Bildungsmaterialien der Stiftung Polnisch

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Bildungsmaterialien der Stiftung Polnisch
Bildungsmaterialien der Stiftung Polnisch-Deutsche Aussöhnung
w w w. f p n p. p l / e d u k a c j a / p a k i e t _ e d u k a c y j ny
ISBN: 987‐83‐63736‐04‐0
Einfühung und Kapiteltexte: Agnieszka Dzierżanowska
Zitierte Fragmente der Erinnerungen stammen aus:
‐Z kart historii polskich janczarów XX wieku, (Aus der Geschichte der polnischen
Janitscharen des 20. Jahrhunderts), Zrzeszenie Dzieci Polskich Germanizowanych przez
Reżim Hitlerowski, Łódź 2000
aus Archivbeständen
der Stiftung „Polnisch‐Deutsche Aussöhnung”
Auswahl der Berichte:
Rafał Degiel,
Agnieszka Dzierżanowska
Redaktion und Lektorat:
Magda Cieszkowska,
Rafał Degiel,
Agnieszka Dzierżanowska
Übersetzung aus dem Polnischen:
Krzysztofa Marzec‐Gacka
Redaktion und Lektorat der Übersetzung:
Lara Langensee, Iris Wohnsiedler, Jakub Deka
The project is co‐financed from the funds granted by the Ministry of Foreign Affairs in the
competition for the public task "Cooperation with Polish Diaspora and Poles Abroad in
2014."
Rzeczpospolita Polska
Ministerstwo
Spraw Zagranicznych
Stiftung „Polnisch‐Deutsche Aussöhnung””
Warszawa 2014
Stiftung „Polnisch‐Deutsche Aussöhnung”
Fundacja „Polsko‐Niemieckie Pojednanie”
00‐921 Warszawa, ul. Krucza 36
tel. 22 695 99 41, fax: 22 629 52 78
e‐mail: [email protected], www.fpnp.pl
Druck: Murugumbel
ISBN: 987‐83‐63736‐04‐0
Bildungsmaterialien der Stiftung Polnisch-Deutsche Aussöhnung
UNTER
DEUTSCHER
BESATZUNG
Warszawa 2014
4
Spis treści
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Einführung
9
Konzentrationslager
Jan Ryszard Sempka, „Ich war lediglich die Nummer 95959”
24
Ghettos. Die Vernichtung von Juden und Roma
Piotr Wyrzykowski, Nicht schematische Erinnerungen des Großvaters
Solarewicz Stanisław, Helft uns die Erinnerung zu bewahren
35
Straflager und Gefängnisse
Erinnerungen an den Aufenthalt bei der Gestapo und im Gefängnis
in Białystok 1943.
Antoni Górski, Sklavenarbeit in Deutschland
48
Zwangsarbeit
Irena Chrzanowska, Erinnerungen aus Ostpreußen
Jan Sroka, Bericht über die Zwangsarbeit im Dritten Reich
66
Kriegsgefangenschaft
Czesław Stokowski, Aus der Gefangenschaft nach Hause. Lebenserinnerungen eines Soldaten
Henryk Łagodzki, In Gefangenschaft
82
Aussiedlungen der polnischen Bevölkerung während des Zweiten Weltkriegs
Zenon Mikołajczyk, Meine Erlebnisse als Junge aus der Zeit deutscher Aktionen zur
Aussiedlung von Polen aus den an das Deutsche Reich angeschlossenen Gebieten.
Kazimierz Bączkiewicz, Schicksale der Vertriebenen
Benon Bakalarski, Das Elend der Jugend ist kein Märchen
Franciszka Twardowska, Erinnerungen
96
Die Germanisierung polnischer Kinder
Barbara Paciorkiewicz, Wer bin ich?
Henryk Wojciechowski, Ein Teufelskreis – du wirst Wochinger heißen
104
Der Besatzungsalltag
Henryk Jakubowski, Kampf ums Überleben. Erinnerungen aus den Jahren 1939 – 1945
Juliusz Rybarski, Jugend in der Besatzungszeit
Irena Rowińska, 1930er‐Generation
5
EINFÜHRUNG
6
Einführung
eit dem 26. Januar 1934, d.h. seit der Unterzeichnung des deutsch‐polnischen Nichtangriffspakts, waren Polen
und Deutschland dazu verpflichtet, keine Gewalt gegen den Anderen anzuwenden und Streitfragen friedlich zu
lösen. Ende der 30er Jahre spitzte sich die Lage zwischen den zwei Staaten zu. Der Anschluss Österreichs ohne
Blutvergießen, die Annexion der Sudeten und kurz danach der Tschechoslowakei, ermutigten Hitler dazu, gegenüber
Polen Territorialansprüche bezüglich des polnischen Korridors und der Freien Stadt Danzig zu erheben. Die polnische
Regierung lehnte diese Ansprüche konsequent ab. Frankreich und Großbritannien gaben zwar
Unabhängigkeitsgarantien für Polen ab, doch fand Deutschland einen Verbündeten in der Sowjetunion. Am 23.
August 1939 wurde in Moskau der deutsch‐sowjetische Nichtangriffspakt, auch Hitler‐Stalin‐Pakt genannt,
unterschrieben. Dies war in Wahrheit ein Bündnis gegen Polen, die Länder des Baltikums und Rumänien, denn gemäß
einem geheimen Zusatzprotokoll sollte die Grenze zwischen Deutschland und Russland entlang der Flüsse Narew,
Weichsel und San verlaufen.
Die Deutschen hatten ihre Grenzen abgesichert und konnten somit ungehindert am 1. September 1939 Polen
angreifen und so den Zweiten Weltkrieg beginnen. Am 3. September erklärten Großbritannien und Frankreich
Deutschland den Krieg, ohne jedoch militärisch zu intervenieren ‐ Polen blieb seinem Schicksal überlassen. Die
Situation verschlimmerte sich nach Einzug der Truppen der Roten Armee in östliche Gebiete Polens am 17. September
1939. Polens Widerstand war zwecklos. Am 28. September kapitulierte Warschau und nach den letzten Kämpfen
Anfang Oktober endete der Verteidigungskrieg Polens.
Nach dem Umsturz der Zweiten Polnischen Republik gelangten 48,6% Polens samt 20,4 Millionen Einwohnern
unter deutsche Besatzung und 50 % des Gebiets mit etwa 14,3 Millionen Einwohnern in sowjetische Hände. Litauen
nahm 1,4 % des polnischen Gebiets samt 0,5 Millionen Einwohnern ein. Nach 1940 wurden diese Gebiete in die
Sowjetunion eingegliedert.
Im Oktober begannen die Besatzungsmächte damit, eine Verwaltung auf den besetzten Gebieten einzurichten. Die
Nazis gliederten kraft eines Dekrets vom 8. Oktober 1939 die Woiwodschaften Posen, Pommern, Schlesien, teilweise
die Woiwodschaften Lodz (samt Woiwodschaftshauptstadt Łódź (später Litzmannstadt)) und Warschau, als auch
einige Landkreise der Woiwodschaften Kielce und Krakau in das Deutsche Reich ein. Ende Oktober wurden aus
diesen Gebieten zwei neue Reichsgaue gebildet, und zwar Danzig‐Westpreußen und das Wartheland. Die restlichen
Gebiete wurden an die schlesische Provinz oder Ostpreußen angegliedert. Aus den sonstigen Gebieten der Zweiten
Polnischen Republik westlich vom Bug entstand am 12. Oktober das Generalgouvernement (GG) – ein Ersatz des
polnischen Staates – mit der Hauptstadt Krakau, unter Führung des Generalgouverneurs Hans Frank.
Für die so eingeteilten polnischen Gebiete hatte die deutsche Besatzungsmacht verschiedene Pläne und auch die
Einwohner wurden unterschiedlich behandelt. Die ins Reich eingegliederten Gebiete sollten innerhalb weniger Jahre
völlig germanisiert und die polnische Bevölkerung gänzlich entfernt werden. An ihre Stelle sollten deutsche Kolonisten
treten. Das GG sollte hingegen mehrheitlich von Polen bewohnt werden, die als unqualifizierte Arbeitskraft der
„Herrenrasse“ dienen sollten. Diese Pläne wurden sofort nach dem Einmarsch in Polen in die Tat umgesetzt.
Noch im September 1939 begannen die Besatzungsmächte mit der Massenaussiedlung der Bewohner von
Bezirken, die später ans Dritte Reich angeschlossen wurden. Es entstanden mehrere Übergangs‐ und
Aussiedlungslager. In erster Reihe wurden Gutsbesitzer, Kaufleute, Handwerker und Bauern mit eigenen
Bauernhöfen und Intellektuelle ausgesiedelt. Sie mussten ihr gesamtes Hab und Gut zurücklassen, welches dann in
die Hände des Reiches fiel. Das Schicksal der ausgesiedelten Familien war schwer, denn nicht selten beschränkten
sich die Besatzungsmächte darauf, die Polen bis zum erstbesten Bahnhof im GG zu transportieren und dort
auszusetzen. Diese Menschen wurden nicht nur ihres ganzen Vermögens beraubt, sondern sie blieben danach oft
obdachlos und ohne Lebensunterhalt.
Nach dem Angriff auf die Sowjetunion im Jahre 1941 änderten sich die Pläne Hitlers hinsichtlich des GG. Er
beschloss, dass auch die GG‐Gebiete innerhalb von 15‐20 Jahren von der polnischen Bevölkerung, durch Ermordung
oder Aussiedlung nach Sibirien, zu befreien waren.
S
EINFÜHRUNG
Schon seit den ersten Kriegstagen wurden polnische Intellektuelle unbarmherzig bekämpft, da sie den Deutschen
nicht nützlich waren; als „ausgebildetes und denkendes Element“ stellten Intellektuelle eine immense Gefahr für die
neue Macht dar. In Anlehnung an Listen, die im Vorhinein durch Deutsche erstellt worden waren, führte man
Verhaftungen oder umgehende Hinrichtungen durch. Diejenigen, die mehr Glück hatten, landeten in
Konzentrationslagern. Die deutsche Seite versuchte nicht, ihren Tätigkeiten einen Schein von Legalität zu verleihen.
Hinrichtungen und Transporte in Konzentrationslager erfolgten ohne Untersuchungsverfahren. Vor deutschen
einstweiligen Gerichten hatten Polen keine Chance auf Verteidigung, während die Liste der Vergehen, für welche die
Todesstrafe drohte, äußerst lang war.
Die Deutschen hatten auf polnischem Boden ein Netzwerk von Konzentrations‐ und Arbeitslagern geschaffen,
welches auch Straflager und Gefängnisse umfasste. Polen wurden in hunderte von Lagern im Dritten Reich
verfrachtet. Man versuchte kostengünstig den größtmöglichen Nutzen aus ihrer unentgeltlichen Arbeit zu erzielen.
Der Mangel an Arbeitskräften infolge des totalen Krieges führte zur Eskalation des Terrors. Da die Anwerbung
freiwilliger Arbeiter sich als Fiasko entpuppte, wurden weit angesetzte Razzien zum Alltag. Dörfer wurden
gezwungen, ein bestimmtes Kontingent an Arbeitern für die Arbeit im Dritten Reich zur Verfügung zu stellen. Polen
hatten bei der Arbeit keinerlei Rechte, verdienten weniger als Deutsche, konnten den Arbeitgeber nicht wechseln,
hatten kein Recht auf Urlaub oder Freizügigkeit usw. Frauen arbeiteten genauso hart wie Männer. Zusätzlich
mussten polnische Arbeiter auf Höhe der linken Brust den an die Kleider aufgenähten Buchstaben „P“ tragen.
Jegliche Verstöße gegen das Arbeitsrecht wurden mit Verweisung in Arbeitserziehungslager bestraft, und
Wiederholungstäter landeten im Konzentrationslager. Für Sabotageakte drohte die Todesstrafe. Auch Polen, die an
ihren Wohnorten blieben, wurden zur Arbeit für die Besatzungsmacht gezwungen. Solche Arbeiter wurden bei
landwirtschaftlichen Arbeiten, in der Industrie und beim Straßenbau eingesetzt. Besonders schwer war die Arbeit in
den Schützengräben, bzw. beim Bau von Verteidigungsanlagen und von anderen Befestigungen. Auch Kinderarbeit
kam sehr häufig vor.
Die nationalsozialistischen Besatzer wollten das polnische gesellschaftliche und kulturelle Leben ausmerzen.
Polnische Schulen und Universitäten wurden geschlossen, die polnische Presse wurde abgeschafft,
Museumssammlungen wurden verbrannt oder geraubt und nach Deutschland gebracht. Die polnische Sprache
wurde aus dem öffentlichen Leben, Ämtern, Kirchen und aus Straßen‐ und Ortsnamen verbannt. Im GG war die Lage
etwas besser, denn die polnische Sprache wurde dort beibehalten und manchen polnischen Einrichtungen und
Organisationen (Polnisches Rotes Kreuz, Postsparkasse PKO) wurde der Betrieb in eingeschränktem Maß und unter
deutscher Aufsicht erlaubt. Um Polen von Maßnahmen gegen die Deutschen abzuschrecken, schufen die Nazis den
größten Terrorapparat in Europa. Das Prinzip der kollektiven Verantwortung wurde tagtäglich angewendet: um den
Mord an einem Deutschen zu vergelten, wurden öffentliche Straßenhinrichtungen, „Pazifikationen“ von Dörfern
[Zerstörung des Dorfes und Ermordung oder Vertreibung seiner Bewohner] oder Massenverhaftungen veranstaltet.
Die Deutschen schufen ein System von Zwangsarbeitslagern für Juden. Kurz darauf wurde die gesamte jüdische
Bevölkerung in Ghettos umgesiedelt. Die Lebensbedingungen dort waren unvorstellbar schlecht. Hunger, fehlende
medizinische Versorgung und Überfüllung führten zu einer bis dahin beispiellosen Sterblichkeitsrate. Doch war dies
nur der Auftakt zu weiteren Maßnahmen, die gegen Juden und Roma unternommen wurden. Im Jahre 1942 erbauten
die Deutschen auf polnischem Boden Vernichtungslager, in denen innerhalb von anderthalb Jahren zirka 2 Millionen
Juden umgebracht wurden.
Als der deutschen Wehrmacht allmählich neue Rekruten fehlten, versuchte die Besatzungsmacht die polnische
Gesellschaft zu teilen. Man erkannte an, dass ein Teil der Polen verdeutscht werden könne. Daher wurde die
Kategorie der Volksdeutschen gebildet. Besonders großer Druck wurde auf Einwohner Schlesiens und Pommerns
ausgeübt, damit sie sich zur deutschen Volkszugehörigkeit bekannten. Man begann mit der Germanisierung von
Kindern mit „arischen Gesichtszügen“, d. h. die blauäugig und blond waren. Es ist bis heute nicht gelungen, die
Anzahl polnischer Kinder, die nach Deutschland entführt und germanisiert wurden, definitiv festzulegen.
Es gibt in Polen wohl kaum eine Ortschaft, deren Bewohner während des Zweiten Weltkrieges nicht verfolgt
wurden. Davon zeugen zahllose Gräber, Denkmäler sowie Erinnerungsstätten und –tafeln. Genauso gibt es wohl
kaum eine Familie, die nicht mindestens einen Angehörigen verloren hat, in der niemand zur Zwangsarbeit geschickt
wurde, oder die keine anderen Repressionen erfahren hat. Bei den Zeugenaussagen, die in diesem
Informationspaket enthalten sind, handelt es sich um Quellenmaterial, das es erlaubt, diese Zeit besser zu verstehen.
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KONZENTRATIONSLAGER
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August Kowalczyk als Häftling Nr. 6804
des KZ Auschwitz−Birkenau, um 1940 (PMA−B)
Witold Pilecki als Häftling Nr. 4859
des KZ Auschwitz−Birkenau, 1940 (PMA−B)
Wacław Bobrowski, minderjähriger Häftling
Nr. 62766 des KZ Auschwitz−Birkenau, 1942 (PMA−B)
KONZENTRATIONSLAGER
Konzentrationslager
ie ersten Konzentrationslager entstanden in Deutschland schon im Jahre 1933. Vorbild‐Lager war das auf
Heinrich Himmlers Anordnung am 21. März 1933 in Betrieb genommene KZ Dachau. Zuerst war das Lager eine
experimentelle Anlage, welche für die Abschottung politischer Gegner des Hitlerregimes, Geistlicher und Juden
vorgesehen war. Hier wurden auch Führungskräfte und operative SS‐Mitarbeiter für andere KZs geschult. In den
Jahren 1933‐1937 wurde im Dritten Reich ein KZ‐Model entwickelt, das die interne Organisation, die Befugnisse der
Belegschaft und ein Bestrafungs‐ und Belohnungssystem für die Häftlinge reglementierte. Die Konzentrationslager
waren dem Reichssicherheitshauptamt, dem SS‐Wirtschafts‐ und Verwaltungshauptamt und dem Inspekteur der
Konzentrationslager unterstellt. Die Inhaftierung im KZ fand immer in Anlehnung an einen Beschluss über die
sogenannte Schutzhaft an, der vom Reichssicherheitshauptamt ausgestellt wurde.
In den Jahren 1936‐1939 entstanden die folgenden Konzentrationslager im Dritten Reich: Sachsenhausen‐
Oranienburg (1936), Buchenwald (1937), Mauthausen (1938), Flossenbürg (1938), Ravensbrück (1939 – für Frauen).
Man schätzt, dass bis zu Kriegsbeginn etwa 165‐170 000 Menschen zur KZ‐Haft verurteilt wurden.
Anfang des Krieges wurde die polnische Bevölkerung in Konzentrationslager nach Deutschland abtransportiert.
Noch im Jahre 1939 hatten die Deutschen etliche Priester, Mönche und Intellektuelle im KZ Dachau eingesperrt.
D
Weibliche KZ−Häftlinge im Steinbruch des KZ Kraków−Płaszów, 1944 (IPN)
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KONZENTRATIONSLAGER
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Der rasante Ausbau der KZs ist verbunden mit Deutschlands Angriff auf Polen. Die Lager, die bisher zur Isolierung
inländischer Gegner Hitlers dienten, wurden nun zum elementaren Instrument des Terrors, der Ausbeutung von
Arbeitskraft und des Völkermordes in besetzten Gebieten.
Das erste KZ, das die Deutschen nach Ausbruch des Krieges außerhalb des sogenannten Altreiches bauten, wurde
am 2. September 1939 in Stutthof, im Umkreis der vor dem Krieg Freien Stadt Danzig, in Betrieb genommen.
Das erste KZ auf polnischem Boden entstand Ende Mai, Anfang Juni 1940 in Auschwitz (Oświęcim). Die Deutschen
begründeten die KZ‐Bildung dort mit der Notwendigkeit von zusätzlichen Haftanstalten, in Zusammenhang mit der
Intellektuellenverhaftung sowohl auf den ins Reich eingegliederten Gebieten, als auch im GG. Im August 1941 wurde
ein weiteres Lager in Polen errichtet: das KZ Lublin – Majdanek. Zu dieser Zeit wurden auch neue Lager in
Deutschland geschaffen. Die größten unter ihnen waren: Neuengamme (Juni 1940), Natzweiler‐Struthof (Juli 1940),
Gross‐Rosen (August 1940), Bergen‐Belsen (Oktober 1940) und Mittelbau‐Dora (Ende 1943). Bei der
Standortbestimmung für die Lager wurden unter anderem eine günstige Infrastruktur und die Nachbarschaft von
Produktionsbetrieben oder Steinbrüchen in Betracht gezogen. Seit 1942 wurden Häftlinge als unbezahlte
Arbeitskräfte eingesetzt. Im Deutschen Reich und in den besetzten Gebieten entstand ein dichtes Netz von Lagern
und den dazugehörigen Kommandos, in denen die Häftlinge in unmenschlichem Maße ausgenutzt und zur
Sklavenarbeit gezwungen wurden.
Der Transport ins Lager und die Ankunft dort erfolgten nach einem festgelegten Schema, mittels dessen die
Häftlinge eine Ahnung davon bekommen sollten, was sie erwartete. Jede Handlung der Neuankömmlinge wurde von
Hieben, Schubsen und Beschimpfungen begleitet, sie wurden mit Hunden gehetzt. Man pferchte die Häftlinge auf
dem Lagerplatz zusammen und nach mehreren Stunden des Wartens wurden sie erniedrigenden sanitären Eingriffen
unterzogen. Den nackten Häftlingen wurden die Haare kurz geschnitten, sie wurden rasiert, dann erhielten sie
Lagerkleidung – gestreifte Häftlingsanzüge. Als diese ausgingen, wurden den Häftlingen alte, abgenutzte
Militäruniformen oder Zivilkleidung gegeben. Diese wurde an einer sichtbaren Stelle mit Farbe gekennzeichnet, ein
Stofffetzen wurde ausgeschnitten oder aufgenäht, um die KZ‐Zugehörigkeit des Trägers zu verdeutlichen. An Stelle
ihrer Schuhe erhielten die Häftlinge schwere, nicht angepasste Holzschuhe, später dann auch Schuhe aus Lumpen
mit hölzernen Sohlen. Alle persönlichen Sachen wurden konfisziert. Die Häftlinge erhielten Nummern. Von diesem
Moment an wurden keine Vor‐ oder Nachnamen mehr genutzt. Die Häftlinge wurden zu Nummern. Diese Nummern
wurden auf Stoffstücke geschrieben, die mit einem bunten Dreieck an die Häftlingsanzüge genäht werden mussten.
Die Dreiecksfarbe verwies auf die Häftlingskategorie: rot für politische Häftlinge, lila für Zeugen Jehovas, schwarz für
sogenannte Asoziale und Arbeitsunwillige, grün für Kriminelle, rosa für Homosexuelle, blau für spanische
Republikaner. Jeder Häftling musste auch den ersten Buchstaben seiner Nationalität auf der Kleidung anbringen. Für
Juden war die Farbe Gelb und ein zweifarbiger Judenstern vorgesehen.
In den meisten Lagern lebten die Häftlinge in Baracken aus Holz, die ständig überfüllt waren. In der ersten Phase
des Lagerbetriebs schliefen die Sträflinge auf ausgestreutem Stroh, dann auf mit Papier gefüllten Strohsäcken, dann
auf zwei‐, drei‐ oder mehrstöckigen Pritschen (oft je zwei Insassen auf einer Pritsche). Zum Zudecken erhielten sie
lediglich eine dünne Wolldecke. Die Blöcke waren mit einem eisernen Ofen, einem Blocktisch, einigen Tischen und
Eimern ausgestattet. Die erschütternden sanitären Bedingungen, der Mangel an fließendem Wasser und
Unterwäsche führten zur Ausbreitung von Insektenplagen und verschiedenen Krankheiten. Zur Vernichtung der
Häftlinge dienten auch die Hungerrationen, die sie als Nahrung erhielten (der Kalorienwert einer Tagesration für die
schwer arbeitenden Häftlinge betrug zirka 1000 Kalorien). Die KZ‐Häftlinge wurden für jedes kleinste Vergehen
bestraft. Erniedrigung, Schläge, Hunger, Angst und ständige Lebensgefahr prägten, neben der mörderischen
Zwangsarbeit die Erfahrungen der KZ‐Häftlinge. Tod drohte ihnen von jeder Seite. Sie wurden gefoltert, erschossen,
erhängt, ertränkt; die Kranken, Schwachen und Arbeitsunfähigen wurden vergast oder mit Giftinjektionen
umgebracht, oder einfach ohne Betreuung gelassen bis sie vor Hunger und Kälte starben. Häftlinge, für die die
Gestapo oder die KZ‐Leiter einen sofortigen Tod vorgesehen hatten, wurden zur Strafkompanie geschickt. Die
deutsche Lagerleitung kümmerte sich nicht um eine funktionierende gesundheitliche Versorgung, denn die
Sterbenden wurden ohnehin ständig durch neue Häftlinge ersetzt. Diese wurden ohne jegliche Entlohnung zu
schwerer körperlicher Arbeit in industriellen Betrieben eingesetzt. Im Jahr 1941 bauten die Deutschen in einigen KZs
Gaskammern, mittels derer die Massentötung der Häftlinge eingeleitet wurde.
Bis 1942 war die Ausrottung von Personen, die als politische und Rassenfeinde des Dritten Reiches galten, die
grundsätzliche Funktion der Lager. Die maximale Ausnutzung der Arbeitskraft der Häftlinge erfolgte nebenbei. Die
KONZENTRATIONSLAGER
Weibliche KZ−Häftlinge arbeiten in der Kiesgrube des KZ Auschwitz−Birkenau, 1942−1943 (IPN)
Prioritäten änderten sich erst, als die Deutschen an der Front eine Niederlage nach der anderen erlitten. Die
Ausnutzung der unbezahlten Arbeit der Häftlinge wurde damals zur Hauptaufgabe der KZs. Zu dieser Zeit ließ der KZ‐
Terror etwas nach. Es kam auch zu einer explosionsartigen Entwicklung von Außenlagern, die fast überall in
Deutschland verstreut waren. Sie wurden in der Nähe großer Industriewerke angelegt. Die meisten Häftlinge wurden
zur Arbeit in Waffenfabriken, zu Bau‐ oder Räumarbeiten geschickt. Ende des Krieges starben viele von ihnen bei der
Bombardierung dieser Betriebe durch die alliierte Luftwaffe. Die Häftlinge starben darüber hinaus massenweise
während sogenannter Todesmärsche, die die Deutschen bei der Evakuierung der Lager organisierten, als man vor der
sich nähernden Kriegsfront floh.
In Auschwitz, Buchenwald, Dachau, Mauthausen, Natzweiler‐Struthof, Neuengamme, Ravensbrück und
Sachsenhausen wurden an den Häftlingen grausame, von den Deutschen als medizinisch bezeichnete, Experimente
durchgeführt. Diese wurden – ohne Rücksicht auf die Anzahl der Opfer – auch an Kindern durchgeführt, die während
der Eingriffe einen qualvollen Tod starben.
Die Konzentrationslager, allen voran Auschwitz‐Birkenau, spielten ab 1942 auch eine Rolle als Stätten der
unmittelbaren Judenvernichtung, was im nächsten Kapitel besprochen wird.
KONZENTRATIONSLAGER
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JAN RYSZARD SEMPKA
„Ich war lediglich
die Nummer 95959”
Jan Ryszard Sempka – geboren am 13.05.1928 in Warschau. Vor dem Krieg wohnte er in der
Zakroczymska Straße Nr. 1. Er nahm am Warschauer Aufstand teil und kämpfte in der
Altstadt. Nach der Niederlage der Aufständischen teilte er das tragische Schicksal der
Einwohner der Hauptstadt. Von den Deutschen wie ein Zivilist behandelt, kam er in das
Konzentrationslager Mauthausen.
JAN RYSZARD SEMPKA
[…] Am 4. September 1944 gegen 11 Uhr hielt der Zug am Bahnhof Mauthausen an. Alle gerieten in Panik, denn der
Name Mauthausen war vielen Menschen bekannt. Der Zug blieb circa zwei Stunden lang stehen und nichts passierte.
Eisenbahner sagten, dass sie abwarten bis die Strecke frei wird und wir dann nach Linz fahren würden. Gegen 13 Uhr
wurde der Zug von SS‐Männern umstellt, die uns mit Gewalt aus den Waggons schmissen, uns befahlen, Kolonnen zu
bilden und uns durch die Stadt in eine damals unbekannte Richtung trieben. Außerhalb der Stadt sahen wir oben in
einiger Entfernung ein befestigtes Lager. Es waren Steinmauern mit Wachtürmen zu sehen. Da begriffen wir, dass
man uns nicht zur Arbeit in Weinbergen, sondern zu dem bekannten Konzentrationslager führte.
Die Männer wurden durch ein riesiges Holztor auf das Lagergelände getrieben, die Frauen und Kinder blieben
draußen vor der Mauer stehen. SS‐Männer trieben uns auf einen Platz zwischen der Mauer und den Baracken, wo
sich das Bad und eine Wirtschaftsbaracke befanden. Man befahl uns, uns nackt auszuziehen, nur Schuhe und Gürtel
oder Hosenträger durften wir behalten. Dann wurde uns befohlen, Wertsachen, Geld, Dokumente und andere
Andenken abzugeben. Man hielt uns bis in die späten Abendstunden auf dem Platz fest, dann trieb man uns
gruppenweise in das Bad. Hier wurden alle kahl geschoren, jedem wurde in der Mitte des Kopfes ein 3‐4 Zentimeter
breiter Streifen rasiert. Aus dem Bad wurden wir durch einen anderen Ausgang herausgelassen, wo bereits Häftlinge
warteten. Jedem von uns wurde ein Stück Unterwäsche, ein Unterhemd oder eine Unterhose zugeworfen, alles sehr
abgenutzt, mit einem Hosenbein kürzer als das andere, ärmellose Hemden usw. Unter Schreien und Schlägen trieben
uns SS‐Männer über die Hauptstraße des Lagers (welches in drei Teile geteilt war) zum letzten Teil, dem sog. dritten
Lager. Es war schon dunkel, das Gelände war nicht beleuchtet. Wir wurden in düstere Erdgeschossbaracken
getrieben, wo wir uns auf den Boden setzen sollten, beginnend von der linken Wand. „Funktionshäftlinge“ –
Blockführer und Kapo hetzten andere Häftlinge. Die Baracke wurde mit so vielen Personen wie möglich vollgestopft.
Die Häftlinge saßen die ganze Nacht auf dem nackten Boden, zusammengedrängt, auf der rechten Seite der Baracke
lagen dagegen Strohsäcke, bis zur Decke aufgestapelt. In der Nacht stand ein neben mir sitzender Häftling auf und
verließ die Baracke. Am nächsten Tag fand man ihn im Waschraum, er hing an seinem Gürtel, der an einem Balken
befestigt war, er hatte auch aufgeschnittene Pulsadern. Überall um ihn herum war Blut. Ich hörte von anderen
Häftlingen, dass er Besitzer einer Apotheke in der Altstadt gewesen war. Wahrscheinlich war er mit den Nerven am
Ende und beging Selbstmord.
Vor Sonnenaufgang wurden die Häftlinge aus fünf Baracken, mit den Nummern 26 bis 30, nach draußen gejagt. Es
war sehr kalt, die Temperatur muss unter null gewesen sein, weil alles mit Raureif überzogen war. Menschen
wärmten sich gegenseitig mit ihren Körpern, indem man sog. Kamine bildete, d.h. sich in Gruppen aneinander
schmiegte. Der Anblick der rasierten Häftlinge in Unterwäsche war schrecklich, sogar beste Freunde konnten sich
gegenseitig nicht wiedererkennen. Der erste Kontakt mit dem Konzentrationslager war erschreckend. Seit der
Ankunft, oder eigentlich seit der Zeit des bescheidenen Essens in Wien kriegten wir nichts zu Essen oder Trinken.
Einige Stunden lang standen wir draußen, bis endlich einige Tische auf das Gelände dieses Lagerteiles gebracht
wurden und mit der Registrierung der Häftlinge angefangen wurde. Man schrieb unsere Personaldaten auf und teilte
uns Häftlingsnummern zu. Ich erhielt die Nummer 95959 und ab diesem Moment war ich nur noch diese Nummer.
Ich wurde zum Block Nr. 27 zugeteilt. An diesem Tag und den nächsten Tagen war das Wetter wunderschön,
obwohl nachts und frühmorgens leichter Frost herrschte. Gegen Mittag erreichte die Temperatur bis zu 35 Grad. Den
ganzen Tag lang ließen uns die Blockführer nicht in die Baracken rein, wir mussten auf dem Platz stehen bleiben, wo
es keine Bäume gab. Wir versuchten uns im Schatten der Baracken und der Mauern zu schützen. Infolge der
Überhitzung bekamen einige einen Hitzschlag. Einem Häftling schwoll das Gesicht so stark an, dass ein Auge nicht
mehr sichtbar war. Wir verspürten ständig Durst. Als zum Frühstück Kaffee von der Küche geholt wurde, ließ der
Blockführer jugendliche Häftlinge damit den Boden in der Baracke wischen. Uns wurde dagegen eine Portion für drei,
vier Personen zugeteilt. Wir nahmen aus einer Schüssel der Reihe nach ein paar Schlucke der bitteren, dunklen
Flüssigkeit. Schon in den ersten Tagen im Lager, in der sog. Quarantäne, litten Manche an Durchfall. Sie wurden in
das Lagerkrankenhaus, das sog. Revier gebracht.
Meine Quarantäne dauerte bis zum 12. September 1944. An diesem Tag wurde ich am frühen Morgen mit einer
Gruppe von über 400 Personen in das Außenlager in Melk gebracht. Am Vortag wurde jedem Häftling Unterwäsche,
d.h. Unterhemd und Unterhose, sowie eine Hose, eine Bluse und eine runde Mütze mit grau‐blauen Streifen
gegeben. Jeder Häftling erhielt auch zwei Stoffstreifen, auf die ein rotes Dreieck (Zeichen für politische Häftlinge)
gedruckt war. Auf die Streifen sollten wir unsere Häftlingsnummern schreiben. Einen Streifen sollten wir an die Bluse,
links über die Brust, den anderen an das linke Hosenbein, seitlich über das Knie nähen.
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KONZENTRATIONSLAGER
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[…] In Melk, das ca. 90 km von Mauthausen und ungefähr genauso weit von Wien entfernt war, kamen wir am
Nachmittag an. Das Lager befand sich in einer ehemaligen Kaserne. Auf dem Gelände befanden sich einige
gemauerte Gebäude, manche mit zwei oder drei Stockwerken, es gab auch einige Baracken. Der Eingang zum Lager
kündigte nichts Gutes an. Doppelte Stacheldrahtumzäunung unter Strom, Wachtürme mit Wachmännern, die
Handfeuerwaffen und Maschinengewehre hatten. Am Tor stand ein Mast, an den mit Händen und Füßen ein Häftling
gebunden war. So wurde er für eine mir damals noch unbekannte „Verfehlung“ bestraft. Die anderen Häftlinge
machten auch einen bedrückenden Eindruck. Manche versuchten, aus leeren Kesseln Suppenreste auszukratzen.
Andere durchwühlten Mülleimer und suchten nach Essen. Sie versuchten natürlich, unauffällig zu handeln, weil für
solches Verhalten schmerzliche Strafen drohten (im besten Fall wurde man von den SS‐Männern oder den
Funktionshäftlingen verprügelt).
Unsere gesamte Gruppe wurde dem Block Nr. 13 zugeordnet, der sich in einem großen Raum im ersten Stock
befand. Der Raum wurde mit Brettern (mit großen Spalten) in vier Teile geteilt. Jeder Teil stellte einen separaten
Block dar: Nummer 10, 11, 12 und 13. Insgesamt befanden sich auf dieser Ebene ca. 2000 Häftlinge. Jeder Block hatte
eine eigene Blockführung. Unser Blockführer wurde ein deutscher Häftling, der mit einem grünen Dreieck
kennzeichnet war, was auf einen kriminellen Häftling hindeutete. Er ordnete sofort einen Appell an und wies einer
Reihe von Personen unterschiedliche Aufräum‐ und Einrichtungsarbeiten im Block zu […].
Die Einrichtung des Blocks bedeutete hauptsächlich, dreistöckige Pritschen zu holen und sie nebeneinander zu
stellen, indem immer nur ein schmaler Durchgang gelassen wurde, damit man zu den einzelnen Liegeplätzen Zugang
hatte. Auf die aus ungehobelten Brettern zusammengenagelten Pritschen legte man Papiersäcke mit Holzspänen.
Auf jedem Liegeplatz befanden sich zwei alte, abgewetzte, graue, stinkende Decken. Am selben Tag wurde für jeden
Häftling eine Akte angelegt, wir wurden in Arbeitsgruppen, sog. Kommandos eingeteilt. Ich wurde dem 50‐Personen‐
Kommando Keller Lutz Wasser zugeteilt. Die Bezeichnung kam vom Namen der Firma, für die gearbeitet wurde. Am
nächsten Tag wurden wir gegen 4 Uhr morgens zuerst durch einen Glockenschlag und dann durch Schreie des
Blockführers und anderer Funktionshäftlinge geweckt, die „aufstehen!” brüllten und im Block herumliefen.
Diejenigen , die sich am nächsten befanden, trieben sie in die Küche, damit sie Frühstück holen, das aus einem Becher
schwarzen bitteren Wassers, sog. Kaffees und aus einem Achtel eines 1‐kg‐Brotlaibes bestand. In dieser Zeit mussten
sich die Häftlinge in aller Eile anziehen, die „Betten“ machen und unten in den Waschraum laufen, dann sollten sie
im Block als separate Kommandos antreten. Das Essen wurde nämlich je nach der Zahl der in einem Kommando
arbeitenden Leute ausgegeben. All diese Tätigkeiten wurden von Schreien, Beschimpfungen und Drängen seitens
der Blockführer begleitet. Verspätete wurden geschubst und geprügelt. Nach dem Frühstück – alles in großer Eile
und öfters im Stehen – traten die Häftlinge in Kolonnen vor dem Gebäude an, fünf Leute in jeder Reihe. Danach
wurden wir nach mehrmaligem Zählen und Anwesenheitskontrolle zum Appellplatz geführt. Hier fand um 5 Uhr der
Gesamtappell des Lagers statt. Hier wurden wir wiederholt vom Blockführer (einem SS‐Mann), Raportführer und
dann vom Lagerkommandanten gezählt. Nach dem Ende des Appells gingen wir zur Arbeit: Manche auf dem
Lagergelände, Andere dagegen verließen, unter der ständigen Bewachung durch bewaffnete SS‐Männer, öfters mit
Hunden, das Lagergelände.
Mein Kommando arbeitete in einer Entfernung von ca. 5 km vom Lager. Wir wurden von fünf SS‐Männern
bewacht. Unsere Aufgabe war es, Gräben im felsigen Boden zu schlagen und dann Rohre von großem Durchmesser
dort einzubauen, mit denen Wasser von der Donau zu entfernten Stollen von Steinbrüchen fließen sollte. Jeden Tag
gingen wir zu Fuß zur Arbeit und zurück. Das Mittagessen aus zerkochten Kohl, Kohlrüben und Karotten, und in der
Wintersaison aus getrocknetem Gemüse, wurde mit einem Auto zu unserem Arbeitsort gebracht. Es kam jedoch vor,
dass das Essen nicht geliefert wurde, sondern uns erst mit dem Abendessen auf dem Lagergelände, in unserem
Block, ausgegeben wurde. Jeder Häftling musste ein Gefäß für das Essen haben. Jeder hütete sein Gefäß wie seinen
Augapfel, weil man ohne ein eigenes Gefäß kein Essen bekam. Manche hatten Blechschüsseln, Andere schwere
Tonschüsseln, noch Andere alte Dosen. Dasselbe betraf Löffel, die uns bei der Ankunft in Melk gegeben worden
waren. Es gab unterschiedliche Methoden, die Gefäße bei sich zu tragen, weil man sich von ihnen nicht trennen
durfte. Eine Blechschüssel war am einfachsten anzubringen. In der Regel schlug man seitlich ein Loch in die Schüssel
und befestigte sie dann am Gürtel. Mit Tonschüsseln wurde die Sache problematisch. Dazu waren sie schwer, was
wegen des täglichen 10‐Kilometer‐Marsches eine schmerzliche Erfahrung war. Das Abendessen bestand aus einem
Schöpflöffel schwarzen, bitteren sog. Kaffees und einem Achtel Brotlaib, manchmal auch aus einem Löffel Quark
oder einem Stück Margarine (einige Gramm) oder Marmelade. Es kam auch vor, dass wir an Feiertagen ein
JAN RYSZARD SEMPKA
Scheibchen Wurst erhielten. Des öfteren gaben Blockführer aus Bequemlichkeit die doppelte Brotportion nur einmal
am Tag aus, morgens oder abends, was für die Häftlinge von Nachteil war, weil man in der Regel die ganze Portion
auf einmal aß und entweder hungrig schlafen oder am Morgen mit nüchternem Magen zur Arbeit ging.
Am 17. September 1944 war ein arbeitsfreier Sonntag. Häftlinge, die außerhalb des Lagergeländes arbeiteten,
hatten jeden zweiten Sonntag frei, weil man das System der Schichten (im Stollen gab es ein Dreischichtsystem)
umstellen musste und die Aufsicht habenden SS‐Männer und Zivilmeister Gelegenheit zur Ruhe haben sollten. Beim
Morgen‐ und Abendappell waren alle Häftlinge anwesend (abgesehen von denen, die im „Revier“ waren). Nach dem
üblichen Prüfen der Kopfanzahl wandte sich der Lagerkommandant an die Neuangekommenen und warnte sie
davor, die Disziplin zu vernachlässigen und Fluchtversuche zu unternehmen, weil fliehende Häftlinge immer ergriffen
und zum Tode verurteilt würden. Er stellte auch fest, dass keiner länger als drei Monate im Lager leben dürfe und
dass es nur einen Ausgang gäbe – durch den Schornstein des Krematoriums. Nach wenigen Tagen im Lager, während
derer wir ständig Prügelstrafen, Todestrafen, Anbinden an Maste, Ertränken in Fässern und andere Formen der
Häftlingsmisshandlung beobachten mussten, waren wir überzeugt, dass der Lagerkommandant recht hatte und man
länger in dem Lager nicht überleben würde. Man musste um jeden Preis Situationen vermeiden, in denen man
geprügelt oder getötet werden könnte.
Der „freie Sonntag” war kein Erholungstag für uns Häftlinge. Man ließ sich verschiedene Schikanen für uns
einfallen. Der Blockführer unseres Blockes hatte den „Ehrgeiz“, den Häftlingen aus seinem Block das Gebaren einer
Militäreinheit im Defilee beizubringen. Daher hatten wir unabhängig vom Wetter den ganzen Tag lang das schnelle
Aufstellen in Kolonnen ‐ immer fünf oder zehn Männer in einer Reihe – zu üben. Häftlinge, welche es nicht schafften,
in der kurzen Zeit den richtigen Platz in der Kolonne einzunehmen, mussten wie Frösche um die Kolonnen herum
springen. Es wurde Abnehmen und Aufsetzen von Mützen im gleichen Tempo geübt, damit alle auf Kommando
„Mützen ab” mit ihren Mützen gegen den rechten Oberschenkel schlugen, so dass ein lautes Geräusch zu hören war.
Auf Kommando „Mützen auf” mussten Mützen gleichzeitig und blitzschnell aufgesetzt werden. Häftlinge, welche
die Befehle nicht schnell genug ausführten, mussten wie Frösche springen, aufräumen, die Fußböden putzen oder
sie wurden verprügelt.
Eine andere Qual waren für die Häftlinge das sog. Gruppenwaschen und die Kleidungsdesinfektion. In der Nacht
löste man ohne Vorwarnung Alarm aus. Alle Häftlinge mussten sich ausziehen, ihre Kleidungsstücke sollten sie so
zusammenfalten, dass die Häftlingsnummern sichtbar blieben. Ausgewählte Häftlinge brachten die Kleidung zum
Dampfbad. Die nackten Häftlinge wurden unabhängig vom Wetter – bei Regen oder Frost, unter Schreien und
Schlägen bis zum Badehaus gejagt, das ca. 150‐200 Meter entfernt war. Hier wurde je nach Laune der Kapos nur
kaltes oder heißes Wasser laufen lassen. Nach wenigen Minuten wurde eine Gruppe aus dem Badehaus
herausgelassen und die nächste hineingelassen. Die Häftlinge liefen zu ihrem Block, wo der Blockführer mit den
Kapos wartete und prüfte, ob jeder Häftling sauber genug war. Wenn sie feststellten, dass ein Häftling nicht richtig
gewaschen oder mit Matsch bespritzt war, was bei dem schnellen Lauf zum Block öfters der Fall war, wurde der
Häftling sooft zum Badehaus gejagt, bis er sauber zurückkam. In einer solchen Nacht konnte niemand schlafen. Nach
einiger Zeit wurden vom Dampfbad nasse und nicht mehr gefaltete Kleidungsstücke zurückgebracht, ohne dass die
Häftlingsnummern direkt sichtbar waren. Daher dauerte es sehr lange, bis man die eigene Kleidung fand. Und zum
Morgenappell musste jeder angezogen erscheinen. Das waren schreckliche Nächte; Häftlinge, die dann in der
Nachtschicht arbeiteten, hatten Glück.
In dem Kommando Keller arbeitete ich ca. sechs Wochen lang, in einer 50‐Personen‐Gruppe, die aus Einwohnern
Warschaus bestand. Anfangs beneideten uns unsere Kollegen vom Stollen, da wir immer an der Oberfläche und nur
in einer Schicht arbeiteten. Doch als erst Regenwetter und dann Frost kamen und wir in unserer nassen und dünnen
Kleidung arbeiteten, ohne dass man sich vor dem Regen schützen oder aufwärmen konnte, fingen wir an, die zu
beneiden, die im Stollen arbeiteten. Das war für mich die schlimmste Phase im Konzentrationslager. Ich erinnere
mich noch, als mein Freund Zbyszek Wąsowicz, der drei Jahre älter als ich, d.h. 19 Jahre alt war, und ich vor Kälte und
Hunger weinten, während wir mit Keilhauen Gräben schlugen und aus den Rohren über den Gräben Wasser auf uns
herunter rann. Damals dachten wir, dass wir unter solchen Umständen nicht mal vom Überleben der vom
Kommandanten erwähnten drei Monate träumen können.
Eines Tages ging unsere Gruppe zu einer anderen Arbeitsstelle, wir trugen unterschiedliche Gegenstände,
Werkzeuge, Balken, Ketten usw., so bildeten wir keine ordentliche Kolonne. Das sah von weitem der
Lagerkommandant, SS‐Hauptsturmführer Julius Ludolf. Er kam schreiend zu uns und verprügelte unseren Kapo,
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KONZENTRATIONSLAGER
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einen ungarischen Juden, der im Vergleich zu vielen anderen Kapos ein anständiger Mensch war. Der
Gruppenkommandant wurde suspendiert, die Führung an einem anderen SS‐Mann übergeben. Nach der Rückkehr
ins Lager wurde unsere Gruppe aufgelöst und wir wurden anderen Kommandos zugeordnet. Ich hatte irgendwie kein
Glück, weil ich einem der schwersten Kommandos, dem sog. Kommando Merkendorf zugeordnet wurde. Der Name
kam von der Ortschaft, in der wir eine Siedlung aus Baracken für die Einwohner Wiens bauten, deren Häuser
bombardiert worden waren. Der Kommandoführer und die SS‐Männer, die er sich als Gehilfen auswählte, waren
ausgesprochene Sadisten. Die Strecke zur Arbeit, ein ca. 4 km langer lehmiger Weg, machte uns fertig. Unsere
Aufgaben waren Kiestransport mittels Schubkarren, Tragen schwerer Stahlbetonelemente, Ausladen vom Zement,
Tragen großer Gefäße mit Wasser u.a. An jedem Tag wurde ein Häftling vom Kommandoführer bis zur
Bewusstlosigkeit geprügelt oder zumindest solange, bis er stark blutete. Er stellte einen Häftling an die Wand eines
Gebäudes und schlug ihm mit der Faust ins Gesicht, sodass der Kopf nach hinten gegen die Wand schlug. Das war
seine Lieblingsmethode. Er hörte erst auf, wenn der Häftling stark blutete. Alles konnte Anlass zu Prügeln geben:
ungleiches Marschieren der Kolonne, zu langsames Arbeiten, ein vom Zementsack abgerissenes Stück Papier unter
der nassen Bluse, eine vor einem SS‐Mann nicht abgenommene Mütze usw.
Ein Tag ist mir besonders im Gedächtnis geblieben. Unser aus einigen Hundert Personen bestehendes Kommando
fuhr einen Teil der Strecke nach Merkendorf mit einem Güterzug. In geringer Entfernung vom Bahnhof Melk stand
eine Holzrampe, auf die die Häftlinge getrieben wurden. Dann kam der Güterzug. Die Häftlinge mussten in den
Waggons dichtgedrängt auf der rechten und linken Seite stehen, damit die Mitte für die SS‐Männer frei blieb. Wir
wurden einige Kilometer auf das Stollen‐Gelände transportiert, wo eine identische Rampe stand. An jenem Tag
spürte ich beim Gehen, dass ich meine Beine kaum beugen konnte. Ich stellte fest, dass sie immer stärker
anschwollen. Nachdem wir das Stollen‐Gelände erreicht hatten und auf die Rampe getrieben worden waren, wurde
eine Kolonne gebildet. In der Kolonne gingen wir immer untergehakt, so dass man mit der rechten Hand den Häftling
rechts hielt. Als ich die Rampe verlassen wollte, konnte ich meine Beine nicht mehr beugen, so wurde ein Teil der
Kolonne meinetwegen gebremst und es bildete sich eine Lücke. Der neben uns gehende SS‐Mann befahl dem
Häftling an meiner rechten Seite, mich einzuhaken und den Marsch der Kolonne zu beschleunigen. Der Häftling
reagierte mit Widerwillen darauf. Der SS‐Mann schlug ihm mit seinem Gewehrkolben auf den Kopf, so dass er mit
dem Gesicht nach vorne stürzte. Einen Moment lang ging alles durcheinander, ich wurde in die nächste Fünfergruppe
geschoben, der Häftling dagegen, an dessen Stelle ich geschoben wurde, musste mit einem Anderen aus meiner
Fünfergruppe den Bewusstlosen nehmen und auf den Platz bringen, wo der Appell vor der Arbeit stattfand. Die
Kopfzahl der Häftlinge musste nämlich immer stimmen. Der Bewusstlose wurde neben unsere Kolonne auf den
Boden gelegt. Nach kurzer Zeit kam der Oberkapo – ein Krimineller mit einem grünen Dreieck, den wir „Zigeuner“
nannten. Er trat den liegenden, bewusstlosen Häftling und schrie „aufstehen!”. Da der Häftling nicht reagierte, legte
ihm der Oberkapo einen Pflock auf den Hals, stellte sich drauf und erwürgte sein Opfer.
Die Ausschreitungen dieses Kriminellen waren im Lager bekannt. Fast jeden Tag brachte man einen von ihm
ermordeten Häftling ins Lager. Seine liebste Mordmethode war das Ertränken der Häftlinge, indem er deren Kopf in
ein Fass mit Wasser eintauchte. An jenem Tag ging ich am Abend ins „Revier“, wo Ärzte, die selbst Häftlinge waren,
jeden Abend Kranke zur Untersuchung aufnahmen. Über die Aufnahme eines kranken Häftlings ins Krankenhaus
konnte jedoch nur ein SS‐Arzt entscheiden. Ich war hüfthoch geschwollen, so dass man meine Hose auftrennen
musste. Es wurde entschieden, dass ich im Krankenhaus bleiben sollte. Die Krankheit, die wir im Lager „Ödem“
nannten, wurde hauptsächlich durch den Hunger, äußere Bedingungen und die generelle Erschöpfung des
Organismus verursacht. Es war sehr schwierig, ins Revier zu gelangen und einen Aufenthalt dort hielten die Häftlinge
für ein Riesenglück, weil man so der aufzehrenden Arbeit entkam, geschützt unter Dach blieb und bessere Chancen
hatte, Essen zu kriegen, weil viele Kranke, insbesondere die mit hohem Fieber, keine Nahrung zu sich nahmen,
sondern nur einen heftigen Durst verspürten. Kranke tauschten ihr Essen gegen Flüssigkeit (Kaffee). Im Revier waren
die Lebensbedingungen sehr schwer. Zum Liegen dienten mehrstöckige Pritschen, auf jeder lagen je nach Zeitraum
drei bis vier Häftlinge. Im Herbst und im Winter stieg die Zahl der Kranken deutlich, genauso die Sterberate. Im
frühen Herbst wurden die Verstorbenen zum Krematorium in Mauthausen abtransportiert und in Melk bestand das
Revier nur aus einer Baracke. Ende 1944 gab es schon ein zweites Reviergebäude und zusätzlich ein Krematorium, in
dem die Verstorbenen und Ermordeten verbrannt wurden.
Im Revier mussten Häftlinge, die noch laufen konnten, eine Reihe von Arbeiten verrichten, die ihnen die
Revierführung übertrug. Unter anderem waren das Aufräumen, Essenbringen, Versorgung, Verstorbenentransport
JAN RYSZARD SEMPKA
Eines Tages wurde ich in den Keller geschickt, wo ich ein verstopftes Rohr reinigen sollte. Als ich nach unten ging,
stellte ich mit Entsetzen fest, dass sich in dem Keller ein Leichenhaufen befand und dass ich auf den Haufen steigen
musste, um das verstopfte Rohr unter der Decke zu erreichen. Ich wusste, was mir bei Nichtausführung des Befehls
drohte, diese Drohung war stärker als die Angst. Der Gedanke, dass ich auf die Leichen meiner Kollegen steigen muss,
entsetzte mich. Trotz eines riesigen inneren Widerstandes musste ich der Anweisung folgen. Bis heute höre ich das
Krachen der unter meinen Füßen zerbrechenden Knochen, obwohl ich mich bemühte, mich vorsichtig zu bewegen.
Das schlimmste war, dass ich unter dem Rohr auf die andere Seite gelangen musste, und dazu auf den Leichen fast
kriechen musste. Es war schrecklich, dass der Berg unter dem Druck meiner Füße auseinander glitt. Es schien mir, als
ob sich die Arme und Füße der Leichen anhoben. Das werde ich nie vergessen!
Mein Aufenthalt im Revier dauerte nur wenige Tage. Da ich in einem ziemlich warmen Raum bleiben konnte und
nicht zur Arbeit gehen musste, sondern auf einer Pritsche lag, ließ die Schwellung nach.
Der Revierkommandant, ein SS‐Arzt machte alle paar Tage morgens eine Begehung. Da ich kein Fieber mehr hatte,
entschied er, dass ich in meinen Block zurückkehren konnte. Noch am selben Tag wurde ich zur Arbeit in der
Nachtschicht im Kommando Czernichowski Lokschuppen geschickt. Wir waren eine Gruppe von 15 Häftlingen, deren
Aufgabe es war, Waggons auf dem Gelände der Stollenbaustelle auszuladen. Wir hatten in der Regel Zement, Kies,
Steinschlag und sonstiges Baumaterial abzuladen. Die Arbeit war sehr schwer, wir blieben die ganze Zeit draußen,
auch bei Regenwetter, Schnee, Frost und starkem Wind. Man darf nicht vergessen, dass unsere Kleidung für Arbeit
unter solchen Bedingungen überhaupt nicht geeignet war. Ich hatte nur ein Hemd und eine dünne Bluse an und einen
Streifenmantel aus demselben Stoff. Die Schuhe, in denen ich ins Lager kam, hatten sich längst abgenutzt. Ich kriegte
Holzschuhe, die ich mit einem Draht an meinen Füßen festband. Von Socken konnte keine Rede sein. Füße
umwickelte man in der Regel mit Lappen oder Papier aus Zementsäcken. Manche liefen barfuß, weil sie keine
Holzschuhe hatten.
Die Zeit um Weihnachten 1944 ist mir besonders im Gedächtnis geblieben. Am Heiligen Abend ging nur die erste
Schicht zum Stollen, weil die Arbeitspause zwei Weihnachtstage dauern sollte. An dem Tag [...] wurden alle auf dem
Stollen‐Gelände arbeitenden Häftlinge gegen 13 Uhr zum Appell gerufen. Normalerweise fanden Appelle immer vor
der Arbeitsaufnahme und nach Arbeitsschluss statt. Jeder Kapo schrieb die Nummern der Häftlinge seiner Gruppe
auf und meldete dem Kommandoführer die Kopfzahl in der Gruppe. Nach Arbeitsschluss versammelte er die Gruppe
wieder und prüfte, ob alle anwesend waren. Der Stand musste übereinstimmen. War ein Häftling gestorben oder
ermordet worden, dann legte man die Leiche neben die Gruppe. Ein vom Kommandoführer gewählter SS‐Mann – der
Raportführer zählte die Kopfzahlen der einzelnen Gruppen zusammen und prüfte, ob diese mit dem Stand vor der
Arbeitsaufnahme, als wir das Lager verlassen hatten, übereinstimmten. Am Heiligen Abend wurden wir nach der
Arbeit mehrmals gezählt, da in einer Gruppe die Kopfzahl nicht stimmte. Es fehlte ein Häftling, ein Pole, der vor
wenigen Tagen aus Auschwitz gekommen war, wie sich später herausstellte. An dem Tag gab es Schneeregen. Das
Stollen‐Gelände war groß. Es gab sehr viele Stellen, wo man sich verstecken konnte. Alle wussten, dass die SS‐
Männer während der Weihnachtstage ihre Wachtürme verließen, mit uns ins Lager, in ihre Kasernen gingen und dass
das Gelände dann unbewacht blieb. Der Häftling hoffte wahrscheinlich, dass er in dieser Zeit, in der nicht die normale
Bewachung herrschte, fliehen kann. Es herrschte eine große Aufregung unter den SS‐Männern und den anderen
Aufsehern. Wenn ich mich recht erinnere, gab es in unserem Lager seit langem keine Fluchtversuche, in allen Fällen
wurden die geflohenen Häftlinge ergriffen und ermordet.
Wir blieben bis in die späten Abendstunden ohne Essen, im nassen Schnee und Matsch auf dem Appellplatz
stehen. Gegen 22 Uhr kam eine große Gruppe SS‐Männer, die die Wachhabenden auf den Wachtürmen ablösten und
dann wurde der Zug nach Melk bereitgestellt. Als wir von der Bahnstation zum Lager den Berg hinaufgingen, sahen
wir in den Fenstern der Stadtbewohner die Lichter an ihren Weihnachtsbäumen und hörten Weihnachtslieder. An
diesem Tag verhielten sich die SS‐Männer, die uns bewachten, besonders brutal. Im Lager sahen wir auf dem
Appellplatz einen großen, beleuchteten Weihnachtsbaum. Jeder von uns kriegte ein halbes Brot für die gesamte
Weihnachtszeit, sowie eine Prise geschnittener Tabakwurzel und ‐blätter. Das war die einzige Tabakration für
Häftlinge, an die ich mich erinnern kann.
Am nächsten Tag früh morgens sollten sich Blockführer, Kapos und Lagerpolizisten auf dem Appellplatz
versammeln. Eine große Gruppe von ihnen wurde ausgewählt und fuhr zusammen mit einer großen Gruppe SS‐
Männer zum Stollen, um nach dem verschwundenen Häftling zu suchen. Für die Verbliebenen fing der Tag normal
an. Nach dem Morgenappell kehrten wir in den Block zurück. Es wurde uns Kaffee gegeben, der an dem Tag anders,
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leicht süß schmeckte. Wahrscheinlich mischte man den Kaffee mit getrockneten, gerösteten Zuckerrüben. Für mich
fing der Tag tragisch an. Beim Kaffeekessel traf ich auf den Blockführer, der bemerkte, dass ich einen Flanell‐Lappen
am Hals hatte. Es war ein Armband, das manche Häftlinge bekamen, die im Block blieben, und das ich nicht
zurückgegeben hatte. Dem Blockführer gefiel es nicht, dass ich es als Tuch am Hals hatte. Er riss es mir weg und
befahl mir, mich nackt auszuziehen und meine gesamte Kleidung zur Desinfektion zu geben. Da ich beim
Zementtransport arbeitete und dort Säcke trug, die oftmals durchgerissen waren, hatte ich Zementspuren an Kopf
und Hals. Im Lager konnte man kaum sauber bleiben, weil es in dem gemeinsamen Waschraum und in der Toilette
nicht immer Wasser gab, nicht mal kaltes, es fehlte an Seife, wir hatten keine Handtücher, und ich hatte verfrorene
Hände mit offenen Wunden an den Fingern.
Der Blockführer rief einen jungen Häftling, den Stubendienst, gab ihm einen Schrubber und befahl ihm, mit mir in
den Waschraum zu gehen und mich mit dem Schrubber zu putzen. Der Waschraum befand sich in einem kleinen
Gebäude, ca. 30 m vom Block entfernt. An dem Tag gab es starken Frost, der noch bis Mitte März anhielt. Alle Bäume
und der Drahtzaun, waren mit Raureif bedeckt. Ich hatte doch ein bisschen Glück, weil der Stubendienst ein Pole aus
Schlesien war, der sich bemühte, mir bei der Beseitigung der Zementspuren zu helfen, indem er mit dem Schrubber
mit Wasser leicht rieb, Seife hatte ich nicht. An diesem Tag lief ich nur in eine Decke eingehüllt. Ich musste bis zum
nächsten Tag durchhalten, an dem ich meine nasse Kleidung zurückkriegte.
Am Nachmittag (des ersten Weihnachtstages) kamen die Gruppe der Funktionshäftlinge und die SS‐Männer
zurück. Sie brachten auch den verprügelten Häftling mit, der am vorigen Tag nicht aufzufinden gewesen war. Er
hatte sich in einem Kanalisationsrohr versteckt. Er konnte leider nicht fliehen, weil das gesamte Gelände durch SS‐
Bewacher auf den Wachtürmen und Patrouillen gut bewacht wurde. Beim Abendappell wurde der Häftling in bunten
Lappen und mit einem Schild, auf dem auf Deutsch geschrieben stand: „ich floh und wurde ergriffen”, vor die auf
dem Appellplatz versammelten Häftlinge geführt. Soviel ich weiß, genoss der Häftling eine eigenartige Art
Weihnachts‐Amnestie. Er erhielt nicht die sonst üblichen 75 Peitschenhiebe und wurde nicht für zwei, drei Tage und
Nächte ohne Essen und Trinken an eine Stütze gebunden. Ich weiß aber nicht, ich erinnere mich nicht, ob er zur
Strafkompanie nach Mauthausen geschickt wurde.
[…] Da die Sterberate unter den Häftlingen aufgrund der Lebensbedingungen sehr hoch war, wurden von Zeit zu
Zeit Transporte mit einigen Hundert neuen Häftlingen nach Melk geschickt, die die toten Häftlinge bei der Arbeit
ersetzen mussten. Nach Neujahr verringerte sich deutlich der „Zufluss“ von Häftlingen, weil die Front immer näher an
die Grenzen Deutschlands heranrückte. Daher wurden Häftlinge gezwungen, länger als in einer Schicht zu arbeiten.
Mitte Februar 1945 wurde mir nach der Rückkehr von der ersten Schicht vom Schreiber mitgeteilt, dass ich in
wenigen Stunden in die Nachtschicht muss. Nachdem ich Abendessen gekriegt und noch zwei Stunden bis zum
Appell hatte, legte ich mich ganz erschöpft und erfroren auf eine der oberen Pritschen in der Baracke, ohne auf die
drohende Strafe zu achten und schlief ein. Ich wurde durch Schreie im Block geweckt. Ich hörte mehrmals meinen
Namen, was im Lager sonst nie passierte, weil man die Häftlinge nur bei ihren Nummern nannte. Ich wusste nicht,
was los war. Es stellte sich heraus, dass man eben festgestellt hatte, dass im Kommando ein Häftling fehlte. Laut
Kartei handelte es sich um mich. Ich sprang von der Pritsche und lief zur Kolonne. Der Schreiber und der Blockführer
entdeckten mich gleich. Ich wurde mit zehn Gummiknüppelschlägen auf den Rücken bestraft. Als ich aufstand,
kriegte ich vom Blockführer noch einen Schlag auf den Kopf. Die Kolonne der Häftlinge vom Block 13 ging schnell zum
Appellplatz. Die Häftlinge aus allen anderen Blöcken waren schon da. Der Blockführer, ein SS‐Mann, schrie unseren
Blockführer an, warum wir zu spät seien. Der antwortete, dass sich ein Häftling versteckt hatte, der nicht zur Arbeit
wollte. Darauf befahl der Lagerkommandant dem Lagerpolizisten, mich 25 Mal mit einem Ochsenziemer zu schlagen.
Wie viel Schläge ich kriegte, weiß ich nicht mehr. Ich weiß nur noch, dass ich laut bis 14 zählte, dann fiel ich in
Ohnmacht. Der Geschlagene war zum lauten Mitzählen verpflichtet. An dem Tag ging ich nicht mehr zur Arbeit,
sondern wurde von Kollegen ins Revier gebracht. Nach einigen Tagen wurde ich in ein Zimmer gebracht, in dem ein
SS‐Arzt arbeitete. Ich wurde von einigen Ärzten untersucht, unter anderem von einem in SS‐Uniform.
Am nächsten Tag oder zwei Tage später (ich weiß es nicht mehr genau), wurde ich verschiedenen Eingriffen
unterzogen. Ich kriegte einige Spritzen ins Bein, über das Knie. An den nächsten Tagen machte man mir Umschläge
aus einer dunklen Flüssigkeit, bis ich hohes Fieber bekam. Mein Bein schwoll an und wurde rot‐blau, danach bildeten
sich eitrige Wunden am Fuß, über dem Knöchel, unter dem Knie und unter dem rechten Arm. Der Krankenpfleger,
ein Häftling, den wir „Dziadzia Jasza” [russisch: Onkel Jasza] nannten, sagte mir, dass es „Phlegmone“ sei. Laut
Gerüchten im Revier machten Nazi‐Ärzte gerade Experimente in Bezug auf diese Krankheit.
JAN RYSZARD SEMPKA
Alle Kranken, die mit mir im Raum waren, hatten ähnliche eitrige Wunden. Es fehlte an Platz, so lagen wir zu dritt,
zu viert auf einer Pritsche. Von Einschlafen konnte überhaupt keine Rede sein, weil der Eine den Anderen ständig
verletzte. Eine zusätzliche Plage waren Läuse. Wir lagen nackt, ohne Unterwäsche, nur mit einer Decke zugedeckt.
Unter unsere Verbände, die aus Papier gewickelt waren, gelangte Ungeziefer, so quälte uns neben Schmerzen auch
Juckreiz. Die Sterberate kranker Häftlinge war sehr hoch. Es starben einige Häftlinge, die mit mir im Bett lagen, auf
die Plätze warteten schon die nächsten Kranken. Unter solchen Umständen lag ich bis zu den ersten Apriltagen im
Revier, als das Lager evakuiert wurde.
In der Nacht vor der Evakuierung schlief niemand. Funktionshäftlinge liefen aufgeregt hin und her. Laut Gerüchten
sollten die gesunden Häftlinge zu Fuß nach Mauthausen gehen, die Kranken dagegen sollten vernichtet werden.
Unter den Kranken im Revier brach Panik aus. So ging es bis zur Morgendämmerung.
Morgens kamen LKWs (angeblich gab es auch Pferdewagen) auf das Lagergelände und man fing an, die kranken
Häftlinge darauf zu laden. Dann wurden wir zur Bahnstation in Melk gebracht, wo ein Güterwagen stand. Häftlinge,
die laufen konnten, stiegen selbständig in den Waggon ein. Die anderen Kranken wurden wie Säcke hineingeworfen.
In den verschlossenen Waggons wurden wir zwei Tage und Nächte ohne Essen und Trinken transportiert. Öfters
standen wir auf Nebengleisen. Am dritten Tag sehr früh morgens hielt der Zug an der Bahnstation Mauthausen an.
Wir wussten immer noch nicht, was man mit uns vorhatte. Die Waggons wurden von bewaffneten Wachmännern
(nicht nur SS‐Männer) umstellt und wieder wurden die kranken Häftlinge unter Schreien aus den Waggons auf den
Bahnsteig geworfen. Es regnete und es war sehr kalt. Aus unserem Waggon wurden einige nicht mehr lebende
Häftlinge geworfen, auch aus den anderen Waggons. Von der Station wurden die kranken Häftlinge mit LKWs und
Pferdewagen ins Lager gebracht. Aufgrund weniger verfügbarer Transportmittel dauerte der Transport einige
Stunden lang. Als Erste fuhren Häftlinge, die sich bewegen konnten ins Lager. Andere Kranke warteten, bis man sie
auf einen LKW oder Pferdewagen lud. Nach einigen Stunden auf dem nackten Boden war ich ganz erfroren, ich sah
einen bekannten Häftling, der bei der Verladung der Kranken auf einen LKW half. Ich rief kraftlos nach ihm. Der
Bekannte trug mich mit einem anderen Häftling zu einem LKW. Nach dem Bad im Waschraum, das bei der Aufnahme
ins Lager immer stattfand, wurden die nackten Häftlinge, die noch laufen konnten, zum Revier getrieben. Andere,
wie ich, wurden mit einem Vierradkarren von anderen Häftlingen zum Revier gebracht. Die Umstände waren
grausam. Im Revier waren einige Tausend Kranke. Kranke Häftlinge kriegten nur die Hälfte der Hungerrationen, die
die Häftlinge im Zentrallager kriegten. Auf Pritschen, die für eine Person bestimmt waren, lagen wir zu viert. Ich
wurde ganz nach unten gelegt. Neben mir lag der ein Jahr jüngere, d.h. 15‐jährige Józio Rosołowski, dessen älterer
Bruder im Lager gestorben war.
Wie ich nach der Befreiung erfuhr, ist es nicht zur Vernichtung der Häftlinge in Melk gekommen. Nachdem die
schwer Kranken nach Mauthausen abtransportiert worden waren, führte man die übrigen Kranken zu Fuß zum
Zentrallager. Viele haben das Ziel nicht erreicht. Erschöpfte Häftlinge, die nicht mehr imstande waren,
weiterzulaufen, wurden von den SS‐Männern getötet. Die im Lager verbliebenen Häftlinge wurden am 15. April in Eile
erst mit einem Güterzug, dann mit einem Schiff auf der Donau nach Linz und dort in das Lager in Ebensee
transportiert.
Eines Tages (das genaue Datum weiß ich nicht mehr) starb einer der Häftlinge, der mit uns auf der Pritsche lagen.
Wir haben es dem Pfleger nicht mitgeteilt, so konnten wir eine zusätzliche Nahrungsration kriegen, die wir unter uns
teilten. Der schreckliche Hunger wog stärker als die Tatsache, dass eine Leiche neben uns lag. Das dauerte ca. drei
Tage lang.
Gegen Mitte April verbreitete sich im Revier die Nachricht, dass einige der kranken Häftlinge ins Zentrallager
abtransportiert werden, wo sie größere Essenrationen kriegen sollten, damit sich ihr Gesundheitszustand
verbessere. Das war ein Hoffnungsschimmer für uns. Wir hofften, doch bis zur Befreiung überleben zu können, umso
mehr, da wir wussten, dass sich dem Lager von einer Seite russische Truppen, von der anderen Amerikaner näherten.
Unser Pfleger war ein Pole aus Warschau – ein alter Häftling, dessen Nummer nur wenig größer als zweitausend war.
Ich erinnere mich noch, dass er vor seiner Verhaftung in der Wspólna Straße wohnte. Den Namen weiß ich leider nicht
mehr. Das Revier, in dem ich war, befand sich unter dem Zentrallager. In der Zeit, in der man den Transport einiger
Häftlinge „nach oben“ (ins Zentrallager) ankündigte, kam unser Pfleger zu uns und sagte mir und Józio Rosołowski,
dass wir uns nicht melden sollen, wenn man unsere Nummern zum Transport zwecks besserer „Ernährung“ nennt.
Er sagte uns auch, dass er unsere Nummern gegen die Nummern toter Franzosen getauscht hatte. Diese Information
sowie die Tatsache, dass beim Umzug der Kranken aus dem Revier die Blöcke von SS‐Männern umstellt waren,
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Häftlinge bei der Arbeit im KZ Auschwitz−Birkenau, 1942−1943 (IPN)
zeugten von einem anderen Zweck des Umzugs als einer besseren Ernährung für die kranken Häftlinge. Erst nach der
Befreiung erfuhren wir, dass die Mitte April aus dem Revier geholten Häftlinge vergast worden waren.
[…] Das Lager Mauthausen wurde am Vormittag des 5. Mai 1945 durch die amerikanische Armee befreit. Vom 5.
bis zum 7. Mai regierten nationale Häftlingskomitees im Lager. Erst am 7. Mai übernahmen amerikanische Truppen
die Führung. Sofort wurde medizinische Hilfe organisiert. Schwerkranke wurden zum Zentrallager gebracht, wo im
Block Nummer 130 das Krankenhaus der amerikanischen Armee eingerichtet wurde. An diesem Tag wurde ich auf
einer Trage mit einem Sanitätswagen des Amerikanischen Roten Kreuzes gefahren. Ich war extrem erschöpft, ich
konnte nicht mal selbständig essen. Bei einer Körpergröße von ca. 174 cm war ich nur 34 kg schwer. Ich wurde u.a.
von zwei Kollegen im Revier gefüttert, die sich selbständig bewegen konnten: Zbyszek Wąsowicz, mit dem ich seit
meiner Geburt in einem Haus in der Zakroczymska Straße 1 gewohnt hatte und mit dem ich in Warschau gefangen
genommen worden war; und Zdzisław Piskorek, mit dem ich im Warschauer Aufstand gekämpft hatte und den ich
erst im Revier in Mauthausen wieder traf.
Am 9. Mai 1945 hatte ich eine Bluttransfusion und eine Beinoperation. Das Bein wurde an fünf Stellen operiert,
indem Drains eingeführt wurden. Neben der Phlegmone wurde bei mir eine Beschädigung des rechten Auges (0,1
Sicht) und eine akute Entzündung des Brustfells mit Erguss festgestellt, daher hatte ich bis Anfang Juni über 39oC
Fieber und man musste mir aus der rechten Lunge Wasser abführen. Mein Leben verdanke ich nur dieser sehr
intensiven Therapie […].
Ich blieb bis Mitte Juli 1945 im Krankenhaus, d.h. bis zur Okkupation dieses Teils Österreichs durch russische
Truppen infolge der Festlegung der Demarkationslinie an dem Donau‐Ufer, an dem Mauthausen lag. Nach dem
Aufwachen mussten wir feststellen, dass das amerikanische Personal nicht mehr da war, und das stattdessen
russische Soldaten im Krankenhaus waren. An diesem Tag wurden aus der umliegenden Gegend Pferdewägen geholt
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und zig Kranke wurden einige Kilometer weiter ins Dorf Katzdorf gebracht. Dort wurden wir in einem einstöckigen
Gebäude untergebracht, in dem früher ältere Personen gewohnt hatten. Die Lage der Kranken änderte sich
vollkommen. Wir blieben ohne ärztliche Hilfe und ohne normale Ernährung. Zum Frühstück und zum Abendessen
kriegten wir ein wenig Vollkornbrot, ein Stück Margarine und Marmelade, manchmal einige Scheiben Wurst. Zu
Mittag aßen wir ein bisschen Suppe und Kartoffeln mit Schalen. Unser „Betreuer” war ein russischer Soldat, ein
Feldwebel, der alle paar Tage von Mauthausen kam, wo auf dem Lagergelände russische Truppen stationiert waren.
Unter den Kranken war ein Arzt, Dr. Wartanowicz, ein Pole jüdischer Herkunft, der aus dem Krankenhaus in
Mauthausen verschiedene Arzneimittel mitgenommen hatte, so konnte er den Bedürftigen helfen. Es waren auch
noch zwei österreichische Krankenschwestern dabei.
Mitte August wurde ein Transport nach Polen angekündigt. Obwohl ich mich auch mit Krücken nur schwer
bewegen konnte, meldete ich den Wunsch an, nach Polen zurückzukehren. Am 18. oder 19. August (das genaue
Datum weiß ich nicht) kamen drei Traktoren mit Anhängern, auf denen Bretter zum Sitzen eingebaut waren. Jeder,
der nach Polen fahren wollte, kriegte ein halbes Kilo Vollkornbrot, ein Viertelstück Margarine und ca. 150 Gramm
Wurst. Die Traktoren brachten uns zum Bahnhof Amstetten, wo wir in zwei leere Güterwagen einstiegen. In die
Heimat zurück kehrte ich mit Krücken, einer ernsthaften Sehnenkontraktur unter dem rechten Knie, einem Verband
am rechten Fuß, ohne den rechten Schuh, im Häftlingsanzug, einer alten wattierten Jacke und mit einer zu kleinen
Ballonmütze, obwohl es mitten im Sommer war. Mein ganzer Besitz war eine Decke, die ich aus dem Krankenhaus in
Mauthausen mitgenommen hatte, sowie ein Pappkarton mit Verbandsstoff, unwichtigen Kleinigkeiten und meiner
Patientenkarteikarte aus dem amerikanischen Krankenhaus.
Der Weg in die Heimat war sehr schwer. Die ersten paar Tage fuhren wir mit offenen Güterwaggons, die öfters auf
Nebengleise gestellt, inmitten von Feldern angehalten oder an andere Zügen angekuppelt wurden. Essen mussten
wir auf eigene Faust organisieren. Da ich mich kaum bewegen konnte, war ich auf meine Mitgenossen angewiesen.
Erst in Bratislava wurden für die aus dem Lager zurückkehrenden Polen Personenwaggons bereitgestellt. Wir kamen
zum Grenzpunkt in Petrovice. Dort stiegen wir in polnische Waggons ein und kamen nach Dziedzice. Die Reise bis zur
Repatriierungsstelle in Dziedzice dauerte sechs Tage.
In Dziedzice wurde ich mit anderen Schwerkranken in einer Einrichtung des Polnischen Roten Kreuzes
untergebracht. Nach einigen Nächten auf den Brettern des Güterwaggons durfte ich eine Nacht in einem Bett mit
Bettwäsche schlafen und normal essen. Da sich hier schwerkranke Menschen befanden, die nicht persönlich zum
Repatriierungsbüro gehen konnten, wurden die Repatriierungsformalitäten an Ort und Stelle geregelt. Ein Beamter
mit einem Fotografen kamen zu der Einrichtung und es wurden die notwendigen Dokumente ausgestellt. ich wollte
möglichst schnell zu meiner Familie fahren. Ich war noch sehr schwach, obwohl ich inzwischen schon bis auf 42 kg
zugenommen hatte. Ich erhielt eine Bescheinigung für die kostenlose Reise zu meiner Familie in der Nähe von Dęblin
und 100 Zloty Beihilfe, für die man damals höchstens einige Zigarettenschachteln kaufen konnte.
Ich beschloss schon am nächsten Tag zu meiner Familie in der Nähe von Dęblin zu fahren. Ich hoffte, dort meine
Mama und Geschwister zu treffen, weil wir im Lager Gerüchte gehört hatten, dass Mütter mit Kleinkindern und
ältere Menschen aus Pruszków in das Generalgouvernement deportiert worden waren, in der Regel in die
ehemalige Krakauer Woiwodschaft. Zu der Zeit, als ich nach Polen kam, galten keine Zugfahrpläne und die Züge
waren so überfüllt, dass während der Fahrt Leute sogar auf den Dächern und auf den Stufen, die zu den Waggons
führten, saßen. Aus Dziedzice fuhr ich mit einem Zug nach Posen und musste in Koluszki in einen Zug nach Lublin,
über Radom und Dęblin umsteigen. In Koluszki wartete eine große Menschenmenge auf Züge in unterschiedliche
Richtungen, weil dort ein Verkehrsknotenpunkt war. Man konnte keinen freien Platz im Warteraum finden, also
setzte ich mich auf den Boden und lehnte mich an eine Wand an. Wie ich schon erwähnt habe, war ich sehr
schwach, mit Muskelschwund und konnte nicht mal aufstehen. Ich schämte mich jedoch, um Hilfe zu bitten, so saß
ich mehrere Stunden lang, ohne etwas essen oder die Toilette nutzen zu können. Ein Ehepaar mittleren Alters
beobachtete mich und begann ein Gespräch mit mir. Als sie erfuhren, dass ich aus dem Konzentrationslager
zurückgekehrt war, boten sie mir eine Suppe aus der Zugkantine an. Nachdem der Zug in Lublin angekommen war,
halfen sie mir, auf einer Waggonstufe Platz zu nehmen. Nach einiger Zeit, vielleicht nach einer Stunde oder mehr,
wurden wir auf Bitte der neben mir stehenden Passagiere in das durch russische Soldaten besetzte Abteil
eingelassen.
Je näher das Ziel meiner Reise war, desto mehr machte ich mir Sorgen um meine Familienmitglieder. Seit dem
Aufstand hatte ich keine Nachricht von ihnen erhalten.
21
KONZENTRATIONSLAGER
22
Die Reise war lang, mit vielen Pausen auf Feldern und in Wäldern, und ich war sehr hungrig. So gelangte ich nach
mehreren Stunden nach Zajezierze – eine Station von Dęblin entfernt.
Meine Rückkehr in mein Heimatland war leider nicht glücklich. Da mein Aussehen damals schon nicht mehr üblich
war, fragte mich der Bahnhofsvorsteher interessiert, wer ich bin und zu wem ich fahre. Ich habe von ihm erfahren,
dass meine vier nächsten Verwandten tot waren. Diese tragische Nachricht bedrückte mich sehr. Als ich das Haus
meiner Großeltern erreichte, konnte mich die Mutter meiner Mutter, die mich ein Jahr lang nicht gesehen hatte,
selbst aus wenigen Metern Entfernung nicht mehr erkennen, so schrecklich sah ich aus. Ich erfuhr, was am 31. August
1944 passiert war, nachdem ich mich von meiner Mama und meinen jüngeren Schwestern in der Stawki Straße in
Warschau getrennt hatte. Die Deutschen holten aus der Menschenkolonne, in der meine Mutter und Schwestern
standen, eine große Gruppe alter, kranker Personen, auch Kinder, und kündigten an, diese mit Autos in ein Lager in
Pruszków zu bringen. Erst nach der Befreiung stellte sich heraus, dass alle auf einem Fabrikgelände in der Okopowa
Straße ermordet wurden. Unter diesen Menschen war meine Mama Anna, damals 44 Jahre alt und meine viereinhalb
‐ und zwölfjährigen Schwestern Basia und Wandeczka.
Die Deutschen ermordeten auch meine nächsten Nachbarn […]. Fast alle übrigen Nachbarn wurden in
Konzentrationslager gebracht, wo viele von ihnen umgebracht wurden. […] Die Frauen wurden ins
Konzentrationslager in Ravensbrück abtransportiert. Zu dieser Gruppe gehörte auch meine 19‐jährige, ältere
Schwester Maria. […]Ich erfuhr auch, dass mein älterer Bruder Wacław am 10. September 1944 beim Warschauer
Aufstand auf dem Platz der Drei Kreuze [Plac Trzech Krzyży] umgekommen war. Nur mein Vater kam nicht ins
Konzentrationslager, weil er sich beim Ausbruch des Aufstandes in der Nähe der Złota Straße befand und nicht mehr
zurück nach Hause in die Altstadt konnte. Nach dem Aufstand wurde er in die Gegend um Opoczno gebracht […].
Häftlinge des KZ Mauthausen bei der Arbeit, Datum unbekannt (AAN)
JAN RYSZARD SEMPKA
Häftlinge beim Barackenbau auf dem Gelände des KZ Groß−Rosen, 1941 (AMGR)
Granit−Steinbruch in der Nähe des KZ
Groß−Rosen, Datum unbekannt (AMGR)
GHETTOS. DIE VERNICHTUNG VON JUDEN UND ROMA
24
Ghettos. Die Vernichtung
von Juden und Roma
ast zur gleichen Zeit wie Hitlers Machtergreifung begann auch die Diskriminierung von Personen, die in der
faschistischen Lehre als „Untermenschen“ galten. In diese Kategorie fielen Juden, Zigeuner und später auch
Slawen. Im Jahre 1933 wurden sie jeglicher Staatsämter enthoben und die Nürnberger Rassengesetze, die eine
Aufteilung in Arier und Nichtarier schafften, beraubten letztere jeglicher Bürgerrechte. Sinti und Roma, Juden und
Slawen waren als rassenfremdes und minderwertiges Element zur Ausrottung vorgesehen. Man versuchte sie zur
Emigration zu zwingen, beraubte sie ihres Vermögens, schikanierte sie.
Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, wohnten in der Republik Polen über 3,2 Millionen Juden (damals etwa 8 % aller
Einwohner). Schon während des Polenfeldzugs im September kam es zu Ermordungen jüdischer Bevölkerung durch
einmarschierende deutsche Truppen. Dies war jedoch nur der Anfang von weiteren Maßnahmen, die zur Ausrottung
eines ganzen Volkes führen sollten. Ende Oktober 1939 wurde der Entschluss gefasst, 550.000 Juden aus den ins
Reich eingegliederten Gebieten ins Generalgouvernement GG auszusiedeln. Man beschloss auch, diese
Bevölkerungsgruppe in abgesonderten jüdischen Stadtvierteln zu konzentrieren. Vor der Aussiedelung in die Ghettos
wurden die Juden auf andere Weise schikaniert: Man führte den Arbeitszwang ein, verbot Umzüge ohne behördliche
Genehmigung, untersagte nachts den Aufenthalt außerhalb von Häusern und befahl ihnen unter Androhung
schwerer Gefängnisstrafen, eine Kennzeichnung mit Davidstern zu tragen. Eigentumsrechte wurden abgeschafft,
Schulen wurden geschlossen und religiöse Praktiken verboten. Ab November 1939 wurden in Städten Judenräte
berufen. Sie mussten die Verordnungen der deutschen Behörden ausführen. Man begann damals auch mit der
Schließung der jüdischen Viertel und der Bildung von Ghettos.
Bis Ende 1939 wurden fast alle Juden aus dem Reichsgau Danzig‐Westpreußen ins GG ausgesiedelt. Mit den
Zwangsaussiedlungen gingen gelegentlich Hinrichtungen von Personen einher, die Widerstand leisteten, zu fliehen
versuchten oder Befehle zu langsam ausführten.
Im Wartheland gestaltete sich die Lage anders. Hier wurden Ghettos gebildet: das erste in Piotrków Trybunalski
(Oktober 1939), das größte – in Litzmannstadt (Łódź). Doch Ghettos gab es auch in anderen, kleineren Orten. Von
1939 bis 1940 wurden über 380 000 Menschen im Wartheland in Ghettos eingesperrt. Anders war die Situation im
Regierungsbezirk Kattowitz, wo 100 000 Juden wohnten. Bis 1942 gab es dort keine Ghettos, erst im Jahre 1942
wurden dort einige geschaffen.
Nach Einführung des Arbeitszwangs im Jahre 1939 wurden spezielle Zwangsarbeitslager für Juden (auch Julag ‐
Judenarbeitslager genannt) geschaffen. Die meisten von ihnen entstanden im GG. Sie wurden von
Verwaltungsbehörden, Polizei und der SS angelegt. Das größte Lager dieser Art entstand in Skarżysko‐Kamienna im
Umkreis einer Waffenfabrik. Diese Lager wurden mit Stacheldraht umzäunt und es herrschte Terror in ihnen. Sie
wurden in den Jahren 1942‐44 sukzessive aufgelöst.
Grundlage für die Errichtung von Ghettos im GG war die Verordnung des Generalgouverneurs Hans Frank vom 1.
Oktober 1940 über Aufenthaltsbeschränkungen für Juden. Im Jahre 1941 wurden die meisten Kleinstadtghettos
liquidiert, während deren Bewohner in verschiedene Ghettos in Großstädten umgesiedelt wurden. Diesen
deportierten Juden wurden keine Wohnungen zur Verfügung gestellt; die Aufgabe, eine Unterkunft für sie zu finden,
wurde auf die Judenräte abgewälzt.
Ghettos waren vom Rest der Welt durch hohe Mauern abgegrenzt. Mit der Zeit wurden sie zu hermetisch
abgeriegelten Vierteln, in denen hoffnungslose Überbevölkerung herrschte und in denen es an Nahrung und
Medikamenten fehlte.
Am 15. Oktober 1941 wurde die Todesstrafe für das eigenmächtige Verlassen des Viertels und für Hilfeleistung beim
Verstecken von Juden eingeführt. Polen war das einzige Land, in dem eine solch drastische Strafmaßnahme galt. Die
in den Ghettos geschaffenen Bedingungen erfüllten den Zweck, das jüdische Volk so schnell wie möglich auszurotten.
Die Deutschen planten anfangs, jüdische Industriebetriebe abzuschaffen, doch aufgrund der Bedürfnisse der
Wirtschaft des Dritten Reichs wurde ein Plan entworfen, gemäß dessen unbezahlte Arbeitskräfte und bestehende
Firmen durch deutsche Geschäftsleute genutzt werden sollten. Anfangs waren die deutschen Firmen lediglich
F
GHETTOS. DIE VERNICHTUNG VON JUDEN UND ROMA
Auftraggeber, ab 1941 wurden große kapitalistische Betriebe, die hunderte von kleineren Betrieben übernahmen, zur
dominierenden Produktionsform. Sklavenarbeit war symptomatisch für diese Großbetriebe. Den deutschen Behörden kam
es darauf an, die unbezahlte Arbeitskraft so effektiv wie möglich zu nutzen, deshalb wurden als Anreiz für die Arbeiter sogar
einige Verbote bezüglich Bildung, Kultur und Religion aufgehoben. Die anstrengende, auszehrende Arbeit, der Mangel an
Lebensmitteln, die Konzentration einer großen Menschenmenge auf einem kleinen Gelände führten zum Ausbruch von
Epidemien ansteckender Krankheiten. Die Sterblichkeitsrate im Warschauer Ghetto aufgrund von Hunger, Krankheiten und
allgemeiner körperlicher Auszehrung war erschreckend. Menschen starben massenweise auf den Straßen.
Die Jahreswende 1941‐42 sollte auch eine „Endlösung der Judenfrage“ bringen. Während der Wannseekonferenz
wurde die Vernichtung der europäischen Juden beschlossen. Der Plan zur Ermordung aller im GG lebenden Juden war
unter dem Decknamen „Aktion Reinhardt“ bekannt. Die Aktion wurde systematisch und in mehreren Etappen
durchgeführt und in ihrer Folge wurden immer mehr Ghettos gänzlich aufgelöst. In Ballungsräumen, wo die Zahl der
Juden groß war (Warschau) wurde der Prozess zeitlich ausgedehnt. Die Deutschen zwangen die Judenräte Personen
zu wählen, die dann mit dem nächsten Spezialtransport zu den speziell für diesen Zweck errichteten
Vernichtungslagern gelangten. Das erste dieser Lager war das Ende 1941 gegründete Lager in Kulmhof (Chełmno nad
Nerem). Transporte von Juden, vor allem derer aus dem Wartheland, erreichten das Lager von Dezember 1941 bis
April 1943 und im Juni und Juli 1944. Weitere, ähnliche Stätten entstanden dann in Bełżec, Sobibor und Treblinka. Als
Sofortvernichtungslager dienten auch die Kommandos Auschwitz‐Birkenau (Brzezinka) und Majdanek. Zu diesen
Lagern brachte man sowohl Juden aus Ghettos in Polen, als auch Juden aus Westeuropa. In den Lagern wurde immer
nach demselben, von vornherein festgelegten Prinzip gehandelt. Nach der Zugreise, normalerweise unter
schrecklichen Bedingungen, wurden die Deportierten an der Rampe einer Selektion unterzogen. Junge und gesunde
Menschen, mit seltenen Fertigkeiten wurden ausgelesen, während die anderen auf einen Platz geführt wurden, wo
sie ihre Sachen zurücklassen und sich vor dem „Bad“ ausziehen mussten, welches sich als Gaskammer entpuppte. Zur
Tötung der Opfer wurden Abgase von Verbrennungsmotoren genutzt, aber auch – wie in Birkenau und Majdanek –
das Giftgas Zyklon B. Der ganze Prozess dauerte etwa 20 Minuten. Die Leichen wurden danach verbrannt. Sowohl bei
Bedienung der Gaskammern als auch bei der Leichenverbrennung wurden jüdische Häftlinge eingesetzt. Ins Lager
Sobibor wurden Opfer bis 1942 eingewiesen, nach Bełżec – von März bis November 1942, nach Treblinka – von Juli
1942 bis November 1943. Diese Lager wurden Ende 1943 oder Anfang 1944 beseitigt. Alle Anlagen und Gaskammern
wurden abmontiert, die Baracken und Zäune vernichtet und in Sobibor bepflanzte man sogar das Lagergelände mit
Bäumen. Am längsten hingegen – bis 28. November 1944 – wurde die Gaskammer in Birkenau betrieben. Man schätzt,
dass die Aktion Reinhardt 1,7 bis 2 Million Juden das Leben kostete.
Bis Ende 1943 wurden fast alle größeren Ghettos im GG aufgelöst. Im März 1943 wurde das Ghetto in Krakau liquidiert
und im April desselben Jahres – das Warschauer Ghetto. Im August folgte das Ghetto in Białystok. Nach der Beseitigung
der Ghettos im Jahr 1942 war im Wartheland bis August 1944 nur noch ein Ghetto in Betrieb – in Litzmannstadt (Łódź).
Dieses war ein exzellent organisiertes Arbeitslager, dass dank Sklavenarbeit unglaubliche Gewinne einbrachte.
Die letztendliche Vernichtung der Juden erfolgte während der Evakuierung der KZs vor der sich nähernden
Ostfront. Man glaubt, dass sich vor der Evakuierung in den Lagern noch ungefähr eine halbe Million Juden befanden,
von denen aber 60% die Todesmärsche nicht überlebten.
Leider ist es unmöglich die genaue Anzahl der jüdischen Opfer festzulegen. Die Schätzungen des Historikers
Czesław Madajczyk scheinen am zuverlässigsten zu sein. Er nimmt an, dass während des vom Dritten Reich
organisierten Völkermords (Shoah) 2,7 Millionen polnische Juden ihr Leben verloren haben, wovon 2 Millionen in
verschiedenen Lagern, 500 000 ‐ infolge der Errichtung, des Betriebs und der Zerstörung von Ghettos, und die
restlichen während Razzien und immer wieder stattgefundenen Liquidierungsaktionen starben. Es besteht kein
Zweifel darüber, dass nur 2‐3% der polnischen Juden den Holocaust überlebten.
Zur gleichen Zeit als der Völkermord an den Juden stattfand, führten die Deutschen ihren Plan der Vernichtung der
Roma durch. Nach Ausbruch des Krieges mit Polen wurden Gruppen von Sinti und Roma nach Polen deportiert. Hier
wurden sie zu Schwerarbeit gezwungen, später wurden sie in Konzentrationslager gesperrt. Laut Verordnung
Himmlers sollten Zigeuner als eine Gruppe, die durch eine „angeborene Kriminalität“ gekennzeichnet war, total
vernichtet werden. Man ermordete sie dort, wo sie gefangen genommen wurden, sperrte sie in Ghettos ein,
transportierte sie zu Massenvernichtungsstätten. In Auschwitz‐Birkenau wurde für sie ein spezielles Lager errichtet,
dass nach einem Aufstand der Häftlinge im Jahr 1944 letztendlich liquidiert wurde, wobei alle Roma im Lager getötet
wurden. In Auschwitz sind über 21 000 Sinti und Roma aus Deutschland und Polen gestorben.
25
GHETTOS. DIE VERNICHTUNG VON JUDEN UND ROMA
26
Nicht schematische
Erinnerungen des
Großvaters
Dieser Text ist die Niederschrift von Gesprächen des Autors Piotr Wyrzykowski mit seinem
Großvater Tomasz Miedziński.
Tomasz Miedziński wurde 1928 in Horodenka, Woiwodschaft Stanisławów, auf dem Gebiet
der heutigen Ukraine, in einer jüdischen Familie geboren. Während der deutschen
Okkupation war er wegen seiner Nationalität verschiedenen Arten von Unterdrückung
ausgesetzt. Er war im Getto, im Lager für die Juden in Lwów (Lemberg), er musste im
Verborgenen leben. Im Holocaust verlor er alle seine nächsten Angehörigen.
PIOTR WYRZYKOWSKI
Opa, Du warst ein kleiner Junge, als der Krieg ausbrach. Erinnerst Du dich an deinen Geburtsort, das Städtchen
Horodenka, an Deine Familie, die Schule, Kollegen...
Horodenka, eine Stadt in der Woiwodschaft Stanisławów, hatte damals ca. 12 000 Einwohner und war mit ca. 2 000
Polen, ca. 5 000 Ukrainer und ca. 4 5 00 Juden eine Dreivölkerstadt. Es wohnten dort auch ca. 300 Menschen anderer
Nationalitäten – Russen, Rumänen, Armenier, Slowaken und Roma. In diesem Schmelztiegel der Nationalitäten
lebten wir im Allgemeinen friedlich und ruhig bis zum Jahr 1939, als die Sowjetunion diese Gebiete besetzte. Bis die
Russen kamen, besuchte ich eine polnische und dann eine ukrainische Schule. Zu Hause sprachen wir Jiddisch, ich
war also beinahe von Geburt an dreisprachig. Mein Vater Józef, war Tischler, meine Mutter Klara war Schneiderin. Ich
hatte einen älteren Bruder, eine ältere Schwester und zwei jüngere Brüder. In Horodenka lebten auch die Großeltern
Kupferman und ca. 50 weitere nähere Familienangehörige.
Nach dem Überfall Nazi‐Deutschlands auf die Sowjetunion wurde die Stadt 1941 von den Ungarn als Verbündete
der Deutschen und Ende August desselben Jahres von den Deutschen selbst besetzt. Sofort fing man an, Juden zu
verfolgen, Vermögen zu konfiszieren, von Ärzten Arbeitswerkzeuge zu beschlagnahmen; Schulen wurden
geschlossen, es wurde ein mit Stacheldraht umzäuntes jüdisches Stadtviertel gebildet. Unser Haus befand sich in
diesem Stadtviertel, es wurden bei uns einige Familien einquartiert. Männer ab dem Alter von 14 Jahren und Frauen
ab 15 Jahren wurden gezwungen, ein Band mit dem Judenstern zu tragen. Das Stadtviertel verlassen durften nur
diejenigen, die auf der arischen Seite arbeiteten. Es gab immer mehr Schwierigkeiten mit der Verpflegung. Anfangs
konnten wir damit noch zurechtkommen. Wir hatten etwas Mehl, Kartoffeln und Sonnenblumenöl vorrätig. Der
Vater arbeitete als Tischler in Militärwerken und durfte jeden Tag einen Topf Suppe nach Hause mitnehmen.
Verhaftet wurde hauptsächlich die jüdische intellektuelle Elite sowie ehemalige sowjetische Beamte, manche wurden
nach Kołomyja (Kolomea) abtransportiert und dort getötet. So lief es bis Dezember 1941.
Opa, ich weiß, dass das für Dich schreckliche Erinnerungen sind, und dass Du, als Du nur wenige Jahre alt warst,
wirkliches Grauen gesehen hast. Ich weiß auch, dass Du bis heute Alpträume von den damaligen Ereignissen hast.
Fühlst Du dich jetzt imstande, davon zu erzählen?
Zwischen August und Dezember fanden, wie ich schon sagte, grauenhafte Ereignisse statt. Ukrainische
Nationalisten beherrschten die Verwaltungs‐ und polizeilichen Behörden und organisierten Judenpogrome in
Städtchen und Dörfern um Horodenka, z.B. in Niezwiska, Łuki, Woronowo, Podwerbce, Żywaczów; dort lebende
Juden wurden mit Stacheldraht gefesselt und im Fluss Dnister ertränkt. Man ermordete Leute in Kosów, Kuty,
Obertyn, Jaremcze, Śniatyń. Andere wurden gezwungen, in das Getto in Horodenka oder Kołomyja zu ziehen.
Am 3. Dezember 1941 wurde von den Deutschen der Befehl erlassen, dass sich am nächsten Tag um 7 Uhr alle
Juden zwecks einer Typhus‐Impfung bereitstellen sollen. Auf dem Platz vor der Synagoge versammelten sich über
2700 Personen, ganze Familien. Der Platz wurde von Deutschen und ukrainischen Polizisten umstellt, die alle Leute
in die Synagoge getrieben haben. Dort wurden sie unter schrecklichen Umständen bis zum nächsten Morgen
festgehalten und dann mit LKWs zum Dorf Siemakowce abtransportiert, wo man sie ermordete. Darunter befand
sich unsere ganze große Familie. Uns – meinen Vater, meinen älteren Bruder und mich, versteckte meine Mutter im
Dachboden, unter Brettern. Sie meinte, dass man ihr und meinen zwei jüngeren Brüdern doch nichts antun wird.
Du erwähntest, dass sich Dein jüngerer Bruder, Szmulek, der Dziunek genannt wurde, retten konnte. Wie war es
möglich, dass er das Massaker überlebte?
Ich kenne die Einzelheiten von Dziunek. Nach der Ankunft am Richtplatz wurde allen befohlen, sich bis auf die
Unterwäsche auszuziehen und ca. 50 – 60 Meter über den Schnee bis zu ausgehobenen Gräben zu laufen. Als meine
Mutter sah, dass jeder mit einem Schuss in den Hinterkopf getötet wird, stieß sie beide Jungen in den Graben hinab
und sprang selbst in den Graben, um sie mit ihrem Körper zuzudecken. Es ist erwähnenswert, dass Dziunek damals
elf Jahre alt und Mordechaj, den wir Martek nannten, neun Jahre alt war. Meine Mutter und Martek wurden
erschossen, Dziunek dagegen nur verletzt. Er lag den ganzen Tag lang unter den Leichen, am Abend, als die Mörder
weg waren, kletterte er aus dem Graben heraus, zog irgendwelche Kleider und Schuhe an und ging in Richtung des
Dorfes, wo er Rettung suchte. Er verkroch sich in einer Heumiete, wo er am Morgen von einem Bauern entdeckt
27
GHETTOS. DIE VERNICHTUNG VON JUDEN UND ROMA
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wurde. Dieser gute Mensch nahm ihn mit nach Hause, gab ihm warme Milch, etwas zu essen und verbarg ihn drei Tage
lang. Erst nach dieser Zeit war Dziunek imstande zu sagen, wer er ist und dass in dem 7 ‐ 8 Kilometer entfernten Dorf
Kolanki, unser Verwandter, Bauer Hersz Gutman wohnt. Der Bauer fuhr ihn zu dem Verwandten, der ihn nach zehn
Tagen mit einem Pferdewagen nach Horodenka brachte. Es war ein richtiges Wunder. Das Kind stand unter Schock,
war durch Schüsse auf dem linken Ohr taub geworden, sprach einsilbig und erst nach mehreren Tagen konnten wir aus
ihm einen Bericht über die grausamen Ereignisse herausbekommen, die man damals umgangssprachlich „Aktion”
nannte. Dziunek wohnte mit uns im Getto. Neben ihm konnten sich sechs weitere Personen vor dem Massaker retten.
Nach wenigen Tagen kamen Gestapo‐Männer aus Kołomyja nach Horodenka und verhafteten fünf Personen, die sie
danach erschossen, damit keine Zeugen des Massakers in Siemakowce am Leben blieben. Dziunek haben wir
versteckt. Es wurde noch eine Person gerettet, die Ehefrau des ehemaligen rituellen Beschneiders.
Es ist August 1942, wie ging es Euch in dieser Zeit, was passierte mit Deiner Familie?
Mein älterer Bruder, Mojsze‐Mendeł (16 Jahre alt) schloss sich einer Gruppe junger Männer an, welche nach
Rumänien fliehen wollten, und zwar über die alte polnisch‐rumänische Grenze, die von Horodenka sechs Kilometer
entfernt war. Sie wollten nach Czerniowce, wo keine Judenverfolgung wie im Distrikt Galizien stattfand. Sie wurden
an der Grenze festgenommen und ins Getto in Kołomyja abtransportiert. Dort fanden wir ihn Ende August. Um die
Monatswende Juli/August 1942 wurde mein Vater mit einer Gruppe Handwerker auch ins Getto in Kołomyja
geschickt. Ich versteckte mich mit Dziunek in einem speziell errichteten unterirdischen Bunker. Mitte August wurde
nach einer weiteren „Aktion“, in der 450‐500 Menschen ermordet wurden, verkündet, dass Horodenka nun
„judenfreies“ Gebiet ist. Innerhalb von 48 Stunden sollten alle Überlebenden ein Stück Gepäck nehmen, Horodenka
verlassen und sich im Getto in Kołomyja vorstellen. Die Überlebenden sollten an einem Ort versammelt werden, um
die Durchführung der „Endlösung” zu erleichtern. Wir kamen um den 20. August 1942 ins Getto in Kołomyja . Wir
trafen dort meinen Vater und meinen älteren Bruder. Wir wohnten in einem Holzbau bei einem Verwandten meiner
Mutter ‐ Ziama Gutman, einem von den Deutschen geschätzten Juwelier. Mein Vater arbeitete bei der
Stadtkommandantur und rettete uns vor dem Hungertod, weil er von den Tischen in der Kantine Reste mitnehmen
durfte, die er dann ins Getto brachte. Mein Bruder machte sich wieder auf den Weg zur rumänischen Grenze und
verschwand danach spurlos. Man sagte, dass an der Grenze eine Gruppe von Flüchtlingen aus dem Getto in Kołomyja
erschossen wurde. An einem Sonntagmorgen Anfang September 1942 begann in Kołomyja eine grausame
Vernichtungsaktion, die auf der gesamten Strecke von Kołomyja bis Lwów parallel ablief. Auf dem riesigen Platz des
Vorkriegsunternehmen für Holzverarbeitung „PAGED" wurden zwischen 5000 und 6000 Menschen versammelt.
Manche Fachleute, darunter unser Vater, wurden von den Deutschen herausgezogen, insgesamt vielleicht 80‐90
Personen. Der Rest wurde unter Bewachung zum Bahnhof getrieben, wo Viehwaggons bereit standen, in die wir wie
„Gegenstände“ geladen wurden. Es spielten sich dort danteske Szenen ab, die Waggons wurden mit uns
vollgestopft. Dziunek und ich wurden getrennt und wir verloren einander aus den Augen. Man kann mit Worten
kaum beschreiben, was sich in den Waggons abspielte. Die Schreie der Kinder, das Jammern der Gefolterten und
Verletzten, der Gestank – man konnte seine Notdurft nur unter sich verrichten – gegenseitiges Zertrampeln, auf
Leichen Treten, Bilder wie in der Hölle oder noch schlimmer. Als der Zug beschleunigte, wurde das Gitter
aufgebrochen und Leute fingen an, hinaus zu springen, wobei einige unter den Rädern des Zuges umkamen oder von
Wachmännern erschossen wurden, die sich in jedem zweiten oder dritten Waggon befanden. Kurz vor Stanisławów
konnte ich auf den Armen der Anderen zum Fenster gelangen, durch das ich gewaltsam geschoben wurde und fiel
in die Tiefe. Doch wir waren zu nahe am Bahnhof, sodass ich keine Chance hatte, zu fliehen. Ich wurde wieder
gefangen genommen, doch in diesem Unglück hatte ich auch ein bisschen Glück. Und zwar passten die
zusammengetriebenen Menschen nicht mehr in die Waggons von Stanisławów, so wurden die Waggons aus
Kołomyja geöffnet und alle, auch ich, wurden dort hinein geschoben. Als ich mit Bahnlichtern im Hintergrund in der
Waggontür stand, hörte ich meinen Namen. Dziunek hatte ihn gesagt ‐ und das war eben mein Glück im Unglück.
Unsere Freude war riesengroß. Wir beschlossen, uns gemeinsam zu retten. Der Zug fuhr an den Stationen Halicz,
Bukaczowce, Chodorów, Bóbrka vorbei. An jeder Station wurden neue Waggons, voll mit Menschen, angeschlossen,
denn an diesem Tag fanden auf der gesamten Strecke bis nach Lwów „Aktionen“ statt. Wie ich später erfahren habe,
waren die Gaskammer in Bełżec der Zielort dieser Transporte. Nur wenige junge Männer wurden in das
Konzentrationslager in Lwów („Janowska”) verwiesen.
PIOTR WYRZYKOWSKI
Wir begannen, langsam zur Tür zu rücken, wo diesmal ein Brett aufgebrochen wurde, so dass zwei Personen auf
einmal in die Öffnung passten. Wir wurden beide nach draußen geschoben und fielen nach unten. Jeder von uns ging
dann zum anderen, bis wir uns trafen, es war dunkle Nacht. Dziunek war unversehrt, ohne jede Verletzung. Ich war
am Kopf verletzt und hatte aufgeschlagene Beine. Wir wuschen uns in einem Bach und gingen Richtung Wald mit der
Absicht, nach Lwów zu gelangen. Unsere Wanderung an der Grenze zwischen Leben und Tod dauerte zwei Tage und
zwei Nächte. Wir ernährten uns von Rüben und rohen Kartoffeln, die wir auf den Feldern finden konnten, sowie von
Brombeeren, die wir am Tag im Wald sammelten. Schließlich kamen wir durchgefroren und hungrig in Lwów an. Wir
gelangten ins Getto und hier fing eine weitere Etappe meines Lebens an – meine Zeit in Lwów.
Ihr wart also in Lwów, diese Stadt kanntest Du, wie Du früher mal erwähnt hast, nur aus Schulbüchern; Dein Vater
blieb in Kołomyja, vom älteren Bruder ist euch nichts bekannt. Was passierte weiter mit Euch?
In Lwów, wohin alle überlebenden Juden getrieben wurden, arbeitete man an der Absperrung des Gettos, ein
hoher Zaun als Sichtschutz war fast fertig. Das bedeutete, dass bald weitere Vernichtungsaktionen stattfinden
würden. In dem Getto gab es keinen freien Platz, wo man eine Unterkunft hätte finden können. Ich erfuhr, dass in
der Zamarstynowska Straße ein gescheiterter Lehrer aus Kołomyja ‐ Nachman Nusbaum, eine Gruppe von Jungen in
unserem Alter betreute, indem er ihnen eine Beschäftigung und Verpflegung organisierte. Wir suchten ihn auf, er
nahm uns auf und teilte uns eine Ecke im Keller des Gebäudes zu. Von Nachman, der sich für die Theorien von Korczak
und Makarenko begeisterte, erfuhren wir seit langem zum ersten Mal wieder richtige menschliche Gefühle. Erst als
ich älter war, konnte ich seine Haltung – Aufopferung und Güte richtig schätzen. Nachman verteilte auf gerechte
Weise Erwerbsarbeiten an die älteren Jungen, die gegen Bezahlung die Bewohner von Lwów bei Zwangsarbeitern
vertraten: ich arbeitete beispielsweise einige Male je zwölf Stunden lang in einer Gerberei an der Zamarstynowska
Straße, beim Aufräumen des Bahnhofs, beim Kohle‐Ausladen u.a. Der Verdienst in Höhe von ca. zehn Zloty pro Tag
ging in die gemeinsame Kasse und wurde in der Regel für Nahrung ausgegeben. Nachman organisierte uns jeden Tag
einen Eimer Suppe aus der sog. „Volksküche”, die Suppe verteilte er gerecht. Die jüngeren Kinder blieben vor dem
Bahndamm stehen und wenn ein Zug vorbeifuhr, wurden manchmal Kartoffeln, Karotten, Kohlköpfe oder
Brotstücke herausgeworfen. In der Regel wurden sie jedoch beleidigt und beschimpft. Wenn es ganz schlimm mit der
Verpflegung war, gingen die jüngeren Kinder betteln, doch konnten sie in dem hungernden Getto kaum etwas
kriegen.
So verging der September 1942. Am Monatsende, als ich in der Stadt mit einer Müllbeseitiger‐Brigade
stellvertretend arbeitete, wurde unsere gesamte 20‐Personen‐Gruppe von den Deutschen verhaftet und ins
„Janowska” – Lager gebracht. Erst dort spürte ich direkt, was die Wörter Judenfresser und Sadist bedeuten. In dem
Lager kamen jeden Tag mehrere Menschen um, auf dem Hinrichtungsplatz war der Sand öfters rot vom Blut. SS‐
Männer, die hier vor der Reise nach Majdanek oder Oświęcim „Praktikum“ hatten, töteten Menschen öfters einfach
zum Spaß.
Im Lager musste schwer gearbeitet werden und es herrschte Mangelernährung. Zum Glück traf ich hier einige
Bekannte aus Horodenka ‐ Ruwen Prifer, Dawid Gloger, die mir Ausdauer und Selbstrettung beibrachten. Das half mir
sehr beim Überleben.
In Lwów im Getto blieb mein Bruder Dziunek, von dem ich jedoch nichts wusste. Ich war über einen Monat lang im
Lager. Eines Tages versteckte ich mich beim Ausladen der Kohle aus Kohlenwaggons am Bahnhof und kehrte ins
Getto zurück, wo ich Dziunek fand. Nachman war dagegen nicht mehr da und keiner wusste etwas von seinem
Schicksal. Wahrscheinlich ist der wundervolle Mensch umgekommen.
Du erwähntest einmal, dass Ihr es riskiert habt als Arier mit einem Zug nach Kołomyja zurückzukehren. Wie war
das möglich? Auf Schritt und Tritt lauerte doch die Gefahr auf Euch. Wie sah Euer Schicksal danach aus? Hattet Ihr
Nachrichten von Eurem Vater?
Von unserem Vater hatten wir keine Nachrichten, es gab doch keine Post. Wir glaubten, dass er lebt, weil er doch
von seinem „guten Deutschen” als Fachmann und kostenlose Arbeitskraft gerettet wurde. Sein Chef brauchte ihn
außerdem, weil mein Vater u.a. kleine Kästchen herstellte, die sein Chef mit „Beute“ gefüllt an seine Familie nach
Deutschland schickte. Wir bereiteten uns vor und entwickelten den folgenden Plan: wir heißen Darek (Dziunek) und
29
GHETTOS. DIE VERNICHTUNG VON JUDEN UND ROMA
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Tomasz Miedziński (polonisierte Version des Nachnamens unserer Mutti ‐ Kupferman). Im Getto müssen wir Geld für
Fahrkarten nach Kołomyja erwerben, wir werden dann aus dem Getto entkommen und mit der Bahn legal nach
Kołomyja fahren als wären wir Arier. Laut der erdachten Geschichte wurde unser Vater im Jahr 1940 als Beamter in
einer Marmeladenfabrik mit unserer Mutter nach Russland deportiert. Wir hatten damals Sommerferien und waren
mit Dziunek bei Verwandten in einem Dorf in der Nähe von Lwów und das rettete uns. Unsere Mutter starb in der
Verbannung, der Vater soll überlebt haben und nach unseren Kenntnissen nach Kołomyja zurückgekehrt sein. Wir
fahren jetzt zu ihm.
Zwecks der Umsetzung des Planes mussten wir unzählige Hindernisse überwinden. Wir hatten keine Ausweise und
für einen 14‐Jährigen bestand schon Ausweispflicht. Dziunek sprach kein besonders gutes Polnisch, er sprach
beispielsweise das harte „r” und hatte Angst vor deutschen Uniformen, seine semitischen Gesichtszüge würden den
„Schmalzowniks“ die Aufdeckung erleichtern. Daher vereinbarten wir, dass er unterwegs schläft, einen
Taubstummen vortäuscht und einstudierte Mienen macht. Da ich ein „gutes Aussehen“ hatte und einwandfreies
Polnisch und Ukrainisch sprach, übernahm ich die Initiative. Ich kaufte Fahrkarten der III. Klasse und wir fuhren nach
Stanisławów, wo wir umsteigen mussten. Wir nahmen Plätze neben einer nett aussehenden Dame ein, die gerade
nach Hause fuhr. Das war ein glücklicher Zufall, die Dame war Lehrerin und eine besonders freundliche und herzliche
Person, die Mitleid mit uns hatte. Beinahe hätte uns Dziunek verraten, weil er sich für ein Brötchen mit Worten
bedanken wollte, er hielt sich aber noch rechtszeitig zurück. Im Gespräch mit der Frau erfuhr ich, dass ihr Mann ein
polnischer Offizier und in deutscher Gefangenschaft war, und sie alleine einen 15‐jährigen Sohn versorgen musste.
Sie kannte Kołomyja, es gab dort tatsächlich eine in der Region bekannte Marmeladenfabrik. Die Dame rettete uns
im Zug vor der Kontrolle durch deutsche Gendarmen, indem sie ihnen in korrektem Deutsch unsere Geschichte
erzählte. Sie ließen uns in Ruhe. Dziunek pinkelte vor Angst in die Hose.
Am Abend kamen wir in Stanisławów an, eine Verbindung nach Kołomyja gab es erst am nächsten Tag. Unsere
Retterin lud uns zu sich ein, bewirtete uns in einem freistehenden Haus, wir lernten ihren Sohn kennen, der
Pfadfinder war. Sie gab uns Delikatessen, die wir seit Jahren nicht gesehen hatten und gab uns ein Zimmer, in dem
wir schlafen konnten. Morgens weckte uns ihr Sohn, wir bekamen belegte Brote und ihren Segen, ihr Sohn begleitete
uns zum Bahnhof. Erst nach dem Abschied bemerkte ich, dass das Band mit dem Judenstern aus meiner Hosentasche
gefallen sein und noch in dem Zimmer liegen musste. Die Dame muss dann gemerkt haben, wer ihre Gäste waren und
welche Gefahr dies für ihren Sohn bedeutete, wenn man unsere Identität entdeckt hätte. Immer wenn ich später an
gute, edelmütige, herzliche Menschen dachte, kam mir die schöne Gestalt der Frau Lehrerein aus Stanisławów in den
Sinn. Bis heute bewundere ich sie aufrichtig und bin ihr dankbar.
Sie war in der Tat eine sehr mutige und großherzige Person, sie gewährte schließlich zwei unbekannten Jungen
Asyl... Was passierte danach?
Gegen 7 Uhr morgens stiegen wir in einen überfüllten Zug ein. Dziunek tat so als ob er schläfrig wäre, ich nahm
grundsätzlich keine Gespräche mit Mitreisenden auf, Fragen von Neugierigen beantwortete ich einsilbig. In Kołomyja
kamen wir gegen Mittag an, durch die Stadt gelangten wir zur Getto‐Umzäunung, wir schlüpften in ein Loch im Zaun
hinein und gingen zum Haus von Ziama Gutman. Den Vater trafen wir nicht mehr an. Ziama sagte uns, dass die
meisten geretteten Fachleute einen Monat zuvor von der Gestapo mitgenommen, in den Wald in Szeparowce
transportiert und dort erschossen worden waren. Wieder waren wir allein. Wir zogen wieder in den Holzbau von
Ziama ein, wo wir „komfortable Bedingungen” hatten, weil keine Mitbewohner anwesend waren. Ziama half uns
sehr, indem er jeden Tag einen kleinen Kessel Suppe von der arischen Seite holte. An einem Novembertag 1942 ging
Dziunek raus auf die Straße und kam nie wieder zurück. Wahrscheinlich wurde er mit einer Gruppe nach Szeparowce
abtransportiert und getötet. Der grausame Tod, dem er vor einem Jahr in Siemakowce entgehen konnte, holte ihn
hier ein. Jetzt war ich ganz allein.
Du musst wohl geahnt haben, dass es für Dich gefährlich war, in Kołomyja zu bleiben?
Das stimmt, alle Anzeichen deuteten darauf hin, dass man uns diesen Winter nicht überleben lassen würde. Im
Getto fanden täglich Razzien statt, man setzte tägliche Verschleppungsnormen fest, es blieben immer weniger
Fachleute. Der Winter näherte sich, es war schon Dezember 1942. Ich hatte keine Chancen auf eine Beschäftigung bei
PIOTR WYRZYKOWSKI
einem ukrainischen Bauern, obwohl ich „richtig aussah” und die Sprache kannte, weil die Bauern ihre Knechte im
Winter immer entlassen haben. Ich habe erfahren, dass in der Woiwodschaft Tarnopol in Städten wie Czortków,
Buczacz, Tłuste, Kopyczyńce noch jüdische Zentren, sowie Zwangsarbeitslager an Stellen ehemaliger Kolchosen und
Sowchosen bestehen, wo junge Menschen zur Feldarbeit notwendig waren. Eines Abends bestach Ziama Gutman
einen ukrainischen Polizisten am Getto‐Tor und führte mich – als Huzule verkleidet ‐ durch das Tor in den arischen Teil,
wo ich nach Tłuste wieder schwarz gefahren bin. Der bestochene Polizist war der „Blutige Iwan”, der viele Menschen
auf dem Gewissen hatte, u.a. einen katholischen Pfarrer, dem er vor dessen Tod noch zwei Kühe weggenommen
hatte. Nach dem Krieg wurde er gefasst, er wurde in Jelenia Góra vor Gericht gestellt und zum Tode verurteilt. Ich
war Zeuge in seinem Prozess im Jahr 1946. Im Getto in Tłuste blieb ich bis Februar 1943, dann wurde ich ins
Zwangsarbeitslager zuerst in Różnanówka und danach in Hołowczyńce verwiesen. Davor ereigneten sich noch
„Aktionen” in Tłuste, eine Flucht vom LKW, mit dem wir zum Erschießen nach Czortkowo gebracht werden sollten,
mehrwöchige Arbeit als Knecht bei einem reichen Bauern bei Tłuste, von wo mich ein viel älterer und stärkerer
Deserteur der Roten Armee vertrieben hat, weil er Angst vor der Auslieferung hatte.
In Różnanówka und Hołowczyńce arbeitete ich beim Sortieren von Tabak, bei Kartoffel‐ und Rübenmieten, ich
kümmerte mich um Pferde und galt bei einheimischen Stallknechten als „fleißiger Jude”. Die Ernährung war
ausreichend, ein Teil davon konnte ich sogar Bedürftigen in dem sog. „Familienteil“ des Lagers geben. Die Erntezeit
war zu Ende und immer öfter tauchten Gestapo‐Männer und ukrainische Polizisten auf, welche nicht arbeitsfähige
Personen aussuchten, zu umliegenden jüdischen Friedhöfen fuhren und dort töteten. Ich beschloss daher aufs Land
zu fliehen und für Verpflegung und eventuell ein Pud Getreide nach der Ernte bei einem Bauern zu arbeiten. Das war
die Methode der Huzulen – Bewohner der Karpaten, die am linken Dnisterufer Beschäftigung suchten. Im August
1943 floh ich aus dem Lager und gelangte in das Dorf Lisowce, wo ich bei dem Ortsvorsteher Wasyl Dziuba Arbeit
fand. Meine Hilfe war für dessen Sohn, den 22‐jährigen Petro besonders wertvoll, weil dieser nachts mit der
Ukrainischen Aufstandsarmee (UPA) Unwesen trieb und tagsüber Schlaf nachholte. Zur Familie gehörte auch die
vom Vater verwöhnte 17‐jährige Tochter Natalka. Die Familie Dziuba akzeptierte mich, obwohl ich nicht über eine
Geburtsurkunde verfügte, was normalerweise notwendig war. Sie glaubten mir, dass ich aus dem Karpartendorf
Sołotwyno komme, wo meine alte Mutter geblieben ist, zu der ich im Herbst zurückkehren will. Ich hatte meine Ruhe
bis ich eines Tages in einer geschlossenen Scheune in einer Waschwanne baden wollte. Die neugierige Natalka
beobachtete mich heimlich und sagte der Mutter, dass mein Pimmel anders als bei anderen Bauern aussehe. Ich
wurde vom Vater zur Rede gestellt und gestand, dass ich Jude bin und dass mein Schicksal in seinen Händen liegt.
Zuerst wollte er, dass ich bleibe, doch er hatte Angst vor dem Dorfpolizist namens Schab und beschloss, mich
wegzuschicken. Ich wurde mit einem Sack mit Brotvorrat, Speck und Obst ausgestattet und mit den Worten „z
Bohom Tośku” (Geh‘ mit Gott) verabschiedet. Ich ging wieder in die Welt, nach einer Rettung suchen.
Es ist September 1943, bis zur Befreiung durch die Rote Armee bleiben noch 10 Monate. Wie sah Dein weiteres
Schicksal aus?
Ich hatte noch viele andere Erlebnisse, bessere wie schlimmere, ich war an vielen verschiedenen Ereignissen
beteiligt. Diese Geschichten werde ich Dir aber ein anderes Mal erzählen, wenn wir unsere Gespräche vielleicht
weiterführen werden. Jetzt schließen wir dieses Kapitel – Du hast ja sowieso sehr viel zum Nachdenken und zum
Analysieren. Mir scheint es, dass Du trotz dieser langen Gespräche die wichtigste Frage kaum zu beantworten weißt:
„Warum haben Menschen Menschen so etwas angetan”.
Niedergeschrieben von:
Piotr Wyrzykowski
Warschau, Mai 2005.
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GHETTOS. DIE VERNICHTUNG VON JUDEN UND ROMA
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SOLAREWICZ STANISŁAW
Helft uns die Erinnerung
zu bewahren
Der Autor, Bürger von Lwów (Lemberg), wurde bei einer Razzia gefangen genommen und
geriet ins Lager in der Janowska‐Straße. Dieses Lager diente auch als Arbeitslager für
Juden. Der siebzehnjährige Junge war Zeuge ihrer Vernichtung.
SOLAREWICZ STANISŁAW
Lemberg 1942. Es ist ein Jahr vergangen, seitdem die deutschen Besatzer damit begonnen haben, die Stadt zu
verwalten. […] Sie führen zahlreiche Razzien durch, sie legen den Bewohnern Kontributionen auf, sie errichten das
Zwangsarbeitslager am Ende der Janowska‐Straße, unweit von Sandhügeln. Dieser Ort hatte eine doppelte
Bestimmung. Zum einen wurde hier die kostenlose Arbeitskraft der Zwangsarbeiter ausgenutzt, zum anderen war
dies auch ein Vernichtungsort für Juden, Zigeuner und andere Nationen. Dieses Lager hieß „Zwangsarbeitslager
Lemberg‐Janowska”.
Ich kam ins Lager als ich 16 Jahre alt war und war dort der jüngste Häftling. Nachdem wir ins Lager gebracht
wurden, standen wir bis in die Abendstunden vor dem Kommandantengebäude. Zur gleichen Zeit fand die
Registrierung der Häftlinge, das Schneiden der Haare an allen Stellen des Körpers und das Malen von bunten Streifen
auf dem Rücken längs der Wirbelsäule statt, damit die SS‐Männer die Nationalität der Häftlinge unterscheiden
konnten. Die Häftlinge im Lager trugen die Kleidung, die sie während der Razzien angehabt hatten und auf diese
Kleidung wurden die Streifen gemalt. Den Polen mit roter, den Ukrainern mit blauer und den Juden mit weißer
Farbe.[…]
Zu dieser Zeit breitete sich im Lager Typhus aus. Mit dieser Krankheit waren Häftlinge, hauptsächlich Juden,
infiziert, die schon seit längerem im Lager waren. Die Kranken wurden aus dem Gebäude hinausgetragen und man
sagte ihnen, dass sie ins Krankenhaus gebracht werden, doch man legte sie unweit vom Appellplatz unter freiem
Himmel auf einen von Stacheldraht umgebenen Platz. Dort wurden sie von einem jungen rothaarigen SS‐Mann
getötet. Die Prozedur des Tötens lief so ab, dass er zwischen den Kranken umherging, alle paar Augenblicke stehen
blieb und auf seinen Fingern pfiff. Wenn ein Kranker seinen Kopf nicht hob, näherte sich der SS‐Mann dem Kranken
und tötete ihn mit einem Gewehrschuss. Diese Praxis wiederholte sich täglich um die gleiche Zeit.[…]
Mit neu angekommenen Häftlingen wurden Arbeitskommandos gebildet. Auf dem Appellplatz standen separat
Arier und Juden. Nach der Überprüfung der Anzahl der Häftlinge und der Meldung an den SS‐Offizier wurden wir zur
Arbeit abtransportiert, abends schickte man uns dann ins Lagergebäude zurück.
Das Lager, das als Zwangsarbeitslager bezeichnet wurde, war nach dem Vorbild der bestehenden
Konzentrationslager errichtet worden. Eigentlich war es ein Vernichtungslager, vor allem für Juden, Zigeuner und
teilweise auch für die polnische Bevölkerung. Es war von einem hohen Zaun aus Stacheldraht umgeben. Die Häftlinge
durften sich dem Zaun nicht nähern. Übertrat jemand dieses Verbot, dann wurde er von Wachtürmen, die dicht um
das Lager errichtet worden waren, beschossen. Diese Wachtürme waren von Ukrainern besetzt. Das Lager wurde
grundsätzlich von jungen SS‐Männern bewacht, die von der Front zur Erholung geschickt wurden. Einige von ihnen
sprachen tschechisch, sodass man vermuten konnte, dass es sich um Sudetendeutsche handelte.
Der Lagerkommandant war ein hochrangiger SS‐Offizier namens Willhaus. Sein Stellvertreter war ein SS‐Offizier
namens Rokita. Sie unterschieden sich darin, dass Willhaus die Häftlinge mit einer Reiterpeitsche schlug und sie so
folterte, Rokita dagegen tötete sie auf diese Weise. Im Lager galt die Pflicht, sich schnell zu bewegen und die Mütze,
wenn der Häftling denn eine hatte, vor jedem SS‐Mann abzunehmen. Wer das vergessen hatte oder aus
gesundheitlichen Gründen nicht befolgen konnte, wurde verprügelt.
Rokita trug im Lager immer lederne Handschuhe, am rechten Handgelenk hingen eine Reitpeitsche und eine
Pistole. Er war ein Mann von ca. 50 Jahren, von mittlerer Größe, ziemlich beleibt und kahlköpfig. In Lemberg wohnte
er allein, während seine Frau in Krakau blieb. Wenn sie in Lemberg erschien, nahm Rokitas Sadismus ab.
Das dann mildere Verhalten des SS‐Mannes nutzend gingen vier österreichische jüdische Häftlinge zu seiner Frau
mit der Bitte, zu versuchen ihren Mann zu beeinflussen, damit er im Lager solche mörderischen Methoden nicht mehr
anwendet. Diese Mission endete für alle vier tragisch. Am nächsten Tag befahl Rokita während des Morgenappells
den Häftlingen, die es gewagt hatten, zu seiner Frau zu gehen, aus der Reihe herauszutreten. Er begann mit seiner
Pistole zu schießen und sie liefen hin und her über den Appellplatz, bis sie schließlich zu Boden fielen. An diesem Tag
fuhren wir nicht zur Arbeit, die Traktoren fuhren ohne uns ab und wir standen da, bis das Geröchel des letzten
Sterbenden nicht mehr zu hören war, was gegen Mittag geschah. Er tötete sie nicht sofort, sondern ließ sie langsam
sterben.
Rokita wurde im Lager der „Eichmann Galiziens” genannt. Das Lager hatte zwei Funktionen, es wurden hier
kostenlose Arbeitskräfte gesammelt und es war zugleich ein Ort der Vernichtung. Es wurden sowohl Einzelpersonen
ermordet als auch Massenmorde verübt – an Juden, die aus dem Ghetto Lemberg hergebracht wurden. Während
meines Aufenthalts im Lager kam es zweimal zu Massentötungen von Juden. Die zweite Aktion beobachtete ich von
einem Versteck im Kommandanturgebäude. Ich durfte es weder verlassen, noch durch das Fenster schauen. Diese
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GHETTOS. DIE VERNICHTUNG VON JUDEN UND ROMA
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Entscheidung traf Rokita. Der Platz, wo die Juden zusammengepfercht wurden, befand sich etwa 100 Meter vom
Kommandanturgebäude entfernt. Er war in einige separate Teile geteilt und jeder von ihnen war von
Stacheldrahtzaun umgeben. Der erste Menschentransport wurde noch am Tage, die nächsten schon bei Dämmerung
und in der Nacht gebracht. Im ersten waren junge jüdische Mädchen. Sie wurden mit vier LKWs dorthin transportiert.
Junge SS‐Männer nahmen einige von ihnen mit zu sich in ihre Quartiere, die anderen Mädchen warteten bis zur
Dämmerung. Über das Schicksal dieser Mädchen weiß außer diesen SS‐Männern niemand etwas. Die Plätze wurden
in der Dämmerung hell von Lampen und Scheinwerfern erleuchtet. Das ermöglichte es mir zu sehen, was auf den
einzelnen Plätzen geschah und auf welche Weise die Deutschen vorgingen. Auf den ersten Platz kamen erstmal alle,
die gebracht worden waren. Hier ließen sie ihre Oberbekleidung, Gepäck und die mitgebrachten Gegenstände
zurück. Durch Schreien und Schlagen mit Reitpeitschen wurden die Unglückseligen dann von SS‐Männern dazu
gezwungen, durch zwei Tore bis zum nächsten Platz zu gehen. Hier mussten sie sich nackt ausziehen und wurden
ohne Rücksicht auf Alter oder Geschlecht auf den dritten Platz geführt, diesmal aber nur durch ein Tor. In diesem Teil
standen Körbe in die die Juden ihre Ehe‐, Finger‐ und Ohrringe, Uhren und dergleichen, die sie bei sich hatten,
hineinwerfen mussten. Von hier aus gingen sie durch ein schmales Tor und nach einer genauen Kontrolle der Hände,
der Ohren und der Mundhöhle, die von SS‐Männern durchgeführt wurde, gingen sie zum nächsten Platz. Dort
wurden die nackten Menschen aufgeteilt und Kolonnen in Richtung Sandhügel gebildet. An der Spitze gingen Kinder,
dann Frauen und am Ende die Männer. Die Vernichtungsaktion wurde um vier Uhr morgens abgeschlossen. Es sind
dabei einige Hundert Menschen ermordet worden.
Bei Tagesanbruch erschienen auf den Plätzen, durch die die Juden gegangen waren, die SS‐Männer. Sie warfen die
zurückgelassenen Sachen in Körbe. Auf dem anderen Platz, wo die Körbe für den Schmuck standen, suchten die SS‐
Männer den Boden nach Gold ab.
[…] So sah aus meiner Sicht der „Hof” von Willhaus und Rokita aus.
Sinti und Roma im Zwangsarbeiterlager, Bełżec, 1940 (IPN)
STRAFLAGER UND GEFÄNGNISSE
Straflager und Gefängnisse
n den besetzten Gebieten in Polen führten die Deutschen dieselben strafrechtlichen Vorschriften und
gesetzlichen Bestimmungen ein, die auch im Dritten Reich galten (z. B. das deutsche Strafgesetzbuch,
Nürnberger Gesetze, das Kriegsstrafrecht aus dem Jahr 1938). Das System zielte darauf ab, die Gehorsamkeit sowohl
des deutschen Volks als auch die der politischen Gegner zu gewährleisten, und die Menschen in den eroberten
Gebieten einzuschüchtern. Das Rechtssystem war geprägt durch eine vereinfachte Rechtssprechung und
drakonische Strafen.
Im September 1939 nahmen das einstweilige Sondergericht sowie Militär‐ und Kriegsgerichte ihre Arbeit auf
polnischem Gebiet auf – allesamt berechtigt, die Todesstrafe zu verhängen. In Wahrheit aber wurden von September
bis Oktober Beschlüsse über Todesstrafen, Gefängnisstrafen oder Haft in Konzentrationslagern von der
Wehrmachtsführung, Einsatzgruppen der SS und der Gestapo getroffen. Diese drei Institutionen verwalteten in
Zusammenarbeit mit lokalen Behörden die Gefängnisse. Im Jahre 1939 richteten die Einsatzgruppen SS und
Selbstschutz verschiedene Lager ein. Diese Haftanstalten wurden „Internierungslager“ genannt und das war eine
vage Bezeichnung, die den tatsächlichen Sinn der Einrichtungen, die Vernichtung der Insassen, verschleiern sollte. In
diesen Lagern wurden Polen eingesperrt, die während der Aktion „Politische Flurbereinigung“ (Vernichtung der
polnischen Eliten) festgenommen wurden. Die Mehrheit der Gefangenen kam bei Massenhinrichtungen (wie bei der
Massaker von Piaśnica) um, wurde in Gefängnisse gesteckt oder in Konzentrationslager geschickt (so wurde z. B.
eine große Gruppe von Geistlichen ins KZ Dachau gebracht), nur wenige wurden freigelassen und lediglich Einzelne
überlebten den Krieg. Die meisten dieser Lager wurden Anfang 1940 liquidiert oder in Straf‐ oder
Konzentrationslager umgewandelt (so z. B. Stutthof).
Als das strafrechtliche System mit der Zeit immer organisierter wurde, entstanden zwei Strafvollzugswesen: eines
war mit Polizeibehörden verbunden, das andere hing mit der Justiz zusammen. Die Mehrheit der Gefängnisse in den
besetzten Gebieten waren über örtliche Kommandeure der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes dem
Höheren SS und Polizeiführer unterstellt. Zu diesen Gefängnissen zählten so berüchtigte Einrichtungen, wie der
Pawiak in Warschau, das Montelupi ‐ Gefängnis in Krakau und das Schloss Lublin. Diese Vollzugsanstalten dienten
normalerweise auch als Orte der Vernichtung.
In den ins Reich eingegliederten Gebieten oblagen die Gefängnisse den Kreis‐ oder Regierungsbezirksdienststellen
der Gestapo. Jedem dieser Ämter stand ein für den ganzen Kreis oder Regierungsbezirk zentrales Gefängnis zur
Verfügung. Mit den Gefängnissen waren ab 1941 sogenannte Arbeitserziehungslager verbunden. Solche Anstalt
wurde Erweitertes Polizeigefängnis und Arbeitserziehungslager genannt. Die Gestapo‐Kreis‐ und
Regierungsbezirksdienststellen verfügten darüber hinaus über eigene Untersuchungshaftanstalten, die sich
normalerweise im Dienststellengebäude befanden.
Innerhalb des zweiten großen Strafvollzugssystems gab es Gefängnisse, die dem Justizministerium des Reiches
untergeordnet waren, und allgemein als Gerichtsgefängnisse bezeichnet wurden. Dorthin kamen sowohl Personen,
die sich in Untersuchungshaft befanden als auch solche, gegen die bereits Freiheitsstrafen verhängt wurden. In
vielen dieser Haftanstalten wurden 1942 Stammlager gebildet. In diesen Gefängnislagern verbüßten die Insassen
Haftstrafen und leisteten Schwerarbeit, was einer schweren Gefängnisstrafe entsprach. Die schwersten und längsten
Straflagerstrafen, sowohl in normaler als auch in verschärfter Haft, wurden unter anderem in den Zuchthäusern in
Fordon, Koronów und Rawicz, verbüßt.
Zusätzlich gab es die Straflager bzw. Straf‐ und Erziehungslager. Arbeitsrechtliche Vorschriften für die polnischen
Arbeiter bestimmten die Ausrichtung, Form und Methoden der Ausbeutung. Die Anwerbung geschah unter Aufsicht
von der Polizei, der Gestapo und den Verwaltungsbehörden und war häufig mit Terror und Zwang verbunden.
Während die Interessen des Reiches durch ein besonderes System der Verfolgung von Zwangsarbeitern gesichert
wurden, hatten Polen keine Aussicht auf gerichtlichen Schutz. Über die Art und den Ort der Zwangsarbeit
entschieden deutsche Behörden, das grundsätzliche Kriterium dabei waren die aktuellen Bedürfnisse des Reiches.
Somit wurden viele Personen an Orte weit entfernt von ihrem Wohnsitz verschleppt. Zwangsarbeiter wurden in
sogenannten Arbeitslagern einquartiert. Arbeitsunwillige oder Personen, welche gegen die drakonischen
I
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STRAFLAGER UND GEFÄNGNISSE
36
Vorschriften für polnische Zwangsarbeiter verstießen, wurden in Straflager und Arbeitserziehungslager überwiesen.
Auf dem besetzten polnischen Gebiet wurden zirka 1750 Arbeitslager und 40 Straf(arbeits)lager sowie
Arbeitserziehungslager (AEL) betrieben.
Besondere Aufmerksamkeit verdienen die kraft einer Verordnung Heinrich Himmlers vom 28. Mai 1941
eingerichteten Arbeitserziehungslagern (AEL). Grundsätzlich wurden diese in polnischen Gebieten, die ins Reich
eingegliedert worden waren, errichtet. In den übrigen Gebieten entsprachen ihnen Straflager. In den AEL herrschte
ein strenges Straflagerregime, innerhalb dessen die Häftlinge zur Arbeit für Konzerne wie z. B. die IG Farbenindustrie,
Siemens und die Hermann‐Göring‐Werke gezwungen wurden. Den Anstoß für die Errichtung eines solchen Lagers
gaben üblicherweise lokale Sipo‐ und SD‐Inspekteure. Der Lagerkommandant und seine Stellvertreter waren
Gestapo‐Beamte. Die Lager bestanden aus zwei Zonen. In der Arbeitszone musste 12 Stunden lang hart gearbeitet
werden, während nach Abschluss der Arbeit verschiedene sinnlose Arbeiten und körperliche Übungen ausgeführt
werden mussten. In der Strafzone wurden die Arbeiter nicht nur zu Schwerstarbeit gezwungen, man setzte sie auch
verschiedenen Arten von Folter aus. In den Lagern wurden oft sogenannte verschärfte Verhörmethoden
angewendet; so wurde den Insassen z.B. nur Brot und Wasser bereitgestellt, sie wurden in Dunkelheit festgehalten,
mussten anstrengende körperliche Übungen ausführen und erhielten 20 oder mehr Peitschenhiebe. Die Entlassung
aus dem Lager erfolgte nach Verbüßung der Strafe. Sollte der Gestapo‐Lagerfunktionär zu dem Schluss kommen,
dass die Strafe nicht ihren Zweck erfüllt habe, wurden die Arbeiter in Konzentrationslager abtransportiert.
Neben den der Gestapo unterstellten AEL, entstanden seit 1941einige AEL in direkter Nähe von Betrieben, ab
Frühling 1944 verstärkte sich diese Tendenz noch. Die Gefangenen dort waren fast ausschließlich ausländische
Zwangsarbeiter, die wegen „Bummelei“ festgenommen worden waren und nun Arbeit unter Aufsicht leisten
mussten. Die Gestapo entschied, wer in diese Lager kam, in der Praxis jedoch verfügte die Firma selbst über die
Häftlinge. Dasselbe galt für die Aufsicht über diese Lager, die sowohl die lokale Polizei als auch die jeweilige
Betriebsaufsicht übernahmen. Die Bezeichnung Arbeitserziehungslager (AEL) war nicht einheitlich geregelt.
Während für die der Gestapo obliegenden AEL der Begriff Arbeitserziehungslager festgelegt wurde, nutzte man in
Betrieben verschiedene amtliche Begriffe, wie „Erziehungslager“, „Sonderlager“, „Gestapo‐Sonderlager“,
„Erziehungsstammlager der Gestapo“, „Straflager“, „polizeiliches Straflager“, Erziehungslager für Asoziale,
Strafarbeitslager.
Polenlager waren eine gesonderte, spezifische Lagergruppe, die ausschließlich in der Provinz Oberschlesien
vorkam. Mit der Bildung dieser Lager begann man im Jahr 1942. Lokale Einwohner, unabhängig von Alter und
Geschlecht, wurden dort auf unbefristete Zeit festgehalten. In den Lagern wurden polnische Familien eingesperrt,
die von der deutschen Besatzungsmacht als unerwünschtes oder gar die Interessen des Dritten Reichs gefährdendes
Element angesehen wurden. Dies waren also Polen, die für ihre antinationalsozialistischen Ansichten bekannt waren,
Familien von Aktivisten, die sich für das Polentum Schlesiens einsetzten, aber auch diejenigen, die es verweigerten,
die Volksliste zu unterzeichnen. Die Lager befanden sich üblicherweise in alten Fabrikhallen mit nicht einmal
einfachsten Sanitäreinrichtungen. Der Aufenthalt im Polenlager war normalerweise unbefristet. Erwachsene
arbeiteten in schlesischen Industriebetrieben und in der Landwirtschaft. Diese Lager kennzeichnete der großer Anteil
der darin festgehaltenen Kinder und Minderjährigen (bis zu 40 % aller Häftlinge), die Zwangsarbeit Minderjähriger
und eine hohe Sterblichkeitsrate.
Der Begriff „Polenlager” wurde auch manchmal für in verschiedenen Teilen Deutschlands gelegene Lager, in
denen polnische Zwangsarbeiter lebten, verwendet. Diese Lager sollten jedoch nicht mit den oben erwähnten
Polenlagern in Oberschlesien verwechselt werden.
JANINA MUSZYŃSKA
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JANINA MUSZYŃSKA
Erinnerungen an den
Aufenthalt bei der Gestapo
und im Gefängnis
in Białystok 1943.
Die Autorin kommt aus Białystok. Zur Zeit der deutschen Besatzung war ihre Familie in der
Widerstandsbewegung tätig. Im Juli 1943 wurden einige Familienmitglieder verhaftet, weil
sie einen Flüchtling aus dem Ghetto in Białystok versteckt hatten. Die neunjährige Janina
wurde daraufhin mit ihrer Mutter und der dreijährigen Schwester Eugenia in einer Zelle
gefangen gehalten. Am 28. September 1943 wurden ihre Eltern in Grabówka bei Białystok
erschossen. Die Schwestern blieben bis zum 6. Oktober 1943 im Gefängnis.
STRAFLAGER UND GEFÄNGNISSE
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ch wurde am 17. Mai 1934 in Białystok geboren und am 7. November 1940 kam meine Schwester zur Welt ‐
Eugenia Mikitowicz. Unsere Eltern, Włodzimierz und Zinaida Mikitowicz haben im Jahr 1936 ein Einfamilienhaus
in Białystok in der Poleska Straße 20 gebaut. Das Grundstück meiner Eltern grenzte an das Grundstück unseres
Großvaters väterlicherseits, Prochor Mikitowicz. Dort wohnte seine fünfköpfige Familie. Die Eltern meiner Mutter ‐
Zofia und Józef Zubrzyccy‐Domanowscy wohnten zwei Straßen weiter, in der Topolowa Straße 8. Bis zum Ausbruch
des Zweiten Weltkriegs haben wir ein ruhiges Leben geführt. Im Jahr 1939 war ich 5 Jahre alt, hatte liebende Eltern,
Großeltern und andere Verwandte.
Die ganze Familie meines Vaters war in der Widerstandsbewegung tätig. Von 1942 bis Juli 1943 haben sie einen
Partisanen, einen Juden aus dem Ghetto in Białystok (seinen Namen kannte ich nicht) versteckt, der an
Militäreinsätzen in Białystok beteiligt gewesen war. Einer dieser Einsätze fand im Stadtviertel Białystoczek, ein
anderer am Bahnübergang in der Wasilkowska Straße statt. Bei beiden Aktionen wurden Deutsche getötet. In
unserer Wohnung gab es im Schlafzimmer unter dem Fußboden ein Versteck – ein Tunnel, der durch den Garten zum
Haus meines Großvaters führte. Das Versteck war für den Juden und für unseren Onkel Mikołaj Mikitowicz
vorbereitet worden.
Am 10. Juli 1943 gegen Abend umstellte die Gestapo das Haus unseres Großvaters. Onkel Mikołaj und der Jude
entkamen der Razzia durch den unterirdischen Gang und flohen in Richtung Eisenbahngleise. Es kam zu einer
Schießerei. Den Männern gelang es aber durch die Felder in Richtung des Dorfes Leńce zu fliehen.
Infolge dieses Ereignisses wurden mein Großvater Prochor Mikitowicz und seine Tochter Luba Mikitowicz, die im
achten Monat schwanger war, in der Nacht von der Gestapo verhaftet. Sie wurden zur Vernehmung zum Gestapo‐
Gebäude in der Sienkiewicza Straße 15 in Białystok abtransportiert, anschließend ins Gefängnis an der Południowa
Straße gebracht und später in Bacieczki bei Białystok erschossen. Der jüdische Partisan ist im Einsatz bei Wizna
zwischen Jeżewo und Łomża ums Leben gekommen. Mikołaj Mikitowicz wurde verletzt und im Dorf Leńce ermordet,
nachdem ein Bauer ihn für 500 Mark den Deutschen ausgeliefert hatte.
Einige Tage nach der Verhaftung meines Großvaters und meiner Tante rüttelte am 21. Juli 1943 um 23.00 Uhr die
Gestapo an der Tür unseres Hauses. Es traten drei SS‐Männer mit einem Schäferhund und ein Dolmetscher ein.
Nachdem sie unsere Wohnung durchsucht und demoliert hatten, führten sie uns aus dem Haus in den Hof hinaus.
Währenddessen durchkämmten sie noch einmal das leere Haus des Großvaters, da sie hofften, dort versteckte
Partisanen zu finden. Meiner Familie wurde befohlen, sich umzudrehen und niederzuknien – sie zielten auf uns und
wollten uns erschießen. Meine Mutter hielt meine jüngere Schwester im Arm. Zum ersten Mal blickte ich, ein
neunjähriges Kind, dem Tod ins Auge. Mich packte eine panische Angst. Auf einmal entschieden sich die SS‐Männer
um und verzichteten auf unsere Hinrichtung. Sie hatten im Haus des Großvaters niemanden gefunden, das rettete
uns das Leben.
Während sie uns schlugen, befahlen sie uns, aufzustehen und weiterzugehen. Meine verzweifelte Mutter flehte sie
an, mich und meine Schwester bei den Großeltern lassen zu dürfen, die zwei Straßen weiter wohnten. Dies wurde
kategorisch abgelehnt und meiner Mutter mit einer Pistole ins Gesicht geschlagen. Ein Hund wurde auf sie gehetzt,
der ihr aber nichts getan hat – er ist sie nur angesprungen, hat einmal gejault, sie aber nicht angegriffen, wofür er mit
einer Reitpeitsche bestraft wurde. Ich war erschrocken. Das Gesicht meiner Mutter war blutverschmiert, die Jacke
ebenso, ein Auge war verletzt. In einem solchen Zustand wurden wir mit Waffengewalt die Eisenbahngleise
entlanggeführt, bis zu einer Brücke, die zum Stadtviertel Białystoczek führte. An diesem Ort, gleich hinter der Brücke,
stand auf der linken Straßenseite unter dem Baum, unter dem wir oft mit der Stieftochter unseres Bekannten, Piotr
Kosobuk, gespielt hatten, ein offenes Auto. In dem Auto lag Piotr Kosobuk – gefoltert und in Handschellen, wie mein
Vater. Er war gefoltert worden, weil er während der Flucht geschossen hatte.
I
Aufenthalt bei der Gestapo in der sog. „Fünfzehn“
Wir wurden sofort zum Sitz der Gestapo zur sog. „Fünfzehn“ in der Sienkiewicza Straße 15 gebracht. Die Männer
wurden weggebracht, unter eine Mauer geworfen und waren danach spurlos verschwunden. Wir wussten nicht, was
mit ihnen geschah.
Wir wurden in einen Raum im Erdgeschoss gebracht, in dem bereits viele Frauen waren. Es war dreckig, es gab
Flöhe und anderes Ungeziefer, es war schwül, es stank und es gab keine Betten. Am nächsten Tag wurde meine
Mutter zur Vernehmung mitgenommen, sie kam verprügelt und kraftlos zurück, sie war nicht einmal imstande zu
JANINA MUSZYŃSKA
weinen. Dies wiederholte sich die nächsten 2‐3 Tage. Am vierten Tag wurden wir ins Gefängnis in Białystok versetzt.
Man führte uns durch drei beängstigende Metallpforten. Ich war vor Angst wie gelähmt, was durch den Anblick
meiner Mutter mit dem geschwollenen, dunkelblauen Gesicht und mit dem blau geschlagenen rechten Auge noch
verstärkt wurde. Wir wurden ins Hauptgebäude, auf die rechte Seite, in eine Zelle im Erdgeschoss einer
Frauenabteilung gebracht.
Aufenthalt im Gefängnis in Białystok
In der Zelle gab es zehn Betten. Acht davon waren schon besetzt. Meine Mutter schlief mit meiner Schwester und
ich bei ihnen, obwohl ich ein eigenes Bett am Fenster hatte. Hier fing für uns die Hölle an. Das Essen war abscheulich:
eine Scheibe halb rohes Schwarzbrot, eine Suppe aus Eichenblättern mit Raupen drin. Ich erbrach mich, ich konnte
nicht essen, mein Bauch tat mir weh. In der Nacht sprang ich auf, wollte fliehen, aber das war unmöglich – denn die
Fenster waren vergittert und die Türen verschlossen. Morgens wurde meine Mutter zur Vernehmung geholt. Sie kam
verletzt und kraftlos zurück. Während des Aufenthalts im Gefängnis bekamen wir von meinen Großeltern zwei
Lebensmittelpakete mit Brot, Knoblauch, Zwiebeln und Schmalz. Das war das leckerste Essen aller Zeiten!
Am Anfang durften die Kinder (es gab dort einige) eine Stunde hinter dem Gefängnishauptgebäude, neben dem
Bunker, der Wäscherei und der Küche spazieren zu gehen. Mein ganzes Leben lange habe ich jedes Detail des
Gefängnishofs im Gedächtnis behalten.
Im August oder September 1943 wurde der Dekan aus der Pfarrkirche in Białystok in das Gefängnis gebracht.
Während der Spaziergänge sahen wir ihn beten, er segnete uns Kinder von weitem. Bis heute erinnere ich mich an
seine Gestalt und sein gütiges Gesicht. Die täglichen Gebete der Häftlinge haben sich mir fürs ganze Leben ins
Gedächtnis eingeprägt. Auf ein Signal hin ertönten im Gefängnis in Białystok in den Abendstunden Lieder wie: „Alle
unsere Alltagssachen“, „Herzliche Mutter“, „Jesus hör, wie Dich das Volk anfleht“. Das war wunderbar – die
Vereinigung aller Gefangenen in einem Lied. Bis heute, wenn Gläubige in einer Kirche „Jesus hör“ singen, kann ich die
Erinnerungen und Tränen nicht unterdrücken. Dieses Bittlied sang ich zusammen mit meiner Mutter, die uns später
in unserer Kindheit, Jungendzeit und im ganzen Leben sehr fehlte.
Im Gedächtnis geblieben ist mir eine Begebenheit, die sich bei der Desinfektion der Frauenzellen ereignet hat. Im
August wurden alle gefangenen Frauen in den ersten Stock der Abteilung versetzt, damit die Räume im Erdgeschoss
desinfiziert werden konnten. Desinfiziert wurde mit angezündetem Schwefel, der sehr stark qualmte und von dem
aus Rauch nach oben in den ersten Stock aufstieg. Auf einmal passierte etwas Schreckliches. Wir fingen an, langsam
zu ersticken. Schreien und Donnern an der Tür halfen nicht, denn die Wächterinnen waren nicht in der Abteilung. Ich
erinnere mich kaum daran, was passierte nachdem die Tür geöffnet wurde, meine Schwester und ich waren danach
im Gefängniskrankenhaus.
Unter den Wächtern gab es einen, der bei den Häftlingen besonders verhasst war – den Polen Jarząbek, ein
bauchiger Kleinwüchsiger, ein sehr böser Mensch. Er lief immer mit einem großen Schlüsselbund rum, mit dem er
jeden, der in seiner Nähe erschien, aufs Geratewohl geprügelt hat. Die Kinder waren ihm besonders verhasst, er hat
uns angeschrien und verprügelt. Von meinen Großeltern weiß ich, dass er seiner gerechten Strafe nicht entgangen ist
– nach der Befreiung wurde er verurteilt und bestraft.
Einen weiteren Schock erlebte ich im August oder September 1943. Im Gefängnis hatten einige Häftlinge ihre
Flucht organisiert. Bei dieser Aktion half den Flüchtlingen ein ukrainischer Wächter. Einer der Flüchtlinge war
Stanislaw Kosobuk, der wie meine Eltern in der Widerstandsbewegung tätig war. Zwei Gefangene konnten fliehen,
Stanisław Kosobuk wurde gefangen genommen und für den Fluchtversuch nach Ausschwitz deportiert, wo er bis zur
Befreiung blieb. Nach dem Krieg kehrte er nach Białystok zurück.
Einen Tag nach der Flucht geschah bei Tagesanbruch etwas Schlimmes auf dem Gefängnishof vor dem
Hauptgebäude. Es wurde ein Galgen dort aufgestellt. Wir wurden gezwungen, die Hinrichtung des Ukrainers
anzuschauen, der bei der Flucht geholfen hatte. Er wurde in Handschellen in den Hof gebracht. Dann wurde er auf
ein Podest unter den Galgen gestellt und ein SS‐Mann hat dann das Podest mit dem Fuß weggestoßen. Der
Verurteilte hing an einem Seil, sein Körper zitterte, die Zunge hing bis aufs Kinn herab. Das war für mich, ein
neunjähriges Kind, ein Schock. Ich sah mit eigenen Augen, wie ein Mensch getötet wurde, ich zitterte vor Entsetzen.
Tag und Nacht sah ich den Erhängten vor mir. Ich kann mich sehr gut daran erinnern, obwohl inzwischen 62 Jahre
vergangen sind.
39
STRAFLAGER UND GEFÄNGNISSE
40
Hinter dem Gefängnisgebäude war hinter einer hohen Mauer ein Garten – angeblich ein Gemüsegarten. Dort
wurden in der Nacht körperlich und geistig Behinderte ermordet. Trotz der vielen Jahre, die vergangen sind, höre ich
noch heute ihr Gejammer und ihre Hilferufe. Sie heulten wie Tiere.
In einer Nacht wurde ein Brautpaar in das Gefängnis gebracht. Sie wurden in der Nacht erschossen, vorher aber
noch direkt neben der Eingangstür zur Frauenabteilung gefoltert.
Morgens sah ich beim Spaziergang eine große Blutlache, die nur mit etwas Sand zugeschüttet worden war. Es war
ein erschütternder Anblick, umso mehr, da wir in der Nacht gehört hatten, was vorgegangen war. Von Tag zu Tag
wurde mein Entsetzen immer größer. Durch meine kindliche Intuition ahnte ich, dass auch mit uns bald etwas
Schlimmes passieren würde. Ich spürte, dass die Tragödie immer näher kam. Ich hatte große Angst vor dem Tod und
hatte einen so starken Lebenswillen, denn ich war doch erst neun Jahre alt und meine Schwester drei!
Es ist geschehen!
Der 28. September 1943 war ein tragischer Tag. Gegen 2:00 Uhr ging in der Abteilung etwas vor sich. Den
gefangenen Frauen war klar – es fing die Selektion für den Tod an! Die Zellentür wurde mit einem lauten Krach
aufgestoßen, es kamen SS‐Männer mit einem Dolmetscher rein. Sie fingen an vorzulesen, wer für das Erschießen
vorgesehenen war und diejenigen in den Flur hinauszuführen. Ich erinnere mich nicht mehr daran, wie viele Frauen
aus unserer Zelle mitgenommen wurden. Ich weiß nur noch, dass die erste Frau eine Russin mit einem 8‐ oder 9‐
jährigen Jungen war, der sich unter einem Bett versteckte. Als seine Mutter schon im Flur war, bemerkten die
Folterer, dass der Junge fehlte. Sie zogen ihn brutal unter dem Bett hervor und nahmen ihn mit. Der nächste Name,
der genannt wurde, war der meiner Mutter! Mein Herz erstarrte! Die Arme begann zu flehen, sich die Haare
auszureißen und mit dem Kopf gegen die Zellenmauer zu schlagen. Ich wusste, dass unsere Existenz zu Ende war. Da
brüllte der Dolmetscher plötzlich, dass nur sie mitkommt und die Töchter bleiben. Meine Mutter jammerte, sie hatte
keine Ahnung, was sie mit uns vorhatten, welches Schicksal uns beiden zuteilwerden würde und wann wir getötet
würden. Ich begriff nicht, warum das passierte, warum wir nicht gemeinsam in den Tod gingen?
Die Trennung von meiner Mutter werde ich nie vergessen, nicht bis an mein Lebensende. Das letzte Mal sah ich sie
noch durch das vergitterte Zellenfenster, sie ging stolz ganz vorne mit erhobenem Kopf, den verwehten schwarzen
Haaren, in weißer Bluse und einem Rock mit schwarz‐weißem Pepitamuster, ohne Schuhe, in weißen Socken. Sie
wusste, dass sie in den Tod ging. Mein Gott! – was ging da in ihrem Mutterherzen vor? Hinter der Pforte wurden die
Verurteilten wie Tiere auf ein Auto geladen und nach 30 Minuten waren sie bereits am Richtplatz in Grabówka. Sie
wurden aus den Autos zu einem bereits ausgehobenen Grab gejagt und kaltblütig mit Maschinengewehren
erschossen. Die Einheimischen von Grabówka berichteten, dass – obwohl das Stöhnen der lebenden, verletzten
Menschen noch zu hören war, die Deutschen die Körper mit Kalk und Erde zuschütteten, die sich danach noch
rührten. Dann fuhren sie auf dem Grab mit ihren Autos hin und her. Im Moment des Todes war unsere Mutter 33 und
unser Vater 35 Jahre alt.
Nach dem Tod unserer Mutter blieb ich im Gefängnis mit meiner dreijährigen Schwester ganz allein. Ich ersetzte
ihr die Mutter so gut ich nur konnte, die gefangenen Frauen halfen mir dabei. Meine Schwester verstand nicht, was
passiert war und wollte nur zu unserer Mutter! Sie erinnert sich nicht mehr daran, was im Gefängnis passiert ist. Ich
wusste nicht, was die Nazis mit uns vorhatten, mit Angst wartete ich auf den Tag, an dem sie uns auf den Hof
hinausführen und wie die anderen töten würden.
Am 6. Oktober 1943 am Vormittag wurden wir beide aus der Zelle herausgeführt, ich dachte, dass jetzt das Ende
gekommen sei! Ich habe nicht einmal geweint. Wir wurden durch drei riesige metallene Gefängnispforten geführt –
ich wusste nicht, was los war. Mit verblüfften Augen erblickte ich meine Großeltern. Ich dachte, dass sie gekommen
waren, um sich vor unserem Tod von uns zu verabschieden. Aber es stellte sich heraus, dass wir frei waren! Wir
hatten überlebt! Aber beim Gedanken an die Eltern, besonders an die Mutter, die uns so nah gewesen war, musste
ich weinen. Ich war mir bewusst, dass ich sie nie wieder sehen würde. Meine heile Kinderwelt war
zusammengebrochen, durch all die schrecklichen Erlebnisse, die selbst für Erwachsene erschütternd gewesen wären
und ich war doch damals gerade erst neun Jahre alt. Meine Großeltern haben uns unter ihre Fittiche genommen.
Auch für sie ist es eine Tragödie gewesen – sie hatten ihre Tochter, einen Schwiegersohn und einen Sohn verloren.
Nachdem wir aus dem Gefängnis entlassen worden waren, ließ uns die Gestapo nicht in Ruhe. Alle paar Tage
erschienen die Deutschen im Haus meiner Großeltern und überprüften, ob wir nicht versteckt oder weggebracht
JANINA MUSZYŃSKA
worden waren. Wir waren weiterhin ihre Geiseln. Wir durften uns von unseren Großeltern nicht entfernen. Unter
dieser Bedingung wurden wir am Leben gelassen.
Das Kriegstrauma durch die furchtbaren Erlebnisse verursachte bei mir die Entwicklung verschiedener
Krankheiten, womit ich meinen Großeltern viel Kummer bereitete. Nachts quälten mich Alpträume – ich schrie und
versuchte zu fliehen. Darüber hinaus war mein Körper nach dem Aufenthalt im Gefängnis mit Furunkeln übersät. Ich
habe sehr gelitten und konnte nur auf dem Bauch liegen. Vor Schmerzen habe ich wie ein Hund gewinselt. Eine
Behandlung war kompliziert, es war schwer einen Arzt zu finden, deshalb haben die Großeltern eine bekannte und
versierte Heilkundige geholt, aber auch sie war nicht imstande, mir zu helfen. Die Narben von den Furunkeln sind mir
bis heute geblieben.
Nachdem ich das Gefängnis verlassen hatte, erfuhr ich, warum uns die Nazis nicht erschossen hatten. Die
Großeltern Józef und Zofia Zubrzyccy‐Domanowscy haben uns das Leben gerettet. Sie haben nach allen möglichen
Mitteln gesucht, um uns und unsere Eltern zu retten. Leider ist es ihnen nur gelungen, das Leben der Kinder zu
retten. Dabei hat ihnen Frau Leonia Makarewicz geholfen, die nicht weit von meinen Großeltern wohnte und mit den
Deutschen zusammenarbeitete. Gleichzeitig half sie jedoch auch Polen. Sie hatte Freunde, die bereit waren, bei der
Rettung von Polen zu helfen, jedoch ausschließlich bei der Rettung von Kindern. Die Eltern mussten für ihre Tätigkeit
gegen das Dritte Reich mit ihrem Leben bezahlen. Die Gestapo hat uns nicht uneigennützig freigelassen. Meine
Großeltern haben ihr gesamtes Vermögen verloren. Die Deutschen waren gierig und erschwindelten sich alles, was
nur möglich war.
Nach dieser Tragödie verblieb in Grabówka bei Białystok ein Grabhügel. Im Jahr 1946 oder 1947 nahmen meine
Großeltern an der Exhumierung der Leichen teil. Mich haben sie damals nicht mitgenommen. Meine Großeltern
wollten mir den Schock ersparen, dasselbe zu sehen, wie sie. Dank meinem Großvater wissen wir, in welchem Grab
sich meine Mutter befindet. Mein Großvater kannte nämlich einen Bauern aus Grabówka, der wusste, an welchem
Tag die Hinrichtung der Eltern stattfinden sollte. Als die Schinder den Richtplatz verlassen hatten, markierte er eine
Birke nahe am Grab und benachrichtigte meinen Großvater.
Den Hinrichtungsort besuchten wir oft gemeinsam mit meinen Großeltern mit dem Fahrrad. Der Ort erfüllt mich
mit Verzweiflung und Kraftlosigkeit. Immer, wenn ich dort bin, zerreißt mir das Weinen das Herz. Am 55. Todestag
meiner Eltern waren wir in Białystok, wir sind extra zu ihrem Grab gefahren und haben dort viele Fotos gemacht. Ich
habe mir auch ein Herzensbedürfnis erfüllt: nach 55 Jahren erhielt ich die Erlaubnis, in das Gefängnis, in die Zelle
einzutreten, in der wir mit meiner Mutter zusammen eingesperrt waren. Die tragischen Erinnerungen wurden
wieder lebendig, ich konnte die Rührung, die Angst und die Tränen nicht zurückhalten. Dort habe ich meine Mutter
zum letzten Mal gesehen.
Janina Muszyńska
mit ihrer Mutter,
1936 (AFPNP
41
STRAFLAGER UND GEFÄNGNISSE
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Häftlinge im Baudienst−Straflager, Krakau, 1942−1944 (IPN)
Appell in der Mädchenabteilung des Polen–Jugendverwahrlagers in Łódź / Litzmannstadt, vor der Tür steht eine
„Erzieherin”, Datum unbekannt (MTNwŁ)
ANTONI GÓRSKI
43
ANTONI GÓRSKI
Sklavenarbeit in
Deutschland
Der Autor wurde 1942 aus der Gegend von Krzemieniec (Kremenez) zur Zwangsarbeit in die
Bahn‐Ausbesserungswerke nach Bremen‐Hemelingen deportiert. Zum Zeitpunkt der
beschriebenen Ereignisse war er etwa 23 Jahre alt.
STRAFLAGER UND GEFÄNGNISSE
44
itte 1944 wurde ich angewiesen, mich bei der Bremer Polizei zu melden. Ich arbeitete damals in der
Nachtschicht. Ich wusch mich gründlich, zog mich an und fuhr los. Der zuständige Beamte teilte mir mit, dass
ich wegen unerlaubten Verlassens des Lagers und Handelns mit Lebensmittelkarten angeklagt wurde. Die
Anschuldigungen stimmten. Tatsächlich wohnte ich in einem abgeschlossenen, von Wachposten bewachten Lager,
ohne Recht auf Ausgang in die Stadt. […]
Ich wurde in den Hof, in eine hölzerne Baracke geführt und dort in eine Zelle eingesperrt. […] Das war eine Zelle
mit einer Fläche von ca. 10 Quadratmetern, in einer provisorischen Holzbaracke. Die Hälfte der Fläche nahm eine
Holzpritsche ein, die ca. 70 cm hoch war. Abgesehen davon gab es keine anderen Gegenstände. Zum Abort ging man
nach Aufforderung. Zweimal täglich gab es eine einigermaßen erträgliche Suppe. Schlafen musste man auf der
Holzpritsche, wobei man sich mit der eigenen Kleidung zudecken musste. Es sah aus wie in einem abstoßenden
Wartesaal auf einem Bahnhof in einem öden Nest. Wir saßen dort zu viert – zwei Polen und zwei Russen. Ich
verbrachte dort volle sieben Tage. Am sechsten Tag kam ein Mann und las im Korridor mein Urteil vor. Es wurde
festgestellt, dass ich illegal eingekauft hätte, was als kaufmännische Spekulation betrachtet wurde und ich wurde zu
sechs Wochen im Straflager in Farge (Arbeitserziehungslager Bremen‐Farge) verurteilt. Das Wort Farge klang
grauenerregend und war mir seit dem Beginn meines Aufenthaltes in Bremen bekannt. Ich hatte zweimal Häftlinge
gesehen, die aus diesem Lager zurückkamen. Sie waren laufende Gerippe gewesen. Jeder, der aus diesem Lager
zurückgekommen war, wog grundsätzlich weniger als 40 Kilogramm. Wir wurden dorthin in einem Konvoi von sechs
Personen, paarweise mit Handschellen, gebracht. Farge ist eine kleine Ortschaft an der Weser, zirka 40 Kilometer
nördlich von Bremens Zentrum. Für die Dauer der Reise gab man uns Geld und unsere Dokumente zurück. Mir war es
gelungen, das Geld aus der Börse herauszunehmen und es in einer Socke zu verstecken. In der Börse blieben nur 100
Mark. Ich wurde mit einem russischen Gefangenen, einem jungen Burschen, gefesselt, der bis dahin bei der
Bedienung einer Flugabwehrkanone beschäftigt war. Das war ein sehr solider Junge. Ich verbrachte mit ihm die
vollen sechs Wochen in diesem Straflager. Ihm wurde nicht gesagt, zu welcher Dauer er verurteilt worden war; der
Mehrheit der Gefangenen in diesem Lager ging es so. Am späten Nachmittag kamen wir ins Lager, das auf freiem Feld
errichtet worden war, mindestens zwei Kilometer von der nächsten Siedlung entfernt. Wir mussten die Nacht in der
Wäscherei verbringen, auf Beton, dicht aneinandergedrängt, weil die Wäscherei ungeheizt war und es eine Woche
vor Weihnachten war. Am Abend war es mir gelungen, mit einem Russen aus unserer Fabrik Kontakt aufzunehmen,
der hier seit drei Wochen inhaftiert war. Ich warf ihm meine Anzugsjacke zu. Am Morgen begann das echte Golgatha.
Zuerst mussten wir uns nackt ausziehen und unsere Sachen zur Desinfektion abgeben. Dann erwartete uns ein Bad,
aber ohne Eile. Als das Wasser endlich zu laufen begann, war es entweder ungeheuer heiß oder lauwarm oder eiskalt.
Dieser Bad‐Zirkus ohne Seife dauerte fast eine Stunde, das heißt so lange, wie das Entlausen unserer Kleidung
dauerte. Dann befahl man uns, unsere Kleidung unter den Arm zu nehmen und in die andere Baracke, ins
Kleidungslager zu gehen, wo wir unsere eigene Kleidung abgeben und die Lagerkleidung anziehen mussten. Im
Korridor der zweiten Baracke mit weit geöffneten Türen, musste man nackt für den Kleidungswechsel Schlange
stehen, ohne sich bedecken zu dürfen und mit der eigenen, entlausten Kleidung in der Hand, weil man für
Ungehorsam sofort eins auf die Schnauze kriegen konnte. Der Kleidungswechsel dauerte durchschnittlich eine halbe
Stunde für jeden Inhaftierten. Ich bekam eine grüne Hose, wahrscheinlich von einem früheren Gefangenen,
Unterwäsche und eine Häftlingsanzugsjacke ohne Unterfutter. Man durfte seine eigenen Schuhe behalten, weil es
im Lager an Schuhen mangelte. Es gab noch ein persönliches Gespräch mit dem Lagerführer, einem Riesen in
schwarzer SS‐Uniform, der einem bei einer unbefriedigenden Antwort oder wenn das Aussehen eines Gefangenen
nicht seinem Geschmack entsprach, sofort ins Gesicht schlug.
Nach der genauen Registrierung hatte man uns mitgeteilt, dass für die Aufenthaltsdauer im Lager die Häftlinge
nicht mehr mit ihren Namen, sondern lediglich mittels Nummern identifiziert werden. Ich bekam die Nummer 12804
und unter dieser Nummer war ich über die ganzen sechs Wochen im Lager bekannt. Um Fluchtversuche der
Gefangenen aus dem Lager zu verhindern, wurde jeder neu Verhafteten gekennzeichnet, indem man ihm die Haare
abrasierte, in einem fünf Zentimeter breiten Streifen von der Stirn aus bis zum Hinterkopf. Gegen 16 Uhr wurden wir
in die Wohnbaracke gelassen, aber erst um 18 Uhr, als alle von der Arbeit gekommen waren, bekamen wir eine
Suppe. Ich war nach dem einwöchigen Aufenthalt im Arrest in Bremen, wo man schlecht, aber immerhin ein bisschen
zu essen bekam und nach zwei Tagen Transport ohne Essen. Die servierte Kohlrübensuppe stank so sehr, dass ich sie
an diesem ersten Tag im Lager nicht einmal anrührte. Die Wohnbaracke hatte einen fast zweieinhalb Meter breiten
Korridor und mindestens vierzig Quadratmeter große Säle. In diesen Sälen standen ziemlich breite, dreistöckige,
M
ANTONI GÓRSKI
hölzerne Betten mit Matratzen, aber ohne Bettzeug. Es waren wohl sechzehn Betten. In der Mitte des Saales stand
ein eiserner Ofen mit einem Durchmesser von etwa 50 und einer Höhe von 150 Zentimetern. Im Ofen wurde solange
geheizt bis der Brennstoff, den die Bewohner am Arbeitsort besorgt hatten, aufgebraucht war. Es wurde also
gewöhnlich eine Stunde, manchmal auch kürzer geheizt. […]
Die Baracke war in der Nacht dicht verschlossen und im Korridor wurden einige Zuber aufgestellt, damit man seine
Notdurft verrichten konnte. Am Morgen floss der Brei dann neben den Zubern. Zur Reinigung der Korridore wurden
die „Muselmänner” beschäftigt, das heißt solche Häftlinge, die nicht mehr imstande waren, außerhalb des Lagers zur
Arbeit zu gehen und hier ihre letzte Tage erlebten. Der Tag begann mit einem Weckruf um 5 Uhr morgens. Fünfzehn
Minuten später wurden wir vor der Baracke in drei Reihen stehend durch einen vorgelesenen Befehl darüber
informiert, zu welcher Arbeit jeder von uns an diesem Tag zugeteilt wurde. Die aufgerufenen Nummern traten aus
der Reihe und bildeten eine Brigade. Dann gingen wir essen. Wir bekamen zirka einen Liter in Wasser gekochte
Kohlrübe ohne Fett oder Zusatz von Gemüse. Nach diesem Frühstück, das einige Minuten dauerte, ging jede Brigade
unter der Aufsicht eines SS‐Mannes an die Arbeit. Die ersten fünf oder sechs Tage lang war ich einer Brigade, die aus
vier Männern bestand und für das Kohleausladen von Schiffen im Hafen Blumenthal, der nicht mehr als fünf
Kilometer von Farge entfernt war, zugeteilt. Das war sehr schwere, harte Arbeit. Wir wurden zum Schiff und in den
mit Kohle gefüllten Laderaum geführt und sollten das mechanische Ausladen verbessern oder eher beschleunigen.
Der Laderaum war etwa acht Meter breit und lang und nicht weniger hoch. […] In der nächsten Woche wurde ich in
ein Kommando eingegliedert, das aus hundert Personen bestand und beim Bau einer Abschussrampe für V‐2 Raketen
eingesetzt war. An diesem Bau blieb ich bis zum Ende meines Aufenthaltes in Farge. Der Bau der Abschussrampe
fand im Wald statt, mindestens zehn Kilometer von unserem Lager entfernt. Die ganze Hundertpersonenkolonne lief
zu Fuß drei Kilometer zum Bahnhof, dort stiegen wir in einen speziell für uns bereitgestellten Waggon ein, fuhren
zwei Haltestellen und gingen dann wieder mindestens drei Kilometer zu Fuß in den Wald, zum Bau der
Abschussrampe. Die ganze Reise dauerte in eine Richtung ungefähr eineinhalb Stunden. Die Kolonne führte einer der
Wachmänner an, gleich hinter ihm trugen vier Häftlinge mit zwei Stangen eine Kiste mit Proviant für das Mittagessen.
Darin waren Schwarzbrot, zwei cm dicke Scheiben, eine für jede Person, 20 Gramm Margarine pro Kopf und drei oder
vier Kilogramm Malzkaffe, aus dem für uns in einem Hundertliterkessel warme Speisen zubereitet wurden. Während
der halbstündigen Pause musste man sich auf den Kessel mit dem Kaffee stürzen und immer irgendwelche alten
Büchsen für den Kaffe bei der Hand haben. Brot mit Margarine war garantiert. Trotz des mühseligen Transports hatte
die Arbeit an diesem Bau ihre Vorteile, weil man in einer so großen Gruppe das Schaufeln, sogar in unmittelbarer
Nähe des Wachmanns, vortäuschen konnte. Es gab aber auch Nachteile. Auf dem Bau arbeiteten neben den
Häftlingen italienische Gefangene aus der sogenannten „Badoglio”‐ Gruppe und eine kleine Gruppe von Deutschen.
Das Lager war bewacht, aber der Wald bot Gelegenheit zum Fliehen. Während meiner dreißigtägigen Arbeit an
diesem Bau wurden vier Fluchtversuche unternommen. Einmal bat einer der Gefangenen um Erlaubnis, in den Graben
zu gehen, um seine Notdurft zu verrichten. Aus diesem Graben begann er zu fliehen. Das wurde sofort bemerkt. Der
dumme Kerl lief, statt in den Wald zu fliehen, auf einen waldlosen Hügel zu. Die Wachmänner begannen mit Freude
wie auf Jagdwild zu schießen. Er war nicht weit, vielleicht 100 Meter entfernt. Er wurde schon durch den fünften oder
sechsten Schuss getötet. Der andere Gefangene wurde bei einem Fluchtversuch bemerkt und mit Schreien zur
Rückkehr aufgefordert. Er verzichtete auf seine Flucht und kam tatsächlich zurück. Schon im Wald wurde er gequält
und im Lager für eine Woche im Bunker eingesperrt. In zwei anderen Fällen war, wenigsten hier am Bau, die Flucht
gelungen.
[…]. Eines Tages am Morgen spürte ich, dass ich Fieber hatte. Ich meldete es dem Wachmann, aber er lehnte
meine Meldung ab, weil er meinte, dass ich mich am Abend beim Arzt melden sollte. Als ich wiederholte, dass ich
krank sei, bekam ich einen Schlag ins Gesicht und fiel in den Schnee. Ich stand sofort auf, weil ich mir bewusst war,
was es bedeuten könnte, weiter krank zu sein. Der Wachmann gab nicht nach. Er befahl, dass ich als einer von vier
die Kiste mit Essen tragen sollte. Diese Strafe hat mich gerettet. Die anderen drei trugen nicht nur die Kiste, sondern
auch mich, der sich mit den Händen an den Stangen festhielt. Ich wusste was es bedeutete, krank zu sein. In diesem
Lager bedeutete es mindestens in neun von zehn Fällen den Tod. […] Ich zwang mich zu all der psychischen Disziplin,
zu der ich damals im Stande war. Und ich konnte viel leisten, ich war doch nicht einmal 23 Jahre alt. Außer Fieber,
das mit der Grippe verbunden war, kriegte ich Durchfall. Ich konnte nichts essen, weil sogar ein kleines Stück Brot
oder ein Schluck Suppe gezwungene Stuhlentleerung verursachte. Das war gefährlich. Ein Russe riet mir, ich solle
mich über den Malzkaffeesatz hermachen. […] Ich aß diesen Kaffeesatz drei Tage lang und wurde gesund. Ich hatte
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STRAFLAGER UND GEFÄNGNISSE
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einen Vorteil gegenüber den meisten anderen Gefangenen, weil ich wusste, für welche Zeit ich verurteilt worden war
und so konnte ich jeden Tag die noch verbleibenden Tage zählen. Endlich kam der letzte Tag und während des
Morgenappells sagte man mir, dass Nummer 12804 heute nach Hause gehen könne. Ich ging nicht zur Arbeit, aber
ich wurde auch nicht am Morgen freigelassen. Mit den sich noch bewegenden „Muselmännern” wurde ich dazu
angetrieben, die Kohlrüben aus der Lagergrube herauszuholen. Die Grube war ziemlich groß, sie bot Platz für
mehrere Tonnen. Wir sollten jede einzelne Kohlrübe von Erde befreien, in Körbe laden und in einen Wagen bringen.
Die Arbeit war nicht schwer, aber psychisch nicht einfach, denn wie kann man so etwas tragen, reinigen und dabei
nicht auch ein Stück anbeißen. Der Wachmann schrie drohend, aber die schrien ohnehin den ganzen Tag lang. Einen
hat er doch gesehen, rief ihn aus der Grube heraus, nahm eine von den größeren Kohlrüben, steckte diese dem
Ertappten in den Mund und ließ ihn in Habachtstellung stehen. Das schreckte die anderen Halbverhungerten jedoch
nicht davon ab, es schreckte auch mich nicht ab. Ich wurde beim Annagen einer Kohlrübe erwischt und auch mir
steckte man eine große Kohlrübe in den Mund. Ich stand mit der Kohlrübe im Mund fast eine Stunde lang da und es
war eine der schlimmsten Folterungen, die ich erlebt habe. Am Nachmittag dieses Tages bekam ich meine
Dokumente und Kleidung zurück und wurde zum Bahnhof gebracht. Als ich zum Hauptbahnhof Bremen kam, ging
ich mich wiegen. Ich wog 38 Kilogramm, was bedeutete, dass ich in dem Straflager während der sechs Wochen 32
Kilogramm verloren hatte, d.h. 46% meines normalen Gewichts. In der Nähe vom Bahnhof gab es eine kleine
Gaststätte, wo manchmal Gerichte ohne Lebensmittelkarten serviert wurden. Ich ging dorthin. Man brachte
Kohlrübensuppe. Ich probierte sie und trotz des Hungers habe ich sie nicht herunterbekommen.
Häftlinge arbeiten auf einem von der Gestapo beschlagnahmten Grundstück, Bydgoszcz / Bromberg,
August 1942 (IPN)
STRAFLAGER UND GEFÄNGNISSE
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Jugendliche Häftlinge des Polen−Jugendverwahrlagers in Łódź / Litzmannstadt in einer Werkstatt, nach Dezember
1942 (MTNwŁ)
SS−Sturmbannführer Karl Ehrlich, Kommandant des Polen−Jugendverwahrlagers in Łódź / Litzmannstadt, inspiziert
die gerade eingetroffenen Kinder, Datum unbekannt (MTNwŁ)
ZWANGSARBEIT
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Zwangsarbeit
ins der Hauptziele der Politik des Dritten Reiches war das Eingliedern der eroberten Gebiete in die
wirtschaftliche Struktur Deutschlands sowie deren maximale Ausbeutung. Geplant war eine möglichst große
Anzahl von Polen zum Aufbau der deutschen Wirtschaftskraft heranzuziehen. Ausländische Arbeiter sollten die zum
Militär eingezogenen deutschen Bürger und die ausländischen Saisonarbeiter ersetzen, die seit dem Ende des 19.
Jahrhunderts regelmäßig eingestellt wurden. Um diesen Plan zu verwirklichen, wurde ein System zügig agierender
Arbeitsämter aufgebaut. Bereits drei Tage nach dem Überfall auf Polen nahmen die Deutschen auf den besetzten
Gebieten die ersten Arbeitsämter in Betrieb. Ab Oktober 1939 bestand auf den besetzten polnischen Gebieten bereits
ein dichtes Netz dieser Ämter.
Die Zwangsdeportationen der polnischen Bürger zur Arbeit im Dritten Reich können in mehrere Etappen eingeteilt
werden. Die erste Etappe begann fast direkt nach dem Einmarsch deutscher Truppen in Polen und hielt bis zur
Einführung der zivilen Verwaltung an (IX. ‐ X. 1939). Fast gleichzeitig mit der Einnahme polnischer Territorien durch
deutsche Truppen begannen Razzien in der Zivilbevölkerung, die vom Militär bzw. von dem Militär folgenden
Polizeikräften durchgeführt wurden. Solche Aktionen dienten vor allem Propagandazwecken. Man versuchte den
Deutschen einzureden, dass der Krieg und die Einnahme neuer Gebiete von hohem Nutzen seien. In der ersten Hälfte
des Septembers 1939 schickte man eine Gruppe von 13000 Arbeitern nach Ostpreußen. Sie wurden zusammen mit
gefangen genommenen Soldaten bei der Kartoffelernte eingesetzt. Besser organisiert waren die Deportationen
nach der Entstehung von Arbeitsämtern. Diese begannen bereits in der zweiten Septemberhälfte 1939, Arbeiter nach
Deutschland zu schicken. Die ersten Transporte fuhren aus Bromberg, Gdingen, Gnesen, und Oberschlesien. Die
Arbeitsämter verfügten über Listen von Menschen, die als unsicher galten und zur Arbeit entsandt werden bzw.
diese Gebiete auf andere Art und Weise verlassen sollten – die Listen wurden von Deutschen zusammengestellt, die
in diesen Gebieten lebten.
Die zweite Etappe der Anwerbung von Arbeitskräften erfolgte nach Einführung der zivilen Besatzungsverwaltung
und dauerte bis zur Berufung des Amtes des Generalbeauftragten für den Arbeitseinsatz (26. Oktober 1939 – März
1942).
In diesem Zeitraum wurden Kriegsgefangene massenhaft bei Zwangsarbeiten eingesetzt. Die Grundlagen der
Gefangenenpolitik wurden bereits 1938 definiert. Laut diesen sollten die Gefangenenlager in Gebieten errichtet
werden, die von Arbeitskräftemangel betroffen waren und die Arbeitsämter sollten ein Berufsverzeichnis aller
Gefangenen führen, damit diese in ihren jeweils erlernten Berufen effektiv eingesetzt werden konnten.
Die Anwerbung von Arbeitskräften und die Behandlung der lokalen Bevölkerung, darunter der intellektuellen Elite,
verliefen auf den Gebieten, die in das Deutsche Reich eingegliedert werden sollten, etwas anders als im
Generalgouvernement. Auf den in das Dritte Reich eingegliederten Gebieten wurde keine Anwerbung von
Freiwilligen zur Arbeit durchgeführt. Dies hing mit der NS‐Ideologie zusammen, laut der Polen als Angehörige einer
minderwertigen Art kein Recht auf Selbstbestimmung hatten. Deportationsaktionen nach Deutschland waren genau
geplant. Auf der Grundlage der Namenslisten, die von den Arbeitsämtern zusammengestellt wurden, wurden
Personen, die zur Deportation bestimmt waren, aufgefordert sich bei den Arbeitsämtern zu melden. In diesem
Zeitraum konzentrierten sich die deutschen Behörden jedoch hauptsächlich auf die Umsiedlung von Polen in die
Gebiete des Generalgouvernements und auf die Vorbereitung der eingegliederten Gebiete für die Besiedlung durch
die deutsche Bevölkerung.
Auf dem Gebiet des Generalgouvernements propagierte man dagegen während der gesamten Besatzungszeit die
freiwillige Arbeit im Reich. Man sparte nicht an Propagandamitteln, die Kampagne brachte jedoch nicht die
erwarteten Ergebnisse, weil die Bevölkerung großen Widerstand leistete. Anfang 1940 wurde klar, dass das
Generalgouvernement die von oben diktierte Anzahl von Arbeitskräften nicht liefern kann. Bereits im Februar 1940
wurde die freiwillige Anwerbung durch unterschiedliche Zwangsmaßnahmen ergänzt. In Städten wurden Razzien
durchgeführt, in Dörfern wurden Einwohner namentlich aufgerufen, sich an einem bestimmten Tag zur Abfahrt zur
Arbeit bereit zu stellen. Zu diesem Zweck wurden die Polizei und die lokalen Behörden herangezogen, die zur
Beschaffung eines von oben bestimmten Kontingents von Zwangsarbeitern verpflichtet wurden. Anfangs war dieses
E
ZWANGSARBEIT
Vorgehen schlecht organisiert, aber bereits im April, als die zentralen Behörden darauf drängten, vorgegebene
Kontingente an Arbeitskräften zusammenzustellen, begann man unmittelbar Zwang anzuwenden. Es wurde üblich,
Familienmitglieder der arbeitsunwilligen Personen als Geiseln festzuhalten. Die Arbeitsämter waren befugt
gegenüber Polen vielerlei Strafmaßnahmen, unter anderem körperliche, anzuwenden. Um den Bestellungen aus
dem Reich nachzukommen, kooperierten die Arbeitsämter mit den lokalen Verwaltungsbehörden, den lokalen
NSDAP‐Einheiten und allen Polizeiformationen.
Trotz Anwendung verschiedener Repressionen durch die deutschen Behörden, wie Verhaftungen, Terror und
präventiver Haft in Arbeitserziehungs‐ oder sogar Konzentrationslagern haben diese Maßnahmen nicht die
erwarteten Resultate gebracht. Von den geforderten 500 000 Arbeitskräften gelang es, 50 000 Menschen zur
Zwangsarbeiter in der Industrie und 160 000 zur Zwangsarbeit in der Landwirtschaft nach Deutschland zu schicken.
Bis zum Jahr 1941 wurden die Fahrten nach Deutschland von Terror und Zwang begleitet. Auf von den
Arbeitsämtern vorbereiteten Namenslisten landeten Personen, die laut den Ämtern das Deutsche Reich
gefährdeten. Dies betraf Jugendliche und gebildete Menschen. Ihre Deportation nach Deutschland hatte
präventiven Charakter – sie verhinderte deren Beteiligung an der Untergrundbewegung.
Die Deportationen in das Dritte Reich nahmen im Jahr 1941 ab, als mit den Vorbereitungen für den Krieg gegen die
Sowjetunion begonnen wurde. In dieser Zeit wurden Zwangsarbeiter auf polnischem Gebiet benötigt, besonders bei
Straßen‐ und Bahnarbeiten.
Während des Krieges gegen die Sowjetunion wurde es üblich, Einheimische zu Arbeiten in Frontnähe oder zum
Transport von Waffen und Ausrüstung zu zwingen. Es ist schwierig, die Anzahl der Betroffenen zu schätzen, man
weiß allerdings, dass es in den östlichen Gebieten, wo besonders lange Zeit die Front verlief, zahlreiche solcher Fälle
gab.
Bereits im Jahr 1941 begannen in den in das Dritte Reich eingegliederten Gebieten Arbeiter zu fehlen, die die
industrielle Produktion auf hohem Niveau aufrechterhalten konnten. Die Besatzer verfolgten nämlich zwei
kurzfristige, einander ausschließende Ziele. Einerseits wollten sie die polnische Bevölkerung aussiedeln und an
deren Stelle Deutsche ansiedeln, andererseits wollten sie die industrielle Produktion erhöhen und Arbeitskräfte in
das Altreich schicken. Dies war in stark industrialisierten Gebieten – in Großpolen und Schlesien ‐ besonders sichtbar,
weniger dagegen im Regierungsbezirk Zichenau, der als Quelle an Arbeitskräften (hauptsächlich für die
Landwirtschaft) für Ostpreußen diente. Diese Lage zwang die Behörden dazu, das Tempo der Aussiedlungsaktion zu
reduzieren und darüber hinaus immer jüngere Kinder zu beschäftigen.
Die nächste Etappe der Deportationen stellt der Zeitraum von der Berufung des Amtes des
Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz bis zur Niederlage in Stalingrad (März 1942 – Februar 1943) dar.
Dieses Amt wurde kraft Hitlers Entscheidung zu einem eigenständigen Organ der staatlichen Verwaltung. Es verfügte
über weitreichende Kompetenzen, um Arbeiter in den besetzten Ländern zu rekrutieren. Ab diesem Zeitpunkt waren
nur von diesem Amt berufene Anwerbungsstellen befugt, Zwangsarbeiter zu rekrutieren. Im April ernannte man die
für die einzelnen Verwaltungsbezirke verantwortlichen Gauleiter (durch die NSDAP beauftragte Leiter der Bezirke)
zu Beauftragten für den Arbeitseinsatz in ihren Bezirken. Diese Reformen sollten zu einer Zentralisierung der
Anwerbestellen führen und außerdem diese mit den lokalen Leitern der NSDAP in Verbindung bringen. Nach
Durchführung der erwähnten Reformen begannen die Arbeitsämter wiederum mit der Anwerbung von
Arbeitskräften. In diesem Zeitraum nahmen die Aktionen besonders grausame Formen an. Am 7. Mai 1942 erließ der
Generalbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz Fritz Sauckel eine Anordnung, laut der bei einem Mangel an
freiwilligen Meldungen Zwangsrekrutierung erlaubt war. In einem geheimen Rundschreiben genehmigte Sauckel
außerdem die Nichteinhaltung des Gesetzes zum Schutz polnischer Kinder. Folge dieser Vorgänge war ein noch
stärkerer Terror gegenüber Polen und die Anwerbung immer jüngerer Kinder zur Zwangsarbeit. In diesem Zeitraum
wurde auch die zwangsweise Beschäftigung von Frauen sanktioniert.
Die vierte Anwerbungsetappe begann nach der Niederlage in Stalingrad und dauerte bis zum Ende des Krieges. In
dieser Zeit galten bei der Anwerbung von Arbeitern keinerlei Regeln mehr. Es folgte die Mobilisierung zum „totalen
Arbeitseinsatz“ mithilfe aller möglichen Mittel. Dieser Zeitraum ist geprägt von einer besonderen Grausamkeit
gegenüber den zur Arbeit bestimmten Polen. Die Zwangsarbeiter mussten die immer jüngeren, an die Front
berufenen Jahrgänge der deutschen Jugend ersetzen. Die Behörden des Dritten Reiches versuchten nicht einmal,
den Schein von Anstand zu wahren. Arbeiter wurden mittels Razzien, „Pazifikationen“ und Massenaussiedlungen
angeworben. 1943 wurden zigtausende Arbeiter zur Arbeit ins Deutsche Reich geschickt, die vorher brutal aus dem
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ZWANGSARBEIT
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Gebiet um Zamość vertrieben wurden. Im März 1943 wurden aus dem Warthegau 23 500 Menschen ausgesiedelt, die
zur Arbeit in von Deutschen verwalteten Bauernhöfen auf dem Gebiet des besetzten Frankreichs geschickt wurden.
Man bemühte sich außerdem, die schon Beschäftigten möglichst effektiv auszunutzen. Es wurde üblich, Frauen,
Kinder unter 12 Jahren und KZ‐Häftlinge einzusetzen. Seit Anfang 1943 wurde den Behörden klar, dass eine hohe
Sterblichkeit der Häftlinge in den KZs für Deutschland von Nachteil ist. Daher wurde den Familien der Häftlinge
erlaubt, Lebensmittelpakete zu schicken, was angesichts des in den Lagern herrschenden Hungers zumindest eine
kleine Besserung der Lage der Häftlinge bedeutete.
Die letzten in das Deutsche Reich deportierten Zwangsarbeiter waren diejenigen, die vor der anrückenden
sowjetischen Front zwangsweise evakuiert wurden. Für Manche endete dieser Weg tragisch‐ sie teilten das Schicksal
ihrer „Herren“ und wurden von den Russen vor der Befreiung ermordet.
Die Lage der in das Dritte Reich deportierten polnischen Zwangsarbeiter war sehr schwer. Deutsche Verordnungen
diskriminierten besonders Polen und Bürger der Sowjetunion. Ihre Situation war schwieriger als die anderer
ausländischer Fremdarbeiter. Mit Polen wurden im Dritten Reich keine Arbeitsverträge abgeschlossen. Die
Anstellung erfolgte über eine amtliche Zuweisung einzelner Personen zu Arbeitgebern, die Bedarf an Arbeitskräften
gemeldet hatten. Polen hatten kein Recht, ihren Arbeitsplatz selbst zu wählen oder zu wechseln. Die Arbeitszeit
wurde vom Arbeitgeber festgesetzt. Die in der Landwirtschaft Beschäftigten mussten von den frühen
Morgenstunden bis in die späten Abendstunden arbeiten, auch an Sonn‐ und Feiertagen. Ab 1942 war es nicht mehr
erlaubt, Urlaub zu nehmen. Die deutschen Arbeitgeber sicherten keinen Schutz von Leben und Gesundheit zu,
schwangere Frauen erhielten keinerlei Versorgung. Mutterschaftsurlaub dauerte ein paar Tage. Jugendliche
arbeiteten unter denselben Bedingungen und genauso lange wie Erwachsene, Jugendliche erhielten jedoch einen
geringeren Lohn. Die meisten Polen litten Hunger. Der Kaloriengehalt einer Tagesration überschritt 1500 Kalorien
nicht. Den Polen wurde das Recht auf Erwerb jeglicher Artikel entzogen, die die Deutschen mithilfe von
Lebensmittelmarken erwerben konnten. Die polnischen Arbeiter mussten ein aufgenähtes „P“ an ihrer Kleidung
tragen. Es wurde ihnen verboten, ihren Wohnort ohne amtliche Genehmigung zu verlassen, sie durften sich auch
nicht in öffentlichen Lokalen aufhalten, an kulturellen Veranstaltungen teilnehmen, heiraten, zur Kirche gehen oder
ohne einen amtlichen Ausweis öffentliche Verkehrsmittel nutzen. Es galt natürlich ein bedingungsloses Verbot
jeglicher intimer Kontakte mit Deutschen.
Die in der Landwirtschaft beschäftigten Polen wohnten in Wirtschaftsgebäuden, häufig gemeinsam mit Tieren. Die
in der Industrie Beschäftigten lebten unter kasernenähnlichen Bedingungen – in Lagern. Sie wurden in
Sammelunterkünften untergebracht (in Baracken, Tanzsälen, Feuerwachen), die nicht immer zum Wohnen geeignet
waren.
Die schwierigen Lebensbedingungen schadeten der Gesundheit der Arbeiter. Viele wurden krank, es stand ihnen
jedoch keine medizinische Versorgung zu. Die Schwerkranken wurden nach Hause geschickt. Die Arbeiter unterlagen
der Aufsicht der Gestapo und konnten sogar für kleine Vergehen oder aufgrund falscher Anschuldigungen von Seiten
des Arbeitgebers ins Konzentrationslager geschickt werden. Neben den polizeilich‐gerichtlichen Repressionen
waren die Polen Schikanen und Gewalt von Seiten ihrer Arbeitgeber ausgesetzt.
Die deutschen Besatzungsbehörden verfügten über einen detailliert ausgearbeiteten Plan bezüglich der Verteilung
der zur Arbeit deportierten Zwangsarbeiter. Diesem Plan zufolge sollten Polen lediglich in Gebieten des Altreiches
beschäftigt werden. Diese Vorgaben wurden jedoch nicht erfüllt. Polnische Zwangsarbeiter arbeiteten fast auf dem
gesamten durch das Dritte Reich kontrollierten Territorium. Im Norden, hinter dem nördlichen Polarkreis, gab es
Männer, die von der Organisation Todt beim Bau von Schutzanlagen und Befestigungen beschäftigt wurden. Diese
Organisation beschäftigte polnische Zwangsarbeiter auf den Normannischen Inseln (auf der Insel Jersey) und in
Italien. Ungefähr 50 000 Polen arbeiteten in den Sudeten, 113 000 in Österreich und Slowenien, einige Tausende in
Elsass, Lothringen, Luxemburg und Belgien, 23 500 in den besetzten Gebieten Frankreichs. Polen, die in so genannten
„Bauzügen“ arbeiteten, reparierten beschädigte Gleise in allen vom Dritten Reich kontrollierten Ländern.
Die Festlegung der genauen Anzahl aller deportierten Arbeiter ist sehr schwierig. Die Angaben variieren zwischen
1 700 000 (laut Ulrich Herbert) und 3 200 000 (laut Berechnungen der Betroffenen). Czesław Łuczak – ein polnischer
Historiker, der sich mit der Wirtschafts‐ und Völkerpolitik des Dritten Reiches befasste, gibt eine Zahl von 2 857 500
Personen an.
IRENA CHRZANOWSKA
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IRENA CHRZANOWSKA
Erinnerungen
aus Ostpreußen
Die Autorin wurde am 6. Februar 1926 geboren. Im August 1944 nahmen zurückweichende
deutsche Truppen einen Teil der Bewohner des Dorfes Gostkowo (Landkreis Ostrów
Mazowiecka), darunter auch die Autorin, gefangen. Sie wurden nach Królewiec (Königsberg)
verschleppt und kam in ein Durchgangslager. Oft wurde sie zu Aufräumarbeiten oder zur
Aushebung von Schützengräben eingesetzt. Im April 1945 wurde sie von den Russen aus
Ostpreußen evakuiert. Sie war Zeugin von Gewalttaten an der Bevölkerung. Am 1. Mai 1945
kehrte sie nach Hause zurück.
ZWANGSARBEIT
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Trennung von der Familie
Der 11. August 1944 war ein sonniger Tag. Von Osten her waren dumpfe Kanonenschüsse zu hören. In Gostkowo, im
Heimatdorf meiner Mutter, ging das alltägliche Leben seinen gewohnten Gang. Die Anwesenheit deutscher Truppen
sorgte zwar für Aufregung, aber die Hausbewohner bemühten sich, ihren Beschäftigungen ungestört nachzugehen.
Plötzlich wurde es laut auf dem Weg, der durch das Dorf führte. Weinen und Schreie von Menschen mischten sich
in das Brüllen von Rindern und in das Blöken von Schafen, die von Deutschen hergetrieben wurden. Die deutschen
Offiziere liefen auf dem Hof umher und erteilten ihren Soldaten Befehle. Zwei von ihnen drangen in unsere Wohnung
ein. Meine Kusine Halina und ich versteckten uns im Kleiderschrank. Sie brüllten meine Mutter an, sie solle ihnen den
Schlüssel zum Pferdestall geben. Sie drohten ihr, sie zu töten, wenn sie ihnen die Tür nicht aufschließe! Als ich das
hörte, konnte ich mich nicht beherrschen und sprang aus dem Schrank, meine Kusine mir nach. Die Deutschen
ergriffen uns, so wie wir waren, barfuß und nur mit leichten Kleidchen und gelben, wollenen Blusen bekleidet, und
trieben uns zu den anderen Menschen hin. Unter ihnen war auch meine Mutter, die die Deutschen weinend anflehte,
sie nach Hause zurückkommen zu lassen, weil sie dort ein kleines Kind und ihren kranken Mann zurückgelassen habe.
Ich war damals 18 Jahre alt, mein Bruder war drei Jahre jünger.
Nach einigen hundert Metern wurde meine Mutter freigelassen, während man uns weiter forttrieb. Auf den Feldern
zündeten die Deutschen das zu Garben gebundene Getreide an. Es war ja gerade Erntezeit. Die Bauern sahen, wie die
Früchte ihrer Arbeit sowie ihr ganzes Hab und Gut vernichtet wurden, als die Flammen Felder und Gebäude ergriffen. Die
dumpfen Kanonenschüsse und das Knistern des brennenden Strohs machten auf uns alle einen entsetzlichen Eindruck.
In der Nähe des Dorfes Milanowo wurde eine Pause angeordnet. In einiger Entfernung sah ich ältere Frauen auf
einem Hügel sitzen. Ich überredete meine Kusine und meine Freundin Zofia dazu, uns von der Gruppe zu trennen,
und uns zu den Frauen zu setzen. Die Frauen nahmen uns wie ihre Kinder auf. Sie banden uns Kopftücher um und
legten uns dunkle Mäntel um, damit unsere grellgelben Blusen nicht zu sehen waren. Die Freiheit währte jedoch nicht
lange. Vor uns erschien plötzlich ein deutscher Soldat zu Pferde. Er zerrte an meinem Mantel und schrie: „Wo ist
deine Schwester?“ Meine gelbe Bluse hatte mich verraten. Er schlug mir ins Gesicht, und im selben Moment erblickte
er meine Schwester. Natürlich trieb er uns sofort zurück, zu der Gruppe von Menschen, die sich am Weg ausruhten.
Wanderung ins Unbekannte
Wir gingen weiter, dabei ritt die ganze Zeit der Deutsche hinter uns her, der zuvor unseren Fluchtversuch vereitelt
hatte. Wir gelangten ins kleine Städtchen Andrzejewo. Das Städtchen war menschenleer. Niemand starrte uns an,
niemand war vor dem Haus mit irgendetwas beschäftigt. Wir wurden auf einen großen Platz zwischen den Häusern
getrieben, auf dem wir die Nacht verbringen sollten. Da es unter uns ziemlich viele junge Mädchen und Frauen gab,
nahmen die Männer auf der Erde Platz, und zwar so, dass sie einen Ring um uns herum bildeten, zum Schutz vor den
Soldaten. Wir waren nahe der Front und alles konnte passieren.
Am frühen Morgen wurde das Signal gegeben, weiter zu marschieren, und zwar in Richtung Ostrów Mazowiecka,
das 20 km von Andrzejewo entfernt war. Wir waren sehr hungrig und durstig. Immer derselbe Deutsche folgte uns
mit seinem Pferd auf Schritt und Tritt und beobachtete all unsere Bewegungen, so dass wir uns auf keinen Fall von
der Gruppe lösen konnten.
Die Bäume am Wegrand waren einige Meter über dem Boden abgesägt und boten einen kläglichen Anblick. Daraus
schlossen wir, dass die Deutschen dabei waren, sich auf diesem Gelände auf einen direkten Kampf vorzubereiten.
Gleich hinter einem mit Wasser gefüllten Graben war ein Obstgarten und einige der Bäume lockten uns mit ihren
Früchten. Ich hob zwei Birnen auf, eine davon gab ich Halina, die andere aß ich selbst mit großem Appetit. Danach
trank ich etwas Wasser aus dem Graben. Meine Schwester begann, über Schmerzen in ihren Füßen zu klagen.
Wahrscheinlich deshalb, weil sie den ganzen Weg barfuß gegangen war. Ich selbst verspürte noch keinen Schmerz.
Wir wurden hinter einen Stacheldraht getrieben, wo einige Baracken standen. Daneben, auch hinter einem
Stacheldraht, waren russische Kriegsgefangene eingesperrt. Plötzlich überfielen mich heftige Bauchschmerzen und
ich fühlte mich völlig kraftlos. Die Schmerzen waren fürchterlich! Während der ganzen Nacht bekam ich Hilfe von
einem jungen Mann; er trug mich mehrmals huckepack zur Toilette, die einige hundert Meter entfernt war.
Schließlich wurde ein deutscher Arzt geholt, der mir irgendwelche Tabletten gab. Ich schluckte sie und sie halfen mir.
Ich fühlte mich gleich besser. Meine Kusine litt aber immer noch an den Schmerzen in ihren Füßen.
IRENA CHRZANOWSKA
Nach einigen Tagen verließen wir unser von Stacheldraht umgebenes Gefängnis. Da ich immer noch zu schwach
war, um zu Fuß zu gehen, und da auch meiner Kusine die Füße schmerzten, wurden wir in einem Pferdewagen
gefahren. Alle übrigen Personen gingen zu Fuß. Schließlich erreichten wir die Eisenbahngleise in Ostrołęka. Wir
wurden in Viehwaggons verladen. Unter uns waren auch Leute aus anderen Orten – größtenteils aus Łochów. Jene
Leute hatten Bettwäsche und Geschirr dabei ‐ wir hatten nichts! In der Nähe der Station stand eine Feldküche. Einer
aus der Gruppe rief: „Essen wird ausgegeben!“ Ich wurde hungrig. Da wir kein Gefäß dabei hatten, konnten wir nur
auf die Hilfe anderer zählen. Eine Frau gab uns ein wenig von ihrer Suppe, damit wir uns stärken konnten. Obwohl
ich gewisse Bedenken gegen die Suppe hatte, probierte ich sie. Ich hatte ja längere Zeit nichts gegessen. Die
Erbsensuppe schmeckte gut und schadete mir nicht. Ich fühlte mich gut.
Weitere Reise ins Unbekannte
Nach einigen Tagen wurde eine Lokomotive an die Waggons angehängt, welche dann verschlossen wurden. Der Zug
setzte sich in Bewegung. Wir wussten nicht, wohin wir transportiert wurden. Wir fuhren allerdings nur dann, wenn die
Strecke frei war. Aber wir sahen keine Truppentransporte an die Front fahren. Und die Front kam immer näher…
An der Station in Allenstein blieb der Zug stehen. Durch Ritze in den Wänden des Waggons sahen wir Menschen
auf einen Personenzug warten. Eine deutsche Frau sagte zu einer anderen, man sollte uns zu Fuß treiben, anstatt uns
mit einem Zug zu transportieren.
Die Nächte waren schon ziemlich kühl. Wir saßen auf einem Strohlager, dicht aneinander gedrückt, damit uns
wärmer wurde. Wir waren sehr schmutzig, wir hatten uns seit dem Aufbruch kein einziges Mal gewaschen. Es juckte
uns am ganzen Körper. Uns war überhaupt noch nicht klar geworden, dass es Läuse waren, die den Juckreiz
verursachten. Und wir spürten im Grunde genommen keinen Hunger.
Nach mehr als zehn Tagen erreichten wir das Ziel unserer Reise, und zwar Königsberg. Wir wurden an einen Ort
gebracht, wo die Abfälle der ganzen Stadt gesammelt wurden. Überall war ein scheußlicher Gestank zu spüren. Auf
dem Gelände des Lagers standen über ein Dutzend Baracken, in denen wir vorübergehend wohnen sollten. Als die
Nacht kam, stellte sich jedoch heraus, dass es unmöglich war, in den Baracken zu übernachten, weil die Holzgestelle
der Betten völlig verwanzt (braunrot von Wanzen) waren. Wir beschlossen, die Nacht unter freiem Himmel zu
verbringen. Alle legten sich nebeneinander auf die Erde. Wer eine Woll‐ oder Daunendecke hatte, deckte sich damit zu,
um nicht zu frieren. Uns nahm eine ältere Frau in die Arme. Der Schlaf dauerte aber nicht lange, weil Ratten auf den
Liegenden herumliefen. Das war entsetzlich! Als es zu dämmern begann, waren wir immer noch wach, weil wir die
ganze Zeit darüber nachdachten, was das Schicksal noch für uns bereithalten würde. Wir waren weit weg von unserer
Familie und wussten nicht einmal, ob sie alle noch lebten oder ob unser Dorf vielleicht niedergebrannt worden war.
Gegen Mittag wurde es rege am „Müll“. Es kam eine große Gruppe Deutsche – es waren Bauern. Plötzlich kamen
zwei junge Männer zu uns. Sie fragten uns auf Polnisch, woher wir gekommen waren, und was es dort Neues über
Polen zu hören gab. Es stellte sich heraus, dass sie schon längere Zeit keinen Kontakt mehr zu ihren Familien in Polen
hatten, weil in den Gebieten, aus denen sie stammten, Kampfhandlungen stattfanden. In Königsberg waren sie zur
Zwangsarbeit im Hafen eingesetzt worden. Als sie unsere müden Gesichter und unsere schmutzigen Hände und Füße
sahen, boten sie uns an, sie zu ihrem Quartier im Hafen zu begleiten, damit wir uns waschen und etwas essen
könnten. Wir hatten im Grunde nichts dagegen. Wir waren der Meinung, dass uns dort kaum etwas Schlimmeres
würde passieren können, deshalb nahmen wir ihr Angebot an. Der Weg dorthin war nicht weit.
Nach dem Bad fühlten wir uns großartig. Als wir aber unsere Kleider ausgezogen hatten, erschraken wir: In den
Nähten unserer Unterwäsche und an der Oberbekleidung wimmelte es von Insekten. Da wir keine anderen Kleider
hatten, mussten wir die, die wir hatten wohl oder übel wieder anziehen. Unsere neuen Bekannten brachten uns zum
„Müll“ zurück. Sie sagten uns, dass wir sicher oft Hunger verspüren würden, falls wir in der Stadt bleiben würden.
Aber wenn sie uns aufs Land mitnehmen würden, würden wir dort nicht mehr zu hungern brauchen. Außerdem wäre
es dort natürlich auch weniger gefährlich für uns. In letzter Zeit gäbe es in der Stadt nämlich immer mehr Luftangriffe
und Bombardements. Sie baten uns, ihnen zu schreiben, wo wir letztendlich landen würden und gaben uns ihre
Adresse. Wir nahmen sie, obwohl wir nicht sicher waren, ob wir davon Gebrauch machen würden.
Auf dem Platz blieben nur wenige Menschen übrig. Aufs Land nahmen die Bauern ganze Familien mit, einzelne
Personen wurden niemandem zugeteilt. Die Menschen wurden ausgewählt wie auf einem Sklavenmarkt. Schließlich
nahmen uns zwei junge Frauen mit, von denen eine Polnisch sprechen konnte. Zuerst wurden wir in einen Baderaum
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ZWANGSARBEIT
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geführt, damit wir unsere Läuse loswerden konnten. Dort wurden unsere Kleider und Unterwäsche zur
Desinfizierung gebracht, während wir zum Bad geschickt wurden. Das war eine große Erleichterung! Vom ständigen
Kratzen hatten wir schon sehr viele Wunden am ganzen Körper!
Nach diesen Maßnahmen führten uns die jungen Frauen zu einem umzäunten Gebäude in der Berliner Straße, das
sich ganz nahe bei einem Friedhof befand. Dort standen drei dreistöckige gemauerte Gebäude und einige Dutzend
Holzbaracken. Das Gelände wurde von uniformierten Wachmännern bewacht. In einem der Gebäude befand sich ein
Militärstab, ein anderes war für Frauen verschiedener Nationalitäten (Polinnen, Ukrainerinnen, Französinnen und
andere) bestimmt, und das dritte bewohnten Männer.
Lager Berta
So hieß das Zwangsarbeiterlager, in das wir gebracht worden waren. Wir wurden im zweiten Gebäude einquartiert,
und zwar in der Stube 9 im zweiten Stock. In der Mitte unserer Stube stand ein Tisch mit ein paar Schemeln. Auf der
einen Seite befanden sich Etagenbetten mit Strohsäcken und Wolldecken und gegenüber standen fünf kleine
Schränke – je ein Schrank für zwei Personen. Die Stube wurde durch eine Glühbirne erleuchtet. Das Fenster war mit
einem dunklen Vorhang verdeckt, der während Luftangriffen kein Licht durchließ. Die Aufsicht über die Insassinnen
hatte eine Lagerführerin namens Hanoski (wobei ich nicht sicher bin, ob ihr Name so geschrieben wird).
In der Stube wohnten neun Personen. Im Vergleich zu dem, was wir bisher erlebt hatten, seitdem man uns aus
unserem Elternhaus weggeholt hatte, spürten wir jetzt eine gewisse Erleichterung. Doch der erste Kontakt mit den
Frauen, die mit uns das Zimmer teilten, war nicht besonders freundlich: Die bisherigen Insassinnen betrachteten uns
als Eindringlinge, die ihnen einen Teil ihrer Rationen wegessen würden. Das war sehr unangenehm!
Die Lebensmittelrationen waren tatsächlich sehr klein. Anfangs reichten sie jedoch für uns aus, weil nach drei
Wochen Reisen und Hungern unsere Mägen so geschrumpft waren, dass wir nicht viel zu essen brauchten.
Der an unsere Kleidung genähte Buchstabe „P“ war eine Art Ausweis im Lager, für den wir uns nicht im geringsten
schämten. Wir trugen ihn mit erhobenem Haupt.
Am zweiten Tag unseres Aufenthalts im Lager traten wir zum Appell an. Uns wurden Nummern zugewiesen, die im
Lager unentbehrlich waren. Am Anfang wurden wir einer Gruppe zugeteilt, die damit beschäftigt war, ein
Feuerschutzbecken auf dem Lagergelände zu graben. Die Arbeiten wurden von einem Offizier namens Wetter
beaufsichtigt. Da wir Neuankömmlinge waren, sah man unseren Gesichtern die Müdigkeit an, außerdem waren wir
sichtlich abgemagert. Obendrein hatten wir nach wie vor nur leichte Kleidung und liefen barfuß herum.
Ein Offizier gab uns eine Schaufel. Er stellte uns an den oberen Teil einer Grube, damit wir mit der Schaufel Erde
von den Personen annahmen, die tiefer unten gruben. Unter den Frauen, die an dem Becken arbeiteten, waren vor
allem Ukrainerinnen. Die Arbeit war für uns sehr schwer, aber der Offizier war zum Glück recht gutmütig – er trieb
uns nicht zu größerer Anstrengung an. Am ersten Tag brachte er uns nach Arbeitsende in eine der Baracken, in der
große, schön geordnete Stapel Militärkleidung und Stiefel lagen. Dort durften wir uns braune Mäntel sowie Hosen
und Stiefel aussuchen, und sogar auch hausschuhähnliche „Laufschuhe“, wie sie genannt wurden. Wir waren nun
einigermaßen anständig gekleidet.
Während der nächsten Tage froren wir bei den Morgenappellen nicht mehr so wie beim ersten Mal. Die Arbeit an
der Aushebung des Beckens dauerte noch mehr als zehn Tage. Die Lebensmittelrationen waren anfangs ausreichend.
Für einen ganzen Tag bekamen wir ein kleines Stück Brot und ein winziges Stück Margarine. Das Mittagessen, das wir
nach Arbeitsende in der Kantine zu uns nahmen, bestand hauptsächlich aus Kohlrübensuppe oder Suppe mit
Graupen. Manchmal wurden uns auch Pellkartoffeln mit einer süß schmeckenden Soße gegeben. Die Kartoffeln
waren oft angefault und eigentlich kaum genießbar. In derselben Kantine aßen auch deutsche Offiziere, aber ihre
Speisen waren unvergleichlich besser.
Als die Arbeit an der Aushebung des Beckens zu Ende war, wurden wir zur Sortierung von Kleidungsstücken,
Stiefeln sowie von Patronengürteln, Pistolentaschen oder ähnlichem abkommandiert. All das Zeug wurde von der
Front hergebracht. Die Kleider waren meistens schmutzig, blutverschmiert, zerrissen oder von Kugeln zerfetzt. Die
schmutzigen Sachen wanderten in die Waschküche, und die zerrissenen in die Nähwerkstatt. In diesen Einrichtungen
arbeiteten Polen und Menschen anderer Nationalitäten, darunter auch Deutsche, die zum Kampf an der Front
ungeeignet waren. Dort arbeiteten mit uns auch deutsche Frauen, die in erster Linie kontrollierten, ob wir die uns
zugewiesene Arbeit auch richtig erledigten.
IRENA CHRZANOWSKA
Im Laufe der Zeit spürten wir den Hunger immer mehr. Unsere Mitbewohnerinnen holten sich oft zusätzliches
Essen aus der Stadt. Viele Zwangsarbeiter waren in einem Betrieb in Königsberg beschäftigt, sie hatten also Kontakte
zu verschiedenen Leuten und damit die Möglichkeit, sich Essen zu besorgen.
Halina und ich beschlossen den Männern, die wir im Hafen kennengelernt hatten, einen Brief zu schreiben. Wir
beschrieben ihnen darin unsere Situation und berichteten, dass wir immer hungriger wurden. Wir schickten den Brief
ab, ohne wirklich zu hoffen, dass sie ihn auch bekommen würden. Nach ungefähr zwei Wochen teilte uns ein
Wachmann mit, dass draußen am Tor zwei Männer stünden, die mit den neu aus Polen angekommenen Schwestern
sprechen wollten. Wir liefen schnell zum Tor und erkannten sofort unsere Bekannten vom „Müll“ wieder. Es war eine
große Freude für uns! Sie reichten uns zwei Taschen durch den Zaun hindurch und baten uns, diese zu entleeren und
sie ihnen gleich leer zurückzubringen. Wir wussten nicht, womit wir uns bei ihnen für ihr gutes Herz revanchieren
sollten…Wir füllten den kleinen Schrank in unserer Stube mit dem Inhalt der Koffer. Wir hatten Brot, Margarine,
Marmelade, Konserven und Lebensmittelmarken für Kuchen bekommen. Ich kann mich nicht erinnern, ob wir später
noch einmal eine derartige Hilfe bekommen haben.
Da wir in den Baracken arbeiteten, hatten wir Zugang zu verschiedenen Dingen, die für die Front notwendig waren.
Eines Tages beschlossen wir, zwei wollene Pullover zu organisieren, um sie als Dank den jungen Männern zu
schenken. Sie hatten uns schon bei unserer ersten Begegnung erzählt, dass sie bei ihrer Arbeit im Hafen zwar genug
zu Essen, aber nur unzureichende Kleidung hätten. Deshalb hielten wir es für richtig, ihnen die Pullover zu schenken
– der Winter stand schließlich schon vor der Tür.
Die Pullover aus unserer Stube mitzunehmen war leicht. Viel schwieriger war es dagegen, sie zum Tor
hinauszutragen und sie unseren jungen Bekannten mitzubringen. Das war sehr riskant. Wir hatten keinen Schein, der
uns erlaubte, das umzäunte Gelände zu verlassen. Wir warteten einen günstigen Augenblick ab, als kein Wachmann
da war und schlichen uns heimlich auf die Straße hinaus. Niemand bemerkte uns. Wir hatten die Adresse, also gingen
wir zum Hafen. Die jungen Männer trafen wir in ihrem Quartier an. Sie waren sehr überrascht. Wir zogen die Pullover
aus und gaben sie ihnen als Dank für ihre Freundlichkeit. Aber anstatt uns dafür zu danken, machten sie uns klar, wie
groß die Gefahr war, der wir uns dabei aussetzten, da es uns ja verboten war, den Waldbereich zu verlassen. Wenn
wir erwischt worden wären, dazu auch noch mit Armeepullovern, hätten wir dafür in ein Konzentrationslager
kommen können. So etwas kam nie wieder vor. Die jungen Männer sollten wir auch nie wiedersehen. Wahrscheinlich
wurden sie zu Schanzarbeiten verschickt, weil die Front immer näher an Königsberg heranrückte.
Der Winter war gekommen. Zu Weihnachten beschäftigte man uns damit, die Militäroberbekleidung weiß
anzustreichen. Das war eine sehr mühsame Arbeit, die Genauigkeit erforderte. Immer wenn die Deutsche, die unsere
Arbeit beaufsichtigte, eine ungenau angestrichene Stelle bemerkte, brüllte sie uns fürchterlich an und gab uns das
Kleidungsstück zur Nachbesserung zurück.
Wir wurden auch zur Aushebung von Schützengräben um Königsberg herum eingesetzt. Wir wurden sehr früh
geweckt, als es noch dunkel war. Wir gingen durch die Stadt bis zur Eisenbahnstation und sangen polnische Lieder.
Meistens waren das polnische Nationallieder. Die Deutschen reagierten nicht darauf. Wahrscheinlich ahnten sie, dass
ihr Ende nahe war. Wir für unseren Teil taten bei der Aushebung der Schützengräben häufig nur so, als ob wir
grüben. Oft verließen wir unseren Arbeitsplatz unter dem Vorwand, dass wir unsere Notdurft verrichten müssten.
Auch dann, wenn wir die Kleidung anstrichen, liefen wir oft weg, um uns auf dem Dachboden zu verstecken.
Stundenlang lagen wir dort unter dem Dach, obwohl wir natürlich Riesenangst hatten. Auf dem Dach des Gebäudes
befand sich ein Beobachtungsposten, der oft von Soldaten betreten wurde, unsere Angst war also durchaus
begründet. An den Abenden beobachteten wir vom Dach aus leuchtende Raketengeschosse von Stalinorgeln. Sie
flogen am Himmel wie Feuerwerke und erfüllten unsere Seelen mit Freude. Wir hofften, bald nach Hause
zurückzukehren…
Der Schrecken der Bewohner unserer Baracke war die schon erwähnte Lagerführerin Hanoski. Sie platzte oft zur
Abendzeit in die Stube herein, um zu kontrollieren, ob nach 22 Uhr die Lichter aus waren. Der Lagerführer der
Baracke, in der Männer wohnten, war angeblich weniger streng.
Das Fehlen jeglicher Nachrichten aus Polen führte dazu, dass wir die Sehnsucht nach unserer Familie und die
Besorgnis wegen der Ungewissheit, ob es ihr gut ging, durch Magie zu lindern versuchten. Im Nebenzimmer wohnte
eine junge Frau, die Geister zu beschwören wusste. Durch ihre okkulten Fähigkeiten erfuhr ich von ihr, dass meine
Eltern immer noch lebten und dass der Name meines zukünftigen Mannes Jerzy sein würde (das hat sich wirklich
bewahrheitet!).
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Zu diesen spiritistischen Sitzungen pflegte auch die stellvertretende Lagerführerin zu kommen. Sie war ganz
anders als Hanoski, sowohl in ihrem Benehmen als auch im Kontakt mit anderen Menschen.
Die Kälte setzte uns immer mehr zu. Wir hatten zu wenig Brennmaterial, um mit dem Ofen die ganze Stube zu
heizen. Aber wir fanden eine Lösung: Zwischen der Friedhofsmauer und unserem Gebäude wurden Kohlen gelagert,
die von einem uniformierten Deutschen bewacht wurden. Eine unserer Aufgaben beim Sortieren der Sachen, die von
der Front kamen, war es, deren Taschen zu leeren. Oft fanden wir darin Zigaretten oder Zigarren, mit denen wir dann
den Wachmann bezahlten. Als Gegenleistung erlaubte er uns von Zeit zu Zeit, unsere Kanne mit Kohlen zu füllen. Die
Kanne ließen wir aus dem Fenster an einer Schnur herunter, wir füllten sie mit Kohlen und zogen sie bis zum zweiten
Stock zum Fenster wieder herein. So brauchten wir nicht zu frieren. Und wieso an einer Schnur? Wie ich schon
beschrieben habe, war die Lagerführerin allgemein gefürchtet, also konnten wir die Kohlen nicht einfach so die
Treppe hinauftragen.
Halina wurde in die Küche versetzt. Anfangs fühlte ich mich einsam, aber bald zeigte es sich, dass ihre Arbeit dort
unsere Verpflegungsprobleme löste. Halina brachte jeden Tag ein Stück gekochtes Pferdefleisch mit. Sie wickelte es
in Papier ein und steckte es sich in die Tasche. Ich aß es jedes Mal mit großem Appetit auf. Fleisch war eigentlich nur
für Deutsche bestimmt.
Was mich angeht, so war ich bei der Arbeit ziemlich ungehorsam. Ich lehnte es ab, nach getaner Arbeit
aufzuräumen, wenn deutsche Frauen es mir befahlen. Sie beschwerten sich dann über mich bei dem
verantwortlichen Offizier, aber oft brauchte ich trotzdem nicht ihrem Befehl nachzukommen. Ich wollte
Gerechtigkeit – die deutschen Frauen sollten auch keine Unordnung hinterlassen. Das passive Verhalten des Offiziers
deutete darauf hin, dass das Ende der deutschen Herrschaft immer näher kam. Jeden Abend beobachteten wir
sowjetische Raketen, die aus Stalinorgeln abgefeuert wurden. Deutlich hörten wir Befehle, die von Russen über
Lautsprecher durchgegeben wurden. Bei Luftangriffen auf Königsberg heulten Sirenen. Die Deutschen flüchteten
sich in Keller, während wir Ausländer unsere Baracken verließen. Die Deutschen ärgerten sich über uns und sagten,
wir würden damit noch Unheil über sie und uns heraufbeschwören.
Zum Schluss setzte man mich dazu ein, Pakete in Waggons, Lastwagen oder auf Pferdewagen zu laden. Die Arbeit
war sehr schwer. Es arbeiteten daran einige Frauen unter Aufsicht eines litauischen Offiziers namens Nowak. Die
Waren wurden meistens von Polen abgeholt. Jedes Mal, wenn Nowak einen Polen erkannte, geriet er in große Wut.
Er ergriff dann einen Stock oder einen ähnlichen harten und scharfen Gegenstand und stürzte sich auf ihn, sicher mit
der Absicht, ihm etwas anzutun. Frauen gegenüber zeigte er aber kein aggressives Verhalten.
Die Luftangriffe wurden immer intensiver. Es wurden Bomben sowie Flugblätter abgeworfen, die zur Kapitulation
aufriefen. Darin wurde gedroht, die Stadt würde anderenfalls dem Erdboden gleichgemacht werden. Deutsche
Behörden reagierten darauf, indem sie an Gebäudemauern Plakate anklebten, auf denen sowjetische Soldaten zu
sehen waren, wie sie Frauen ermordeten und ihnen die Brüste abschnitten. Von der Front her waren immer wieder
russische Lautsprecher‐Aufrufe zu hören. Wir waren immer sicherer, dass das Ende der deutschen Herrschaft kurz
bevorstand. Wir wussten nur nicht, was dann aus uns werden würde… Die Frauen erzählten sich verschiedene
Gerüchte, nach denen die Deutschen uns auf dem Seeweg zu evakuieren beabsichtigten. Das hörte sich entsetzlich
an, weil anderen Gerüchten zufolge die Gewässer der Bucht und der ganzen Ostsee vermint wären. Ein Glück, dass es
letztendlich nicht dazu kam. Die Deutschen hatten einfach keine Zeit dazu, nachdem sowjetische Truppen in die
Vororte der Stadt eingedrungen waren.
Die Offensive schritt weiter fort. Die Deutschen öffneten ihre Lagerhäuser; dort konnte man sich alles holen, was
man wollte. Manche nutzten diese Gelegenheit, aber dazu brauchte man Nerven wie Drahtseile! Andere suchten
Zuflucht in den Kellern unseres Gebäudes. Sogar Offiziere flüchteten sich zu uns. Bombenexplosionen und Schüsse
wollten nicht aufhören. Das Gebäude, im dem sich ein Stab befand, wurde völlig zerstört, die Baracken standen in
Flammen. Auch Offizier Wetter fand Zuflucht bei uns Polen. Wir hassten ihn nicht, weil er uns – wie gesagt – immer
gut behandelt hatte. Er bekam von uns sogar Zivilkleidung, was es ihm ermöglichte der sowjetischen Gefangenschaft
zu entgehen. Nowak dagegen, wie wir später erfuhren, wurde erhängt. Die Lagerführerin entkam.
Die ganze Zeit wurden Straßenkämpfe ausgetragen. Man hörte Gewehrschüsse und Explosionen von Granaten.
Schließlich betraten sowjetische Soldaten das Lagergelände. Sie kamen in den Keller herunter und riefen auf
Russisch: „Wer ist da?“, „Habt ihr Schuhe und Uhren?“. Es waren auch russische Zurufe „Hände hoch!“ zu hören. Man
jagte uns alle aus dem Keller hinaus. Beim Hinauslaufen bemerkten wir im dritten Stock unseres Gebäudes deutsche
Soldaten, die von einer Ecke her mit ihrem Maschinengewehr in unsere Richtung zielten. Aber wir kamen mit dem
IRENA CHRZANOWSKA
Schrecken davon. In jenem Augenblick träumte ich nur noch davon, dass Gott uns erlauben würde, aus dieser Hölle
heil herauszukommen und lebend nach Hause zurückzukehren.
Der 6. April 1945
Die Russen führten uns aus dem Lagergelände hinaus. Alles ringsherum brannte . Sie befahlen uns, hinter die
Brücke über den Pregel zu fliehen. Geschosse trafen ins Wasser und donnerten über unsere Köpfe hinweg. Ein Glück,
dass die Brücke noch nicht zerstört worden war. Die Deutschen verteidigten sich die ganze Zeit in einem Bunker.
Über uns flogen Flugzeuge herum und wir waren dabei zu fliehen. In Gräben lagen viele tote und verletzte Menschen,
aber auch tote Pferde. Die Verletzten baten uns um Hilfe, aber wir konnten nichts für sie tun. Das war entsetzlich!
Wenn über unseren Köpfen Geschosse explodierten, warfen wir uns alle wie auf Kommando zu Boden. Ein Geschoß
zerplatzte ganz in unserer Nähe und schüttete Erde über Maria. Sie schrie, sie wäre verletzt, aber zum Glück war sie
es nicht – sie war nur in Panik geraten.
Wir entfernten uns einige Kilometer von der Stadt. Wir waren insgesamt einige hundert Personen. Außer uns
Polen waren da alte deutsche Männer und junge deutsche Frauen, Zigeuner sowie Menschen anderer Nationalitäten.
Wir erreichten einige Gebäude, die ein wenig wie Hangars aussahen. Was wir dort drinnen vorfanden, ist schwer zu
beschreiben. Unzählige getötete Soldaten und tote Pferde. Wir zogen uns schnell zurück... Auch auf den Feldern
lagen verwesende Leichen gefallener Soldaten.
Die Nacht verbrachten wir in einem Fabrikgebäude. Wir legten uns auf Tische in der Mitte des Raumes und
unter den Tischen versteckten sich junge deutsche Frauen. Maria wollte unbedingt in den Korridor gehen, um
etwas Wasser zu trinken. Ich wollte sie davon abhalten, indem ich ihr klarzumachen versuchte, dass das Wasser
vergiftet sein könne. Über die Gegend war ja schließlich die Front hinweggerollt. Plötzlich stieß uns jemand von
der Treppe ins Erdgeschoß. Zwei Soldaten ergriffen Maria und schleppten sie davon, während ich mich an der
Pritschenklappe eines Lastwagens festklammerte und zu schreien anfing: „Hilfe!“ Ich schrie so laut und hielt mich
so an der Klappe fest, dass plötzlich jemand zu schießen begann und so die Angreifer wegjagte. Sonst hätte das
tragisch für uns enden können. Der Mann, der uns durch Schüsse gerettet hatte, rief uns dann zu, wir sollten zu
ihm kommen. Aber wir waren von dem Vorfall so erschreckt, dass wir ihm nicht trauten und schnell ins Gebäude
zurückliefen. Maria war nichts passiert – sie war so dick bekleidet, dass sie aus der ganzen Situation heil
herausgekommen war. Wir konnten nicht schlafen, aber das konnte niemand. Die Soldaten kamen immer wieder
und holten unter den Tischen die verängstigten deutschen Frauen hervor, und zwar unter dem Vorwand, dass
deren Papiere kontrolliert werden müssten. Sie kamen weinend zurück, oft in zerrissenen Kleidern. Die Polinnen
wurden nicht angerührt.
Am nächsten Tag machten wir uns wieder auf den Weg. Die darauffolgende Nacht verbrachten wir in einem
Gefängnisgebäude. Diesmal schliefen wir auf Pritschen, mehrere Personen auf je einer Pritsche. Wir waren sehr
müde. Wir fragten die Soldaten, wohin sie uns brachten. Nach Białystok, antworteten sie. Dort würden wir angeblich
Ausweispapiere erhalten und jeder von uns würde dann seines Weges gehen können.
Danach ruhten wir uns meistens am Rande eines Waldes aus. Die Nächte verbrachten wir auch im Wald, obwohl es
kalt war. Die Russen zündeten ein Feuer an, und wir wärmten uns daran, indem wir ihm zuerst das Gesicht, und dann
den Rücken zudrehten. Eines Tages machten wir Halt in einem Ort, an dessen Namen ich mich nicht mehr erinnere.
Es waren viele Truppen da. Wir wurden vor einem Gebäude versammelt und der Reihe nach hineingelassen. Dort
wurde uns befohlen, dass wir uns nackt ausziehen sollten. Ein Soldat in einem weißen Kittel tauchte einen Pinsel in
irgendeine Lösung und bestrich mit diesem Zeug jeden von uns unter den Achselhöhlen und auch tiefer unten.
Besonders für uns Frauen war das sehr demütigend, weil draußen Soldaten standen, die uns durch Fenster ohne
Vorhänge lachend anstarrten. Wir wurden so lange dieser Behandlung unterzogen, bis wir alle desinfiziert worden
waren. Dann setzten wir unseren Weg fort. Täglich legten wir zu Fuß ungefähr 25 Kilometer zurück. Die ganze Zeit
hörten wir Gewehrschüsse.
In den meisten größeren Orten standen Feldküchen, wo warmes Essen ausgegeben wurde. Dort wurde immer
nach Leuten gesucht, die man zum Kartoffelschälen anstellen konnte. Ich erinnere mich noch daran, dass ich immer
Pech hatte, weil ausgerechnet ich stets für diese Arbeit ausgesucht wurde. Die Männer wollten, dass uns das erspart
bliebe und meldeten sich freiwillig zur Arbeit in der Küche. Keiner von uns hatte Vertrauen zu den sowjetischen
Soldaten. Meistens standen sie unter Alkoholeinfluss.
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ZWANGSARBEIT
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Eine Nacht verbrachten wir in einem Dorf. Dort gab es keine Bewohner mehr, die Häuser waren leer und verlassen.
Halina und ich betraten einen Dachboden. Dort stand ein Bett mit Bettwäsche. Als wir die Daunendecke
zurückgeschlagen hatten, sahen wir in dem Bett eine tote Frau liegen. Wir liefen sofort weg. Danach suchten wir uns
nur noch in Scheunen einen Ruheplatz, da wir jenes traurige Bild stets vor Augen hatten.
Wieder in Polen
Nach vielen Strapazen erreichten wir endlich die polnische Grenze von vor dem Zweiten Weltkrieg. Danach
erreichten wir Grajewo. Für eine Nacht wurden wir in einem Schulgebäude untergebracht. Wir waren ungefähr
hundert Personen. Auf dem Weg zu der Schule wurden wir von einer Frau angesprochen, die uns sagte, dass die
Menschenkolonnen, die jetzt von den Russen nach Białystok geschleppt wurden, später nach Sibirien deportiert
werden würden. Wir täten also gut daran, uns von der Gruppe heimlich abzusetzen und auf eigene Faust den Weg
nach Hause zu finden. Die Frau bot uns ihre Hilfe an und gab uns ihre Adresse für den Fall, dass wir bei ihr mal
unterkommen wollten. Wir beschlossen, ihr Angebot anzunehmen. Maria, Janka, Zofia, Halina und ich, wir alle
wohnten nämlich nicht weit weg voneinander. Bis nach Białystok hätten wir aber noch einige Dutzend Kilometer zu
Fuß zurücklegen müssen. Es hatte also keinen Zweck, mit der ganzen Gruppe von Menschen weiter zu marschieren.
In der Nacht verließen wir das Schulgebäude und versteckten uns im Gebüsch. Unsere Wanderung auf eigene Faust
begannen wir schon am frühen Morgen. Wir hatten keine Ausweispapiere. Meine Freundinnen trugen kleine
Rucksäcke, während ich nur ein kleines Köfferchen hatte, sonst nichts. Wir kamen zum Polnischen Roten Kreuz, wo
wir eine Bescheinigung darüber erhielten, dass wir von Zwangsarbeiten in Ostpreußen zurückgekommen waren. Da
wir schon sehr müde waren, folgten wir der Einladung der Frau, die wir in Grajewo kennengelernt hatten.
In ihrer Wohnung herrschte große Unordnung. Auf Betten lagen Stapel von Daunendecken und Kissen, die
wahrscheinlich gestohlen waren. Die Frau gab uns eben dieses Bettzeug zum Schlafen. Wir schliefen bis zum Abend.
Dann zogen wir uns um und beschlossen, einen Spaziergang zu machen, um die Stadt zu erkunden. Wir glaubten, es
könnte uns nichts mehr passieren, da wir ja im freien Polen wären. Leider sollte es anders kommen... Niemand hatte
uns davor gewarnt, abends und nachts durch die Stadt zu gehen. Das war aber streng verboten, weil russische
Behörden eine nächtliche Ausgangssperre verhängt hatten.
Wir hatten uns schon etwas vom Haus entfernt, als wir plötzlich den Befehl „Hinlegen!“ hörten. Ich dachte, das
wäre ein Scherz und brach unwillkürlich in Gelächter aus. Aber dann fielen Schüsse. Ein paar russische Soldaten
ergriffen uns und trieben uns in ein Gebäude mit Kellern hinein. Die ganze Nacht lang brachte man verschiedene
Personen dorthin, meistens Betrunkene, aber auch Prostituierte. Im Keller saßen wir in der Hocke bis zum Morgen,
dicht aneinander gedrückt und verängstigt. Am frühen Morgen kam ein Soldat und führte uns in ein Gebäude, wo
Soldaten einquartiert waren. Dort wurde uns befohlen, den Fußboden sauber zu waschen. Natürlich weigerte ich
mich, das zu tun, wodurch ich meine Situation nur noch verschlimmerte. Die Mädchen wurden nach getaner Arbeit
entlassen, aber ich wurde zurückbehalten. Man wies mich auch noch an, den Hof sauber zu fegen. Vor Ärger und
Ratlosigkeit brach ich in Weinen aus. Ein vorübergehender Mann bemerkte das und erklärte sich bereit, den Hof für
mich sauber zu fegen. Auf seine Bitte hin wurde ich entlassen. Die Mädchen warteten am Zaun auf mich.
Wir kamen schließlich in die Wohnung der Frau zurück. Unsere Gastgeberin war gar nicht darüber erstaunt, dass
wir die Nacht außer Hause verbracht hatten. Es stellte sich aber heraus, dass wir bestohlen worden waren – meine
Schuhe waren weg und aus den Rucksäcken der Mädchen waren viele Sachen verschwunden.
Am nächsten Tag verließen wir Grajewo und gingen Richtung Łomża. Die ganze Zeit gingen wir zu Fuß. Anfangs ging ich
noch in Socken (meine Schuhe waren schon nach ein paar Kilometern auseinandergefallen), später dann barfuß, als auch
die Socken völlig zerrissen waren. Zwischen Zambrów und Czyżew ließ uns ein Mann einige Kilometer in seinem Fuhrwerk
mitfahren. Er wollte aber etwas dafür bekommen. Wir hatten nichts, eines der Mädchen gab ihm also ihren wollenen
Pullover. Den weiteren Weg gingen wir wieder zu Fuß. Bis nach Gostkowo war es zwar nicht mehr weit, aber uns schien der
Weg dorthin sehr lang. Wir hofften jedoch darauf, bald unsere Familien wiederzusehen. In der Nähe unseres Dorfes sahen
wir Kühe auf der Weide grasen. Dort bemerkten wir auch einen Jungen, der sich in unsere Richtung umdrehte. Als er uns
kommen sah, lief er schnell zum Haus, laut rufend: „Unsere Mädchen kommen!“ Das war Halinas Bruder.
Es war der 1. Mai 1945. Alle, die im Haus waren, liefen auf den Hof hinaus. Sie konnten einfach nicht glauben, dass
wir es waren!
So hat der Alptraum dieser neun Monate meines Lebens geendet.
JAN SROKA
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JAN SROKA
Bericht über
die Zwangsarbeit
im Dritten Reich
Der Autor dieses Berichts wurde 1927 in Brudzewice, in der Woiwodschaft Kielce, geboren.
Im Jahre 1942 kam er als Zwangsarbeiter nach Reichhennersdorf (Przedwojów) in den
Sudeten. Er hatte sich anstelle seiner Mutter zur Arbeit gemeldet. Im Juni 1944 wurde er
verhaftet, da er im Besitz eines selbst gezeichneten Plans der Ortschaft, in der er arbeitete,
war.
ZWANGSARBEIT
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[…] Während einer Razzia am 24. Februar 1942 wurde meine damals vierundvierzig Jahre alte Mutter
festgenommen und nach Opoczno verschleppt. Die gefangenen Personen wurden an verschiedenen Orten
festgehalten, unter anderem in der Grundschule in der Tomaszewska Straße. Es wurden Protokolle verfasst und
ältere Personen wurden gegen jüngere, gesündere und arbeitsfähige ausgetauscht. Sie sollten am 1. März 1942
mit dem Zug aus Opoczno abtransportiert werden. Mein Vater ging zur Deportationskommission und bat um die
Entlassung seiner Ehefrau, da sie ihre kleinen Kinder betreuen musste. Die Antwort, die er erhielt, lautete: „Ihre
Ehefrau lassen wir im Tausch gegen jemanden anderen, jüngeren gehen“. Der Abfahrtstermin rückte näher und
die Situation in unserer Familie spitzte sich zu. Andere hatten ihre Kinder bereits gegen die Eltern
ausgewechselt. Der Vater bedauerte jedes seiner Kinder, aber seine Frau bedauerte er noch mehr. Einen Tag vor
dem Abtransport trommelte der Vater alle Kinder zusammen, um einen Familienrat abzuhalten. Er fing laut an
zu weinen und sagte, er beklagte jedes seiner Kinder, doch einer von uns müsste anstelle der Mutter nach
Deutschland fahren. Wir brachen alle in Tränen aus, so wie unser Vater. Am schwierigsten war es, eine Person zu
bestimmen, die fahren sollte. Vater sagte: „Stasiek (20) ist unser ältester Sohn und ich brauche ihn für die Arbeit
auf dem Hof. Józiek (17) hat gesundheitliche Probleme und kränkelt oft, es wird schwer für ihn, den Krieg als
Zwangsarbeiter in Deutschland zu überstehen. Janek (15) ist etwas zu jung für Schwerstarbeiten und ich bin
nicht allzu sicher, ob sie ihn im Tausch gegen die Mutter annehmen werden. Die anderen Kinder kommen
überhaupt nicht in Betracht, da sie zu jung sind. Sagt ihr mir, was wir machen sollen. Sollen wir zulassen, dass
eure Mutter und meine Ehefrau nach Deutschland fährt, während wir hier alleine bleiben? Äußert euch dazu“.
Stasiek war froh, dass der Vater auf jemanden anderen als ihn selber deutete. Józiek sagte nichts. Dann war ich
an der Reihe. Nach kurzer Überlegung erklärte ich, dass ich noch zu jung für solch schwere Arbeit sei, ich könnte
wohl nur Hilfsarbeiten erledigen. Man müsse auch in Kauf nehmen, dass ich nicht mehr zurückkehren werde,
denn es werde schwierig sein, dort den Krieg zu überleben. Aber wenn Papa meint, ich solle anstatt Mama
fahren, dann mache ich das. In diesem Augenblick hatte ich Angst, aber gleichzeitig fühlte ich mich wie ein Held.
Ich dachte mir, dass man mich in dieser Familie nicht braucht, dass sie mich loswerden wollen, aber andererseits
werde ich somit zu Mamas Befreier und einem Helden. Der Gedanke überzeugte mich, dass meine Mission für
meine Mutter von Nutzen sein würde. Darum sagte ich es noch einmal laut vor allen: „Ich habe mich dazu
entschlossen, für Mama nach Deutschland zu fahren“. So fand sich eine Lösung für das schwierige und
schmerzvolle Problem meiner Familie.
Am nächsten Tag mussten wir uns in aller Frühe auf den Weg machen, um es noch vor 10 Uhr vor die
Deportationskommission in Opoczno zu schaffen. In der Nacht schlief ich kaum; es plagten mich verschiedene,
dunkle Gedanken. Ich fühlte mich zur Heimatlosigkeit verdammt, es erwarteten mich ein bitteres Los und
Unterdrückung durch unseren Feind.
Vater und ich fuhren früh am Morgen auf einem Pferdewagen los. Ich nahm Kleidung und etwas zu Essen mit. Der
Vater gab mir auch eine Einviertelliter‐Flasche Wodka für schwere Momente. Der Abschied von meinem Geschwister
war sehr zurückhaltend, denn wir alle waren erschrocken und verunsichert. Als ich während der Fahrt auf dem
Wagen neben meinem Vater saß, betrachtete ich unterwegs alles sehr genau: Bäume, Menschen, Gebäude, als auch
den Weg, den wir entlang fuhren, denn ich dachte, ich würde all dies zum letzten Mal sehen.
Das Gespräch mit meinem Vater war schwierig, denn er war voller Sorge. Er wiederholte oft: „Was sind das für
Zeiten, in denen ich meinen eigenen Sohn zur [Zwangs]arbeit nach Deutschland schicken muss. Meine Frau haben sie
mir genommen, was soll ich denn tun? Janek, sobald du ankommst, schreib uns, denn wir werden alle auf
Nachrichten von Dir warten. Bald haben wir März, Frost gibt es wohl keinen mehr, es sollte immer besser werden,
dann gewöhnst du dich auch schneller an das dortige Klima. Denke daran Janek, schreib so schnell wie möglich. Aber
was wird aus uns, wenn sie dich nicht annehmen, vielleicht sagen sie ja du wärst zu jung, was passiert dann? Dann
verschleppen sie meine Frau. Oh Gott, was für Zeiten sind das“. Unser Gespräch verlief stockend, aber worüber
konnten wir schon sprechen, immerhin blickte ich meiner Hinrichtung entgegen. Ich halte das nicht aus, was mich
erwartet, dachte ich mir. Wer weiß schon, wie viele Jahre ich wohl versklavt sein werde, nun ja, Hauptsache Mama
wird freigelassen.
Wir kamen gegen 9.30 Uhr in Opoczno an. Der Vater führte mich der Deportationskommission vor und sagte, ich
würde anstelle meiner Mutter zur Zwangsarbeit nach Deutschland fahren. Nach einer kurzen Besprechung wurde
dem Austausch zugestimmt. Mama wurde hergeführt, während ich mich einer Gruppe von Menschen anschloss, die
sich in einer großen Sporthalle befanden. Hier traf ich auch auf Bekannte aus meinem Dorf.
JAN SROKA
61
Deportation
Am selben Tag, gegen Mittag, mussten wir uns entsprechend vorher angefertigter Listen auf dem Schulsportplatz
aufstellen. Danach wurden wir in einer Kolonne von bewaffneten deutschen Wachposten durch die Stadt zum
Bahnhof begleitet, wo wir dann in Waggons verfrachtet wurden. Mir gelang es nicht mehr, mich von meinen Eltern
ein zweites Mal zu verabschieden. Ich winkte ihnen nur von weitem. Als wir durch die Stadt gingen verabschiedete
uns eine riesige Menschenmenge, wir aber fühlten uns, als ob wir auf dem Weg zu unserer Hinrichtung wären.
Die Waggons waren voll. In jedem passten bewaffnete Wachen auf, dass niemand weglief. Wir gelangten unter
Geleitschutz über Tomaszów Mazowiecki, Koluszki und Piotrków Trybunalski (Petrikau) bis nach Częstochowa
(Tschenstochau). Hier bildeten wir eine Kolonne wie für eine Parade und wurden dann durch die Stadt zu von der
Polizei bewachten Baracken geführt. In den Baracken standen aus Holzbrettern gefertigte Stockbetten. Einmal
täglich bekamen wir warme, mit Pferdefleisch aufgekochte Kohlrübensuppe. Nach zwei Tagen des Wartens wurde
eine Liste mit den Namen derer vorgelesen, die sich einer ärztlichen Untersuchung unterziehen sollten. Wir wurden
in einer Reihe aufgestellt und in eine andere Baracken geführt. Dort fanden dann die ärztliche Untersuchung,
Desinfizierung und Insektenentfernung von Körper und Kleidung statt. Nach diesen Maßnahmen wurden wir wieder
in andere Baracken geführt.
Früh am nächsten Tag wurden wir in Kolonnen eingeteilt und von bewaffneten Soldaten durch die Stadt zum Zug
geführt. Oft hörten wir Schüsse, da auf fliehende Zwangsarbeiter geschossen wurde. Am Bahnhof stiegen wir in die
Waggons eines langen Zugs. Von dort fuhren wir nach Breslau (Wrocław). In Breslau wurden wir auf dem Bahnsteig
vor die Waggons gestellt, überprüft, gezählt und danach zu Baracken geführt, die denen in Częstochowa ähnelten.
Hier erhielten wir eine Suppe aus Futterrüben. Es gab hier keine bewaffneten Soldaten mehr, ihren Platz hatten
bewaffnete Ukrainer eingenommen.
Am nachfolgenden Tag wurden wir in Gruppen von je 50‐100 Personen eingeteilt und nach und nach zu Zügen
geführt, die in verschiedene Regionen Deutschlands fuhren. Ich wurde nach Waldenburg (Wałbrzych) gebracht,
dann wurde ich mit einer Gruppe von ungefähr 20 Personen nach Landeshut (Kamienna Góra) transportiert und von
dort aus wurden wir mit einem PKW zu unseren jeweiligen Arbeitsstellen gefahren. Am 7. März 1942 traf ich um drei
Uhr nachmittags mit zwei Freunden aus Opoczno in Reichhennersdorf, im Kreis Landeshut (Przedwojów, powiat
Kamienna Góra) ein. Ich wurde dem Bauer Gustaw Alt zugewiesen. Meine Freunde sollten auch bei Bauern arbeiten.
Zwangsarbeit
Die Alts empfingen mich mit Gleichgültigkeit. Sie hatten wahrscheinlich jemanden größeren, stärkeren und zur
Arbeit besser tauglichen erwartet. Ich wurde in ein kleines Zimmer mit einem nicht allzu großen Fenster gebracht. Im
Zimmer befanden sich ein Bett, ein Tisch und in der Ecke ein eiserner Heizofen, den ich niemals benutzte. An der
Wand hing ein Bildnis der Mutter Gottes. Ich packte meine Sachen aus, wusch mich und dann wurde ich in die
Wohnung zur ersten Mahlzeit eingeladen. Dies war die einzige Mahlzeit, die ich je zusammen mit den Landwirten aß,
alle anderen danach nahm ich später alleine in meinem Zimmer zu mir. Danach fragte mich Gustaw Alt etwas, doch
ich verstand nicht was. Als nächstes zeigte er mir seinen Bauernhof, der aus einer Scheune, einem Kuhstall mit sechs
Kühen und zwei Bullen, dazu zehn Schweinen, Hühnern und Gänsen bestand. Es wurde mir klar, dass es sich um einen
mittelgroßen Bauernhof handelte (12‐15 Hektar), auf dem zwei ältere Personen arbeiteten. Der Bauer war schlank,
hochgewachsen (ca. 180 cm) und über 70 Jahre alt. Die Bäuerin hingegen war dick, klein (ca. 155 cm groß), mit einem
runden Gesicht, langer Nase und über 60 Jahre alt. Sie brauchten eine zusätzliche Hand für die Arbeit.
Als ich auf den Hof hinaustrat, sah ich, dass uns hohe Berge umgaben, deren Gipfel von Wäldern bewachsen waren,
während die Abhänge schneebedeckt waren. Das Dorf befand sich in einem weiten Tal. Am Dorf entlang floss ein
rauschender Gebirgsbach, ein Nebenfluss des Flusses Bóbr. Der durch das Dorf führende Weg war gewunden, es
zweigten davon kleinere Wege ab, die zu verschiedenen Höfen führten. Dies war für mich eine seltsame und doch
interessante Landschaft. Mir schien es, als ob man hier den Krieg in Sicherheit überstehen könnte.
Es wurde sofort mit der Arbeit begonnen. Mein Chef zeigte mir, wie ich verschiedene Arbeiten mit den Tieren und
auf dem ganzen Bauernhof ausführen sollte. Ich stand um 6 Uhr morgens auf und ging um 10 Uhr abends schlafen.
Die Arbeitsstunden waren nicht geregelt, im Sommer arbeitete ich von Sonnenauf‐ bis Sonnenuntergang.
ZWANGSARBEIT
62
Nach einigen Tagen erfuhr ich, wo und bei welchen Bauern meine Freunde aus Opoczno arbeiteten. Beide
arbeiteten in der Nähe, in einer Entfernung von etwa 200 m. Zu Beginn fiel es mir schwer, mich mit meinen
Landwirten zu verständigen, denn sie sagten etwas auf Deutsch und ich verstand nichts davon. Ich konnte die
Bedeutung nur mittels ihrer Mimik und Gestik erraten. Nach und nach begann ich sie etwas besser zu verstehen und
einige Wörter auszusprechen. Nach einigen Monaten verstand ich sie gut genug, um meine Arbeit machen zu
können.
Anfangs wusste ich nicht, was erlaubt und was verboten war: Ob ich am Sonntag ein wenig Freizeit habe oder auch
nicht, ob ich mich in meiner Freizeit mit Freunden treffen oder zur Kirche gehen darf oder nicht. Niemand hatte mir
das gesagt. Ich verbrachte die ganze Zeit auf dem Hof und entfernte mich nicht. Erst später, als ich mit anderen
Polen, die bereits dort arbeiteten, in Kontakt kam, erfuhr ich, welche Regeln für mich galten. Seit Beginn des Krieges
arbeitete dort ein Pole namens Adam Ziętek, der sehr gut deutsch sprach. Er war es, der uns die genauen
Anweisungen übersetzte. Auch einige andere Polen arbeiteten hier. Dank des Kontaktes mit ihnen fühlte ich mich
besser, denn ich spürte, dass ich mich nicht allein in dieser schwierigen Lage befand.
Nach zwei Wochen nahm mich der Bauer zur drei Kilometer entfernten Kreisstadt Landeshut mit. Hier wurden
Fotos von mir gemacht und irgendwelche Dokumente ausgestellt. Ich erhielt eines dieser Fotos und ein paar
Exemplare des auf Material gedruckten Buchstaben „P“. Diese musste ich auf die rechte Seite meiner Kleidung
aufnähen. Man zeigte mir meine Unterlagen, doch der Bauer nahm diese an sich.
Am meisten setzte mir die Sehnsucht nach meinem Dorf und Elternhaus zu. Ich wusste, dass meine Eltern um mich
besorgt waren und mich vermissen, genauso wie ich sie vermisste. In meinem ersten Brief drückte ich mich milde
über die Lage aus, denn ich wollte nicht, dass sie sich um mich sorgten. Danach wartete ich auf eine Antwort von zu
Hause. Eines Tages, es war Abend, wurde ich in die Wohnung meiner Hausherren gebeten und man händigte mir
einen Brief von meinen Eltern aus. Als ich den Brief sah, brach ich in Tränen aus, ich konnte ihn kaum lesen, denn die
Tränen flossen so stark, dass die Schrift verschwamm und die Buchstaben ganz verwischt wurden. Nach einer
längeren Pause schaffte ich es, den Brief zu lesen. Man fragte mich, was passiert sei, warum ich so weine, doch ich
sagte, alles wäre in Ordnung – was sollte ich ihnen sonst schon sagen? Alle weiteren Briefe wurden mir erst nach dem
Abendessen übergeben, bevor ich schlafen ging, und ich wurde nicht mehr gefragt, wie es meinen Eltern geht.
Das Heimweh machte mir mehr und mehr zu schaffen. Ich dachte darüber nach, wie ich mich von dort befreien
könnte. Während eines Treffens mit Freunden, mit denen ich aus Polen hergekommen war, sprachen wir darüber,
denn sie dachten auch darüber nach. Dann hatte ich endlich eine gute Idee: beim Holzhacken wollte ich mir einen
Finger an der linken Hand abhacken, dann würde ich nicht mehr arbeitsfähig sein und sie würden mich nach Hause
schicken müssen. Mehrere Tage vergingen, ohne dass ich die Gelegenheit bekam, Holz zu hacken. Währen eines
Treffens mit Freunden verriet ich ihnen meinen Plan. Am nächsten Tag setzte einer meiner Freunde meinen Plan
selber in die Tat um. Er wurde ins Krankenhaus gebracht, sein verletzter Finger wurde verbunden und er selbst wurde
zurückgebracht, doch landete er bei einem anderen Bauern. Nach kurzer Zeit war der Finger verheilt und mein
Freund arbeitete weiter wie zuvor.
Meine Eltern baten mich in Briefen darum, dass ich die Lage meines Dorfes beschreibe, denn sie konnten es sich nicht
so recht vorstellen. In meiner Freizeit am Sonntag zeichnete ich mit einem Bleistift einen Plan und markierte die
Bauernhöfe, auf denen Polen, Ukrainer und Russen arbeiteten. Ich wollte den Plan später zu Ende zeichnen, denn ich
musste genauere Nachforschungen zu einigen Details anstellen. Solange legte ich den Plan unter die Tischdecke auf dem
Tisch und vergaß ihn vollkommen. Dies würde unangenehme Folgen haben, von denen ich später noch erzählen werde.
Der Frühling 1942 war endlich da, aber erst Mitte April. Der Schnee war geschmolzen, Felder und Wiesen waren
wieder zu sehen. Auf dem Bauernhof bereitete man sich für die Feldarbeiten vor. Die für diese Gegend üblichen
Zugtiere waren Kühe und Ochsen. Mein Bauer benutzte zwei Ochsen als Zugtiere. Ich musste lernen die Tiere in den
Wagen einzuspannen und mit ihnen auf dem Feld zu arbeiten. Sie waren stark, aber auch sehr langsam.
In der Nähe der Hofgebäude, auf der südlichen Seite, befand sich eine große Wiese, etwas weiter auf dem
Berghang hatte der Landwirt ein großes Stück Ackerland. Hier verbrachte man von Frühling bis Spätherbst die meiste
Arbeitszeit. Vom Berghang aus hatte man eine wunderschöne Aussicht auf Reichhennersdorf und teilweise auch auf
die Stadt Landeshut.
An Werktagen um 9 Uhr eskortierten bewaffnete Soldaten ungefähr 200 Gefangene in Häftlingskleidung den Weg
neben unserem Feld entlang zur Arbeit in Steinbrüchen (es handelte sich wahrscheinlich um Häftlinge eines der
Arbeitskommandos des Konzentrationslagers Gross‐Rosen). Vom Erscheinungsbild her konnte man schlussfolgern,
JAN SROKA
dass die Männer sehr ausgehungert sein mussten. Ihre Rückkehr erfolgte auf demselben Weg um 16 Uhr. Am Ende
der Kolonne halfen die Gefangenen immer jemandem, sich aufrecht zu halten und nicht umzukippen. Der Anblick war
wahrhaftig bedrückend.
Die Arbeit auf dem Bauernhof war schwer, besonders weil man uns immer mehr abverlangte. Es wurde uns nicht
einmal eine kurze Verschnaufpause während der großen körperlichen Anstrengung zugestanden. Man versuchte,
alle Arbeiten auf dem Feld und dem Bauernhof bis Mitte November abzuschließen. Danach folgte der Winter mit
starken Schneefällen und klirrendem Frost. Vom 15. November bis Ende März des nachfolgenden Jahres arbeitete ich
im Wald. Dies war die schwerste Arbeit überhaupt, denn beim Fällen der Bäume fiel uns der Schnee auf die Köpfe,
Kleider und Schuhe, alles war nass, es gab nichts zum Umziehen und es war unmöglich, die Sachen zu trocknen.
Unsere Verpflegung war durchschnittlich, eher kalorienarm, es schmeckte mal besser, mal schlechter. Ich bekam
etwas Taschengeld in Deutscher Mark als Lohn. Eigentlich war Geld hier nicht notwendig, da man sowieso nichts
dafür kaufen konnte.
So verstrichen Tage und Monate, erst Sommer, dann Winter, dann wieder Sommer. Die Zeit verging langsam. Ich hatte
fortlaufend Heimweh. Die Einschränkungen seitens der Landwirte wurden immer gravierender. Der deutsche Nachbar
meiner Bauern sagte mir oft, dass ich aufpassen sollte, denn meine Bauern wären schlechte Menschen und Nazis.
Ich konnte seinen Worten nur schwerlich Glauben schenken, ich dachte mir nämlich, dass es sich einfach um
schlechte Nachbarsbeziehungen handeln musste. Später begriff ich, dass das Verhalten meiner Hausherren mir
gegenüber die Misserfolge an der Front widerspiegelte. Nach jeder größeren Niederlage verschärfte sich das
Verhältnis der Deutschen zu den Ausländern dort. Ich bemerkte, dass mein kleines Zimmer oft durchsucht wurde –
wonach sie suchten, war mir aber nicht klar. Meine Briefe von zu Hause erhielt ich schon geöffnet. Ich wurde von
meinem Zimmer auf den Dachboden verlegt und schlief lediglich unter einer Wolldecke Es gab außerdem noch
nächtliche Kontrollen, um zu überprüfen, ob ich tatsächlich dort war. Die Landwirtin schimpfte oft, dass Polen und
Russen Schweine und Banditen wären. Nach einiger Zeit sagte sie dasselbe über mich, dass ich ein Schwein und
Bandit sei, wie alle Polen. Die Qualität der Verpflegung wurde schlechter. Das Verhalten anderer Bauern gegenüber
ihren ausländischen Arbeitern war viel nachsichtiger.
Trotz zunehmender Einschränkungen war es möglich, sich an Sonntagen mit Freunden zu treffen, in die Kirche
oder spazieren zu gehen. Uns wurde aber nicht erlaubt, das Dorf zu verlassen oder Fahrrad zu fahren. Nach 20 Uhr
mussten wir uns auf unserem Hof befinden. Über die Situation an der Front erfuhren wir von Deutschen, die ein
gutes Verhältnis zu Polen hatten. Manche Deutschen missbilligten Hitlers Politik der Völkereroberung. Sie waren
davon überzeugt, dass sie den Krieg verlieren werden.
Verhaftung des Feindes
Am 27. Juni 1944 um 7 Uhr morgens, als ich mich gerade um das Stallvieh kümmerte, erschien ein Polizist. Er rief
mich zu sich, zog meinen im Frühling 1942 gezeichneten Plan von Reichhennersdorf aus seiner Tasche und fragte, was
dies sei und ob ich das gezeichnet hätte. Ich antwortete ihm, dass ich den Plan gezeichnet hatte und dass er das
hiesige Dorf darstelle. Er fragte mich noch über verschiedene Details auf dem Plan aus und dessen Zweck. Ich
antwortete ihm, dass ich die Skizze meinen Eltern schicken wollte, damit sie wissen, wie das hiesige Dorf gelegen ist
und wo meine polnischen Freunde arbeiten. Auf die Frage „Warum hast du das nicht deinen Eltern geschickt?“
erwiderte ich: „Weil ich es vergessen habe“. Zum Schluss stellte der Polizist fest: „Du bist verhaftet“.
Er führte mich in die Räumlichkeiten des Gemeindeamts, schloss mich in einem kleinen Zimmer ein und ging weg.
Um etwa 10 Uhr begann mein Verhör. Ich wurde von einem in Schlesien geborenen Deutschen mit dem Namen
Świątek verhört, der als Sekretär im Gemeindeamt arbeitete. Sein Polnisch war hervorragend, trotzdem sprach er
deutsch mit mir. Danach hörte ich durch die Wand die Aussagen meiner Landwirte. Nach 14 Uhr wurde ich zur
Polizeiwache in Landeshut transportiert. Dort wurde ich wieder auf Deutsch verhört, später wurde ich eingesperrt.
Ich saß alleine in meiner Zelle, in Einzelhaft. Zum Frühstück bekam ich ein Stück Brot mit Margarine und dazu etwas
ungesüßten Malzkaffee. Zum Abendessen gab es dasselbe. Zu Mittag erhielt ich einen halben Liter wässrige
Futterrübensuppe. In Haft zusammen mit mir befanden sich etwa 30 Personen, darunter Russen, Tschechen und
Deutsche. Von 9 bis 12 Uhr und von 14 bis 17 Uhr hackten wir Holz auf dem Gefängnishof. Wir durften weder
miteinander sprechen, noch lachen, oder singen usw. Nach zwei Wochen erkannte ich mich kaum im Spiegel wieder,
so blass und abgemagert war ich.
63
ZWANGSARBEIT
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Am 30. August 1944 um 10 Uhr morgens kam ein Deutscher in Zivilkleidung zu mir und sagte auf Polnisch: „Janek
lass die Axt liegen und komm mit mir mit.“ Das tat ich. Er brachte mich zur Polizeiwache, wo mir irgendein Schreiben
auf Deutsch vorgelesen wurde, welches ich dann unterschreiben sollte. Aus dem Schreiben ging hervor, dass ich frei
sei und zu meinem Bauern, Gustaw Alt, zurückkehren solle. Man fragte mich, ob ein Polizist mich dorthin begleiten
solle, oder ob ich alleine hingehen würde. Ich sagte, ich würde alleine zurückgehen.
Als ich durch Landeshut ging, bemerkte ich, dass mir derselbe Mann, der mich aus dem Gefängnis abgeholt hatte,
folgte. Wahrscheinlich beschattete er mich, um zu prüfen, ob ich in die korrekte Richtung ging. Die ganze Zeit dachte
ich darüber nach, was ich jetzt machen sollte: zu meinem Bauern Gustaw Alt zurückkehren oder zum
Gemeindevorsteher gehen und diesen um den Wechsel meiner Arbeitsstelle bitten. Mein Instinkt sagte mir „Geh nicht
zurück, denn sie werden dir nur noch größeres Leid zufügen“. Sie waren schlechte Menschen, so wie ihr Nachbar es
mir gesagt hatte. Deshalb ging ich zum Gemeindevorsteher Emil Klos und bat um einen anderen Landwirt. Nachdem
er mich angehört hatte, dachte Klos eine Weile nach und telefonierte dann mit jemandem. Dann sagte er: „Die Sache
ist schwierig, aber es könnte klappen, wenn du dich entscheidest, bei mir zu arbeiten. Wir sind Hitler‐Befürworter, für
ihn leben und arbeiten wir. Bei uns gibt es viel Arbeit, wenn du willst, kannst du bleiben“. Und so blieb ich.
Arbeit bei dem Bauern Emil Klos
Der Gemeindevorsteher zeigte mir, wo auf dem Dachboden ich schlafen werde. Er führte mich auf seinem Hof
herum. Der Bauernhof war ziemlich groß, zwischen 20‐25 Hektar, inklusive Wiese. Danach führte er mich zum Stall,
wo zwei Rappen standen. Dann sagte er: „Du wirst dich um sie kümmern und mit ihnen arbeiten“. Er zeigte mir, wie
man die Pferde bürstet, füttert und einspannt. Jeden Morgen wies er mir Arbeiten zu. Ich fühlte mich hier
selbstständiger, niemand begleitete mich mehr auf Schritt und Tritt und niemand kontrollierte, was ich machte, wie
es bei dem Bauern Gustaw Alt der Fall gewesen war. Auf demselben Bauernhof arbeitete auch eine Ukrainerin mit
dem Namen Marusia, ihren Nachnamen habe ich niemals erfahren. Sie beschäftigte sich vor allem mit den zwölf
Kühen, half der Bäuerin im Haus und arbeitete bei Feldarbeiten mit. Marusia informierte mich umfassend über die
Arbeit und die Gewohnheiten der Klos’.
Die Klos Eltern waren beide ungefähr 50 Jahre alt. Ihr ältester Sohn kämpfte an der Ostfront, die Jüngeren gingen
noch zur Schule in Landeshut. Der Bauer Emil Klos – ein schlanker, mittelgroßer Mann – war ständig mit
Angelegenheiten des Dorfes beschäftigt. Seine Frau war eine wohl proportionierte, hochgewachsene Frau mit
heiterem Gemüt. Sie scherzte und lachte viel, obwohl die Deutschen bereits damals Niederlagen an allen Fronten
einstecken mussten. Die Familie war um den ältesten Sohn besorgt, sie wären sicher ruhiger, wenn er im Westen
kämpfen würde. Mir wurde gesagt, dass der Bauer Alt versuchte mich zurückzubekommen, da er niemand anderen
hatte, der ihm half. Er soll sogar an das Arbeitsamt geschrieben haben. Ich erfuhr außerdem, dass meine Verhaftung
und mein Gefängnisaufenthalt in die Zeit des Warschauer Aufstand gefallen waren.
So um den 20. September 1944 wurden 14 Frauen vom Warschauer Aufstand zur Arbeit hergebracht. Eine der
Frauen wurde Gustaw Alt zugewiesen. Die Warschauerinnen wussten nicht, wie man auf einem Bauernhof arbeitet,
deshalb ärgerten sich die Bauern über die Frauen. Diese kamen in Tränen aufgelöst zu meinem Bauern, um sich zu
beschweren. In diesen Fällen war ich Übersetzer für sie. Anfangs war Emil Klos unterwegs und legte die Streits bei.
Aber als die Konflikte länger dauerten, bat er alle Frauen, die etwas an ihren Bauern auszusetzen hatten, am Sonntag
um 10 Uhr auf seinen Hof zu kommen. Er trat vor sie und sprach mit erhobener Stimme, während ich ins Polnische
übersetzen sollte. Seine Rede kann man folgendermaßen zusammenfassen: „Wir haben jetzt Krieg, wir kämpfen
gegeneinander. Menschen sterben sowohl auf unserer, als auch auf eurer Seite. Ihr seid unsere Sklaven und sollt
machen, was wir euch befehlen. Falls ihr das nicht machen wollt, werdet ihr auch nichts zu essen bekommen. Wir
schaffen euch Sklaven wohl zu gute Lebensbedingungen, ihr sollt uns gehorchen und arbeiten“. Danach kam
niemand mehr, um sich über seinen Bauern zu beschweren.
Obwohl er doch ein Nationalsozialist blieb, war mein neuer Landwirt nicht schlecht zu mir. Er beschimpfte mich
nicht, beleidigte mich nicht, er behandelte mich wie einen normalen Menschen. Dennoch war die Polizei oft zu
Besuch bei mir und durchsuchte meine Quartier.
Nach Abschluss der Feldarbeiten wurde ich am 16. November zur Arbeit in den Wald geschickt. Wegen der bitteren
Kälte und des starken Schneefalls war diese Zeit am schwierigsten zu überstehen. Morgens und abends arbeitete ich
mit den Pferden, von 9 bis 16 Uhr arbeitete ich im Wald.
JAN SROKA
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Flucht vor der Sowjetarmee
Die Deutschen wurden immer nervöser. Einige waren bedrückt wegen der Lage an den Fronten, andere wiederum
waren verärgert und verfluchten die fremden Armeen, die auf ihrem Land kämpften, noch andere meinten, das
deutsche Heer würde ihre Heimat verteidigen. Niemand dachte an eine Niederlage im Krieg.
Meine Landwirte begannen Ende April 1945 damit, zwei Wagen für eine lange Reise vorzubereiten. Sie packten
Verpflegung für uns und für die Pferde, Kleidung und Bettzeug. Sie montierten Gerüste für eine Plane. Der Pkw‐ und
Lkw‐Verkehr auf der Route Landeshut‐Liebau nahm immer mehr zu. Alle fuhren nach Westen. Einige Wagen waren
überladen und mussten etwas entladen werden. Es schien etwas Ungewöhnliches stattzufinden, aber wir wussten
noch nicht was. Angst griff um sich. Um etwa 10 Uhr rief Emil Klos mich und meinen Freund Tadeusz zu sich. Dann
sagte er: „Ihr beide fahrt mit uns. Versucht nicht wegzurennen, ich habe eine Pistole und werde schießen. Seid
gehorsam, dann passiert euch nichts“. In dieser Situation mussten wir seinen Bedingungen zustimmen. Ich bat um
bessere Schuhe und darum, ein Fahrrad mitnehmen zu können, damit ich etwas habe, worauf ich zurückfahren kann.
Tadek wollte das zweite Fahrrad mitnehmen. Unsere Bitten wurden akzeptiert.
Um die Mittagszeit liefen wir Richtung Liebau los. Die ganze Familie Klos, mit den Eltern und Kindern fuhr ab,
zusammen mit uns waren das 12 Personen. Als wir durch das Dorf fuhren, standen Leute am Wegesrand und gaben
den Klos Wünsche mit auf den Weg. Nachdem wir auf die Hauptstraße gelangt waren, mussten wir auf der rechten
Straßenseite, dicht am Straßenrand laufen, denn auf der linken Straßenseite fuhren Militär‐ und Zivilfahrzeuge. Hinter
Liebau bogen wir in eine Nebenstraße ein, die weniger befahren war. Wir überquerten die tschechische Grenze und
fuhren weiter in südwestlicher Richtung. Am Abend machten wir Rast im Haus irgendeines Landwirtes. Nach dem
Abendessen wurden ich und Tadek in einer Scheune eingeschlossen, wir schliefen unter Wolldecken im Heu.
Am nächsten Tag fand die Abfahrt um 9 Uhr statt und wir fuhren bis 16 Uhr durch. Die Tiere waren müde und wir
mussten eine Pause einlegen. Am dritten Tag hörten wir hinter uns Schüsse aus schweren Waffen und
Bombenexplosionen. Die sowjetische Armee folgte uns nach und es kam zu Gefechten dort, wo die Deutschen
Widerstand leisteten. Das Gedränge auf der Hauptstraße wurde immer größer, Zivilisten und das Militär flohen
gleichermaßen. In so einer Atmosphäre fuhren wir fünf Tage lang. Am letzten Tag waren wir alle erschöpft und voller
Angst. Zum Abend entfernten wir uns etwa zwei Kilometer von der Hauptstraße und machten Halt. Wir hörten die
ganze Zeit über Geschützfeuer, und der Lärm kam immer näher. Als wir in eine Scheune schlafen gingen, wussten
wir bereits, dass dies die letzten Stunden waren, die für unsere Befreiung entscheidend sein würden. In dieser Nacht
war an Schlaf nicht zu denken, denn ganz in unserer Nähe waren Schüsse zu hören. Danach wurde die Intensität der
Schüsse immer schwächer. Man konnte vermuten, dass uns die Hauptfront bereits überholt hatte.
Als wir aus der Scheune herausgelassen wurden, sahen wir, dass es ein warmer, sonniger Morgen war. Zusammen
mit Tadek ging ich sogleich zur Hauptstraße. Wir sahen Soldaten der Sowjetarmee, die den Fahrzeugverkehr leiteten.
Die Straßenmitte entlang fuhren russische Militärwagen, am Straßenrand hingegen liefen Gruppen entwaffneter
deutscher Soldaten. Alle gingen in Richtung Westen. Wir sahen sehr lange den jetzt völlig veränderten Soldaten
nach. Die Russen waren kampflustig, stolz, selbstbewusst, fuhren in Autos, während die Deutschen traurig,
resigniert, am Ende ihrer Kräfte vor sich hin liefen. Eine endlose Kolonne von Truppen beider Seiten zog die Straße
entlang.
Rückkehr nach Hause – nach Polen
Auf dem Weg zurück zu unseren Bauern beschlossen wir, sogleich die Heimreise anzutreten. Als wir bei ihnen
ankamen, war Emil Klos schon weg. Die Familie war geblieben. Wir erzählten ihnen, wie die Situation unterwegs war,
dass wir befreit worden waren und dass wir gleich nach Hause, nach Polen, fahren würden. Wir freuten uns über
unsere wiedererrungene Freiheit, darüber, dass wir endlich frei von den Deutschen waren und nach Hause fahren
konnten. Unsere Landwirtin dankte uns für die Arbeit auf dem Hof, erwähnte die schwierigen Momente und
Unannehmlichkeiten, sagte aber: „Der Krieg ist an allem Schuld“. Nach einem kurzem Gespräch und einem
allgemeinen Abschied stiegen wir auf die mitgebrachten Fahrräder und machten uns auf den Heimweg […].
KRIEGSGEFANGENSCHAFT
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Kriegsgefangenschaft
aut Nachkriegsschätzungen des Amtes für Kriegsreparationen fielen im Jahr 1939 66 000 polnische Soldaten
und Offiziere im Kampf gegen die Wehrmacht, 134 000 wurden verletzt und ca. 420 000 gerieten in
Kriegsgefangenschaft (darunter 17 000 Offiziere und 3 500 Fähnriche). Im Oktober und November 1939 wurden
Kriegsgefangene deutscher, ukrainischer und weißrussischer Nationalität frei gelassen. Im Winter 1940 wurden
einige Tausende Juden frei gelassen, die kurz danach dem Holocaust zum Opfer fielen.
Die im Verteidigungskrieg gefangen genommenen polnischen Soldaten wurden von den Deutschen an
Sammelpunkten in Gruppen eingeteilt – getrennt nach Offizieren und Soldaten – und anschließend in provisorischen
Durchgangslagern (sog. Dulags) untergebracht, meist waren das Kasernen, Landgüter oder Fabrikhallen, die diesem
Zweck angepasst wurden. Nach der Unterzeichnung der Kapitulation wurden die Gefangenen mit Zügen in
Kriegsgefangenenlager auf dem Gebiet des Dritten Reiches transportiert. Die Lager waren dem Oberkommando der
Wehrmacht untergeordnet. Soldaten wurden in Stammlagern, Offiziere hingegen in Offizierslagern untergebracht.
Das Gebiet des Deutschen Reiches war in 21 Militärbezirke unterteilt und in jedem Bezirk befanden sich
Kriegsgefangenenlager. In den Stammlagern herrschten fürchterliche soziale Bedingungen. In den ersten Monaten
der Gefangenschaft (im Winter 1939/1940) schliefen die Gefangenen in Zelten, Garagen, Ställen u.Ä. Nicht viel besser
war die Situation derjenigen, die in Baracken untergebracht wurden. Die Baracken wurden in der Regel nicht beheizt,
sie waren überfüllt, es gab keinen Strom und kein fließendes Wasser. Katastrophale hygienische Bedingungen und
fehlende Kleidung zum Wechseln führten zu Läuseepidemien und zur schnellen Verbreitung von verschiedenen
Krankheiten. Die Essensrationen waren so klein, dass die Kriegsgefangenen hungern mussten. Die Wehrmacht
strebte bewusst nach der physischen Ausrottung der Gefangenen. Verletzte und Kranke erhielten keine
angemessene medizinische Versorgung, das Verhältnis des medizinischen Personals zu den Kranken war feindselig.
Bereits im September 1939 wurden polnische Kriegsgefangene für verschiedene Arbeiten eingesetzt,
hauptsächlich in der Landwirtschaft, und später – entgegen der Genfer Konvention – auch in der Rüstungsindustrie.
Sie führten auch alle körperlichen Arbeiten beim Bau der Baracken in den Kriegsgefangenenlagern aus.
Mit besonderer Härte behandelten die Deutschen die Fähnriche der Polnischen Armee. Die Fähnriche – ungefähr
3 500 Mann – wurden wie gewöhnliche Soldaten behandelt, obwohl sie von der polnischen Lagerleitung Offizieren
gleichgesetzt wurden. Entgegen der Genfer Konvention wurden sie bei besonders beschwerlichen Arbeiten auf
Flughäfen, in der Rüstungsindustrie, im Straßenbau, in Bergwerken und in Steinbrüchen eingesetzt. Für ihre Arbeit
erhielten sie keinen Lohn. Diejenigen, die Widerstand leisteten, wurden in Straflager geschickt, wo die Lebens‐ und
Arbeitsbedingungen besonders schlimm waren. Die Straflager Oberlangen, Fulen, Vullen, Wesuwe und Bathorn,
befanden sich in sumpfigen Gebieten, was zu ernsthaften gesundheitlichen Problemen unter den Gefangenen führte.
Im Juni 1940 wurde eine Gruppe von 300 Fähnrichen der Gestapo übergeben.
Im Frühling 1940 wurden wegen des Arbeitskräftemangels im Dritten Reich auf Grundlage einer Entscheidung
Hitlers, polnische Soldaten und Unteroffiziere in sog. Zivilstatus überführt und anschließend zwangsweise für die
deutsche Wirtschaft eingesetzt. Mithilfe verschiedener Druckmittel, von Versprechungen bis zu Drohungen und
Schlägen zwangen die Deutschen ca. 140 000 Soldaten und Unteroffiziere zur Unterzeichnung der
Arbeitsverpflichtung. Damit verloren sie ihre Kriegsgefangenenrechte gemäß der Genfer Konvention sowie die
Unterstützung und Betreuung durch das Rote Kreuz. Auf diese Art und Weise fielen die Kriegsgefangenen unter die
von Himmler erlassenen diskriminierenden Sondergesetze, verloren jegliche Art von Schutz und waren der Willkür
des deutschen Polizeiapparates – der Gestapo – ausgeliefert. Sie konnten jederzeit verhaftet und in
Konzentrationslager geschickt werden. Ab dem Moment, in dem die Kriegsgefangenen die Lager verließen,
unterlagen sie der Verfügung der Arbeitsämter und musste unverzüglich eine Arbeit aufnehmen.
Die Kriegsgefangenen, die die Unterzeichnung des Verzichtes auf den Kriegsgefangenenstatus abgelehnten,
waren Repressionen ausgesetzt. Im besten Fall war das Erpressung verbunden mit Strafen, die den Familien drohten
oder Prügel. Oft brachte man sie zur Gestapo oder Polizei, wo sie gefoltert und anschließend in Strafkompanien,
Straflager, ins Gefängnis oder sogar ins Konzentrationslager geschickt wurden.
L
KRIEGSGEFANGENSCHAFT
Der Prozess der Statusänderung von Kriegsgefangenen zu Zivilarbeitern, der 1940 begann, war ein fortlaufender
Prozess, der den ganzen Krieg über andauerte. Umso mehr nachdem sich unter den Kriegsgefangenen in Frankreich
kämpfende polnische Soldaten, Soldaten der polnischen Streitkräfte im Westen und Soldaten der I. Polnischen
Armee befanden.
Im September 1944 befanden sich in den Kriegsgefangenlagern noch etwa 53 000 Kriegsgefangene. Nach der
Niederschlagung des Warschauer Aufstands wurde eine große Gruppe von achtzehn Tausend Personen (darunter
2800 Offiziere, 2700 Frauen und 553 minderjährige Gefangene, im Alter von 8 bis 18 Jahren) gefangen genommen.
Die Genfer Konvention sah keinen Aufenthalt von Frauen und Kindern in den Stalags vor. Die Situation wurde durch
die Verhaftung von schwangeren Frauen noch komplizierter.
Nach dem Warschauer Aufstand hat man zum ersten Mal den Frauen und Minderjährigen den
Kriegsgefangenenstatus zuerkannt. Die Deutschen verpflichteten sich, gegenüber diesen Gruppen die
Bestimmungen der Genfer Konvention einzuhalten. In der Kriegsgefangenschaft behandelte man jedoch sowohl
Frauen als auch Minderjährige genauso wie erwachsene Männer. Bereits in den Durchgangslagern versuchte man die
Frauen und Minderjährigen dazu zu bringen, auf ihre Kriegsgefangenenrechte zu verzichten. Dieses Vorgehen wurde
auch nach der Überweisung in Kriegsgefangenenlager fortgeführt. Die Frauen wiesen dies zurück, trotzdem wurden
sie zur Arbeit in den Waffenfabriken in Chemnitz und Goslar geschickt. Sie wurden unter denselben Bedingungen wie
Zwangsarbeiter eingestellt. Ein Teil der Frauen, die die Arbeit vehement ablehnten, wurde in zwei Lager in
Oberlangen und Molsdorf gebracht, wo Bedingungen herrschten, die denen eines Straflagers ähnelten:
anstrengende Appelle, schlechte Wohn‐ und Sanitärbedingungen, kleine Essensrationen. Darüber hinaus waren
beide Lager in sumpfigen Gebieten gelegen, was sich negativ auf die Gesundheit der Gefangenen auswirkte.
Die Minderjährigen wurden in zwei Gruppen eingeteilt: die eine arbeitete in der Rüstungsfabrik in Chemnitz, die
andere in der Rüstungsfabrik in Brokwitz.
Gefangene aus dem Warschauer Aufstand wurden hauptsächlich in Werken eingesetzt, die die Rüstungsindustrie
belieferten. Diese Arbeit war nicht nur schwierig, sondern auch gefährlich. Die Fabriken wurden durchgängig von den
Alliierten bombardiert, daher erlebten viele der dort eingesetzten Gefangenen die Befreiung nicht.
Kennzeichnung der Kriegsgefangenen in einem Lager, Ort und Datum unbekannt (IPN)
67
KRIEGSGEFANGENSCHAFT
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Kolonne polnischer Kriegsgefangener unter Bewachung von Wehrmachtssoldaten, September 1939 (IPN)
Polnische Kriegsgefangene, Ort und Datum unbekannt (AZHRL)
CZESŁAW STOKOWSKI
69
CZESŁAW STOKOWSKI
Aus der Gefangenschaft
nach Hause.
Lebenserinnerungen
eines Soldaten
Der Autor dieses Berichts wurde 1913 in Grochów, im Landkreis Sokołów Podlaski, geboren. Als
Berufssoldat im Rang eines Unteroffiziers der Polnischen Armee nahm er am
Verteidigungskrieg teil. Am 13. September 1939 gelangte er in deutsche Kriegsgefangenschaft,
in das Kriegsgefangenenlager Stalag I A in Ostpreußen. Ende September wurde er nach Baalau
(Balewo) nahe Sztum (Stuhm) abtransportiert, wo er auf einem Landgut bis zu seiner Flucht
im Juni 1942 Zwangsarbeit verrichten musste.
KRIEGSGEFANGENSCHAFT
70
m Mai 1935 wurde ich einberufen, um meinen Wehrdienst im 71. Infanterieregiment, das in Zambrów stationiert
war, zu leisten. Dort absolvierte ich im Jahre 1937 die Unteroffiziersschule. Im März 1939 absolvierte ich einen
einjährigen Geschwaderkurs für Berufsunteroffiziere im 33. Infanterieregiment in Łomża. Sofort nach dem Kurs
wurde ich zum Wehrdienst in der 7. Kompanie des 3. Bataillons des 71. Infanterieregiments in Zambrów einberufen.
Ich übernahm die Pflichten des Zugführers des 3. Zuges. Der Befehlshaber der 7. Kompanie war Hauptmann Klemens
Janitz. Im April 1939 wurde ich mit meinem Zug mit einer Sonderaufgabe beauftragt: mit dem Bau verschiedenartiger
Befestigungen in Wizna am Fluss Narew. An diesem Ort waren wir bis zum 30. August 1939 stationiert.
An diesem Tag wurde die ganze Befestigungsstrecke von Major Jakub Fober, dem Befehlshaber des 3. Bataillons
des 71. Infanterieregiments, übernommen. Am Abend, nach der Umgruppierung der Streitkräfte auf der Strecke
Wizna‐Pstręgowo, wurde das Kommando von Leutnant Stanisław Świstek übernommen und wir zogen mit dem
gesamten Bataillon von Wizna nach Czerwony Bór.
Am 7. September bekam ich während der Einsatzbesprechung beim Kompaniechef den Befehl, mit meinem Zug im
Abschnitt zwischen den Dörfern Szabły Stare und Szabły Młode auf Erkundung zu gehen. Die Aufgabe war sehr
schwer, doch es hatten sich so viele Freiwillige gemeldet, dass ich manche zurück in die Reihe schicken musste.
Nachdem ich die Absicherung angewiesen und jedem Spähtruppmitglied eine Aufgabe zugeteilt hatte, liefen wir los.
Wir verließen den Wald und gingen in Richtung der Dorfgebäude in Szabły Młode. Als wir uns auf einer großen Wiese
befanden, erschien der Mond hinter den Wolken. Plötzlich schossen von rechts Leuchtgeschosse in die Luft und wir
wurden von Maschinengewehren beschossen. Wir stürzten nieder und lagen flach auf den Boden gedrückt. Ich
erinnerte mich daran, dass ein Entwässerungsgraben in der Nähe war. Ich lenkte meine Männer dorthin. Während
Unterbrechungen im Geschützfeuer zogen wir uns ins Dunkle zurück. Zum Glück wurde niemand auf der Wiese
verletzt oder getötet, während die Deutschen uns ihre Position und ihre Feuerstellungen verraten hatten. Nach
unserer Rückkehr von der Auskundschaftung erstellte ich einen Bericht, mit dessen Hilfe die Bataillonsbefehlshaber
einen detaillierten Angriffsplan entwarfen.
Im Morgengrauen des 8. Septembers traten wir zum Angriff an und verdrängten den Feind von seinen Stellungen.
Bei der Verfolgung der fliehenden Deutschen erbeuteten wir sehr viel Ausrüstung, Wagen, Panzerwagen, Waffen
und Verpflegung.
Beim zweiten Angriff auf Zambrów am 11. September aus der Richtung des Dorfes Poryte kam es zu einem
gewaltigen, blutigen Kampf mit dem Feind. Die Deutschen beschossen uns mit Artilleriegeschossen und
Maschinengewehren. Es gab viele Tote und Verletzte während dieses langen und schwierigen Kampfes. Auch unser
Befehlshaber wurde tödlich verwundet und ich konnte leider nichts mehr für ihn tun, er starb vor meinen Augen. Vor
Schmerz riss er die um uns herum wachsenden Kartoffelbüsche aus der Erde.
In der Nacht vom 12. auf den 13. September wurden wir nach erfolglosen Versuchen, uns durch den Ring deutscher
Truppen um uns herum durchzuschlagen, gezwungen uns zu ergeben. Die Deutschen entwaffneten uns in Łętownica
bei Andrzejewo. Trotz des Entschlusses unserer Vorgesetzten sich zu ergeben, hegte ich die Hoffnung, dass wir von
anderen Truppen unserer Armee frei geschlagen werden würden. In der Hoffnung, bald wieder gegen den Feind zu
kämpfen, hatte ich meine Dienstpistole Vis und die Personalliste meines Zuges versteckt. Ich wusste, dass ich bei der
ersten sich ergebenden Gelegenheit einen Fluchtversuch unternehmen werde. Ich wollte meine Familie vor den
Konsequenzen meiner Flucht und des fortgesetzten Kampfes schützen. Als man mich entwaffnete und meine
Personalien erfasste, machte ich deshalb falsche Angaben: einen anderen Wohnort, Geburtsort und ich hielt auch
meinen Rang im Militär geheim.
Am Abend des 13. Septembers wurden wir unter Begleitung deutscher Soldaten nach Zambrów zur Kaserne des
71. Infanterieregiments getrieben. Man befahl uns, uns auf dem Versammlungsplatz zusammenzufinden. Wie sehr
sich unsere Kasernen verändert hatten! Überall waren Stacheldrahtzäune, Wachtürme mit Maschinengewehren, die
auf uns zielten und deutsche Soldaten. Viele der auf dem Platz versammelten Kriegsgefangenen hatten, so wie ich
selbst, in diesem Regiment gedient, deshalb kannten wir die Gegend in‐ und auswendig. Wir sammelten uns an einer
Stelle und dachten über die Flucht nach. So gegen Mitternacht, als wir sicher waren, dass die Deutschen schon
eingeschlafen waren, unternahmen wir den Versuch, vom Gelände der Kaserne zukommen, und zwar durch die
Böschung des Regimentsschießstands. Wir hatten uns aber tragischerweise geirrt: Die Deutschen waren wachsam
und auf den Fall einer Flucht vorbereitet. In dem Moment, als wir aufsprangen und anfingen, in Richtung der
Böschung zu rennen, leuchteten Scheinwerfer grell auf und es war plötzlich taghell. Die Wächter auf den
Wachtürmen begannen, mit Maschinengewehren auf uns zu schießen. Wir waren ein einfaches Ziel und unsere
I
CZESŁAW STOKOWSKI
Schinder schossen auf jeden, der sich regte. Wir mussten bis zur Morgendämmerung bewegungslos daliegen. Viele
der Ausbrecher wurden tödlich verletzt, wahrscheinlich ist es dennoch einigen Glücklichen gelungen, zu entkommen.
Nach einer grauenhaften, schlaflosen Nacht wurden wir am Morgen an eine Kolonne anderer Kriegsgefangener
angeschlossen, mit deren Bildung die Deutschen in der Frühe begonnen hatten. Wir wurden vom Kasernenplatz auf die
Straße Richtung Łomża getrieben. Während dieses endlosen, 30 km langen Marsches fielen zahlreiche polnische
Soldaten vor Müdigkeit um, aber die deutschen Soldaten waren grausam und zwangen uns mit Schlägen, weiter zu
laufen. Auch ich bekam einige Gewehrkolbenhiebe auf dem Rücken zu spüren, als ich eine Tomate auffangen wollte, die
ein Dorfbewohner in unsere Richtung warf, während wir von den Deutschen durch ein Dorf geführt wurden. Das Ende
dieses qualvollen Weges war der Versammlungsplatz der Kaserne des 33. Infanterieregiments in Łomża. Dieser Platz war
zwei Tage lang unsere Unterkunft. Wir wurden unter freiem Himmel und ohne irgendeine Verpflegung festgehalten. Ich
hörte, dass irgendwo eine Feldküche sei, die Mahlzeiten ausschenke, aber wir sahen sie nicht und sahen auch nicht, dass
jemand irgendetwas aß. Ich musste meine Armbanduhr – mein einziges Andenken an Zuhause – gegen ein Stück Brot
eintauschen. Nach zwei Tagen, am 16. oder 17. September wurden wir auf unmenschliche Weise durch Jedwabne, zum
Bahnhof Dłutowo getrieben (ich weiß nicht, ob ich mich an den Namen richtig erinnere, es mag sein, dass ich den Namen
verdreht habe). Dort wurden wir in Viehwaggons verladen und zum Stalag I A abtransportiert.
So begann mein Aufenthalt im Kriegsgefangenenlager. Das Leben im Lager war sehr schwer. Wir wurden in alten,
von deutschen gebauten Uniformlagern untergebracht, die mit hölzernen, mehrstöckigen Regalen ausgestattet
waren, die uns nun als Schlafplätze dienten. Der Raum war so groß, dass man eine Pyramide bilden musste, um bis
ganz nach oben zu gelangen. Andernfalls war es unmöglich, sein Bett zu erreichen. Auf diesen Regal‐Stockbetten
verbrachten wir die Nächte ganz ohne Decken. Unsere einzige Bekleidung waren unsere Mäntel und unsere
polnischen Uniformen. Nach ungefähr einer Woche begann man, uns in kleinen Gruppen in verschiedene uns
unbekannte Richtungen zu verfrachten. Auch für mich kam die Zeit des Abtransports. Da ich bei der Befragung
angegeben hatte, dass ich Bauer wäre, wurde ich mit einer Gruppe anderer Kriegsgefangener zur Arbeit in einem
Landgut eingeteilt.
Unsere Gruppe von zehn Männern wurde von einem deutschen Wachmann am Lager abgeholt, der uns bis zu
unserem Bestimmungsort begleitete. Er befahl uns, in den Wagen zu steigen und so fuhren wir ins Ungewisse. Am
Abend erreichten wir ein riesiges Landgut. Wir erfuhren erst später, dass dies die Ortschaft Baalau (Balewo), mit dem
Bahnhof Waplewo Wielkie bei Dzierzgonia im Landkreis Sztum war.
Der Wachmann war unser Herr über Leben und Tod. Von morgens bis spät abends ging er mit seinem Gewehr
herum und bewachte uns. Er wies uns Arbeiten zu, teilte bescheidene Essensrationen aus, hatte das Recht uns zu
bestrafen und konnte uns im Falle eines Fluchtversuches auch erschießen. Auf dem Landgut wohnten wir auf dem
Dachboden eines alten, einstöckigen Gebäudes. Im Erdgeschoss befanden sich eine Abfüllanlage und ein Milchlager.
Der Raum, in dem wir unser Quartier bezogen hatten, war sehr bescheiden möbliert. An den Wänden lagen auf den
Boden geworfene Strohsäcke zum Schlafen, in der Mitte stand ein großer Tisch aus ungehobelten Brettern, daneben
standen zwei Sitzbänke. Dies war die komplette Möblierung unseres Quartiers. Oben an den Wänden befanden sich
zwei kleine, vergitterte Fenster. Die Arbeit auf dem Bauerngut war schwer, denn sie erforderte große körperliche
Anstrengung, besonders im Frühling und im Herbst. Den ganzen Herbst über ernteten wir Zuckerrüben, luden sie auf
Pferdewagen und brachten sie dann zum Bahnhof, um sie in Zugwaggons zu verladen. Im Winter waren wir mit
Getreidedreschen und der Freilegung von Zuckerrübenmieten beschäftigt. Im Frühling säuberten wir die
Bauernhofsgebäude von dem Mist, den die Kühe, Pferde und Schweine festgetreten hatten. Wir transportierten
diesen Dünger dann aufs Feld, um ihn dort auszustreuen. Wir erledigten die schwierigsten Arbeiten auf dem
Bauerngut. Alles passierte in großer Hast, der Wachmann gönnte uns keinen Moment Ruhe.
Die bescheidenen Mahlzeiten wurden uns von Wachmännern gebracht und ausgeteilt, die alle paar Monate
wechselten. An einen von ihnen kann ich mich gut erinnern, er hieß Abramowski und stammte aus der Gegend bei
Nowe Miasto Lubawskie. Er war es, der mich mit dem Gewehrkolben gestoßen hatte, dafür dass ich ohne Erlaubnis
für einige Minuten zum Brunnen ging, um meinen Durst zu löschen. Wir bekamen keine Kleidung, unsere Uniformen
mussten reichen. In diesen liefen wir die ganze Zeit herum und arbeiteten, und allmählich verwandelten sie sich in
regelrechte Lumpen, trotz all unserer Bemühungen, sie in Stand zu halten, damit sie einer polnischen Uniform würdig
blieben. Der Lohn für unsere schwere Arbeit war bescheidenes, minderwertiges Essen und ein paar Marken, die
gerade mal ausreichten, um Rasierseife, ‐klingen und Zahnpasta zu kaufen. Verschnaufpausen hatten wir lediglich an
Sonntagen, aber zur Kirche gingen wir nicht, denn wie man uns erklärte, war diese sehr weit weg.
71
KRIEGSGEFANGENSCHAFT
72
Mit meiner Familie hielt ich keinen Kontakt. Sie wussten weder, wo ich war, noch ob ich lebte. Der Grund dafür war,
dass ich seit Beginn meiner Gefangenschaft die Flucht plante, um die Sicherheit meiner Familie fürchtete und meine
richtigen Personalien nicht preisgeben wollte. Ich wartete mit der Flucht auf einen günstigen Augenblick, unter
anderem auf den Wechsel unseres Wachmanns. Trotz der schwierigen Bedingungen waren wir einigermaßen
gesund, aber eines Tages wurden einige der Mitgefangenen plötzlich krank und mir gelang es, dem Wachmann
vorzumachen, ich wäre auch krank. Unter Begleitung wurden wir mit dem Zug in einem gesonderten Waggon zum
Arzt gebracht. Wenn ich mich recht entsinne, befand sich das Lazarett für Kriegsgefangene im Wasserturm in Morąg.
Der Arzt in diesem Lazarett war ein Offizier der polnischen Armee, ein Kriegsgefangener wie wir. Es war ein sehr
netter, gesprächiger Mensch, der mein Vertrauen weckte. Als ich für die Untersuchung meine Kleidung ablegte,
sagte ich dem Arzt, ich wäre gesund. Er war überrascht und fragte nach dem Grund meines Besuchs. Ich verriet ihm
mein Geheimnis und sagte, dass wir uns zu Fuß auf eine lange Reise machen würden und dass ich gerne stärkende
Medikamente für meinen abgemagerten Körper bekommen wolle. Der Arzt fragte, wie weit diese Reise wohl sein
würde. Ich sagte ihm, dass ich nach Podlasie gehen wolle, während die anderen in andere Richtungen ziehen würden.
Er wurde nachdenklich und nach einem längeren Moment stellte er fest, dass er in Podlasie in Kupientyn Familie habe
und auch gerne dort wäre, aber noch nicht zurück könne, denn er werde hier mehr gebraucht. Er meinte auch, dass
es dort, wo ich hin wolle, sicher sei und solche wie ich nicht verfolgt werden, da dort die Gemeindevorsteher Leute
zur Zwangsarbeit im Dritten Reich bestimmen. Er gab mir Vitamine und Arzneimittel und zum Abschied reichte er mir
die Hand und sagte leise: „Gute Reise, Hauptsache Sie schaffen es bis Kongresspolen, von dort aus werden Sie schon
klarkommen“. Diesen starken Händedruck empfand ich als Unterstützung für meine Entscheidung zur Flucht aus der
deutschen Kriegsgefangenschaft und die Rückkehr nach Hause. Ich verließ die Arztpraxis und trat in den Flur. Dort
saßen viele polnische Soldaten, aber mit keinem konnte ich sprechen, denn jede Gruppe hatte ihren Wachmann, der
die Gefangenen beobachtete, um keine Kontaktaufnahme zwischen uns zuzulassen. Ich schloss mich meiner Gruppe
an und begann über das Gespräch mit dem Arzt nachzudenken. Ich hatte gute aber auch schlechte Gedanken: wurde
ich nicht zu lange untersucht im Vergleich zu den anderen Kranken, vielleicht hat der Wachmann Verdacht geschöpft
deshalb. Ich war sehr nervös, aber die schlimmsten Befürchtungen hatte ich, als unser Wachmann in die Praxis des
Arztes gebeten wurde, der mich untersucht hatte. In der Zeit, in der unser Wächter weg war, „betreute“ uns der
Wachmann einer anderen Kriegsgefangenengruppe.
Nach meiner Rückkehr nach Baalau, spät in der Nacht, hielten wir einen Rat ab. Nach einer langen Diskussion
beschlossen wir, dass Anfang Mai der günstigste Termin für eine Flucht sein würde. Das Wetter wird warm sein, die
Bäume werden schon Blätter tragen und hohes Getreide wird es einfacher machen, sich während des Tages zu
verstecken, denn laufen konnte man nur in der Nacht. Wir beschlossen, dass wir damit beginnen wollten
verschiedene Sachen, die wir für den weiten, schwierigen und gefährlichen Weg brauchen, zu sammeln. Uns ging es
vor allem um Verpflegung, aber auch um Gegenstände, die eine Flucht vom Dachboden ermöglichen würden. In
unserer Situation konnten wir nur Brot für den Weg sammeln, aber die Beschaffung von nur einer zusätzlichen
Schnitte Brot war äußerst schwierig, denn uns blieb nie Brot von Mahlzeiten übrig. Und wie sollten wir die eisernen
Gitter herausbrechen, und wie vom Dachboden runterklettern?
Viel Hilfe und Güte fanden wir bei Herrn Rutkowski. Er war als Nachtwächter auf dem Landgut angestellt und
sprach ziemlich gut Polnisch. Eines Tages nutzte er die Gelegenheit, als der Wachmann sich einen Moment lang
entfernte, und sagte uns leise: „Habt keine Angst vor mir, ich bin zwar aus den Masuren, aber im Herzen bin ich Pole“.
Er bat uns, niemandem etwas über seine Kontakte mit uns zu sagen, denn dafür drohte die Todesstrafe. Treffen mit
uns waren schwer, denn er arbeitete nachts, wenn wir auf dem Dachboden eingeschlossen waren. Manchmal aber
erschien er tagsüber auf dem Hof oder blieb länger nach seinem Nachtdienst, doch das passierte sehr selten. Er half
uns so gut er konnte, machte uns Mut und ermutigte uns für ein schnelles Ende des Krieges zu beten. Er freundete
sich mit uns an und wir betrachteten ihn als unseren ersten Freund im fremden Land. Wir erzählten ihm von unseren
Plänen. Mit seiner Hilfe gelang es uns, bescheidene Brotvorräte für den Weg anzusammeln, denn er hinterließ uns an
einem vereinbarten Ort sein bescheidenes Frühstück. Er besorgte uns auch eine Brechstange zum Herausbrechen
der Fenstergitter und stellte eine Leiter unter eines der Fenster. Ihm verdanken wir es, dass eine Erfolgschance für
unsere Flucht bestand.
So vergingen Tage, Wochen und Monate, und mit ihnen näherte sich der von uns herbeigesehnte Frühling. Wir
glaubten, dass wir schon bald mit Gottes Hilfe frei sein werden, dass unserer Gefangenschaft und Verfolgung bald ein
Ende gesetzt werden würde, dass wir zu unseren Familien zurückkehren und wieder für uns selber und für Polen
CZESŁAW STOKOWSKI
leben könnten, für deren Freiheit wir noch kämpfen mussten. Wir legten verschiedene Fluchttermine fest, aber jedes
Mal machte uns etwas einen Strich durch die Rechnung und der Fluchttag musste verschoben werden. Letztendlich
war es dann soweit. Der lang ersehnte Tag war gekommen: der 23. Mai 1942. Diesen Tag werde ich niemals
vergessen.
Wir gingen um 21 Uhr schlafen. Um diese Uhrzeit kam immer der Wachmann vorbei und während er Wache stand,
mussten wir unsere Uniformen und Schuhe in den Flur bringen. Die Kleider lagen die ganze Nacht über
zusammengefaltet vor der Tür der Leitwarte und wir durften sie erst morgens wieder abholen. Nachdem wir die
Kleidung herausgebracht hatten, schloss der Wachmann die Eingangstür im Erdgeschoss ab und nahm den Schlüssel
mit. So war es Tag für Tag, aber an diesem denkwürdigen Tag täuschten wir den Wachmann. Wir zogen uns wie jedes
Mal aus, doch falteten wir lediglich unsere Hosen und Mäntel zusammen, behielten aber die Uniformhemden und
langen Unterhosen für unterwegs bei uns. Der Wachmann bemerkte unsere List nicht, schloss die Tür hinter uns ab
und ging zu seiner Leitwarte zurück. Wir warteten angespannt ab, bis er das Licht ausschaltete und in tiefen Schlaf
versank. Wir knieten nieder und beteten zu Gott um Hilfe auf unserem Weg in die Freiheit. Bald schlug es 23 Uhr und
wir entschlossen uns, unsere Flucht zu beginnen. Wir umarmten uns ein letztes Mal herzlich und wünschten uns
gegenseitig viel Glück auf unserem Weg.
Zwei Häftlinge begannen die Gitter mit dem Brecheisen anzuheben, während wir anderen die Wolldecken in Stücke
rissen und sie zusammenbanden, um eine lange Schnur daraus zu knüpfen, sodass wir nach unten klettern konnten.
Um den Lärm beim Herausbrechen der Fenstergitter zu dämpfen, banden wir Decken um die eisernen Stangen. Mit
dem von Herrn Rutkowski besorgten Stab versuchten wir einen Spalt zwischen dem Gitter zu schaffen, aber dieses
wollte trotz unserer Anstrengungen nicht nachgeben. Es war fest in der Mauer verankert. Ungeachtet dieses ersten
Misserfolges versuchten wir dasselbe mit dem zweiten Fenster. Zum Glück gelang es uns dieses Mal, das Gitter so
weit zu verbiegen, dass man sich durch einen schmalen Spalt durchzwängen konnte und der Wachmann keinen Lärm
hörte. Der Weg zur Freiheit stand uns nun offen. Wir warfen die aneinander gebundenen Decken nach draußen und
banden die Schnur an den Gitterresten fest. Gemäß der von uns vorher vereinbarten Reihenfolge quetschten wir uns
leise durch das geöffnete Gitter, ich kletterte als fünfter oder siebter durch. Als meine Füße den Boden berührten,
fing ich an zu rennen. Ich schaute mich nicht mehr um, ich wollte so weit wie möglich von diesem verhassten Ort
Polnische Kriegsgefangene, Ort und Datum unbekannt (AZHRL)
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KRIEGSGEFANGENSCHAFT
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weg. Eine Zeit lang hörte ich hinter mir die Schritte eines Freundes, der mir nachrannte, aber nach einer Weile wurde
alles still und ich blieb ganz alleine auf dem Weg. Ich lief langsamer, rannte noch ein kurzes Stück und blieb stehen.
Ich ruhte mich aus nach diesem wilden Lauf und dachte kurz darüber nach, wo es jetzt langgehen sollte.
Nach einer kurzen Ruhepause machte ich mich weiter auf den Weg in Richtung meines Heimatortes. Mein Zuhause
war weit entfernt und viele Gefahren lauerten auf dem Weg dorthin. Die Reise war äußerst mühsam. Barfuß und quer
durch die Felder machte ich einen Bogen um jegliche Siedlung und irrte umher wie ein gejagtes Tier. Mit jedem
Schritt näherte ich mich meinem Zuhause, meiner Familie. Tagsüber schlief ich im Getreide, das schon ziemlich hoch
war und einen recht guten Schutz bot. Ich wanderte nur nachts und die Richtung bestimmte ich bei günstigem
Wetter anhand der Sterne. Einige Male musste ich die Richtung ändern, denn nicht immer war das Wetter gut und es
konnte einem schnell ein Fehler unterlaufen.
Nach einigen Nächten des Marsches in Dunkelheit über Felder und ausgetrocknete Erdbrocken hatte ich große
offene Wunden an meinen Füße wie und jeder Schritt bereitete mir unheimliche Schmerzen. Jedoch war der Hunger
noch schlimmer als der Schmerz. Das Brot, das wir so lange und mühsam zusammengerafft hatten, reichte nur für
eine kurze Zeit. Ich ernährte mich von dem, was ich auf dem Feld fand: Sprossen, jungen Ähren. Ich freute mich sehr,
wenn ich Plätze fand, an denen vorher Rübenmieten aufgehäuft gewesen waren. Dort lagen noch etwas Stroh und
ein paar Stück angefaulte Rüben. Diese wenigen stinkenden Rüben waren mein erstes, üppiges Frühstück.
Eines Morgens bemerkte ich, dass sich mir eine Gestalt näherte. Ich versteckte mich noch tiefer im Dickicht und
beobachtete die sich nähernde Person. Als sie bereits sehr nahe war, bemerkte ich die Sense auf ihrer Schulter. Es
war ein Bauer auf dem Weg zur Feldarbeit. Ich beschloss, mich ihm zu zeigen. Als er mich sah, stand er wie versteinert
da, ich sah die Angst in seinen Augen und ich bin nicht verwundert darüber: Ich war abgemagert, unrasiert,
blutverschmiert, in Lumpen und Fetzen gekleidet und muss wohl mehr an ein Tier als an einen Menschen erinnert
haben. Nach einem Moment kam er wieder zu sich und fragte, was ich hier tue und wer ich sei. Ich erzählte ihm von
meiner Gefangenschaft und Flucht und dass ich sehr hungrig sei. Der Unbekannte war barmherzig, er hatte Mitleid
mit mir und gab mir die Hälfte seines Frühstücks. Nach einigen Minuten des Gesprächs und nach der Mahlzeit
forderte er mich auf, ihm zu folgen. Zur Sicherheit lief ich in einiger Entfernung hinter ihm. Er führte mich zum Haus
seines Cousins, das in einer Ansiedlung etwas weiter weg von den Gebäuden im Dorf gelegen war. Mein Retter ließ
mich in der Obhut dieses wohlwollenden Gastgebers und dessen Familie und ging selber zurück, um die Wiese zu
mähen.
Es war ein ärmlicher Bauernhof, aber die Menschen waren sehr gastfreundlich. Ich konnte mich waschen, rasieren,
erhielt Kleidung und Schuhe. Ich sah endlich wieder wie ein Mensch aus. Ich bekam zu essen, danach führte man mich
in die Scheune, wo ich mich ausruhen konnte. Abends wurde ich zum Abendessen eingeladen. Nach dem
Abendessen besuchten den Bauern ein paar Familienangehörige. Ich erzählte ihnen vom Schicksal eines
Kriegsgefangenen, über die schlechten Bedingungen und die Flucht. Ich war glücklich, dass ich nach so vielen Tagen
der Kriegsgefangenschaft, des Lagers und der Zwangsarbeit wieder unter meinen Landsleuten weilte. Ich erfuhr,
dass ich noch 6 km bis zur Grenze, die das Deutsche Reich von Kongresspolen trennte, hatte. Sie warnten mich, dass
es in dieser Umgebung gefährlich sei. Sie erklärten mir genau, wie man zur Grenze kam und wo man diese
überqueren sollte.
Nach einem herzlichen Abschied von allen machte ich mich weiter auf den Weg. Ich war nicht mehr hungrig und
ich erhielt Brot, Käse und eine Flasche Milch für unterwegs. Ich musste mich auch nicht mehr so sorgfältig
verstecken. Ich traf oft gutmütige und mir wohlgesinnte Leute. Dank ihrer Hilfe gelang es mir, im Juni 1942, nach 34
Tagen des qualvollen Marsches, meinen Geburtsort Grochów zu erreichen.
HENRYK ŁAGODZKI
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HENRYK ŁAGODZKI
In Gefangenschaft
Henryk Łagodzki – Decknamen „Orzeł” [Adler] und „Hrabia” [Graf], Kriegsgefangenennummer
105494 – wurde am 15. Juli 1927 in Warschau geboren. Als Soldat der Polnischen Heimatarmee
kämpfte er im Warschauer Aufstand im Stadtteil Śródmieście Północ. Am 5. Oktober 1944
verließ er die Stadt mit seiner Einheit. Nach einem Aufenthalt im Lager in Ożarów war er in den
Stammlagern 344 Lamsdorf und IV B Mühlberg interniert. Seit Dezember 1944 arbeitete er in
der Glashütte in Brockwitz. Gleich nach der Befreiung im Jahr 1945 kehrte er heim.
KRIEGSGEFANGENSCHAFT
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m 1. August 1944 verließ ich mein Haus in der Łucka Straße, um am Aufstand teilzunehmen. Meine Eltern waren
in der Stadt. Ich hinterließ ihnen einen Zettel, dass ich bald zurück bin...
A
[...]
Wir können es kaum glauben, doch es ist wahr. KAPITULATION. Am 3. Oktober um 7:30 Uhr verlassen wir den Ort,
den wir 63 Tage lang verteidigt haben. Wir können es nicht fassen, dass wir trotz erfolgreicher Verteidigung der
Außenposten, diese verlassen müssen und dass die Ukrainer das Gebiet ohne einen einzigen Schuss einnehmen. Dem
Befehl ist zu folgen. Wir marschieren in geschlossener Formation zur Truppenkonzentration des II. Bataillons des
Verbandes „Chrobry II.” des 15. Infanterieregimentes der Heimatarmee.
In der Żelazna Straße Nr. 36 stellten sich alle Truppen in Reihen, mit Gewehr, zu vieren auf, mit unseren Anführern
an der Spitze. Vor dem Abmarsch in die Gefangenschaft fand ein Gottesdienst statt, zu dem sich neben Soldaten auch
die Zivilbevölkerung zahlreich versammelte.
Vor der Messe hatte ich mich von meinen Eltern verabschiedet, mit denen ich in der Łucka Straße Nr. 14 wohnte,
und die zurzeit im Keller des Hauses lebten. Bei der Gelegenheit konnte ich einige Gebrauchsgegenstände einpacken.
Meine Eltern waren verzweifelt darüber, dass ich gehe, ich konnte jedoch meine Waffenbrüder nicht verlassen, mit
denen ich auf Leben und Tod kämpfte. Das war damals wahre Solidarität.
Mit Bedauern verlassen wir die uns so wichtigen Mauern, unsere Schanzen. Wir verabschieden uns von den Juden,
die in unserem Kommando waren und die jetzt beschlossen hatten, in der Stadt zu bleiben, weswegen sie große
Vorräte an Nahrungsmittel angelegt hatten. Einige jüdische Aufständische entschieden sich, mit uns in die
Gefangenschaft zu gehen. Mit geänderten Namen überlebten sie die Gefangenschaft, keiner verriet sie und alle
kehrten nach dem Krieg zurück.
Das Regiment formiert sich an der Stelle, wo die erste Truppenkonzentration stattgefunden hat. Der Abmarsch
findet am Vormittag gegen 10 Uhr statt. Wir marschieren durch die Straßen Żelazna, Chłodna, Kerceli Platz,
Przyokopowa bis nach Ożarów Mazowiecki. Wir lassen die Köpfe hängen und gehen in die deutsche Gefangenschaft,
wir nehmen Abschied von der Zivilbevölkerung, die zurückbleibt. Auf beiden Seiten der Żelazna Straße bis zur
Grzybowska Straße stehen Eltern, die aus Kellern herausgekommen sind, um sich von ihren Liebsten zu
verabschieden. Am Ende der Łucka Straße sehe ich noch einmal meine Eltern stehen, ich winke ihnen, doch sie haben
mich nicht bemerkt. Vor der Grzybowska Straße stehen auf beiden Seiten der Straßen Żelazna und Chłodna deutsche
Soldaten mit schussbereitem Gewehr. Die Straße ist aufgeräumt, doch ringsherum sieht man überall Schutthaufen
und verbrannte Häuser.
Wir biegen in die Chłodna Straße ein und gehen am mehrstöckigen Gestapo‐Gebäude vorbei. Da überkommen
mich Erinnerungen: der Bunker steht noch am Tor in der Żelazna Straße Nr. 75, zerstörte Fenster sehen wie leere
Augenhöhlen aus. Hier war ich im Juli 1943 festgenommen und im ersten Stock gemeinsam mit Ryszard Kowalski
gefangen gehalten worden (der später im Konzentrationslager umgekommen ist). Hier sah ich in den ersten Tagen
des Aufstandes SS‐Männer, die gefangen genommen wurden und bei der Verstärkung von Barrikaden und beim
Säubern der Bürgersteige arbeiteten.
Unsere Kolonne marschiert in Reihen die Chłodna Straße entlang, eskortiert von deutschen Soldaten, die uns mit
Hass betrachten. Durch die „Augenhöhlen“ der verbrannten Häuser sehen wir auf den Höfen glimmendes Feuer, wo
menschliche Überreste zu Ende brennen. Ukrainer, die Zivilisten ermordet haben, haben die Leichen zu Haufen
geschichtet, mit Benzin übergossen und angesteckt, um den Gestank verwesender Leichen zu beseitigen. Das gleiche
Bild sehen wir, als wir die Wolska Straße entlang gehen.
Wir biegen zum Kerceli Platz ein, wo in der Mitte Tische und Körbe für Handfeuerwaffen stehen. Wir werfen
unsere Waffen auf einen Haufen: Gewehre ohne Schloss, gebrochene Zündnadeln. Kaum einer hat funktionsfähige
Waffen abzugeben. Dieser Platz sah am zweiten Tag des Aufstandes völlig anders aus. Ich sehe noch den erbeuteten
Panzer und lächelnde Jungs von Bataillon „Parasol” darauf. Und jetzt sind wir hier von einer Eskorte deutscher
Soldaten umstellt. Außerhalb der Warschauer Stadtgrenzen sieht die Zivilbevölkerung die marschierende Kolonne
der Verteidiger von Warschau und will uns Gemüse, Obst und Wasser reichen, doch sie werden nicht an uns heran
gelassen. Aufständische sind jedoch harte Jungs und Mädels – wir fangen an, Partisanen‐ und Aufstandslieder zu
singen, womit wir die Eskorte überraschen. Es helfen keine Schreie und Kolbenschläge, die die am nächsten
Stehenden zu spüren kriegen.
Wir sind müde und niedergeschlagen. Langsam verlassen wir die Stadt in der langen Gefangenenkolonne, von der
weder der Anfang, noch das Ende zu sehen sind. Ab und zu bleiben wir kurz stehen oder müssen Halt machen, weil
HENRYK ŁAGODZKI
Verletzte, die nicht ins Krankenhaus gehen wollten, die mühsame Wanderung nicht durchhalten. Zum ersten Mal seit
zwei Monaten sehen wir Felder und Wiesen, wir gehen an ersten Gebäuden vorbei. Es laufen Dorffrauen zu uns, mit
Tränen in den Augen, sie bringen uns Essen, frische Milch und kaltes Wasser. All diese Schätze kriegen wir während
des Marsches. Wir stillen den Hunger, nicht alle von uns haben heute gefrühstückt. Die Wehrmachtssoldaten
erlauben den Frauen nicht, nahe heranzukommen, doch keiner achtet darauf, überall sind Schreie zu hören. Manche
bleiben kurz stehen, doch die Kolonne wartet nicht und so bleiben sie unter den Dorfmenschen zurück. Weit auf der
linken Seite sieht man die Mauern der Kabelfabrik – das ist Ożarów, das Ziel unserer heutigen Wanderung. Wir
werden in leere, schmutzige Fabrikhallen hineingetrieben. Alle fallen vor Erschöpfung einfach auf den schmutzigen,
kalten Beton. Hier verbringen wir die Nacht.
Der 16‐Kilometer‐Marsch zum Lager setzte uns spürbar zu. 65 Tage lang hatten wir keine Gelegenheit, lange
Strecken zurückzulegen. Die Nacht auf dem Stroh, auf dem Betonboden machte sich genauso wie der Marsch
bemerkbar, jedoch konnten wir unsere Knochen etwas ausruhen. Eine so lange Erholung hatten wir seit über zwei
Monaten nicht gehabt. Der Schlaf ohne Essen – wir kriegten kein Mittagessen, nicht mal eine Ration – war nur leicht.
Am 6. Oktober wachen wir hungrig, schmutzig und rot von der Mennige, die überall verstreut war auf. Wir gehen
raus auf der Suche nach etwas Warmem zu Essen, das uns seit langem fehlt. So beginnt unser Gefangenenepos.
Der zweite Tag der Gefangenschaft fängt an. Das Wetter ist schlecht. Es nieselt und es ist feucht. Es gibt keine
Chance auf Essen. Alle sind mit Mennige beschmiert. Es gibt keine Waschmöglichkeit, keine Toilette. Männer und
Frauen erleichtern sich draußen an den Wänden. Keiner schämt sich, die Umstände zwingen zu solchem Verhalten.
Erst später zeigte sich, dass auf dem Nebengleis der Kabelfabrik Güterwagen bereitgestellt wurden. Man holte
daraus Kessel mit Kaffee, endlich dürfen wir etwas Warmes trinken. Andere Gefangene „organisierten“ frisches Brot
und Margarine und teilten diese mit uns.
Früh am Morgen wird eine Liste vorgelesen und damit begonnen, Gefangene in die Waggons zu „verladen“. Wir
werden wie Vieh oder noch geringschätziger in die Waggons hineingetrieben. In diese „Viehwaggons“ müssen 60
Personen mit Gepäck rein. Es wird uns Essen für die Reise gegeben: je ein Laib Brot und ein bisschen Margarine. Die
Verladung wird von Schreien begleitet: „Banditen”. Mein Freund „Moneta” und ich halten zusammen. Im Wagen
stellen wir uns nah ans Fenster, das ist zwar nicht immer günstig, wie sich später herausstellt, aber zumindest kann
man noch atmen. Wir stehen dicht gedrängt wie Sardinen, keiner kann die Position wechseln, das müssen wir
erdulden. Das Schlimmste daran ist, dass es keine Toilette gibt. Wir finden eine Lösung: wir schneiden eine Öffnung
im Boden aus, die jedoch für manche Notdurft zu klein ist. Der Kollege Leszek Brzozowski stellte einen 1‐Liter‐Becher
für sanitäre Zwecke zur Verfügung, dessen Inhalt durch ein vergittertes Fenster ausgegossen werden muss.
Manchmal gelingt dies nicht, dann landet der Inhalt teilweise auf den Köpfen der am nächsten Stehenden.
Die Reise unter solchen Umständen dauert drei Tage und drei Nächte. Inzwischen wurde die Tür des Waggons nur
zweimal kurz geöffnet. In einer Nacht ist der Sturm besonders stark. Plötzlich erwachen wir wegen durchdringender
Kälte und Schneeregens. Der Wind reißt das Dach des Wagens ab. Wir sehen über uns den schönen, bedrohlichen
Himmel, es gibt keine Spur vom Dach mehr. Im ersten Moment wollen wir flüchten, dann drängte sich jedoch die
Erkenntnis auf, dass wir auf deutschem Gebiet, in einer unbekannten Gegend sind und schnell erwischt werden
können. Unsere Schreie und Schläge gegen die Wände hört keiner. Viel Zeit vergeht bis der Zug anhält. Wir sind
durchnässt und durchgefroren, seit zwei Tagen hatten wir nichts mehr zu Essen. Die bewaffneten Wachmänner sind
wütend, sie müssen die anderen Waggons öffnen und in jeden davon einige von uns hineinstopfen. Das ist nicht
einfach und geht nicht ohne Beschimpfungen. Alles findet im Dunkeln, im Sturm und kalten Regen statt. Endlich fährt
der Zug weiter, alle schweigen, im Stehen schlafen wir ein. Im Laufe des Tages wird der Waggon noch einmal
geöffnet. Wir werden gezählt, als würde man befürchten, dass jemand flüchtet. Schlauere reißen auf einem Feld
Kohlrüben und Kohlköpfe raus. Dies wirkt sich dann aber katastrophal auf ihre Gesundheit aus – bis zum Ende der
Reise sind sie krank. Der Gestank im Waggon ist unerträglich. Länger würden wir die Kranken nicht mehr ertragen
können. Wir haben nichts zu Essen und zu Trinken dabei, nicht alle haben Vorräte aus Warschau.
Am dritten Tag früh öffnen die Deutschen die Waggons und lassen uns aussteigen. Es warten auf uns bewaffnete
Wachmänner mit Hunden. Nicht alle können selbst aussteigen. Viele sind krank. Wir tragen diese aus den Waggons
und legen sie direkt auf den Boden, später soll man sie in das Lager tragen. Die Station Lamsdorf liegt weit vom Lager
entfernt. Man muss noch über zehn Kilometer laufen. Wir werden zu einer langen Kolonne formiert, ringsherum
herrschte Chaos, überall hört man Rufe. Aufgeregte Hunde bellen und greifen uns an.
Nach dem ziemlich frostigen Morgen wird der Tag heiter und sonnig. Mit Genuss atmen wir die frische Luft ein, die
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KRIEGSGEFANGENSCHAFT
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uns zwei Monate lang gefehlt hat. Die Kolonne bewegt sich langsam, die Bewacher schreien, langsamere Kollegen
werden mit Hunden gehetzt. Während des Marsches erschleichen sich die Wehrmachtsoldaten von uns wertvolle
Gegenstände, wie Uhren und Schmuck, indem sie uns überzeugen, dass uns während der Durchsuchung sowieso
alles weggenommen werden wird. Manche glauben es und ich sehe, dass sie Dinge weggeben oder gegen Zigaretten
und deutsche Marken tauschen. Viele ältere und schwächere Kollegen lassen ihr Gepäck zurück. Der Marsch dauert
einige Stunden. Aus der Entfernung sehen wir Wachtürme, Stacheldrahtzaun und Baracken sowie die Einöde
ringsum. Links sieht man weit entfernt einige Häuser und einen kleinen Wald.
Gegen Mittag ist plötzlich eine Erregung feststellbar, alle schauen zum Himmel. In der Entfernung sieht man zwei
Punkte, die sich ganz schnell in unsere Richtung bewegen. Es sind deutsche Flugzeuge. Wahrscheinlich im
Übungsflug. Sogar die Deutschen werden ruhig und schauen zum Himmel. Die Flugzeuge entfernen sich, dann
kehren sie um und fliegen aufeinander zu. Vielleicht starren die Piloten gerade unsere Riesenkolonne an. Plötzlich
hört man Knall und Krach, die Flugzeuge stoßen zusammen. Sofort kommt es zu einer gewaltigen Explosion,
Flammen steigen auf. Für die Augen mehrerer Tausend Aufständischer ist dies ein wundervolles Bild. Ein lauter Schrei
ertönt und wir brechen in Jubel aus. Das Schicksal sorgt dafür, dass unseren Feinden Gerechtigkeit zuteil wird. Die
Wachmänner erwachen wie aus dem Schlaf, wieder Schreie und Hundebellen. Die Kolonne zieht weiter, ihre Spitze
ist schon fast am Tor des Lagers. Unter uns herrscht eine Riesenfreude. Alle freuen sich und kommentieren das
Ereignis, als hätten wir vergessen, wo wir sind. Mit den Schreien: „polnische Banditen” werden wir zurechtgewiesen.
Durch das Haupttor kommen wir auf das Lagergelände. Wir, Minderjährige, sollen uns mit einer Gruppe von
Offizieren auf die linke Seite stellen. Alle Anderen auf die rechte Seite. Frauen, die in der Minderzahl sind, werden in
separate Baracken verwiesen. Diese grenzen auf einer Seite an Slowaken, auf der anderen Seite an uns. Unter den
Berufsoffizieren sind viele ältere Personen. Diese fallen vor Müdigkeit fast um, sie brauchen Hilfe. Es erwartet uns
noch eine weitere Anstrengung – Durchsuchung und Unterbringung.
Die Deutschen stellen uns auf dem „Plünderungsplatz“ in langen, endlosen Reihen auf. Wir legen alles, was wir
besitzen vor uns hin und die Durchsuchung dauert bis spät in der Nacht. Nach einiger Zeit werden manche von uns
in die Baracken geschickt. Von allen Seiten hören wir, dass wir polnische Banditen seien, mit denen Schluss zu
machen ist. Wir sind wieder einen ganzen Tag lang ohne Essen. Vor Hunger kaue ich an meinem Gürtel. So ist
zumindest mein Kiefer beschäftigt. Ich kriege ein bisschen lauwarmen „Kaffee“. Den trinke ich gierig aus.
In der Baracke stehen in einem riesigen Saal dreistöckige Pritschen. Wir, als Jüngste, kriegen die oberen
Stockwerke, was sich als sehr unangenehm erweist. Das ganze Ungeziefer sitzt an der Decke, vor allem Wanzen, die
in der Nacht direkt auf unsere Gesichter fallen. In der Früh sehen wir schrecklich aus, blutbefleckt, mit Blut aus
zerdrückten Wanzen beschmiert. Die Strohsäcke sind aus Papier und mit verfaultem Häcksel gefüllt. Darauf liegen
Reste von Decken, mit denen wir uns zudecken.
Der Morgen des ersten Tages im Lager ist frostig, aber heiter. Zum ersten Mal seit mehreren Tagen schlafen wir
unter menschenwürdigeren Bedingungen. An dem Tag findet kein Appell statt. Wir müssen uns ordentlich
zurechtmachen. Wir sind schmutzig und verlaust, was viele nicht zugeben wollen. Als Erstes wasche ich mich
möglichst genau. Das ist nicht einfach, weil es viele andere gibt, die sich auch waschen wollen. Dann bitte ich
„Moneta”, dass er mir den Kopf kahlrasiert. Durch diese „Operation“ entsteht auf meinem Kopf ein blutiger Fleck.
Nach dem Kopfwaschen und sich Erfrischen fühle ich mich viel besser, nur mein Aussehen hat sich verändert.
„Moneta”, dessen Haar üppiger ist als meins, entscheidet sich auch für diese Operation und verspürt danach eine
riesige Erleichterung, wie er später zugibt. Morgens ist es kühl, wir verschaffen uns aber eine Kopfbedeckung.
Nach all den Aktivitäten schmeckt uns der warme „Kaffee“ und eine Brotschnitte sehr. Das ist die Tagesration, die
ich sofort verschlinge. Der Hunger quält mich weiter. Man muss auf das Mittagessen warten, das nur die Stärkeren
und Schlaueren bekommen. Wenn Kartoffeln fehlen, muss man sich mit dünner Flüssigkeit zufrieden geben, die man
Suppe nennt.
Und so fängt langsam unser „normales“ Lagerleben an. Manche verschaffen sich von irgendwoher Stroh, die
Meisten schlafen aber auf nackten Brettern. Offiziere sorgen für Ordnung in den Baracken und versuchen, aus uns
richtige Soldaten zu machen, was in einer so differenzierten Gruppe nicht immer erreichbar ist. Sie sorgen dafür, dass
Kleidung und Schuhe gereinigt werden, damit den Deutschen bewiesen wird, dass wir Soldaten und nicht Banditen
sind. Nicht alle haben das Glück in Baracken untergebracht zu werden. Manche Kollegen nächtigen noch unter freiem
Himmel. Die Deutschen schaffen hastig russische Gefangene aus den Baracken fort, damit Aufständische in die
Baracken ziehen können. Immer häufiger hörte man Schüsse in dem kleinen Wald in der Nähe des Lagers.
HENRYK ŁAGODZKI
Nach einigen Tagen werden ich und „Moneta” auf die andere Lagerseite, in viel schlimmere Umstände versetzt.
Hier gibt es keine Strohsäcke, keine Deckenstücke, keine Pritschen, sondern nur dreistöckige primitive Lager;
Fensterscheiben fehlen. Wir nehmen die Plätze unter der Zimmerdecke –hier setzen uns riesige Wanzen arg zu, es
gibt Unmengen davon. Unsere Baracke steht am „Plünderungsplatz”, durch einem Draht abgetrennt. Zwei Baracken
weiter, am nächsten zu den Mädchen vom Aufstand, sind der Friseur und die „Krankenstation“ untergebracht.
Auf der rechten Seite befindet sich der nah am Stacheldraht und Wachturm gelegene „Appellplatz”, durch den
man zum Klo (Latrine) gehen muss. Hier findet auch unser Tauschhandel mit Slowaken statt, die bessere
Bedingungen haben und sogar Pakete kriegen. Nicht alle Wächter haben etwas dagegen. Manche drücken ein Auge
dabei zu, man kann sie mit Zigaretten bestechen, die meisten von ihnen sind Schlesier.
Nach einigen Tagen werden wir zum Badehaus getrieben, unsere Zivilkleidung wird uns weggenommen. Um meine
schönen Reithosen, die ich am letzten Tag des Aufstandes von meinem Bruder gekriegt habe, tut es mir besonders
leid.
Dann wird man mit einem sehr stumpfen Rasierer, der den Körper verletzt, rasiert. Eine weitere Person pinselt die
rasierten Stellen mit einer grauen, stinkenden, abscheulichen Masse zu, von der die meist verletzten Stellen stark
brennen. Nach all diesen Operationen geht man unter die Dusche. Ein Wachmann reguliert die Wassertemperatur
nach Lust und Laune: mal siedend heiß, mal kalt. Erst nach der Intervention der meisten Nackten passt er sich
unseren Forderungen an. Jedem, bei dem Läusebefall festgestellt wurde, wird der Kopf zwangsweise rasiert.
Anschließend werden wir zum Fotografen verwiesen. Jedem von uns wird eine Riesentafel mit einer Nummer auf die
Brust gehängt, dann wird er von drei Seiten fotografiert. Manche erkennen sich auf den Fotos nicht wieder. Wir
sehen nicht mehr wie Kriegsgefangene, sondern wie Kriminelle aus.
Die Nächte im Lager sind meist unerträglich, weil wir während des gesamten Aufenthaltes im Lager Lamsdorf
weder Strohsäcke noch Decken erhalten. Gefaltete Hosen dienen als Strohsack, Schuhe als Kopfkissen und eine
Eine Gruppe von Kriegsgefangenen aus einem Stalag in der Nähe von Frankfurt a.M., 1940/1941 (AFPNP)
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KRIEGSGEFANGENSCHAFT
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Anzugjacke oder ein Mantel als Bettdecke. Die Baracken sind aus Holz, ohne Fensterscheiben, nicht geheizt. Der
Herbst 1944 ist kühl. Am ärgsten setzt uns der Wassermangel zu. Ein Brunnen für einige Hundert Menschen ist
absolut nicht ausreichend. Zum Waschen dient uns der „Kaffee“, den man uns zum Frühstück gibt, doch was kann
man mit wenigen Tropfen dieser Flüssigkeit schon anfangen? So ist es um die Hygiene im deutschen
Kriegsgefangenenlager bestellt. Es rettet uns nur, dass man uns ab und zu ins Badehaus bringt.
Unausstehlich ist auch das Mittagessen. Manches ist nicht essbar, in der Regel reichen die Kartoffeln nicht für alle.
Am schlimmsten sind die Tage, an denen es getrocknete Kohlrüben zu Mittag gibt, diese kann man sogar gekocht
nicht runterkriegen.
Tägliche Appelle sind gleichzeitig ein Alptraum und eine Abwechslung in unserem eintönigen Leben. Diese dauern
stundenlang ungeachtet des Wetters, wir werden mehrmals durchgezählt.
Ich erinnere mich, dass einmal die deutsche Filmchronik kam und die deutsche Propaganda – Abteilung sich für
einen unserer jüngsten Kollegen interessierte – für den vielleicht 10‐jährigen „Kajtek”, der in hohen Stiefeln lief und
nicht besonders groß war. Sie konnten nicht glauben, dass so kleine Jungs so tapfer kämpfen konnten, offensichtlich
wollten sie ihn als Beispiel Mitgliedern der Hitlerjugend zeigen.
Es kam öfters vor, dass wir die Vermittlung sowjetischer Gefangener nutzten, die bestimmte Funktionen hatten
und u.a. Exkremente aus Latrinen beseitigten. Sie hatten Zugang zu allen kleinen Lagern auf diesem Gelände, sowie
zur Küche, zum Badehaus usw. Von ihnen konnten wir Informationen über das Schicksal unserer Offiziere einholen,
durch ihre Vermittlung konnten wir Tauschgeschäfte machen.
In dieser Zeit rauchte ich Zigaretten, was für einen ausgehungerten Magen nicht besonders gesund ist. Eine
Zigarette teilte man in vier Stücke und rauchte in einer Zigarrenspitze. Um den Rauchenden versammelten sich
Kollegen, die den Rauch mit Vergnügen einatmeten. Wenn uns Zigaretten fehlten, klaubte man Knorren aus Brettern
heraus oder riss Blätter von dem einzigen dort wachsenden Baum ab und rauchte diese in einer Selbstgedrehten aus
Zeitung.
Danach kam die Fahrt nach Mühlberg. Vor der Abfahrt gibt es natürlich eine Durchsuchung auf dem
„Plünderungsplatz“. Wir verabschieden uns herzlich von Kollegen, die im Lager bleiben, mit „bis bald im freien und
unabhängigen Polen!”. Jetzt werden wir auf einem anderen Weg, das gesamte Lager entlang, durch dessen Mitte
geführt. Auf beiden Seiten sieht man Lagerbauten, Lagerräume, Waschhäuser und sowjetische Lager. Man sieht die
ausgemergelten Gestalten sowjetischer Gefangener, welche die schlimmsten Arbeiten verrichten. Sie werden auch
anstelle von Pferden vor Wagen gespannt. Diese von allen vergessenen Gefangenen taten uns am meisten leid. Wir
teilen mit ihnen Zigaretten und andere verfügbare Dinge. Die Eskorte erlaubt keine Gespräche, doch man findet
immer eine Gelegenheit.
Vor uns erscheint der Güterbahnhof Lamsdorf. Wir werden wieder in Güterwaggons, fünfzig Personen auf jeden
Waggon „verladen“. Nach zwei Tagen anstrengender Reise kommen wir in Mühlberg an. Unterwegs werden wir
besser behandelt und nach der Ankunft im Lager in zwei Baracken untergebracht, die von dem großen Lager mit
Draht abgetrennt sind. In diesem Quadrat werden auch unsere Mädchen untergebracht. Im Vergleich zu Lamsdorf
erscheint uns dieses Lager wie das Paradies. Wir sehen hier Gefangene verschiedener Nationalitäten, die sogar frei
Ball spielen; saubere Baracken, Decken, Strohsäcke, und das Wichtigste: frische und saubere Uniformen.
Gefangene erhalten Pakete vom Roten Kreuz, daher sind sie satt, was man von uns nicht sagen kann. Nach wenigen
Tagen erhalten auch wir je eine Hälfte eines kanadischen Pakets. Viele von uns werden krank, weil unsere Mägen so
viele Köstlichkeiten nicht vertragen. Noch bevor wir die Pakete bekommen, werden manche Kollegen in Absprache
mit der Lagerführung von Engländern und Amerikanern eingeladen. Sie werden sehr herzlich aufgenommen und mit
Zigaretten, Schokolade und Dosenfleisch beschenkt. Auch andere, denen diese Ehre nicht zuteil wird, erfahren viele
herzliche Gesten. Man wirft uns Zigaretten und andere Dinge über den Zaun zu. Am 6. Dezember erhalten wir alle zum
Nikolaustag Geschenke von Engländern. An dem Tag findet auch die heilige Messe mit Kommunion statt. Mitte
Dezember 1944 werden wir mit einem Personenzug nach Brokwitz geschickt, angeblich zur Glashütte in der
Fabrikstrasse 1. In der Tat werden hier Rümpfe von Flugzeugen gebaut. Unsere kleine Gruppe wird von zivilen
Deutschen, Arbeiter dieses Werkes, eskortiert. In der Fabrik werden wir in einer großen alten Fabrikhalle
untergebracht. Diese hat einen Ziegelboden und nur zwei Oberlichter, die kaum Licht einlassen. Glücklicherweise ist
die Lüftung gut, weil in dem Raum fünfzig Leute wohnen. Wieder leben wir unter schweren Umständen. In dem Raum,
wo wir untergebracht sind, gibt es keine Pritschen. Wir kriegen nur Holzwolle, aus der wir uns Schlafstätten machen.
Es beaufsichtigt uns ein lahmer deutscher Offizier, ein Veteran von 1914, und Stubendienst hat ein Unteroffizier.
HENRYK ŁAGODZKI
In einer riesigen Fabrikhalle arbeiten wir bei der Vernietung und Montage von Flugzeugrümpfen. Es zeigte sich im
Nachhinein, dass keins dieser Flugzeuge je geflogen ist. Deren Entwickler wurde angeblich erschossen.
Im Nebensaal wohnen die jüngsten Kollegen, die damals 10 bis 15 Jahre alt waren. Man behandelt sie schlecht und
sie müssen als Schuster und Schneider schwer arbeiten, obwohl sie keine Ahnung von diesen Berufen haben.
Wir befinden uns 17 Kilometer von Dresden entfernt. Wir überleben alle Bombardierungen der Stadt. Wir sehen
den von Raketen erhellten Himmel und das vom Himmel herabprasselnde Feuer – so geht die Stadt zugrunde.
Die Front nähert sich. Wir hören das Dröhnen der Kanonen immer näher. Wir hoffen, dass es nicht mehr lange
dauert. Jetzt erhalten wir wieder amerikanische Pakete. Es gibt darin Zigaretten, für die man alles kaufen kann. Wir
kriegen auch englische Uniformen, doch ohne Schuhe – nur Stulpen für Reithosen. Endlich sehen wir wieder wie
Menschen – Soldaten aus. Unsere Mäntel haben am Rücken eine mit weißer Farbe gemalte Aufschrift
„Kriegsgefangener”. Aber dagegen finden wir auch eine Lösung. Wir wischen die Aufschrift ab und malen ein kleines
rotes Dreieck darauf – wie es Gefangene im Jahr 1939 hatten.
An Weihnachten 1944 sind wir hoffnungsvoll und satt. Wieder kriegen wir Pakete.
Die Front hört man immer näher, Luftangriffe der Alliierte werden immer häufiger. Nachts zwingt man uns, in den
Bunker auf dem Hof zu laufen. Die Deutschen verstecken sich und wir stehen draußen und beobachten das
brennende Dresden. Es herrscht dann weniger Disziplin.
Mitte April 1945 werden wir evakuiert. Wir werden in Richtung der tschechischen Grenze getrieben. Wir gehen in
der Regel nachts, tagsüber erholen wir uns. Am 8. Mai, irgendwo im Gebirge nahe an der tschechischen Grenze,
dienen wir als Deckung für die sich zurückziehende deutsche Armee. Auf den Hügeln sehen wir sowjetische Kanonen
stehen. Die sind in unsere Richtung gerichtet und es passiert... Staub, Dröhnen, Qualm – viele menschliche Leichen
und getötete Pferde. Die meisten Opfer sind jedoch wir, die jüngsten Soldaten der Heimatarmee, jetzige
Kriegsgefangene. Haben die Sowjetbürger die großen weißen Aufschriften „Kriegsgefangene” nicht gesehen? Nicht
alle haben ihre Aufschriften abgewischt.
In diesem Augenblick laufen alle in den Wald . Hier ist es sicherer. Hier sind sogar die SS‐Männer nett und lächeln
uns an.
Auf diese Weise wurden wir von der Roten Armee befreit. Daneben waren die Amerikaner da, doch ich und
„Moneta” beschlossen, nach Warschau zurückzukehren. Die Stadt war uns wichtig – dort ließen wir unsere Familien
zurück. Dort blieb unsere Jugend, dort kämpften wir um die Freiheit Polens.
Nach einer anstrengenden Reise kehrte ich am 22. Mai 1945 nach Warschau zurück. So endete mein sechsjähriges
Kriegsepos.
Kriegsgefangener Henryk Tomaszewski (rechts) mit seinem Kameraden beim Dreschen,
Allstedt, Sachsen−Anhalt, 1941 (AFPNP)
81
AUSSIEDLUNGEN DER POLNISCHEN BEVÖLKERUNG WÄHREND DES ZWEITEN WELTKRIEGS
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Aussiedlungen der polnischen
Bevölkerung während
des Zweiten Weltkriegs
Der grundlegende Kurs der deutschen Germanisierungspolitik in den von Deutschland besetzten Gebieten bestand
in der Aus‐ und Umsiedlung der Bevölkerung aus den Gebieten, die in das Dritte Reich eingegliedert wurden. Die
wichtigsten Ansätze wurden noch vor dem deutschen Überfall auf Polen festgelegt und in Hitlers Erlass vom 7.
Oktober 1939 über die Festigung deutschen Volkstums bestätigt. Das Hauptziel war die Beseitigung „fremder
Rassen“ aus den in das Deutsche Reich eingegliederten Gebieten und die Ansieldung von Deutschen, die im Ausland
lebten (unter anderem aus den Ostseegebieten Estlands und Lettlands). Für die Umsetzung dieses Plans war
Heinrich Himmler verantwortlich, der das Amt des Reichskommissars für die Festigung des deutschen Volkstums
übernahm. Das Konzept sollte mithilfe von direkter und indirekter Ausrottung in die Tat umgesetzt werden.
Zum Zeitpunkt des Überfalls Nazideutschlands auf Polen verließ die Bevölkerung ihre Wohnorte und floh vor der
anrückenden Armee. Nach dem Ende des Verteidigungskrieges kehrte ein Teil der Einwohner in ihre Häuser zurück,
ein Teil kam dagegen bei Kriegshandlungen, Bombenangriffen oder Beschuss durch die Luftwaffe um. Andere sind
aus Angst vor Verhaftungen (polnische Aktivisten oder frühere Teilnehmer der Aufstände in Oberschlesien 1919‐1920)
nicht heimgekehrt. Diese Flüchtlinge leiteten eine Welle von Massenaussiedlungen ein, die über den ganzen Zeitraum
der Okkupation andauerte.
Aussiedlungen aus den in das Dritte Reich eingegliederten Gebieten
Aussiedlungen der polnischen Bevölkerung durch die Deutschen begannen beinahe direkt nachdem die Front
vorübergezogen war. Sie wurden als „wilde Aussiedlungen“ bezeichnet und von den lokalen Behörden initiiert. Sie
betrafen besonders Gebiete, die in das Deutsche Reich eingegliedert werden sollten (Pommern, Schlesien,
Großpolen) und als strategisch wichtig angesehen wurden. Ein Beispiel hierfür ist unter anderem Gdingen, wo
aufgrund des nahe gelegenen Militärhafens die Anwesenheit von Polen als schädlich angesehen wurde. Bereits einen
Tag nach der Einnahme der Stadt durch die Deutschen – am 14. September – begannen die ersten Verhaftungen,
deren Ausmaß im Oktober 1939 deutlich zunahm. Zu diesem Zeitpunkt erschienen Bekanntmachungen, die den
Bewohnern das sofortige Verlassen ihrer Häuser befahlen, wobei sie ihre Hausschlüssel in den Türen stecken lassen
sollten. Insgesamt wurden 50 000 Personen aus Gdingen ausgesiedelt.
Während der so genannten „wilden Aussiedlungen“ siedelten die deutschen Behörden bis Ende November 1939
35 000 Menschen aus den in das Deutsche Reich eingegliederten Gebieten in Gebiete des Generalgouvernements um.
Im Oktober 1939 beschloss die deutsche Verwaltung die Aussiedlung von mindestens 700 000 Polen aus Großpolen
und Pommern. Das Ausmaß dieser Maßnahme machte eine systematischere Durchführung der Aktion notwendig. Am
11. Dezember 1939 wurde der Sonderstab „für die Evakuierung und den Abtransport der Polen und Juden“ gegründet,
der bald in das „Amt für die Umsiedlung der Polen und Juden“ umbenannt wurde. Im April1940 änderte man den Namen
in „Umwandererzentralstelle“. Der Sitz dieser Institution befand sich in Posen, bereits nach einigen Wochen wurde eine
Dienststelle in Łódź eröffnet. Am 15. November 1940 wurde eine ähnliche Zentrale in Danzig eröffnet und danach
wurden je nach Bedarf des deutschen Staates Niederlassungen in anderen Städten eröffnet (z.B. in Zamość).
Die Hauptaufgabe dieser Ämter war es, die Abschiebung der einheimischen Bevölkerung aus diesen Gebieten
schnellstmöglich zu organisieren (dies betraf auch Juden und Roma). Dafür wurde ein Netz von Umsiedlungs‐ und
Durchgangslagern geschaffen, in denen die vorläufige Selektion der Bevölkerung durchführt wurde. Das erste Lager
unter der Verwaltung der oben genannten Stellen entstand zur Jahreswende 1939/40 in Łódź, in der Łąkowa Straße
4. Dies war das Durchgangslager der Umwandererzentralstelle Posen, Dienststelle Litzmannstadt. Es diente zur
Registrierung der Ausgesiedelten und deren Umsiedlung in die Gebiete des Generalgouvernements (in der
Anfangszeit seines Bestehens). Später wurden die Ausgesiedelten zu Zwangsarbeit in das Deutsche Reich deportiert,
AUSSIEDLUNGEN DER POLNISCHEN BEVÖLKERUNG WÄHREND DES ZWEITEN WELTKRIEGS
und im Jahr 1943 auch in Gebiete des besetzten Frankreichs. In Łódź gab es noch einige weitere Lager, darunter auch
Kinderlager.
Der Umwandererzentralstelle in Danzig wurden die Lager in Potulitz (später in Lebrechsdorf umbenannt), Thorn
und Smukała unterstellt. Das Lager Potulitz diente anfangs als Bezugsquelle für Arbeitskräfte für Industriewerke und
die Landwirtschaft im Reichsgau Danzig‐Westpreußen. Später wurden auf dem Gebiet des Lagers Filialen einiger
Industriewerke und Werkstätten von Handwerksbetrieben eröffnet und das Lager wurde zu einem Arbeitslager, in
dem ganze Familien lebten. Das Lager war bis zu der Befreiung im Januar 1945 in Betrieb.
Die Aussiedlungen aus dem Regierungsbezirk Zichenau liefen über das Lager in Soldau (Działdowo), welches im
Zeitraum von Februar bis Mai 1940 als Durchgangslager für Polen diente, die aus dem ehemaligen Landkreis Płock
und Zichenau, sowie aus dem Gebiet von Bialystok ausgesiedelt wurden. In dieses Lager wurden auch die Bewohner
des Landkreises Przasnysz gebracht, wo man mit dem Bau eines Truppenübungsplatzes begann, nachdem zuvor
ganze Dörfer ausgesiedelt worden waren.
Eine der am besten organisierten Aussiedlungsaktionen war die Aussiedlung der Bewohner des Landkreises
Żywiec (hauptsächlich Dorfbewohner) in das Generalgouvernement. Die Aktion lief unter dem Decknamen
„Saybusch Aktion“ und begann am 22. September 1940. Die Aktion war sorgfältig vorbereitet, die Aussiedlungen
gingen schnell vonstatten, gemäß eines zuvor festgelegten Zeitplans und auf Grundlage von Namenslisten. Alles
geschah unter der Aufsicht von Truppen des SS‐Räumungsstabs. Alle Transporte fuhren zum Bahnhof in Łódź, erst
von dort aus wurden die Transporte zu ihren Bestimmungsorten in den Distrikten Lublin, Warschau, Krakau und
Radom geschickt. Die Aktion wurde im Januar 1941 beendet.
Die Aussiedlung der Dörfer begann am frühen Morgen. Familien durften bis zu 15kg Gepäck mitnehmen, das
Packen durfte nicht länger als 15 Minuten dauern. Das Vermögen – also das Haus, die Einrichtung, die
Wirtschaftsgebäude und das Inventar wurden Eigentum der deutschen Siedler.
Im Winter 1939/40 wurden aus den an das Deutsche Reich angeschlossenen Gebieten zwangsweise etwa 860 000
Polen ausgesiedelt, indem man sie mit ihrem Gepäck in das Generalgouvernement vertrieb. An ihre Stelle siedelte
man ca. 400 000 Deutsche an, die (gemäß dem Deutsch‐Sowjetischen Grenz‐ und Freundschaftsvertrag vom
28.09.1939) aus den östlichen, von der Sowjetunion annektierten Gebieten Polens umgesiedelt wurden, und später
auch aus Litauen, Lettland, Estland und dem rumänischen Bessarabien – nach der Annektierung dieser Gebiete durch
die Sowjetunion im Sommer 1940.
Hauptaussiedlungen in den Gebieten des Generalgouvernements
Die Aussiedlungen und Umsiedlungen betrafen auch die Gebiete des Generalgouvernements. In den Jahren 1940‐
1941 wurden etwa 170 000 Menschen aus der Umgebung von Radom, Dębica und Lublin ausgesiedelt. Auf diesen
Gebieten richteten die Deutschen Truppenübungsplätze ein. Ein Teil der ausgesiedelten Bevölkerung wurde zu
Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt, der Rest musste selbständig neue Wohnorte finden. Das Schicksal der
Ausgesiedelten interessierte die Deutschen nicht im Geringsten.
Zamość-Land (1942-1943)
Ende 1942 begannen die deutschen Behörden mit einer umfangreichen Umsiedlungsaktion in der Region Zamość.
Die ersten Probe‐Aussiedlungen wurden bereits ein Jahr zuvor durchgeführt. Im Zeitraum vom 6. bis zum 25.
November 1941 wurden die Bewohner einiger im Gebiet um Zamość gelegener Dörfer (ca. dreitausend Menschen)
ausgesiedelt. Am 12. November 1942 wurde eine Anordnung von Heinrich Himmler veröffentlicht, in der Zamość zum
ersten geschlossenen deutschen Siedlungsgebiet im Generalgouvernement erklärt wurde. Zu diesem Zweck sollte
die lokale Bevölkerung fortgeschafft werden. In Zamość wurden eine Dienststelle der Umwandererzentralstelle
sowie Durchgangslager in Zamość und in Zwierzyniec gegründet; dorthin wurde die ausgesiedelte Bevölkerung
geschickt. Diese Lager waren nur eine Zwischenstation auf dem Weg zu weiteren Repressionen. Viele Erwachsene
wurden in die Konzentrationslager nach Oświęcim (KL Auschwitz) und Lublin (KL Majdanek) gebracht oder zur
Zwangsarbeit nach Deutschland deportiert. Kinder sowie Personen, die nicht arbeitsfähig waren, wurden in andere
Gebiete des Generalgouvernements umgesiedelt (in Ortschaften der ehemaligen Landkreise Siedlce, Garwolin, Mińsk
und Łuków). Im Sommer 1943 wurde die Aktion aufgrund des entschlossenen Widerstands des polnischen
Untergrundes, der Flucht der Bevölkerung und der sich verschlechternden Situation der deutschen Armee an der
Ostfront eingestellt.
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AUSSIEDLUNGEN DER POLNISCHEN BEVÖLKERUNG WÄHREND DES ZWEITEN WELTKRIEGS
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Weitere Aussiedlungen
In den Jahren 1942‐1943 waren mehr als 28 000 Menschen aus dem Bezirk Białystok von Aussiedlungen betroffen.
Im Sommer 1943 siedelte man als Vergeltungsmaßnahme für Partisanenaktionen ungefähr 20 000 Bewohner des
Nalibocka‐Waldes aus. Diese Gebiete waren vor Kriegsbeginn Teil der II. Polnischen Republik, in der Zeit des Kriegs
gehörten sie zum Generalkommissariat Litauen. Massenhaft wurde auch die Bevölkerung der frontnahen Gebiete
ausgesiedelt. In der zweiten Hälfte des Jahres 1944 wurden Bewohner ganzer Dörfer entlang der Frontlinie, die durch
die Flüsse Narew, Weichsel und Wisłok verlief, vertrieben. Die Aussiedlungen wurden von „Pazifikationen“, also
Zerstörung der Dörfer und Ermordung oder Vertreibung der Bewohner, begleitet.
Die Aussiedlung Warschaus
Während des Warschauer Aufstandes und auch nach seiner Niederschlagung wurde aus Warschau und den
anliegenden Ortschaften beinahe die gesamte Zivilbevölkerung ausgesiedelt. Insgesamt wurden damals 500 000 –
600 000 Menschen vertrieben. Ein Teil der Ausgesiedelten kam in Konzentrationslager, ein Teil wurde zur
Zwangsarbeit nach Deutschland deportiert, manche sind geflüchtet, der Rest wurde in die südlichen Gebiete des
Generalgouvernements ausgesiedelt. Die Aussiedlung der gesamten Bevölkerung Warschaus und die Zerstörung der
Stadt waren beispiellos in Europa.
Den Berechnungen des polnischen Historikers Czeslaw Madajczyk zufolge (die unvollständig sind, da sie nicht alle
Gebiete der ehemaligen II. Polnischen Republik umfassen) wurden während des zweiten Weltkriegs 1 650 000 Polen
ausgesiedelt.
Ein Lager der Umwandererzentralstelle, vermutlich Łódź / Litzmannstadt, 1940 (IPN)
ZENON MIKOŁAJCZYK
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ZENON MIKOŁAJCZYK
Meine Erlebnisse als Junge aus der Zeit
deutscher Aktionen zur Aussiedlung
von Polen aus den an das Deutsche Reich
angeschlossenen Gebieten
Zenon Mikołajczyk wurde am 4. Juni 1933 im Dorf Długie geboren, in der damaligen
Woiwodschaft Łódź (Lodz, Lodsch, in der Nazizeit auch Litzmannstadt). In den ersten
Apriltagen des Jahres 1940 wurden alle Dorfbewohner dazu gezwungen, innerhalb einer
halben Stunde ihre Häuser zu verlassen und ihr ganzes Hab und Gut deutschen Siedlern zu
überlassen. Die Familie Mikołajczyk kam mit anderen Familien ins Durchgangslager
Konstantynów bei Łódź, wovon sie dann nach vier Monaten nach Pilczyn im
Generalgouvernement verschleppt wurde. Nach dem Krieg kehrte sie auf den verlassenen
Bauernhof zurück, ihr Haus stand aber nicht mehr.
AUSSIEDLUNGEN DER POLNISCHEN BEVÖLKERUNG WÄHREND DES ZWEITEN WELTKRIEGS
86
chon einige Zeit vorher sprach man von der Gefahr möglicher Aussiedlungen aus unserer Heimatgegend, aber
so richtig glaubte das wohl keiner. So war es für alle eine vollkommene Überraschung, als der Augenblick
tatsächlich kam. Um fünf Uhr morgens wurde ich von meinem Vater geweckt: „Wir werden ausgesiedelt, wir haben
nur eine halbe Stunde Zeit, zieh dich an!“. So hat für meine Familie und für unser ganzes Dorf Długie ein Aprilmorgen
des Jahres 1940 begonnen. Ich war damals kaum sieben Jahre alt.
Ich sah sofort, dass ein deutscher Soldat mit schussbereitem Gewehr in unserer Wohnung stand. Ein anderer,
genauso bewaffneter Soldat stand draußen und wachte darüber, dass niemand weglief. Nach einer halben Stunde,
egal ob wir fertig waren oder nicht, mussten wir alle unser Haus und den Hof verlassen. Unsere Familie bestand aus
Vater, Mutter, drei Söhnen und Großmutter, sowie aus meinem Onkel – dem Bruder meiner Mutter, der meinem
Vater gewissermaßen als Bediensteter im Haushalt behilflich gewesen war. Mein Onkel wurde aber im Dorf
zurückbehalten und musste für die Deutschen arbeiten, die gekommen waren, um die den Polen weggenommenen
Höfe zu übernehmen. Er arbeitete bei ihnen sehr schwer während der ganzen deutschen Besatzungszeit – ohne
angemessene Verpflegung und ohne jeglichen Lohn.
Nun aber zurück zur Aussiedlung unseres Dorfes: Als ich das Haus verlassen hatte, sah ich, dass draußen schon sehr
viele Dorfbewohner unterwegs waren und dass einzelne Familien dabei waren, sich diesem Zug von Menschen
anzuschließen. Alle trugen viele verschiedene Bündel bei sich – jeder hatte versucht, so viel wie möglich an Kleidern
oder Essen mitzunehmen – aber das nützte nichts, weil die Deutschen uns danach zu Fuß drei Kilometer weit trieben,
sodass viele, darunter auch mein Vater, allzu schwere Pakete zurücklassen mussten.
Die Stimmung unter den Vertriebenen war düster. Unser weiteres Schicksal war ungewiss. Die ganze lange
Menschenkolonne wurde von bewaffneten deutschen Soldaten bewacht. Frauen beteten und weinten leise. Jeder
hatte sein ganzes Hab und Gut, sein Haus, Tiere und Maschinen zurücklassen müssen. Meine Eltern besaßen ein
Landgut von 10 Hektar Fläche, voll mit lebendem Inventar: zwei Pferde, vier Kühe, über ein Dutzend Schweine, einige
Dutzend Geflügel. Jetzt waren sie gezwungen all das zurückzulassen. Auf diesem Marsch voll Tränen und Trauer
wurde uns eine freundliche Geste entgegengebracht, von einer deutschen Frau, die seit vielen Jahren in unserem
Dorf wohnte. Sie kam uns entgegen, um ihr Mitgefühl zu zeigen wegen des Unglücks, das uns widerfahren war und
um wenigstens den am nächsten Vorbeigehenden einen selbstgebackenen Kuchen anzubieten. In unserem großen
Dorf Długie hatten vor dem Krieg drei deutsche Familien gewohnt. Ihre Beziehungen zu den übrigen Bewohnern
waren nach dem, was erzählt wurde, immer gut gewesen. Nicht einmal bei Ausbruch des Krieges im September 1939
hätten sie sich verschlechtert.
Der Fußmarsch mit Gepäck auf dem Rücken oder in den Händen ging ungefähr drei oder vier Kilometer weit, je
nachdem, wie weit weg die jeweiligen Familien ihren Wohnsitz im Dorf hatten. Auf dem ganzen Weg wurden wir von
den deutschen Soldaten als Menschen von niederem Rang und Wert, als Sklaven behandelt. Wir waren sehr
verängstigt. Diese Etappe des Fußmarsches endete im Ort Dzierzbice. Dort fand eine Selektion statt. Zuerst suchte
man Jugendliche im Alter ab 18 Jahren aus, die sofort als geeignet für Zwangsarbeit in Deutschland eingestuft
wurden. Für die übrigen wurden zwei mit Planen abgedeckte Lastautos ohne Sitzplätze bereitgestellt. In diesen
Autos pferchte man alle übrigen vertriebenen Bewohner unseres Dorfes buchstäblich mit Schlägen zusammen, so
wenig Platz gab es darin. Die Planen wurden verschnürt und die Lastautos fuhren los. Wir sahen nichts und keiner
von uns kannte das Ziel dieser Reise. Es stellte sich heraus, dass wir zuerst nach Kutno transportiert wurden, von wo
aus man uns dann mit Bussen ins Durchgangslager von Łódź brachte. Dort fand eine Registrierung statt und es
wurden noch andere bürokratische Tätigkeiten vorgenommen. Dabei wurden wir immer noch ständig von
Deutschen bewacht. Dort holte uns der Abend ein. Den ganzen Tag lang, vom frühen Morgen bis zum Abend, hatten
wir nichts gegessen und nichts getrunken, es war aber bezeichnend, dass wir weder Hunger noch Durst verspürten.
Von Lódź wurden wir noch am selben Tag, oder genauer gesagt schon in der Nacht (es war ungefähr 22.00 Uhr),
ins Lager im nahegelegenen Konstantynów gebracht. Erst dort wurde unser Gepäck durchsucht, und auch wir
wurden dort gründlichen Leibesvisitationen unterzogen. Männer und Frauen wurden dabei getrennt durchsucht.
Meinen jüngeren Brüder nahm meine Mutter mit zur Durchsuchung, während mich mein Vater dorthin begleitete.
Allen wurden Geld, Schmuckstücke und Wertgegenstände weggenommen. Nur Eheringe durfte man behalten. Sogar
Verpflegung wurde beschlagnahmt. Ich und mein Vater gerieten an einen relativ gutmütigen Deutschen. Mein Vater
nahm seine Brieftasche von allein heraus und gab ihm das Geld. Er musste nur noch kurz seinen rechten Schuh und
seinen Mantel ausziehen, damit geprüft werden konnte, ob er dort nicht etwas versteckt hatte. Ich stand
währenddessen an der Wand, einige Schritte von ihnen entfernt, und hielt eine große Teekanne in der Hand. In der
S
ZENON MIKOŁAJCZYK
Teekanne war eine in Stücke zerteilte Osterwurst versteckt, die mir eigentlich hätte weggenommen werden müssen,
die aber alle schon längst vergessen hatten. Der Deutsche beachtete mich gar nicht, und als er mit meinem Vater
fertig war, durften wir beide gehen. Die Wurst war gerettet.
Im Lager von Konstantynów wurden alle in einer Fabrikhalle untergebracht – jede Familie hatte ein Stück des
Betonbodens für sich. Wir schliefen auf Stroh – jeder deckte sich damit zu, was er dabei hatte, meistens also mit den
eigenen Kleidern. Das Lager war mit Stacheldraht umzäunt und wurde von bewaffneten Deutschen bewacht. Es soll
schon Fluchtversuche gegeben haben, die aber laut Erzählungen alle mit der Erschießung der Fliehenden geendet
hatten.
Zum Essen und Trinken bekamen wir gerade so viel, dass niemand verhungerte: Malzkaffee ohne Zucker und eine
kaum genießbare Suppe, aber Brot war nach meinem Empfinden reichlich vorhanden. Im Lager herrschte
Wassermangel – das Wasser musste regelmäßig in Fässern hergebracht werden. Zum Schieben des Wagens mit den
Fässern wurden immer vier Männer abkommandiert. Im Lager bildete sich jedes Mal eine Schlange derjenigen, die
den Wagen schieben wollten. Für sie war das eine Gelegenheit, auch nur für eine Weile ins Freie zu kommen oder
manchmal sogar etwas für die Kinder zu besorgen. Meinem Vater gelang es ein paar Male mitgehen zu dürfen, um
Wasser zu holen.
Nach drei oder vier Monaten mussten wir ganz unerwartet das Lager verlassen und wir wurden, immer noch
bewacht, mit einem Zug bis zur Eisenbahnstation von Garwolin gebracht. Erst dann endete für uns die deutsche
Bewachung und wir wurden polnischen Behörden übergeben. Mit einem Bauernfuhrwerk wurde meine Familie nach
Łaskarzewo gebracht, von wo aus der Gemeindevorsteher uns dann nach Pilczyn schickte. Wir fanden Unterkunft bei
einem dortigen Bauern, der eine freie Kammer mit einem kleinen Fenster hatte. In den ersten Nächten schliefen wir
auf dem Fußboden.
Am Anfang halfen uns die Bewohner dort dabei, nicht zu verhungern, indem sie uns Brot und Milch gaben, obwohl
sie selbst sehr arm waren. Mein Vater nahm gelegentliche Arbeiten an, um die Familie zu versorgen, bis er sich
schließlich darauf spezialisierte, Dächer mit Stroh zu decken. Er machte das nach einer in jener Gegend unbekannten
Deckmethode. Im Winter fertigte er Schuhe mit Holzsohlen. Dort erlebten wir die Befreiung, immer noch darauf
hoffend, nach Hause zurückzukehren.
Nach dem Krieg kehrten wir dann in unser Heimatdorf zurück. Ich war damals schon elf Jahre alt und ich erinnere
mich noch daran, wie wir einige Tage lang mit verschiedenen Beförderungsmitteln unterwegs waren – mit
Fuhrwerken und einem Zug mit offenen Waggons. Unser Haus stand nicht mehr. Eine deutsche Familie, die außer
unserem Hof auch noch einen anderen übernommen hatte, hatte das „überflüssige“ Gebäude abgerissen. Sie hatte
auch alle Tiere mitgenommen, sodass keine mehr zurückgeblieben waren. Die Deutschen hatten es geschafft, vor
der anrückenden Front samt unseren Pferden, Wagen und anderen Gütern zu flüchten. Im Herbst hatten sie nicht
einmal Wintergetreide gesät.
Ohne Hilfe von irgendjemandem begann mein Vater, unseren ganzen Bauernhof wiederaufzubauen.
Rassenselektion, Ort und Datum
unbekannt (WBBH)
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AUSSIEDLUNGEN DER POLNISCHEN BEVÖLKERUNG WÄHREND DES ZWEITEN WELTKRIEGS
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KAZIMIERZ BĄCZKIEWICZ
Schicksale der
Vertriebenen
Der Autor wurde im Jahre 1922 in Ciążeń, in Großpolen geboren. Am 13. Mai 1941 siedelten
die deutschen Besatzungsbehörden einige Dutzend polnische Familien aus dem Dorf Ciążeń
aus. Die verlassenen Häuser und Bauernhöfe waren von da an für deutsche Siedler
bestimmt. Unter den Vertriebenen waren Kazimierz Bączkiewicz und seine Eltern. Nach
einer Vorselektion in Koło wurden die Bączkiewiczs zuerst in ein Durchgangslager nach Łódź
gebracht, und dann zur Zwangsarbeit auf ein Landgut im Ort Wollstein (Hessen)
verschleppt. Der Autor dieses Berichts arbeitete anfangs bei der Tierzucht und beim Fällen
von Bäumen. Nach der Befreiung durch die amerikanische Armee im April 1945 kehrte er
nach einem halbjährigen Aufenthalt in Kassel mit seinen Eltern nach Hause zurück.
KAZIMIERZ BĄCZKIEWICZ
Am 13. Mai 1941, noch vor der Morgendämmerung, kündigten Gewehrkolbenschläge an der Eingangstür eines
Dorfhauses und die Rufe „Aufmachen!“ den Anfang meines Schicksals als Vertriebener an. Ich war damals 19 Jahre alt.
Vor Ausbruch des Krieges hatte ich die allgemeine Grundschule in Ciążeń und die erste Klasse am privaten koedukativen
Handelsgymnasium in Słupca absolviert. Ich rechnete mit der Möglichkeit, zur Zwangsarbeit nach Deutschland deportiert
zu werden, obwohl ich schon, sowohl 1940 als auch im Frühjahr 1941, mit einigen Dutzend Leuten unter Zwang und ohne
Entgelt als Scharwerker beim Abtragen eines Hügels auf dem Weg zwischen Ciążeń und Ląd bei Policko gearbeitet hatte.
Damals war das noch ein Feldweg, den man für die Befestigung vorbereitete.
Ich wohnte mit meinen Eltern in Ciążeń und da der Frühling in diesem Jahr besonders spät und kalt war, schlief ich in
unserem Haus. Den ganzen vorigen Sommer lang hatte ich, genauso wie meine Altersgenossen, in der Scheune
geschlafen, um im Falle einer Razzia in die Felder flüchten zu können. Als mein Vater in jener unvergessenen Nacht die Tür
öffnete, sah er zwei deutsche Gendarmen, die ihm in gebrochenem Polnisch mitteilten, dass wir alle ausgesiedelt würden
und innerhalb einer halben Stunde zum Fortgehen bereit zu sein hätten. Die Gendarmen waren zum Militärdienst
einberufene Deutsche, die vor dem Krieg in verschiedenen Orten des Landkreises Konin gewohnt hatten. Beide konnten
zwar Polnisch, gaben sich aber sehr wichtig. Wir konnten uns vor Aufregung kaum bereitmachen und wussten nicht, was
wir anziehen oder was wir mitnehmen sollten. Wir wussten nicht einmal, was aus uns werden würde. Wir durften nur
Handgepäck mitnehmen, also Wäsche und Ausweispapiere, deshalb fiel uns die Wahl sehr schwer, zumal wir so wenig
Zeit zum Überlegen hatten. Nach Ablauf der angeordneten Zeit wurden wir von einem der Gendarmen zum Sammelpunkt
geleitet, während der andere zurückblieb, um den verlassenen Besitz zu bewachen. Dieser Augenblick, als wir unser
Zuhause und unseren Bauernhof verlassen mussten, war für uns alle ein äußerst schmerzhaftes Erlebnis. Aber niemand
weinte. Meine Eltern hatten damals einen landwirtschaftlichen Betrieb von 5, 6 Hektar Fläche mit Inventar, zwei Kühen
sowie gut ausgerüsteten Werkstätten – mein Vater betrieb nämlich eine eingetragene Schmiede und meine Mutter war
Schneiderin. Unser ganzer Besitz wurde uns einfach weggenommen, ohne dass dies durch irgendein Schriftstück
bescheinigt wurde. Noch am Tag unserer Aussiedlung übernahm ihn eine aus Estland dorthin umgesiedelte deutsche
Familie. Am selben Tag siedelten die deutschen Besatzungsbehörden noch 48 weitere polnische Familien aus Ciążeń aus,
hauptsächlich Bauern. Die Ausgesiedelten wurden mit Bussen aus Ciążeń nach Koło transportiert und dort im verfallenen
Gebäude einer jüdischen Synagoge untergebracht. Dort teilten, nachdem sie alle begutachtet hatten, zwei deutsche
Beamte die Familien in drei Gruppen auf. Die zahlreichste Gruppe war dazu bestimmt, von Koło direkt nach Sachsen zu
Zwangsarbeiten im Ackerbau zu fahren. Eine kleinere Gruppe, in der meine Eltern und ich uns befanden, wurde ins
Durchgangslager nach Łódź geschickt. In die dritte Gruppe kamen dagegen die Personen, die unfähig waren, körperlich
zu arbeiten. Sie wurden bei polnischen Familien einquartiert, die in der Umgebung von Rzgów wohnten.
Nach Łódź wurden wir, begleitet von einem uniformierten Beamten, mit einem Zug gebracht. Im Lager wurden wir
verschiedenen Hygienemaßnahmen unterzogen, unter anderem wurden unsere Kleider mit Dampf behandelt. Sämtliches
Gepäck wurde uns zur Kontrolle weggenommen, alle Nahrungsmittel und scharfe Gegenstände beschlagnahmt. Danach
wurden wir identifiziert und „anthropologisch“ geprüft (wir waren völlig nackt), unsere Fingerabdrücke wurden
genommen und Ausweisfotos gemacht (man hatte uns Schilder mit Kennnummern umgehängt). Tagsüber mussten wir
im Garten, der zum Lager gehörte, körperliche Arbeiten verrichten.
Das gesamte Personal des Lagers von Łódź, mit Ausnahme von denen, die das Essen ausgaben, trug Uniformen mit SS‐
Abzeichen. Genauso waren auch die Deutschen gekleidet, von denen die Vertriebenen von Koło nach Łódź und von Łódź
aus ins Deutsche Reich eskortiert wurden. Sie behandelten uns herablassend. Einmal sah ich im Lager zwei höhere
Beamte durch einen von Vertriebenen überfüllten Saal gehen, und da sagte einer zu dem anderen: „Leute, wie das Volk
stinkt!“. Hochmut und Verachtung, die in seiner Äußerung zu spüren waren, trafen uns schwer und wir fühlten uns
gedemütigt. Nach einer Woche Aufenthalt im Lager wurden acht Familien, meine Eltern und mich eingeschlossen, in einen
Zug gesteckt und über Wrocław (Breslau) und Leipzig nach Deutschland verschleppt. Unterwegs wurden die Familien
ihren jeweiligen deutschen Arbeitgebern übergeben.
Während der Fahrt ließ unser Bewacher keine anderen Reisenden den von uns besetzten Teil des Wagens betreten. In
der Kreisstadt Witzenhausen übergab er meine Eltern und mich unserem zukünftigen Arbeitgeber, der uns in einem
Pferdewagen zum Ort Wollstein brachte, welcher ungefähr 30 Kilometer von Witzenhausen entfernt war. Erst dann
erfuhren wir etwas darüber, wie unser weiteres Schicksal aussehen sollte. Dort wurde uns zum ersten Mal, seitdem wir
Łódź verlassen hatten (also nach 36 Stunden Reise), etwas zu Essen gegeben und dann ein Quartier zugeteilt. Es befand
sich in einem alten, zweistöckigen Gebäude, das für Arbeiter bestimmt war. Wir bekamen ein ziemlich spärlich
eingerichtetes Zimmer mit Küche im zweiten Stock, sowie je eine Decke zum Schlafen.
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AUSSIEDLUNGEN DER POLNISCHEN BEVÖLKERUNG WÄHREND DES ZWEITEN WELTKRIEGS
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BENON BAKALARSKI
Das Elend der Jugend ist
kein Märchen
Der Autor war Sohn eines polnischen Offiziers. Vor dem Krieg wohnte er mit seinen
Geschwistern in Warschau. Während einer Razzia wurde er verhaftet und in einem
Durchgangslager in der Skaryszewska Straße festgehalten, von wo er zur Zwangsarbeit
nach Österreich verschleppt wurde. Zum Zeitpunkt der beschriebenen Ereignisse war er 14
Jahre alt.
BENON BAKALARSKI
[…] In Warschau fanden seit dem Jahr 1940 Razzien statt, d.h. Jagden auf Menschen durch dafür geschulte
deutsche Gendarmerie. Die Verhafteten wurden „sortiert“, es wurde ihre Identität geprüft. Personen, die von
Deutschen als „gefährliche Elemente” angesehen wurden, schickte man in Konzentrationslager, manche wurden
sofort erschossen, und junge, gesunde Männer und Frauen wurden zur Zwangsarbeit nach Deutschland und
Österreich verschleppt.
Anfang des Jahres 1942 befand ich mich zufällig in der Targowa Straße im Stadtviertel Praga und geriet in den
„Kessel” einer Razzia. Zu Opfern der Jagd wurden einige Hundert Personen, die Meisten davon wurden gleich auf
LKWs geladen und abtransportiert. Ich befand mich in einer Gruppe für welche LKWs fehlten, weshalb wir von
Gendarmen mit Hunden zu dem nahe gelegenen Wileński Bahnhof getrieben wurden. Wir warteten dort ca. vier
Stunden, bis LKWs ankamen und wir zu einer ehemaligen Schule in der Skaryszewska Straße abtransportiert wurden.
Ich war von der Situation benommen, war mir aber der Todesgefahr bewusst. Ältere Männer sagten, dass wir Glück
hätten, weil man von der Skaryszewska Straße nicht ins Konzentrationslager gehe, sondern zur Zwangsarbeit nach
Deutschland geschickt werde.
Der Aufenthalt dort war eine harte und schwierige Lebensschule. Zwei Wochen lang schliefen wir auf Pritschen aus
Drahtgitter, wir hatten nichts mehr. Die Verpflegung bestand aus einer Portion Suppe und ein wenig Brot mit
künstlichem Honig. So war es jeden Tag, zwei Wochen lang. Versuche meiner Familie mich zu befreien, blieben
erfolglos. Es war nicht mal erlaubt, den Verhafteten Verpflegung zukommen zu lassen.
Nach zwei Wochen wurden wir unter Bewachung zur Kawęczyńska Straße geführt, die ca. zwei Kilometer von dem
vorherigen Aufenthaltsort entfernt liegt. Dort war das sog. Arbeitsamt, das heißt das Werbebüro zur Sklavenarbeit.
Ich erinnere mich noch ‐ als wäre es heute – an den langen Raum mit den vielen Schaltern, an denen die Namen
verschiedener deutscher Städte standen. Ein deutscher Beamter verwies die Leute an die einzelnen Schalter. Durch
eine Schicksalsfügung kam eine Dolmetscherin in den Raum und bemerkte den Jungen, der zwar ausgewachsen war,
sich jedoch von den erwachsenen Männern deutlich unterschied. Sie versuchte den Deutschen davon zu überzeugen,
dass ein vierzehnjähriger Junge zu keiner schweren Arbeit taugen wird. Der Deutsche schrie sie an und befahl, mich
zu registrieren. Dann fügte er hinzu, dass ich zumindest Kühe hüten könne. Die Dolmetscherin flüsterte mir noch zu,
dass ich zum Schalter mit der Aufschrift „Wien“ gehen solle, was ich sofort tat. An diesem Schalter wurde ich
registriert und erhielt einen Transportschein. Nach der Registrierung kehrten wir unter Bewachung zur
Skaryszewska Straße zurück. Nach wenigen Tagen begannen Waggontransporte zu den angewiesenen Städten.
Rassische Selektion der
polnischen Vertriebenen,
Ort und Datum
unbekannt (IPN)
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AUSSIEDLUNGEN DER POLNISCHEN BEVÖLKERUNG WÄHREND DES ZWEITEN WELTKRIEGS
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FRANCISZKA TWARDOWSKA
Erinnerungen
Die Familie der Autorin kam aus Kleinpolen. Nachdem sie durch Brand und
Überschwemmung nacheinander zwei Häuser verloren hatten, beschlossen die Eltern nach
Hinterpommern zu ziehen, wo sie im Rahmen der Vorkriegs‐Agrarreform Boden erhielten.
Zum Zeitpunkt der beschriebenen Ereignisse war Franciszka 4 Jahre alt.
FRANCISZKA TWARDOWSKA
[…] Es war der 23. November 1941. In unser Dorf kamen SS‐Männer in schwarzen und gelben Uniformen. Sie ließen
uns packen und verschleppten uns in der Nacht zum Lager der Umwandererzentralstelle in Toruń (Thorn). Meine
Mutter war schwanger, ihr ging es sehr schlecht, mein Vater dagegen war an Asthma erkrankt und hatte eine Hernie.
Es begannen für uns Elends‐ und Hungerjahre, jede Nacht starben viele Menschen, die solche Umstände nicht
ertragen konnten. Wir wohnten in einem Gebäude in dem unten ein Stall war. Dort waren Pferde auf denen Leute ins
Lager geritten sind. Oben wohnten Menschen. Es gab keine Pritschen, wir haben auf dem Zement und Strohsäcken
geschlafen, je nachdem, was jeder hatte oder mitnehmen konnte. Jede Nacht mussten wir die Ausdünstungen des
Pferdemists einatmen, das war furchtbar. Leute starben und man schlief stundenlang neben ihnen, ohne etwas zu
bemerken.
In meiner Familie war auch die Hölle los. Zuerst erkrankte meine Mutti an Ruhr. Das war eine schreckliche
Krankheit, ausgelöst durch Schmutz und schlechtes Essen. Die Deutschen brachten sie ins Lagerkrankenhaus. Wir
weinten sehr um sie, aber wir mussten beim Vati bleiben, der sich kaum auf den Beinen halten konnte, weil auch er
krank geworden war. In dieser Zeit wurde meine ältere Schwester, die sich um uns jüngere Kinder kümmerte, zur
Zwangsarbeit verwiesen. Meine Mutti überwand die Krankheit und kam nach einem Monat zurück ins Lager. Ich war
damals fünf Jahre alt, mein jüngster Bruder war zwei Jahre alt. Er litt am stärksten unter dem Milchmangel und
Hunger. Meine Mutti tat alles Mögliche, um uns am Leben zu erhalten. Sie beschloss aus dem Lager in ihre Heimat zu
fliehen, um Brot, Schmalz und Marmelade zu holen. Es fehlte uns auch an Waschmittel. Wir planten die Flucht
unserer Mutter. Mein älterer Bruder Bronisław machte eine Öffnung im Zaun indem er den Draht verbog. Er arbeitete
daran, wenn sich der Wachmann entfernte und in die entgegengesetzte Richtung lief. Die Öffnung deckte mein
Bruder mit Ästen zu. An einem nebligen Tag, in aller Frühe, als die Leute im Lager schliefen, flüchtete meine Mutti aus
dem Lager. Niemand bemerkte, dass eine Person fehlte. Meine Mutti traf schnell am Bahnhof ein und kam bis nach
Kornatowo, weiter ging sie zu Fuß. Sie lief vier Kilometer zum Dorf, wo sie gute Bekannte hatte. Diese waren sehr
überrascht, dass sie eine Person aus dem Lager sahen. Sie hatte eine Wunde am Bein, weil sie sich beim
Durchschlüpfen durch die Öffnung verletzt hatte. Sie verband die Wunde mit einem Tuch. Ein Bekannter, der
Apotheker war, machte einen Verband, weil es eine ernsthafte Verletzung war. Er gab meiner Mutter Medikamente
für sie selbst und die Familie im Lager sowie Geld. Andere Leute, die eine Mühle und Bäckerei hatten, gaben ihr Brot,
andere gaben ihr einen kleinen Eimer mit Marmelade, wieder andere gute Leute gaben ihr Speck, Schmalz und Wurst.
Kurz gesagt hatte sie sehr viel und konnte es kaum tragen, sie musste jedoch in der Nacht ins Lager zurück, weil sie
es so mit der Familie ausgemacht hatte. Abends wurden die Menschen im Lager auch gezählt. Es war schon sehr
dunkel, der Mond zeigte sich hinter den Wolken, und wir hielten am Drahtzaun Ausschau nach unserer Mutti. Wir
zitterten alle vor Angst, weil der Wachmann an der Öffnung hin und her ging. Endlich sahen wir, dass jemand kam. In
diesem Moment ging der Wachmann weg. Die Mutti warf das Gepäck schnell über den Zaun, sie hatte jedoch keine
Kraft mehr, selbst durch die Öffnung zu schlüpfen. Sie war so müde, erschöpft und erschrocken. Meine Brüder, der
vierzehnjährige Bronisław und der zwölfjährige Franciszek haben sie durch die Öffnung gezogen und danach in den
Waschraum geschleppt, wo sie vor Erschöpfung ohnmächtig wurde. Nach einiger Zeit kam sie wieder zu sich und war
glücklich, dass wir alle wieder zusammen waren. Das, was sie mit sich gebracht hatte, teilte sie mit vielen Personen,
weil alle hungrig waren. Damals war sie noch schwanger, aber nach der Entbindung flüchtete sie noch ein paar Mal
aus dem Lager und wurde ‐ Gott sei Dank ‐ nie ertappt, weil dafür die Todesstrafe drohte.
Mein Bruder, der im Lager zur Welt kam, hieß Eugeniusz. Meine Mutti gab ihm die Brust und trocknete im Winter
mit ihrem eigenem Körper die aus Bettlaken gemachten Windeln. Im Winter wurden die Windeln draußen nicht
trocken und im Raum durfte man keine aufhängen. Außerdem war es überall kalt, weil nicht geheizt wurde. Der
kleine Eugeniusz wurde an den Ohren krank, als er ein Jahr alt war, weil es überall Luftzug gab (man konnte im Mief
nicht schlafen und ständig wurden Fenster geöffnet). Vorher war auch mein Vater krank geworden und war in dem
Krankenhaus, in das auch mein Bruder gebracht wurde. Im Lager blieben wir zu viert mit meiner Mutti. Meine
Schwester Karolina arbeitete in der Gärtnerei, mein Bruder Bronisław fegte Straßen mit anderen Jungen. Sie gingen
jeden Tag mit dem Kapo, der sie bewachte und kehrten ins Lager zurück, wenn alles fertig war. Meine Brüder
Franciszek, Władysław und ich waren bei unserer Mutti.
[…] Die Situation im Lager Thorn, dem sog. „Szmalcówka”, wurde immer schlechter. Meine Mutti konnte keine
„Expeditionen“ mehr riskieren, um Proviant zu holen. Władysław litt immer stärker darunter, dass ihm Milch fehlte,
die er als Kind sehr brauchte. Er war durch Hunger geschwächt und starb meiner Mutti im Arm mit den Worten, dass
er Milch und Brötchen wolle.
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AUSSIEDLUNGEN DER POLNISCHEN BEVÖLKERUNG WÄHREND DES ZWEITEN WELTKRIEGS
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[…] In dieser Zeit erhielten wir einen Zettel vom Vater aus dem Krankenhaus, den der Kapo zustellte. Auf dem
Zettel stand geschrieben: „Eugeniusz ist schon gesund – morgen kehrt er zur Familie ins Lager zurück”. Am nächsten
Tag durften wir uns jedoch nicht über die Rückkehr unseres Bruders freuen. Wir erhielten die folgende Nachricht:
„Okoński Eugeniusz ist tot, er fiel aus dem Fenster”. Diese Nachricht war ein Schock für meine Mutti und alle
Geschwister. Vati, der damals noch im Krankenhaus war, sah nicht einmal die Leiche seines Sohnes. Er hatte seinen
Sohn öfters heimlich im Kindersaal beobachtet, weil dort polnische Ärzte waren. Mein Vater glaubte nicht an den Tod
seines Sohnes. Mein Bruder war nur ein Jahr alt und die Fenster im Krankenhaus waren vergittert. Er konnte noch
nicht laufen und nicht sprechen, es war also unmöglich, dass er so starb.
[…] Bronisław verletzte sich bei der Arbeit ein Bein mit der Heugabel. Das Bein tat immer mehr weh, die Wunde
öffnete sich, es rann eine Flüssigkeit heraus, das Bein begann einfach zu faulen. Es gab keine Verbandsmittel. Meine
Mutti machte sich Sorgen, dachte darüber nach, wie dem abzuhelfen wäre. Der Kapo, der mit den Jungen raus ging,
war Pole. Meine Mutter sprach mit ihm die Flucht ihres Sohnes ab und bezahlte ihn sehr gut dafür –sie gab ihm das
ganze Geld, das sie hatte. An dem Tag ging Bronek mit den anderen Jungen wie gewöhnlich Straßen fegen. Plötzlich
ließ er den Besen fallen und ging weiter geradeaus. Die andere Jungen begannen zu rufen, dass Okoński weglaufe,
der Kapo machte sich jedoch nichts daraus. Nach einiger Zeit sagte er zu den Jungen „Das habt ihr euch eingebildet.
Er ist sich nur erleichtern gegangen”. Doch mein Bruder kehrte nicht zurück. Er ging zum Bahnhof und fuhr zu der
Ortschaft, wo unsere Schwester Marianna arbeitete. Sie beschaffte ihm eine Arbeitsstelle bei einem Bauern, der
keine eigenen Kinder hatte und jemanden zur Feldarbeit brauchte. Dem Bauern gefiel mein Bruder sehr, weil er sich
mit der Feldarbeit gut auskannte. Er behandelte ihn wie seinen eigenen Sohn, sorgte für sein Bein, mein Bruder hatte
es gut bei ihm. Im Lager wurde jedoch sein Verschwinden bemerkt. Man holte meine Mutti zur Gestapo und verhörte
sie; fragte: wo ist dein Sohn?
[…] Mein Vater kehrte in der Zwischenzeit aus dem Krankenhaus zurück und dann begann seine Hölle, weil er
wegen der Sache mit seinem Sohn Bronisław auch zur Gestapo geholt wurde. Man fragte, wo dieser bleibe und wo
in Freiheit wir Familie hätten. Man drohte meinem Vater, dass wir alle nach Auschwitz geschickt werden würden.
Mein Vater hatte Angst um uns, auch um den Menschen, der ihm bei der Flucht geholfen hatte. Meine Mutti flehte
ihn an, dass er sage, wo sich Bronek aufhielt. Am nächsten Tag sagte mein Vater beim Verhör, wo diese Familie
wohnte. Die Gestapo hatte den Aufenthaltsort meines Bruders schnell ausfindig gemacht. Man schickte einen
Wachmann mit der Bahn hin. Der nahm ein Fahrrad mit sich, weil das Dorf, wo Bronek war, zehn Kilometer von der
Bahn entfernt war. Mein Bruder arbeitete gerade auf dem Feld, er sollte aber sofort damit aufhören. Das Flehen des
Bauern, dass er alt und schwach sei und die Hilfe des Jungen brauche, half nichts. Der Wachmann hatte Bronek mit
einer Schnur am Fahrrad festgebunden, dann fuhr er und mein Bruder lief hinter dem Fahrrad her wie ein Hund, die
ganzen zehn Kilometer lang. Ins Lager kamen sie am Abend, ich sah von Weitem, wie man meinen müden Bruder
prügelte. Man warf ihn in einen Keller mit Leichen. In der Tür waren große Spalte, so lief ich zu ihm, als sich der
Wachmann entfernte, und schaute rein, um zu sehen, ob er noch lebte. Er saß dort und weinte und ich weinte mit
ihm. Er hatte Angst, was man mit ihm am nächsten Tag machen werde. Zum Glück bekam er nur Prügel. Nach einer
Woche durfte er den Keller verlassen.[...]
In dieser Zeit brach im Lager Typhus aus, auch ich bekam diese schreckliche Krankheit. Ich hatte so hohes Fieber,
dass ich nichts mehr von der Welt mitbekam. Ich weiß nicht, wie ich ins Krankenhaus kam, in dem die
Lebensbedingungen zwar schrecklich waren, aber immer noch besser als im Lager. Eines Tages wurde auch mein
Bruder Franciszek in dieses Krankenhaus gebracht.
Lager der Umwandererzentralle in Potulitz
In unserem Lager fing man an, Leute auf Transporte in andere Lager vorzubereiten. Bald wurden auch wir
weggebracht. Ich kam mit meinen Eltern in das Lager in Potulitz. Das war ein Arbeitslager im Wald, das mit einem
Stacheldraht zweifach umzäunt war. Der innere Zaun stand unter Strom. Zwischen den beiden Zäunen ging ein
Wachmann. Von einer Flucht konnte keine Rede sein. In der Mitte des Lagergeländes befand sich ein mehrstöckiges
Gebäude, in dem unten eine Küche, ein Waschraum und zwei große Gasöfen untergebracht waren. Im ersten Stock
befand sich eine Nähstube und höhere Schulklassen. Die Baracken, die wir bewohnten, waren aus Holz. Sie standen
eine neben der anderen in kleinen Abständen, es gab sehr viele davon. Unsere Baracke war für Familien, eine andere
für alleinstehende Frauen, Männer oder Kinder, die alleine waren. Im Lager Potulitz wohnten verschiedene
FRANCISZKA TWARDOWSKA
Nationalitäten: Juden, Roma, Franzosen. Wir schliefen auf Pritschen, auf Strohsäcken. Die Lebensbedingungen
waren viel besser als im Lager in Thorn. Jeder musste hier arbeiten, aber keiner kriegte eine Vergütung dafür.
Der Tag, an dem wir in das Lager in Potulitz gebracht wurden, war heiter. Es gab eine lange Schlange zum
Haareschneiden, weil alle verlaust waren. Meine Mutti hatte wunderschöne Haare und es tat ihr weh, diese
abschneiden zu lassen, daher beschloss sie, den Lagerkommandanten zu bitten, dass er ihr erlaube, die Haare zu
behalten. Meine Mutti hatte kein Ungeziefer am Kopf, sie weinte sehr, kniete vor dem Kommandanten und bat um
seine Gnade. Wir waren sehr überrascht als er ihr erlaubte, ihre Haare zu behalten, wenn sie diese nur ein bisschen
kürzen ließe, weil sie einen langen Zopf hatte. Alle im Lager trugen Kopftücher, weil sie keine Haare mehr hatten.
Danach wurden wir in den Waschraum geführt, wo wir uns gründlich waschen sollten, unsere Kleidung wurde in
Gasöfen geworfen, um Ungeziefer aus dem Umsiedlungslager, wo die Lebensbedingungen grauenhaft gewesen
waren, zu beseitigen. Uns wurde die Baracke Nr. 15 zugeordnet, wo sehr viele Leute wohnten, trotzdem waren wir
glücklich, dass wir auf Pritschen mit Stroh, und nicht auf Zement, schlafen durften. Da es ein Arbeitslager war wurde
meine Mutti in die Näherei und mein Vater in die Küche geschickt. Er heizte und transportierte Kartoffeln von Mieten
in den Schälraum, dies war eine sehr gute Funktion im Lager. Mein Vater hatte es nicht leicht, doch er freute sich,
dass er keine Gräben schaufeln und nicht auf einer Baustelle arbeiten musste. Meine zwei Brüder wurden in die
Schuhfabrik in Bydgoszcz geschickt, meine Schwester Karolina arbeitete in der Gärtnerei. Ich blieb bei meinen Eltern,
weil ich am jüngsten war. Wenn die Erwachsenen zur Arbeit mussten, wurden alle Kinder in einer Reihe aufgestellt,
gezählt und unter Bewachung in den Wald geführt. Ältere Kinder gingen zur Schule, wo sie Deutsch lernten. Kinder,
die nicht schnell lernen konnten, wurden geprügelt, hatten angerissene Ohren und angeschwollene Hände. Meine
Mutti hörte sie öfters weinen, weil sie einen Stock tiefer arbeitete. Wir Kleinkinder blieben vom frühen Morgen bis
zum Abend in dem Wald, auf einem mit Stacheldraht umzäunten Gelände. Wir waren sehr hungrig, öfters aßen wir
Gras, um den Hunger zu stillen. Mittags brachte man uns schwarzen Kaffee und erst nach der Rückkehr ins Lager
bekamen wir Essen. Das war in der Regel Brennnessel‐ oder Kohlrübensuppe, einem Hungrigen schmeckt jedoch
alles. Meinem Vater ist es manchmal gelungen, in der Hosentasche gebratene Kartoffeln mitzubringen – das war für
mich ein Leckerbissen, etwas Großartiges und Besseres als Süßigkeiten, die ich nicht kannte.
Ich kannte in der Kindheit nichts von dem, was Kinder in der Freiheit hatten. Drei Jahre lang sah ich keine Milch und
kein belegtes Brot, von Süßigkeiten träumte man nicht einmal. Man lebte in ständiger Angst, für jede kleine
Verfehlung wurde man geprügelt und auf unterschiedliche Art bestraft. Ich erinnere mich daran, dass einmal ein
Mann angewiesen wurde, einen tiefen Graben auszugraben, dann wurde er erschossen. Alle mussten diese Szene mit
ansehen, auch wir Kinder.
[…] Auf dem Lagergelände arbeitete man schwer beim Flugzeugbau, bei der Herstellung von Militärschuhen, beim
Nähen von Uniformen und Pferdegeschirr oder beim Gemüseanbau. Kinder wurden beim Wechsel von Stroh für die
Strohsäcke beschäftigt. Ich musste auch Strohsäcke außerhalb des Lagers schleppen, wo Heumieten waren; dort
warf ich das alte Stroh weg und packte neues ein. Es fanden öfters Durchsuchungen statt, weil Leute von ihren
Arbeitsstellen unterschiedliche Dinge mitbrachten. Es fehlten Kleidung, Schuhe, Bettwäsche.[…] Jeden Tag fand ein
Appell statt, wo Verurteilte aufgerufen wurden. Meine Eltern und ich blieben drei Jahre lang im Lager. Der
Befreiungstag kam unerwartet.
Als meine Mutti wie gewöhnlich zur Arbeit ging, sah sie vor dem Tor Verwirrung unter den deutschen Soldaten. Sie
setzten sich auf Pferde oder stiegen in Autos und fuhren weg. Das Tor wurde weit geöffnet, die Häftlinge liefen
jedoch nicht weg, weil sie nicht wussten, was los war. Meine Eltern blieben noch eine Woche lang im Lager, bis die
Russen einmarschierten. Alle Leute hatten Angst. Man sagte, dass man außerhalb des Lagers beschossen werde.
Endlich entschied mein Vater, dass wir hinausgehen und nach Bydgoszcz fahren sollten, um meine Brüder zu suchen.
Unser Fahrzeug war der Karren, mit dem mein Vater Kartoffeln von den Kartoffelmieten gefahren hatte. Wir luden
unseren ganzen Häftlingsbesitz darauf: ein Federbett, ein Kissen und einige persönliche Sachen und so zogen wir den
Karren über Felder, weil auf den Straßen Soldaten gingen. […]
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DIE GERMANISIERUNG POLNISCHER KINDER
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Die Germanisierung
polnischer Kinder
ie deutschen Besatzer kamen relativ schnell zu dem Schluss, dass die Germanisierung der an das Dritte Reich
angeschlossenen polnischen Gebiete nicht nur mittels Besiedlung durch Deutsche zu erreichen war. Das
Konzept der Germanisierung eines Teils der einheimischen Bevölkerung wurde immer populärer, dafür sprachen
auch wirtschaftliche Aspekte. Einerseits sollte die Verbesserung ihrer Lebensbedingungen ihre Arbeit effizienter
machen, andererseits sollten die germanisierten Familien ausreichenden Nachschub an neuen Rekruten für die
Wehrmacht sichern. Mithilfe dieser Argumentation stimmte Hitler einer Massengermanisierung der in Schlesien und
in Pommern lebenden Bevölkerung zu.
Besonders grausam und unmenschlich lief die Germanisierung der polnischen Kinder ab. Bereits 1941 stimmte Himmler
der Idee zu, polnische Kinder aus dem Wartheland zu Germanisierungszwecken ihren Familien wegzunehmen. Anfang
1942 wurden die Germanisierungsaktionen auf alle besetzten Gebiete ausgeweitet. Sie begleiteten auch die breit
angelegten Aussiedlungen, z.B. die Aussiedlung des Zamość‐Landes. Ab diesem Zeitpunkt begann die Suche nach
polnischen Kindern, die den durch die Nazis definierten Rassekriterien entsprachen. In erster Linie wurde in Waisenhäuser
nach solchen Kindern gesucht. Im nächsten Schritt wurden Erziehungsberechtigten ihre Kinder weggenommen, z.B.
Eltern, die wegen Untergrundtätigkeiten verhaftet worden waren, die sich der Germanisierung entgegensetzten oder
Eltern aus Mischehen. Im Reich betraf die Germanisierung Kinder polnischer Zwangsarbeiter. Für die Durchführung der
Germanisierung waren Institutionen wie das Stabshauptamt des Reichskommissars für die Festigung deutschen
Volkstums, das Rassen‐ und Siedlungshauptamt der SS, die Volksdeutsche Mittelstelle (VOMI) und die Lebensborn e.V.
verantwortlich. Ganze Familien aus Pommern, Großpolen, Kujawien und ausgewählte Kinder, die in der ersten
Selektionsetappe als germanisierungsfähig eingestuft wurden, wurden in die Filiale des Rassen‐ und
Siedlungshauptamtes an der Spornastrasse in Łódź gebracht. In diesem Lager wurden zusätzliche, detaillierte
Untersuchungen durchgeführt, um auf dieser Grundlage Personen mit besonders vielen arischen Eigenschaften
auszuwählen. Rassenuntersuchungen wurden mehrfach und in verschiedenen Einrichtungen durchgeführt. Sie waren
äußerst genau, geleitet von Experten des Rassenamtes oder von Ärzten des Gesundheitsamtes. Die Kinder wurden
anhand von 62 Kriterien bewertet, darunter Augenfarbe, Haarfarbe, Körpergröße, Gewicht, Körperproportionen,
Schädelform etc.. Die Kriterien waren auf Basis anthropometrischer Messungen definiert worden. Auf dieser Basis wurde
die Zugehörigkeit zu einem von elf Rassentypen bestimmt. Kinder, die die Rassenanforderungen nicht erfüllten, wurden
in Konzentrationslager gebracht, darunter in speziell für sie eingerichtete Lager (z.B. in Lodz und Konstantynów). Kinder,
bei denen man genetische Defekte feststellte, unterzog man nicht selten grausamen Experimenten oder sie fielen dem
Euthanasie‐Programm zum Opfer. Diejenigen hingegen, die die Rassenuntersuchungen positiv abschlossen, kamen in
Heimschulen (ältere Kinder) bzw. in Lebensbornheime (jüngere Kinder). Hier wurden die Kinder der eigentlichen
Germanisierung unterzogen. Sie besuchten Schulen, in denen deutsch unterrichtet wurde. Ungehorsame Kinder wurden
geschlagen und auch für Polnischsprechen gab es strenge Strafen. Kontakt mit der Familie war verboten. Die Personalien
der Kinder wurden aus den Karteien der Meldeämter gelöscht, um so ihre wahre Identität zu verschleiern. Sie bekamen
neue Vor‐ und Nachnamen, man änderte die Geburtsdaten und stellte falsche Geburtsurkunden aus. Lebensborn führte
zu diesem Zweck ein eigenes Einwohnermeldeamt. Nachdem all diese Maßnahmen abgeschlossen waren, wurden die
Kinder zur Adoption an deutsche Familien freigegeben.
Die Deutschen entführten auch in großer Zahl Kinder in den ehemaligen Ostgebieten Polens, wo im Jahr 1944 die
Heeresgruppe Mitte und die 9. Armee einige Tausende Kinder verhafteten, um sie zu germanisieren.
Es ist äußerst schwer, genau zu ermitteln, wie viele Kinder während des Zweiten Weltkriegs der Germanisierung
unterzogen wurden. Schätzungen zufolge beläuft sich ihre Zahl auf 50‐200 000. Durch die Suche des Roten Kreuzes
nach Kriegsende kehrten nur etwa 15 bis 20% dieser Kinder zu ihren Familien nach Polen zurück.
Das Drama der germanisierten Kinder war ein doppeltes – zum einen der Moment, in dem sie ihren Eltern
weggenommen wurden – zum anderen der Moment der Rückkehr. Jüngere Kinder erinnerten sich nicht mehr an ihre
Familien und konnten kein Polnisch mehr. Von Altersgenossen wurden sie als Deutsche angesehen und in weiten
Kreisen stigmatisiert und abgelehnt.
D
BARBARA PACIORKIEWICZ
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BARBARA PACIORKIEWICZ
Wer bin ich?
Die Autorin wurde 1938 in Gdynia geboren. Ihre Mutter starb in den ersten Kriegstagen.
Während des Krieges wurde die ganze Familie nach Łódź ausgesiedelt. Als Barbara vier Jahre
alt war, wurde sie ihren Großeltern weggenommen und zur Germanisierung bestimmt. Ihre
persönlichen Daten wurden geändert und sie wurde bei einer deutschen Familie
untergebracht. Ihre wahre Identität erfuhr sie erst im Jahre 1948, als sie vom Polnischen
Roten Kreuz als polnisches Kind identifiziert wurde und dann in ihr Heimatland
zurückkehrte.
DIE GERMANISIERUNG POLNISCHER KINDER
98
Der Krieg dauerte für mich viel länger als bis zum Mai 1945. Das war die Folge des Entnationalisierungsprozesses,
dem ich ausgesetzt war. Mir wurde meine Identität sowie das Gefühl, zu wissen, wohin ich wirklich gehöre,
genommen.
Eine Urkunde vom Staatsarchiv in Łódź besagt, dass „Barbara Gajzler, geboren am 1. oder 2. Februar 1938, vom 21.
Februar 1942 bis zum 9. März 1942 im Kinderheim in der Przędzalniana Straße 66 in Łódź untergebracht war. Danach
wurde sie ins Kinderheim in der Lokatorska Straße 12 verlegt und am 27. Mai 1942 nach Bruczków geschickt. Von dort
wurde sie ins Dritte Reich deportiert und der deutschen Familie Rossmann in Pflege gegeben. Im Oktober 1947 wurde
sie von polnischen Repatriierungsbehörden als polnisches Kind identifiziert“. Aber was passierte davor?
Aus den Erzählungen meiner Großmutter Kossak (die Mutter meiner Mutter) folgt, dass ich am 1. Februar 1938 in
Gdynia geboren wurde, und zwar in einem Haus, in dem meine Eltern mit den Eltern und den Geschwistern meiner
Mutter wohnten.
In den ersten Tagen des Krieges war meine Mutter an einem Herzinfarkt gestorben. Die ganze Familie wurde
ausgesiedelt. Die Jüngeren wurden in Arbeitslager auf dem Gebiet des Dritten Reiches verschleppt, während ich und
meine Großeltern nach Łódź geschickt wurden, wo wir in ein altes Hinterhaus in der Lipowa Straße einzogen, oder
genauer gesagt, in eines der uns zugeteilten Zimmer. Eben aus jener Wohnung brachten mich die Deutschen im
Februar 1942 ins Kinderheim in der Przędzalniana Straße. Dort fand mich meine Großmutter nach zwei Wochen nicht
mehr. Nach dem Krieg begann sie, mich über das Polnische Rote Kreuz zu suchen. All das erfuhr ich aber erst nach
meiner Rückkehr nach Polen.
Ich versuche jetzt, einige mit Kinderaugen gesehene Bilder und Erlebnisse aus meiner Kriegskindheit zu
beschreiben, die ich noch in Erinnerung habe. Mein Gedächtnis reicht bis zu meinem vierten Lebensjahr zurück. Ich
war in einem Haus mit einem großen Saal mit Fenstern und einem breiten, halbkreisförmigen Fensterbrett, auf dem
ich oft saß. Dort waren viele Kinder und wir schauten oft zusammen auf eine große Wiese hinaus. Heute weiß ich,
dass die Wiese nur ein großer Rasen, das Haus dagegen ein Lebensborn‐Heim in Bad Polzin war. Die Kinder wurden
ständig besehen, untersucht, gemessen und vor allem bestraft. Wenn ein Kind sich bepinkelte, bekamen alle anderen
Kinder dafür Prügel. Ich glaube, dass sie sich eben aus einer großen Angst so oft bepinkelten, die uns alle nie losließ.
Es verging also kein Tag ohne derartige Vorfälle.
Dort wurde auch mein Name geändert. Ich hieß von da an Bärbel Geisler, geboren am 2. Februar 1939. Ich war also
um ein Jahr und einen Tag jünger, als ich es wirklich war – ganz typisch für Kinder in Lebensborn‐Heimen.
Ich kann den Tag nicht vergessen, als ein älterer Herr kam, um mich zu seinem Haus mitzunehmen. Wie alle übrigen
Kinder dort hatte ich keine Haare, ich stand vor ihm nur in einem Höschen und einem Hemdchen. Ich weinte, weil
man mir mein weißes Pelzjäckchen nicht geben wollte.
Nach meiner Rückkehr nach Polen sagte man mir, dass die Deutschen mich eben in dem weißen
Kaninchenpelzjäckchen von meiner Oma weggeholt hätten. Daraus ergibt sich, dass ich meine Vergangenheit immer
nur mit diesem Pelzjäckchen assoziiert habe.
Der ältere Herr wickelte mich in sein Jackett ein und wir fuhren so nach Lemgo. Wir wurden dort von zwei Frauen
willkommen geheißen, die bei meinem Anblick in Tränen ausbrachen. So weinten wir alle drei. Sie badeten mich,
gaben mir zu essen und legten mich in ein Kinderbett. Ich weinte noch lange, bevor ich einschlief. Als ich wieder
aufwachte, hatte ich plötzlich eine „Mutti“, einen „Vati“ und eine „Oma“. Ich war die kleine, wilde Bärbel, eine Waise
„nach dem Tod eines deutschen Offiziers“. In einem Zimmer meines neuen Zuhauses hing das Bild eines Mädchens
– das war Ursel, die im Alter von 9 Jahren gestorben war. Sie war Vorbild für mich. Ich sollte in ihre Haut schlüpfen.
Ich trug ihre Sachen, aber ich konnte nie ganz so wie sie werden, trotz verschiedener Bestrafungen und strenger
Disziplin, die in dem Haus herrschte. Ich war einfach anders.
Heute denke ich, dass dies die Hauptursache meiner furchtbaren Komplexe und Minderwertigkeitsgefühle ist.
Meinem Bewusstsein hat sich die Überzeugung fest eingeprägt, dass ich als Mensch weniger wertvoll bin als alle
anderen. Damals wäre mir niemals eingefallen, dass die Rossmanns nicht meine Eltern sind. Also wer bin ich dann?
Davon, dass ich Polin bin, habe ich mit 10 Jahren erfahren. Es begann das Jahr 1948. Im Haus herrschte eine
geheimnisvolle Atmosphäre. Gespräche wurden abgebrochen, wenn ich in die Nähe kam. Ich wurde zur Abreise
fertiggemacht. An einem Januartag kam eine Frau in amerikanischer Uniform, um mich abzuholen. Völlig ahnungslos
dachte ich anfangs, dass ich nur einen Ausflug machen würde, aber die Hausbewohner verabschiedeten sich von mir
mit Tränen in den Augen. Obwohl ich nicht ihre Ursel war, hatten sie mich mit der Zeit lieben gelernt und mir deshalb
nicht gesagt, dass ich nicht ihre Tochter war.
BARBARA PACIORKIEWICZ
Von da an lebte ich mit einer kleinen Gruppe von
Kindern in einem kleinen Städtchen im Süden
Deutschlands. Wir wurden in schöne Sachen
gekleidet, die aus einem Warenlagerhaus der UNRRA
(Nothilfe‐ und Wiederaufbauverwaltung der
Vereinten Nationen) stammten, täglich wurden uns
Südfrüchte, die ich zuvor gar nicht gekannt hatte,
sowie Bonbons und Schokolade angeboten. Wir
mussten jedoch intensiv Englisch lernen, auch
während der Mahlzeiten. Als ich später schon in Polen
war, konnte ich nicht begreifen, wofür ich denn
damals Englischkenntnisse brauchte, wo ich doch kein
Polnisch sprach. Viele Jahre später habe ich von
jemandem, der an der Suche nach polnischen Kindern
im deutschen Raum beteiligt gewesen war, erfahren,
dass man damals vorhatte, mich nach Amerika zu
schicken. Nach dem Krieg nahmen Amerikaner den
Deutschen die geraubten Kinder weg, um sie dann
nach Amerika mitzunehmen. Wäre dasselbe mit mir
passiert, so hätte ich wohl nie meine wahre Identität
erfahren.
Im Mai desselben Jahres wurde ich zusammen mit
zwei anderen Kindern nach Augustdorf gebracht. Wir
Barbara Paciorkiewicz vor ihrer Rückkehr nach Polen, 1948 wurden in einem Lager untergebracht, das nur aus
(ZDPGPRH)
Baracken bestand, in denen Menschen verschiedener
Nationalitäten vorübergehend lebten. Jeder wartete
darauf, in sein Heimatland transportiert zu werden. Uns wurde mitgeteilt, dass wir erst einmal auf einen Transport
nach Polen warten mussten.
Anfang Juni setzten wir uns in einen der Wagen eines sehr langen Zuges des Polnischen Roten Kreuzes. Darin
waren Etagenbetten. Ich fürchtete schon, dass die Reise nie enden würde. Oft standen wir tagelang auf freier
Strecke mitten zwischen Feldern. Schließlich erreichten wir Katowice. Vom Bahnhof wurden wir in ein Heim des
Polnischen Roten Kreuzes gebracht, wo wir darauf warteten, von jemandem abgeholt zu werden. Aber von wem? Es
kamen Eltern und holten unter Tränen ihre Kinder ab, aber ich weinte nur und beneidete sie.
Auf mich wartete ein von Nonnen geleitetes Waisenhaus, das ich schon vom Fenster aus sah. Ich wusste schon,
dass Barbara Gajzler ein Waisenkind war. Obwohl man mich so nannte, fühlte ich mich immer noch als Bärbel
Rossmann aus Lemgo, und ich konnte mich lange nicht mit meinem neuen Namen anfreunden.
Schließlich kam jemand, der sich mein Onkel nannte. Obwohl er mir völlig fremd war, warf ich mich ihm sofort in
die Arme. Von meiner Reaktion überrascht und sichtlich gerührt, gab er mir ein Brötchen mit einer großen Bockwurst.
Zum ersten Mal in meinem Leben hielt ich zum Essen eine ganze Wurst in meiner Hand und ein Butterbrötchen in der
anderen, und bis heute spüre ich noch diesen Geschmack im Mund. Aber das Gespräch mit dem Onkel war schwierig,
obwohl er glaubte, in einem deutschen Arbeitslager Deutsch gelernt zu haben. Seine Art zu reden, von der ich kaum
etwas verstehen konnte, brachte mich zum Lachen. Wir fuhren nach Gdańsk, nach Hause, wie der Onkel es nannte.
Die Stadt in Trümmern, ein altes Haus ohne jeglichen Komfort und ohne Wasser, eine unbekannte Sprache – all das
war für mich eine unangenehme Überraschung. Da war auch meine Familie, die ich erst anfing kennenzulernen: eine
Tante, zwei kleine Kusinen (im Alter von 3 und 5 Jahren; nach einem Monat kam ein Junge zur Welt) – das war mein
neues Zuhause.
Der Krieg war schon längst zu Ende, aber ich wurde von einer Tante zur anderen geschoben. Schließlich kam ich
doch in ein Kinderheim. Ständig dachte ich, alles müsse ein Irrtum sein, weil ich mich an nichts und niemanden
anpassen konnte. Die Kinder hielten mich für eine Deutsche. In Gdańsk, wo ich zum ersten Mal in eine polnische
Schule kam und Polnisch zu lernen begann, nahmen die Kinder mich beim Spielen während der Pausen in einen
Reigen mit, wo sie sangen: „Stary Hitler mocno śpi“ („Der alte Hitler schläft fest“). Ich nahm es ihnen nicht übel, weil
99
DIE GERMANISIERUNG POLNISCHER KINDER
100
ich mich auch für eine Deutsche hielt, die in Lemgo ihre Eltern hatte. Die ganze Geschichte war für mich schwer zu
verstehen.
In meiner Heimat war ich ein ungewolltes Kind, und an alldem war der Krieg schuld. Ich habe mich unzählige Male
gefragt, wo mein Platz auf dieser Erde ist und wer ich eigentlich bin. Solch ein innerer Kampf tobte in mir seit meinem
10. Lebensjahr. Als ich nach 18 Jahren – schon als Erwachsene – wieder in Lemgo war, wollte ich das selbst
entscheiden. Jene Momente innerer Zerrissenheit in schlaflosen Nächten sind jetzt schwer zu beschreiben und wohl
auch schwer zu verstehen für jemanden, der so etwas nicht selbst erlebt hat. Die schwierigsten Jahre, in denen ich
am nötigsten elterlichen Beistand gebraucht hatte, hatte ich schon hinter mir. Meine Heimat lernte ich unter
schwierigen Umständen kennen, und ich war gezwungen, über mein Leben selbst zu bestimmen.
Die in Lemgo verlebten Jahre haben sich mir tief ins Gedächtnis geprägt. Heute kehre ich in das schöne Städtchen
und zu den dort kennengelernten Menschen als Polin zurück, die weiß, wo ihr Platz und wo ihr Zuhause sind. Als
Polin, die an die nächsten Generationen die Geschichte der polnischen Kinder weitergeben möchte, die durch die sie
manipulierenden „Übermenschen“ zu Janitscharen des 20. Jahrhunderts geworden sind.
In dem ganzen Unglück hatte ich das Glück, eine Familie zu finden, nach der ich mich oft in den schwersten
Augenblicken meines Lebens gesehnt habe. Jedoch habe ich mich für Polen entschieden…
Die Germanisierung von polnischen Kindern, die ihrer Nation entzogen wurden, hat auch in den Fällen, wo sie den
Deutschen nicht gänzlich gelungen ist, weil die Kinder doch in ihre Heimat zurückkehrten und Polen blieben, die
Psyche der Kinder zerstört, die wie ein gebrochener Ast nie wieder zusammenwachsen und ihr seelisches
Gleichgewicht wiedererlangen konnte.
Ich kenne Kinder, denen das Recht darauf genommen wurde, Polen zu sein, die – in Deutschland aufgewachsen
und heute Deutsche sind, die aber ihren inneren Frieden nie gefunden haben. Sie sind auf einer ständigen Suche nach
ihrer Identität und ihren polnischen Wurzeln.
Barbara Paciorkiewicz mit ihrer Pflegemutter, Weihnachten 1943 (ZDPGPRH)
HENRYK WOJCIECHOWSKI
101
HENRYK WOJCIECHOWSKI
Ein Teufelskreis
– du wirst Wochinger heißen
Der Autor wurde 1932 geboren. Er wurde von seiner Mutter in einer Geburtsklinik in Poznań
(Posen) zurückgelassen. Ab 1937 war er Pflegekind im Katholischen Kinderheim in Pleszewo.
Dort überraschte ihn der Ausbruch des Krieges.
DIE GERMANISIERUNG POLNISCHER KINDER
102
m 7. Mai 1941 wurde ich in ein Germanisierungslager, ein sogenanntes Jugendlager für polnische Kinder, nach
Kobylin, Landkreis Leszno, deportiert. Die Lebens‐ und gesundheitlichen Bedingungen im Lager in Kobylin
waren schlecht. Das deutsche Personal reagierte nicht auf unsere Bedürfnisse. Viele Kinder waren krank. Die
schlimmsten Fälle kamen ins Krankenhaus in Krotoszyn. Als Allheilmittel galten Kräuter und Schröpfung. Die
häufigsten Krankheiten waren dagegen Magenbeschwerden und dauernde Erkältungen. Wir waren stets hungrig.
Unsere heimlichen Ausflüge in den nahe gelegenen Gemüseladen endeten aber mit Durchfall.
Die Hauptnahrung waren grobe Grützen, Suppen aus getrocknetem Brot, Suppen aus gelber Kohlrübe, in Leinöl
gebackene Kartoffelpuffer, seltener auch zu gleichen Teilen mit Wasser verdünnte Milchsuppen, Mehlwassersuppen
mit gebratener Zwiebel, graue Kartoffelklöße, mit Zuckerrübensirup gesüßter schwarzer Malzkaffee, trockenes Brot
(seltener mit Schmalz bestrichen), Kohlsuppen, manchmal eine Art rote Grütze. Es gab keine Süßigkeiten.
Wir schliefen unter Wolldecken auf Strohsäcken, die dort in den Räumen ausgelegt waren. Eine große Plage waren
Insekten. Zu ihrer Bekämpfung wurden vor allem den Mädchen die Köpfe kahlgeschoren, mit Petroleum eingerieben
und dann Kopftücher umgebunden. Einmal in der Woche wurden wir in Bottichen gebadet, unter Verwendung von
Lysol. Die Toiletten wurden mit Chlorverbindungen desinfiziert.
Jeder Tag wurde mit einem Appell begonnen und mit einem weiteren beendet – draußen auf dem Platz, wenn es
warm war, beziehungsweise in den Fluren oder im Esszimmer (im Refektorium) bei der Küche, wenn es kalt war.
Unter diesen Umständen unternahm ich zusammen mit einem anderen Heimkind, das aus Krotoszyn stammte,
einen Fluchtversuch. Nach einem oder zwei Monaten wurden wir von der Polizei aus Krotoszyn ins Heim
zurückgebracht. Vorher bekamen wir aber ordentlich Prügel (wobei es viel schlimmer hätte ausgehen können).
Die Kinder wurden in namentlich aufgerufenen Gruppen untersucht. Vom Arzt oder von einer Krankenschwester, je
nachdem, um was für Untersuchungen es sich handelte. Der Prozedur der „Rassenuntersuchung“ wurde jedes Kind
einzeln unterzogen, und zwar völlig nackt. Die Untersuchungen betrafen frühere Krankheiten, Körpergröße,
Körpergewicht, körperliche Bewegungsfähigkeit, Gleichgewichtssinn, Schärfe des Seh‐ und Hörvermögens. Es gab auch
Urin‐, Blut und Röntgenuntersuchungen, Untersuchungen zur seelisch‐körperlichen Entwicklung eines Kindes (Lösen von
logischen Aufgaben), Schädelmessungen sowie Messungen der Augenstellung und der Genitalien. Die Ergebnisse
wurden jeweils in eine mit Foto versehene Karte des Kindes eingetragen. Die Karten waren speziell für solche
„Rassenuntersuchungen“ angefertigt worden. Die Enduntersuchungen wurden von Dr. Hildegarde Hetzer durchgeführt,
einer Fachärztin aus dem Lebensborn‐Heim in Łódź, die darüber entschied, welches Kind sich zur Germanisierung eignete.
Kinder, die für die Germanisierung als ungeeignet befunden wurden, wurden in andere Lager geschickt, meistens
nach Kalisz, wo sich eine Außenstelle des Rasse‐ und Siedlungshauptamtes der SS in Łódź befand.
Im Jugendlager Kobylin war ich vom Mai 1941 bis zum Juni 1942, d.h. bis ich schlussendlich zu denjenigen Kindern
gerechnet wurde, die die Selektion überstanden hatten, und mein Name bei einem Lagerappell aufgerufen wurde.
Im Sommer 1942 kam ich zusammen mit 30 anderen Kindern als Ostland‐Kind in ein Ausbildungslager der
Hitlerjugend in Niederaltreich (Niederbayern), und zwar in eine sogenannte Lebensborn‐Heimatschule. Ich blieb dort
vom Juni 1942 bis zum Juli 1943, wo ich Deutsch lernte, mich der neuen Umgebung anzupassen versuchte und auf die
Änderung meiner Nationalität wartete.
Das Lager wurde von Lebensborn‐Lehrern und uniformierten Funktionären geleitet und stand unter der Aufsicht von
SS‐Männern, die regelmäßig zu Kontrollbesuchen vorbeikamen. Kommandant der Schule war SS‐Sturmbannführer
Hartmann.
Die Schule befand sich in einem abgetrennten Teil eines Benediktinerklosters. Sie wurde zwar geheim gehalten, es
lässt sich jedoch nicht ausschließen, dass die einheimische Bevölkerung von ihrer Existenz wusste.
Die Ausbildung umfasste unter anderem Kulturunterricht, Filmvorführungen, Sportunterricht im
Arbeitsdienstheim und die Teilnahme an einem Jugendtreffen in Regensburg im Herbst 1942. Am Ende der
Ausbildung fand eine Prüfung statt, die von Lebensborn‐Vertretern und uniformierten SS‐Männern abgehalten
wurde. Nachdem ich sie bestanden hatte, bekam ich einen anderen Namen, Henryk Wojciechowski, der ich bis dahin
gewesen war, wurde zu Heinrich Wochinger. Mir wurde außerdem der Nationalitätsstatus eines „reichsdeutschen
Kindes“ zuerkannt, der mir nach Erreichung der Volljährigkeit die deutsche Staatsbürgerschaft garantierte. 1943
wurde ich ins Lager Partsch bei Salzburg in Österreich verschickt.
Mit einem im Lebensborn‐Amt ausgestellten Schein, der meine reichsdeutsche Herkunft bestätigte, hatte ich die
gleichen Rechte wie die Staatsbürger des Deutschen Reiches. Mit meinem neuen Namen wurde ich der Familie
Engelbert Berger in Dorfgastein in Pflege gegeben.
A
HENRYK WOJCIECHOWSKI
Für die Zeit meiner Gewöhnung an die neue Umgebung bekam ich vom Lebensborn‐Amt einen Betreuer zugeteilt,
der damit beauftragt war, den Anpassungsprozess bei mir zu überwachen. In der Praxis bedeutete das aber nur, dass
ich an eine bestimmte Adresse jederzeit meine eventuellen Eindrücke oder Klagen schicken durfte.
In meiner Pflegefamilie hatte ich gute Bedingungen zum Leben und zum Lernen. Ich spürte ihre Zuneigung und
Fürsorge. Nach dem Schulunterricht arbeitete ich nach Möglichkeit bei der Versorgung des Viehs (Schafe, Ziegen,
Kühe, Pferde) und ich half bei allen Arbeiten im Haushalt mit. Ich hatte volle Bewegungsfreiheit. Auf Anraten der
Hausleute machte ich in der Zeit vor Weihnachten 1943 von der mir gegebenen Adresse Gebrauch, indem ich in einem
Brief meine Eindrücke beschrieb und um ein Paar Skier für den herannahenden Winter bat. Unerwartet tauchte mein
Betreuer persönlich bei uns auf. Er brachte mir Skier und auch andere Geschenke mit. Ich hatte allen Grund, zufrieden
zu sein und konnte meine Freude nicht verbergen. Danach kontaktierte ich ihn aber nicht mehr – ich hatte keine
Wünsche an ihn und auch keinen Grund zum Klagen.
Bei nostalgischen Anwandlungen summte ich leise ein Lied vor mich hin, das ich aus meiner Kindheit kannte, um
die polnische Sprache nicht zu vergessen: „Szła dzieweczka do laseczka…” („Es ging ein Mädchen in ein
Wäldchen…“). Zugleich versuchte ich, den Text ins Deutsche zu übersetzen.
Der Hausherr sprach oft davon, dass er mich adoptieren und an Stelle seines Sohnes, der bei Kämpfen an der
Ostfront in Ungarn gefallen war zu seinem Erben machen wolle
Die Zeit bis zur Befreiung von Österreich durch die Alliierten (die amerikanische Besatzungszone) habe ich noch
als bedeutsam in Erinnerung . Der Abschied von meinen Pflegeeltern war für beide Seiten nicht leicht. Mein Talisman
aus jener Zeit ist ein getrocknetes Edelweiß, das vom Gipfel des Schuhflickers stammt.
Durch Bemühungen der Polnischen Militärmission und des Polnischen Roten Kreuzes konnte ich im späten Herbst
1945 nach Polen zurückkehren. Von Salzburg nach Poznań (Posen) reiste ich über Böhmen, Międzylesie (Mittelwalde)
und Wrocław (Breslau) unter Aufsicht einer Familie aus Poznań, deren Name mir nicht bekannt war.
Im Repatriierungslager von Salzburg war ich das einzige Kind unter lauter Erwachsenen – ich kann mich an kein
anderes erinnern. Bis heute bewahre ich einen im Lager gebastelten Holzkoffer für persönliche Sachen auf. Vor
meiner Abreise wurden mir vor Ausstellung meiner Ausweispapiere Fingerabdrücke abgenommen sowie ein Foto für
meine Repatriierungskarte gemacht. Jeder von uns wurde desinfiziert, dann wurde uns je ein Platz in einem
Güterwagen zugewiesen. Wir bekamen Nahrungspakete für eine zweitägige Reise.
Mein weiteres Leben nach 1945 war nicht leicht, wie übrigens auch das aller anderen, die aus der Vertreibung
zurückgekehrt waren. Ich war auf mich selbst und auf soziale Hilfe angewiesen. Nach meiner Ankunft in Poznań
wurde mein Name beim Staatsamt für Repatriierungen eingetragen, das in Baracken auf dem Platz am
Hauptbahnhof seinen Sitz hatte. Ich erhielt damals einen Betrag von 100 Zloty für notwendige Ausgaben und einen
vom Staatsamt ausgestellten Schein als Ausweis sowie einen anderen, der mich an die Woiwodschaftsabteilung für
soziale Hilfe in der Dąbrowski Straße verwies.
Durch Bemühungen des Polnischen Roten Kreuzes und der Sozialhilfeabteilung wurde ich zunächst im Ursulinen‐
Kinderheim in der Mariacka Straße untergebracht, und danach – weil Zofia und Michał Ślusarek, meine Pflegeeltern
aus der Zeit vor dem Krieg, weder kontaktiert noch deren Familie ausfindig gemacht werden konnte – in ein
Kinderheim in Broniszewice bei
Pleszewo verlegt, das von
Dominikanerinnen
geleitet
wurde.
Kinder des Gaukinderheims
Bruczków / Bruckau, 1942
(ZDPGPRH)
103
DER BESATZUNGSALLTAG
104
Der Besatzungsalltag
m 1. September 1939 begann ein neuer Abschnitt im Leben der polnischen Bevölkerung. Der Krieg sowie die
fünfjährige Besatzung veränderten den Alltag eines jeden Menschen. Anfangs wusste niemand, was von den
Deutschen zu erwarten war. Doch schon kurz nach dem Auftauchen der Wehrmacht, der Luftwaffe sowie Gestapo
wurde klar, dass die Besatzer den Bewohnern der eingenommenen Gebiete keine Gnade entgegenbringen würden.
Die deutschen Besatzer setzen alles daran, einerseits die Zivilbevölkerung von Anfang an einzuschüchtern,
andererseits einfach nur den Bewohnern das Leben so schwer wie möglich zu machen.
Für die Nichteinhaltung von Regeln, Befehlen und Anordnungen drohten schwere Strafen –Konzentrationslager,
Gefängnis und oftmals auch die Todesstrafe. Allgemein herrschender Terror wurde zum Alltag, z.B. Straßenrazzien
und öffentliche Hinrichtungen. Die per Zufall während der Straßenrazzien gefangen genommenen Menschen
wurden in Konzentrationslager – oder im besten Fall zur Zwangsarbeit nach Deutschland geschickt.
Der Alltag wurde, besonders am Anfang der Besatzung sehr schwer. Es fehlten viele Güter des alltäglichen Bedarfs,
die Wasser‐ und Stromversorgung in den Städten funktionierten nicht und es gab keine Möglichkeit, Heizmaterial für
den Winter zu besorgen. Es wurden für fast alle Nahrungsmitteln und Fabrikwaren Marken eingeführt. Die Menschen
mussten sich anpassen, um diese neue Wirklichkeit zu überstehen. Der Alltag wurde zum ständigen Kampf um das
Überleben.
Den Polen war es nicht erlaubt, ein Radio zu besitzen, in den an das Dritte Reich angeschlossenen Gebieten waren
auch keine Fahrräder erlaubt, es galten Polizeistunden. Der Zugang zu Kinos, Parks, Theatern, Bibliotheken und sogar
Sportplätzen war den Polen verwehrt. Straßen wurden umbenannt. Auch Schulen und Universitäten wurden
geschlossen. In späteren Zeiten erlaubte man Kindern den Grundschulbesuch, im Generalgouvernement auch eine
Berufsausbildung, jedoch nur in ausgewählten, als schlechter angesehenen Berufen. Den Polen war es nicht nur
verboten, Ämter auszuüben und höhere Posten zu übernehmen, ihre Rolle beschränkte sich auf die Ausführung
körperlicher Arbeit zugunsten der deutschen Wirtschaft. Bereits im Oktober 1939 wurde ein Arbeitszwang für
Männer zwischen 18 und 60 Jahren eingeführt. Schon bald senkte man das Alter auf 14 Jahre, in der Praxis wurden
jedoch auch jüngere Kinder eingestellt. Später umfasste der Arbeitszwang auch Frauen. Die Löhne wurden reduziert
und wurden somit unproportional niedrig zu den herrschenden Lebenskosten.
Doch die Polen ließen sich nicht in eine verschreckte, willenlose Masse an unqualifizierten, identitätslosen
Arbeitern verwandeln. In der neuen Realität versuchte man nicht nur das Leben, sondern auch die Ehre zu bewahren.
Die Polen lebten in der Hoffnung auf Freiheit, der Krieg wurde als Übergangszeit angesehen, als ein kurzer Abschnitt,
daher unterwarfen sie sich nie vollständig den Anordnungen des Besatzers. Der Besatzungspolitik widersetzte sich
ein Großteil der Bevölkerung, indem passiv Widerstand geleistet wurde und indem man sich an der wachsenden
Untergrundbewegung beteiligte.
Bald wurde im Geheimen Unterricht auf allen Ausbildungsniveaus organisiert, es wurden Untergrundzeitungen
herausgegeben. Polnischer Untergrundstaat und seine ausgebauten Strukturen waren beispiellos in Europa. Diese
Bemühungen gaben den Menschen Hoffnung und halfen ihnen dabei bis zum Ende des Krieges durchzuhalten.
A
HENRYK JAKUBOWSKI
105
HENRYK JAKUBOWSKI
Kampf ums Überleben.
Erinnerungen aus
den Jahren 1939 – 1945
Der Autor wurde am 10. Mai 1925 geboren. Vor dem Kriegsausbruch wohnte er in Zawiercie,
wo sein Vater ein Fotoatelier besaß. Nach Ausbruch des Krieges nahm er an
Geheimunterricht teil und war in der Untergrundbewegung tätig. 1943 wurde er verhaftet
und gefangen gehalten, anfänglich in Gefängnissen in Opole (Oppeln) und Mysłowice
(Myslowitz), dann in den Konzentrationslagern Auschwitz‐Birkenau und Mauthausen.
DER BESATZUNGSALLTAG
106
[…] Noch im September erschienen an
Anschlagbrettern erste Bekanntmachungen,
Verordnungen, Mitteilungen u.ä. von deutschen
Militär‐ und Polizeibehörden. Es wurde unter
anderem verordnet, unter Androhung der
Todesstrafe, an bestimmten Stellen Gewehre,
Radios, Fahrzeuge usw. abzugeben. Es gab auch
eine Mitteilung, in der ein Termin für den Anfang
des Unterrichts in Schulen angesetzt wurde. Wir
haben die Schule einige Wochen lang besucht.
Eines Tages wurde uns dann aber mitgeteilt, dass
der Unterricht für unbestimmte Zeit
unterbrochen werde. Es war klar, dass sich diese
Pause bis zum Kriegsende ziehen wird. Ich
erinnere mich noch daran, wie ich mit einer
Gruppe Mitschüler vor der Schule stand, als der
Priester Präfekt Całusiński und Herr Professor
Woźniak
mit folgenden Worten an uns
herangetreten sind: „Jungs, es gibt keinen Grund,
es hinauszuzögern, der Unterricht muss heimlich
fortgesetzt werden, kommt dazu zu uns nach
Hause“.
Einige von uns haben dieses Angebot genutzt
und schon am nächsten Tag fingen wir mit dem
Untergrundunterricht an. Mathe, Polnisch,
Fremdsprachen und Geschichte hatten wir mit
dem Priester Całusiński, die anderen Fächer mit
dem Professor Woźniak, der später Zawiercie
Der junge Henryk Jakubowski 1942 (AFPNP)
verlassen hat. Deswegen fanden dann alle
Unterrichtstunden beim Priester statt, manche wurden auch von seinem Bruder Zdzisław geleitet, der gerade eine
Oberschule absolviert hatte. Die Stunden wurden in der Privatwohnung des Priesters Całusiński in der Piłsudski
Straße abgehalten. Während des Unterrichts beobachtete immer einer der Schüler die Straße und passte auf, dass
die Deutschen nicht kamen.
In dieser Zeit arbeitete ich bei meinem Vater im Fotoatelier. Dadurch hatte ich die Möglichkeit, meine deutschen
Sprachkenntnisse zu vertiefen, während ich die Deutschen bedient habe. Einen Teil meiner Freizeit verbrachte ich mit
Freunden. Wir alle waren in ähnlichem Alter, zwischen 14 und 17 Jahren. Bei schönem Wetter genossen wir die Zeit
am Wasser im nahe gelegenen Kądzielów, wo wir an der Mühle von Holenderski badeten und uns sonnten.
Die Kiefernwälder dort waren ein guter Schutz vor Hitze und boten wunderbare Luft. An trüben Tagen haben wir
getanzt, hauptsächlich zu Melodien von Schallplatten von Mieczysław Fogg. Wir trafen uns nicht nur aus sozialen
oder sportlichen Gründen. Viel Zeit verbrachten wir damit, die Untergrundpresse zu lesen und über die
Radionachrichten aus London zu sprechen. Im Fotolabor meines Vaters habe ich heimlich Rundfunk gehört.
Einzelne Zeitungsexemplare unter dem Titel „Płomień“ (Flamme) und später „Niepodległa“ (Die Unabhängige)
erhielt ich vom Priester während des Unterrichts. Dort habe ich auch einen Bekannten seines Bruders, Zdzisław
Piotrowski, kennengelernt. Nach einigen Treffen begann Piotrowski, mir alle paar Tage ganze Pakete mit Zeitungen
zu übergeben, die ich mit der Hilfe meiner Schulfreunde vertrieben habe. Sie gaben diese an ihre Familien und
Kollegen weiter.
Nach einer gewissen Zeit hat mir einer meiner Mitschüler mitgeteilt, dass er die Zeitungen nicht mehr annehmen
wird, weil er bei der deutschen Gendarmerie als Dolmetscher eingestellt worden sei. Seine Mitteilung, und vielmehr
seine Haltung, haben uns ganz und gar überrascht. Wir befürchteten, dass er uns vielleicht verraten wird. Später
konnten wir uns davon überzeugen, dass er uns zwar nicht verraten, aber doch alle Kontakte mit uns abgebrochen
hatte. Am Ende des Krieges ist er mit den Deutschen aus Zawiercie und aus Polen geflüchtet.
HENRYK JAKUBOWSKI
Später hatte sich der Kreis der Empfänger von Zeitungen auf Freunde bei den Pfadfindern erweitert. Als die
Deutschen befohlen hatten, alle Radioapparate abzugeben, befolgte mein Vater diese Verordnung nicht ganz ‐ er gab
nur einen Radioapparat von den zweien, die er besaß ab. Der zweite Radioapparat war in seinem Betrieb, in der
Dunkelkammer angeschlossen. Und genau dort, unter dem Vorwand Laborarbeit auszuüben, hörten mein Vater und
ich abwechselnd Auslandsnachrichten. Die wichtigsten schrieben wir auf Zettel und leiteten sie dem Priester und
Herrn Piotrowski weiter. Im Laufe der Zeit wurde das Radiohören im Fotogeschäft immer schwieriger und
gefährlicher. Der Ort musste gewechselt werden. In der Stadt und Umgebung haben die Deutschen getobt. Es kam
zu Massenverhaftungen und Verschleppungen zur Zwangsarbeit nach Deutschland. Spitzel waren überall.
[…]
Eines Tages, als ich gerade auf dem Rückweg nach Hause war, wurde ich zusammen mit anderen Passanten von
der deutschen Polizei umzingelt. Unter Schreien und Schubsen führten sie uns die Alleen an den Eisenbahngleisen
neben dem Grabmal des unbekannten Soldaten entlang. Dort waren schon eine Menge Leute, die hierhin gejagt
worden waren. An einem der Bäume, mit einer Kirche im Hintergrund, sah ich eine Seilschlinge hängen. Ich begriff
sofort, dass die Deutschen eine Hinrichtung planten. Kurze Zeit später kam tatsächlich ein Auto angefahren, aus dem
Gestapo‐Offiziere einen schlanken Mann herauszogen. Er hatte eine Arbeitsuniform an und die Hände nach hinten
gebunden.
Die zusammengetriebene Menschenmenge bildete ein Viereck und wurde von der Polizei, Gendarmerie und von
Gestapo‐Offizieren umstellt, die ihre Maschinengewehre auf uns richteten. Der Verurteilte wurde an den Baum
geführt, woraufhin einer der Gestapo‐Offiziere das Urteil vorlas. Es hat in etwa so gelautet: Name, Vorname,
Geburtsdatum und weiter – wird wegen Zugehörigkeit zu der geheimen Organisation „Orzeł Biały“ („Weißer Adler“)
und damit wegen deutschfeindlicher Betätigung zum Tode verurteilt. Nach der Verlesung des Urteils wurde der
Häftling auf einen Hocker gestellt. In diesem Moment hörten wir aus seinem Mund die Worte „Es lebe Polen“. Die
Gestapo‐Offiziere schimpften etwas. Einer von ihnen legte dem Verurteilten die Schlinge um den Hals und ein
anderer riss den Hocker weg, auf dem das Opfer stand. Auf diese Weise wurde ich zum ersten Mal im Leben zum
gezwungenen Zeugen eines politischen Mordes an einem Polen. Auch zum ersten Mal spürte ich richtigen und
starken Hass und Rachewillen.
Einige Monate später wurde ich auf gleiche Weise dazu gezwungen, einen anderen Mord mit anzusehen, diesmal
in Sosnowiec (Sosnowitz). Ich fuhr dorthin, um meine Familie zu besuchen. Vom Bahnhof wurden wir auf einen Platz
bei der Synagoge zusammengetrieben. Die Hinrichtung fand auf dieselbe Weise wie in Zawiercie statt. Ich war
damals etwa 15 Jahre alt. Der Anblick der beiden Hinrichtungen war ein prägendes Erlebnis und beeinflusste meine
sich noch entwickelnde Psyche. Ich drehte den Kopf weg und schloss die Augen, weil ich nicht zusehen konnte, wie
ein Mensch ermordet wird. Obwohl ich noch jung war, spürte ich den Drang zu handeln, obwohl ich mir des Preises
sehr gut bewusst war.
Eines Tages haben die Deutschen in der Stadt Plakate aufgehängt, auf denen eine zerstörte Stadt und darüber
fliegende englische Flugzeuge abgebildet waren. Unter dem Plakat stand geschrieben: „England, das ist dein Werk“.
Solche ein Plakat hing auch an der Tafel gegenüber den Fenstern des Betriebes meines Vaters. Zusammen mit
Marian, einem Mitarbeiter meines Vaters, beschlossen wir, diese Aufschrift zu ändern, indem wir auf das Wort
„England“ das Wort „Hitler“ klebten. An diesem Tag blieben wir bis zum späten Abend im Betrieb. Marian hat mit
großen Buchstaben und Tusche auf einem Heftblatt „Hitler“ geschrieben. Auf der Rückseite bestrich ich das Blatt mit
Klebstoff, danach nutzte ich einen Moment, in dem die Straße ganz leer war, lief zu dem Plakat und setzte die
vereinbarte Aufgabe in die Tat um. Früh am nächsten Morgen beobachteten wir durch ein Fenster, wie sich die
Passanten mit einem Lächeln unser Plakat angeschauten. Erst um 10 Uhr kam eine Gruppe Gestapo‐Offiziere, sie
fotografierten das Plakat und rissen es dann ab. Den ganzen Tag lang und auch einige Tage danach war die Stadt in
Alarmbereitschaft. Es kam aber zu keinen Repressionen.
[…]Im Laufe der Zeit wurde das Leben unter der Besatzung immer schwieriger. Die Lebensmittelrationen, die man
für seine Marken erhielt, wurden immer kleiner. Es kam immer öfter zu Straßenrazzien und ganze Menschenmassen
wurden zu Arbeitslagern abtransportiert. Wegen des Mangels an Lebensmitteln fuhr ich öfter mit dem Rad zu nahe
gelegenen Dörfern, um etwas zum Essen zu kaufen. Manchmal ist es mir gelungen, ein bisschen Milch oder Butter
mitzubringen. […]
107
DER BESATZUNGSALLTAG
108
JULIUSZ RYBARSKI
Jugend in der
Besatzungszeit
Vor dem Kriegsausbruch hat der Autor mit seinen Eltern in Krakau in der Vorstadt Nowa
Olsza gewohnt. Er besuchte die St. Nikolaus‐Grundschule Nr. 3. Er war Mitglied der
Polnischen Pfadfindervereinigung. Als der Krieg ausbrach, war er 16 Jahre alt.
JULIUSZ RYBARSKI
[…] Am 6. September 1939, um 6 Uhr
morgens, marschierten in Krakau die
Wehrmachts‐ und SS‐Truppen ein und führten
eine neue Besatzungsordnung und Verwaltung
ein.
Meine Schule wurde von Soldaten besetzt
und in eine Kaserne umgewandelt, auch das Hl.
Jacek‐Gymnasium, wo ich meine Ausbildung
fortsetzen sollte, wurde geschlossen. Ich habe
die Möglichkeit gewählt, die siebte Klasse in der
Schule im Ersatzgebäude eines der ehemaligen
wissenschaftlichen Institute in der Lubicz‐
Straße zu absolvieren. Die Besatzer vertraten
die Ansicht, dass es für Polen ausreichend sei,
wenn sie lesen und bis Tausend rechnen
können. Die höchste Bildungsstufe sollte die
Berufsschule sein.
[…]Am Wawel‐Turm wurde die Hitler‐Fahne
aufgehängt (Sitz des Generalgouverneurs Hans
Frank, Krakauer Burg). Der Marktplatz wurde in
Adolf Hitler Platz umbenannt, eine Reihe von
Parks, Restaurants, Geschäften, teilweise auch
Straßenbahnen und viele andere Orte wurden
mit der Klausel „Nur Für Deutsche“ versehen.
In die Akademie für Bergbau und Hüttenwesen
zog „die Regierung“ des Generalgouver‐
nements ein.
Nachdem die deutschen Besatzungstruppen
Verordnung des Generalgouverneurs Hans Frank vom
in Krakau einmarschiert waren, fingen
24.04.1940 über die Pflicht, sich für die Landarbeit
in Deutschland zur Verfügung zu stellen (ADM)
eintönige, graue Tage an. Auf den Straßen
fuhren bewaffnete Patrouillen hin und her. Es erschienen auch Bekanntmachungen, die verordneten, alle Waffen und
Radioempfänger abzugeben und die eine Polizeistunde von 18:30 Uhr bis 5:00 Uhr morgens festsetzten. Hinter den
Wehrmachtstruppen rückten in Krakau die Einsatzgruppen der SS und des SD, sowie Gestapo und andere
Uniformdienste der Besatzer ein.
Das Tannenberg‐Denkmal auf dem Matejko Platz und das Adam Mickiewicz‐Denkmal am Marktplatz wurden
abgerissen. Es wurde die Todesstrafe für Handlungen gegen das Deutsche Reich eingeführt. Professoren der
Jagiellonen‐Universität wurden hinterlistig verhaftet. In Krzeszowice bei Krakau wurden erste Massenhinrichtungen
durchgeführt. Fünfzehn Häftlinge aus dem Hl. Michael‐Gefängnis wurden erschossen. Zu einem späteren Zeitpunkt
wurden an diesem Hinrichtungsort etwa zweitausend Häftlinge hingerichtet.
Am Ende der siebten Klasse der Grundschule bekam ich einen wunderbaren Lehrer und Betreuer ‐ Herrn Professor
Mikuła. Es gelang ihm, bei uns ein weites Kulturinteresse zu wecken (Musik, Kunst, Malerei, Dichtung). Zugleich übte
er einen sehr positiven Einfluss auf die Bildung unserer patriotischen Einstellung aus. […]
In den ersten Monaten der Besatzung fehlte es ständig an Lebensmitteln und insbesondere an Brot. Die
Versorgung unseres Hauses mit Brot war meine Aufgabe. Jede Nacht stand ich Schlange vor der nah gelegenen
Bäckerei und wartete auf das erste Backen (meistens das einzige am ganzen Tag).
Später fuhr ich mit dem Rad nach Słomniki, ein kleines Städtchen (etwa 30 Kilometer von Krakau entfernt), um von
dort Brot zu holen. Eben dort konnte man Backwaren noch uneingeschränkt und ohne Marken kaufen. Wir fuhren
zu mehreren um drei Uhr morgens von zu Hause los, ohne die Polizeistunde zu beachten. Dann kehrten wir mit
einigen Brotlaiben für Zuhause und Bekannte zurück.
Nur dank des außergewöhnlichen Talents meiner Mutter im Haushalt, gelang es ihr irgendwie, unsere
bescheidenen und zwangsweise beschränkten Alltagsbedürfnisse zu befriedigen. […]
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DER BESATZUNGSALLTAG
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IRENA ROWIŃSKA
1930er-Generation
Die Autorin wurde in Warschau geboren und wohnte dort auch. Zu Kriegsbeginn war sie
acht Jahre alt.
IRENA ROWIŃSKA
[…] Es kam der strenge Winter 1940. Der Frost erreichte öfters minus 30 Grad, zu Hause war es sehr kalt, es gab
kein Heizmaterial (in vielen Wohnungen gab es keinen Herd), es fehlte an Holz, Kohle und Koks. Rohre platzten auf,
aus den Wasserhähnen lief kein Wasser, Toiletten waren außer Betrieb.
Es fehlte an Essen, das man nur auf dem „Schwarzmarkt“ kaufen konnte, doch wir konnten uns solche Einkäufe
nicht leisten, die Preise waren zu hoch. Zum Frühstück gab es Schwarzbrot, meistens „leer“ und Kaffee ohne Zucker,
zum Mittagessen Suppe ohne Gemüseeinlage, die es einfach nicht gab, zum Abendbrot wieder Kaffee und Brot. Jede
Mahlzeit fing mit Weinen an, denn ich wollte diese Abscheulichkeiten nicht essen und meistens blieb ich hungrig. Ich
bekam leider nichts Besseres, deshalb war mir nicht nur kalt, sondern ich war dazu noch hungrig und es war
irgendwie schrecklich. Jeden Tag fuhren Leichenwagen mit Verstorbenen die Puławska Straße entlang, zum Friedhof.
Es gab nicht viele Trauernde, dagegen immer mehr Verstorbene. Nur ab und zu erschienen hinter einem
Leichenwagen Klageweiber – ein Zeichen dafür, dass der Verstorbene ein Jude gewesen war.
Im Winter 1940, als der Frost die Temperatur minus 35 Grad erreichte, wurde der Unterricht in den Schulen
unterbrochen. Lebensmittelvorräte wurden aufgebraucht, es fehlte sogar an Brot und Kartoffeln. Die Nachrichten,
die aus der Stadt kamen, wurden immer erschreckender. Aufgrund von Unterernährung und Hunger starben die
ärmsten Einwohner Warschaus massenweise an Tuberkulose.
In „unserem Haus“ war es auch traurig, obwohl sich die Bewohner bemühten, einander zu helfen und miteinander
zu teilen, was man hatte. Da wir einen Kachelherd und noch ein bisschen Koks hatten, hat man sich bei uns getroffen.
Um Feuer zu machen, nutzten wir alte, hölzerne Gegenstände – Stühle, Schränke, Hocker usw. Abends wurden lange
Gespräche geführt, man tauschte Neuigkeiten aus, es wurde über ein baldiges Kriegsende spekuliert.
In dieser Zeit haben die Besatzer verschiedene Arbeitswerkstätten in Betrieb genommen, in denen sich die
Herstellung hauptsächlich auf Bedürfnisse der Armee konzentrierte. Es gelang meinem Vater, eine Arbeitsstelle
unter deutscher Geschäftsführung bei der Produktion von Woll‐ und Bettdecken in Warschau Powązki zu kriegen. Die
Arbeit war schlecht bezahlt und weit weg von Zuhause, man kriegte aber einen Ausweis, der teilweise vor Verhaftung
schützte.
Endlich kam der Frühling 1940. Unsere Freunde jüdischer Abstammung bekamen Davidsterne, liefen am Rande des
Bürgersteigs und sprachen immer öfter über die Verlegung ins Ghetto.
Weitere Bewohner des Hauses in der Puławska Straße verließen ihre bisherigen Wohnungen, dabei ließen sie oft
einen Teil ihres Hab und Guts zurück, weil es auf dem Fuhrwerk keinen Platz mehr dafür gab. Sie zogen ins
„Unbekannte“. Wir nahmen mit großem Bedauern sehr herzlich Abschied von ihnen und wünschten ihnen alles Gute.
Jahrelang lebten wir zusammen, hatten einander sehr gern und konnten nicht begreifen, warum ihnen das passierte
und verstanden nicht, was diese Leute falsch gemacht haben sollen. Niemand überlebte, wir haben nach dem Krieg
keinen von ihnen je wieder getroffen, alle unsere jüdischen Bekannten sind im Ghetto ums Leben gekommen.
Traurig. Verlassene Wohnungen wurden von anderen Bewohnern besetzt, die meistens aus anderen Häusern
ausgesiedelt wurden oder von deutscher Herkunft waren, weswegen man ihnen schwer Vertrauen schenken konnte.
Immer öfter erschienen in dem Gebäude neue Mieter in deutschen Uniformen. Samt ihren Familien bezogen sie die
teuersten Mehrzimmerwohnungen. Es gab auch „zivile“ Angestellte deutscher Ämter, meistens von der Gestapo. Die
alten Bewohner wussten, wer sie waren und waren auf der Hut vor ihnen. Es kam aber zu Situationen, die schwer
vorauszusehen waren. Eines Abends saßen wir in unserer Wohnung am Herdfeuer, die Herdringe lagen offen und wir
lasen die Untergrundpresse. Plötzlich hörten wir, dass jemand die Tür mit einem Schlüssel aufmachte. Wir schafften
es gerade noch, die Zeitschrift ins Feuer zu werfen. In unsere Wohnung trat eine Gestapo‐Mitarbeiterin ein, die im
selben Flur wohnte und teilte uns lächelnd mit, dass sie die Wohnungstür geöffnet hatte, weil ihr Schlüssel zu unserer
Tür passt. Niemand wusste, wie viele Male sie früher schon unsere Sachen durchwühlt hatte und es war sehr
merkwürdig, dass sie keine verbotenen Schriften gefunden hatte.[…] Währenddessen wurde das Leben für alle
immer schwieriger. Eigentlich fehlte es an allem.
Die begehrtesten Waren (von Lebensmitteln über Kleidung bis zu Gold und Brillanten) konnte man auf dem
„Schwarzmarkt“ kaufen. Meine Eltern hatten aber nicht genug Geld, um sich solche Ausgaben leisten zu können und
so litten wir Not.
Mein Vater fuhr zwar mehrmals aufs Land, um dort Einkäufe zu machen, aber er hatte kein Glück und verlor alle
Einkäufe bei Durchsuchungen im Zug oder am Bahnhof, und damit auch das ausgegebene Geld. Unser Speiseplan
wurde jedoch um Zwiebel und Rapsöl reicher. Das war eine sehr vorzügliche Speise – klein geschnittene Zwiebel, mit
Öl begossen und das schwarze, unausgebackene Brot, das man für seine Nahrungsmarken bekam. Dazu trank man
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DER BESATZUNGSALLTAG
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etwas, was Tee genannt wurde, aber eigentlich wusste niemand, was das war, mit Saccharin gesüßt. Das war
abscheulich und ich weinte immer dabei. Der Speiseplan wurde abwechslungsreicher, nachdem „Marken für alles“
eingeführt wurden. Da tauchte auf einmal eine abscheuliche Marmelade auf, die uns in festgelegten Mengen in
Gefäße gefüllt wurde. Nach einigen Tagen war es mehr Marmelade als ursprünglich, sie gor fortwährend und
ununterbrochen hörte man sie im Topf gluckern. Noch heute erinnere ich mich daran. Ein anderer „Leckerbissen“
war der künstliche Honig, der genauso scheußlich wie die Marmelade war. Dazu gehörte noch Schwarzbrot, das
hervorragend Lehm nachahmte, stinkende Margarine, eine „Seife“, die nie schäumte, und manchmal andere
zusätzliche „Delikatessen“ je nach Verteiler der Besatzungsbehörden.
In der Willowa‐Straße, in einer Kellerwohnung, neben dem Feldgendarmerie‐Amt, das ständig von zwei in Grätsche
stehenden Soldaten bewacht wurde, befand sich ein Geschäft. Das dreistöckige Gebäude wurde zusätzlich durch
Sandsäcke geschützte, die bis auf Höhe des ersten Stocks geschichtet waren. Von hier fuhren Autos zu Razzien los.
Die Autos waren voll mit Gendarmen, die auf Bänken auf beiden Seiten des Wagens saßen. Oft waren hier Schüsse
im Hof zu hören. Dem Geschäft gegenüber, in der Willowa‐Straße 8/10, stand ein mehrstöckiges Gebäude, das von
der Gestapo für Privatwohnungen besetzt und auch sorgfältig bewacht wurde. Überall wimmelte es von grünen und
schwarzen Uniformen, die bei den Polen riesige Angst erzeugten. Wer nicht unbedingt musste, betrat die kleine
Willowa‐Straße nicht, die fast vollständig von Besatzern mit hohem Rang besetzt war. Deswegen traf man im
Geschäft vor allem Kinder an, die für Marken eingekauft haben. Meine Mutter war nie in diesem Geschäft,
erschrocken schaute sie nicht mal in diese Richtung. Sogar nach dem Krieg verspürten wir Angst und Widerwillen, in
die Willowa‐Straße zu gehen. Eine ähnliche Rolle spielte damals die zur Willowa‐Straße parallele, kurze Dworkowa‐
Straße. Dort befand sich nämlich das Gendarmerie‐Amt, alle Häuser wurden komplett von Deutschen besetzt. Auch
die Puławska‐Straße war auf der Strecke von der Rakowiecka‐Straße bis zur Madalinskiego‐Straße das
ausschließliche Eigentum der uniformierten deutschen Würdenträger, denn die Häuser waren hier modern und kurz
vor dem Krieg gebaut.
Ich erinnere mich noch daran, dass eines Tages ein Offizier vom hohen Rang aus dem „Wedel“‐Haus in der
Madalinskiego‐Straße gekommen ist. Er geriet unter die heranfahrende Straßenbahn und wurde tödlich verletzt. Der
Fahrer wurde aus der Straßenbahn gezerrt. Der Unglücksselige nahm schon Abschied von seinem Leben, als die
durchgeführte Revision nachwies, dass der Deutsche Selbstmord begangen hatte. Auf einem Zettel, der in seiner
Uniform gefunden wurde, stand geschrieben, dass seine ganze Familie bei einem Bombenanschlag in Berlin ums
Leben gekommen war. Das hat den Straßenbahnfahrer vor dem Tode bewahrt. Dieses Ereignis habe ich vom Balkon
aus gesehen, die Details erfuhren wir aus der Untergrundpresse.
Es wurde immer grausamer und trauriger. Die frühe Polizeistunde machte es unmöglich das Haus zu verlassen, also
las ich eine Menge verschiedener Bücher, die manchmal für ein zwölfjähriges Kind zu schwierig waren. Damals
wurden Kinder jedoch früh erwachsen und haben viel verstanden. Zufällig sah ich etwas, was sich am frühen
Nachmittag in unserem Haus ereignete. Gegen 14.00 Uhr kehrte ein Deutscher von der Arbeit heim, der hier wohnte
und der angeblich bei der Gestapo in der Szucha‐Allee arbeitete. Es folgten ihm zwei Jungs, die ein bisschen älter als
ich waren. Ich habe sie früher mehrmals gesehen, wie sie durch die Höfe zu dem sogenannten letzten Treppenhaus
liefen. An diesem Tag verließen sie den Hof dicht hintereinander mit ziemlich schnellen Schritten. Später stellte sich
heraus, dass im Aufzug ein toter Gestapo‐Offizier lag, der mit einem Pfadfindermesser ermordet wurde. Das, was ich
gesehen hatte, erzählte ich nur meinen Eltern. Angeblich ist es den Jungen gelungen zu fliehen [...]
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Deutsches Propagandaplakat „Auf zur Landarbeit nach Deutschland! Melde Dich sofort bei Deinem
Dorfvorsteher!”, Ort und Datum unbekannt (MZwZ)
Polen vor ihrer Registrierung durch das Arbeitsamt in Lodz vor dessen Umbenennung in Litzmannstadt im April
1940 (WBBH)
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Fotos stammen aus den Beständen der Stiftung „Polnisch-Deutsche Aussöhnung“
und folgenden Institutionen:
– Institut für Nationales Gedenken – Instytut Pamięci Narodowej (IPN)
– Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau – Państwowe Muzeum Auschwitz-Birkenau (PMA-B)
– Landesmuseum in Zamość – Muzeum Zamojskie w Zamościu (MZwZ)
– Institut für die Geschichte der Bauernbewegung – Zakład Historii Polskiego Ruchu Ludowego (AZHRL)
– Vereinigung der durch das NS-Regime Germanisierten Polnischen Kinder in Łódź – Zrzeszenie Dzieci
Polskich Germanizowanych przez Reżim Hitlerowski (ZDPG)
– Jüdisches Historisches Institut Warschau – Żydowski Instytut Historyczny (ŻIH)
– Bundesarchiv Koblenz (BA Koblenz)
– Staatsarchiv der Hauptstadt Warschau – Archiwum Państwowe m.st. Warszawy (AP Warszawa)
– Archiv der Neuen Akten – Archiwum Akt Nowych (AAN)
Bildungsmaterialien der Stiftung Polnisch-Deutsche Aussöhnung
w w w. f p n p. p l / e d u k a c j a / p a k i e t _ e d u k a c y j ny
ISBN: 987‐83‐63736‐04‐0