geschichte geworfenen Figuren ihre
Geschichte wieder zurückzugeben. Mein Versuch ist nun, den Menschen literarisch zu retten, aber auch zu bestrafen. Wie eben den SSArzt.
ein wenig auf der Suche. Nach Themen, Umfang und so. Ich hatte Erzählungen angefangen, die dann relativ kurz
endeten oder aber Anfänge blieben. Das hat
gebraucht, bis ich nach meinem ersten Roman
wieder meinen Tritt gefunden habe. Es war
auch sehr schwierig, nachdem das erste Buch
sehr gut aufgenommen wurde, war dann auch
der Druck da.
BUCHKULTUR: Und beim Schreiben, ist
man da nicht unsicher, ob man auf dem
richtigen Weg ist?
Zähringer: Man ist gerne unsicher. Man muss
den Druck für sich selbst aufbauen und dann
muss man, was von Außen kommt, filtern.
Man überlegt sich, wenn ich mit dem und
dem noch rede, bekomme ich vielleicht diesen oder jenen Preis. Da geht viel Zeit drauf.
Im Betrieb rudern, seine eigene Werbemaschine sein und noch schreiben, das kann
ich nicht. Ich muss dann verschwinden. Ich
finde es auch gut, dass der Autor verschwindet
und nur noch das Buch da ist.
BUCHKULTUR: Und wird Ihr nächster
Roman wieder so ornamental und so
verzahnt sein?
Zähringer: An manchen Stellen ein wenig
FOTO: SUSANNE SCHLEYER
ZUM AUTOR
Norbert Zähringer, geboren 1967 in
Stuttgart, lebt mit seiner Familie in Berlin. Nach seinem Debütroman „So“ legte er nun seinen zweiten Roman vor.
Norbert Zähringer |Als ich schlief| Rowohlt 2006, 288 S.
EurD 19,90/EurA 20,50/sFr 34,90
BUCHKULTUR 105 | Juni/Juli 2006
geradliniger, aber dass es irgendwann nicht
ein wenig durchgeht, das werde ich nie ganz
verhindern können. Ich nehme an, der nächste Roman wird ein wenig umfangreicher
sein und wenn der Raum größer ist, ist das
Tempo und der Rhythmus anders. Im
Moment macht es mir aber noch Spaß so zu
erzählen. Insofern wird von diesem Ton im
nächsten Roman was drin sein.
:EIGTESSICHHEUTE
BUCHKULTUR: Bis dieser Roman
13-28 buchwelt
15.05.2006 16:35 Uhr
Seite 22
B U C H W E LT
Die Überraschung des Lesefrühlings: Schon wenige Tage nach
der Auslieferung war der Roman von Neoautor Thomas
Sautner vergriffen. „Fuchserde“ besticht durch eine Familiengeschichte aus der Welt des fahrenden Volkes. VON DITTA RUDLE
u wenig Sitzplätze bei der Präsentation
des Buches, Wochen davor schon das
erste Kapitel in der „Presse“ abgedruckt
und die erste Auflage bereits verkauft, ehe
alle RezensentInnen das Vorausexemplar zu
Ende gelesen haben. Ein Erfolg, der PicusVerleger Alexander Potyka zum ausgelassenen Stepptänzer werden ließ.
„Erfolg, das ist eine unberechenbare
Mischung aus Talent, Glück und Arbeit, und
oft auch ein Missverständnis“ formulierte
etwas boshaft Carl Zuckmayer. Hätte der
Autor seinen neuen Kollegen Thomas Sautner gekannt, hätte er vom falschen Verständnis
nicht gesprochen. Der überraschende Erfolg
von Sautners Debütroman „Fuchserde“ ist
nichts weniger als ein Irrtum. Sonst aber
hat Zuckmayer schon Recht. Talent, harte
Arbeit und auch eine gute Portion Glück
sind dem 36jährigen sehr wohl zu bescheinigen. Zwei Jahre lang hat er recherchiert,
um mehr über die Jenischen zu erfahren, als
ihm sein Freund, selbst einer aus dem Volk
der Fahrenden, bisher erzählt hat. Sein Talent
zum Schreiben hat er bereits während seines
Studiums als Journalist bewiesen. Möglich,
dass die journalistische Ausbildung und das
abgeschlossene Studium der Politik- und
Z
22
Zeitgeschichte ihn davon abhalten, einfach
nur so daherzufabulieren. Was Sautner erzählt
hat realen Hintergrund und aufklärerische
Wirkung.
Wer weiß denn schon, wer oder was diese „Jenischen“ sind? Eine kurze Erklärung
ist deshalb notwendig. Wie Sinti und Roma
sind die Jenischen Angehörige des „fahrenden Volkes“. Ihre Herkunft ist nicht restlos
geklärt, doch sind sie vermutlich europäischen Ursprungs, vielleicht Nachfahren der
Kelten. Das Fahren und Umherziehen, einst
wohl aus der Not geboren, ist ihnen Tradition und Lebensform. Im 19. Jahrhundert
verdienten sie ihr Brot als Kesselschmiede,
Korbflechter, Hausierer oder Schausteller.
Oft wurden sie als „weiße Zigeuner“ bezeichnet. Heute, so nimmt man an, leben in Europa zwischen 250.000 und 1,5 Millionen Jenische. Auch nach der Verfolgung durch die
Nationalsozialisten waren die Fahrenden als
„asoziale Störenfriede“ nicht gern gesehen.
Nicht nur in der Schweiz, auch in Österreich,
wurden ihnen vielfach die Kinder weggenommen, um aus ihnen „brave Bürger“ zu
machen. Nicht verwunderlich, dass die Jenischen nicht als solche erkannt werden wollten. Erst in jüngster Zeit erwacht wieder neues Selbstbewusstsein in den Jenischen, vor
allem Künstler, Schriftsteller und Puppenspieler geben ein deutliches Lebenszeichen.
In Österreich sind Jenische als Volksgruppe
anerkannt.
Thomas Sautner ist kein Jenischer, auch
wenn er in jener Gegend geboren wurde, in
der große Teile seines Romans spielen, in
Gmünd. Wie gesagt, das Interesse an den
Fahrenden und ihrer Geschichte weckte ein
Freund, dem Sautner Löcher in den Bauch
fragte. „Jedes Kapitel hat er gegengelesen.
Ich wollte, dass der Roman der Realität entspricht.“ Um diese zu belegen, sind der abenteuerlichen Geschichte zweier fiktiver Familien sachliche, kursiv gedruckte Absätze eingefügt. Ohne dies würde manches aus dem
Leben von Lois und Frieda, erzählt von
Urgroßvater Lois seinem „kleinen Fuchs“, als
pure Fantasie abzutun sein. Ein Geschichtsbuch sollte „Fuchserde“ nicht werden, auch
wenn die Geschichte der Jenischen den Handlungsstrang bildet. Zugleich wollte der Autor
aber die LeserInnen anregen, auch über sich
nachzudenken. „Wie lebst du dein Leben?
Das ist eine Frage, die zwischen den Zeilen
steht.“ Bei der vorsichtigen Andeutung, dass
neben sensiblen Naturschilderungen und
köstlichem unterschwelligem Humor auch
„missionarisches Bestreben“ und liebevolle
„Romantisierung der Fahrenden“ spürbar sei,
reißt er verschreckt die dunklen Augen auf,
schüttelt die schwarzen Locken: „Da muss
ich aufpassen.“
Das nächste Thema hat Sautner bereits im
Kopf, im Herzen und auch auf 50.000 Zetteln, die durchwühlt werden, wenn er an seinem Laptop sitzt. Sautner huldigt nicht der
von vielen Schriftstellern geübten Praxis
des umständlichen händischen Kritzelns –
er beschreibt den Computer nahezu als Muse:
„Die Sprache ist schneller und nicht mehr
so edel.“ Vor allem aber erfreut ihn die Technik des Streichens, Löschens und Verschiebens. „Wenn ich mir die Melodie anhöre und
es kratzt und quietscht, muss ich eine neue
Note suchen.“ Das geht technisch ganz einfach, ohne dass chaotisches Geschmiere entsteht.“ Dennoch wird der nächste Roman
„kein klassischer Nachfolger, sondern ganz
was anderes.“ Davor aber steht ihm weit
Größeres bevor, die Geburt seines ersten Kindes. Wenn der Bub in die Schule geht, hat
der Vater vielleicht sein Ziel erreicht: „Vom
Schreiben leben zu können“.
Ach ja, eine Zuckmayersche Zutat zum
Erfolg fehlt ja noch: das Glück. Dieses brachte Waldviertel-Nachbar und nun auch Kollege Robert Menasse ein. Er legte ein gewichtiges Wort für den Neuling ein: „Dieser außergewöhnliche Debütroman … ein Buch voller Weisheit, berührend, humorvoll und
unglaublich spannend.“ Wer könnte da widerstehen. Schon der dritte angefragte Verleger
konnte nicht.
ZUM AUTOR
Thomas Sautner, geboren 1970
in Gmünd, lebt und arbeitet in
Wien und im Waldviertel.
Thomas Sautner |Fuchserde| Picus 2006,
220 S., EurD/A 19,90/sFr 34,90
Informationen über die Jenischen:
www.jenisch.info
BUCHKULTUR 105 | Juni/Juli 2006
FOTO: ALEXANDRA EIZINGER
Gewonnen! Gewonnen!
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B U C H W E LT
lisa ist Immobilienmaklerin. Sie ist
gut in ihrem Job, aber irgendwas
stimmt nicht mit ihr. „Ich hatte zu
viele Totgeburten“, sagt sie über sich.
Plötzlich brennen Wohnungen aus, die sie
eigentlich vermieten sollte. Ist sie für die
Brände verantwortlich? Und was hat es mit
den Mädchenmorden auf sich, die in ihrer
Kindheit stattgefunden haben?
„stillborn“, der erste Roman von Michael Stavaric, schickt eine raue Heldin auf
den Weg zu sich selbst. Für Elisa ist das
ganze Leben, sogar das Atmen eine Aufgabe, die sie sich nicht ausgesucht hat und
zu der sie sich jeden Moment neu überwinden muss: Lebe, verdammt, atme. Wer
so mit dem Alltag kämpft, braucht keine
großen Katastrophen mehr, um erschöpft
zu sein. Die Liebesbeziehung mit dem
Ermittler Georg, der die Brände aufklären
soll, lässt Elisa eher überrascht über sich
ergehen, Chef und Kolleginnen im Büro
gehen ihr in unterschiedlichen Abstufungen auf die Nerven. Warum sie nicht glücklich ist, kann ihr auch ihr Psychiater nicht
sagen. Aber als sie sich auf den Weg zurück
zu ihrer Mutter macht, erwarten sie einige Antworten.
E
FOTO: RESIDENZ VERLAG
Atemlose Sprache. Michael Stavaric, 1972
in Brünn in der damaligen Tschechoslowakei geboren und im niederösterreichischen Laa an der Thaya aufgewachsen, ist
Assistent des tschechischen Botschafters in
Wien, er übersetzt aus dem Tschechischen
– und er schreibt auf Deutsch. Und so atemlos, wie Elisa durch ihr Leben hetzt, so atemlos ist auch die Sprache, die er für sie gefunden hat, die mäandert und vorwärts drängt
und voller Assoziationen, Zitate und spontaner Einfälle steckt. Kaum einmal kommt
Stavaric bei einem eindeutigen Ausdruck
zur Ruhe, sondern setzt immer wieder von
neuem an, die Ereignisse zu beschreiben.
Auch pflegt Elisa als Erzählerin die Liebe
des Autors zu Listen oder spielt in Gedanken Lebensmodelle durch, die sie nie gehabt
hat: einen Ehemann, Kinder, gemeinsames
Abendessen, Alltag. All das zusammen
genommen ergibt das Bild einer Welt, die
über Elisa fast zusammenschwappt und die
sie gerade noch aufzeichnen, aber kaum
mehr ordnen kann. – Einen ähnlichen überbordenden Tonfall kennen die LeserInnen
von Stavaric’ Buch „Europa. Eine Litanei“
(kookbooks), in dem er recherchierte und
erfundene Informationen, Gesetze und
Sprichwörter verschiedenster Provenienz
zu einem bunten Panoptikum verwob und
dem menschlichen Gerede ein ebenso lieBUCHKULTUR 105 | Juni/Juli 2006
Michael Stavaric mutet seiner Heldin
einiges zu.
Denn eigentlich geht es um Elisa und
Lebe.
Atme.
Michael Stavaric beeindruckt mit seinem Romanerstling „stillborn“. Auch
PAMELA KRUMPHUBER war
von dessen rauer Heldin
angetan.
bevolles wie ironisches Denkmal setzte:
„Und jeder meldet“. – Die Suche nach dem
richtigen Ton stand auch am Beginn des
Schreibens von „stillborn“, erzählt Michael Stavaric: „Ich weiß noch, dass ich auf dem
Rückweg von einer Frankfurter Buchmesse im Zug saß und zu schreiben begonnen
habe. Das Geräusch der Schwellen, über die
der Zug fährt, ihr regelmäßiger Rhythmus
hat sich wohl in der Sprache niedergeschlagen. Bevor ich mir Gedanken über eine
Handlung mache, beschäftige ich mich
immer mit formalen Fragen.“
Dass die Krimielemente von Bränden
und Morden auf der Handlungsebene im
Vergleich dazu eher nebenbei eingestreut
werden und Michael Stavaric auf die im
Krimi obligatorische dramatische Aufklärung fast verzichtet, ist deshalb auch
beabsichtigt. „Für mich war die Krimihandlung immer nur ein Ausgangspunkt.
Ich wollte die Erwartungen, die damit
geweckt werden, enttäuschen, damit der
Leser sich intensiver mit dem Buch auseinander setzen muss.“
darum, wie sie mit ihrem Leben und ihrer
Vergangenheit zurechtzukommen lernt.
Einige Rezensenten hat diese Figur vor den
Kopf gestoßen, sie empfanden sie als sehr
düster und halb wahnsinnig. Die differenzierte innere Perspektive, die Michael Stavaric für seine Figur entwickelt hat, mag
ein wenig den Blick verstellen auf die konkreten Fortschritte, die sie im Laufe des
Buches macht und dass sie alles andere als
verrückt ist. Tatsächlich gewinnt sie
Abstand und entwickelt eine ironische
Sichtweise auf sich selbst, sie stellt sich der
Auseinandersetzung mit ihrer Mutter und
mit ihrem Psychiater – auch wenn gerade
der immer wieder an der Nase herumgeführt wird. Die Botschaft ist jedenfalls hoffnungsvoll: Reden, hinschauen, zu sprechen
beginnen setzen die Entwicklung in Gang.
Danach kann es nur mehr besser werden.
Trotzdem umschifft „stillborn“ geschickt
die Gefahr, zur Nabelschau oder zum bloßen
Psychogramm zu geraten. Schon allein die
Tatsache, dass Elisa als toughe Maklerin
arbeitet, verhindert Larmoyanz und Selbstverliebtheit. Sehr genau zeigt der Roman,
dass sich eine gute Verkäuferin keine Animositäten leisten kann und auch im Privatleben eher auf Witz und Durchhaltevermögen setzt, als sich auf die Unterstützung durch andere zu verlassen. Die geschilderten Zumutungen des Büroalltags und
gar das Verkaufen-Müssen als Lebensunterhalt verankern „stillborn“ zusätzlich in
einer sehr realen Arbeitswelt, in der um
jeden Preis Abschlüsse gemacht werden
müssen und die Angestellten sehen können, wo sie bleiben. Dass sie sich deshalb
manchmal für tot geboren halten, ist da nur
logisch. Dass sie trotzdem leben und atmen
und das auch lernen können, zeigt dieser spannende Roman.
ZUM AUTOR
Michael Stavaric wurde 1973 in Brno
geboren, lebt heute in Wien als Autor,
Übersetzer und Herausgeber.
Michael Stavaric |stillborn| Residenz 2006,
171 S., EurD/A 17,90/sFr 31,70
23
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Seite 24
lle vier Jahre treffen sich die – in aufreibenden Qualifikationsspielen
ermittelten – besten Fußball-Mannschaften der Welt, um die stärkste,
am schönsten spielende, rundum beste Nation zu ermitteln. Denn Weltmeister wird
nicht nur eine Mannschaft von mehr oder
minder überragenden Spielern, sondern stets
ein ganzes Land. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass während der WM-Endrunde 2002 in Japan und Südkorea über 30 Milliarden Zuseher vor dem TV mitfieberten.
Selbst jene, deren Nationalmannschaften
nicht dem erlauchten Kreis angehören, verfolgen die Wettkämpfe mit Spannung.
Im Gastgeberland ist die Vorfreude durch
zahlreiche Werbeeinschaltungen, in denen,
trotz Fehlens jeglicher Affinität, Fußbälle
durchs Bild rollen oder Fangesänge angestimmt werden, schon etwas ausgereizt. Als
ob die endlosen Teamchef- und Torhüterdiskussionen nicht ermüdend genug gewesen wären.
Der medialen Übersättigung zum Trotz,
wird die WM-Endrunde ein faszinierendes
Ereignis, das jede/n in seinen Bann zieht.
Und sei es, weil sich uneingeweihte Zuseher über den Enthusiasmus der Fußballverrückten Anhängerschaften samt ihrer
magischen Rituale amüsieren dürfen.
A
24
Wenn am 9. Juni unter
der Münchner Abendsonne
Deutschland und Costa Rica
zum Eröffnungsspiel der 18.
Fußball-Weltmeisterschaft
aufeinander treffen, regiert
einen Monat lang das runde
Leder. Um die Wartezeiten
zwischen den Spielen zu verkürzen, haben die Verlage für
ausreichend Lesestoff gesorgt.
VON HANNES LERCHBACHER
La Ola
Von dieser „Magie des Fußballs“ schreibt
Luisa Francia in ihrem ein wenig zu esoterischen Buch „Ballzauber“. Neben den symbolischen Bedeutungen von Trikotnummern
und -farben, erklärt sie kultische Rituale
am sowie abseits des Spielfeldes.
Es sind tatsächlich magische Momente,
wenn La Ola, die Welle, durch eine ausverkaufte Fußballarena läuft, während die auserwählten Balltreter auf dem Rasen ihre natio-
nale Ehre verteidigen. Nicht dass diese Begegnungen zwangsläufig auf höherem Niveau
wären als gewöhnliche Länderspiele, aber der
Enthusiasmus auf den Rängen und die große
mediale Aufmerksamkeit verleihen dem
Ganzen einen gewissen Zauber. Die rund 700
Fotos, die Christian Eichler für „FußballWeltmeisterschaften – Tag für Tag“ zusammengetragen und kommentiert hat, zeigen
Szenen wie sie eigentlich in jedem x-beliebigen Spiel vorkommen. Aber dennoch merkt
man vielen dieser Bilder ihre historische
Bedeutung und die großen Emotionen an.
Derartig kultische Zusammenkünfte
benötigen einen entsprechenden Rahmen.
Diesen stellt der 30 mal 47 cm große Bildband „2:0 0:6 – Die Stadien“ in rund 350
Abbildungen und informativen Texten vor.
2000 Jahre Stadionbau und die 12 hochmodernen WM-Arenen, für Architektur- und
Fußballfans kompakt präsentiert.
Große Leidenschaft und Hingabe zeigt
der Fotoband „365 Fußball-Tage“. 25 Jahre
lang hat Kai Sawabe in Stadien, Cafés, auf
der Straße, … weltweit Szenen der Hingabe und Begeisterung eingefangen.
Während sich die einen nun hemmungslos
dem Kult mitsamt seinen Ritualen hingeben, steht anderen eine harte Zeit bevor. Auch
wenn das Image vom reinen Männersport
BUCHKULTUR 105 | Juni/Juli 2006
FOTOS: AUS „365 FUSSBALL-TAGE“ VON KAI SAWABE/WERKSTATT (LI.), „FUSSBALL-WELTMEISTERSCHAFTEN“ VON CHRISTIAN EICHLER/KNESEBECK
Fussballfieber
13-28 buchwelt
16.05.2006 12:22 Uhr
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B U C H W E LT
lange überholt ist, leiden viele Frauen unter
dem männlichen Passivsportverhalten. In
„Abseitsfallen“ geben Harald Braun und Julia
Möhn Nachhilfe in Sachen Fußball und haben
mehr oder weniger nützliche Tipps parat, wie
frau die WM schadlos übersteht. Die Frage
ist allerdings, ob es sich lohnt, zu diesem
Zweck 300 Seiten über Fußball zu lesen.
Harald Braun, Julia Möhn |Abseitsfallen| Lübbe 2006, 280 S.
EurD 6,95/EurA 7,20/sFr 12,90
Christian Eichler |Fußball-Weltmeisterschaften – Tag für Tag|
Knesebeck 2005, 744 S., EurD 25/EurA 25,70/sFr 44,70
Luisa Francia |Ballzauber| Nymphenburger 2006, 200 S.
EurD 14,90/EurA 15,40/sFr 26,80
Kai Sawabe, Bertram Job |365 Fußball-Tage| Die Werkstatt
2006, 372 S., EurD 24,90/EurA 25,60/sFr 43,70
Chris van Uffelen |2:0 0:6 – Die Stadien| Verlagshaus Braun
2005, 180 S., EurD 49,90/EurA 51,30/sFr 76,90
Wissenschaft
Vollblutfans werden die WM zur Weiterbildung nutzen und die Zeit zwischen
Schluss- und Anpfiff dem Studium widmen.
Von wegen einfach gegen den Ball treten.
Quantenphysiker und Fußballwissenschafter Ken Bray schildert in „Wie man richtig
Tore schießt“ informativ und verständlich
die Entwicklung des Sports – auf körperlicher, mentaler sowie technischer Ebene – und
analysiert Spielsysteme, Schusstechniken,
Standardsituationen etc.
Wie jede Wissenschaft hat auch das Spiel
elf gegen elf seine eigene Sprache. Zum besseren Verständnis von Kommentatoren und
Spielern erläutert Ulf Geyersbach in „Fußballdeutsch“ oft verwendete Begriffe, von „AMannschaft“ bis „Zwingend“.
Dass so ein Lexikon auch nicht immer ausreicht, zeigt „Sprechen Sie Fußball?“, eine
Sammlung großteils überstrapazierter Zitate. Denn Karl-Heinz Rummenigges Aussage, „Wenn man über rechts kommt, muss
die hintere Mitte links wandern, da es sonst
vorn Einbrüche gibt.“, lässt sich auch damit
nicht so recht entwirren.
In seiner ein wenig unübersichtlichen
Kickerbibel „Das sind Gefühle, wo man
schwer beschreiben kann“ versammelt Harald Braun neben altbekannten Sprüchen einige interessante Spielpaarungen, für jede Spielminute ein geschichtsträchtiges Ereignis, die
10 Gebote für Fußballer, Spielerfrauen, Trainer u. v. m.
Unterschiedliche Ansichten sind an Fußballstammtischen, vor allem zu später Stunde, keine Seltenheit. Hat sich Günther Netzer einst wirklich selbst eingewechselt und
war Sepp Maier der beste deutsche Torwart?
BUCHKULTUR 105 | Juni/Juli 2006
Großer Einsatz: Frankreichs Tormann Fabien Barthez verteidigte im WM-Finale 1998
gegen Brasilien sein Tor mit allen Mitteln („Fußball-Weltmeisterschaften“, Knesebeck).
Wolfgang Hars bestätigt bzw. berichtigt viele mehr oder minder interessante Fragen und
räumt dabei mit so manchem Mythos auf.
Fußball basiert auf Zahlen. Es gibt einen
Ball, zwei Halbzeiten, das 3. umstrittene
Wembley-Tor, … Stefan Mayr versucht mit
„Es steht 0:0. Oder umgekehrt?“ Ordnung
in das Zahlen-Chaos zu bringen.
Von elementarer Bedeutung für alle Fans
sind Tabellen und Statistiken. Ohne die geht
gar nichts. Umfassende Daten, zu zahlreichen
nationalen Ligen und Pokalbewerben sowie
den internationalen Turnieren, finden sich
übersichtlich aufbereitet im Handbuch „Ich
sag dir alles – Fußball“. Da erfahren wir unter
anderem, dass sich die bislang 17 WM-Titel
auf gerade mal sieben Nationen verteilen:
Brasilien (5), Italien und Deutschland (je 3),
Argentinien und Uruguay (je 2), England
und Frankreich (je 1). Glaubt man den Wettbüros, wird am 9. Juli keine weitere Nation
dem elitären Kreis beitreten. Dennoch lebt
die Hoffnung auf eine spannende Endrunde. Die vergangenen Jahre haben gezeigt, dass
Favoriten auch erst einmal gewinnen müssen. Weniger trockene Fakten bietet „Fast
alles über Fußball“. Für sein verspieltes Sammelsurium hat Christoph Biermann eine Vielzahl ausgefallener Tabellen zusammengetragen. Eine Linksfüßer-Weltelf ebenso wie ausgefallene Vereinsfarben, Pokalsensationen,
Klubs, die nach einem Stadtviertel benannt
sind ...
Die Herausgeber von „Der Ball ist rund,
damit das Denken die Richtung wechseln
kann“ haben ein hochkarätiges Team aufgestellt, um die 32 Nationen der WM-Endrunde zu porträtieren. Henning Mankell, Nick
Hornby, Tim Parks und 29 weitere Autoren
beschreiben, mit unterschiedlichen Herangehensweisen, die teilnehmenden Staaten.
Christoph Biermann |Fast alles über Fußball| KiWi 2005,
240 S., EurD 9,95/EurA 10,30/sFr 18,20
Harald Braun |Das sind Gefühle, wo man schwer beschreiben
kann!| dtv 2006, 192 S., EurD 4,95/EurA 5,10/sFr 8,90
Ken Bray |Wie man richtig Tore schießt| Übers. v. Annika
Tschöpe. Pendo 2006, 290 S., EurD 17,90/EurA 18,40/sFr 32
Ulf Geyersbach |Fußballdeutsch| Ullstein 2006, 160 S.
EurD 14,95/EurA 15,40/sFr 26,80
Wolfgang Hars |Nullkommafünfzunull| Scherz 2005, 240 S.
EurD 17,90/EurA 18,40/sFr 31,70
|Ich sag dir alles – Fußball| Bertelsmann Lexikon 2005,
400 S.EurD 14,95/EurA 15,40/sFr 26,90
Stefan Mayr |Es steht 0:0. Oder umgekehrt?| Eichborn 2006,
192 S., EurD 14,95/EurA 15,40/sFr 26
|Sprechen Sie Fußball?| Residenz 2006, 64 S., EurD/A 2,90/
sFr 5,40
Matt Weiland, Sean Wilsey (Hg.) |Der Ball ist rund, damit das
Denken die Richtung wechseln kann| Goldmann 2006, 444 S.
EurD 8,95/EurA 9,20/sFr 16,50
Geschichte
Der Ursprung des Fußballs reicht weit
zurück. Die ältesten vergleichbaren Ballspiele
sind aus dem 3. Jahrtausend v. Ch. aus China überliefert.
Die modernen Fußball-Regeln, nach denen
heute noch gespielt wird, wurden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in England
erstmals formuliert. Und es hat lange gedauert, bis die Mannschaften vom Kontinent
jenen von der Insel zumindest ebenbürtig
waren. Raphael Honigstein schildert in „Harder, better, faster, stronger“ die Geschichte
des englischen Fußballs – von der Gründung
des ersten Fußballverbandes 1863 bis zur
glamourösen Premier League, deren Spiele
jede Woche weltweit bis zu einer Milliarde
Menschen begeistern.
Birgit Schönau setzt sich in „Calcio“, der
kurzweiligen Geschichte des italienischen
Fußballs, unter anderem mit allmächtigen
Vereinspräsidenten und den zunehmenden
25
16.05.2006 11:51 Uhr
Seite 26
Stimmungsbilder von Kai Sawabe wie jene holländischen Fans, die noch auf den ersten
WM-Titel warten (Verlag Die Werkstatt): 1974 scheiterten Johann Cruyff und Co. erst im
Finale an Franz Beckenbauers Mannschaft (Knesebeck).
faschistischen Ausschreitungen auseinander.
Derlei Schattenseiten hat auch Franklin
Foer bei seiner Reise durch die Fußballstadien der Welt kennen gelernt. In „Wie man
mit Fußball die Welt erklärt“ schildert er,
welche Rolle die Anhänger von Roter Stern
Belgrad im Jugoslawien-Krieg spielten, warum das „Old Firm“-Derby in Glasgow nach
wie vor Todesopfer fordert, aber auch, was
den FC Barcelona so einzigartig macht. Ein
faszinierendes Buch über Fans, Funktionäre
und Nationalismus.
Ein wertvolles Buch für Geschichtsinteressierte ist Dietrich Schulze-Marmelings
„Davidstern und Lederball“, die Geschichte
der Juden im internationalen Fußball. Politik ist dabei ebenso Thema wie die unvergesslichen Erfolge jüdischer Funktionäre,
Trainer und Spieler, die das Spiel prägten.
Gibt es im Fußball heute noch Platz für
regionale Identitäten, oder positionieren sich
Fußballvereine mittlerweile bewusst international? Dieser Frage geht Harald Irnberger in „Die Mannschaft ohne Eigenschaften“
nach. Spannend und schonungslos beschreibt
er die Entwicklungen und Mechanismen des
internationalen Fußballgeschäfts.
Literarisches
So ein Fanleben, meist geprägt von seltenen Glücksmomenten und umso längeren Leidensphasen, bietet viel Stoff für Literatur. „Auch ich war einst Pelé“ ist eine unterhaltsame Anthologie geplatzter Träume. Prominente Frauen und Männer erzählten Torsten Körner, woran ihre Fußball-Karrieren
einst scheiterten. Nun sind Anne Will, Peter
Lohmeyer, Marcel Reif und wie sie alle heißen
abseits des Rasens aktiv. Dieses „Versagen“
verbindet Sie mit uns.
Claus Farnberger und Gerald Simon
beschreiben in „Beruf: Fußballfan“ Freud und
Leid des Fanseins. Indem sie über Spielabsagen, Sportkommentatoren und Rassismus
sinnieren, locken sie aber keinen Fan hinter
dem sprichwörtlichen Ofen hervor.
„Die verhinderten Weltmeister“, herausgegeben von Herbert Perl, erzählt in kurzweiligen Beiträgen von 22 herausragenden,
aber letztlich gescheiterten Spielern. An oberster Stelle steht der tragische Held Roberto
Baggio, dessen verschossener Elfmeter im
WM-Finale 1994 in ewiger Erinnerung bleiben wird. Aber auch anderen Legenden wie
George Best, Michele Platini oder Johan
Cruyff blieb der große Triumph verwehrt.
Eine nette Geschichte hat Jan Weiler zum
WM-Jahr beigesteuert. „Gibt es einen Fußballgott?“, illustriert von Hans Traxler, erzählt
von einem untalentierten Spieler, der mithilfe des Fußballgottes ein Star wird. Aber
er muss dem Erfolg Tribut zollen.
Eine ebenfalls gelungene Einstimmung
auf die WM verspricht die ballrunde Anthologie „Spiele, die Geschichte schrieben“.
11 Autoren lassen 22 bedeutende Fußballspiele zwischen 1872 und 2004 Revue passieren. Neben dem Sportlichen werden auch
die gesellschaftlichen Umstände und Auswirkungen der Spiele berücksichtigt.
Eine Sternstunde unter den Fußballbüchern ist „Der Ball ist rund“. Wenn Eduardo Galeano über wichtige Ereignisse und
große Spieler schreibt, dann tut er das im Stile eines Pelé oder Maradona: tänzelnd und
voller Fantasie: „So gehe ich durch die Welt,
den Hut in der Hand, und in den Stadien
bitte ich: ‚Nur einen schönen Spielzug, Gott
vergelt’s‘.“
|Spiele, die Geschichte schrieben| Egoth 2006,
250 S., EurD 29,10/EurA 29,90/sFr 47
Claus Farnberger, Gerald Simon |Beruf: Fußballfan|
Molden 2005, 256 S., EurD/A 19,80/sFr 33,90
Eduardo Galeano |Der Ball ist rund| Übers. v. Lutz Kliche.
Unionsverlag 2006, 274 S., EurD/A 9,90/sFr 17,90
Torsten Körner |Auch ich war einst Pelé| Aufbau 2006,
219 S., EurD 8,95/EurA 9,20/sFr 16,60
Herbert Perl (Hg.) |Die verhinderten Weltmeister| Kunstmann
2006, 240 S., EurD 16,90/EurA 17,40/sFr 29,90
Jan Weiler |Gibt es einen Fußballgott?| Kindler 2006,
72 S., EurD 7,90/EurA 8,20/sFr 14,60
BUCHKULTUR 105 | Juni/Juli 2006
FOTOS: AUS „365 FUSSBALL-TAGE“ VON KAI SAWABE/WERKSTATT (LI.), „FUSSBALL-WELTMEISTERSCHAFTEN“ VON CHRISTIAN EICHLER/KNESEBECK
13-28 buchwelt
13-28 buchwelt
15.05.2006 16:48 Uhr
Seite 27
Die Reise(ver)führer!
Günther Schatzdorfer.
Erwin Steinhauer
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Reise ins Friaul und nach Triest
216 Seiten, 12,5 x 18,5 cm
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Christoph Wagner · Kurt-Michael Westermann
VON VENEDIG NACH TRIEST
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224 Seiten, 21 x 21 cm
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Gerhard Pilgram
Wilhelm Berger
Gerhard Maurer
DAS WEITE SUCHEN
Eine Reise zu Fuß ans Meer –
Wanderungen von
Kärnten nach Triest
256 Seiten, 14,5 x 20,5 cm
zahlreiche Farbbilder
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€ 19,90 · ISBN 3-85378-594-8
Herbert Hacker · Joachim Riedl · Michael Leischner
DAS NEUE PIEMONT
Im Land von Barolo, Trüffel und Slow Food –
Porträt einer Genußregion
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www.carinthiaverlag.at
13-28 buchwelt
15.05.2006 16:48 Uhr
Seite 28
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AUDIOITALIENISCH
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7EITERE)NFORMATIONENUND(ÚRPROBEN
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INFO DIGITALPUBLISHINGDE
29-42 marktplatz
15.05.2006 16:51 Uhr
Seite 29
M A R K T P L AT Z
Marktplatz der Bücher
Aktuelles. Gutes oder Schlechtes.
Auf alle Fälle Bemerkenswertes finden
Sie auf den folgenden Seiten.
FOTO: AUFBAU VERLAG
„Ich bin von normaler Intelligenz“ steht auf den Visitenkarten,
die Howard Kapostash bei sich
trägt, aber kaum jemals verteilt.
Als 18jähriger wurde er nach Vietnam und nach zwei Wochen bei
einer Granatenexplosion mit einer
schweren Kopfverletzung wieder
nach Hause geschickt. Howie ist aus dem
Koma erwacht, konnte aber weder lesen noch
schreiben noch sprechen – nur denken kann
er – seine Intelligenz hat nicht gelitten. Doch
wem teilt er das mit?
Die quälenden Therapien hat er aufgegeben, als seine Eltern verstorben sind. Jetzt
lebt er in seinem Haus wie eine Schnecke.
Eine vietnamesische Suppenköchin und zwei
Handwerker sind stumme Untermieter. Dann
aber wird ihm nicht nur Kommunikation,
sondern auch Verantwortung abgefordert.
Seine Jugendliebe Sylvia muss eine Entziehungskur machen und hängt dem gutmütigen, stets verfügbaren Howie ihren neunjährigen Sohn an. Vorbei ist es mit dem
Scheinfrieden im Schneckenhaus, der neunjährige Ryan verändert allein durch seine
Anwesenheit die Menschen und das Leben
in Howards Haus.
Schade, dass der Aufbau Verlag mit der
Titelgebung so auf die Tränendrüsen drückt,
denn Dave Kings Erstling ist alles andere
als eine sentimental angelegte Behindertengeschichte. Im Original heißt „Homecoming“, im Übrigen flüssig übersetzt von
Edgar Rai, „The Ha-Ha“, und das sagt schon
eine Menge über die Intentionen des Autors,
der Malerei studiert hat, aber seinem Howard
auch diese Gnade verwehrt – Howies Welt
ist durch seine mangelnde Kommunikationsfähigkeit winzig klein, erst Ryan bringt
ihm bei, dass es an ihm selbst liegt, sie ein
wenig größer zu machen. Der „Ha-Ha“ also
ist Titel und Programm zugleich und auch
ein aufgeschütteter Hügel im Kloster, in dem
Howard als Gärtner arbeitet. Dort mit dem
Mähtraktor hinaufzufahren, bis an die Kippe, ist lebensgefährlich, die Schwestern haben
es verboten, doch Howie tut es immer wieBUCHKULTUR 105 | Juni/Juli 2006
der. Dort nämlich ist
die Welt groß und weit
und alle Möglichkeiten
stehen offen. „Ha-Ha“
ist nicht das unartikulierte
Gestammel
Howies sondern ein
Fachausdruck aus der
Landschaftsarchitektur
für eine optische Illusion. Eine für den Besucher unsichtbare Geländestufe erweckt den Eindruck, der Garten
führte in die Unendlichkeit. Doch in der
deutschen Übersetzung scheint der Begriff
für alle, die mit der barocken Gartenarchitektur nicht vertraut sind, als bedeutungsloses Gestotter. Für Howard steht der HaHa für jenen Moment während der Explosion, als sich der Boden von seinen Füßen löste,
der Körper schwerelos rotierte, er goldenen
Staub am blauen Tropenhimmel sah. Danach
wurde es finster. Am Scheitelpunkt des
Hügels erlebt Howie diesen Moment immer
S P E Z I A LT I P P
AUF DER KIPPE
SELTENE AUGENBLICKE
Es ist eine eigenartige Gruppe, die da
durch Südafrika reist. Dawud, ein persischer Dichter, der für eine Lesereise
eingeladen wurde und seine Begleiter
Attar, Soraya, Frug, Malek und Rumi.
Eine merkwürdige Gesellschaft. Denn
drei davon sind tot. Um gleich allen
Unmut auszuräumen, es handelt sich
nicht um eine Zombiegeschichte! Ganz im
Gegenteil ist es eine höchst poetische
Erzählung von Kader Abdolah, einem iranischen Autor, der vor 16 Jahren mit seiner
Familie aus politischen Gründen flüchtete
und nun in Amsterdam lebt. Eine Geschichte über drei Kulturen, die persische, die niederländische und die südafrikanische und
über einen Dichter, der nirgends so richtig
zugehörig ist und immer in anderen Sprachen leben muss. Gekonnt verwebt er dazu
Verse südafrikanischer und persischer
Dichter. Jedes Kapitel wird noch durch ein
Zitat aus einem mittelalterlichen persischen Reisebericht eingeleitet. Durch diese
wieder, diesen Moment, in dem sich die Welt
in die falsche Richtung gedreht hat. Doch
„Homecoming“ ist kein Buch über die Folgen des Krieges oder gar über Politik, so billig gibt es King nicht. Auch vermeidet er die
ach so korrekte Bitte „Seid lieb zu den Behinderten, denn sie sind gute Menschen“. Im
Zentrum der Geschichte von Howie und
Ryan, Laurel und Sylvia steht das Zoon politikon, das gesellige Wesen, das aus seinem
Schneckenhaus heraus kommen
muss, dann wird es auch Hilfe
und Zuneigung finden. Eine
zutiefst humanistische Botschaft.
DITTA RUDLE
Fazit: Es nützt nichts, das Wort
muss heraus: berührend.
Außerdem: humorvoll, aufregend, begeisternd und stilvoll.
Dave King |Homecoming| Übers. v. Edgar Rai. Aufbau
2006, 471 S., EurD 19,90/EurA 20,50/sFr 36
Stilmittel entstehen weitere Ebenen, die
viele Sichtweisen zulassen.
Durch den Kunstgriff mit den ungewöhnlichen Begleitern, von denen einer sogar der
Erzähler ist, wird es Abdolah möglich, Vergangenheit und Gegenwart fließend zu verbinden. Da wären die Verfolgungen und die
Unterdrückung im Iran, sowie Südafrika mit
seinen Rassenkonflikten und den alten Geistern, die noch immer existieren. Dawuds
Gefährten sind real und sind es doch nicht.
Vielleicht ein Traum. Sie reisen mit in seiner
Seele und manchmal gehen sie auf eigene
Faust los und er hat keine Kontrolle mehr
über sie. Sie können noch mehr, nämlich
auch trösten, trauern und feiern. Die verschiedenen Episoden, die Begegnungen
und Orte von denen Abdolah erzählt ergeben ein verzauberndes Mosaik, flirrend,
sinnlich und auch fröhlich.
SE
Fazit: Poetischer Roman, einfach geschrieben, doch komplex erzählt.
Kader Abdolah |Dawuds Traum| Übers. v. Christiane Kuby
Klett-Cotta 2005, 191 S., EurD 18,50/EurA 19,10/sFr 33,60
29
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ERLESEN
M A R K T P L AT Z
DITTA RUDLE
Verdammte Gier! Jetzt besitze ich ihn
endlich, den einst ersehnten Kultband
von Douglas R. Hofstadter, der vor 20
Jahren von der Intelligenzia aller Länder
unterm Arm getragen wurde, und deshalb meinerseits eher missachtet. Schon
kann sich kaum noch jemand an Gödel,
Escher, Bach, ein Endloses Geflochtenes
Band erinnern, dennoch bringt Klett-Cotta eine Neuausgabe dieser Bibel der
Informatiker heraus. Zum 100. Geburtstag des Mathematikers Kurt Gödel! Hofstadter verknüpft Gödels Denkfiguren
mit J. S. Bachs Kompositionstechnik und
M. C. Eschers unmöglichen Bildern. Endlosbänder, die sich um eine Frage schlingen: Woher kommt das Bewusstsein?
Inzwischen haben Hirnforscher gute Antworten gefunden und die Computergehirne sind auch ins nächste Jahrtausend
gesprungen. Kurz, der schier endlose
Band (mehr als 800 Seiten) wird wohl als
sich selbst verwirklichendes Klischee des
Kultbuches enden: Viel gepriesen, kaum
gelesen. Trotz der köstlichen, selbsterklärenden Dialogschleifen von Achilles,
der Schildkröte und Herrn Krebs.
Ebenso Schmuck fürs Regal, aber leichter fassliche Lektüre ist Vikram Seths
Nacherzählung des Lebens, Liebens und
Leidens seines Onkels Shanti und dessen
Frau, der deutschen Jüdin Henny. Gewiss,
Zwei Leben. Porträt einer Liebe (S.
Fischer) umspannt das gesamte vorige
Jahrhundert samt Blut und Tränen, doch
ist die viel gerühmte geschliffene Prosa
Seths vom Familiensinn weggeschwemmt worden. Dem Autor ist es
nicht gelungen, das Private ins Allgemeine zu heben und auch formal zu fesseln.
So liest sich die abenteuerliche und auch
leidvolle Geschichte von Shanti und
Henny als sentimentales Tagebuch eines
liebevollen Neffen. Authentisch, schlicht
und berührend. Die feine Ausstattung der
Chronik als bebildertes Familienalbum
bestimmt den Band fürs Schauregal.
30
WIE KILOWEISE
KAVIAR LÖFFELN
Da gibt es einen Autor, 1929 in Tanger
geboren, der Spanisch schrieb, drei Romane
veröffentlichte, seit 1965 in Spanien lebte
und 1980 verstarb. Im deutschen Sprachraum
ist Ángel Vázquez so gut wie unbekannt.
Nun ist sein Roman „Das Hundeleben der
Juanita Narboni“ im Grazer Droschl Verlag
erschienen. Grandios von Gundi Feyrer übersetzt. Denn die Hauptperson Juanita Narboni redet Hakitía, das Spanisch der nordmarokkanischen Sepharden. 1976 in der Originalsprache publiziert, könnte der Roman
zum Kultbuch werden. Wie Kultbüchern
eigen, man denke an den „Ulysses“ von James
Joyce, den „Mann ohne Eigenschaften“ von
Robert Musil, werden viele darüber sprechen,
aber das Buch vermutlich kaum zu Ende
lesen. Einfach ist die Lektüre jedenfalls nicht,
das „Hundeleben“ ist kein Buch, das sich
nebenbei oder vor dem Einschlafen konsumieren lässt.
Eine Frau unbestimmten Alters redet von
ihrem Leben, ihrer Befindlichkeit, monologisiert von Subjektivem und Allgemeinem,
gleichberechtigt stehen die persönlichen
Belange neben brisanten oder politischen
Ereignissen. Juanita Narboni ist den Freuden des Lebens keineswegs abgeneigt, denen
ZWERGE LANGWEILEN
SICH NIE
Held des neuesten Buches von Urs Widmer ist ein Zwerg, ein Gummizwerg. Bemerkenswert, denn es folgt auch zwei ungemein intensiven, berührenden Büchern wie
„Der Geliebte der Mutter“ und „Das Buch
des Vaters“. Also, es dreht sich um einen
Spielzeugzwerg aus dem Besitz eines gewissen Uti. In diesem Uti kann man unschwer
den Autor Urs Widmer erkennen. Der Zwerg
heißt Vigolett alt, vigolett deswegen, weil er
ein violettes Jöppchen trägt. Er ist einer von
siebzehn, aber er ist für Urs Widmer der wichtigste, er ist sein Lebenszwerg, wenn man das
so sagen darf. Vigolett erzählt und erzählt
und erzählt. Und es wird einem nie langweilig dabei. Weil man ja vom Leben der
Zwerge relativ wenig weiß. Man sich sozusagen auf unbekanntem Terrain bewegt. Er
erzählt mit hinter- und recht oft auch vordergründigem Wortwitz, der insofern eine
Steigerung darin erlebt, als man sich vorstellen darf, dass er ja alles, was er erzählt, in
diesem ungemein sympathischen, langsamen, ganz eigenartig gefärbten schweizerischen Deutsch erzählt. Immer mit der Beto-
sie dennoch kritisch
gegenübersteht. Wenn
bloß einmal und endlich
genügend Geld vorhanden und die Wohnsituation besser wäre, würde
alles ganz anders sein, dann wäre es wie in
den Filmen, die sie sich gerne ansieht, wo
alles anders ist als in ihrer Realität. Der Roman
von Manuel Puig „Der Kuß der Spinnenfrau“
kommt einem in den Sinn, der allerdings
detailreicher auf die erwähnten Filme Bezug
nimmt. Oder man denkt an den „Herrn Karl“,
der sich gewieft zwischen den Hürden seines Lebens durchlaviert. Juanita Narboni hingegen hadert mit ihrem „Hundeleben“, dialogisiert darüber mit sich selbst, imaginiert
sich in eine Unterhaltung. Äußerst sparsam
mit Absätzen, einer Gliederung sowie einer
dramaturgischen Struktur fordert der Autor
von seiner Leserschaft eine bedingungslose
Konzentration. Die Grenze zur Überforderung ist fließend. Der Übersetzerin ist jedenfalls die Quadratur des Kreises gelungen.
MANFRED CHOBOT
Fazit: Ein Buch, das sich zu lesen lohnt, wenn
man Lesegeduld aufbringt und gewillt ist,
sich auf die Lektüre einzulassen. Keine Kost
für den Badestrand oder vorm Einschlafen.
Ángel Vázquez |Das Hundeleben der Juanita Narboni|
Ü. v. Gundi Feyrer. Droschl 2005, 376 S.,EurD/A 25/sFr 46
nung auf der ersten Silbe, oder? Diese Zwerge erleben Abenteuer, die mindestens so aufregend sind, wie die der Menschen. Hier tobt
sich Urs Widmer aus, hier lässt er seiner Fantasie freien, ungezügelten Lauf, er denkt nicht
daran, sich irgendwie einzubremsen. Er parodiert Abenteuergeschichten, Bergsteigerdramen. Und er kann die Stimmung kippen lassen. Wenn zuvor alles so recht gemütlich und urig-humorig abgelaufen ist, dann
wechselt er von jetzt auf gleich – in der
Geschichte eines Zwerges – zum Morden in
der Natur, dann zieht er es durch, beginnend
bei den Pflanzen über Insekten, Säugetiere,
Vögel, Schlangen bis hin zu den Menschen.
Und wechselt darauf gleich wieder ins
Gefühlsselige, Sentimentale.
Das Foto auf dem Umschlag des Buches
ist erst dann zu verstehen und zu erkennen,
wenn man den Text gelesen hat, den Urs
Widmer auf der hinteren Umschlagseite
geschrieben hat.
KONRAD HOLZER
Fazit: Man ertappt sich dabei, diese
Zwergenwelt ernst zu nehmen, sie als eine
wirkliche Welt anzusehen, weil Urs Widmer
sie so erzählt.
Urs Widmer |Ein Leben als Zwerg| Diogenes 2006,
192 S., EurD 16,90/EurA 17,40/sFr 29,90
BUCHKULTUR 105 | Juni/Juli 2006
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16.05.2006 11:45 Uhr
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PIPER. BÜCHER, ÜBER DIE MAN SPRICHT.
IN DER KRISE
Dante Andrea Franzetti, 1959 in
Zürich geboren, geht mit seinen
Talenten sparsam um. Trotz der zahlreichen Auszeichnungen bleibt sein
Werk überschaubar. Was nichts mit Franzettis Fleiß zu tun hat, arbeitet er doch auch
als Journalist und Essayist. Sparsam ist Franzetti auch mit den Wörtern, die er sorgsam
sucht und genau setzt. Der nun vor allem in
Rom als Korrespondent lebende Autor ist
zweisprachig (italienisch und deutsch) und
daher wohl auch zwiekulturell aufgewachsen, was sich nicht nur im Denken, sondern
auch im Schreiben zeigt. Oft scheint ihm ein
italienisches oder auch ein französisches Wort
treffender als das deutsche.
Mit seinem jüngsten Roman bleibt sich
Franzetti, zumindest was die Sparsamkeit
betrifft, treu. Nicht mal 115 locker bedruckte Seiten ist die Geschichte von Nerbal, der
die Trümmer seiner Ehe betrachtet und sie
als Trümmer des gesamten Lebens sieht.
Geschichte ist es ja keine, die Franzetti uns
mitteilt, eher ein Gemütszustand. Nerbal ist
traurig, ja verzweifelt, weil er nicht begreifen kann, warum sich seine Liliane von ihm
getrennt hat. In Gedanken reist er zurück
in die Jugend, als er bereits wusste, dass Liliane die Eine und Einzige sein würde. Sie
ITALIANITÁ
Ort der Handlung ist Montepuccio, ein
kleiner Ort in Apulien. Sie beginnt 1875 und
endet in unseren Tagen. Die handelnden Personen kommen hauptsächlich aus der Familie der Scorta, gewalttätig sind sie am Anfang,
völlig verarmt in der Mitte, angesehene Bürger am Ende. Erzählt wird die Geschichte
von einem Franzosen. Laurent Gaudé wurde die Liebe zu Italien schon von seinen Eltern
eingeimpft. Für „Die Sonne der Scorta“ hat
er 2004 den wohl berühmtesten französischen Literaturpreis, den Prix Goncourt, erhalten. Dabei ist das kein Buch der überhöhten literarischen Ansprüche. Es ist eine einfache Familiengeschichte, eher grob, holzschnittartig erzählt. Oft hat man das Gefühl,
sie sei vor mehr als hundert Jahren geschrieben worden. So sehr gleicht der Autor seinen Erzählstil dem Inhalt an. Es gibt nur das
grelle Licht der Sonne und den Schatten, keine Zwischentöne. Die Sonne der Scorta verbrennt alles, andererseits schafft sie Leben:
„Sie ist in den Früchten, die wir essen, Pfirsichen, Oliven und Orangen. Es ist ihr Geruch.
Mit dem Öl, das wir trinken, fließt sie durch
unsere Kehlen.“ Es sind einfache Menschen
BUCHKULTUR 105 | Juni/Juli 2006
hat ihn dann später genommen, doch
hat sie ihn auch erkannt? So wenig,
wie er sie erkannt hat. Die Welten
von Mann und Frau sind einander
fremd geblieben. Das Feine an Franzettis Erzählung von Nerbal – ein
Liebesroman soll diese „Passion“ nicht
genannt werden, das klänge allzu trivial – ist
die Absenz jeglicher Sentimentalität. Nerbal ist ein Suchender, aber kein Jammernder.
Und er gibt nicht auf, er wird weiter suchen:
„L’erreur c’est de vouloir conclure“ steht am
Ende, das ein Anfang sein könnte. Der Irrtum ist, abschließen zu wollen oder auch:
Schlussfolgerungen zu ziehen.
Ohne geschwätzig zu sein, unterhält Franzetti seine LeserInnen auch mit freundlichen
und unfreundlichen Urteilen über die Literatur und beruft sich immer wieder nicht nur
auf Samuel Beckett, sondern auch auf den
Philosophen und Lyriker Paul Valéry und seine „poésie pure“, den Poeten und Zeichner
Henry Michaux und seinen persönlichen
Freund Gerhard Amanshauser. Dennoch
möchte er vor einer Verwechslung der fiktiven Figur Nerbal mit der realen Person Franzetti warnen.
DITTA RUDLE
Tiefes Leid.
Tiefer Haß.
Tiefer Schmerz.
Fazit: Dichte, präzise Prosa
Dante Andrea Franzetti |Passion. Journal für Liliane|
Haymon 2006, 114 S., EurD/A 15,90/sFr 28,50
mit einfachen Gedanken, deren Schicksale
erzählt werden: Auswanderung und Rückkehr, Liebe und Hass, Arbeit und die seltenen Feste, Erdbeben und immer wieder die
Hitze, die allgegenwärtige Hitze, das sind
die Themen. Und der Schmuggel, mit dem
die Scortas ihr Geld verdienen, der sich vom
Zigarettenschmuggel der alten Zeiten zum
viel einträglicheren Menschenschmuggel
unserer Tage ausweitet.
Der Autor lässt uns auch an den Gerüchen
von Montepuccio teilhaben. Sinnlicher und
emotioneller Höhepunkt des Romans ist ein
Essen, ein ganz besonderes Essen im Rahmen
eines Familienfestes. Und schon allein wegen
der Beschreibung dieses Essens lohnt es sich,
dieses Buch zu lesen. Es ist ein Eintauchen
ins direkte, lustvolle, überschwängliche
Genießen. „Im Süden isst man mit einer
Art besessener Leidenschaft und Gier, solange man kann, als stünde das Schlimmste zu
befürchten, als wäre es das letzte Mal.
KONRAD HOLZER
Fazit: Eine Geschichte wie ein alter SchwarzWeiß-Film: intensiv und mitreißend.
Laurent Gaudé |Die Sonne der Scorta| Übers. v. Angela
Wagner. dtv premium 2006, 260 S., EurD 14,40/
EurA 15/sFr 25,20
»Eines der besten Bücher
dieses Genres. Eines, das
eine wüste Geschichte
schnell und spannend
erzählt.« Süddeutsche Zeitung
SP 4697. € 8.95 (D)/€ 9.20 (A)
www.piper.de
29-42 marktplatz
15.05.2006 17:01 Uhr
Seite 32
M A R K T P L AT Z
ALPS TRÄUME
Einer sucht seine Vergangenheit, weil er
beim Sturz aus einem Flugzeug sein
Gedächtnis verloren hat. Der andere flieht
die Vergangenheit, weil er seine Verbrechen
aus dem Gedächtnis löschen will. Und ein
Dritter liegt im Koma und träumt Vergangenheit und Zukunft zugleich. Dieser ist ein
verbummelter Physikstudent in Berlin,
kommt aus dem Iran und bekommt bei
einer Demo im Jahr 1985 einen kräftigen
Schlag auf den Kopf, der ihn das Bewusstsein verlieren lässt. Dennoch kann Alp
Tazafhadi seine Träume und Visionen
erzählen. Dass diese krumm und kraus, wild
und innig, traurig und komisch, poetisch
und banal sind, kann sich die Leserin vorstellen, denn im Koma ist jegliche Logik
außer Kraft gesetzt, der Zufall führt sein
ungeordnetes Regiment und schlingt die
Personen der Handlungsstränge zu einem
immer wirrer werdenden Knäuel. Alles
hängt mit allem zusammen und erstens
kommt es anders und zweitens als man
denkt.
Norbert Zähringer, 1967 in Stuttgart geboren, hat mit seinem ersten Roman „So“
gezeigt, dass er urkomische, schräge
Geschichten erfinden kann und sein Fundus
keinen Boden hat. Auch in „Als ich schlief“
ergibt sich aus jeder Geschichte eine neue
und wenn Alp in seinem Spitalsbett müde
wird, dann lässt er eine der Personen ein
Buch lesen und ein anderer Icherzähler
spinnt den Faden zurück. Das amüsierte
Entzücken aber macht auch die Leserin
müde, der Überblick geht ihr verloren, die
Figuren der Handlungen haben ihn ohnehin
nie gehabt und auch dem Autor wird der
Faden immer dünner. Die Überfülle an
Absurdem lähmt Aufmerksamkeit und
Geduld. Am Ende abe, gibt es eine Sekunde
– Schrödingers Sekunde, in der die Katze
weder tot noch lebendig ist und die Welt,
eine kleine Welt zumindest, auf der Kippe
steht – eine Sekunde also, in der ein
Mensch, nämlich der einst, in einer anderen
Welt, aus dem Flugzeug in den Papiercontainer gestürzte Ismael, sich entschließt
sein Leben zu riskieren, um das eines kleinen Mädchens zu retten. Alles wird gut
oder ist schon längst gut geworden.
DITTA RUDLE
Fazit: rasant gedrehtes Geschichtenkarussell, in das einzusteigen schwindlig machen
kann.
Norbert Zähringer |Als ich schlief| Rowohlt 2006, 288 S.,
EurD 19,90/EurA 20,50/sFr 34,90
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DAS ETWAS ANDERE
ADRESSBUCH FÜR DIE NOT
Ulla Hahns Lesebuch „Dichter in
der Welt“
Fortschritt trägt sich anderswo zu. Ob
in Steine gehämmert oder in den Computer, ob in der Höhle gelesen oder im Glaspalast – Gedichte sind ein Sicherheitsrisiko. Denn wer sie schreibt und wer sie liest,
geht der gewohnten Sprache, der Welt mit
ihrem Gerede, den Verallgemeinerungen
und Phrasen verloren. Der ist sonst zu nichts
zu gebrauchen, vergisst Umfeld und Horizont, Detail und Ganzheit und Schall und
Rauch. Dichtung – äusserste Verdichtung,
wo die Wörter wahrhaftig sind, präzise und
bar jeder Ausmalung – ereignet sich in verschwörerisch kodierten Bereichen: „Dichtung ist Anderssagen, Sprechen aus der
Anderswelt“ nennt Ulla Hahn denn auch
die Ausdrucksweise, der sie mit ihrem Buch
„Dichter in der Welt“ ein festliches Loblied singt.
Ulla Hahn, die in Hamburg lebende
Germanistin – sie feierte am 30. April ihren
60. Geburtstag –, bekennt sich im Vorwort
zu ihrer Sucht: „Seit ich es kann, ist kein
Tag ohne Lesen vergangen, und seien es nur
ein paar Sätze. Sucht? Ja. Nach Glück. Lesen
macht (mich) glücklich.“ Und nun sind also
die Folgen dieser lebenslangen Abhängigkeit in einem Band gesammelt – für gleichermaßen Süchtige sozusagen: Gedichte
aus drei Jahrtausenden, Essays, Reden, Kritiken und eigene Lyrik. Es finden sich Überlegungen zu Goethe, Annette von DrosteHülshoff, Hilde Domin, Else Lasker-Schüler,
Sylvia Plath, Erich Fried, Nelly Sachs, Inger
Christensen, Gottfried Benn … – Werkimmanentes, Persönliches, Geschichtliches,
Anekdotisches. Immer tritt dabei der veritable Respekt Ulla Hahns vor Person und
Werk zutage, ein mitmenschliches Lieben
und Verstehenwollen oftmals schwieriger
Lebenssituationen.
Immer? – Sagen wir meistens. Eine Ausnahme ist Bert Brecht, dem sie auch Gedichte von „versifiziertem ideologischem
Schrott“ attestiert, nebst einem agilen
Wesenskern, den sie mit „List“ beziffert
und einigermaßen überzeugend begründet:
„Bei seiner Rückkehr aus dem Exil wählte er den ostdeutsch-sozialistischen Teil
Deutschlands; versehen mit einem österreichischen Pass, einem westdeutsch-kapitalistischen Verlag und einem Konto in der
Schweiz.“
Das Handwerk der Lyriker hat keinen
goldenen Boden. „Wer weiss, ob es über-
haupt einen Boden
hat“, schrieb einst
Paul Celan. Die
Gründe, weshalb
einer sein Leben mit
Sammeln von Wortbildern verbringt,
sind vielfältig und
haben, so belegen es
Ulla Hahns Aufsätze, doch alle etwas
gemeinsam. Gedichte entstehen in jenen
Bereichen, da sich leidvolle Erfahrungen
zutragen. Da, wo die soziale Anpassung
nicht gelingt, da, wo sich der Verlust von
Liebe, Heimat, Vertrauen, ereignet – da
wird bei Wörtern um Hilfe gefleht. Es ist
ein Akt, der auf den Grund geht – zum
Grunde. „Schreiben, das nicht an die Substanz geht, lohnt den ganzen Aufwand
nicht“, sagt Ulla Hahn. Aus welchen
Abgründen die Zeilen aufsteigen können,
zeigt sie an Else Lasker-Schüler, die, nachdem sie einem Verehrer ihr Gedicht „Die
Verscheuchte“ vorgelesen hatte, mit ihrem
Elberfelder Dialekt fragte: „Wie finden Sie
dat?“ Als er sich erschüttert zeigte, präzisierte sie: „Nein, Nein! Nich ob es Ihnen
jefällt, sondern „Wat heisst denn dat hier?“
Um nach seiner Erklärung ihrer Verse staunend und beglückt zu rufen: „Ja, Jung, so
kann dat jemeint jewesen sein.“
Gedichte schreiben und Gedichte lesen
ist ein Unterfangen mit ungewissem Ausgang. Das war vor dreitausend Jahren so
und ist es auch heute. Wer auf Eindeutigkeit setzt und auf die gewohnte schnelle
Information, der lasse die Finger davon.
Gedichte fordern nicht nur geduldige Lesearbeit, sondern nachschöpferisches Mittun.
Wie eine Partitur, so Ulla Hahn, die erst
durch den ausübenden Musiker zum Klingen gebracht wird, so werden die verwendeten Worte des Dichters erst durch den
(ausübenden) Leser zum Gedicht. Eines,
das ihm – im Glücksfall – zum vertrauten, intimen Gesprächspartner wird.
„Menschen für ein Gespräch sucht man
sich sorgfältig aus. Nicht anders sollte man
mit Gedichten verfahren.“ Fraglos steht
Ulla Hahns Resümee mit ihrem Lesebuch
auf Du und Du. Denn es kann als Adressbuch dienen in der Not. Aber auch in
Glücksmomenten. Und dann, wenn die
ganz bestimmte Sucht sich geltend macht.
SILVIA HESS
Fazit: Ein Lese- und Nachschlagebuch für
glückliche und andere Stunden.
Ulla Hahn |Dichter in der Welt. Mein Schreiben und
Lesen| DVA 2006, 316 S., EurD 19,90/EurA 20,50/sFr 35,20
BUCHKULTUR 105 | Juni/Juli 2006
15.05.2006 16:58 Uhr
Seite 33
ARKTISCHE KÄLTE
Die Inuit-Großmutter Ninioq und ihr
siebenjähriger Lieblingsenkel Manik verbringen Teile eines Sommers, der etwa zweihundert Jahre zurückliegt, auf einer winzigen arktischen Insel, um den reichen Fang
des Stammes für die Lagerung zu trocknen.
Als jedoch die Nächte wieder länger zu werden beginnen, werden sie nicht wie vereinbart von den Männern abgeholt. Die beiden
müssen nun versuchen, den Winter gemeinsam zu überstehen.
Der Sommer vor diesen Ereignissen ist
geprägt von einer stillen Heiterkeit und Fröhlichkeit. Tagsüber macht Manik unter
Ninioqs weiser Anleitung die ersten Schritte als tüchtiger Fänger und lernt aus eigenen Erfahrungen sowie denen seiner
Großmutter stetig dazu. Nachts lässt die alte
Frau ihr langes Leben Revue passieren, sie
erzählt Episoden und Geschichten, gibt so
manch persönliches Detail preis und lehrt
Manik die Achtung vor der Natur. Eine uns
völlig fremde Kultur tut sich da auf, eine karge Lebensweise in Eis und Finsternis, die den
modernen, an Bequemlichkeit gewöhnten
Menschen durch ihre Bescheidenheit und
Anspruchslosigkeit einfach berühren muss.
Eine Lebensweise, die durch ihre Härte und
ATEMLOS
Ein Buch, das einem bereits nach den
ersten paar Absätzen den Atem stocken lässt.
Da erzählt sich einer seine Seele aus dem Leib
in einem Tempo, dass es einem nach ein
paar weiteren Seiten den Atem verschlägt.
Durchatmen und Weiterlesen, sich ein Glas
Wein einschenken, um eine Verschnaufpause zu haben. Selten schwappen Emotionen
derart ungeschminkt und direkt aus einem
Roman heraus, wiewohl Franjo Francic sich
cool gibt: Ständig saufen und gelegentlich
ficken, dazwischen das Studium bleiben lassen, bloß so viel Geld zum Überleben verdienen, wie unbedingt notwendig.
Im Nachwort des Übersetzers Erwin Köstler erfährt man, dass der Autor 1958 in Ljubljana geboren wurde und sein Roman „Heimat, bleiche Mutter“ 1986 in einem alternativen slowenischen Kleinverlag erschien,
bald vergriffen war, zu einem Kultbuch der
slowenischen Literatur wurde und von der
größten slowenischen Tageszeitung zur Jahrtausendwende unter die „Meilensteine der
slowenischen Literatur des 20. Jahrhunderts“
gereiht wurde.
Grandios schildert Francic den Verlust der
Werte, die Desillusionen, in der jugoslawiBUCHKULTUR 105 | Juni/Juli 2006
Kälte abschreckt, gleichzeitig aber fasziniert durch
ihre positive Einstellung.
Im Laufe der Geschichte
lernt der Leser einzelne
Figuren kennen, gewinnt
sie lieb und beweint ihr Schicksal.
Der dänische Autor weiß ganz offensichtlich, wovon er in seinem 1975 erschienenen Roman schreibt: Er lebte selbst insgesamt sechzehn Jahre in Grönland, nahm
als kaum erwachsener Mann an einer geologischen Expedition in die Arktis teil, verbrachte zwei Jahre mit einem gleichaltrigen Eskimo auf einer Insel und begann 1971
seine Geschichten über den eisigen Norden
niederzuschreiben. Hier zeichnet er, den
mündlichen Erzähltraditionen der Inuit folgend, das eindringlich-fesselnde Bild eines
Eskimo-Stammes vor der Berührung mit der
Zivilisation und sucht nach einer Erklärung
für Funde, die er während eines Aufenthaltes in Nordostgrönland auf einer unscheinbaren Insel entdeckte.
KAROLINE PILCZ
Fazit: Ein schmaler, zeitloser Roman, fröhlich
und tragisch zugleich
Jørn Riel |Vor dem Morgen| Übers. v. Wolfgang Th.
Recknagel. Unionsverlag 2006, 188 S.
EurD 14,90/EurA 15,40/sFr 26,80
schen Gesellschaft, wo sich der Alkohol als
scheinbare Alternative anbietet. Der IchErzähler wird zum Militärdienst einberufen,
verweigert sich den tradierten Spielregeln
von Männlichkeit, Duckmäusern und Mitläufertum, nimmt stattdessen lieber in Kauf,
in die psychiatrische Anstalt des Heeres eingewiesen zu werden. Auch dort ist er nicht
bereit, sich unterzuordnen oder einordnen zu
lassen, erträgt alle Konsequenzen, ein Außenseiter zu sein, wobei er sich keineswegs dazu
stilisiert, sondern diese Rolle durchlebt, denn
es ist die einzige, in der er zu sich selbst finden kann. Ja, der Ich-Erzähler ist egoistisch,
selbstzerstörerisch und radikal. Seine Generation ist sowohl hungrig als auch wach, ebenso kompromisslos wie desillusioniert, dennoch ehrgeizig und zum Überleben entschlossen.
Die Lektüre dieses Romans muss man erst
hinunterschlucken, obwohl es bloß 143 Seiten sind – inklusive des Nachworts, man liest
das Buch nicht, man erlebt und erleidet es
mit dem Erzähler.
MANFRED CHOBOT
216 Seiten, gebunden
ISBN 3-927743-87-9
Was heißt hier alt
Ein Buch für Menschen, die
sich nicht von Altersklischees
beirren lassen wollen –
aufmunternd, positiv und mit
einer Fülle von Anregungen,
neuesten Ergebnissen aus der
psychologischen Forschung
und frischen Gedanken über
das selbstbestimmte Alter.
Ergänzt durch
Interviews, u. a. mit
• Robert Gernhardt,
• Trude Unruh,
• Dieter Hildebrandt,
• Diane Rizzetto,
• Willigis Jäger
• und der Altersforscherin
Ursula Staudinger.
Fazit: Ein Buch zum Trinken, zum Leben und
zum Leiden
^ ^
29-42 marktplatz
Franjo Francic |Heimat, bleiche Mutter| Übers. v.
Erwin Köstler. Drava 2005, 143 S. EurD/A 21/sFr 36,90
A1 Verlag
www.a1-verlag.de
29-42 marktplatz
15.05.2006 17:00 Uhr
Seite 34
M A R K T P L AT Z
»… eine Sammlung von
detailreichen und fundierten
EU-Analysen, ohne jenen
provinziellen und
nationalistischen Geist,
der EU-Kritik hierzulande nur
allzu oft durchweht.«
profil
320 Seiten. Klappenbroschur
€ 20,50 [A] / sFr 36,–. www.deuticke.at
Mit Liebe und Einfühlungsvermögen hat
die amerikanische Autorin Debra Dean hier
einen Roman vorgelegt, der sich beinahe zu
viel vornimmt und trotzdem gelungen ist.
Eine Menge an außerordentlich intelligent verquickten Handlungsverläufen stürzt
auf die LeserInnen ein: Zum einen ist da der
schreckliche Kriegswinter 1941 im eingekesselten Leningrad, in dem Kälte und Hunger mehr Opfer forderten als die Granatbeschüsse der Deutschen, da ist die blutjunge
Russin Marina, deren Verlobter irgendwo an
der Front an den Sieg der Roten Armee glauben muss, während Marina in der leer geräumten Eremitage daran arbeitet, sich die verstauten oder abtransportierten Gemälde,
Möbel, Leuchter, Vasen und andere Kostbarkeiten vor gähnenden Bilderrahmen und
Vitrinen einzuprägen, damit die Schönheit
eine Zeugin hat. Die ehemalige Museumsführerin ist mittlerweile als Brandwache auf
dem Dach des legendären Museums eingesetzt, als Packerin für noch verbliebene Schätze, in der Folge als Hilfe für den Sargtischler. Gleichzeitig ist da jene alte und gebrechliche Marina, die mit ihrem Ehemann in
Amerika lebt und welche immer seltener
sagen kann, warum sie das tut, wie sie hierher gekommen ist und wer die Frau ist, die
S P E Z I A LT I P P
Attac
GEGEN DAS VERGESSEN
ZWEI FRAUEN
IN NEW YORK
Genauso wie ihre Protagonistin Nora,
eine Übersetzerin, lebt auch die Autorin
Pia Frankenberg in New York: Sie wurde
1957 in Köln geboren, hat als Regisseurin von Filmen bedeutende
Preise gewonnen und lebt seit
Mitte der neunziger Jahre in New
York.
Nora ist Mitte vierzig, trifft sich
mit Vorliebe mit verheirateten
Männern, hat einen interessanten
Beruf – ihr Verleger schickt ihr
pausenlos immer wieder Texte,
Romane zum Übersetzen –, und nebenher
bleibt ihr noch viel Zeit, um auf Partys zu
gehen und ihren Freundeskreis von Staatsanwälten, Künstlern usw. zu bedienen.
Die zweite Hauptperson des Romans, Amy,
lebt in einer Bilderbuchehe mit zwei kleinen
Kindern in einem Vorort von New Jersey,
bis sie bei dem Terroranschlag am 11. September ihren Ehemann verliert und ihr
Leben aus den Fugen gerät.
Nora beginnt, sich für Amy zu interessieren
sie zu einer Hochzeitsgesellschaft
abholt.
Zynismus des Schicksals
– Marina, die Hüterin der
Erinnerung, die unter
Anleitung einer steinalten Wächterin in der Eremitage begonnen
hat, minutiös den Palast der Erinnerungen
zu bauen, ist nicht mehr in der Lage, den Alltag zu bestehen, da Alzheimer ihr Gedächtnis frisst. Auf der Hochzeit ihrer Enkeltochter
verschwimmen für Marina die Eindrücke und
sie findet sich im Keller ihres geliebten
Museums wieder, bei einer Kriegstrauung
mit ihrem zurückgekehrten Dimitri. Kraft
und Wirklichkeit bestehen für Marina nur
noch im Erinnern des lange Zurückliegenden, aus der Realität des Jetzt hat sie sich verabschiedet und sehr viel Zeit wird ihr wohl
nicht mehr bleiben.
Der Titel ist eine Liebeserklärung an die
Liebe, an die Macht der Kunst und an zwei
Menschen, denen die Autorin sehr verbunden war und deren gemeinsamer Weg im
Alter in die Nebel der Alzheimer-Erkrankung führte.
SYLVIA TREUDL
Fazit: Ergreifend, mutig und gelungen
Debra Dean |Palast der Erinnerungen| Übers. v.
Judith Schwab. Droemer 2006, 304 S., EurD 19,90/
EurA 20,50/sFr 34,90
und wird zur Verfolgerin, während auch ihr
eigenes Leben auseinander fällt – die
künstlerische Mutter, mit der sie sich vor
Jahren überworfen hat, stirbt in Portugal;
ihre Affäre mit einem Staatsanwalt geht zu
Ende und sie selbst sieht sich mit einem
Land konfrontiert, das sich als blinder
Rächer gebärdet.
Anfangs erschien mir Noras
Beschreibung als Intellektuelle in
New York allzu oberflächlich und
plakativ – aber schließlich wecken
die Figuren doch Interesse. Pia
Frankenberg schreibt mit einer klaren, eindringlichen Sprache, ohne
aber ihre Charaktere sehr auszufeilen oder in ihrer Schilderung ins Detail zu
gehen. Fast schemenhaft läuft die Handlung mit ihren Figuren vor der Leserin ab,
dabei wirkt so manche Beschreibung
schablonenhaft oder gar realitätsfern, lebt
jedoch durch die Konfrontation der beiden
Frauen ,
DÖRTE ELIASS
Fazit: Als tragisch-interessanter Frauenroman lesenswert
Pia Frankenberg |Nora| Rowohlt Berlin 2006, 256 S.,
EurD 18,90/EurA 19,50/sFr 33,40
BUCHKULTUR 105 | Juni/Juli 2006
29-42 marktplatz
15.05.2006 17:02 Uhr
Seite 35
KRIEG UND FRIEDEN
UND LIEBE
Von Ford Madox Ford war Konrad
Holzer ganz hingerissen.
Ford Madox Ford ist wahrscheinlich einer
der ganz großen Dichter des 20. Jahrhunderts. Und im deutschen Sprachraum kaum
bekannt. Was uns Nachgeborenen den heutzutage doch relativ seltenen Genuss ermöglicht, einen bedeutenden Schriftsteller zu entdecken.
Ford Madox Ford (1873 -1939) wurde als
Sohn eines Deutschen und einer Engländerin unter dem Namen Ford Hermann Hueffer in eine Familie von Malern, Schriftstellern und Intellektuellen geboren. Er schrieb
zusammen mit Joseph Conrad zwei Bücher,
für seine Literaturzeitschriften entdeckte und
förderte er die Avantgarde der Zeit: Joseph
Conrad, Henry James, D. H. Lawrence, James
Joyce und Ernest Hemingway. Sein Ehe- und
Liebesleben war äußerst verworren, ernst zu
nehmende Biografen schreiben von 20 intensiven Bindungen. Am Ersten Weltkrieg hat
Ford auf englischer Seite teilgenommen, wurde schwer verwundet, er erlitt einen Nervenzusammenbruch, legte auch seinen deutschen Namen ab und lebte in Frankreich und
Amerika. In vier Romanen – jeweils mit Christopher Tietjens als Hauptfigur – gelang es
ihm „das innere Durcheinander, das der Krieg
in mir angerichtet hat“, schreibend zu überwinden. Das nun vorliegende Buch „Der
Mann, der aufrecht blieb“ ist das dritte in
dieser Tetralogie nach „Manche tun es nicht“
und „Keine Paraden mehr“. Doch lässt sich
jedes dieser Bücher recht gut unabhängig
vorneinander lesen.
Valentine Wannop ist die Heldin des ersten
Kapitels. Und man wird gleich einmal mit
der Erzählweise von Ford Madox Ford konfrontiert, mit einer wahnwitzigen Erzählkonstruktion. Valentine antwortet einer vorerst noch unbestimmten Anruferin am Telefon – von der nur Satzbrocken zu verstehen
sind. Erinnerungen, Missverständnisse,
Gefühlsausbrüche, all das läuft parallel ab.
Und es stellt sich die Frage, wie sich die Weltliteratur auf diese Art und Weise weiter entwickelt hätte, wenn nicht der Rückschlag
gekommen wäre: dieses ungebremste, intellektuell anscheinend unreflektierte Dahinerzählen wie es sich in unseren Tagen breit
macht.
Valentines Gedanken, die sich damit befassen, wie denn nun das gesellschaftliche Leben
nach dem Krieg sich neu ordnen wird müssen, werden durch dieses Telefonat in eine
BUCHKULTUR 105 | Juni/Juli 2006
andere Richtung gelenkt, an einen Schwierigen erinnert, den sie
zwei Jahre lang versucht
hat, zu vergessen. Christopher Tietjens hat einiges gemeinsam mit Hofmannsthals Kari Bühl, dem „Schwierigen“
und auch mit Melzer aus der „Strudlhofstiege“ von Doderer. „Dieser Mann, der ihr einmal einen Liebesantrag gemacht hatte und
dann ohne ein Wort davongegangen war und
ihr nie auch nur eine Ansichtskarte geschickt
hatte.“ Aus dieser durch Enttäuschungen,
Eifersüchteleien und Verleumdungen nervös
aufgeheizten Stimmung wird man in den
Mittelteil des Buches geworfen, in die endlose, lethargisch-hoffnungslose Monotonie
des Krieges in Flandern. Ironisch bricht der
Erzähler das, was sich auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs abspielt, dennoch
ist dahinter, darunter ununterbrochen die
Angst zu spüren, die Angst vor dem Verletztwerden, vor dem Tod. Warum liest man
dennoch so einen Roman, in dem Fürchterliches ganz intensiv beschrieben wird? Ford
Madox Ford war sich dieses Problems bewusst „Übertreibt man die Greuel, veranlasst man seine Leser zur Gleichgültigkeit
gegenüber diesen Greueln“. Er hat es auf seine Art gelöst.
Joachim Utz, der dieses Buch (und auch
die anderen bisher erschienenen) einmalig
übersetzt hat, hat im Nachwort darauf hingewiesen, aus Schriften Fords zitiert, dass dieser einen Menschen, den er einmal gekannt
und geschätzt hat, als Vorbild für diesen Christopher Tietjens genommen hat: „Wie sähe
dies alles aus durch die Augen von X …“
Im dritten Teil des Buches kehren wir
nach London zurück, es ist noch immer –
oder wieder – der 11.11.1918. Die ganze
Stadt feiert lautstark das Kriegsende. Valentine sucht Tietjens in einem riesigen, leer
geräumten Haus. Die Atmosphäre darin –
beschrieben von einem, dessen Bilderwelt
noch nicht so vom Film geprägt sein konnte, wie das der Erzähler unserer Tage – ist
echt und beklemmend. Und dennoch – weil
die Menschen es schaffen, noch die Kraft
haben, alles umzudrehen – endet das Buch
in einem unwahrscheinlich glücklichen Tanz.
Es kann alles gut werden, privates Leben wird
wieder möglich sein.
Fazit: Einer der besten Romane über den
Ersten Weltkrieg.
Ford Madox Ford |Der Mann, der aufrecht blieb|
Übers. v. Joachim Utz. Eichborn Berlin 2006, 310 S.,
EurD 22,90/EurA 23,60/sFr 39,90
»Ein
wunderbarer
Roman,
der einem
über Jahre
gegenwärtig
bleibt.«
Isabel Allende
ISBN 3-8333-0149-X
s 10,50 [D] / sFr 19,10 / s 10,80 [A]
Berliner
Taschenbuch
Verlag
29-42 marktplatz
15.05.2006 17:03 Uhr
Seite 36
M A R K T P L AT Z
© Paul Schmitz
Gebunden. 528 Seiten. € (D) 19,90 / € (A) 20,50 / sFr 34,90
EIN BIESTIGES BIEST
Amélie Nothomb lockt ihre LeserInnen
durch Provokation. Sie weiß, dass das
Schwarze, Böse, Schmerzende fasziniert und
bereitet durch bedingungslose Heimtücke,
scharfe Beobachtungsgabe und fröhlichen
Zynismus höchsten Lesegenuss. Jetzt wurde der bereits 1997 erschienene Roman
„Attentat“ ins Deutsche übertragen und LeserInnen mit gutem Magen sollten sich darauf stürzen. Blut schwitzen. Tränen lachen.
Weil seine Eltern den am 6. Jänner geborenen Knaben nicht Kaspar, Melchior oder
Balthasar nennen wollten, gaben sie ihm den
Namen des christlichen Festtages Epiphanie
(Erscheinung). Epiphanie ist tatsächlich eine
besondere Erscheinung, eine besonders
abstoßende. Mit boshaftem Vergnügen schildert er selbst seine grenzenlose Hässlichkeit.
Als er sich auf ein Inserat meldet, in dem
für einen Kunstfilm ein „hässlicher Mann“
gesucht wird, sieht er das schönste Mädchen
der Welt und, wie das Märchen so spielt, verliebt sich das Biest in die Schöne. Zum Film
kommt er nicht, weil so hässlich sollte der
Statist nun wieder nicht sein, doch mit Hilfe von Ethel, die sein abstoßendes Äußeres
nicht zu bemerken scheint, macht er eine beispiellose Karriere als Dressman. Bald kann
kein Designer seine Kreationen ohne Epiphanie auf den Laufsteg bringen und die lang-
DURCH MILCH-GLAS
Warum
der Hai den
Menschen
fürchtet ...
So spannend wie sein Thriller
»Der Schwarm«: Frank Schätzings
packendes Sachbuch über die
Weltmeere – ein unbekanntes
Universum unter Wasser. Danach
sieht man die Ozeane mit
anderen Augen.
www.kiwi-koeln.de
www.frankschaetzing.com
„Die Briefe, die ich ihnen schreibe, sind
die einzige Verbindung nach draußen.“ Es
sind die Briefe eines namenlosen Protagonisten, der aus seinem selbst gewählten letzten Zimmer heraus Zeugnis ablegen will über
die Stadt seiner Kindheit, seine Flucht daraus, das Leben seiner Mutter und seine Liebe zu Rema. Langsam und behutsam, um
nur ja die Gunst der/des Lesenden nicht zu
verlieren, erzählt er von seinem Leben, das
ihn zu dem gemacht hat, was er jetzt ist
und ihn so für Rema vorbereitet, zugeschnitten oder sogar vorbestimmt hat. „Mein
Zimmer hier hat ein einziges Fenster, und
das entschädigt mich für alles. Ich sehe was
ich sehen muss: Remas Haus.“ Ein gefallener dreiflügeliger Engel bildet das Fundament für das Haus, jenen surrealen Ort, an
dem Rema lebt. Dort, beschützt und bewacht
vom Milchkoch, der ständig gegen ihre Verunreinigungen kämpft, überzieht und tränkt
sie alles mit ihrer weißen, milchigen Sinnlichkeit. In seinen Träumen besucht der Dichter das Haus, um die milchweiße Hausherrin endlich zu unterwerfen, nicht wissend,
beinigen Blonden machen ihm schöne Augen.
Doch Epiphanie will nur
Ethel anbeten. Das Verhältnis ist intim, aber
keusch, und beide scheinen zufrieden zu sein. Dann aber verliebt sich
Ethel in einen Hohlkopf, der mit seiner Malerei leidlichen Erfolg hat und Epiphanie stürzt
in ein tiefes Loch. Auf einer Tournee in Japan,
fern von der Schönen, kommt dem Biest die
abstruse Idee, der Schönen seine Leidenschaft
zu gestehen. Ethel will ihn nicht mehr sehen,
doch Epiphanie, der weiß, dass es keine
unmögliche Liebe gibt, findet eine Lösung.
Nothomb führt mit ihrer grellen Farce,
in der nicht nur die so genannte Schönheit
zerpflückt wird, sondern auch das Geschäft
damit, die LeserInnen ganz bewusst in die
Irre. Wie sehr wünscht man sich doch, dass
das Biest mit der strahlenden Intelligenz
die Schöne gewinnt, auf dass sie ewig leben,
weil sie nicht gestorben sind. Doch wer mit
der Nothomb aufs Eis geht, kann sicher sein,
einzubrechen und als letzten Gruß Amélies
silberhelles Lachen vom Ufer her zu hören.
DITTA RUDLE
Fazit: Intelligent, bösartig und ironisch.
Ein Genuss
Amélie Nothomb |Attentat| Übers. v. Wolfgang Krege.
Diogenes 2006, 208 S. EurD 18,90/EurA 19,50/sFr 32,90
dass er dadurch das empfindliche Gleichgewicht des Hauses zerstört und Zerfall und
Auflösung initiiert.
Silke Andrea Schuemmer zeichnet in
„Remas Haus“ das fantastisch-irreale Bild
einer unerfüllten Sehnsucht. Eine unglaubliche Liebe, die als schwärmerische Huldigung beginnt und mehr und mehr in Manie,
Obsession und pathologischen Hass herumschlägt. Vielleicht ist es gerade die morbide Schönheit dieser Metaphern, die einen
gefangen nimmt und zugleich auch das
Geschenk des Erkennens macht. Eine
Erkenntnis über den Wahnsinn und die Monstrosität, die auch unseren eigenen Emotionen und Gedanken inhärent sind. „Wehren
Sie sich nicht, auch wenn Ihnen die Sätze
manchmal im Hals stecken bleiben, während
Sie versuchen, sie wie üblich hinunterzuschlingen.“
DANIELA FÜRST
Fazit: Ein Buch, das es langsam zu lesen gilt,
nicht nur, damit es nicht all zu schnell zu
Ende ist, sondern auch, um sicher zu gehen,
von all den poetischen Absurditäten gänzlich
ergriffen worden zu sein.
Silke Andrea Schuemmer |Remas Haus| Kookbooks
2004, 160 S., EurD 15,90/EurA 16,40/sFr 28,50
BUCHKULTUR 105 | Juni/Juli 2006
16.05.2006 12:27 Uhr
Seite 37
DUNKLE DÄMONEN
Nachts geht Valerie auf Männerjagd in
ihrer Lieblingsbar, erträgt aber nach einem
kurzen Rausch in der dunkelsten Stunde
der Nacht keine Nähe und schickt ihre Lover
unmissverständlich weg. Der Schmerz nach
einer gescheiterten Beziehung ist zu groß,
als dass sie sich noch mal aussetzen würde.
Ihre nicht immer ganz ungefährliche Taktik ist bei weitem harmloser als die Biografien ihrer Mutter und ihrer Großmutter.
Als Verwalterin einer gut florierenden Immobilienkanzlei hat sie keine existenziellen Sorgen und ausreichend Muße, um sich nachlässig ihrem Kunstgeschichtestudium zu widmen. Ein wenig verloren treibt Valerie durch
ihr Leben, zu den Fixpunkten ihrer Tageseinteilung gehören die Besuche bei ihrer Mutter Ona, die in der Nervenklinik lebt. Ona,
die obsessive Raucherin, die mit den Vögeln
spricht, Bilder malt und auch in ihren Siebzigern noch eine beeindruckend agile und
attraktive Frau ist, kämpft seit ihrer Jugend
mit Dämonen, die sie quälen. Ona hat sich
von ihrer Mutter Friederike abgewandt, zu
der auch Valerie kein gutes Verhältnis hat.
Jede der drei Frauen leidet an der dunklen
Familiengeschichte – aus unterschiedlichen
SCHATTEN DES REICHTUMS
Der Augsburger Peter Dempf, versiert im
historischen Metier, wartet erneut mit einem
opulenten Roman auf. Der Hauptschauplatz
ist wiederum Augsburg. Diesmal sind es
die Fugger, um die es sich dreht – im Speziellen um Sibylla Fugger, die Ehefrau des
Jakob Fugger, genannt „der Reiche“. Einziges Kind und Spross der alteingesessenen und
angesehenen Patrizierfamilie Arzt ist Sibylla schon von klein auf äußerst eigenwillig,
um nicht zu sagen stur. So schlägt das zu einer
Schönheit herangewachsene Mädchen die
Hand Konrad Rehlingers, ihres um zehn Jahre älteren Vertrauten aus Kinder-und Jugendtagen, aus, ebenso alle anderen renommierten Bewerber, um ausgerechnet den Mann
zu ehelichen, dem der Zugang in die Herrenstube verwehrt geblieben ist: Jakob Fugger, der zwanzig Jahre ältere erfolgreiche
Geschäftsmann und König der Kaufleute.
Die Ehe bleibt kinderlos, eine seltsame Art
der Liebe und Zuneigung bindet Sibylla an
Jakob, den Geld und Arbeit zur geistigen
und körperlichen Liebe beinahe völlig unfähig
machen. Während Jakob den ersten multinationalen Konzert der Welt aufbaut, erkennt
Sibylla seine Gier, die vor nichts und niemandem Halt macht, und erfährt, dass Reich-
Gründen und mit unterschiedlicher Detailkenntnis. Ona wird nach
der Machtübernahme der
Nazis mit einem Kindertransport verschickt,
landet nach einer qualvollen Schiffsreise in
Kuba, danach in England und kehrt als verstörter, bockiger Teenager nach Österreich
zurück, wo Friederike und ihr Mann alles für
sie zu tun versuchen. Und sie tun mehr, als
sie sich zumuten können. Vor allem Friedrike
trägt schwer am eigenen Erbe, an einem
unverzeihlichen Verrat und an einer familiären Bindung, die sie nicht auflösen kann.
Und Friederike ist die Hüterin von grauenhaften Geheimnissen, die sie schließlich der
Enkelin Valerie Stück für Stück enthüllen
muss, als die Vergangenheit in Form eines
Verwandten aus Brasilien plötzlich vor der
Tür steht. Man begehrt nicht nur Einlass und
Friederike weiß, dass ihre Kräfte fast aufgebraucht sind.
SYLVIA TREUDL
Fazit: Verschlungener, mysteriöser und
spannungsgeladener Roman um drei
Frauengenerationen
Foto © Katharina Behling
29-42 marktplatz
Susanne Ayoub |Schattenbraut| Hoffmann und Campe
2006, 480 S., EurD 19,95/EurA 20,60/sFr 34,90
tum allein nicht zu einem glücklichen Leben
verhilft. Sie hat nicht Jakobs Geld gewollt,
sondern Anerkennung, nicht den Glanz des
Goldes, sondern vielmehr den Glanz des
Namens, doch muss sie einsehen, dass Letzterer immer mehr verblasst. Zwar einerseits
geblendet von Geld und Reichtum, andererseits ihrer Menschenliebe und ihrem eigenen Willen verpflichtet, diskutiert sie mit
Martin Luther und Albrecht Dürer und setzt
bei ihrem Mann die erste Sozialsiedlung,
die „Fuggerei“, durch und kümmert sich beinahe ihr Leben lang um eine mittellose
Weberfamilie. Bereits emotional getrennt
von Jakob, trifft sie ihren Jugendfreund wieder ...
Peter Dempf schildert hier nicht nur eindringlich das persönliche Schicksal der Sibylla Fugger, sondern zeichnet – exzellent recherchiert – ein Bild Augsburgs und ganz Europas in der Zeit zwischen 1479 und 1526,
als die Pest, politische sowie religiöse Unruhen die Länder erschütterten, gleichzeitig ein
neues Wirtschaftsdenken Einzug hielt und
die Kunst florierte.
KAROLINE PILCZ
Fazit: Ein dichter und vielschichtiger Roman
über die faszinierende Zeit der Renaissance.
Peter Dempf |Das Amulett der Fuggerin| edition
Lübbe 2006, 575 S., EurD 22,90/EurA 23,60/sFr 40
»Sowieso mein
Lieblingsautor.«
Harry Rowohlt
Bodo Morten ist nach schwerer psychischer Erkrankung nach Griechenland
ausgewandert. In einer abgelegenen
Bucht führt er ein asketisches Leben: viel
meditieren, viel schwimmen, wenig
Kleidung, kein Alkohol, keine Zigaretten,
keine Frauen. Bis Monika Freymuth
auftaucht. Eine Frau, die ihn an jemanden
erinnert – und sein Leben aus den Fugen
bringt ...
»Mit einem furiosen und alkoholschweren Finale beschließt Frank Schulz
seine Trinker-Triologie.« Der Spiegel
Frank Schulz |Das Ouzo-Orakel
545 Seiten | gebunden mit Schutzumschlag
Euro 25,60 (A) | ISBN 3-8218-0729-6
BUCHKULTUR 105 | Juni/Juli 2006
www.eichborn-berlin.de
29-42 marktplatz
15.05.2006 17:06 Uhr
Seite 38
M A R K T P L AT Z
FALSCHER SCHUTZ
OBSESSIV
Allzu große Fürsorge ist oft ein Fehler, auch
wenn es sich um ein behindertes Kind handelt. Rund 20 Jugendbücher hat die niederländische Autorin Diane Broeckhoven
geschrieben, doch auch mit Büchern für
Erwachsene ist sie vertraut. Nach dem unsentimentalen aber intensiven „Ein Tag mit
Herrn Jules“ erschien nun ihr Romanerstling auf Deutsch. Er spielt in den 1950erJahren in einer kleinen Gemeinde in Flandern. Die Männer arbeiten, die Frauen kümmern sich um die Familie. Es ist eine stickige Welt – auch für Flora, die keine Kinder
bekommen kann, da ihr Bauch nach mehreren Operationen wie eine „Landkarte“ aussieht. Darauf weist ihre Mutter bei Familienfesten nachdrücklich hin und zeigt auch mal
den Bauch. Doch nach dem Tod der Mutter
ändert sich manches. Flora heiratet Mon,
einen fleißigen Handwerker und bekommt
Roza, eine Tochter. Bald stellt sich heraus,
dass sie etwas langsamer ist als alle anderen, doch Mon will sie nicht in ein Heim
geben. Flora spart eisern, einerseits um für
die Zukunft ihrer Tochter zu sorgen, andererseits um sich einmal etwas leisten zu
können. Bevor sie stirbt, verrät sie Roza
das Versteck des Geldes. Aber Geld ist Roza
nicht so wichtig, dafür Wout, ein Freund, mit
dem sich Roza ein Zusammenleben vorstellen könnte. Doch ihr Vater und auch Wouts
Mutter sind dagegen. So bleibt alles beim
Alten. Auch mit 50 Jahren lebt Roza noch
bei ihrem Vater, bis er ins Altersheim muss.
Und dann verrät sie ihrem Vater das Versteck. Der ist überrascht, aber sie hat ganz
andere Vorstellungen, was sie damit
machen wird. Über mehrere Generationen
spannt sich der schmale Roman von
Broeckhoven, die für ihre Geschichte einfache Bilder findet, die aber haften bleiben.
Sie erzählt lakonisch und mit leichter Ironie
von falsch verstandener Fürsorglichkeit,
die nicht hilfreich ist, sondern nur einen
Zustand stabilisiert und von Mutterliebe,
die nicht loslassen kann. Manche Szenen
sind sehr eindringlich gelungen, doch sind
auch viele Sprünge vorhanden. Noch fehlte
ihr die Kontinuität im Erzählen, die sie beim
zweiten Roman meisterhaft erreichte.
BRIGITTE SCHNEIDER
Der Sammler Alfred Irgang ist selber
eine Kuriosität. Zwar ist er als einziger
Erbe nach dem Tod seiner Eltern mehr als
wohlhabend, hat aber die spießige Sozialisation, die verpfuschte Karriere als Student
und den Erfolgsdruck seitens des Elternhauses nicht verkraftet und lebt mehr oder
weniger wie ein Sandler. Mit dem Unterschied, dass er sich nicht nur eine Wohnung,
sondern auch mehrere angemietete Kellerräume leistet, die er für seine Sammlung
benötigt. Alfred Irgangs Begehr richtet sich
aber nicht auf wertvolle Antiquitäten – er
sammelt das, was andere als Müll entsorgen.
In seiner Bleibe ist kein Platz für ein Bett, er
nächtigt auf einem Schlafsessel, durchquert
die Wohnung auf schmalen Pfaden und
treibt in seiner Küche zwischen leeren
Joghurtbechern und Fischdosen rege Jagd
auf Kakerlaken. Alfred Irgang ist glücklich
mit seiner Obsession. Sehr zum Missfallen
seiner so genannten Freundesrunde, die sich
aus arroganten Wissenschaftern und Künstlerinnen, einer selbstgerechten Sozialarbeiterin und einer devoten Studentin zusam-
Fazit: Eindringlich erzählte Geschichte über
das Leben mit einer Behinderten
Diane Broeckhoven |Einmal Kind, immer Kind|
Übers. v. Isabel Hessel. C. H. Beck 2005, 173 S.,
EurD 14,90/EurA 15,40/sFr 26,80
38
+
mensetzt. Doch unbeirrt von wütenden
Hausmeistern und angeblich besorgten
Freunden sammelt Alfred weiter, bis eine
Zufallsbekanntschaft, die er sozusagen im
Schatten eines Mistcontainers aufgabelt, bei
den Normalbiografieinhabern die Alarmglocken schrillen lässt. Schließlich kann man
einen verkappten Millionär nicht kampflos
einer Müllmamsell überlassen und die
„Freunde“ wissen um ein paar wertvolle Erbstücke unter Alfreds schmierigem Krempel.
Als der Sammler nach einem bizarren Unfall
ins Krankenhaus muss, beschließt man, in
seinem Leben aufzuräumen. Das Verhängnis
beginnt. Mit bestechender Ironie und scharfer Beobachtung schildert Evelyn Grill die
soziale Interaktion zwischen einem Randständigen und den braven Bürgern, die zu
jeder Brutalität fähig sind, um ihre Werte zu
schützen.
SYLVIA TREUDL
Fazit: Eine feinsinnige, schwarzhumorige
Studie über arrogante Selbstgerechtigkeit,
Gier, Sozialhelfersyndrom und kaltschnäuzige Ausbeutung.
Pro & Kontra:
Evelyn Grill
»Der Sammler«
Residenz 2006, 240 S., EurD/A 19,90/sFr 34,90
ZUGEMÜLLT
Alfred Irgang ist ein „Messie“. So
nennt man die Menschen, die am Vermüllungssyndrom leiden, die ihre Wohnung
durch Ansammeln von Unbrauchbarem
nahezu unbewohnbar machen. Erklärung für
diese Zwangsstörung gibt es keine, Behandlung in Form einer Therapie schon.
Evelyn Grill, die mit „Vanitas oder Hofstätters Begierden“ 2005 für den Deutschen
Buchpreis nominiert worden ist, hat diesen
Alfred Irgang zum Helden ihres soeben
erschienenen Buches gemacht. Rund um ihn
schart sich eine Anzahl von mehr oder weniger befreundeten Menschen. Um die erste
Irritation gleich los zu werden: Man weiß
nicht genau, wann die Geschichte spielt.
Irgang ist zu Ende des Krieges 10, also muss
er jetzt ca. 70 sein, so alt wirkt er aber nicht,
wirken auch seine gleich alten Freunde
nicht. Was zur Vermutung Anlass geben
kann, dass dieser Roman schon vor längerer
Zeit geschrieben worden ist. Unfair ist es,
Äußerungen aus dem Buch gegen die Auto-
–
rin zu verwenden, aber in diesem Fall deckt
sich das, was eine der handelnden Person
(eine angehende Schriftstellerin) über
Irgang meint, mit der Ansicht des Rezensenten: „Ich überlege mir, ob Alfred Irgang
wirklich so interessant ist, dass man über
ihn gar einen Roman schreiben kann oder
soll. Vielleicht trägt er eine Novelle, aber da
müsste etwas passieren.“ Er sammelt, er
häuft an. Und schon an der Beschreibung
dessen, was er sammelt und wie es bei ihm
zu Hause ausschaut, scheitert die Autorin.
Chaos oder irre Sammelsysteme detailliert
zu beschreiben, das eine ans andere zu reihen, wird bald langweilig. Langweilig wird
auch der immer gleiche Ablauf der wöchentlichen Treffen des Freundeskreises. Monoton
spult sich das Geschehen ab. Die Autorin
erzählt, ihre Figuren sprechen und denken in
papierenen Floskeln, so heißt es etwa einmal
„Ich könnte mich häuten vor Entsetzen“.
KONRAD HOLZER
Fazit: Mag sein, dass es als Satire gedacht
war, so ist das Buch aber nicht angekommen
und kann vergessen werden.
BUCHKULTUR 105 | Juni/Juli 2006
29-42 marktplatz
15.05.2006 17:07 Uhr
Seite 39
M A R K T P L AT Z
existierte in dürftigsten Verhältnissen, vom deutschsprachigen Leser wurde er
THEODOR KRAMERS
rasch vergessen. Mit ruiLYRIK
nierter Gesundheit kehrte
er 1957 zurück nach Wien
Vor vielen Jahren und verstarb im folgenden Jahr. Er hat die
verdiente ich unvorstellbare Zahl von 12.000 (zwölftaumein Brot im send!) Gedichten hinterlassen (zum Vergleich:
RICHARD CHRIST
Lektorat eines Vom schreibfleißigen Franz Werfel kennen
Berliner Verlags. Ich saß Wand an Wand mit wir etwa tausend Gedichte). Die erste Sammeinem älteren Lektor, der mir zum begehr- lung von Kramer, die ich las, „Spätes Lied“
ten Gesprächspartner wurde: Er hatte nach (1996) enthielt ungemein schwermütige,
dem Ersten Weltkrieg Lyrik veröffentlicht schwerblütige Verse, ein wortgewaltiger
und war Mitglied im Kartell lyrischer Auto- Hymnus auf den Herbst in der Natur und
ren, zudem besaß er eine Sammlung Litera- im menschlichen Leben, eingeleitet von „Späturzeitschriften aus der Weimarer Zeit (sie tes Lied“, worin es hieß: „Längst hat mein
kam später auf mich) – von ihm hörte ich Land mich vergessen.“ Nach dieser Lektüre
zuerst den Namen Theodor Kramer und ließ glaubte ich den Autor festgeschrieben auf
Stimmungen in Moll, war dann umso übermir dessen Gedichte zeigen.
Kramer, Sohn eines jüdischen Arztes, 1897 raschter, in dem Band „Die Wahrheit ist,
in Niederösterreich geboren, überstand den man hat mir nichts getan“ (1959) eine ganz
Ersten Weltkrieg schwer verwundet, brach andere Seite kennen zu lernen. Herausgebedas Studium aus Geldmangel ab, sein erster rin Herta Müller kommentiert: „Kein andeGedichtband „Die Gaunerzinke“ erschien rer Autor der deutschen Lyrik hat die pani1929 bei Rütten & Loening. Als Hitler in sche Liebesgier im Alter, das Aug-in-Auge
Wien einmarschierte, floh er nach England, mit dem Lebensende so kompromisslos im
Thomas Mann erwirkte das Visum. Kramer Lachen und Klagen und in allen Facetten
Zum Wiederlesen
beschrieben.“ Nichts ist dem Dichter zu
gering, zu fragwürdig oder banal als Gegenstand einer Lyrik.
Kramer dichtete „Vom Wirtshaus“, „Von
den Küchenschaben“, „Von den Furzen“,
„Von der Onanie“, „Vom Schnorrer“ und
immer wieder klagt er übers Alleinsein und
den „Geschmack der Bitternis“. Er widmet
seine Strophen den sozialen Randexistenzen,
dem Abhub der bürgerlichen Gesellschaft
Wiens oder Londons, er porträtiert mit scharfem Blick und sicherem Strich, aber nie ohne
Mitgefühl die erfrorene Säuferin, die Vorstadthure, den Zuhälter, den Wanzenvertilger. Ich weiß keinen Lyriker, bei dem sich
das Elend des Exils, der Schmerz ums verlorene Heimatland in einem derart
gigantischen Werk niederschlägt.
Es lebendig zu halten bemüht sich
in Wien eine Theodor-KramerGesellschaft, sie gibt die Zeitschrift
„Zwischenwelt“ heraus und vergibt einen Preis für Schreiben im
Widerstand und Exil.
Theodor Kramer |Laß still bei dir mich liegen.
Liebesgedichte| Herausgegeben von Erwin Chvojka,
Nachwort von Daniela Strigl. Zsolnay 2005, 159 S.,
EurD 15,90/EurA 16,40/sFr 29
© Donata Wenders 2005
www.amerikanische-literatur.de
Familienbande à la Auster –
ein bezaubernder Reigen menschlicher Torheiten.
352 Seiten. Gebunden
€ 19,90 (D) / sFr. 34,90
29-42 marktplatz
15.05.2006 17:09 Uhr
Seite 40
M A R K T P L AT Z
KRIMINELL BÜROKRATISCH
„Schlechter Jazz kann tödlich sein“, heißt
es im Klappentext – und damit ist lapidar
umrissen, worum es bei diesem Gustostück für Jazz- und Krimifans geht. Der
Autor, dem Herausgeber Thomas Wörtche
bescheinigt, dass er ein herausragender
Pendler zwischen Schlagzeug und Lesepult, zwischen musikalischer und literarischer Synkope ist, bringt jede Menge Insiderwissen und Branchenkenntnis in seinen
Titel ein. Beinahe schon unaufgeregt, uneitel, schlicht einerseits, begeistert und
enthusiastisch, wenn’s um das Feeling bei
einem Auftritt, einer gelungenen Probe
geht – und voller authentischer Empörung
bei der Entstellung von Jazz zu flachem
Mainstreampseudogedudel als Hintergrundmusik für gelangweilte Yuppis – so
legt Bill Moody seinen „Helden“ wieder
Willen an. Evan Horne ist Jazzpianist, der
nach einem Unfall lange Zeit, zähen Einsatz und viel Disziplin braucht, um mit seiner schwer verletzten Hand endlich wieder
spielen zu können. Nach einem ComebackAuftritt in L. A. wird er von einem kleinen
aber feinen Label zu einem Plattenvertrag
ermuntert und Hornes Glückssträhne
scheint endlich wieder zu funktionieren:
Die Beziehung mit seiner Lebensgefährtin,
die ihn moralisch unterstützt, funktioniert,
er hat eine neue Formation mit exzellenten Musikern, er ist zu seinen Wurzeln
zurückgekehrt. Die schwierige Phase, als
er über seinen Polizisten-Freund Coop in
unerquickliche kriminalistische Zusammenhänge eingebunden war, scheint ebenfalls abgehakt. Bis Coop ihn anruft und um
Hilfe bittet, weil in der Künstlergarderobe
eines Softjazzers ein demoliertes Horn
neben einem toten Musiker gefunden wird
und am Spiegel die trotzig hingeschmierte
Botschaft „Bird lives!“ prangt. Horne
braucht in seinem Fachwissen nicht allzu
tief zu schürfen, um seinem Freund zu
erklären, dass diese beiden Worte eine Art
Beschwörungsformel darstellen, welche
nach dem Tod der Jazzlegende Charlie
Parker allerorten auftauchte. Die Frage ist
nun, ob es sich beim Mörder um einen
fanatischen Parker-Fan, einen eifersüchtigen Kollegen oder um einen subtileren
Zusammenhang handelt.
SYLVIA TREUDL
Als Cora Stephan schreibt die Politologin und Historikerin Sachbücher, als Anne
Chaplet ist sie KrimiliebhaberInnen vertraut. Der Autorin, welche mit zahlreichen renommierten Krimipreisen ausgezeichnet wurde, ist mit dem neuen Titel
nicht nur eine soghafte Story gelungen, sondern auch ein Stück sozialkritischer
Geschichte der jüngeren Vergangenheit
sowie die berührende Schilderung einer
Vater-Sohn-Beziehung.
Alles beginnt damit, dass die Putzfrau
Dalia Sonnenschein, beschäftigt bei Pollux
Facility Management, im Rahmen ihrer
Arbeit den Geschäftsführer eines Großunternehmens in dessen Büro tot auffindet.
Dalia gerät in Panik, allerdings nach innen
gerichtet, der Tod ist nicht neu für sie. Putzend und wischend und als personifizierter
Albtraum jeder Spurensicherungstruppe
durchlebt die junge Frau eine traumatische Kindheitssituation, liegt wieder mit
der Mutter gemeinsam auf den Knien und
entfernt verräterische Flecken vom Boden,
die sich neben einer Leiche ausgebreitet
haben. Bevor Dalia sich so verhält, wie es
diese spezielle Situation landläufig erfordert, steckt sie ein Amulett ein, das der Chef
in der erkaltenden Faust hält, und säubert
auch noch den Rest des Büros akribisch. Die
Chefin der Putzkolonne findet Dalias verspäteten Zusammenbruch und so manches
andere an der Situation seltsam, hat aber
gute Gründe, verschlagen zu lächeln und
die Dinge ihren bürokratischen Gang gehen
zu lassen.
Und in die Mühlen der Bürokratie gerät
dieser Fall natürlich und landet auf dem
Tisch der Staatsanwältin Karen Stark. Todesursache ungewiss. Handlungsbedarf ist angesagt, zumal der Tote ein Freund von Karens
Kollegen war. Und der Kollege hat seit Studententagen eine Freundesrunde, die sich
regelmäßig trifft, zu welcher auch der so
plötzlich Hingeschiedene gehörte – ein
grundsätzlich gesunder Mann in seinen Vierzigern. Man ist betroffen, beunruhigt, nervös, denn man hat seit den Tagen, als sich
in Frankfurt die Startbahn-West-Gegner
mit den Hausbesetzern solidarisierten, die
junge Generation gegen die Betonköpfe der
Vaterfiguren revoltierte, eine sehr spezielle gemeinsame Geschichte. Eine, die man
lieber vergessen würde, die aber plötzlich
ganz manifest wieder im Raum steht. Und
dann kommt der Nächste aus der Runde zu
Tode. Die mittlerweile properen Herren mit
ihrer sauberen beruflichen Erfolgsgeschichte
Fazit: Gelungenes Crossover aus Jazz und
Literatur mit psychologischem Gespür
Bill Moody |Bird lives! |Übers. v. Anke Caroline Burger
Unionsverlag 2006, 272 S.EurD/A 19,90/sFr 34,90
40
Anne Chaplet ist in unterschiedlichen
Genres sehr erfolgreich zu Hause.
sind am Rande der Panik. Alles ein schrecklicher Zufall, ein Zynismus des Lebens oder
der lange und geduldige Arm des Fatums,
das jetzt zupackt?
In einer sehr gelungenen Mosaiktechnik
lässt die Autorin ihre Figuren mit der individuellen Biografie jonglieren und führt sie
glaubwürdig zu einem Plot zusammen, der
das ganz normale, das extrem dramatische,
das hundsgemeine, in Teilen lächerliche, in
Teilen anrührende Existenzielle auf den
Punkt bringt. Neben der verzweifelten
Bemühung der gestandenen Anwältin, mit
einem international gefragten Gerichtsmediziner eine Beziehung zu führen, neben der
fatalen Geschichte der Putzfrau Dalia, neben
den geschönten Lebensläufen der Freundesrunde, die ihre Schwächen, Begierden
und Leidenschaften leugnet, ist die Geschichte des Lokalreporters Will jener Handlungsstrang, der dem Titel eine schmerzhaft bitter-schöne Ausrichtung verleiht. Der
„Versager“ unter den Freunden zieht nach
einer verkrachten Beziehung praktisch mittel- und arbeitslos wieder zu seinem verwitweten Vater – zu einem der „Betonköpfe“ von früher. Und Will, der es hasst, wieder „Willi“ genannt zu werden, bleibt. Bis
zum Ende. Von allem. Aber das dauert. Denn
die Freundesrunde dezimiert sich weiter.
SYLVIA TREUDL
Fazit: Anrührend, spannend und auf eine
undogmatische Art weise zu nennen. Eine
als Krimi codierte Geschichte über in die
Jahre gekommene Revoluzzer, Lebenslügen und das Verzeihen.
Anne Chaplet |Sauberer Abgang| Antje Kunstmann
2006, 288 S., EurD 19,90/EurA 20,50/sFr 34,90
BUCHKULTUR 105 | Juni/Juli 2006
FOTO: SVEN PAUSTIAN
SCHWERMÜTIG
29-42 marktplatz
15.05.2006 17:10 Uhr
Seite 41
SPANNENDE SEITEN
TANGOKÖNIG, GUT ERFUNDEN
Carlos Gardel gilt als die wichtigste Persönlichkeit des argentinischen Tangos. Nicht nur in
Argentinien, auch in Spanien,
Frankreich und Hollywood war
er zu Beginn des vergangenen
Jahrhunderts ein angebeteter
Showstar. Vermutlich der erste,
der Frauen aller Altersstufen
zum Weinen und Kreischen
brachte. Dunkle Augen, sinnliche Stimme, geheimnisvolle
Herkunft, tragischer Tod auf
dem Höhepunkt der Karriere –
der Stoff aus dem die Mythen gemacht werden. Angeblich ist
er 1890 in Toulouse geboren, also ein Franzose, und 1935 bei
einem Flugzeugunglück in Medellin umgekommen. Carlos Gardels Originalaufnahmen sind von der UNESCO zum Weltdokumenterbe erklärt worden.
Der argentinische Autor Horacio Vázquez-Rial („Tango, der
dein Herz verbrennt“) hält die veröffentlichte Lebensgeschichte Gardels für eine mythische Konstruktion und versucht die
wahre Geschichte des Charles Romuald Gardés, genannt Carlos Gardel, zu erforschen. 62 Jahre nach dem Flugzeugzusammenstoß in Kolumbien, bei dem Gardel ums Leben kam, findet er einen Augezeugen, der für ihn in seinen Erinnerungen
kramt und später spricht er auch mit zweien der zahlreichen
Halbbrüder Gardels (oder angeblichen Halbbrüdern). Aus dem
Puzzle aus Erinnerungen und Vermutungen entsteht das verwirrende Gespinst einer immer wieder neu geschriebenen Lebensgeschichte, die mit der offiziellen Biografie nur das Todesdatum
gemein hat. Die Frage, die sich der Autor und Icherzähler
stellt, ist aber nicht die nach der wahren Identität des Tangostars
Carlos Gardel, sondern die nach den Mechanismen der Mythenbildung und den (irrelevanten) Bezügen zur Realität. Vermutlich könnte ein solcher Roman, genauso über John Lennon, James
Dean oder Greta Garbo geschrieben werden. Über Marilyn Monroe, Romy Schneider oder Elvis Presley gibt es sie, doch haben
deren AutorInnen, vergeblich nach der ganzen Wahrheit gesucht
und daher am mythischen Gespinst nichts ändern können. Da
hat Vázquez-Rial schon die bessere Idee gehabt: Weil es die
Wahrheit ohnehin nicht gibt, stellt er dem bekannten Mythos
einen unbekannten entgegen, konstruiert und fabuliert wild darauf los und tanzt mit seinen LeserInnen einen Kriminaltango,
der leidenschaftlicher nicht sein könnte. Im Original heißt der
Roman „Las dos muertes de Gardel“, doch eigentlich sind es viel
mehr, denn nicht nur die Schallplatten- und Filmbosse, die Fans,
Brüder und Autoren, auch Gardel selbst hat Carlos Gardel immer
wieder neu erfunden. Die vielen Tode sind ein untrügliches Kennzeichen für einen Star, der als Kultfigur weiterlebt.
KARIN SLAUGHTER
DREH DICH NICHT UM
€
ULRIKE PURSCHKE
HENDRIKJE, VORÜBERGEHEND ERSCHOSSEN
Es ist schon der dritte Tote in
einer Woche. Am Grant College
haben die Studenten offenbar ein
makabres neues Hobby entdeckt:
Sterben. Aber Chief Jeffrey Tolliver
und die Gerichtsmedizinerin Sara
Linton werden den Verdacht nicht
los, dass mit diesen Selbstmorden
etwas nicht stimmt …
464 Seiten
10,20
€
12,40
Kennen Sie nicht auch solche
Menschen, die sich immer selber
im Weg stehen? Ein ungewöhnlich
warmherziger und witziger Roman
über Hendrikje, den Pechvogel.
220 Seiten
JOHN KATZENBACH
DIE ANSTALT
FOTO: PIPER VERLAG
DITTA RUDLE
Fazit: Dramatische Lebensgeschichte im Sumpf des beginnenden 19. Jahrhunderts, als Lateinamerika für viele Europäer
das Hoffnungsland war. Atmosphärisch dicht und spannend.
Achtung Falle: Wenn es nicht wahr ist …
Horacio Vázquez-Rial |Der Mann, der sich Carlos Gardel nannte| Übers. v. Petra
Zickmann und Stine Lehmann. Piper 2006, 370 S., EurD 22,90/EurA 23,60/sFr 40,10
BUCHKULTUR 105 | Juni/Juli 2006
€
Vor zwanzig Jahren, als junger
Mann, ist Francis Petrel gegen
seinen Willen in eine psychiatrische Klinik eingewiesen worden.
Mehrere Jahre hat er dort zugebracht - bis die Anstalt nach
einer Mordserie geschlossen
wurde ...
752 Seiten
9,20
15.05.2006 17:12 Uhr
Seite 42
Neue Krimis
Schmauchspuren
42-53 TB_SB
VON PETER HIESS
■ Wir Krimileser sind gefinkelt. Wenn ein
Psychothriller den Titel „Die Anstalt“ trägt
und von einem Insassen selbigen Narrenhauses an die Wand seiner Wohnung gekritzelt wird; wenn bereits der erste Teil des
Buches „Der unzuverlässige Erzähler“ heißt
– ja, dann werden wir aufmerksam. Weil:
Vielleicht ist der Erzähler gar nicht so unzuverlässig, wie der Autor uns glauben machen
will. Und er – Francis Petrel, der mit 20 Jahren in eine psychiatrische Klinik eingewiesen wurde und sich Jahrzehnte später an die
Ereignisse dort erinnert – ist es natürlich auch
gar nicht.
Schade um den roten Hering, der in diesem Fall wirklich vom Kopf her stinkt. Trotzdem aber großes Lob für den Roman des amerikanischen Ex-Gerichtsreporters Katzenbach, weil seine Serienmörder-Story spannend erzählt ist, stellenweise an „Einer flog
über das Kuckucksnest“ erinnert und erst am
Schluß ein wenig verärgert. Aber da will man
dann schon unbedingt wissen, wie’s ausgeht.
John Katzenbach |Die Anstalt| Übers. v. Anke Kreutzer
Knaur TB 2006, 749 S., EurD 8,95/EurA 9,20/sFr 16,50
■ Trotzdem freut man sich über die Routine
eines John Sandford viel mehr. Der betreibt
sein Handwerk – vor allem mit den Krimis
um Lucas Davenport – aber auch schon um
einiges länger als obiger Kollege. Sein Romanheld ist mittlerweile bei der Staatsanwaltschaft von Minnesota für politisch besonders
heikle Fälle zuständig und soll sich in dieser
Eigenschaft um den Mord an einem Russen
und die Aufdeckung eines stillgelegten Rings
von „Sleeper“-KGB-Spionen kümmern. Und
das tut er so cool, wie man es von ihm gewöhnt
ist. Ordentliche Arbeit.
John Sandford |Kalter Schlaf| Übers. v. Manes H. Grünwald
Goldmann TB 2005, 444 S., EurD 8,95/EurA 9,20/sFr 16,50
42
■ Weil wir Krimileser nicht nur gefinkelt,
sondern auch höchst ungeduldig sind, musste der neue Jasper Fforde im Original her.
Der lässt seinen aktuellen Fall aus der Welt
der Literatur (oder vielmehr in dieser Welt)
nicht mehr von der beliebten Heldin Tuesday Next aufklären, sondern von der britischen „Nursery Crime Division“. Was
geschehen ist? Nun, Humpty Dumpty ist
von der Mauer gefallen und zerbrochen –
und möglicherweise steckt ein Mord dahinter. Großartig erzählt, mit unzähligen literarischen und märchenhaften Anspielungen,
ein echtes Lesevergnügen.
Jasper Fforde |The Big Over Easy| Hodder & Stoughton 2005,
402 S., Euro 12,90
■ Ähnliches gilt auch für den dritten Band
der neuaufgelegten Abenteuer von Gentlewoman-Gaunerin Modesty Blaise. Sie und
ihr Kumpan Willie Garvin werden in ein
afghanisches Tal verschleppt, wo sie einen
paramilitärischen Angriff auf Kuwait vorbereiten sollen. So sehr dieser Plot auch
nach aktueller Nachrichtensendung klingt
– Peter O’Donnells Roman ist ganze 40
Jahre alt und verbreitet beste, spritzige Sixties-Atmosphäre. Nur Emma Peel war noch
cooler …
Peter O’Donnell |Modesty Blaise: Operation Säbelzahn|
Übersetzt von Anton & Adele Stuzka. Unionsverlag TB 2006,
319 S., EurD/A 9,90/sFr 17,90
■ Was in einem kühlen Land passieren kann,
wenn dort eine Hitzewelle und zugleich ein
Kinderkiller ausbrechen, erfahren wir im
Buch eines schwedischen Autorenduos. Aber
wir können es ja auch gleich an dieser Stelle verraten: „Die Bestie“ und ihre Untaten
machen alle Beteiligten, vom Täter bis zum
frustrierten Cop, vom bisexuellen Arzt bis
zum bangen Vater, zutiefst betroffen, nachdenklich, supersensibel und introspektiv.
Was wir daraus lernen? Politisch korrekte
Dokumentarfilmer und/oder Strafgefangene sollten keine Krimis schreiben. Und der
Hype um die skandinavischen Genrever-
treter ist schwer übertrieben. Nur die Verlage haben das noch nicht begriffen.
Anders Roslund/Börge Hellström |Die Bestie| Übers. v.
Gabriele Haefs. Fischer TB 2006, 304 S., EurD 7,95/
EurD 8,20/sFr 14,70
■ Statt nordeuropäischen Kriminalschrott
für therapiegeschädigte Hausfrauen auf den
Markt zu werfen, sollten die Verlagshäuser lieber die US-„Hard Case Crime“-Serie
übersetzen lassen. Tun sie aber nicht. Deswegen halten wir uns an die Originale –
diesmal die Bände acht bis zehn:
Allan Guthries „Kiss Her Goodbye“
(2005) ist ein hartgesottener schottischer
Thriller in der Tradition guter britischer
Gangster-Filme (also „Get Carter“ statt Guy
Ritchie): Schuldeneintreiber Joe Hope will
den Selbstmord seiner Tochter rächen, steht
aber plötzlich als Hauptverdächtiger für
den Mord an seiner Ehefrau da. Da helfen
nur mehr der treue Baseball-Schläger – und
eine schlagfertige Nutte. Auch so kann’s
im hohen Norden zugehen.
Donald E. Westlakes „361“ (1962)
erzählt die Geschichte eines jungen Ex-Soldaten, der nach seiner Entlassung aus der
Armee erlebt, wie sein Vater erschossen
wird, und danach immer tiefer in einen
Mafia-Krieg hineingerät. Wie er die diversen Parteien gegeneinander ausspielt, das
erinnert wiederum an den Abenteurer in
David Dodges „Plunder Of The Sun“
(1949), einer südamerikanischen Story um
verlorene Inkaschätze, unseriöse Wissenschaftler und (natürlich) geheimnisvolle
Frauen.
Merke: Wenn man sich beim Lesen
Humphrey Bogart in der Hauptrolle vorstellt, ist das immer ein gutes Zeichen –
zumindest für uns gefinkelte Krimileser.
Allan Guthrie |Kiss Her Goodbye| Hard Case Crime
(Dorchester Publ.) 2005, 223 S., 6,99 US-$
Donald E. Westlake |361| Hard Case Crime
(Dorchester Publ.) 2005, 208 S., 6,99 US-$
David Dodge |Plunder Of The Sun| Hard Case Crime
(Dorchester Publ.) 2005, 223 S., 6,99 US-$
BUCHKULTUR 105 | Juni/Juli 2006
FOTO: ANGELIKA HERGOVICH
Vergeßt Skandinavien! Wer braucht
schon Krimis, die sich wie vulgärpsychologische Handbücher lesen?
Peter Hiess läßt lieber die wahren
Routiniers morden.
42-53 TB_SB
15.05.2006 17:14 Uhr
Seite 43
TA S C H E N B U C H | M A R K T P L AT Z
ETIKETTENSCHWINDEL
HILFREICH
In vier Bänden werden berühmte Erzählungen und Novellen von der Klassik bis zur
Wiedervereinigung gesammelt. Hauptherausgeber ist der Germanist Albert Meier.
Zu Entdecken ist hier kaum etwas, es ist eher
eine grundsolide Sammlung bewährter Texte, die großteils als biedere Schullektüre in
Verwendung sind und die einen brauchbaren, aber selten spannenden Überblick über
die bewährten Literaturepochen bilden. Die
jeweiligen Lesebücher werden durch kurze
Texte des Herausgebers eingeleitet, in denen
eher sehr grob einige Aspekte der literarischen Entwicklung angerissen werden. So
weit so gut, nicht aufregend. Warum diese
Bände jedoch den Haupttitel „Deutschland
erzählt“ führen, wird nicht erklärt. Wenn
also von 68 AutorInnen, die insgesamt vertreten sind, 19 nicht aus Deutschland sind,
sondern aus der Schweiz und Österreich, darf
wohl gefragt werden, warum. Hier muss keine Diskussion über Nationalliteratur angezettelt werden, noch dazu ist ja nicht geklärt,
welche denn gemeint wäre.
Zuerst gab es die sehr erfolgreiche Homepage (www.frag-mutti.de), die auch durch
einige Artikel noch bekannter wurde und
dann folgt nun konsequenterweise das Buch.
Die Hilfestation für flügge gewordene Jungmänner hat sich als wichtige Instanz erwiesen. So alle Lebensbereiche werden angesprochen, von der ersten Wohnungssuche,
dem Einzug, über das Wäsche Waschen,
das Einkaufen, das Bügeln, Putzen und
Kochen. Fern von mütter- oder väterlichen
Einflussnahmen sollte damit das Überleben
gesichert sein. Die Tipps sind sehr praxisbezogen und hilfreich. Backpulver in Kombination mit Essig macht eben den verstopften Abfluss wieder sauber und es sind keine
stechenden Chemikalien nötig. Locker
geschrieben sollten selbst notorische Haushaltsverweigerer einen Zugang zur Thematik finden. Bei den Rezepten erleben mitunter klassische Gerichte des Wirtschaftswunders wie Leberkäse Hawaii fröhliche Auferstehung. Aber wenn es schmeckt …
Albert Meier (Hg.) |Deutschland erzählt| 4 Bde.
Klassik und Romantik; Realismus; Fin de Siècle, Avantgarden,
Exil; Vom Kriegsende bis zur Wiedervereinigung
464, 492, 378, 312 S., Fischer TB 2006, je EurD 8,95/
EurA 9,20/sFr 16,50
FOTO: „DAS ROLF HOCHHUTH LESEBUCH“ VON GERT UEDING/DTV
EINFÜHREND
Zu seinem 75. Geburtstag ist ein Lesebuch aus den Werken von Rolf Hochhuth
erschienen. Eine Sammlung herauszugeben
ist ein schwieriges Unterfangen, denn Hochhuths Werk ist doch sehr vielfältig und reicht
von Dramen über Erzählungen und Essays
bis zu Gedichten. Kaum eine Gattung, mit
der er nicht gearbeitet hat. Und er ist noch
immer ein eifriger Autor. Schon mit seinem
ersten Stück, dem „Stellvertreter“ verursachte
er einen ordentlichen Skandal, als er die Rolle des Papstes bei der Judenverfolgung
beschrieb. Heute ist das Stück Schullektüre. Hochhuth hat aber nicht nachgelassen.
Er trug zum Rücktritt eines Ministerpräsidenten bei, der unter den Nazis Todesurteile vollstrecken ließ und auch heute hat er mit
dem Stück „McKinsey kommt“, in dem er
die Praktiken der Unternehmensberater
attackierte, für Wirbel gesorgt. Einer Auseinandersetzung geht er selten aus dem Weg.
Dafür ist er zu engagiert, zu sehr von seinen
Ideen überzeugt. Doch auch die unbekannteren Seiten werden in diesem Lesebuch
gezeigt, etwa Hochhuth als Lyriker, der sehr
sensibel seine Umwelt wahrnimmt.
Gert Ueding (Hg.) |Das Rolf-Hochhuth-Lesebuch| dtv 2006, 333
S., EurD 12/EurA 12,40/sFr 21,10
BUCHKULTUR 105 | Juni/Juli 2006
Bernhard Finkbeiner, Hans-Jörg Brekle |Frag Mutti| Fischer TB
2006, 247 S., EurD 7,95/EurA 8,20/sFr 14,70
COOL
Die kleinen Anthologien zur modernen
Literatur eines Landes aus dem Wagenbach
Verlag (es gibt sie unter anderem zu Frankreich oder Österreich) sind rundweg zu empfehlen. Noch dazu, wenn in diesem Fall mit
A. L. Kennedy eine höchst renommierte Herausgeberin gewonnen werden konnte. Trotzdem, auf relativ wenig Raum einen schönen
breiten Überblick zu erfahren ist höchst
brauchbar. In diesem Fall wurden 12 AutorInnen ausgesucht, die großteils noch nicht
auf Deutsch zu lesen waren. Es sind Erzählungen, die sich wohl mit der Gesellschaft
Hochhuth als Taschenbuch:
Ein Lesebuch mit der ganzen Bandbreite
von Dramen bis zu Gedichten.
auseinander setzen, auch manchmal durch
Ironie auszeichnen, doch insgesamt an der
Sprache abarbeiten. Schnelle Sprache, derber
Jargon, Schockelemente gehören nicht zum
Handwerkszeug dieser AutorInnen oder
zumindest haben sie es hier nicht verwendet.
Einen Großteil der Übersetzungen haben
übrigens die Studenten des Aufbaustudienlehrganges „Literarische Übersetzung“ der
Uni München übernommen. Und das Ergebnis liest sich gut.
A. L. Kennedy (Hg.) |Cool Britannia| Wagenbach TB 2006,
158 S., EurD 9,90/EurA 10,20/sFr 18,10
EMPÖRT
Die Nachschrift nach „Die Wut und der
Stolz“, jener vehementen Anklageschrift
gegen den Islam und alle Menschen, die
sich dazu bekennen, ist noch genauso kämpferisch. Eigentlich wollte die ehemalige Starjournalistin nur auf die Angriffe ihrer Kritiker antworten, doch dann ging es mit ihr
durch. Wieder zählt sie fast atemlos ein Beispiel nach dem anderen auf, um zu belegen,
wie der Islam die westliche Kultur attackiert
und an ihrem Niedergang arbeitet. Als Beweis
erzählt sie Fälle aus ihrer Arbeit, etwa als sie
Muhammad Ali interviewte. Damals konnte sie aber die wahre Gefahr noch nicht
abschätzen und damals war sie auch noch eine
liberale Journalistin, aber das nur nebenbei.
Ihr neues Buch liest sich flott, ist aber ein
derart vorurteilsbehaftetes Pamphlet, dass es
fast als Lehrbeispiel für diese Art Literatur
gelten könnte. Sie benutzt jeden Trick, um
ihre Mission zu erfüllen und Untergriffe sind
ihr dabei genauso recht.
Oriana Fallaci |Die Kraft der Vernunft| Übers. v. Paula Cobrace.
List TB 2006, 317 S., EurD 7,95/EurA 8,20/sFr 14,80
GEREIST
Auf Einladung des Goethe Instituts verbrachte Steffen Kopetzky vier Wochen in
Marokko. Klingende Namen werden lebendig, denn natürlich reiste er nach Marrakesch,
nach Tanger und nach Rabat oder in die
Hafenstadt Salé. In seinem Tagebuch, das er
von der Reise führte, erzählt er von den Menschen, die er traf, von den Orten, die er besuchte. Ein Reisetagebuch eines sehr wachen,
genau beobachtenden Reisenden. Kopetzky
erzählt wenig von der Geschichte der Orte,
ihn interessieren mehr die Gegenwart, die
Lebensverhältnisse, seine Reaktionen auf die
Geschehnisse. Er weiß, dass er wieder zurückfahren wird, dass er kein Aussteiger ist oder
werden wird, denn seine Frau ist schwanger
und wartet zu Hause. Und sie taucht auch in
seinen Beschreibungen des Öfteren auf.
„Marokko“ ist kein spektakuläres Buch, eher
43
42-53 TB_SB
15.05.2006 17:19 Uhr
Seite 44
M A R K T P L AT Z | TA S C H E N B U C H
TASCHENBUCH
TIPPS
eine sehr persönliche Beschreibung einer Reise, bei der nicht die Sensation gesucht wird,
sondern eher einfache Begegnungen mit dem
Unbekannten.
Ein Sixpack, also diese Karton-Tragetasche für sechs Flaschen Bier steht da. Im
konkreten Fall kriegen Sie sogar sieben.
Aber nicht Biere, sondern Bücher. Gerade
richtig als handliches Lektüremöbel für
die anstehende, wohlverdiente Sommererholung. Und weil laut Jean Paul „Bücher
nur dickere Briefe an Freunde“ sind, ist
besagtes Sixpack ein besonders dicker
Freundschaftsbeweis. 407 Texte wurden
vom Diogenes Verlag ausgewählt:
deutschsprachige Erzähler bringt ein
Band, Erzähler aus aller Welt ein weiterer,
dann Kriminalgeschichten, Satirisches,
Biografisches … . Grund für das praktische
Köfferchen: Der Verlag hat bislang über
100 Millionen seiner Taschenbücher verkauft und hatte somit keine Schwierigkeiten, aus dem reichhaltigen, gewichtigen
Angebot auszuwählen. Zum (Wieder-)
Lesen auf über 3500 Seiten: Alfred
Andersch und Erich Hackl, Friedrich Dürrenmatt und Loriot, Somerset Maugham,
John Irving, Patricia Highsmith, Georges
Simenon, Donna Leon, Nietzsche, Tschechow, Marcuse, Camus, Barbara Vine,
Magdalen Nabb, Ingrid Noll. – Ach ja, die
sieben Bücher sind auch einzeln zu erstehen, aber der geneigte Leser, die aufmerksame Leserin werden sich diesem Sixpack
mit hochprozentigem Inhalt kaum entgehen lassen (kostet knappe 20 Euro)!
Sie ist den meisten wohl als ausgezeichnete (und bepriesene) Kinder- und
Jugendbuchautorin bekannt: Renate
Welsh. Die Wienerin schreibt aber auch
Romane für die ältere Klientel („Das Lufthaus“, dtv). Ihr neuester Wurf, „Die schöne
Aussicht“ (dtv premium), bringt das beeindruckende Bild einer Frau und ihres verwinkelten Werdegangs in den Verwerfungen des 20. Jahrhunderts. Im Gasthaus
der Eltern aufgewachsen, nicht gerade mit
Bildung gesegnet, erfährt sie ein Dasein
als unerwünschtes Kind und als wenig
gelittene Person. Ihre Lehrmeisterin muss
als Jüdin 1938 fliehen, ihr erster Freund
stirbt bei einem Unfall, im elterlichen
Gasthaus treffen sich die Nazis … Keine
sentimentale Zeitreise, auch nicht die
heroische Darstellung einer zur kühnen
Kämpferin gewordenen (dazu ist Rosa viel
zu unbedarft), doch ein stimmiger Rückblick, ein Zeitbild, wohl auch Erinnerungen
und schmerzliche, späte Erkenntnisse. NJ
Steffen Kopetzky |Marokko| btb 2006, 188 S., EurD 8,50/EurA
8,80/sFr 15,80
44
BEWEGLICH
Im Fußball besteht eine Mannschaft nun
mal aus elf Personen. Nahe liegend, dass für
eine Anthologie von Fußballgeschichten von
Frauen auch elf Autorinnen gesucht wurden.
Prominente Namen sind zu finden, etwa Sibylle Berg, Fanny Müller, Sibylle Lewitscharoff, Annette Pehnt oder Eva Rossmann. Die
Herangehensweisen sind unterschiedlich,
manchmal wird fabuliert, dann wieder ein
Stück aus der eigenen Erinnerung angeboten. Trotzdem, jeder Text tendiert eher zum
Spielerischen und scheut sich nicht vor dem
Witz. Manchmal mehr, manchmal weniger.
Dahinter ist jedoch oft eine Gegnerschaft
zu spüren. Fußball ist eben ein Männersport
und Frauen interessieren sich weniger dafür,
und wenn, dann machen sie sich ein wenig
lustig darüber. Dass immerhin die deutsche
Nationalmannschaft der Frauen den Weltcup gewann, wird zwar einmal erwähnt, doch
wirklichen Nachhall hat es nicht hinterlassen. Wie auch bei vielen Männern nicht. Aber
dafür gibt es vielleicht andere Gründe. Eine
recht launige und unterhaltsame Sammlung,
die als lustvoller Einstieg für die WM gelten kann und die auch Klischees bedient.
literaturhaeuser.net (Hg.) |Aus der Tiefe des Traumes|
Sammlung Luchterhand 2006, 171 S., EurD 9/EurA 9,30/sFr 16,60
ANALYTISCH
Vor 100 Jahren starb der Norweger Henrik Ibsen und ist trotzdem heute noch immer
einer der meistgespielten Dramatiker der
Welt. Mit seinen Stücken wie „Nora oder ein
Puppenhaus“ hat er Theatergeschichte
geschrieben. Vier seiner wichtigsten Werke
sind in dem Band versammelt. Neben der
Nora sind es „Hedda Gabler“, „Baumeister
Solness“ und „John Gabriel Borkmann“. Er
hat nichts von seiner Kraft und Modernität
verloren, das zeigt sich so richtig in den
neuen Übersetzungen von Hinrich SchmidtHenkel. Da er bei seiner Übertragung auf
sprachliche Modernismen verzichtete, lässt
sich die Sprache nicht mehr zeitlich verorten
und wird die Gültigkeit Ibsens für unsere
Zeit deutlich herausgearbeitet. Denn immer
noch sind seine Attacken auf die Lebenslügen, auf die bigotten Verhaltensweisen honoriger Bürger und deren hohles Lebensglück
erfrischend zu lesen. Unbarmherzig seziert
Ibsen seine Figuren, legt ihre Schwächen bloß.
Ein guter Einstieg, um einen wichtigen
Schriftsteller kennen zu lernen.
Henrik Ibsen |Theaterstücke| Übers. v. Hinrich Schmidt-Henkel
rororo 2006, 480 S., EurD 12,90/EurA 13,30/sFr 23,50
NACHGEFRAGT
Mit einem Zettelkasten oder einer Datenbank und genügend Konsequenz und Durchhaltewillen lässt sich manches machen. So
auch ein Buch, das Auskunft über Redewendungen und Wörter gibt. Wolfgang Seidel hat zahlreiche Wörterbücher konsultiert und aufmerksam Worte gesammelt.
Herausgekommen ist ein verführerisches
Buch für alle, die gerne wissen wollen, woher
die Worte stammen, die tagtäglich verwendet werden. Aus allen Lebensbereichen hat
Seidel Wörter und Redewendungen gesammelt, ob nun Sport und Freizeit oder Kultur und Medien. Wissenschaft, Medizin oder
Wirtschaft bieten auch viele Grundbegriffe. Wenn nun noch die Herkunft der Markennamen erklärt wird oder die Entstehung
von Tiersymbolen als Markenzeichen, wird
nicht nur ein informatives Wörterbuch, sondern auch ein kulturgeschichtliches Lesebuch
daraus, das sich an beliebiger Seite aufschlagen lässt und zum Schmökern verleitet.
Wolfgang Seidel |Woher kommt das schwarze Schaf?|
dtv 2006, 256 S., EurD 9,50/EurA 9,80/sFr 16,80
ERKLÄRT
Durch ihre Bücher über die „Frauen der
Nazis“ wurde die österreichische Historikerin Anna Maria Sigmund bei Veranstaltungen auch oft mit Fragen zur Person Hitlers
konfrontiert. Diese Fragen waren Anlass für
ihr jüngstes Buch, das auf sieben Fragen
basiert, etwa, was machte die Faszination
Hitlers aus? Oder warum hat niemand Hitler umgebracht? Neue Materialien legt Sigmund bei ihren ausführlichen Antworten
nicht vor, doch war das auch nicht die Intention. Die Literatur über Hitler und die Nazis
ist umfangreich und für viele schwer zu
überblicken. Hier ging es darum, möglichst
lebendig, trotzdem fundiert, naheliegende
Fragen für ein breiteres Publikum zu beantworten. Und das ist ihr gut gelungen. Viele
Zitate und Querverweise sorgen für Anschaulichkeit.
Anna Maria Sigmund |Diktator, Dämon, Demagoge|
dtv 2006, 260 S., EurD 12,50/EurA 12,90/sFr 21,90
VERBLÜFFEND
Sicher sind Naturwissenschaften wichtig,
doch so richtig will sich nach der Schulzeit
niemand damit auseinander setzen, außer es
ist beruflich nötig. Anders ist es aber, wenn
es sich um praktische Beispiele aus dem AllBUCHKULTUR 105 | Juni/Juli 2006
42-53 TB_SB
15.05.2006 17:16 Uhr
Seite 45
Unglaubliche Lebensgeschichten zweier
Frauen aus Österreich
Tristesse pur, aber als Buch wie als Film
beeindruckend: Szene aus „Tsotsi“.
tag handelt: Das ist so Grundidee hinter der
Fernsehsendung „Clever!“. Wigald Boning
und Barbara Eligmann moderieren und stellen dem Publikum dabei Fragen über die
Belastbarkeit von Haaren oder in welchem
Haushaltsgerät sich Bier brauen lässt. Auch
die Frage, warum der Magen knurrt, wird
untersucht. Und weil sich niemand so eine
Sendung längere Zeit merkt, war es wohl
nahe liegend, aus den witzigsten Fragen und
Antworten ein Buch zu fertigen. Übrigens,
angeblich lässt sich eine Waschmaschine fürs
Bierbrauen nützen. Aber es wird empfohlen
nicht alle Experimente, die im Studio durchgeführt wurden, auch zu Hause zu überprüfen. Zum Knobeln ist das Buch auf alle Fälle geeignet.
Tsotsi lässt sich nicht gerne ausfragen.
Weder über seine Vergangenheit, noch über
seine Wünsche oder Träume. Er ist Anführer einer kleinen Gang und lebt von Überfällen. Das Leben seiner Opfer ist ihm nicht
viel wert, allerdings auch nicht sein eigenes. Doch plötzlich ändert sich alles, als ihm
zufällig ein kleines Baby auf seinen Streifzügen in die Hände fällt. Ungeschminkt,
drastisch und mitunter sehr brutal schildert
Athol Fugard das Leben in den Townships
während der 1950er-Jahre in Südafrika. Das
Buch konnte allerdings erst 1980 veröffentlicht werden und gilt heute als einer der wichtigsten Romane der südafrikanischen Literatur. Für die oscarprämierte Verfilmung wurde die Handlung in die Gegenwart verlegt.
Noch immer streift ein neuer Tsotsi durch
die nächtlichen Straßen.
Wigald Boning, Barbara Eligmann |Clever!| rororo 2006, 218 S.
EurD 9,90/EurA 10,20/sFr 17,90
Athol Fugard |Tsotsi| Übers. v. Kurt Heinrich Hansen
Diogenes 2006, 330 S., EurD 9,90/EurA 10,20/sFr 16,90
S P E Z I A LT I P P
FOTO: FILMLADEN/WWW.FILMLADEN.AT
DRASTISCH
UNRUHIGER GEIST
Als junger Dichter wurde Jakob Michael
Reinhold Lenz als der neue Shakespeare
gefeiert und zählte neben Goethe zu den
wichtigen Schriftstellern des Sturm und
Drang. Doch bald kam es zu Rückschlägen. Während Goethe sich in Weimar
etablierte, konnte Lenz von seinen
Arbeiten kaum leben. Zum großen Zerwürfnis mit Goethe kam es in Weimar, wo sich
Lenz niederlassen wollte, doch Goethe die
Konkurrenz fürchtete. Er lancierte einige
Intrigen und schickte ihn dadurch wieder
auf die Wanderschaft. Bei Lenz zeigten sich
erste Depressionen. Georg Büchner hat diese Phase in seiner Novelle „Lenz“ eindringlich geschildert. Lenz war zu unangepasst
und schrieb auch mit seinen Stücken, wie
dem „Hofmeister oder Vorteile der Privater-
BUCHKULTUR 105 | Juni/Juli 2006
ziehung“ gegen die Dressur der Menschen
an. Verarmt starb er 1792 mit 41 Jahren auf
den Straßen Moskaus. Sein Einfluss auf die
spätere Dramenentwicklung, den Naturalismus, Expressionismus und das epische
Theater sind heute unbestreitbar. Durch diese von Sigrid Damm herausgegebene Ausgabe besteht eine gute Gelegenheit, sich
intensiver mit Lenz zu beschäftigen. Fast
das gesamte Werk von ihm sowie Briefe an
und von Lenz wurde aufgenommen, umfassend kommentiert und mit einem biografischen Essay versehen. Leider wurde ein
Text, der bei seiner Wiederentdeckung 1994
als literarische Sensation galt, die „Philosophischen Vorlesungen für empfindsame
Seelen“, nicht mit aufgenommen.
TH
ISBN 3-293-20357-4
420 Seiten, € 9.90 [D]/sFr 17.90
»Inge Sargent ist die letzte Prinzessin
der Shan. Ihre schier unglaubliche
Lebensgeschichte schildert die Försterstochter aus Kärnten einfach und klug.«
Frankfurter Allgemeine Zeitung
ISBN 3-293-20353-1
144 Seiten., € 8.90 [D]/sFr 16.50
»Grond erzählt die abenteuerliche
Geschichte einer faszinierenden Frau,
die ihr Leben - in einem ganz
wörtlichen Sinn - selbst entwirft.«
Norddeutscher Rundfunk
Sigrid Damm (Hg.) |Jakob Michael Reinhold Lenz
Werke und Briefe in drei Bänden| Insel TB 2005, 2739 S.,
EurD 32/EurA 32,90/sFr 56
Unionsverlag
www.unionsverlag.com
46-47 bildbände_neu
16.05.2006 10:19 Uhr
Seite 46
M A R K T P L AT Z | B I L D B Ä N D E
Scharf konturiert
Ein monumentales und beeindruckendes Buch über
riesige Bäume. VON TOBIAS HIERL
FOTO: AUS „BAUMRIESEN“ VON JAMES BALOG/FREDERKING & THALER
S
echs Jahre benötigte der Fotograf James Balog für sein Projekt: 92 Bäume von 47 verschiedenen Arten der mächtigsten, größten und ältesten Bäume der USA
zu fotografieren. Er beschaffte sich weiße Stoffbahnen, ließ sie von Kränen hochziehen und fotografierte jeden Baum, als ob er im Studio arbeiten würde. Doch die Bäume sind riesig und die Weite und Offenheit eines Baumes schwer
einzufangen. Selbst wer neben einer großen Eiche steht oder darüber hinwegfliegt,
sieht eben nur einen Teil des Baumes, niemals das Ganze von den Wurzeln bis zu den
letzten Verzweigungen. Und das war eben die Herausforderung. Denn wer weiß, dass
beispielsweise in Baumstämmen das Wasser innerhalb einer Stunde 45 Meter
steigen kann; oder dass in den Kronen bestimmter großer Bäumen Hunderte
von Tieren und Pflanzen leben können. Ein neuer Zugang, eine neue Technik
war nötig. Um sich also dem Thema Bäume anzunähern, fügte er mehrere Bilder zusammen und entwickelte daraus später ein System der Fotosequenzen.
In Folge arbeitete er mit digitalen Mehrfachbelichtungen und kam so zu mosaikartigen Bildarrangements, die an kubistische Bilder gemahnen. Um das Ausmaß der Bäume drastisch darzustellen, fotografierte er bisweilen jede Ebene
des Baumes in Dutzenden von Fotografien. Dazu kletterte er mit seiner Ausrüstung auf einen gegenüberliegenden Baum und seilte sich langsam ab.
Daheim setzte er dann seine
Fotoausbeute am Computer zu
unglaublichen neuen
Mosaiken
zusammen. Bis zu
800 Fotos waren
für eine Collage
nötig
46
BUCHKULTUR 105 | Juni/Juli 2006
46-47 bildbände_neu
16.05.2006 10:20 Uhr
Seite 47
B I L D B A N D | M A R K T P L AT Z
Die mächtige Eiche in Covelo,
Kalifornien, wurde von
Balog Schicht für Schicht
fotografiert.
Ì James Balog |Baumriesen|
Übers. v. Frank Auerbach
Frederking & Thaler 2006, 192
S., EurD 75/EurA 77,25/sFr 126
BUCHKULTUR 105 | Juni/Juli 2006
47
42-53 TB_SB
15.05.2006 17:18 Uhr
Seite 48
Auf Atmosphäre setzt Ute Mahler bei ihren
Fotos zur Freud-Biografie von Birgit
Lahann.
Familiäre Bezüge. Über Freuds Familie weiß
Nur zu Mozart ist eine ähnliche Dichte an Neuerscheinungen zu verzeichnen wie zum Freud-Jubiläum. Vorwiegend die Person, weniger die Theorie
steht dabei im Mittelpunkt. Ein kritischer Überblick von RICHARD CHRIST und
TOBIAS HIERL
er sich über Freud informieren möchW
te, hatte in den letzten Wochen gute
Gelegenheit dazu. Kaum eine Zeitschrift oder
ein Fernsehsender, wo nicht zumindest ein
Artikel, eine kleine Sendung über die Gründungsfigur der Psychoanalyse vorkam. Aufmerksame Beobachter wissen nun vielleicht
besser Bescheid, ansonsten bleiben noch eine
große Stückzahl an Publikationen, teilweise wieder aufgelegt, teilweise erstmals publiziert.
Die biografischen Ansätze. Noch immer
frisch, informativ, sehr literarisch ist die schon
1956 erstmals erschienene Studie über Freuds
Leben und Werk von Ludwig Marcuse. Weitaus opulenter ist die Biografie von Peter Gay,
die jetzt neu aufgelegt wurde. Auch die
Bücher von Max Schur und Georg Markus
sind Neuauflagen. Die Freud-Biografie von
Georg Markus erschien erstmals 1989. Er
verfolgt darin den Weg eines Mannes, der
gleichviel Genie wie Original war. Sehr aufschlussreich sind die Angaben über Einkommen, Honorare usw., besonders da stets
eine Umrechnung der damaligen Währungen in Euro beigegeben ist.
Neu und rechtzeitig zum Jubiläum fertig geworden sind die Biografien von Katja
Behling, von Birgit Lahann und Barbara
Sternthal. Einen speziellen Gesichtspunkt
hat sich Linde Salber ausgesucht, nämlich
Freuds Beziehung zu Frauen. Sehr lebendig
48
und anschaulich schreibt Birgit Lahann. Sie
bereiste alle Wirkungsstätten von Freud und
dieser Aufwand hat sich gelohnt. Die Fotos
von Ute Mahler sind eine originelle Beigabe. Mit reichlichem zeitgenössischen Bildmaterial kann das Buch von Barbara Sternthal aufwarten. Katja Behling beschreibt
neben der Person Freud die Entwicklung der
psychoanalytischen Gesellschaft und gibt
einige Ausblicke auf die weitere Entwicklung von Freuds Werk nach seinem Tod. Ausschließlich auf Zitate aus Briefen und Werken stützt sich die Bildmonografie von Ernst
Freud, Lucie Freud und Ilse Grubrich-Simitis. Vielleicht der objektivste Zugang.
Ludwig Marcuse |Sigmund Freud. Sein Bild vom Menschen|
Diogenes 2006, 253 S., EurD 21,90/EurA 22,60/sFr 37,90
Peter Gay |Freud| Fischer TB, 904 S., EurD 10/EurA 10,30/
sFr 18
Max Schur |Sigmund Freud| Suhrkamp TB 2006, 701 S.,
EurD 15/EurA 15,50/sFr 27,40
Georg Markus |Sigmund Freud. Die Biografie| Langen Müller
2006, 352 S., EurD 22,90/EurA 23,60/sFr 39,90
Katja Behling |Dunkler Seele Zauberbann| Pichler 2006,
272 S., EurD/A 24,90/sFr 43,70
Birgit Lahann, Ute Mahler |Als Psyche auf die Couch kam|
Aufbau 2006, 180 S., EurD 24,90/EurA 25,60/sFr 44,50
Barbara Sternthal |Sigmund Freud. Leben und Werk 1856 –
1939| Brandstätter 2006, 159 S., EurD/A 29,90/sFr 52,90
Großformatiger Bildband
Linde Salber |Der dunkle Kontinent. Freud und die Frauen|
rororo 2006, 317 S., EurD 8,90/EurA 9,20/sFr 16,50
Ernst Freud, Lucie Freud, Ilse Grubrich-Simitis |Sigmund
Freud. Sein Leben in Bildern und Texten| Suhrkamp TB 2006,
352 S., EurD 12/EurA 12,40/sFr 22,10
Eva Weissweiler |Die Freuds. Biographie einer Familie| Kiepenheuer & Witsch 2006, 479 S., EurD 24,90/EurA 25,60/sFr 42,30
Lilly Freud-Marlé |Mein Onkel Sigmund Freud| Aufbau 2006,
341 S., EurD 22,90/EurA 23,60/sFr 41,10
Sophie Freud |Im Schatten der Familie Freud| Übers. v. Erica
Fischer u. Sophie Freud. Claassen 2006, 475 S., EurD 19,95/
EurA 20,60/sFr 35
Die Texte im Original. Zum Jubiläum
erschienen auch einige Sammlungen aus den
Schriften Freuds, die besonders für LeserInnen, die sich erstmals mit Freud beschäftigen interessant sein dürften. Im Lesebuch
sind seine Schriften aus vier Jahrzehnten versammelt. Auch für bibliophile Naturen gibt
es Lesestoff, etwa die „Freud Fundamente“.
Eine Kassette mit den beiden zentralen
Büchern von Freud, der Traumdeutung
(1900) und den drei Abhandlungen zur
Sexualtheorie (1905) sowie den Vorlesungen
zur Einführung in die Psychoanalyse
(1916/17). Umfassender ist noch die Werkausgabe in zwei Bänden. Herausgegeben wurde die zweibändige Ausgabe (Elemente der
Psychoanalyse und Anwendungen der Psychoanalyse) von Anna Freud und Ilse Grubrich-Simitis. Freuds Tochter hat die Einführungen zu den einzelnen Kapiteln
geschrieben. Eine richtige Neuentdeckung
ist aber der Briefwechsel von Anna Freud mit
ihrem Vater. Ausführlich kommentiert zeigt
BUCHKULTUR 105 | Juni/Juli 2006
FOTO: AUS „ALS DIE PSYCHE AUF DIE COUCH KAM“ VON BIRGIT LAHANN UND UTE MAHLER/AUFBAU
Familienanalysen im Hause Freud
man relativ wenig. Jetzt kommen aber sukzessive Berichte und Erinnerungen seiner
Verwandten zur Veröffentlichung, die auch
ein persönlicheres Bild erlauben. Einen opulenten Familienroman legte Eva Weissweiler mit ihrer Biografie der Familie Freud vor.
Sie arbeitete alle derzeit verfügbare Literatur
ein und wir erfahren sehr viel über die einzelnen Familienmitglieder. Manches ist
schockierend und manches zeigt die Person
Freud in einem neuen Licht. Sie wird weitaus nicht mehr so sympathisch gezeigt, wie
in vielen anderen Biografien. Wichtige Kritikpunkte an Freuds Handlungen hat Weissweiler aber von C. G. Jung übernommen.
Dessen Glaubwürdigkeit ist zumindest ein
wenig zu hinterfragen. Trotzdem bleibt noch
immer eine große Materialfülle über. Sicher
eine der interessantesten Neuerscheinungen zum Thema. Ungeschönte Familieneindrücke lassen sich auch aus den Büchern
der Nichte von Freud, nämlich Lilly FreudMarlé und seiner Schwiegertochter Ernestine ziehen. Beide Bücher sind auch von kulturhistorischem Interesse.
42-53 TB_SB
15.05.2006 17:20 Uhr
Seite 49
INTERVIEW
S A C H B U C H | M A R K T P L AT Z
Eine Wissenschaftslegende privat
Christfried Tögel ist sicher einer der besten Kenner von Freuds Werk.
Zum Jubiläum kann er mit einem Band „Freud für Eilige“ und der
Herausgabe einer Biografie von Freuds Nichte aufwarten. Für einen Film
über Freud wurde er auch herangezogen. Mit ihm sprach Tobias Hierl.
BUCHKULTUR: Über Freud wurde
eigentlich schon so viel geschrieben, mit
der Person Freuds beschäftigte man sich
intensiv. Das Einzige, was vielleicht noch
nicht so richtig beackert ist, wäre Freud
und Familie, also die persönliche Note
Freuds, der man noch etwas abgewinnen
könnte. Sind die Bücher von der Schwester oder der Nichte in diesem Umfeld
anzusiedeln?
Christfried Tögel: Die persönliche Note
ist manchmal relevant. Sie finden in der Biografie von Lilly keinen Satz über eine psychoanalytische Hypothese oder Theorie, aber
sie können viel Atmosphäre mitbekommen.
Sie finden Details über die Tischordnung,
wie Freud den Raum betreten und seine Enkel
begrüßt hat. Dinge, die Sie normalerweise
in Biografien nicht finden. Dinge, die jungen Menschen aufgefallen sind, die einen
alten Mann beobachtet haben. Die Nichte
ist 1888 geboren und wie sie zehn war, war
Freud noch nicht 50. Es sind immerhin Eindrücke von einem Wissenschaftler, der in der
Mitte des Lebens stand. Das ist schon interessant, nicht vom theoretischen Gesichtspunkt aus, aber atmosphärisch.
BUCHKULTUR: Welchen Erkenntnisgewinn ziehen wir daraus, außer dass wir
seine Person, also eine Wissenschaftslegende privat näher kennen lernen?
FOTO: SUSANNE SCHLEYER
Tögel: Mich als Wissenschaftshistoriker fas-
ziniert das schon, wenn man auch nur ein
kleines Mosaiksteinchen zu einem Bild findet und stückchenweise dieses Bild vervollständigt und man weiß ja nicht, wann irgendein Detail einmal Bedeutung erlangt. Die
Nichte schreibt zum Beispiel an einer Stelle, dass Freud seinen Vater versprechen musste, nie einen Verwandten zu behandeln und
das war, als Freud noch Medizinstudent war,
wo es überhaupt nicht um Psychoanalyse
ging. Dass das später in der Psychoanalyse
ein wichtiger Punkt in der Behandlung war,
also aufgrund der Abstinenzregel Verwandte nicht behandelt werden können, bekommt
vor diesem Hintergrund vielleicht ein wenig
eine andere Bedeutung. Vielleicht war dieser Teil der psychoanalytischen Technik schon
biografisch angelegt. Also, man weiß nie
genau, an welcher Stelle gewisse Details vielBUCHKULTUR 105 | Juni/Juli 2006
on bei Freud. Sind Sie jemand, der die
menschlichen Seiten bei Freud präsentieren möchte?
Tögel: Eigentlich nein, das hat sich so ergeben. Ich als Wissenschaftshistoriker klebe
sehr an Details und habe viele sehr spezifische Arbeiten veröffentlicht, die eigentlich
nur 100 Leute interessieren, die sich damit
beschäftigen. Und irgendwann bin ich mal
dazu gekommen auch etwas für ein breites
Publikum zu schreiben, mal einen Überblick
oder „Freud für Eilige“. Ich bin dem früher
etwas überheblich gegenübergestanden, aber
ich halte das heute doch für etwas Wichtiges. Freud hat Fragen gestellt, an denen
kommt niemand vorbei, egal ob er sie immer
richtig beantwortet hat.
BUCHKULTUR: Können Sie ein Beispiel
bringen, für so eine Detailfrage, die für Sie
relevant ist?
Tögel: Ein Thema, das für mich interessant
Seit rund 30 Jahren hat Freud einen
Fixplatz im Leben von Christfried Tögel.
leicht sogar auch in die Therapie- oder Theoriegeschichte eingeordnet werden.
BUCHKULTUR: Seine Aussagen werden
dadurch weder wahr noch falsch, wenn sie
durch biografische Aussagen überlagert
werden. Aber umgekehrt, im öffentlichen
Diskurs stehen dann nur mehr die biografischen Details.
Tögel: Das ist doch überall so. Sie wissen
doch, was in den Medien Einschaltquoten
bringt und woran die Leute interessiert sind.
Das Publikum wird über eine bestimmte
Situation angesprochen, die den Menschen
emotional nahe bringt und nicht über seine
Theorie. Letzteres geht in der Regel nicht,
mit Ausnahme von Fachleuten. Und wir
haben schon ein gewisses Interesse an einer
Popularität. Das geht hin bis zu Finanzierungen. Die deutsche Forschungsgemeinschaft wird ein Projekt eher finanzieren, wenn
in der allgemeinen Öffentlichkeit das Thema diskutiert wird. Egal ob jetzt über Verhältnisse mit Hausangestellten oder Schwägerinnen. Es ist im öffentlichen Bewusstsein
und hat größere Chancen finanziert zu werden. Das sehe ich ganz pragmatisch.
BUCHKULTUR: Was ist dann ihre Positi-
war, war eine ganz kurze Episode 1859 in
Leipzig, damals war Freud drei Jahre. Sein
Vater hat dort die ständige Aufenthaltsgenehmigung beantragt. Sie ist dreimal abgelehnt worden. Und wenn er die bekommen
hätte, hätte die Familie Freud nicht in Wien,
sondern in Leipzig gelebt und die Psychoanalyse wäre nicht in Wien, sondern in Leipzig entstanden, in Sachsen. Ich fand das schon
interessant. Das ist aber nichts für ein breites Publikum.
BUCHKULTUR: Sie beschäftigen sich
jetzt seit rund 30 Jahren mit Freud. Ist
noch viel zu tun?
Tögel: Es gibt noch 5000 unveröffentlichte
Briefe. Und so viele weitere Dinge, wie Dokumente, Aufzeichnungen, Patientenkalender,
Abrechnungsbücher, die Informationen über
Freuds Praxis, über seinen Tagesablauf, über
den Umgang mit Patienten liefern können.
Da haben Generationen von Forschern noch
genügend Arbeit. Da brauchen sie keine
Angst zu haben.
CHRISTFRIED TÖGEL, geb. 1953, promovierte über die
Traumforschung, habilitierte über Entwicklung und Rezeption der klassischen Psychoanalyse und betreute die Erfassung und Neuordnung der großen Freudarchive in Wien,
in London und teilweise in der Kongressbibliothek in Washington. Und ist heute Direktor des SALUS-Instituts für
Trendforschung und Therapieevaluation in Mental Health.
Mehr als 100 wissenschaftliche Publikationen zur Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftstheorie, zur FreudBiografik und mehrere Editionen von Briefen Sigmund
Freuds. Er ist Herausgeber u. a. von Anna Freud-Bernays „Eine Wienerin in New York“ und Lilly FreudMarlé „Mein Onkel Sigmund Freud“.
49
42-53 TB_SB
15.05.2006 17:21 Uhr
Seite 50
M A R K T P L AT Z | S A C H B U C H
Zur Hinterlassenschaft im
Freud-Museum in London
zählt auch die Brille, die
Freud in seinen letzten
Jahren trug.
dieser Briefwechsel die wechselvolle VaterTochter-Beziehung, die zentral für das Weiterwirken von Freuds Werk werden sollte.
Sigmund Freud |Das Lesebuch| S. Fischer 2006, 350 S.
EurD 12/EurA 12,40/sFr 21,90
Sigmund Freud |Freud Fundamente| S. Fischer 2006, 1312 S.
EurD 39,90/EurA 41,10/sFr 69,40
Anna Freud/Ilse Grubrich-Simitis (Hg.) |Sigmund Freud| Werkausgabe in zwei Bänden. S. Fischer 2006, 624 S., EurD 25/EurA
25,70/sFr 43,80
Sigmund Freud, Anna Freud |Briefwechsel 1904 – 1938| Ingeborg Meyer-Palmedo (Hg.). S. Fischer 2006, 680 S., EurD
34,90/EurA 35,90/sFr 60,40
* unverbindliche Preisempfehlung
Kurz und originell. Als Auffrischung oder
einfach als kurzweiliger Einstieg können
die schmalen Bände von Hans-Martin Lohmann und Christfried Tögel gelten. Tögel
konzentriert sich auf das Werk und liefert
kurze Einführungen zu den zentralen Themenkomplexen. Ein guter Einstieg. Das lässt
sich auch von Hans-Martin Lohmann sagen.
Über Freud schrieb er auch eine Rowohlt
Monografie und bei „Freud für die Westentasche“ genügen ihm jeweils einige schmale Seiten, um Themen wie das Unbewusste
oder Freud und die Frauen abzuhandeln.
Im Rahmen eines Reise- oder besser Stadtwanderführers bieten Lisa Fischer und Regina Köpl einen interessanten Einstieg in die
Welt der Psychoanalyse. In Form eines Spazierganges führen die beiden Autorinnen zu
den wichtigsten historischen Stätten der Psychoanalyse in Wien. Anhand der einzelnen
Schauplätze ergeben sich gute Möglichkeiten, sehr anschaulich und informativ über
Personen und Entwicklungen der Psychoanalyse zu schreiben. Ein höchst kurzweiliger Stadtführer der anderen Art.
Freud schrieb nicht nur über den Witz,
sondern hatte auch selbst Humor. Anregende Beispiele dafür fand Ludger Lütkehaus
in seiner Zitatensammlung „Genug von meinen Schweinereien. Freud zum Vergnügen“.
Das ist aber nicht eine bloße Sammlung skurriler Aussprüche oder Texte, sondern ein
schmaler, doch origineller Einstieg in die
Arbeit von Freud, von seinen Ansichten über
Frauen bis zum Stellenwert der Sexualität.
Christfried Tögel |Freud für Eilige| Aufbau TB 2006, 232 S.,
EurD 7,95/EurA 8,20/sFr 14,80
Hans-Martin Lohmann |Freud für die Westentasche| Piper 2006,
126 S., EurD 9,90/EurA 10,20/sFr 18,10
Lisa Fischer, Regina Köpl |Sigmund Freud – Wiener Schauplätze
der Psychoanalyse| Böhlau 2006, 221 S., EurD/A 19,90/
sFr 34,90
Ludger Lütkehaus (Hrsg.) |Genug von meinen Schweinereien|
Freud zum Vergnügen. Reclam 2006, 159 S., EurD 4/EurA
4,20/sFr 7,40
Ein
großer
Wurf!
und Einstein nur einmal begegneten, nämlich 1927, leiteten sie für den Wissenschaftsjournalisten Richard Panek einen Paradigmenwechsel in den Denkhaltungen und
damit der Erforschung der Welt ein. Eher
enzyklopädisch agiert Henri F. Ellenberger.
Seine umfassende Untersuchung der
Geschichte und Entwicklung der dynamischen Psychiatrie gilt als Standardwerk und
wurde nun wieder neu aufgelegt. Akribisch
zeigt er den Weg vom 19. Jahrhundert bis
etwa Mitte des letzten Jahrhunderts.
Eine umfassende große Zusammenschau,
die allerdings mehr in unsere Gegenwart
reicht und versucht, Positionsbestimmung
der Psychoanalyse für unsere heutige Zeit
vorzunehmen, stammt von Eli Zaretsky. Zur
Diskussion ist es sicher die anregendste Veröffentlichung. Und wer sich über die eigentliche Behandlungsweise von Freud aus erster
Hand informieren möchte, sei auf die Sitzungsprotokolle von Ernst Blum verwiesen.
Manfred Pohlen hat sie herausgegeben. Blum
war selbst Psychiater und absolvierte eine
Lehranalyse bei Freud. Nach jeder Sitzung
fertigte er ein Gedankenprotokoll an. Es ist
höchst interessant Freud bei der Arbeit zu
erleben, denn sonst gibt es eben nur Berichte über die einzelnen Fälle. Hier wird erstmals deutlich, wie sich Freud seinen Patienten nähert und auch wann er von seiner
eigenen Theorie manchmal abweicht.
Richard Panek |Das unsichtbare Jahrhundert| Übers. v.
Hainer Kober. Berlin Verlag 2005, 272 S., EurD 19,90/
EurA 20,50/sFr 34,90
Henri F. Ellenberger |Die Entdeckung des Unbewußten| Übers. v.
Gudrun Theusner-Stampa. Diogenes, 1226 S.,
EurD 29,90/EurA 30,80/sFr 51,90
Eli Zaretsky |Freuds Jahrhundert. Die Geschichte der Psychoanalyse| Zsolnay 2006, 622 S., EurD 39,90/EurA 41,10/
sFr 69
Manfred Pohlen |Freuds Analyse| Rowohlt 2006, 399 S.,
EurD 22,90/EurA 23,60/sFr 39,90
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DER STANDARD
Arno Geiger liest selbst!
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  .           .  
FOTO: AUS „ALS DIE PSYCHE AUF DIE COUCH KAM“ VON BIRGIT LAHANN UND UTE MAHLER/AUFBAU
Und die Wissenschaft? Obwohl sich Freud
42-53 TB_SB
16.05.2006 12:30 Uhr
Seite 51
LITERATUR UND POLITIK
Es ist nur zu verständlich, dass Dieter Lattmann aus seinem Leben erzählen will. 1926
geboren hat er den Krieg aktiv erlebt, dann
begonnen sich ins Verlagswesen einzuarbeiten, hat Romane, Essays, Hörspiele und Filmdrehbücher geschrieben, war Präsident der
Bundesvereinigung der deutschen Schriftstellerverbände und dann Bundestagsabgeordneter der SPD. Und er nimmt gleich mit
einem Satz in seiner Vorbemerkung zu dem
Buch ein, in dem er schreibt: „Nachts blättern Träume mir ungeschriebene Bücher auf,
tags neide ich dem Unbewussten die Phantasie.“ Also gibt es solche Träume auch bei
anderen, wahrscheinlich bei vielen, die mit
Büchern zu tun haben, die mit Büchern leben.
Der 80-jährige macht sich also Gedanken
über eine Unzahl von Themen, die so ein langes Leben halt mich sich bringt. Und oft
hat man das Gefühl, dass er die Vergangenheit wieder erstehen lassen will, vor dem Vergessen retten will, weil er das Gefühl hat, zur
Gegenwart nicht mehr zu gehören. Und so
räsonniert er über die Herbstzeitlosen als
Altersblumen, erzählt von den Menschen,
die er getroffen hat: Willy Brandt und Michail Gorbatschow, Ingeborg Bachmann und
Heinrich Böll, er lässt aber auch den Selbstmord seines Sohnes nicht aus und den Ver-
VIELE ORTE
Im Juni würde Ingeborg
Bachmann 80 Jahre alt werden. Ein Jubiläum, dem Christa Gürtler einen kleinen Band
über die Autorin widmet, der
zum einen als Biografie zu
lesen ist und zum anderen
auch als Einführung in ihr Werk gelten kann.
Über Bachmann ist viel geschrieben worden und deshalb schwer, dem noch Neues
hinzuzufügen. Auch ist die Rezeption von
Bachmann heute etwas gedämpft. Mit neuen Erkenntnissen kann und will Gürtler,
die schon früher über Bachmann gearbeitet
hat, nicht aufwarten, gilt es doch vielmehr
das Porträt einer Frau zu zeigen, die eigentlich nie so richtig eine Heimat oder besser
Heimstätte gefunden hat und doch auf ihren
Reisen und Umzügen ein höchst vielseitiges
Werk schuf.
Diese Ruhelosigkeit nimmt Gürtler zum
Anlass über die Orte bei Bachmann zu schreiben, von ihrer Jugend am Ende des Krieges,
dem miefigen Klagenfurt der Nachkriegszeit und den ersten Jahren in Wien. Mit Wien
wird Bachmann eine andauernde Hassliebe
BUCHKULTUR 105 | Juni/Juli 2006
dacht, Stasi-Mitarbeiter gewesen zu sein. Er
stellt Überlegungen über die Vereinigung
der beiden deutschen Staaten an, über den
Narzissmus in der Politik, aber auch über die
Familie, die Kränkungen, Enttäuschungen
und Erfolge. All das erzählt er mit einer gewissen Bedeutung, einem – wahrscheinlich dem
Alter entsprechenden – zurückgenommenen
Pathos. Der Titel des Buches „Einigkeit der
Einzelgänger“ war 1970 sein Vorschlag für
das Motto des ersten deutschen Schriftstellerkongresses, dessen Vorsitzender er soeben
geworden war. Und auch wenn Dieter Lattmann hier in Österreich nicht so bekannt ist,
kann man sich schon vorstellen, dass er überall, wo er gewirkt hat, in der Literatur, im
Verlagswesen, in der Politik, dass er überall
dort etwas bewirkt hat. Ein Intellektueller
mit Macht und Skrupel. Die letzten drei
Kapitel sind so symptomatisch für dieses
Buch, wahrscheinlich für sein Leben. Warum er Sozialdemokrat bleibe, wie er sterben
lernen möchte und ganz zum Schluss ein stilles Reflektieren des Drinnen und des Draußen
und was noch kommen kann.
KONRAD HOLZER
Fazit: Ein überzeugender Bericht von einem
Leben auf vielen Schauplätzen
Dieter Lattmann |Einigkeit der Einzelgänger| A1 Verlag 2006, 376 S., EurD 24,80/EurA 25,50/sFr 43,50
verbinden und sie ist froh, als sie wegzieht,
nach München, nach Berlin, nach Rom, wo
sie dann die letzten Jahre ihres Lebens verbringen wird. Und dann war noch die Zeit
in Zürich mit Max Frisch, die ziemlich
schrecklich für sie endete. Sehr behutsam
erzählt Gürtler, mit einer gewissen Vertrautheit, aber auch Distanz. Sie bespricht
diverse Beziehungen, doch lässt sie sich dabei
nicht auf Interpretationen oder Klatsch ein.
Die Beschreibungen der einzelnen Stationen
kontrastiert Gürtler mit manchmal ausführlichen Zitaten aus den Erzählungen von
Bachmann. Interessant ist, wie genau sie dabei
ihre Personen verortet hat, wie sie mit Ortsnamen arbeitete, wie wichtig ihr diese Orte
waren. Zum „Malina“ wird eine längere Passage angeführt, die in der späteren Textfassung gestrichen wurde, auf Anraten von Martin Walser und Unseld. In dieser Beschreibung einer Stadtrundfahrt zeigt sich eine
höchst witzige Bachmann.
Joyce Tyldesley erzählt die abenteuerliche
Geschichte der Wiederentdeckung des
Alten Ägypten: Vom trickreichen Schatzgräber Belzoni, vom genialen Hieroglyphen-Entzifferer Champollion, vom
Glückspilz Carter und vielen anderen
großen Forschern. Mit ihnen führt sie zurück zu den Pharaonen, ihren Frauen und
Kindern, Tempeln und Palästen.
Joyce Tyldesley:
Mythos Ägypten
Die Geschichte einer
Wiederentdeckung
Übers.: I. Rein · 340 S. · 30 z. T. farb. Abb.
Gebunden · ISBN 3-15-010598-6
€ (A) 20,50 · € (D) 19,90 · sFr 34,90
w w w. r e c l a m . d e
TOBIAS HIERL
Fazit: Eine charmante Art, Leben und Werk
einer großen Autorin kennen zu lernen.
Christa Gürtler |Ingeborg Bachmann| edition ebersbach 2006, 128 S., EurD 14/EurA 14,40/sFr 25,30
Viel mehr als
Klassiker in Gelb.
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15.05.2006 17:29 Uhr
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Der leidenschaftliche
Bericht einer jungen
Irakerin.
Niederschmetternd,
sarkastisch und
doch hoffnungsfroh ...
Riverbend
BAGDAD BURNING
Ein Tagebuch
3 7017 3013 X
Euro 22,90
Für Riverbend ist es kein
Widerspruch, amerikanische
Popkultur zu konsumieren und
gleichzeitig die islamfeindliche
Außenpolitik der USA
entschieden abzulehnen.
In ihrem Internet-Blog
beschreibt sie die Mühen des
Kriegsalltags und eröffnet
einen Einblick in den Irakkrieg,
wie er westlichen Journalisten
gar nicht möglich ist.
ADEL VERPFLICHTET
Medici ist der Name, der Florenz zur
heute allgemein anerkannten säkularen Wiege der Kultur, Kunst und Kulturgeschichte des Abendlandes gemacht hat. Die
Geschichte dieser Dynastie wird in einem
populären Sachbuch zusammengefasst und
„von innen“ heraus erzählt, nämlich aus der
persönlichen Sichtweise eines Familienangehörigen. Lorenzo de’Medici, der als Schriftsteller in Barcelona lebende Spross des Hauses Medici, verfolgt mit diesem Buch das
hochgesteckte Ziel, dem Leser einen neuen
Zugang zur Geschichte zu eröffnen, indem
er erzählt, was historische Werke zumeist
unberücksichtigt lassen: Das Leben und Privatleben von verschiedenen Medici-Persönlichkeiten. Der Autor stellt seine Urahnen vor und versucht, sie in neuem Licht zu
interpretieren. Er liebt vor allem die Unbekannteren, darunter Frauen wie Claudia de’
Medici, Erzherzogin von Österreich oder
Anna Maria Luisa de’Medici, Kurfürstin von
Pfalz-Neuburg. Vor allem aber geht es ihm
darum, Zusammenhänge fassbar zu machen.
In diesem Sinne schreibt er über den Namen,
die Abstammung, den Begründer der Dynastie, die Renaissance im Allgemeinen, die
FILM KOMPAKT
Das zurzeit umfangreichste
Nachschlagewerk zur Filmgeschichte in deutscher Sprache.
1995 zum ersten Mal erschienen,
beinhaltet es in der nun herausgekommenen 5. Auflage 500 Beispiele aus 100 Jahren Kino.
Dem Herausgeber selbst ist da die Problematik der Auswahl bewusst. Daher seien
Einwände nur ganz kursorisch gehalten: Ganz
abgesehen von persönlichen Vorlieben ist das
Fehlen von Regisseuren wie Dziga Vertov
und Marguerite Duras ebenso störend wie
die Auslassung von Meisterwerken großer
Regisseure. Von Kubrick fehlt sein grandioser Erstling „Path of the Glory“ ebenso
wie der so viel Aufsehen erregende Film „Eyes
wide shut“. Gänzlich unverständlich ist es,
dass für Terence Malick zwar „The thin red
line“ besprochen ist, seine beiden überragenden älteren Werke („Badlands“ und „Days
of Heaven“) aber unerwähnt bleiben. Dass
der österreichische Nachkriegsfilm kaum vorkommt, vermag nicht wirklich zu überraschen. Dennoch: Von Michael Haneke hätte sich neben „Bennys Video“ zumindest auch
„Die Pianistin“ – schon der Breitenwirkung
wegen – eine Berücksichtigung verdient.
Stellung der Medici in
Italien sowie über das
Papsttum. Drei Päpste
stellte die Familie im
Lauf der Geschichte und
präsentiert damit etwas
absolut Einmaliges. Außerdem geht es in
der zweiten Hälfte des Buches um die Blutsverwandtschaft der Medici mit anderen Herrscherhäusern und die Entwicklung der Familie während der letzten dreihundert Jahre,
in denen ihre Mitglieder „recht normal“ lebten – was anhand der Biografien der Eltern
des Autors sowie eigener Kindheitserinnerungen illustriert wird. Manchmal etwas
emphatisch und ein wenig unkritisch, aber
doch durchaus historisch fundiert bietet das
Buch einen schön zu lesenden, mit 18 Farbtafeln illustrierten Überblick über Glanz
und Reichtum, politische Intrigen, Korruption sowie den Kampf um Macht dieser interessanten Familie.
KAROLINE PILCZ
Fazit: Geschichte aus heutiger, persönlicher Perspektive.
Lorenzo de’Medici |Die Medici. Die Geschichte meiner Familie| Übers. v. Silvana Albinoni. Lübbe 2006,
319 S., EurD 24,90/EurA 25,60/sFr 43,70
Das sind nun alles keine grundlegenden Einwände, vor allem, weil
das Verhältnis zwischen Kommerz
und Anspruch insgesamt recht ausgewogen wirkt. Schwerer wiegen da
schon die Vorbehalte, die die
Gewichtung in den einzelnen Artikeln betreffen. Bei der großen Mehrzahl der Filmbeschreibungen nimmt
nämlich die Inhaltsangabe einen überwiegenden Raum ein. Bei einem Opus wie „Tod
in Venedig“ wirkt eine dreiseitige Nacherzählung doch ein wenig überflüssig. Bei einem
so exponierten Werk wie „Weekend“ von
Godard hingegen scheint eine ebenso lange
Inhaltsangabe geradezu inventiv: So viel
Geschichte nimmt der Seher auch bei mehrmaliger Betrachtung des Filmes gar nicht
wahr. Dass für den „Rest“ nur jeweils eine
halbe Seite bleibt, wird dem Gewicht beider Werke einfach nicht gerecht. Das handliche Kompendium ist dennoch zu empfehlen: Die Register sind ausführlich und übersichtlich, und vor allem der Wiedererkennungswert ist hoch.
THOMAS LEITNER
Fazit: Trotz mancher Mißlichkeit ein empfehlenswertes Kompendium.
Thomas Koebner |Filmklassiker| Reclam 2006, 2716 S.,
5 Bde. in Kassette. EurD 48/EurA 49,40/sFr 82,50
BUCHKULTUR 105 | Juni/Juli 2006
www.residenzverlag.at
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In der richtigen Stimmung ist ein Krake
eine feine Sache.
gibt (eine Ausnahme sind vielleicht Vincent Klink und Wiglaf Droste mit ihrer
unorthodoxen Publikation “Häuptling eigener Herd”), die derart fundiert über das Essen
schreiben können.
Kulinarische Lesereisen
Gut essen wollen die meisten – oder zumindest viele. Und deshalb ist auch
das Interesse an dProdukten und Inhaltsstoffen gestiegen. Und darüber
steht in normalen Kochbüchern wenig. Und noch weniger über den Genuss
beim Essen. Aber manche Bücher helfen, meint Tobias Hierl.
FOTO: AUS „EINFACH. GUT.“ VON ERWIN STEINHAUER UND GÜNTHER SCHATZDORFER/CARINTHIA
ehr auf die Sinnlichkeit des EssgeM
nusses sind die kleinen kulinarischen
Glossen von Keto von Waberer ausgerichtet. Mit Leidenschaft und Inbrunst schreibt
sie etwa von ihrer Liebe zur Leberwurst in
allen Variationen. Schon als kleines Kind
begann diese Beziehung, die sich auf diversen Reisen nur noch steigerte. Sie ist aber
auch anderen Genüssen gegenüber aufgeschlossen und hatte reichlich Gelegenheit,
exotische Speisen unterschiedlichster Art
zu kosten. Sie schreibt über Desserts, die
Lust am Grießbrei oder über die Melancholie der Esser in einem Haubenlokal. Keine Rezepte, aber eine elegant-sinnliche Reise in kulinarische Welten, die Appetit macht
und von einer großen Weltoffenheit zeugt.
Das ist hierzulande eher die Ausnahme.
Im englischen Sprachraum ist der literarische Umgang mit Essen oft viel zwangloser, wobei hier öfters eine fast akribische
Freude an der Suche nach Absonderlichkeiten und Merkwürdigkeiten zu finden ist.
Bekannt ist Ben Schott nun auch hier-
zulande durch sein Sammelsurium. Und der
zweite erschienene Band dreht sich um
„Essen & Trinken“. Unter Stichworten wie
Völlerei, Tatar oder Bagel werden kurze
Definitionen sowie praktische Tipps, z. B.
das richtige Schärfen eines Tranchiermessers oder Lagerzeiten im Kühlschrank geboten. Ein höchst praktisches Buch, in dem
sich garantiert Entdeckungen machen lasBUCHKULTUR 105 | Juni/Juli 2006
sen. Im Layout ähnlich, doch nicht in der
Intention, ist Stefan Gates „Der Gastronaut“
angelegt. Es ist ein wirklich unorthodoxes
Kochbuch mit vielen kleinen Geschichten, etwa über denkwürdige Mahlzeiten,
wie dem letzten Dinner auf der Titanic oder
dem Gastmahl des Trimalcho, einem berüchtigten Gelage. Wir erfahren auch etwas über
Kannibalenrezepte, Eier ausblasen oder welche Nahrungsmittel uns zum Furzen bringen. Manches ist kurios, aber zumeist verblüffend und gut erklärt. Dazu gibt es immer
auch Musiktipps fürs Essen.
Kurzweilig und höchst informativ ist auch
Jeffrey Steingarten. Er ist der Esskritiker
der Vogue. Aber er liefert eben nicht Restaurantkritiken und macht sich Gedanken über
die Qualität des Amuse Geule. Es interessieren ihn auch keine Hauben oder Sterne.
Er schreibt übers Essen. Dafür reist er um
die Welt, beobachtet und berichtet. Etwa
über Rinder, die in Japan mit Bier eingerieben und massiert werden sollen, damit
das Fleisch mürber wird. Oder über das ideale Brot, für das er lange mit Sauerteig experimentiert. Er schreibt auch über Nahrungsmittelzusätze und Gift im Essen. Er
weiß viel, ist belesen, hat keine Vorurteile,
doch dafür viel Witz. Und das zeichnet
seine spannenden Reportagen aus. Nun ist
der zweite Band seiner Geschichten erschienen. Und wieder stellt sich uns die Frage,
warum es hierzulande kaum Kulinariker
Viele Geschichten kennen auch Christa
Fuchs und Gudrun Harrer. Die beiden
Kolumnistinnen sind nicht in erster Linie
Kochbuchautorinnen, aber eben auch – und
vor allem – passionierte Köchinnen. Bemerkenswert sind weniger die Rezepte, wobei
sich auch Exoten wie Stierhoden darunter
befinden, in anderen Rezepten werden aber
Morcheln, Tauben oder Kartoffel verarbeitet, sondern deren Präsentation. Sie erzählen
eine Geschichte, berichten über ihre Kindheit, erzählen über die Produkte oder Essgewohnheiten und das auf eine so direkte
und schon kulinarische Art, die einfach
unterhält. Und ein Rezept, eines das auch
klappt, wurde geschickt in diese Geschichte verpackt.
Kulinarische Reiseführer gibt es manche, doch wenn der Kabarettist und Schauspieler Erwin Steinhauer mit dem Schriftsteller Günther Schatzdorfer ins Friaul und
nach Triest reist, wird ein Buch daraus für
Leute, die eigentlich ohne Reiseführer verreisen wollen. Es werden keine Öffnungszeiten für Museen oder Ähnliches angegeben, selbst Adressen für Restaurants sind
nicht zu finden, aber wer genau liest, wird
auch so dorthin finden. Den beiden geht es
ums Reisen, um kulinarische Grenzerlebnisse und um Rezepte so wie deren Geschichte. Wichtig sind auch die Begegnungen mit
den Menschen vor Ort und dann der Wein.
Recht elegisch wird es manchmal, doch mitunter kommt diese gewisse mediterrane
Stimmung auf. Selbst beim Lesen. Und dann
empfiehlt es sich, ein wenig zu kochen, damit
die Stimmung anhält.
Christa Fuchs, Gudrun Harrer |Besoffene Kapuziner|
Mandelbaum 2005, 239 S., EurD/A 19,90/sFr 36
Keto von Waberer |Vom Glück eine Leberwurst zu lieben|
Edition Ebersbach 2006, 96 S.
EurD 13/EurA 13,40/sFr 23,60
Ben Schott |Schotts Sammelsurium Essen & Trinken|
Übers. v. Matthias Strobel u. a., Berlin Verlag 2005,
159 S., EurD 16/EurA 16,50/sFr 28,60
Stefan Gates |Der Gastronaut| Übers. v. Hans Wolf u. a.
Gerstenberg 2006, 240 S., EurD 19,90/EurA 20,50/sFr 34,80
Jeffrey Steingarten |Der Mann, der alles isst| Übers. v. Fritz
Schneider. Rogner & Bernhard 2006, 346 S., EurD 17,90/EurA
24,20/sFr 44,80
Erwin Steinhauer, Günther Schatzdorfer |Einfach. Gut|
Carinthia 2006, 215 S., EurD/A 19,90/sFr 34,90
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Über spektakuläre Attentate im Irak wird fast täglich berichtet, doch wie die
Menschen dort leben, ist eher selten ein Thema in den Nachrichten. Berichte
aus einem Land, das kurz vor dem Bürgerkrieg steht. Von Tobias Hierl
enn es überhaupt Berichte gibt, so stamW
men sie meist von Journalisten. Schon
vor zwei Jahren erschien „Café Bagdad“ von
den deutschen Journalisten Christoph Reuter und Susanne Fischer, die rund ein dreiviertel Jahr in Bagdad nach dem Krieg verbrachten. Im Irak reisten sie in kleine Dörfer und moderne Städte. Sie besuchten irakische Familien und kleine Cafés. Deshalb
finden sich auch viele Eindrücke von Geschehnissen, die es nicht in die Schlagzeilen schafften, wie dem Verkehrschaos oder den langen
Schlangen vor den Tankstellen in einem Land,
das zu den größten Erdölexporteuren der
Welt zählt. Anekdoten stehen neben Analysen ‚wichtiger‘ Themen wie Öl und Besatzungsmacht oder dem Konflikt zwischen
Sunniten und Schiiten. Reuter war 1990 das
erste Mal im Irak und kann deshalb seine
früheren Erfahrungen einfließen lassen.
Bei Guiliana Sgrena, einer italienischen
Journalistin, die entführt und erst nach langen Verhandlungen wieder freigelassen wurde, stehen natürlich die Erlebnisse ihrer Gefangenschaft im Mittelpunkt. Die erfahrene Journalistin belässt es aber nicht bei der Beschreibung der Geiselnahme und ihrer Haft. Sie
wollte Flüchtlinge aus Falludscha interviewen, einer Stadt, die als Hochburg des sunnitischen Widerstands galt und die von den
US-Streitkräften angegriffen wurde, als sie
von einer sunnitischen Gruppe entführt wurde. Geschickt verknüpft sie etwa die Beschreibung ihrer Bewacher, um die verschiedenen
Widerstandsgruppen im Irak zu charakterisieren. Sie zeigt in dem schmalen, aber faktenreichen Buch ein detailliertes Bild des
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Irak, etwa über die steigende Reislamisierung des Landes, die nach dem ersten Golfkrieg 1991 begann, doch jetzt viel schneller
voranschreitet, oder über einen beginnenden
Bürgerkrieg, den sie für fast unvermeidlich
hält.
Weit umfangreicher sind Berichte von John
Lee Anderson, die auf seiner Kolumne „Letter from Baghdad“ beruhen, die er für das
Magazin „New Yorker“ schreibt. Anderson
bereiste den Irak schon zu Regierungszeiten Saddams, war auch während des Krieges in Bagdad, er wollte wohl ausreisen, doch
die Grenzen waren dicht und er fährt jetzt
noch immer in den Irak. Gekonnt erzählt
er auch die Historie des Landes, die Hintergründe für verschieden Konflikte und
beschreibt natürlich aus seiner Perspektive
ausführlich Erlebnisse während der Kriegshandlungen. Die Zeit danach wird eher kurz
abgehandelt, wohl weil er den Irak nur mehr
in gewissen Abständen besuchte. Auch dieses Buch ist im Original schon 2004 erschienen. Anderson traf ehemalige Regierungsmitglieder, Künstler aber auch etwa durch
Vermittlung seines Fahrers oder seines Übersetzers weit weniger prominente Menschen.
Er unterhält sich mit Friseuren, Bauern oder
Soldaten. Seine Beschreibungen werden zu
einem sehr verwobenen Panorama eines Landes, auch weil er nicht parteiisch agiert, sondern versucht, sich möglichst zurückzuhalten und einfach zu berichten. Dabei benützt
er eher literarische als journalistische Techniken, die aber recht hilfreich sind, besonders wenn er von seinen Eindrücken manch-
mal fast überwältigt wird. Sehr plastisch wird
sein Bericht von der Zeit vor dem Krieg,
wenn er die Unsicherheit unter der Bevölkerung einfängt und einfach mit seinen Informationen aus den USA kontrastiert.
Unter diesen Büchern fällt jenes von Riverbend aus dem Rahmen. Ihr Buch ist eigentlich ein Weblog, die moderne Form eines
Tagebuchs im Internet. Riverbend ist eine
junge Frau um die 27 Jahre und lebt in Bagdad. Bekannt ist nur ihr Internetname. Sie
lebt zusammen mit ihrer Familie, Mutter,
Vater und einem Bruder, ist versiert mit Computern, sie arbeitete vor dem Krieg als Programmiererin und schreibt ein gutes Englisch. Begonnen hat sie mit ihrem Weblog
am 8.1. 2003. Sie schrieb über den Krieg und
die Auswirkungen des Krieges und berichtet noch heute über den Alltag in Bagdad.
So ungeschönt und unmittelbar sind selten
Informationen aus diesem Land zu bekommen. Im Gegensatz zu den Journalisten reist
sie kaum im Land umher, doch sie erzählt
etwa, wie schwierig es heute für eine Frau
geworden ist, alleine einzukaufen. Sie kommentiert die politischen Ereignisse oder schildert die öffentliche Meinung über Politiker
wie den US-Statthalter Paul Bremer oder den
ehemaligen Bankier Chalabi. Sie erzählt auch
von den regelmäßigen Stromausfällen, von
der Angst vor Hausdurchsuchungen. Vom
Alltag in einem besetzten Land. Und für viele ist deshalb dieses blog auch eine wichtige
Informationsquelle. Das ist keine weinerliche Abhandlung, sondern sorgt dafür, dass
unsere Vorurteile, die auch durch die Nachrichten genährt werden, ordentlich hinterfragt werden. Nun wurden die Texte der
ersten Jahre ins Deutsche übersetzt. Ein
gewichtiger Band, doch ungemein spannend
zu lesen und sehr lebendig geschrieben. Ausgezeichnet wurde das Buch schon mit dem
Lettre Ulysses Award, und ist jetzt nominiert
für einen britischen Literaturpreis, dem Samuel Johnson Award.
Wer selbst einen Besuch auf ihrer sowohl
informativen wie auch beeindruckenden
Homepage machen möchte:
http://riverbendblog.blogspot.com/
Jon Lee Anderson |Die verwundete Stadt| Übers. v. A.
Gittinger, N. Juraschitz. Rogner & Bernhard 2005,
535 S., EurD 9,90/EurA 31/sFr 57
Christoph Reuter, Susanne Fischer |Café Bagdad| Bertelsmann
2004, 320 S., EurD 19,90/EurA 20,50/sFr 34,90
Riverbend |Bagdad Burning| Übers. v. Eva Bonné. Residenz
2006, 373 S., EurD/A 22,90/sFr 39,90
Giuliana Sgrena |Friendly Fire| Übers. v. B. Lindecke, J. Sailer.
Ullstein 2006, 205 S., EurD 16/EurA 16,50/sFr 28,50
BUCHKULTUR 105 | Juni/Juli 2006
FOTO: IRAKISCHE BOTSCHAFT/BERLIN
Alltag nach dem Krieg
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15.05.2006 17:40 Uhr
Seite 55
DAS AUGE HÖRT MIT
Der Kauf eines Buches sollte auch noch
in Zeiten digitaler Medien ein haptisches
Erlebnis sein. Dass manche Verlage damit
grob fahrlässig umgehen und den Sammler von Reihen immer wieder aufs Neue vor
den Kopf stoßen – es sei nur an diese Albernheit von Random House erinnert, den
deutschsprachigen Büchern eine Form von
Internationalität zu geben, in dem die Titel
auf dem Buchrücken zeitweilig gedreht wurden! – soll hier in aller Breite gar nicht
diskutiert werden. Aber: das Auge kauft
mit. Und beim Hörbuch? Natürlich spricht
den Kunden eine CD-Box mit sorgfältig
erarbeitetem Booklet viel mehr an als eine
lieblos in eine Papphülle, notdürftig gegen
Umwelteinflüsse geschützte CD.
Vorbildlich sind hier die Produktionen
von GoyaLit, dem höchst interessanten Label
von Jumbo Neue Medien, unter dem ganz
fantastische Produktionen erscheinen. Dies
meint nicht nur Inhalte wie „Tintenherz“
und „Tintenblut“ von Cornelia Funke, mitreißend gelesen von Rainer Strecker, sondern auch ganz aktuell „Drachenmeer“ von
Nancy Farmer, vier CDs mit Booklet, untergebracht in einem hochformatigen Digibook, bei dem viel stärker die Möglichkeiten einer eindrucksvollen, optischen Präsentation gegeben sind, was dem ursprünglichen Buch (das Digibook ist sogar noch
etwas größer) in nichts nachsteht. Dabei ist
die Wikinger-Saga, gekonnt gelesen von
FUSSBALL WM
■ Ab 9. Juni rollt der Ball. Lang ersehnt. Und
doch in den Köpfen fast schon abgehakt,
denn wie die Osterhasen kurz nach Weihnachten in die Startlöcher gehen, so hat das
Thema Fußball-WM den Grad der Unerträglichkeit im Vorfeld längst überschritten.
Kaum ein produzierender Verlag, der nicht
auf den Ball aufspringt. Auch das Angebot
bei den Hörbuchveröffentlichungen ist
erschlagend – und größtenteils völlig überflüssig. Die Reihe „moving mind“ der HörCompany gehört aber nicht dazu. Hier werden in lockerer Form Themen aufgegriffen
und zu einem attraktiven Quiz-Hörerlebnis
verarbeitet, wobei das „Fußballquiz“ mit dem
bekannten Sportreporter Gerhard Delling
und dem ausgewiesenen Fußball-Fan Peter
Lohmeyer, seinem Sohn und zwei weiteren
BUCHKULTUR 105 | Juni/Juli 2006
Andreas Pietschmann,
gleichfalls ein Grenzgänger, werden hier
doch Jugendliche und
Erwachsene gleichermaßen angesprochen.
Und der besondere Tipp
unter diesen wunderschönen Boxen? Das ist
„Der Historiker“ von
Elizabeth Kostova,
gesprochen von Maren Eggert und Bernd
Stephan, eine gruselig-fantastische Suche
einer Tochter nach dem, wonach ihr Vater
geforscht hat. Inszeniert mit zwei Stimmen
ergibt sich die Möglichkeit eindrucksvoller Dialoge voller Dichte zwischen Vater
und Tochter, Letztere bemüht zu verstehen,
was den Vater immer wieder antrieb. Er hatte eine Spur. Sein Ziel: Vlad, der Pfähler.
Besser bekannt unter dem Namen Dracula
… Schaurig-schön. Ein Wechselbad der
Gefühle, durch die Musik geschickt unterstützt. Eben ein Schmuckstück. Inhaltlich
wie äußerlich.
RAINER SCHEER
Nancy Farmer |Drachenmeer| Gekürzte Lesung.
Gesprochen von Andreas Pietschmann.
Musik: Ulrich Maske. GoyaLit 2006 4 CDs im Digibook,
EurD/A 22,95/sFr 42 Der Roman ist bei Loewe erschienen
Elizabeth Kostova |Der Historiker| Gekürzte Lesung.
Gesprochen von Maren Eggert und Bernd Stephan.
Musik: Ulrich Maske.GoyaLit 2005 8 CDs im Digibook,
EurD/A 39,90/sFr 73 Der Roman ist bei Bloomsbury erschienen
gut aufgelegten Kindern, keinesfalls nur für
jugendliche Ohren gedacht ist. Fundiert in
der Recherche und ausgestattet mit einem
umfänglichen Booklet warten hier 93 Fragen
auf ihre Beantwortung. Kniffliges, Originelles, Überraschendes und natürlich Wissenswertes sorgen für eine abwechslungsreiche
Stunde. Delling in seiner bewährten Rolle als
Moderator stellt die Fragen und präsentiert
die richtige Antwort, nachdem Peter Lohmeyer und die drei Kinder die vier Lösungsalternativen benannt haben. Ein kurzer
Moment für den Hörer zum Nachdenken ... –
und dann die manchmal wirklich überraschende Auflösung! Eine runde Sache, nicht
nur zur WM!
RS
|Fußballquiz| Gesprochen von Gerhard Delling und Peter
Lohmeyer u. a. Hör Company 2006, 1 CD mit Booklet,
EurD 12,90/EurA 13,30/sFr 23,70
S P E Z I A LT I P P S
H Ö R B U C H | M A R K T P L AT Z
KÜHLE MORDE
Island genießt den Ruf, nicht nur
wenige Morde zu verzeichnen, und
wenn, dann sind diese auch ziemlich
schlampig ausgeführt. Die Leiche im
See, dessen Wasserspiegel abgesunken ist, spricht eine andere Sprache.
Der Tote, oder besser das, was von
ihm übrig ist, hängt an einem Draht,
und dieser ist mit einem Abhörgerät
sowjetischer Bauart aus Zeiten des Kalten Krieges verbunden.
Doch ein Profimord? Und gab es Spionage auf Island? Erlendur und sein
Team wollen zunächst diese Version
nicht glauben. Doch der Ermittler, dem
seit dem Verschwinden seines Bruders
in einem Schneesturm während seiner
Kindheit gerade das Schicksal von Vermissten besonders am Herzen liegt,
verbeißt sich in einen Fall, dessen Spur
zurückführt in die Zeit des geteilten
Deutschlands und zu einer Gruppe
Isländer, die in Leipzig studieren durften.
Arnaldur Indridason hat mit „Kältezone“ wieder einen
großartigen Kriminalroman vorgelegt, den Frank
Glaubrecht trefflich akustisch
umsetzt. Seit der
ersten Veröffentlichung „Nordermoor“ ist er die
Stammbesetzung. Mit seiner markanten
Stimme fängt Glaubrecht die teilweise
bedrückende Stimmung authentisch
ein. Neben Glaubrechts Leistung
bewundert der Zuhörer die besondere
Kunst des Autors, ein Tatmotiv mit
einem gesellschaftlichen Thema zu verknüpfen, das er im Roman ausleuchtet,
ohne dabei die eigentliche Intention des
Spannungsromans aus den Augen zu
verlieren. Absolut empfehlenswert.
RS
Arnaldur Indridason |Kältezone| Gekürzte Lesung.
Gesprochen von Frank Glaubrecht.
Lübbe 2006, 4 CDs, EurD 24,90/
EurA 25,80/sFr 45,90
Der Roman ist in der edition Lübbe erschienen.
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15.05.2006 17:44 Uhr
Seite 56
M A R K T P L AT Z | D I G I TA L
HÖRBUCH TIPPS
■ Sie nuscheln, sie verschleppen, sie tra-
gen vor wie geschlagene Hunde so emphatisch betroffen: Wenn Dichterinnen und
Dichter ihre eigenen Texte vorlesen. Und
doch. Manche können’s wirklich, bei manchen kommt der historische Aspekt dazu,
insgesamt sind solche Aufnahmen jedenfalls Fundstücke und Erlebnisse. Da sind
jetzt gleich 60 „legendäre Dichter“, wie es
im Booklet heißt, zu hören. Naja, Jandl
konnte es wirklich. Bachmann sang getragen, und Nikolaus Meienberg ist vorhanden
wie Max Frisch, Thomas Mann, Alfred Döblin und Elfriede Jelinek. Schade: Kein Peter
Turrini, der hervorragend vorträgt, kein
Robert Menasse. Drei Stunden zeitgenössische Literatur des 20. Jahrhunderts, von
Stefan Andres bis Carl Zuckmayer. MIt ausführlichem Booklet. Hören Sie sich das an!
Stefan Bertschi/Ingo Starz (Hg) |Anna Blume trifft Zuckmayer| 60 legendäre Dichter in Originalaufnahmen
1901–2004. Lesungen, Reden, Gespräche. der hörverlag 2006,
2 CDs, EurD 24,95/sFr 43,60
DVDs aktuell
Heimkino: Literatur zum Ansehen
DIE CHRONIKEN VON NARNIA
FANTASIE Ein großes bonbonbuntes
Spektakel wurde die erste Verfilmung der
„Chroniken von Narnia“ von C. S. Lewis.
Die Geschichte von vier Kindern, die über
eine geheimnisvolle Tür in einem Wandschrank eine fremde Welt betreten, wo sie
gegen eine böse Zauberin kämpfen müssen,
hat noch immer viel Charme. Die religiösen Aspekte wurden entgegen dem Original zurückgenommen, dafür die Actionelemente gemäß gegenwärtigem Kinoerlebnis betont. Lohnenswert ist die Special Edition, die mit reichem Zusatzmaterial ausgestattet ist, darunter auch einer Doku
über das Leben des Autors.
Š Regie: Andrew Adamson. Darsteller: Georgie Henley, William Moseley
Buena Vista. 2 DVDs, Dauer: 137 Min., Format: 16:9,
Ton: Deutsch, Englisch, Italienisch, Spanisch DD 5.1,
Untertitel optional
GHOST IN THE SHELL
II – INNOCENCE
F WIE FÄLSCHUNG
ES IST NICHT LEICHT,
EIN GOTT ZU SEIN
ANIMATION Japan im Jahre 2032: Die Menschen, selbst
halbe Maschinen, leben mit
Robotern. Neun Jahre hat es
gedauert, bis Mamoru Oshii
die Fortsetzung seines Manga-Epos fertig hatte. Das
Ergebnis ist beeindruckend,
nicht nur aufgrund der Verbindung von klassischem Zeichentrick mit Computeranimation. Als erster Animationsfilm überhaupt wurde er
2004 für die Goldene Palme
in Cannes nominiert. Ausgestattet mit umfangreichem
Bonusmaterial (u. a. Making
of, Kommentare, Interviews).
DOKU Orson Welles Filmessay über Fälscher und
Lügen aus dem Jahr 1973
verwebt Realität und Fiktion, bis das eine vom anderen nicht mehr zu unterscheiden ist. Indem DokuAusschnitte, u. a. mit Kunstfälscherlegende Elmyr de
Hory, und eigenes Material
zu einem gänzlich neuen
Film montiert werden, zeigt
Welles wie nah Illusion und
Realität einander sein können. Die Bonus-Doku „Orson
Welles – The One Man
Band“ folgt seinem künstlerischen Schaffen.
SCIENCE-FICTION Die
eindrucksvolle Verfilmung
des gleichnamigen ScienceFiction-Romans der Brüder
Strugatzki ist ein Klassiker
des Genres. Die UDSSR
diente Peter Fleischmann als
Kulisse für seinen Showdown im 3. Jahrtausend.
Abgesandte der von Krieg
und Emotionen befreiten
Erde beobachten den Planeten Arkanar. (Zukunfts-)
Technologie trifft auf barbarisches Mittelalter. In den
Extras gibt es ein „Making
of“ über die aufreibenden
Dreharbeiten.
Š Regie: Mamoru Oshii
Š Regie: Orson Welles. Darsteller: Orson Welles,
Oja Kodar, Elmyr de Hory u .a.
Š Regie: Peter Fleischmann. Darsteller: Edward
Zentara, Aleksandr Filippenko, Anne Gautier u. a.
Universum Film. Dauer: 95 Min.,
Format: 16:9, Ton: Deutsch, Japanisch
DD 5.1, Deutsche Untertitel optional
Arthaus. Dauer: 85 Min., Format: 16:9,
Ton: Deutsch, Englisch Mono Dolby
Digital, Deutsche Untertitel optional
Arthaus. Dauer: 128 Min., Format: 16:9,
Ton: Deutsch DD 2.0
Luft an und begeben Sie sich 1160 Minuten
in ein einigermaßen erhebendes wie
anstrengendes Unterfangen: Siegfried
Lenz liest „Deutschstunde“. Mich würde ja
mehr das „Feuerschiff“ interessieren oder
die masurischen Geschichten, doch nehmen Sie sich Zeit und Geduld. Dieser Klassiker der Nachkriegsliteratur deutscher
Sprache ist nach wie vor anhaltend
berührend und bezeichnend.
Siegfried Lenz |Deutschstunde| Ungekürzte Autorenlesung.
Hoffmann und Campe 2006, 16 CDs, EurD 35/
EurA 36,90/sFr 63,50
■ Geistreich – aber aufgepasst: Auch wenn
es betulich anklingen mag und Ingrid Noll
so großmütterlich-nett daherkommt, hat
sie es doch faustdick hinter den Ohren.
Böse, ironisch, zutreffend: Nolls Text über
die beiden gar nicht so „Ladylike“ daherkommenden Damen. Und exakt passend
Schauspielerin Maria Becker in ihrem Vortrag, die über die eleganten Gemeinheiten
hinwegliest, dass sie erst langsam und später, dafür umso tiefer ins Hirn der Hörer
und Hörerinnen sickern.
Ingrid Noll |Ladylike| Gelesen von Maria Becker. Diogenes
2006, 7 CDs, EurD/A 34,90/sFr 59,90
HORST STEINFELT
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BUCHKULTUR 105 | Juni/Juli 2006
FOTOS: BUENA VISTA/PHIL BRAY/DISNEY ENTERPRISES, UNIVERSUM FILM, ARTHAUS
■ Freunde der Dichtkunst: Halten Sie die
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15.05.2006 17:46 Uhr
Seite 57
D I G I TA L | M A R K T P L AT Z
CD-ROM spezial
KOPFSPORT
Um drohender Langeweile vorzubeugen,
greift man gelegentlich
zu einem Rätsel. Unsere grauen Zellen wollen
schließlich ab und an
bewegt werden. Sehr
beliebt diesbezüglich ist der Kultzeitvertreib
Sudoku. Kreuzworträtsel werden mit der Zeit
lästig, wenn es einem nicht gelingt, alle Felder ohne verschämtes Überfliegen der Lösung
richtig auszufüllen. Und im Gegensatz zu
exotischen Gebirgsketten sind mir die Zahlen 1 bis 9 durchwegs geläufig.
Damit Kopfakrobatik beim Sonntagsfrühstück nicht nur den Erwachsenen vorbehalten bleibt, gibt es von digital publishing
die CD-ROM „Sudoku junior“. 1000 kindgerechte Rätsel in vier Schwierigkeitsstufen
fördern das logische Denken. Das Prinzip ist
gleich, jedoch mit sechs Spalten und ebenso-
vielen Zeilen. Anstelle der Zahlen lassen sich auch Symbole,
Würfel oder Spielsteine wählen
– in jeweils sechs verschiedenen
Farben. Außerdem gibt es 36
Spielsteine aus Holz, mit denen
sich alle Rätsel auf einem Spielbrett lösen lassen.
Die nächste Rätsel-Herausforderung für
Erwachsene heißt Kakuro und kombiniert
Sudoku mit Kreuzworträtsel. digital publishing bietet CD-ROMs mit 33.333, 44.444
und 55.555 (Professional) Aufgaben an. Den
letzteren beiden liegen Rätselbücher bei, in
der Professional-Version gibt es zudem auf
Knopfdruck die Lösung. H. LERCHBACHER
Fazit: Anhaltender Knobelspaß für
Jung und Alt!
|Sudoku junior| digital publishing 2006,
1 CD-ROM für Win EurD/A 19,99/sFr 35
|Kakuro 33.333| digital publishing 2006,
1 CD-ROM für Win. EurD/A 9,99/sFr 17,50
ŠUnterwegs in der Stadt.
Mit Max, dem freundlichen
Schweinehund, lernen Kinder
von 4 bis 8 Jahren, wie man
Bus, Bahn und Schiff fährt,
Fahrkarten besorgt und
dabei sparsam mit Geld
umgeht. Auf der Suche nach einer neuen Glühbirne für
den Leuchtturm gibt es viel zu entdecken und immer
neue Lieder zum Mitsingen. Auf Deutsch und Englisch
spielbar.
ŠDeutsche Literatur aus fünf
Jahrhunderten. Von den ersten
neuhochdeutschen Dichtungen
bis ins 20. Jahrhundert hinein
vereint Band 125 der Digitalen
Bibliothek über 2900 Werke,
rund 600.000 Seiten, von mehr
als 500 Autoren auf einer DVD.
Mittels der bewährten Benutzeroberfläche lässt sichs in
dieser „Großbibliothek“ bequem recherchieren und
schmökern.
|Max fährt Bus, Bahn und Schiff|
Tivola 2006, 1 CD-ROM für Win und Mac
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|Deutsche Literatur von Luther bis Tucholsky|
Directmedia 2005, 1 DVD für Win und Mac.
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BUCHKULTUR 105 | Juni/Juli 2006
FUSSBALLFIEBER
Rechtzeitig zur WM gibt es von United Soft
Media die überarbeitete Fußball-Chronik
2006. Diese beinhaltet neben sämtlichen
Ergebnissen, Mannschaftsaufstellungen,
Torschützen etc. der vergangenen 17 Weltmeisterschaften, alle möglichen Statistiken,
Audio- sowie Video-Ausschnitte, ein WMQuiz und vieles mehr.
Im Wettmanager lassen sich die Ergebnisse
tippen und mittels Online-Dienst bleibt die
Datenbank auch während der Endrunde
stets aktuell. 75 Minuten Fußballgeschichte
zum Genießen,
verspricht die
beiliegende
DVD „Best of
Fifa Fever“.
Ebenfalls neu
ist die CDDie wilden Fußballkerle
ROM „Die
in Aktion
wilden Fußballkerle – Die schwarze Fahne“ von der im
Herbst 2005 gegründeten MultiMediaManufaktur. Ein unterhaltsames Abenteuer für
Kinder ab 8 Jahren, die bei fünf kniffligen
Aufgaben ihr Ballgefühl unter Beweis stellen müssen, um beim finalen Kartenspiel
die Fahne zurückzuerobern.
|Die große Fußball-Chronik 2006| United Soft Media 2006,
2 CD-ROMs + 1 DVD. EurD 24,90/EurA 25,80/sFr 47,90
|Die Wilden Fußballkerle – Die schwarze Fahne|
MMM 2006, 1 CD-ROM für Win, EurD 19,95/EurA 20,70/sFr 36,80
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57
58-62 junior
15.05.2006 17:49 Uhr
Seite 58
JUNIOR
Geprüfte Qualität
Man sucht das richtige
Hans-Christian-Andersen-Preis für
Wolf Erlbruch in Bologna (l.)
Kinderbuchpreis in Österreich:
Christine Aebi mit „Jenny, 7“ (o.)
ÖSTERREICHISCHER KINDER- & JUGENBUCHPREIS 2006
■ Linda Wolfsgruber |Zwei x Zwirn|
(Sauerländer-Patmos, Bilderbuch)
■ Lilly Axster / Christine Aebi
|Jenny, sieben| (de’A Panoptikum,
Gumpoldskirchen; Kinderbuch)
■ Rachel van Kooij |Der Kajütenjunge des
Apothekers| (Jungbrunnen; Jugendbuch)
■ Elke Krasny: Warum ist das Licht so
schnell hell? (NP; Sachbuch)
58
In der sogenannten „Kollektion“ werden
noch zehn weitere Bücher empfohlen,
darunter Jutta Treiber und Susanne
Eisermann mit „Naja“ (NP), Silke Leffler
(„Der Tageschlucker“, Jungbrunnen),
Ursula Poznanski und Sybille Hein
(„Die allerbeste Prinzessin“, Dachs),
Reinhold Ziegler („Perfekt geklont“,
Ueberreuter).
m interessantesten sind dabei zweifellos die Entscheidungen der Jugendjurien. Also exakt derjenigen, die
eigentlich die Zielgruppe sind. Und
da darf man doch einigermaßen erstaunt sein,
wenn jene Bepreisung sich von der „professionellen“ Handhabung unterscheidet. Beispiel Nominierungsliste zum Deutschen
Jugendliteraturpreis: Die Kritikerjury hat in
drei Bereichen (Sachbuch, Bilderbuch, Kinderbuch) nur fünf statt sechs mögliche Titel
genannt. Begründung: „Weitere qualitätsvolle Titel in der engeren Diskussion fanden nicht die nötige Stimmenmehrheit.“ Das
klingt wie eine laue Angabe aus dem Parla-
A
BUCHKULTUR 105 | Juni/Juli 2006
ILL.: AUS „EIN GLÜCKLICHER ZUFALL“/W. ERLBRUCH, HANSER; AUS „JENNY, 7“/CHRISTINE AEBI, -DE’A-
Buch und ist verzweifelt,
kriegt keine passende Antwort, und doch: Es gibt sie!
Wenn nämlich professionelle
Jurien inklusive engagierten
JungleserInnen Bücher für
jede Altersgruppe aussuchen.
ANNA ZIERATH hat sich
umgesehen.
58-62 junior
15.05.2006 17:52 Uhr
Seite 59
ILL.: AUS „ROTE WANGEN“/ALJOSCHA BLAU, AUFBAU
%"4130(3"..
ment, wenn eine Gesetzesvorgabe nicht gleich Halskragen“, Bibliothek der Provinz). Der
durchgeht. Ziemlich schade, denn die Jah- Kinderbuchpreis ist ein erstaunliches Ergebresproduktion 2005 ist so gar nicht schlech- nis (kleiner Verlag, kaum bekannte Autoter gewesen als im Vorjahr. Oder noch früher. rinnen), eine gute Geschichte, die wohl ohne
Je nun, die strenge Jury hat empfohlen, man diese Bepreisung verloren gegangen wäre.
wird sehen zur Buchmesse in Frankfurt (Okto- Fein so. Interessant und als Schmöker bestens
ber 2006), welche Bücher letztlich den
geeignet ist der Jugendbuchpreis, „Der
Preis bekommen. (Die JugendKajütenjunge des Apothekers“.
jury hat ihre MöglichUnd der Sachbuchpreis
keiten feinerweise voll
(„Warum ist das Licht
ausgeschöpft!)
so hell?“) kommt
In Österreich
aus jener guten
wurde bereits
Schiene, die seit
entschieden
einiger Zeit
(siehe BuchBücher über
liste
im
Bücher zu
Anhang).
allen Fragen
Und in
des Lebens, der
Bologna im
Umwelt und
März auf der
des
Lernens
internationalen
(sprich: ErkenKinderbuchmesse
nens) bringt. In
ebenfalls. So hat dort
Österreich wurde dazu
den „Fiction Award“ ein
auch eine sehr brauchbaBuch aus dem Aufbau Verlag
re Veranstaltungsreihe organibekommen, das wahrhaftig „Rote Wangen“, wenn der siert, zu der bedeutende AutoGroßvater zu erzählen
betörend schön ist; Geschichrinnen und Autoren in Schubeginnt …
te und Illustration gleicherlen, Büchereien und Clubs
maßen: „Rote Wangen“. Heinz Janisch (der lasen, organisiert von einer engagierten Buchim Übrigen im österreichischen Preisgefüge händlerin aus der Gleisdorfer/österreichischen
natürlich ebenfalls vorkommt) hat mit Provinz.
Aljoscha Blau ein Bilderbuch besonderer
Dass in Bologna auch der Hans-ChristiFreude geschaffen. Außerdem bekam der an-Andersen-Preis der IBBY (International
Hanser Verlag den „Non Fiction Award“ Board on Books for Young people) vergeben
für sein „Müssen Tiere Zähne putzen?“. wurde, muss ebenfalls erwähnt werden. Denn
Genannter Verlag kommt interessanterwei- kein Geringerer als Wolf Erlbruch bekam
se in der deutschen Nominierungsliste gehäuft diesen Preis für Illustrationskunst. Der Autovor. Zusammen mit Carlsen. Kein Problem, renpreis ging an die Neuseeländerin Marwenngleich: Die Österreicher entschieden garet Mahy. Die oftmalige Überschneidung
etwas differenzierter.
von österreichischer und deutscher EntDort wiederum ist aufzumerken, dass eine scheidung bzw. Vorgabe ist diesmal einmaIllustratorin mehrmals vorkommt. Was wohl lig: Bologna-Preisträger Janisch mit seinen
mit ihrer anhaltenden Qualität zu tun hat: ziemlich roten Wangen steht da allein auf
Linda Wolfsgruber bekam den Bilderbuch- weiter Flur.
preis, dazu die Erwähnung in der sogenannAlles in allem können Sie auf die Juryvorten „Kollektion“ (was heißt, noch weitere gaben vertrauen. Genannte Bücher sind mit
zehn Bücher wurden über die Bepreisung ziemlicher Sicherheit für Ihre Leseratten und
hinaus empfohlen), gemeinsam mit Heinz Bücherwürmer passend, und darum geht es
Janisch („Heute will ich langsam sein“, Jung- letztendlich. Um „geprüfte Qualität“. Und
brunnen) und dem Skizzenbuch zu Ander- das garantiert. Vor allem, wenn es von junsens wenig bekannten Geschichten („Der gen Jurorinnen und Juroren kommt.
/FVF#DIFS
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EB+VYCSJFGFNJU#FTUTFMMFS
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NOMINIERUNGSLISTE ZUM DEUTSCHEN KINDER- UND JUGENDBUCHPREIS
Da insgesamt 27 Bücher nominiert sind,
geben wir nur einige Beispiele für besonders erwähnenswerte Titel, u. a. Heinz
Janisch (Bilderbuch/Aufbau), Kevin
Brooks („Lucas“, dtv; Jugendjury), Angie
BUCHKULTUR 105 | Juni/Juli 2006
Sage („Septimus Heap. Magyk“, Hanser;
Jugendjury), Joyce Carol Oates („Mit
offenen Augen“, Hanser, Jugendjury)
oder Jan Guillou „Evil“ (Hanser). Mehr
unter www.jugendliteratur.org
8JOGSJFE#PSOFNBOO
#PSOFNBOOT/FVF#SJFGNBDLFO
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58-62 junior
16.05.2006 12:34 Uhr
Seite 60
JUNIOR
Paul Stewart / Chris Riddell
Aberwitzige Abenteuer I
Fergus Crane auf der
Feuerinsel
Ab 8. Über 200 Illustrationen
Ca. € 14,90 (D) € 15,40 (A)
sFr 26,80
ISBN 3-7941-6057-6
Paul Stewart / Chris Riddell
Die Klippenland-Chroniken
VIII
Quint und die Eisritter
Ab 10. 118 Illustrationen
Ca. € 16,90 (D) € 17,40 (A)
sFr 29,90
ISBN 3-7941-6079-7
Runde Sache
Dass die aufgeblasene Lederhaut, sprich Fußball,
neuerdings nicht nur den Knaben vorbehalten bleibt,
das müssen sogar die „Wilden Fußballkerle“ anerkennen. Im dritten Kinofilm kriegen es die munteren Jungs mit den „biestigen Biestern“ zu tun. Die
bilden eine reichlich toughe Mädchenschar, kratzbürstig, unkonventionell – und ziemlich scharf auf
Fußball. Wilde-Kerle-Erfinder Masannek stand für
diese neue Buchreihe Pate, mittlerweile sind zwei
Titel erschienen („Lissi die aus der Hüfte schießt“;
„Anna Queen Khan, die Tochter des Panters“).
Anderes gelungenes Beispiel zum Thema Fußball
& Mädchen: Cordula Tollmien verbindet in ihrer
Geschichte um das indische Mädchen Anjali Fußballfieber mit fremden Kulturen und erstaunlichen
Erkenntnissen. Etwas konventioneller strickte Michael Schmid seine Story um Liebe, Intrige und Tore.
DIE BÜCHER
Rotraut Susanne Berner |Karlchen vor, noch ein Tor!| Hanser 2006,
32 S., EurD 12,90/EurA 13,30/sFr 23,70 (ab 6)
|Das große Ravensburger Fußballbuch| Ravensburger 2006,
140 S., EurD 14,95/EurA 15,40/sFr 26,90 (ab 10)
Rieckhoff/Tielmann |Das Spitzenspiel| Thienemann 2006, 32 S.,
EurD 12,90/EurA 13,30/sFr 23,50 (ab 6)
|Am Tag, als ich Weltmeister wurde …| Anthologie. Ill. Frank Wowra.
Baumhaus 2006, 176 S., EurD 8,90/EurA 9,20/sFr 16,50 (ab 11)
Barbara Zschoke |Die Fußballwette| Ill. v. Klaus Puth. ars edition 2005,
48 S., EurD 6,50/EurA 6,70/sFr 12,10 (ab 7)
Lutz van Dijk |Themba| cbj 2006, 224 S., EurD 12,90/EurA 13,30/
sFr 23,50 (ab 12)
Werner Färber |Kleine Fußballgeschichten| ars edition 2006, 48 S.,
EurD 6,50/EurA 6,70/sFr 12,10 (ab 7)
Peter Nieländer |Rund um den Fußball| Pappbilderbuch aus der Reihe
Wieso? Weshalb? Warum? Ravensburger 2006, 16 S., EurD 12,95/
EurA 13,40/sFr 23,60. (ab 6)
Manfred Mai/Jan Lieffering |Die Bambini Kicker| Ravensburger 2006,
32 S., EurD 11,95/EurA 12,30/sFr 21,40 (ab 7)
Mennel/Katzmayr |Die Wilden Fußballkerle – Das Weltmeisterschaftsbuch| Baumhaus. 160 S., EurD 9,90/EurA 10,20/sFr 18,10 (ab 8)
Suzanne Weyn
Bar Code Tattoo
Ab 13. Ca. € 14,90 (D)
€ 15,40 (A) sFr 26,80
ISBN 3-7941-7047-0
Patmos Verlagshaus
www.patmos.de
Er lässt gleich ein ganzes
Mädchen-Fußballteam aufmarschieren, das schließlich trotz
aller Misslichkeiten gewinnt.
Fußballbücher für alle ab sechs,
vom Pappbilderbuch (sehr
schön: Rotraut Susanne Berners
„Karlchen …“ oder der Klassiker aus der Reihe „Wieso? Weshalb? Warum“) bis zu den
großen Fußball-Almanachen,
die zur WM erscheinen (mit
WM-Spielplänen, Regeln, Starporträts etc.). Weitere Tipps entnehmen Sie der Buchliste.
Darüber hinaus empfehle ich für
alle, die während dem Fußballfieber noch Zeit (und Lust) zum
Lesen finden, zwei besondere
Bücher. Einmal eine Geschichte aus Südafrika um den jungen
Fußballer Themba und um ein
virulentes Thema, das noch
immer tabuisiert wird: AIDS.
Eindringlich und frei von falschem Pathos schildert
Lutz van Dijk den Werdegang des talentierten Fußballers Themba bis zur schwersten Entscheidung seines jungen Lebens.
Komödiantisch ist der zweite Buchtipp: Zoran
Drvenkar und Gregor Tessnow hatten „einen Traum“,
wie sie im Nachwort verraten, und haben gemeinsam dieses amüsante Buch geschrieben. Es geht um
die WM 2006 und um die Vermeidung einer Katastrophe und um viel schräge Erlebnisse samt schelmischem Opa. „Wenn die Kugel zur Sonne wird“
bereitet vor. Während und nach dem WM-Lesevergnügen (auch für Ältere).
ANNA ZIERATH
Ursel Scheffler |Fußball mit Papa| Ill. v. Dorothea Ackroyd. ars edition
2005, 32 S., EurD 12,95/EurA 13,40/sFr 23,60 (ab 8)
Zoran Drvenkar & Gregor Tessnow |Wenn die Kugel zur Sonne wird|
Altberliner 2006, 304 S., EurD 14,90/EurA 15,40/sFr 26,80 (ab 12)
FUSSBALL UND MÄDCHEN
Winkler & Winkler |Freistoß für coole Kicker|.Ueberreuter 2006, 120 S.,
EurD/A 8,95/sFr 16,50 (ab 10)
Joachim Masannek |Die biestigen Biester – Lissi, die aus der Hüfte
schießt| Ill. Jan Birck. Baumhaus 2006, 128 S., EurD 9,90/EurA 10,50/
sFr 26,80 (ab 9)
Manfred Mai (Hg.) |Fußballgeschichten| Ill. v. Rolf Bunse.
Ravensburger 2006, 192 S., EurD 9,95/EurA 10,30/sFr 18,20 (ab 8)
Cordula Tollmien |Kick it, Anjali| Ill v. Iris Hardt. Schneider 2006,
160 S., EurD 7,90/EurA 8,20/sFr 14,60 (ab 10)
Joachim Masannek |Die wilden Fußballkerle. Der dicke Michi|
Baumhaus 2006, 300 S., EurD 14,90/EurA 15,40/sFr 26,80 (ab 8)
Beate Dölling |Anpfiff für Ella| dtv junior 2006, 176 S., EurD 6,50/EurA
6,70/sFr 11,70 (ab 10)
Clive Gifford |Mein großes Fußballbuch| ars edition 2005, 288 S.,
EurD 16,90/EurA 17,40/sFr 30,10 (ab 10)
Michael Schmid |Doppelpass mit Poppy| Ill. Carola Holland. Dachs 2006,
128 S., EurD 11,60/EurA 11,90/sFr 20,80 (ab 11)
BUCHKULTUR 105 | Juni/Juli 2006
ILL. AUS „WIESO? WESHALB? WARUM? – RUND UM DEN FUßBALL“/RAVENSBURGER
Sauerländer
Kinder- und
Jugendbuch
58-62 junior
16.05.2006 12:36 Uhr
3x3
Seite 61
BUCHTIPPS FÜR ALLE ALTERSSTUFEN
✮ ZUM VORLESEN, ANSCHAUEN UND FÜR ERSTLESER
Mimi entdeckt die Welt von Doris Dörrie. Ill. v. Julia Kaergel. Diogenes, 32 S., EurD 14,90/EurA 15,40/sFr 26,90. Was so alles auf einem leeren Blatt Papier passiert, wenn man nur seiner Phantasie freien Lauf lässt,
führt Doris Dörrie in ihrem dritten Streich mit Mimi vor. Und wieder mit
den eigenwilligen Illustrationen von Julia Kaergel – Kopfabenteuer vom
Feinsten!
Der Handschuh von Friedrich Schiller und Jacky Gleich. Kindermann,
32 S., EurD 14,50/EurA 15/sFr 25. Schillers Ballade vom aufrechten Ritter Delorges, der sich dem bösen Spaß einer Dame entzog, von Jacky Gleich
in Bilder umgesetzt. Schönes Beispiel von inhaltlich wie formaler Prägnanz, mit gekonntem Ironie-Sahnehäubchen.
Der Tageschlucker von Silke Leffler. Annette Betz, 32 S., EurD/A 12,95/sFr 23,60. Ein wenig
Zeit nehmen und schauen, lesen, grübeln: Das lehrt dieses Buch um die Wochentage und um den
großherzigen Tagesschlucker.
✮ FÜR LESERATTEN (AB 8)
Ein glücklicher Zufall von Ljudmila Ulitzkaja. Übers. v. Ganna-Maria Braungardt. Ill. v. Wolf Erlbruch. Hanser, 78 S., EurD 12,90/EurA 13,30/sFr 23,70.
Sechs dichte Geschichten, nicht nur für Kinder und zum Vorlesen. Dazu Erlbruchs zurückgenommene Bilder – eine Erzählsammlung von seltenem Wert.
Jinbal von den Inseln von Klaus Kordon. Ill. v. Peter Knorr. Beltz & Gelberg, 128 S., EurD 14,90/EurA 15,40/sFr 27,20. Ein lehrreiches Märchen um
ein couragiertes Mädchen und um ein schlimmes Geheimnis. Kein FantasySchmöker. Sehr spannend.
✮ FÜR BÜCHERWÜRMER (AB 12)
Kaltes Wasser von Joachim Friedrich. Thienemann, 320 S., EurD 14,90/EurA
15,40/sFr 26,80. Aus der bewährten Feder Friedrichs ein ganz außergewöhnliches Buch: Anna erwacht aus einer Ohnmacht, hat totale Mattscheibe und
findet nur langsam zu ihrer schrecklichen Erinnerung. Die hat es aber in sich.
Buch mit Thrill-Qualität.
Die Drachen von Babylon von Katherine Roberts. Übers. v. Corla Bauer.
dtv, Reihe Hanser, 333 S., EurD 7,50/EurA 7,80/sFr 13,50. Der zweite Band
aus der Reihe „Abenteuer der 7 Weltwunder“. Historisches aus dem antiken
Babylon vermischt mit phantastischen Fabelwesen und einer jungen Frau mit magischen Fähigkeiten. Feiner Lesestoff!
Prügelknabe von Jana Frey. Loewe, 392 S., EurD 16,90/EurA 17,40/sFr 30,10. Noch ein historischer Lesestoff, der im Mittelalter angesiedelt ist, als die Pest halb Europa ausrottete. Elias, ein
junger Bursche, ist auf der Flucht vor der Seuche – und gerät vom Regen in die Traufe …
BUCHKULTUR 105 | Juni/Juli 2006
Ian Ogilvy
Miesel und der Drachenhüter
Über Familie Stubbs braut sich
neues Unheil zusammen, denn
Miesels Eltern sind den schwarzen
Hexern ein Dorn im Auge.
Mit viel Mut und schlauen Einfällen
kämpfen Miesel und sein Hund
Tinker gegen schrecklich fiese
Ungeheuer.
Band 2 • 7 [A] 15,40
ab 10 Jahren • 368 Seiten
ISBN-10 3-473-34477-X
ISBN-13 978-3-473-34477-2
Miesel und der Kakerlakenzauber
Band 1 • 7 [A] 13,40
ISBN-10 3-473-34471-0
ISBN-13 978-3-473-34471-0
www.ravensburger.de
Gullivers Reisen von Jonathan Swift. Nacherzählt von Martin Jenkins. Übers. v. Günter Jürgensmeier. Ill. v. Chris Riddell. Sauerländer Patmos, 144 S., EurD 19,90/EurA 20,50/sFr 34,90.
Ein Klassiker, neu erzählt von Martin Jenkins. Was vor allem besticht, sind Riddells Illustrationen, bunt, phantastisch, detailversessen. Eignet sich auch als leichtfüßiger Wegweiser in die
Weltliteratur.
62-63 BK_RÄTSEL
15.05.2006 17:59 Uhr
Seite 62
GEWINNSPIEL
Das anspruchsvo ll
Hauptpreis: exklusives Wochen
UND WIEDER SIND SECHS LITERARISCHE FRAGEN ZU
BEANTWORTEN, DIE ES IN SICH HABEN.
FOTOS: BRISTOL
Mit etwas Glück können Sie einen Abstecher in die verschwundene
Welt der k.u.k.-Sommerfrische gewinnen: Zwei Nächte im herrlichen Abbazia, heute Opatija. Vor über hundert Jahren wurde mit
dem Bau eines Hotels begonnen, das namhafte Gäste aus Hochfinanz und Adelswelt beherbergte. Erst im vergangenen Jahr ist das
traditionsreiche Haus unter strengsten Auflagen des Denkmalschutzes grundrenoviert worden. Stilvoll, luxuriös und mit exklusiver Atmosphäre. Hervorzuheben ist dabei auch das Kaffeehaus
Palme, das sich der Wiener Kaffeehaustradition verschrieben hat.
1
GEWINNFRAGE
2
GEWINNFRAGE
Unsere gesuchte Autorin war schon 56, als ihr erster
Lyrikband erschien. Sie hatte zwar schon früher publiziert, etwa Legenden und Erzählungen auch diverse
Gedichte in Anthologien und Zeitschriften, doch dann
musste sie, die immer sehr zurückgezogen lebte, mit ihrer
Mutter vor den Nazis emigrieren. Mit Übersetzungen verdiente sie sich ihr Geld und selbst später, als sie die höchsten Literaturpreise erhielt, lebte sie eher bescheiden in
einer kleinen Wohnung. In ihrer zweiten Heimat starb sie
auch. Wann erschien ihr erster Gedichtband auf Deutsch?
T 1945 S 1946 R 1947
F März G April H Mai
62
3
GEWINNFRAGE
Unser gesuchter Autor verdiente mit schnell
geschriebenen Romanen viel Geld, gab allerdings auch wieder viel aus. Er liebte das Leben,
das Reisen und die glamouröse Welt. Besonders mit einer Romanfigur, einem ungewöhnlichen Verbrecher, wurde er weltberühmt. Als
das Buch erstmals erschien, wurde es sofort
zum Bestseller. Es folgten noch weitere Bände,
die nicht so erfolgreich waren. Trotzdem rissen
sich Regisseure um die Verfilmungsrechte. Fritz Lang hatte die Nase vorn und begründete damit seine Karriere. Manche erinnern sich noch mit wohligem Schauder an diese
Figur, da die Filme später auch im Fernsehen gezeigt wurden. Wann erschien sein Bestseller?
I 1921 O 1922 U 1923
BUCHKULTUR 105 | Juni/Juli 2006
FOTOS: ARCHIV, BAYRISCHER BRAUERBUND E. V.
Unser gesuchter Autor hatte eine
gründliche Abneigung gegen Autoritäten aller Art, besonders jedoch gegen
seine Lehrer. Nach diversen Schulwechseln schloss er doch eine Lehre ab, ging
aber bald ins Exil und lebte dort jahrzehntelang. Er war ein leidenschaftlicher Wanderer und Bergsteiger sowie
ein talentierter Maler, liebte Zigaretten
und Zigarren und hatte einen Hang zur
Esoterik. Seine Bücher erreichen weltweit Millionenauflagen, da sich besonders Jugendliche davon angesprochen
fühlten. Er war auch Mitherausgeber
einer satirischen Zeitschrift mit dem
Titel:
62-63 BK_RÄTSEL
16.05.2006 12:43 Uhr
Seite 63
o lle Literaturrätsel
ochenende mit vier Sternen
DER HAUPTPREIS: Zwei Übernachtungen für zwei Personen / Doppelzimmer mit
Frühstück im Vierstern-Hotel Bristol in Opatija/Istrien.
PREISE 2 BIS 5: Gerade recht zum Freud-Jubiläumsjahr: Das Buch „Sigmund Freud.
Wiener Schauplätze der Psychoanalyse“ von Lisa Fischer und Regina Köpl, erschienen im Böhlau Verlag. Ein informatives Lesevergnügen, über das sich auch die
Gewinner des Hauptpreises freuen dürfen!
4
GEWINNFRAGE
Für ihre Familie war die Schriftstellerei nicht standesgemäß. So
musste das erste Buch auch unter Pseudonym erscheinen, doch
aufgehört hat sie mit dem Schreiben deshalb eben nicht. Sie
beherrschte fünf Sprachen, komponierte auch gerne und übersetzte zum Vergnügen Vergil. Trotz ihrer vielseitigen Begabung war
doch die Lyrik das Zentrale in ihrem Leben. Eine späte Amour mit
einem weit jüngeren Mann führte zwar zu einigen wunderschönen
Liebesgedichten, doch leider nicht zu einem glücklichen Ende. Darüber war sie zwar untröstlich, doch arbeitete sie weiter. Die letzten Jahre vor ihrem Tod lebte sie zurückgezogen am
P Zauchensee S Bodensee T Attersee
5
GEWINNFRAGE
Sein Hauptwerk rief beim erstmaligen Erscheinen einen
kleinen Skandal hervor. Wissenschaftliche Kollegen attestierten ihm einen „schlechten Zeitungsstil“. Doch international wurde es ganz anders gesehen und die lebendige
lebensnahe Sprache gelobt. Der Sohn eines Pfarrers mit
dem Hang zum Monumentalen studierte zuerst Jus, dann
Geschichte. Mit seiner Frau hatte er 16 Kinder und zuletzt erhielt er auch den Nobelpreis.
Trotzdem glaubte er in seinem Leben nicht „das Rechte“ erreicht zu haben. Gemeinsam
mit seinem Bruder und einem anderen Autor verfasste er ein „Liederbuch dreier Freunde“. Wie hieß der befreundete Schriftsteller?
B Wilhelm Busch C Theodor Storm D Paul Heyse
6
GEWINNFRAGE
Mit ihren Auftritten konnte unsere gesuchte Literatin ziemlich
beeindrucken. Nachhaltig im Gedächtnis blieben ihre spektakulären
Hüte. Sie legte sich nicht auf eine Sprache fest, sondern schrieb
manchmal auf Deutsch, dann wieder auf Französisch. Zeitlebens
kämpfte die engagierte Pazifistin gegen nationalistische Strömungen mit einem beachtlichen schriftstellerischen Repertoire. Schon
für ihren ersten Roman erhielt sie den Fontane-Preis. Sie emigrierte
früh, zuerst nach Frankreich und später in die USA. Thomas Mann
setzte ihr in „Doktor Faustus“ ein literarisches Denkmal. Obwohl sie
nicht mehr nach Deutschland zurückkehren wollte, zog sie für die
letzten Lebensjahre doch wieder in ihre Geburtsstadt. In welche?
F Frankfurt G Augsburg H München
BUCHKULTUR 105 | Juni/Juli 2006
Teilnahmebedingungen:
Das Buchkultur-Literaturrätsel geht in die nächste
Runde. Wir verlosen dabei einen Hauptpreis (siehe
Beschreibung l.o.) sowie weitere vier Mal das Buch
„Sigmund Freud. Wiener Schauplätze der Psychoanalyse“ von Lisa Fischer und Regina Köpl (Böhlau).
Lösen Sie das „Literarische Rätsel“ dieser Ausgabe
und schicken Sie uns die Antwort. Aus den Buchstaben der 6 Fragen bilden Sie das Lösungswort.
Kleiner Tipp:
Unser gesuchter Autor studierte Architektur und
führte sogar einige Jahre ein eigenes Architekturbüro. Doch wollte er immer Schriftsteller werden
und schrieb deshalb während seiner Arbeit Skizzen
und Entwürfe, die er dann in einem Tagebuch festhielt. Wer war es?
1
2
3
4
5
6
Die Gewinne werden unter den Teilnehmern verlost, die das
richtige Lösungswort bis zum 26. Juni 2006 eingesandt
haben. Die Gewinnspielteilnahme ist bei gleichen Gewinnchancen auch mit einfacher Postkarte oder über unsere
Website möglich (www.buchkultur.net).
Schreiben Sie an:
Buchkultur VerlagsgmbH., Hütteldorfer Str. 26,
1150 Wien, Österreich, Fax +43.1.7863380-10
E-Mail: [email protected]
Eine Barauszahlung ist nicht möglich. Die Gewinner werden
von der Redaktion benachrichtigt. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.
Die Auflösung von Heft 104:
Der gesuchte Autor war Karl Philipp Moritz. Sein psychologischer Roman heißt übrigens „Anton Reiser“.
Die Gewinner:
Hauptpreis: Herr Helmut Ruf, Dachau
Buchpreise: Frau Anna Elisabeth Pichler, Klagenfurt
Frau Alexandra Schlömmer, Wien; Herr Martin Schneider,
München; Frau Gabriele Wortmann, Bielefeld
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B U C H K U LT U R C A F É
FOTO: PRIVAT
K O M M E N TA R
Geschichten aus
der Steinzeit des
Schreibens (3)
er Dichter E. servierte Bienenstich in seiner Sozialwohnung.
VON THOMAS FEIBEL
Er trug ein kurzärmeliges, weißes
Polohemd, schenkte Vanilletee ein und sprach pausenlos.
Meist über Frauen. Frauen. Frauen, die er gehabt hatte. Frauen, mit denen er geliebt, gelebt und gestritten hatte. Und
Frauen, die ihn dann allesamt wieder verlassen hatten. Nach
der Trennung, meinte er erbittert, habe sich jede einzelne
von ihnen sofort in Arme der schlimmsten Faschisten geworfen. Ein Affront. Ein Racheakt. Das träfe ihn doppelt. Das
Herz mache nicht immer mit. Doch beim Sex sei alles tadellos. Im Schlafzimmer stand neben dem Bett ein rostiges Kellerregal voller Bücher. Die Wand war rot gestrichen. Testosteron-Rot. Er sei keiner dieser Männer, die nach dem Akt
wie ein Gutsherr auf der Frau einzuschlafen pflegten. Ich
wusste nicht so recht, was ich sagen sollte. Ich war siebzehn
Jahre alt und hatte noch nicht einmal eine Freundin. Eigentlich wollte ich E. nur meine Gedichte zeigen. Meine allein stehende Mutter hatte den Kontakt vermittelt. Ratlos betrachtete ich den ehemaligen Thoraschrank, den gelben Stern hinter Glas und ein Foto seiner Schwester, die der Blitz erschlagen hatte. Wir aßen Bienenstich. Überall, bekannte E. zwischen zwei Bissen, liefen ihm die Frauen nach und lägen ihm
zu Füßen. Aber er könne ja nicht mit jeder Frau schlafen.
Seit Jahren hatte er nichts mehr geschrieben. Nur ein
Gedicht hier und da, und Briefe. Jede Menge Briefe, die seine
unermüdlichen Don Quichotte-Kämpfe gegen Faschisten, ExFrauen und Elektriker dokumentierten. Unter den Briefen
befanden sich auch einige Bittbriefe, verbunden mit minutiösen Berichten über seine beiden einzigen Gesundheitszustände: schlecht und sehr schlecht. Durchschriften all dieser
Schreiben wurden pingelig sortiert in kilometerlangen Aktenordnerketten archiviert. Mit handschriftlichen, ergänzenden Notizen, zahlreichen Unterstreichungen und vielen Ausrufezeichen. Selbst Überweisungszettel schrieb er mit
Maschine, trug wortreich Zahlungsgründe mit dramatischem
Unterton ein und klebte seinen Abschnitt auf ein Blatt, das
wiederum in einer Akte landete. Endlich nahm er die Kohlepapierdurchschläge meiner Gedichte in die Hand. Gedichte,
meinte er, natürlich. Gottfried Benns „Reisen“ hatte mich
zum Schreiben gebracht. Benn, meinte er. Ein Faschist.
Natürlich. Er las meine Texte rasch, aber aufmerksam. Dann
sprach er ganz kurz über Trakl und wechselte wieder auf
sein Lieblingsthema. Neulich habe er einen Vortrag gehalten
und da sei ihm die Kleine direkt ins Auge gefallen. Hübsch sei
sie, schwärmte er, verdammt hübsch. Und jung. Aber er könne ja nicht mit jeder Frau schlafen. Später las ich Trakl. Und
schrieb weiter.
D
64
Leben mit Büchern!
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Das erste Buchmagazin im Internet
BuchTV 22 | Schwerpunkt Helden!
WAS ZEICHNET HELDEN AUS?
Wer ist einer? Die Fußball WM
macht dieses Thema zum Schwerpunkt von BuchTV & bekannte
Autoren erklären die Welt der
Helden.
HELD SEIN IM INTERNET…
… darum geht es bei Online Rollenspelen. Wir sagen was der Kick
ist – zum Beispiel bei World of Warcraft mit seinen mehr als 5 Millionen Spielern.
WEITERE THEMEN
◗ Fußball ist unser Leben –
Buchtipps rund um die WM
◗ Lesetipps - Highlights aufgeblättert im Buchkultur-Café
◗ Podcast Nachfolger: Video im Netz
IMPRESSUM
Buchkultur Nr. 105
Juni/Juli 2006
ISSN 1026–082X
Anschrift der Redaktion
A-1150 Wien, Hütteldorferstraße 26
Tel.: +43/1/786 33 80-0
Fax: +43/1/786 33 80-10
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Eigentümer, Verleger
Buchkultur VerlagsgesmbH.,
A-1150 Wien, Hütteldorfer Straße 26
Herausgeber|
Michael Schnepf, Nils Jensen
Chefredaktion| Tobias Hierl
Art Director| Manfred Kriegleder
Chef vom Dienst| Hannes Lerchbacher
Redaktion| Karin Berndl, Konrad Holzer,
Ditta Rudle, Sylvia Treudl
Redaktion Berlin: Richard Christ
Mitarbeiter dieser Ausgabe| Hanna
Berger, Lorenz Braun, Manfred Chobot,
Simon Eckstein, Dörte Eliass, Thomas Feibel, Daniela Fürst, Silvia Hess, Peter
Hiess, Christa Himmelbauer, Alexander
Kluy, Pamela Krumhuber, Christa Nebenführ, Karoline Pilcz, Rainer Scheer, Brigitte Schneider, Helmuth Schönauer, Beatrice Simonsen, Horst Steinfelt, Klaus
Zeyringer, Anna Zierath
Geschäftsführung, Anzeigenleitung|
Michael Schnepf
Vertrieb| Christa Himmelbauer
Abonnementservice| Agnes Posch,
Tel. DW 15, E-Mail: [email protected]
Druck| Bauer Druck, A-1110 Wien
Vertrieb| D: W. E. Saarbach GmbH (Kiosk)
Ö: Mohr Morawa, 1230-Wien, Morawa
Pressevertrieb, 1140-Wien
Erscheinungsweise|
jährlich 6 Ausgaben sowie diverse
Sonderhefte
Preise, Abonnements|
■ Einzelheft:
Euro 4,35
■ Jahresabonnement:
Euro 25 (A)/Euro 28 (Europa)/Euro 31
(andere)
■ Studentenabonnement:
Euro 17 (A)/Euro 20 (Europa)
(Inskriptionsbest. Kopie!)
Auflage| 15.100
Die Abonnements laufen über 6 Ausgaben und gelten, entsprechend den
Usancen im Pressewesen, automatisch
um ein Jahr verlängert, sofern nicht ein
Monat vor dem Ablauf die Kündigung
erfolgt. Derzeit gilt Anzeigenpreisliste
2006. Über unverlangt eingesandte
Beiträge keine Korrespondenz. Namentlich gezeichnete Beiträge müssen nicht
der Meinung der Redaktion entsprechen.
Copyright, wenn nicht anders angegeben,
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Gewähr.
Im Internet: www.buchkultur.net
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64-65 BK cafe
15.05.2006 18:06 Uhr
Seite 65
B U C H K U LT U R C A F É
>Zeitschriftenschau@
mare 54
Es ist unentbehrlich zum
Überleben, es machte seine
Besitzer reich, es wurde mit
Gold aufgewogen, wir brauchen’s heute genauso wie vor
zweitausend Jahren: Salz. Dieser „ozeanischen Essenz“ widmet sich die Zeitschrift der Meere mit Hingabe. Und mit welcher Hingabe die mareRedaktion von Mal zu Mal ihre Schwerpunktthemen findet und füllt, ist ein Stück
Genuss für sich. Ob es im Konkreten um
Salzabbau in Mali oder die unterirdische
Kathedrale aus Steinsalz oder jene hochtechnologische Angelegenheit geht, wenn aus
dem Meer Trinkwasser gewonnen wird – zum
Begrünen weitläufiger Hotelanlagen inmitten der Sandwüste: ein Lehrstück für den
Umgang mit dem Thema. Inklusive kleiner Salzkunde und dem Antrieb des Golfstroms und schließlich den Schönheiten aus
Alabaster – Salzstein. Keine versalzene Suppe!
Info: www.mare.de
GEWINNSPIEL
Passauer Pegasus 42/43
Texte von Autorinnen und Autoren aus
dem deutschsprachigen Raum sowie Literatur aus Osteuropa und vor allem jene aus den
Nachbarländern Bayerns – das bringt diese
in Passau erscheinende Zeitschrift in
Taschenbuchformat seit nunmehr zwanzig
Jahren. Daher dokumentiert der Herausgeber in diesem Heft die Verleihung des „Adalbert-Stifter-Preises für Schriftsteller und Übersetzer Mitteleuropas“: Der Hauptpreis Literatur ging an Andrzej Stasiuk, der für Übersetzung an den Tschechen Radovan Charvat,
die Förderpreise bekamen Leopold Federmair
und Marica Bodrozik. Im weiteren Gedichte (Richard Wall, Edith Ecker) und Prosa.
Info: [email protected]
Manuskripte 171
Wieder empfehlenswerter Lesestoff mit reichhaltigem Spektrum, in
diesem Heft sogar ein
(Wieder-)Lesen von
Oswald Wiener, weiters
Prosa u.a. von Arnold
Stadler, Ingram Hartinger, Thomas Stangl
(ziemlich dichter Text) und Franz Weinzettl.
Überzeugend die Lyrik-Strecke mit Beiträgen von Krzysztof Siwczyk (bemerkenswerter junger Pole!), Andrzej Kopacki, Ewa Lipska, Marusa Krese, Cvetka Lipus, Tatjana Gromaca, Stefan Schmitzer, Hans Eichorn, Olga
Martynova. Den Abschluss bilden Essays von
Ursula Krechel, Thomas Rothschild, Ilma
Rakusa (mit einem Nachruf auf Gennadij
Ajgi, der im Februar verstarb), Harald Miesbacher.
Info: www.manuskripte.at
Rainer Moritz
abseits
Das letzte Geheimnis
des Fußballs
»Abseits« – das konkurrenzlose
Fußball-Buch. Mit Regelfragen,
die den WM-Fußballabend noch
schöner machen.
»Warum verstehe ich bis heute
nicht, was ›Abseits‹ ist?«, schrieb
einst Elke Heidenreich. Obwohl
sich diese Zeiten geändert haben
und viele Frauengruppen mittlerweile in der Lage sind, strittige
Abseitssituationen
glaubhaft
nachzustellen, eröffnet Rainer
Tolle Beteiligung beim
Internet-Gewinnspiel
für Schulklassen
Moritz’ konkurrenzloses, mit
Bereits zum vierten Mal wurde zum
Welttag des Buches das Schulprojekt
„Medienpuzzle“ durchgeführt.
sich die Kniffe dieser verzwickte
Zur Aktion aufgerufen haben die
Arbeitsgemeinschaft Welttag des Buches
(Buchkultur & Schwarzer) gemeinsam mit
dem österreichischen Unterrichtsministerium. Unterstützung kam von zahlreichen
Medienpartnern, dem Buchklub der Jugend
und dem österreichischen Buchhandel.
Auf der Website www.welttag-desbuches.at wurden seit Anfang März im
Wochenrhythmus fünf Fragen zu den Medien Zeitung, Hörfunk, Fernsehen, Internet
und Buch gestellt, die im Rahmen einer
Unterrichtstunde gelöst werden konnten.
BUCHKULTUR 105 | Juni/Juli 2006
übersichtlichen Grafiken ausgestattetes Buch die Möglichkeit,
Regel mühelos anzueignen.
160
Treffen der Projektpartner zum Welttag
des Buches in der Nationalbibliothek.
Partnermedien, die die Aktion begleitet
haben, gaben entsprechende Lösungshinweise zu den sehr kniffligen Fragen. Die
Beantwortung erfolgte klassenweise in
einem geschützten Bereich im Internet.
Fast 700 Schulklassen haben sich heuer an
diesem Internet-Gewinnspiel beteiligt.
Gewinner des Hauptpreises ist die Klasse
6B des Theresianums in Wien 4.
Seiten, gebunden mit aufka-
schiertem 3D-PictoMotion-Bild,
Euro 17,40, ISBN 3-88897-429-1
verlag antje
kunstmann
66_schlußpunkt
15.05.2006 18:08 Uhr
Seite 66
SCHLUSSPUNKT●
Herr Thomas
m 21. März des Jahres 2006 flog durch
A
das Fenster meines Zimmers in der Blattgasse Nr. 5 im 3. Bezirk der Stadt Wien, durch
das große zweiflügelige Fenster, das auf den
Hof und zwei große Kastanienbäume hinaussieht – eine Fliege. Schon eine halbe Stunde lang versuchte ich einzuschlafen. Ich wälzte meinen Körper herum auf der Suche nach
der Position, die mich unempfindlich machen
sollte.
Mein erster Nachbar ist der Sportler Fritz,
den von meinem auf dem Bett ausgestreckten Körper eine dünne, mit Leere ausgefüllte Wand trennt. Würde sich in der Wand
etwas anderes befinden, so könnte ich nicht,
glaube ich, Fritzens heftiges Herumwühlen
und die Stöße mit dem Knie gegen die Wand
hören. Wenn in seinem Traum der Knall aus
der Startpistole den Beginn des Rennens
bezeichnet, strampeln Fritzens Beine, und die
Wand zittert, und der Kehle meines Nachbarn entringt sich trauriges Schluchzen. Und
alles deswegen, weil im Traum der Schuss der
Startpistole kein Schuss der Startpistole ist,
sondern vermutlich das betäubende Getacker
einer Kalaschnikow oder sogar der Knall einer
Atombombe ist, deren rosafarbener Pilz mit
dem Adidas-Zeichen über dem Stadion aufsteigt. Er steht früh auf, geht rasch hinaus
und läuft den Gang hinunter, dann sprintet
er die Treppe hinunter, fröhlich wie ein Hündchen. Die atavistischen Reliquien des Schwanzes in ihm versuchen links rechts zu wedeln,
und Fritzens Zunge wird, während er über
die Trottoirs des 3. Bezirks galoppiert, immer
röter und länger. Nach zwei, drei Stunden
und vielleicht einem Dutzend absolvierter
Kilometer kehrt er ins Zimmer Nr. 22 zurück.
Dann ist aus seinem Zimmer längere Zeit
nichts mehr zu hören. Fritz ist müde. Thomas Bernhard sagt, Sport sei die armseligste
aller Möglichkeiten, mit der sich die Menschheit einzureden versucht, dass das Leben einen
Sinn habe. Ich stelle mir vor, wie mein Nachbar reagieren würde, wenn ich ihn mitten in
66
der Nacht weckte und versuchte, ihm Bernhards Definition nahe zu bringen. Aber könnte ich die Gesellschaft wählen, in der ich den
Rest des Lebens auf einer öden Insel verbringen
würde, beziehungsweise, wenn ich zwischen
dem Sportler Fritz und der gerade in mein
Zimmer eingeflogenen Fliege zu wählen hätte, würde ich mich doch wohl für meinen
Nachbarn entscheiden. Fritz würde mich vor
allem in den Grundlagen der deutschen Sprache unterweisen. Außerdem könnte Fritz,
sollte sich am Horizont unerwartet ein Schiff
zeigen, mühelos den Gipfel eines Berges erstürmen und Feuerfackeln entzünden. Die Fliege hingegen wäre unterdessen mit dem Belecken fremder Ausscheidungen beschäftigt.
Ich vergaß zu erwähnen, dass die lateinische Bezeichnung für das Geschöpf, das auf
den Seiten von Bernhards Buch meditierte,
Sarcophaga carnaria lautet. Lateinische
Bezeichnungen machen die Dinge ernster.
Wenn Sie einen Wurm Cochliomia hominivorax nennen, nimmt er sofort die Dimension eines Elefanten an. Wenn Sie eine Fliege
Sarcophaga carnaria nennen, wird sie zum
prähistorischen Reptil, zu einem Fleischfresser. Wenn Sie hingegen einer Fliege einen
menschlichen Namen geben, bleibt sie eine
Fliege, und Sie sind der Idiot. Um keine Gelegenheit zu versäumen, sagte ich zuerst leise,
und dann noch einmal, lauter, den Blick auf
den seine winzigen Flügel streckenden
schwarzen Punkt geheftet – Herr Thomas.
Zu meiner Überraschung ließ das Geschöpf
ein Sirren hören und beschrieb einen Kreis
auf der fünfzigsten Seite von „Beton°∞. Es
versteht sich, dass ich diesen Akt sofort dem
Zufall zuschrieb. Aber jene eine Partikel des
Zweifels, das unser Leben interessant macht,
bewirkte, dass ich eine Gänsehaut bekam, ich
hob die Augenbrauen und öffnete die Augen
weit. Ich beschloss, unsere Kontakte zu vertiefen. Ich reckte den Daumen und näherte
ihn dem Buch. Herr Thomas flog, ohne sich
zu zieren, fast fröhlich, auf meinen Dau-
mennagel. Die nächste Frage war völlig
logisch: Soll ich das wertvolle Tierchen in eine
Streichholzschachtel sperren, oder es zum Fenster tragen und in die Nacht entlassen? Wenn
ich es einsperre, wird es vielleicht eines Tages
reden und Seiten ungeschriebener Gedanken
enthüllen. Aber auf die Weise arbeite ich
gleichzeitig gegen meine Imagination. Denn
vermutlich würde sich herausstellen, dass es
sich um den allergewöhnlichsten Vertreter
einer Rasse handelt, die lieber auf frischen
Dreck fliegt als auf gute Bücher. Dann werden auch dieses Körnchen Zweifel unwiederbringlich dahin und ich um eine tiefe
spirituelle Erfahrung gebracht sein. Also, Herr
Thomas spazierte auf meinem Daumen herum. Ich erhob mich, darauf bedacht, ihn nicht
zu beunruhigen, und öffnete das Fenster weit.
Der Vollmond leuchtete über der Stadt. Fledermäuse umflogen die Türme der Kathedrale. Ich streckte den Finger geradewegs hinein in diese Nacht. Ich reckte den Daumen
gen Himmel, wie Cäsar, der einem tapferen
Gladiator das Leben schenkt. Ich verspürte
ein sanftes Strömen der Luft an den Fingern
und vernahm ein Sirren. Herr Thomas flog
zum Zeichen der Dankbarkeit zuerst auf meine Stirn, und bewegte dann mit aller Kraft
seine Flügel und strebte geradewegs dem
Mond entgegen. Ich empfand Traurigkeit.
Denn die Welt zeigte sich heute Nacht als
wunderschöner Ort.
Der 1977 geborene Ognjen Spahic hat sich vor
allem als Autor von Kurzgeschichten einen
Namen gemacht, die in mehreren Literaturzeitschriften und in dem Band „Sce to“ (Plima,
2001, Ulcinj, Montenegro) erschienen sind. Seit
1997 ist er für die Kulturredaktion der „Vijesti“ zuständig, Redaktionsmitglied des Kunstmagazins „Balcanis“ und Autor von LiteraturFeatures auf TV CG.
2004 erschien seine Erzählung „Hansenova djeca“ (Hansens Kinder) bei Durieux in Zagreb.
BUCHKULTUR 105 | Juni/Juli 2006
FOTO: PRIVAT
OGNJEN SPAHIC
Über die Bedeutung von Namen sinnierte der montenegrinische Dichter
Ognjen Spahic während der einsamen Nächte, die er auf Einladung von
KulturKontakt im Bundessportheim in Wien verbrachte.
66_schlußpunkt
16.05.2006 10:14 Uhr
Seite 67
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Nicolas Remin, Venezianische Verlobung, Kindler
Ingrid Noll, Ladylike, Diogenes
Alois Hotschnig, Die Kinder beruhigte das nicht, Kiepenheuer & Witsch
Datum/1. Unterschrift
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buchkultur_105_6_h.qxp
9.5.2006
16:48 Uhr
Seite 1
Diogenes
»Sein Opus maximum.«
www.diogenes.ch
Sonias Sinne spielen verrückt: Sie
sieht auf einmal Geräusche und
fühlt Farben. Ein Aufenthalt in
den Bergen soll ihr Gemüt beruhigen, doch das Gegenteil tritt
ein: Im Spannungsfeld von
archaischer Bergwelt und urbaner
Wellness, bedrohlichem Jahrhundertregen und moderner
Telekommunikation beginnt ihre
überreizte Wahrnehmung erst
recht zu blühen – oder gerät die
Wirklichkeit aus den Fugen?
»Bernhard Schlink ist
ein Romancier von
ganz eigener Qualität.«
Süddeutsche Zeitung, München
The New York Times
Sich im Alter ladylike in sein
Schicksal bescheiden? Von
wegen. Lore und ihre Freundin
Anneliese wollen mit 73 noch
etwas erleben. Jetzt, wo Männer
und Kinder glücklich aus dem
Haus geschafft sind, gründen sie
eine Frauen-WG. Und sie brechen noch einmal auf, zu einer
Reise durch Deutschland.
Zwei alte Damen, alter Schmuck
und alte Schlager. Eine giftige
Geschichte mit Happy-End.
1152 S., Ln., € (A) 25.60 / sFr 42.90
384 S., Ln., € (A) 20.50/ sFr 34.90
304 S., Ln., € (A) 20.50 / sFr 34.90
Jean Baptist Warnke hat nicht
nur einen Job als Diplomat, er
hält sich auch im Privatleben aus
allem diplomatisch heraus. Bis er
sich in Lima mit Haut und Haar
verliebt. Doch wer ist die Studentin
Malena? Eine feurige Liebe, die
ungeahnten Zündstoff enthält…
»Herrlich: witzige Figuren, ironische Sprache und viel Spannung.«
Im Fragment eines Heftchenromans über die Heimkehr eines
deutschen Soldaten aus Sibirien
entdeckt Peter Debauer Details
aus seiner eigenen Wirklichkeit.
Die Suche nach dem Ende der
Geschichte und nach deren Autor
wird zur Irrfahrt durch die deutsche Vergangenheit und offenbart
auch Peter Debauers Geheimnisse.
De Volkskrant, Amsterdam
336 S., Ln., € (A) 20.50/ sFr 34.90
Sie kam und blieb – um ein Stück
florentinisches Handwerk zu erlernen. Die junge Japanerin Akiko
war so stolz auf ihr erstes Paar
selbstgefertigter Schuhe, daß sie
es immerzu trug, auch am Tag
ihres Todes. Guarnaccia, der in
Florenz stationierte Sizilianer,
verfolgt den Fall in einer Stadt,
die er kennt wie seine Hosentasche, und befragt ihre Bewohner,
deren Charaktere und Intrigen er
noch weit besser kennt.
Bis ich dich finde ist die Geschichte des Schauspielers Jack
Burns. Seine Mutter ist Tätowiererin, sein Vater ein Organist,
der verschwunden ist. Ein Roman
über Obsessionen und Freundschaften; über fehlende Väter und
(zu) starke Mütter; über Kirchenorgeln, Ringen und Tattoos; über
gestohlene Kindheit, trügerische
Erinnerungen und über die Suche
nach der einen Person, die unserem Leben endlich einen Sinn gibt.
»Ein neuer Garp.«
The Globe and Mail, Toronto
368 S., Ln., € (A) 20.50 / sFr 34.90
Tod eines Schwarzafrikaners
auf dem Campo Santo Stefano.
Ein Streit unter Immigranten?
Oder steckt mehr hinter der
Ermordung eines Illegalen?
Brunetti hakt trotz Warnungen
von höchster Stelle nach und
entdeckt Verbindungen, die weit
über Venedig hinausreichen.
»Brunetti in Topform.«
480 S., Ln., € (A) 20.50/ sFr 34.90
160 S., Ln., € (A)18.40 / sFr 30.90
Die Geschichte von Daniel,
einem niederländisch-israelischen
Jugendlichen, und von Aischa,
einer jungen Palästinenserin,
die für die Weltöffentlichkeit ein
Zeichen setzen will und ihn in eine
tödliche Falle lockt. Ihr Lockmittel: das Internet und seine
Zeichensprache, die Emoticons.
352 S., Ln., € (A) 20.50/ sFr 34.90
The Sunday Times, London