Funkerausbildung an der Funkschule Königs Wusterhausen

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Funkerausbildung an der Funkschule Königs Wusterhausen
Autor: Wolfgang Buddrus
www.ruegen-radio.org
Funkerausbildung
an der Funkschule Königs Wusterhausen
Die
folgende
Darstellung
ist
keine
Dokumentation
der
Funkerausbildung in Königs Wusterhausen und erst recht keine
Geschichte der Funkschule, in der die Funkerausbildung immer
nur ein Bereich am Rande war. Diese Themen verdienen eine
umfassende kritische Würdigung durch kompetente Autoren –
darauf warten wir noch.
Hier handelt es sich vielmehr um die Niederschrift meiner
Erinnerungen an meine eigene Funker-Ausbildung in Königs
Wusterhausen und an meine Tätigkeit als Funker bei der
Küstenfunkstelle Rügen Radio bis zu meiner Lehrtätigkeit wieder an
der Funkschule. Hinzugefügt habe ich einige Dokumente, darunter
Abbildungen, und belegbare sachliche Erläuterungen, die zu einem
besseren Verständnis der inzwischen schon historischen Umstände
beitragen können.
Berichtigungen und Ergänzungen von allen Seiten sind sehr
willkommen und sollten an diese Adresse geschickt werden:
[email protected]
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Königs Wusterhausen
Die Bildungseinrichtung unter den eindrucksvollen Sendemasten auf dem Funkerberg in
Königs Wusterhausen hatte im Verlauf ihrer Geschichte von 1954 bis 1989 viele Namen;
einfach als „Funkschule“ ist sie auch nach ihrer Zerschlagung durch die Deutsche Telekom
im Zuge des Anschlusses der DDR an die BRD im Gedächtnis vieler Menschen geblieben.
Als Schüler der Funkerklasse 951 (1955-57) und Angehöriger des Lehrkörpers (1963-1998)
habe ich den größten Teil der Geschichte der Funkschule erlebt, und nun, im Jahre 2009,
will ich meine Erinnerungen aufschreiben.
Der Funkerberg, er erscheint noch heute unter diesem Namen auf Karten am nördlichen
Stadtrand von Königs Wusterhausen, ist ein historisch bedeutsames Gelände. Gleich nach
dem Ende des 1. Weltkrieges übernahm die Deutsche Reichspost das übriggebliebene Gerät
der dortigen militärischen Funkstation und begann mit Versuchen zur drahtlosen
Übertragung von Nachrichten. Die Übertragung eines Instrumentalkonzertes aus einem
improvisierten Studio in einem Wohnzimmer eines Hauses auf dem Funkerberg im
Dezember 1920 gilt als die Geburtsstunde des Rundfunks in Deutschland. Über Jahrzehnte
war dann „Königs Wusterhausen“ auf den Skalen der Rundfunkempfänger zu lesen. Und
Königs
Wusterhausen
war
jahrzehntelang
das
Synonym
für
„Deutschlandsender“.
Zahlreiche schlanke Gittermasten mit Höhen bis 200 Meter wurden als Antennenträger für
die
Rundfunksendungen
errichtet.
Als
ich
als
Funkschüler
1955
nach
Königs
Wusterhausen kam, standen noch elf dieser imposanten Masten, wir fanden aber auch
mehrere Beton fundamente früherer Masten gleich hinter unserem Wohnheim. Und natürlich fanden wir es hinter unseren Fenstern unge heuer spannend, bei Gewitte r die
springenden Funken auf den Pardunen zu beobachten.
Uns Funkschülern wurde auch
bald erklärt, daß ein Funkmast
Pardunen, Abspannseile, hat,
um ihn auf seinem kleinen Fuß
auf dem Betonfundament zu
halten; ein Funk turm da gegen
steht frei und ve rjüngt sich
meist von einem großen Funda -
ment aus nach oben. Der König
der Antennenträger, der dann
auch in das Stadtwappen kam,
wurde mit 243 Metern Höhe
der
dann „Dicker Emil“ oder wegen
seines dreieckigen Querschnitts
auch „da s Dreibein“ nannten.
Der Seitenabstand am Funda -
ment soll 60 Meter betragen
haben. Seine Geschichte aufzu-
schreiben würde sich sicher
lohnen. Dieser 1925 erbaute
Antennenturm,
den
wir
Turm stürzte bei einem Sturm im November 1972 völlig überraschend um. Durch das
Fenster des Klassenraums, in dem ich an diesem Tag unterrichtete, hatte ich den Turm
immer im Blick. Als ich am Ende der Stunde auf das Toben des Sturms durchs Fenster sah,
fand ich, daß sich das gewöhnliche Bild irgendwie verändert hatte, und erst im Lehrerzimmer erfuhr ich dann von Kollegen, daß der Dicke Emil umgestürzt war. Wir waren alle sehr
betroffen. Die zerrissenen und verdrehten Stahlträger sehe ich noch ganz deutlich bis zu
dem Drahtzaun am Ende des Funkschulgeländes liegen. Schade, daß ich mir damals nicht
wenigstens eine der abge sprungenen Nieten als Andenken mitgenommen habe. Von der
„Wiege des Rundfunks in Deutschland“ auf dem Funkerberg in Königs Wusterhausen
kommen seit 1995 keine Rundfunk wellen mehr. Aber es gab glücklicherweise einige FunkEnthusiasten, darunter der langjährige Wohnheimleiter der Funk schule Fritz Menz, die
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wesentliche Teile der technischen Anlagen be wahrt und mittlerweile in einem Funkmuseum
der Öffentlichkeit zugänglich gemacht haben (www.funkerberg.de ).
Die Funkschule
wurde 1953, also vier Jahre nach Gründung der DDR, als Fachschule für
Funkwesen der Deutschen Post eingeweiht. Es wird einen „gelernten DDR-Bürger“
sicher nicht überraschen, daß die ersten Studenten noch kräftig an dem Komplex
mitgebaut haben. Auch als die erste Funkerklasse 1954 dort ankam, waren noch
nicht alle Gebäude fertig, und vieles war noch provisorisch. Als ich dort im
September 1955 einzog, standen alle Gebäude so wie sie heute noch stehen, und
hieß sie schon Fachschule für Fernmelde- und Funkwesen (Berlin), Abt.
Funkwesen. Die Abteilung Fernmeldewesen bildete Ingenieure für drahtgebundenes
Fernmeldewesen aus und hatte ihren Sitz in der Berliner Scharnhorststraße.
Die Funkschule, wie sie wohl die meisten Absolventen in Erinnerung haben werden. Hier ist es schon
der Zustand von 1974: Der Weg vor dem Lehrtrakt ist mit farbigen Platten belegt. Die schöne
Sonnenuhr am Giebel des Speisesaals gibt es immer noch.
Die ersten Studenten
waren drei Klassen Ingenieure für Funksende- und Empfangsanlagen, von
denen eine ganze Reihe nach Abschluß ihres dreijährigen Studiums zu den
Pionieren des Rundfunks und Fernsehens der DDR gehörten. Und dann kamen ab
1954 die jungen Spunde, die Funkschüler, dazu. Es ist bemerkenswert, denke ich,
daß die Mädels in den ersten Jahren in beiden Studienformen etwa 30 Prozent
ausmachten. Bei den Funkern betrug die Ausbildungszeit zwei Jahre, es wurde
aber jedes Jahr eine neue Klasse mit etwa 25 Schülern aufgenommen, so daß es
fast immer zwei Funkerklassen gleichzeitig an der Schule gab. Als meine Klasse
dort begann, hatten wir noch ein gemeinsames Jahr mit der allerersten regulären
Funkerklasse von 1954. In dieser Klasse waren u.a. Joachim Pott, späterer
Wachleiter bei Rügen Radio, Gerhard Stoye, Autor des Lehrheftes „Vorschriften für
den Funkdienst“ (1974), und Frieder Ullmann, später langjähriger Ausbilder für den
praktischen Funkdienst an der Funkschule. Später, als der Bedarf an Funkern
enorm stieg, wurden pro Jahr manchmal sogar zwei Klassen aufgenommen.
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Der Komplex auf dem Funkerberg
mit der Postanschrift Berliner Straße 16b umfaßte die Lehrtrakte, das
zweigeschossige Wohnheim, den Speiseraum mit Bühne und angeschlossener
Küche und in einem besonderen Flügel zwei Lehrerwohnungen. Im Wohnheim –
unten die Jungs, oben die Mädels – waren schätzungsweise 120 Studenten untergebracht. In einem Zimmer standen in der Regel drei Betten mit je einem kleinen
Bücherbord an der Wand, Schränken sowie einem (viel zu kleinen) Tisch und drei
Stühlen. Waschraum, Duschen und Toiletten für alle Bewohner einer Etage
befanden sich etwa in der Mitte des langen Mittelflures. Für die damaligen
Verhältnisse (Vergeßt nicht: Das war vor über 50 Jahren und nur acht Jahre nach
dem katastrophalen Hitlerkrieg.) war das eine moderne, fast luxuriöse Einrichtung,
wenn auch nicht immer alles einwandfrei funktionierte. Ich kann mich zum Beispiel
an unangenehme Ausfälle oder eine ungenügende Leistung der Heizanlage
erinnern. Und um allen Vermutungen von „gelernten BRD-Bürgern“ vorzubeugen:
Die Funkschule unterstand dem Ministerium für Post- und Fernmeldewesen der
DDR, kurzzeitig auch mal dem Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen, wir
waren also immer eine zivile Einrichtung.
Der Wohnheim-Trakt hatte außer den beiden Wohnetagen noch ein Kellergeschoß,
das für die Funker von einiger Bedeutung war. Die Räume dort lagen zur Hälfte
unter der Erde, die kleinen Fenster hoch oben ließen aber immerhin Tageslicht ein.
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Einige der Räume wurden zeitweilig sogar als Wohnräume genutzt. Überwiegend
befanden sich hier jedoch technische Räume und Lager, auch ein Sportraum und
sogar eine gut eingerichtete Dunkelkammer, in der ich im Fotozirkel bei Gustav
Heesch das „Bilder machen“ lernte und später dann etliche Nächte mit meinen
Kleinbildfilmen verbrachte. Hier unten war auch Frau Schurmanns Reich, und von
ihr war jeder Funker abhängig, denn sie gab Kopfhörer und Tasten aus und
reparierte diese und auch die einfacheren Geräte im Funksaal. Horst Behlert war
offiziell zwar Hausmeister, in der Praxis aber „Mädchen für alles“, auch Tischler,
Gärtner, Transportarbeiter und Hilfsheizer.
Hier unten befand sich auch die Heizungsanlage. Der Heizkessel wurde meist mit
Briketts, manchmal auch mit Braunkohle geheizt. Diese Brennstoffe wurden von
Lkw vor die Luken gekippt und mußten dann nach und nach in den Heizungskeller
geschafft werden. Mit dieser Arbeit waren die häufig wechselnden Heizer
überfordert, und deshalb sicherlich war der Direktor (oder Abteilungsleiter?)
Heidenreich auf die Idee gekommen, uns Funker dafür einzuspannen. Und dazu
wurde dieser Kohletransport per Schubkarre von dem großen gelagerten Berg zum
Heizungskeller als „erzieherische Maßnahme“ deklariert. Das geschah so, daß wir
bei jedem kleinen Vergehen (häufig handelte es sich um einen Verstoß gegen das
Verbot, Geschirr aus dem Speisesaal mit auf das Zimmer zu nehmen) nach
Unterrichtsschluß auf dem Bett einen kleinen von der Chefsekretärin Frl. Gehrke
(später verehelichte Frau Ludwig) unterzeichneten Zettel vorfanden, mit dem der
jeweilige Schüler aufgefordert wurde, um … Uhr beim Direktor zu erscheinen. Unter
uns nannten wir das dann den „Fünf-Uhr-Tee beim Direktor“. Und von ihm wurden
wir dann kurz und drastisch zu einem Kohlentransport verdonnert. Da gab es
verschiedene Stufen, je nach Schwere des Vergehens, die Differenzierung bestand
in der Anzahl der zu transportierenden Kohlenkarren oder in der Zeit des Einsatzes.
Eine Stunde (oder 10 Schubkarren) bildeten die Basiseinheit und wurden von uns
dann sehr bald als die Einheit „1 Heidenreich“ bezeichnet.
Das Betreten des Heizungskellers war uns Funkern natürlich verboten. Aber mir
wurde von Beteiligten auch folgendes berichtet: Als der Rügen-Radio-Funker
Jaesky, ein großer, starker Kerl und ehemaliger Seefahrer, für einige Zeit die
funkpraktische Ausbildung an der Funkschule übernehmen mußte, kam es ab und
zu mal vor, daß er zusammen mit einigen Funkschülern bis nach dem „Zapfenstreich“ um 22 Uhr im Ort unten gezecht hatte. Dann soll er sich immer als Kumpel
gezeigt haben, indem er die verspäteten Funkschüler durch den Heizungskeller
(Eingang vom Kohlenhof aus) ins Wohnheim schleuste.
WICHTIG: Verpflegung und Ausgang
Aber nun muß ich auch die Dinge erwähnen, die für einen Neuen an der
Funkschule von unmittelbarer Bedeutung waren: Die Verpflegung und der
Ausgang.
Ja, der Ausgang für uns noch minderjährige Funkschüler war klar geregelt. An der
Pforte beim Haupteingang hatte man sich ab- und wieder anzumelden, wenn man
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das Funkschulgelände verlassen wollte, und, wie schon erwähnt, um 22 Uhr hatte
man wieder im Wohnheim zu sein. Das Ausgangsbuch wurde streng geführt.
Tagsüber saß in der Pförtnerloge Frau Estler, die die Essenmarken verkaufte und
die Telefonvermittlung übernahm. Nach ihrem Dienstschluß am Nachmittag wurde
der Pförtnerdienst von ziemlich häufig wechselnden männlichen „Nachtpförtnern“
versehen. Als Frau Estler aus Altersgründen ausschied, übernahm diesen wichtigen
Posten Dieter Rohde, der Sohn einer langjährigen, älteren Mitarbeiterin der Verwaltung, der allgemein nur „der Käptn“ genannt wurde.
Gegessen wurde (manchmal in zwei „Schichten“) im Speisesaal, und zwar morgens,
mittags und abends, wir waren also alle in Vollverpflegung, und die Mitnahme von
Essen und Geschirr auf die Zimmer im Wohnheim war strengstens untersagt. Mein
Eindruck war, daß die nicht so richtig be liebten Frauen vom Reinigungspersonal
gerne Teller oder Tassen auf den Zimmern fanden; sie ließen dann alles stehen und
liegen und liefen zur Schulleitung, um dort Meldung zu machen. Um so
freundlicher und nachsichtiger waren die meisten Küchenfrauen. In den
Anfangsjahren brachten sie das Essen mit Servierwagen an die Vierertische. Einen
einzigen langen Tisch gab es, der stand hinten rechts, mit der Stirnseite vor der Tür
zur Bühne, und das war der Lehrertisch. Später gab es den Tresen vor der Küche
als Essenausgabe, wo sich dann lange Schlangen (manchmal quer durch den
ganzen Speisesaal) von Hungrigen bildeten, und daneben befand sich die Luke für
die Geschirr-Rückgabe.
Eine weitere wichtige Person war Frau Hanschke, die Küchenchefin, mit ihrem
Mini-Büro im Wintergarten, also dem Durchgang zwischen Klassenräumen und
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Speisesaal. Sie legte großen Wert auf Respekt vor ihrem Posten und kannte im
Gegensatz zu den Küchenfrauen keine Nachsicht, wenn mal einer keine
Essenmarke, aber trotzdem Hunger hatte oder wenn man leeres Geschirr vom
Zimmer zurück in den Speisesaal an ihrem Fenster vorbeischmuggeln wollte.
Die Rangordnung
Natürlich gab es auch eine bestimmte Hierarchie unter den Studenten der
Funkschule. Die Ingenieurstudenten waren eindeutig immer das bestimmende
Element an der Funkschule. Sie hatten zumeist schon eine abgeschlossene
Berufsausbildung und waren alle deutlich älter als wir Funker-Anwärter, sie
bildeten ganz klar die „Oberschicht“. Es hat sich mir aber auch eingeprägt, daß die
jeweils ältere Funkerklasse immer mit Respekt und ein bißchen Neid angesehen
wurde, und daß wir dann als die ältere Klasse unsere Nachfolger ziemlich
herablassend behandelten. Doch es gab auch Liebschaften „nach oben“ und „nach
unten“, da galten andere Kriterien. In unserem Alter von etwa 17 Jahren waren wir
Jungs noch ziemlich „grün“, während unsere gleichaltrigen Mädels sich
naturgemäß mehr für die in jeder Hinsicht erfahreneren Ingenieurstudenten und
manchmal auch für die Jungs aus der älteren Funkerklasse interessierten. An eine
Art Ausgleich erinnere ich mich immer noch gerne: Mein Mitschüler Jürgen Drude,
aus gutem Hause in Rostock stammend, war ein begeisterter Klavierspieler, und im
Speisesaal auf der Bühne stand ein ganz ordentlicher Flügel. Dort saßen wir
abends manchmal stundenlang; Jürgen spielte, ich sang, beide mit voller Inbrunst
Schlager wie „Ich küsse Ihre Hand, Madame, und denk, es wär’ Ihr Mund“ oder
„Man müßte Klavier spielen können, wer Klavier spielt, hat Glück bei den Frau’n“.
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Die beiden folgenden Fotos mit Schülern unserer Klasse 951 belegen das oben Gesagte ganz gut,
Beide Aufnahmen wurden auf einer Bank vor dem Lehrtrakt gemacht.
Die Mädels sind:
Brigitte Stangenberg (Biggi),Marie Bohner (Mambo),
B. Zotzmann(Teddy) und Helga Merseburger.
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Die Jungs sind:
Jürgen Drude (Drudi), Paul Linke (hieß wirklich so), Meinhard Willer (Rerik),
Rolf Hoffmann, Josef Fitz, Peter Behrens, Reinhard Schmidt.
Die Klassenbezeichnung
hört sich nur kompliziert an, ist aber ganz einfach: Die 9 stand für „Funker“
(Die Ingenieure für Funksendeanlagen hatten die 6, die Techniker-Klassen die 7,
die Ton-Ingenieure die 8, die Ziffern 1 bis 5 waren den verschiedenen Fachrichtungen an der Fernmeldeschule Berlin vorbehalten.) Die 5 stand für die letzte
Ziffer des Jahres des Ausbildungsbe ginns (bei mir also für 1955), die 1 für die
Numerierung der Klassen in einem Jahrgang. Unpraktisch wurde dieses System
dann nach einem Jahrzehnt. Ob die Erfinder dieser Numerierung an eine längere
Ausbildung als zehn Jahre nicht geglaubt haben? Es wurden schließlich fast vierzig
Jahre, in denen Funker ausgebildet wurden. Und die Entwicklung ging von einem
quasi Fachschulabschluß bis zu einer kurzen speziellen Funkerausbildung von
Facharbeitern für Funksendetechnik und schließlich von Facharbeitern für
Fernschreibtechnik.
Unsere Unterrichtsfächer
Wir kamen mit einem Mittelschulabschluß (also Abschluß der 10. Klasse) an die
Funkschule, und der vollgepackte Lehrplan dort hatte in den Anfangsjahren
durchaus Fachschulniveau. Diese fundierte Ausbildung erleichterte mir später die
Aufnahme meines Studiums an der Universität Rostock. In meiner Klasse wurden
die folgenden Fächer unterrichtet:
Praktischer Funkbetrieb mit den Disziplinen Hören (Hand und Maschine), Geben,
Rekorderstreifen lesen, Lochstreifen Stanzen. (Lehrer: Martin Beiersdorff)
Betriebsvorschriften. (Lehrer: Herr Scheidweiler)
Betriebsökonomie. (Lehrer: Willi Vehlow/Herr Scheidweiler)
Funkgeographie. (Lehrer: Martin Beiersdorff)
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Elektrotechnik, dazu ein Labor-Praktikum. (Lehrer: Horst Löbig, Labor: Erhard
Georgi)
Funktechnik. (Lehrer: Gustav Heesch)
Mathematik. (Lehrer: Peter Schmidt)
Deutsch. (Lehrer: Erich Brendel)
Russisch. (Lehrer: Herr Lieson)
Englisch. (Lehrer: Frau Neuffer)
Französisch. (Lehrer: Frau Neuffer/Herr Scheidweiler)
Gesellschaftswissenschaften. (Lehrer: Herr Lang/Otto Heidelbach)
Sport. (Lehrer: Horst Pyrtek)
Martin Beiersdorff
(hier in „Zivil“)
und seine Frau
bei der Abschlußfeier der
allerersten Funkerklasse
im Jahre 1956.
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Martin Beiersdorff war 1955 wohl fast 60 Jahre alt und eine Funker-Legende. Er
war lange in Spanien (oder auf der deutschen Relaisstation der Funkverbindung
nach Südamerika auf den Kanarischen Inseln?) als Funker tätig gewesen und
erzählte aus dieser Zeit einige Storys, denen wir jungen Spunde begierig lauschten.
Zum Beispiel schilderte er uns die Gefahren, die einem jungen Mann drohen, wenn
er eine unverheiratete spanische Schöne ein wenig länger ansah. Das gelte dort
nämlich praktisch als Heiratsversprechen, und man müsse sich darauf gefaßt
machen, daß die Eltern des Mädchens umgehend bei einem erschienen, um die
Details für die Hochzeit zu besprechen. In allen Belangen des Funkverkehrs war er
wirklich ein Fuchs, mit allen Wassern gewaschen. Als ich dann ab 1963 praktisch
sein Kollege wurde, lernte ich ihn als sehr toleranten Menschen mit einem
besonderen bissig-humorvollen Wesen kennen. Über sein Privatleben wußte aber
wohl niemand etwas mehr. Mehrere Jahre wurde er von der Schulleitung immer
neu überredet, „noch dieses eine Jahr“ den Unterricht im Praktischen Funkdienst
weiterzuführen, weil kein Ersatz für ihn da war. Dabei war er jeden Tag wohl drei
Stunden unterwegs, er wohnte in Schöneiche bei Rüdersdorf und hatte ungünstige
Verkehrsverbindungen.
Der weiße Kittel
Im Zusammenhang mit den Lehrern der Anfangszeit ist mir noch eine Besonderheit
eingefallen, als ich ein Foto von Martin Beiersdorff im Funksaal sah, das mir
Gerhard Stoye freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat. Profi Beiersdorff hat
dort einen weißen Kittel an! Bis weit in die sechziger Jahre war es an der
Funkschule üblich, daß die Lehrer der natur-wissenschaftlichen und technischen
Fächer einen weißen Kittel im Unterricht trugen. Die Kittel wurden von der Schule
gestellt, die Lehrer zogen ihn im Lehrerzimmer vor Unterrichtsbeginn über ihre
„Zivilkleidung“. Ursprünglich war dieser weiße Kittel wohl als eine Art
Arbeitsschutzkleidung (technische Versuche und Kreidestaub) gedacht, doch später
war er eindeutig ein „Rangabzeichen“ der Lehrkräfte der technischen Fächer. Profi
Beiersdorff und später Frieder Ullmann, Physiklehrer „Papa“ Kluge und Herbert
Lange, aber auch die Mathelehrer Helmut Janke und Hanna Hein bestanden auf
ihrem weißen Kittel. Merkwürdigerweise sehe ich in meiner Erinnerung aber auch
Willi Vehlow in einem weißen Kittel. Nie hätte sich ein Lehrer der
gesellschaftswissenschaftlichen Fächer trauen dürfen, auch in einem weißen Kittel
zu erscheinen. Es war wohl Otto Heidelbach, der einmal versucht hat, für diese
einen blauen Kittel einzuführen, aber der hat sich nicht durchgesetzt. Ich kann mir
für mich auch nicht vorstellen, im Klassenraum in einem Kittel zu erscheinen. Es
gab später für einige Jahre die dienstliche Vorschrift, im Unterricht die PostUniform zu tragen, das war schlimm genug, und es hat erheblichen Nach-Drucks
„von oben“ bedurft, um diese Anweisung bei den Lehrkräften der Funkschule
durchzusetzen.
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Frieder Ullmann im weißen Lehrer-Kittel im Funksaal, 1967.
Rekorderstreifenlesen für alle!
Bei der Aufzählung der Fächer habe ich vorhin auch das „Rekorderstreifenlesen“
erwähnt. Die jüngeren ehemaligen Funker, also die, die in diesen Jahren in Rente
gehen, werden vermutlich gar nicht wissen, was das Fach Rekorderstreifen lesen,
kurz „Rekorder“, beinhaltete. Dazu muß man erst einmal wissen, daß die Funker
an der Funkschule von Anfang an für drei „Bedarfsträger“ ausgebildet wurden,
nämlich die Küstenfunkstelle Rügen Radio, das Haupttelegraphenamt (HTA) Berlin
und die Funkempfangsstelle Beelitz, später auch den Funkkontroll- und Meßdienst
(Radiocon/ZFK). An diesen drei Stellen gab es für einen Funker ganz
unterschiedliche Aufgaben. Zur Zeit meiner Ausbildung sah das aus der Sicht der
Funkschüler so aus:
Funkempfangsstelle Beelitz
In Beelitz mußt du bloß ein bißchen hören können, um in einer Sendung ein
Rufzeichen zu erkennen, mit einer Taste kommst du da nie Berührung.
Haupttelegraphenamt Berlin
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Im HTA mußt du entweder die endlose Zahl der zu sendenden Telegramme stanzen
oder die eingegangenen Telegramme von einem endlosen Rekorderstreifen mit der
Maschine abschreiben, und das womöglich in einem Empfangssaal. (Daß die
Funkertätigkeit im HTA in Wirklichkeit nicht ganz so eintönig war, daß es dort z.B.
auch Funkfernschreiben und Bildfunk gab, daß man mit den Gegenfunkstellen
rund um den Globus auch mal per Taste Verbindung aufnehmen mußte, das
nahmen wir eingeschworenen Rüganer nicht zur Kenntnis.)
Küstenfunkstelle Rügen Radio
Wirkliche Funkerei gab es für uns nur in Glowe bei Rügen Radio, nämlich selbst
am Empfänger sitzen, die richtige Frequenz suchen und mit der Hand oder der
Schreibmaschine die verschiedensten Nachrichten aufnehmen (meist waren es
dann eben doch die Einheitstelegramme), mit der Taste in die ganze Welt funken,
Sprechfunk gab es da auch, wenn man Glück hatte, sogar Seenotverkehr. Und du
bist alleine, höchstens zu zweit in einem Betriebsraum. Und du bist an der See, das
ganze Jahr!
An der Funkschule mußten aber alle alles lernen, eben auch das Rekorderstreifenlesen, obwohl das nur im HTA gebraucht wurde. Die Begründung war
einfach: Das Großfunkzeugnis gilt für alle Stellen, wenn also ein Funker mit diesem
Zeugnis seinen Arbe itsplatz wechseln will, kann er das ohne weiteres tun. Bis heute
werden die ersten an der Funkschule ausgebildeten Funker sofort wissen, was
gemeint ist und grinsen, wenn jemand mit den Händen Schreibmaschine schreiben
mimt und dabei den Kopf immer weiter in eine Richtung neigt, bis schließlich der
ganze Oberkörper nach dieser Seite verdreht ist, während die Hände immer noch
verzweifelt die Tastatur bearbeiten. Ja, so war das, der Papierstreifen lief auf einer
Schiene in Augenhöhe an einem vorbei, während man die von einer Schreibnadel
aufgezeichneten Ausschläge im Rhythmus eines Morsetextes im Kopf in normale
Morsezeichen, diese wieder in Buchstaben, Zahlen und Zeichen übersetzen und
dann auch noch blind in die Maschine tippen mußte. Verrückt, bis auf wenige
Experten haßten wir alle diese Disziplin, und, verrückt, heute liebe ich diese
Recorderstreifen. Ich habe sie vor einigen Jahren sogar in einem LehrerWeiterbildungskurs in England einem sehr interessierten Publikum vorgestellt.
Klasse 951 im Funksaal.
Vorne: Marianne Piepkorn,
Josef Fitz.
Dahinter: Almut Schach.
Hinten: Wolfgang Buddrus.
Ganz hinten: Peter
Behrens?
Ganz gut zu sehen ist hier
die Schiene, auf der der
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Rekorderstreifen an uns vorbeilief.
Noch eine Besonderheit in der Funkerausbi ldung, wie sie zumindest bei Martin
Beiersdorff, praktiziert wurde, möchte ich hier erwähnen, weil sie bis auf den
heutigen Tag Spuren bei mir hinterlassen hat. Das war die besondere
Funkerhandschrift. Bei der Handaufnahme kam es ja weniger auf Schönheit,
sondern ausschließlich auf Lesbarkeit, auf Eindeutigkeit an. Der alte Funker-Hase
Beiersdorff hatte da mehrere eindrucksvolle Beispiele auf Lager, zu welchen bösen
Folgen ein Text führen kann, in dem ein, zwei Buchstaben falsch gelesen wurden,
weil sie vom aufnehmenden Funker in Eile eben nicht eindeutig niedergeschrieben
wurden. Die besonderen „Funkerbuchstaben“ waren meistens die Buchstaben der
alten deutschen Kurrent-Schrift.
In drei Etappen zum Ziel
Die Funkerausbildung bestand immer aus drei Lehrabschnitten, wenn sich auch
der Lehrplan im Laufe der Jahre immer mal änderte, nämlich:
Theoretische und funkpraktische Ausbildung I,
Betriebspraktikum (praktische Ausbildung am wahrscheinlich zukünftigen
Arbeitsplatz),
Theoretische und funkpraktische Ausbildung II mit Abschlußprüfung für das
Großfunkzeugnis II. Klasse.
Unser Betriebspraktikum im Sommer 1956 in Glowe
habe ich als ein richtiges Abenteuer in Erinnerung – wir waren 17, 18 Jahre
alt. Daß wir uns tatsächlich auf einem historisch interessanten, abenteuerlichen
Gelände bewegten, wurde mir erst viel später klar. Das begann schon mit unserer
Unterbringung in einer Baracke des Jugendwerkhofs auf dem Gelände des
sogenannten A-Lagers.
Die Barackenlager in Glowe
Die Barackenlager A, B und C in Glowe waren die übriggebliebenen Unterkünfte der etwa 5.000
Bauarbeiter, der Verwaltung und Versorgungseinrichtungen eines 1952 begonnenen, aber im
Rahmen des „Neuen Kurses“ im Juni 1953 wieder abgeblasenen großen Bauprojektes der DDR.
Bereits Preußen hatte 1855 an diesem Ort die Anlage eines Kriegshafens geplant, das nationalsozialistische Deutschland machte Ernst und begann 1938 mit den Arbeiten zum Kanaldurchstich
zwischen Ostsee und Bodden am östlichen Ortsrand von Glowe. Doch auch jetzt wurden die Arbeiten bei Glowe (wie auch die im KdF-Bad Prora) 1940 eingestellt. Nachdem in der internationalen
Politik im Frühjahr 1952 klar geworden war, daß es keine Wiedervereinigung Deutschlands und
keine gesamtdeutsche Regierung geben würde und daß Kanzler Adenauer wie auch die
Westmächte intensiv die Westintegration der Bundesrepublik betrieben, kam es zu dem Beschluß,
eine Marinebasis (evtl. sogar U-Boot-Hafen) wiederum im Großen Jasmunder Bodden bei den
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Banzelvitzer Bergen bei Glowe zu errichten. Ende 1952, auf dem Höhepunkt der Bauarbeiten, kam
noch ein Haftarbeitslager hinzu, in dem Ende Mai 1953 etwa 3.000 Häftlinge aus zahlreichen
Haftanstalten der DDR untergebracht wurden. Das erst im Frühjahr 1953 fertiggestellte C -Lager
war für die Unterbringung weiterer Häftlinge vorgesehen, wurde aber nicht mehr bezogen. Diese
großen Barackenlager wurden dann als Betriebs ferienlager (Buna, C-Lager) und Kinderferienlager
(Gewerkschaft Unterricht und Erziehung, C-Lager) und für einige Jahre eben auch als
Jugendwerkhof genutzt.
Als wir zum Praktikum in Glowe eintrafen, wurde der Jugendwerkhof gerade aufgelöst, aber wir brauchten Sonderausweise zum Betreten und Verlassen des
Geländes. Es gab zwar viele Gerüchte um den JWH, aber wir haben dort nichts
Aufregendes erlebt. Ich erinnere mich nur, daß mich die angestrebte Autarkie des
JWH mit eigener Bäckerei, Tischlerei, Landwirtschaft usw. sehr beeindruckte und
an Makarenkos Projekte erinnerte.
Mein Ausweis für den JWH.
Der Eingang zum ehemaligen
Jugendwerkhof.
Es war ein ziemlich weiter Fußweg bis ans andere Ende des Dorfes zur
Empfangsstelle von Rügen Radio. Die Mädchen hatten es besser, die waren in der
Nähe in einer Baracke untergebracht, und deshalb hielten wir uns auch meist dort
auf. Was unsere Abenteuer aber in Grenzen hielt: Mit uns, sozusagen als Aufsicht,
war Miss Neuffer, unsere Englisch-Lehrerin.
Und dann das Erlebnis, einem Funker bei der richtigen Arbeit zuzusehen, mehr
durften wir ja noch nicht. Oder doch, einige durften schon mal einen Text am
Mikrophon vorlesen oder sogar mal einen Sammelanruf tasten. Auf jeden Fall
wurde mit diesem Praktikum erreicht, daß wir uns auf Rügen Radio freuten.
„Bestanden“ oder „Nicht bestanden“
Am Ende der Ausbildung einer Funkerklasse standen die
Prüfungen in den Hauptfächern, die zumindest mit „bestanden“
bewertet werden mußten, wenn man das Großfunkzeugnis II.
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Klasse erhalten wollte. Die beiden Haupthürden hießen Praktischer Funkdienst
und Englisch. Gerade bei den Disziplinen im Praktischen Funkdienst kam es immer
auch auf die Form am Prüfungstag an. Und wenn sich jemand kontinuierlich
gesteigert hatte, galt das für die Prüfungskommission mehr als eine offensichtlich
„verpatzte“ Prüfungsarbeit. Das war vor allem auch die Einstellung des
Vorsitzenden der Prüfungskommission, des Abteilungsleiters Aus- und
Weiterbildung der Werktätigen (AWW) Erhard Georgi. Die Lehrerkollegen und die
Funkerausbildung überhaupt hatten ihm viel zu verdanken. Auch er stammte aus
der Generation der ersten an der Funkschule Königs Wusterhausen ausgebildeten
Ingenieure.
Gefeiert wird auf jeden Fall
Nachdem „bestanden“ und „durchgefallen“ verkündet und die Zeugnisse überreicht
waren, gab es in jeder Klasse selbstverständlich eine zünftige Abschlußfeier. Häufig
nahmen daran dann auch die „Durchfaller“ teil, was das Lehrerkollegium immer
förderte, denn es ging ja auch um die gemeinsam an der Funkschule verbrachte
Zeit. Für diese Abschlußfeiern gab es drei Möglichkeiten, wenn man nicht in einem
Klassenraum an der Schule feiern wollte:
Das war anfänglich das U-Boot, also der „Goldene Adler“ in der Berliner Straße, mit
der rothaarigen Mary im Schankraum unterhalb des Straßenniveaus, dann der
„Fröhliche Hecht“ in der heutigen Schloßstraße, ein paar Treppenstufen hoch,
schließlich abe r immer häufiger das gemütliche „BQ“ (HO-G „Bärenquell“, später
Hoehnke) hinter der Kirche, da hatte man einen kleinen separaten Raum. An den
Wochenenden fanden sich die Funker (meine Klasse eingeschlossen) auch gerne in
Neue Mühle ein, zum Bootfahren auf dem Krimnicksee oder „auf ein Bier“ im
Gartenlokal vor der Schleuse. Oh ja, gefeiert haben die Funker immer gerne!
Die Absolventenlenkungskommission (oder wie das Gremium hieß) hatte wohl
immer Schwierigkeiten, den Wünschen aller Beteiligten gerecht zu werden, denn
insgesamt zuwenig Funker gab es eigentlich immer. So mußte ich mich von meiner
Freundin trennen, sie blieb wie fast alle
Berliner in Berlin, und von meinem guten
Freund und Zimmerkumpel Gerhard Schäfer,
der nach Beelitz ging, denn für mich kam nur
Rügen Radio in Frage, ich kam ja aus dem
Norden.
Einzug in Glowe
Nach dem zweiten Jahr in Königs
Wusterhausen war es dann so weit: Fünf
Jungs und drei Mädels aus meiner Klasse
951 kamen am 15. Juli 1957 als
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frischgebackene Funker nach Glowe. Jetzt wurden wir nur für kurze Zeit am
Anfang in einer Baracke untergebracht, dann konnten wir in den gerade fertiggestellten massiven Neubau des Ledigenwohnheims einziehen – Jungs oben, Mädels
unten. (Das ist das graue Gebäude, das parallel zur Straße steht und seit der
Schließung der Funkstelle leer steht und mehr und mehr vergammelt.) Das
Zimmer, das ich mit zwei Freunden aus meiner Klasse teilte, war recht groß und lag
direkt über dem Klubraum, manchmal hörten wir den Fernseher von dort. Unser
Fenster an der Giebelseite des Gebäudes konnte man schon von weitem sehen,
wenn man aus dem Dorf kam. (Dörfliches Kopfsteinpflaster natürlich, die Straße
verlief damals noch in einem großen Bogen bis zur Schulbaracke.)
Schräg unter uns lagen der Speisesaal und die Küche mit der legendären Köchin
Erna Bernstein. Der Speisesaal war auch der Ort, an dem wir später so manches
wilde Fest gefeiert haben. Es ist mir in schöner Erinnerung geblieben, wie mein
Freund und Zimmerkumpel Peter Behrens und ich tagelang an den Dekorationen
gearbeitet haben, und wir hatten Mädchen „von draußen“ (in unserem Fall vom
Fernamt Sassnitz) eingeladen.
Ja, die Mädchen … (Wir waren 18, 19 Jahre alt!) Da waren im Sommer die
Gruppenleiterinnen aus dem Ferienlager der Gewerkschaft Unterricht und
Erziehung im C-Lager, die waren etwa unsere Kragenweite, aber dann abends beim
Tanz im Kurhaus waren wir Funker zwar gefragter als die Fischerjungs aus dem
Dorf, es kamen auf ein Mädel aber wohl immer mindestens drei Bewerber.
Moralvorstellungen anno 1957
An eine aus heutiger Sicht lustige Begebenheit bei der Aufteilung der Neuen auf die
Zimmer kann ich mich noch erinnern. Als wir gefragt wurden, mit wem wir
zusammen auf ein Zimmer wollten, nannte ich einen guten Freund von mir. Aber
ich sollte noch einen dritten für dieses Zimmer nennen, Zweibettzimmer gäbe es
prinzipiell nicht, das könnten wir uns ja denken. Ich konnte mir gar nichts denken
und mußte später erst darüber aufgeklärt werden, daß man zwei jungen Männern
(auch Mädchen?) aus moralischen Gründen „oder so“ nie ein gemeinsames Zimmer
gab. Jetzt erst fiel mir auf, daß wir an der Funkschule auch nur Dreibettzimmer
hatten. Ich fand das doof, und meine Meinung hat sich da nicht geändert. Nach
meiner Erfahrung bildet sich immer eine gute Zweierfreundschaft heraus, bei der
der Dritte dann abseits steht. Von homosexuellen Beziehungen habe ich in meiner
Jugendzeit nie etwas erfahren. Aber wir mußten uns den herrschenden
Moralnormen natürlich fügen.
Wir sind wer!
Der wahrscheinlich Standesbewußteste aus unserer Klasse hatte anfangs ein Schild
mit dieser Aufschrift an seine Zimmertür geheftet: „G. Fiege – op. naut. vulg.“, was
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wohl dem Dr. med. dent. nachempfunden war und „Gewöhnlicher Seefunker“
bedeuten sollte. Ich fand das richtig gut. Noch kein I.-Klasse-Mann, aber eben doch
schon fertiger Seefunker – na ja, er hat vielleicht nicht gewußt, was „Inhaber des
Großfunkzeugnisses II. Klasse mit derzeitigem Einsatz im Küstenfunkdienst“ auf
Lateinisch heißt. Aber ehrlich, das hätte sich auch nicht sehr aufregend angehört.
Der erste Arbeitsvertrag
in meinem Leben war der vom Leiter des Amtes, Steiger, unterschriebene
Arbeitsvertrag mit der Küstenfunkstelle Rügen Radio vom 15.7.1957. Danach
bekam ich in der Gehaltsgruppe T II ein monatliches Bruttogehalt von 376 DM und
18 Arbeitstage Urlaub im Jahr. Später wurden wir in die Gehaltsgruppe T III (376,DM mtl. brutto) eingestuft, und 1958 bekam ich dann für eine „Leistungsstufe“
noch 66,- DM, so daß ich am Ende ein monatliches Bruttogehalt von 498 DM hatte.
Auch diese Schriftstücke besitze ich noch. Natürlich hören sich 498 Mark Brutto
monatlich heute lächerlich an, aber wenn man diesen Betrag ins Verhältnis zu den
damaligen Preisen setzt, macht dieses Gehalt schon einen anderen Eindruck. Für
das Kantinen-Mittagessen bezahlten wir nicht einmal eine Mark, und die Miete
machte etwa 4 Prozent des Gehalts aus. Aber das Wichtigste war: Bei Rügen Radio
verdiente ich zum ersten Mal in meinem Leben selbst Geld mit meiner Arbeit!
Dieses Hochgefühl bei der Entgegennahme der ersten Lohntüte (Gehaltskonten
waren damals noch unbekannt) war phantastisch und verführte so manchen von
uns auch zu nicht gut überlegten Ausgaben.
Was kostet die Welt?
Auf ins Dorf:
Jürgen Drude,
Schorsch Fiege,
Wolfgang Buddrus.
Unten:
mit Peter Behrens.
Es fehlt: Jimmy Adler.
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Peter hat dann aber doch noch den Finger
von der Linse genommen.
War das schon symbolisch gemeint?
Wer bleibt? Wer geht?
Bei Rügen Radio Ende der 1950er Jahre
Welche Erinnerungen vom Ende des ersten Jahrzehnts der Küstenfunkstelle
Rügen Radio sind geblieben?
Ein Blick aus
einem Fenster des
Wohnheims auf
das markante
weiße Empfangsgebäude.
Das
Verwaltungsgebäude rechts steht
hier noch nicht.
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Was die Arbeit angeht,
muß ich vor allem die Angst etwas falsch zu machen, in einer kritischen
Situation zu versagen nennen. Diese Angst führte bei mir zu Verkrampfungen beim
Geben und dann zu wirklichen Fehlern. Es gab diesen Druck, der durch
Bemerkungen des Mentors und manchmal auch des Wachleiters noch verstärkt
wurde: Was du jetzt hier gibst, hört die ganze Welt, zumindest die ganze Ostsee, du
kannst den Ruf von Rügen Radio versauen, wenn du einen Bolzen schießt. Eine
gefürchtete und in ihren Kommentaren nicht gerade zimperliche Me ntorin war Irene
Selke, die ihre Ausbildung an der Seefahrtschule Wustrow erhalten hatte, glaube
ich. Bei ihr war man nicht gerade gerne Assi, weil sie immer ihre Überlegenheit
hervorkehrte. Die zweite Funkerin, die ihre Ausbildung in Wustrow erhalten hatte,
war Barbara Ziebell. Sie war mit uns Neulingen ein bißchen nachsichtiger, und
glücklicherweise war ich die längste Zeit bei ihr Assi. Wenn ich mich nicht sehr irre,
waren diese beiden gezwungenermaßen zu Rügen Radio gekommen, weil sie nach
Abschluß ihrer Ausbildung an der Seefahrtschule Wustrow dann doch nicht zur
See fahren durften, weil sie Frauen waren. Mein Wachleiter war Martin Steinert, mit
dem ich dann immer besser zurechtkam; wir führten nachts in der verkehrsarmen
Zeit viele Gespräche über Kunst und Literatur und Innenarchitektur, auch über
politische und weltanschauliche Fragen. Die anderen Wachleiter waren Ernst(Albrecht) Lahl, Karl-Heinz (Hein) Meyenberg und Ewald Stramm, den ich wegen
seines ruhigen, verständnisvollen Umgangs mit uns Anfängern besonders schätzte.
Ein Seenotfall
auf 2182 kHz, also Sprechfunk, aus meiner Dienstzeit bleibt mir
unvergeßlich. Da war ein holländisches oder griechisches Kümo bei dem Versuch,
statt des Zwangsweges 1 eine Abkürzung zum Weg nördlich Rügen zu nehmen,
nordöstlich Darßer Ort auf Grund gelaufen war. Die Lage für das Schiff war ernst,
es nahm Wasser in schwerer See, und der den Funkdienst ausübende Kapitän
wurde immer hektischer. Die Rettungskräfte an Land waren zu alarmieren und
laufend zu informieren, das Schiff mußte über die eingeleiteten Maßnahmen auf
dem laufenden gehalten werden. Die Mannschaft wurde geborgen, das Schiff sank
später. Als ich die vorgeschriebene Meldung zur Beendigung des Notverkehrs
gesendet hatte, sank ich schweißnaß auf meinem Stuhl zusammen. Mein
Wachleiter stand hinter mir, wohl schon die ganz Zeit, klopfte mir kurz auf die
Schulter, sagte „Ganz gut gemacht“ und verschwand wieder in seinem
Dienstzimmer. Das war das äußerste Lob, das ich bei Rügen Radio als Funker
jemals bekommen habe.
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Die Küstenfunkstelle vom Ufer aus gesehen etwa 1958. Es gibt noch keinen Anbau an das
Empfangsgebäude und auch das Verwaltungsgebäude steht noch nicht.
Die ununterbrochene Überwachung der Seenotfrequenzen nahmen wir alle immer
sehr ernst, und mit der Zeit war das Gehör im selektiven Hören so geschult, daß
man das Not- und das Dringlichkeitszeichen schon im Ansatz erkannte und sofort
zum Stift griff. Bei Rügen Radio waren die Arbeitsplätze für beide Notfrequenzen in
einem Raum (zu meiner Zeit jedenfalls, gleich der erste Raum rechts), was sich oft
als Vorteil erwies, weil die beiden Funker sich direkt durch Zuruf verständigen
konnten. Und es gab eine ganze Reihe spektakulärer Seenotfälle unter der Leitung
von Rügen Radio; hoffentlich finden sich noch rechtzeitig ein paar ehemalige
Funker, um auch das interessante Gebiet der Seenotfälle und des funkärztlichen
Beratungsdienstes zu dokumentieren.
Die Geschichte mit om Keller,
die von einigen für eine Legende gehalten wird, habe ich tatsächlich selbst
miterlebt. Es war während einer Frühschicht, glaube ich, da rief ein Funkerkollege
ganz aufgeregt aus seinem Raum in den Flur: Kommt mal her, ich habe hier ganz
was Komisches. Da rief tatsächlich einer DHS von einem fünfstelligen deutschen
Rufzeichen. Ganz einwandfrei, ein Verrückter oder Besoffener. Doch nach einer
Beantwortung des Anrufs durch unseren Kollegen gab er ganz sauber viele Grüße
an die Ex-OMs, verabschiedete sich und verschwand von der Frequenz. Der Vorfall
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wurde erst Tage später aufgeklärt, und zwar als eine zwar illegale, aber nette
Botschaft eines ehemaligen DHS-Funkers, der jetzt bei der Interflug arbeitete und
mit einer überholten Maschine von Dresden aus zu einem Probeflug über Rügen
unterwegs war. Sein Name soll Keller gewesen sein. Ob der Vorfall in das
Funktagebuch aufgenommen wurde, ist mir nicht bekannt.
Kurzwellentelefonie
In die letzte Zeit meiner Tätigkeit als Funker bei Rügen Radio fielen die ersten
Versuche mit dem Funksprechverkehr auf Kurzwelle. Dafür war der letzte Raum
links, gegenüber der Telegraphie-Kurzwelle, eingerichtet, und es gab Spezialisten,
die sich damit befaßten. Wir fanden das alle sehr spannend und freuten uns über
jeden gelungenen Versuch und eine stetige Verbesserung der Qualität der
Verbindung. Viel Ärger bereitete wohl die Funkgabel, das war die Verbindungsstelle
zwischen Funkverbindung und drahtgebundenem Landnetz, wenn ich mich recht
erinnere. Hier ist vielleicht auch der Platz, an einen erfahrenen und höchst
verdienstvollen technischen Mitarbeiter zu erinnern, nämlich an Rolf Zeuschner. Er
war ein Alleskönner und zu uns Anfängern immer fair und hilfsbereit.
Abteilungsleiter Technik war Hans Hartmann, der nach einer kürzeren Zeit als
Amtsleiter dann zum Funkamt Schwerin wechselte.
Der Haupteingang in dem Zustand von 1958 mit dem markanten „Firmenschild“.
In die Zeit meiner kurzen Rolle als Funker bei Rügen Radio muß auch der Wechsel
des Amtsleiters gefallen sein. Höchst unangenehme Erinnerungen habe ich an den
Amtsleiter Steiger, der uns einstellte. Er wurde von Willi Schulz, einem
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passionierten Jäger, abgelöst, der viel vernünftiger mit uns umging. Nach dessen
frühem Tod übernahm mein ehemaliger Klassenkumpel und Freund Georg Fiege
die Leitung, und er war in dieser Funktion bis zur Übernahme des Funkamtes
durch die Telekom der BRD am 3. Oktober 1990.
Die Nachtschichten
waren oft tödlich langweilig. Die Kurzwelle vielleicht ausgenommen,
passierte zwischen 3 Uhr und Schichtende um 6 Uhr morgens meist gar nichts.
Das war die Zeit, in der ich immer mehr rauchte und Kaffee trank. Im Sommer
konnte man wenigstens am offenen Fenster stehen und der Nachtigall lauschen, die
regelmäßig in den Büschen zwischen den Antennenmasten sang. Es kam auch vor,
daß man sich mit einem Kollegen im Nachbarraum über die Gegensprechanlage
unterhielt. Daß wir manchmal ziemlich lange und sehr private Telefongespräche mit
einem Mädel vom Fernamt Sassnitz führten, traue ich mich erst heute zuzugeben.
Auf diese Weise lernte ich übrigens meine erste richtige große Liebe kennen, meine
Anne aus Sassnitz.
Der „Landfunk“
In den warmen Sommernächten hatten wir die Fenster weit offen wegen der
frischen Luft, denn die meisten von uns qualmten ja wie die Schlote. Manchmal
hörte man sogar die Brandung von unten an der Steilküste. Was wir gar nicht mehr
bewußt wahrnahmen, das war das Krähen der Hähne am frühen Morgen, das
Quaken der Frösche und das Jubilieren der Vögel. Manchmal schlossen wir die
Fenster auch nicht, wenn der Seewetterbericht mit den vielen Sprechpausen zu
verlesen war, so daß auch alle diese Nebengeräusche übers Mikrofon in die Welt
verbreitet wurden. Auf diesen Umstand wurden wir erst von einigen Bordfunkern
aufmerksam gemacht, die das überwiegend mit Humor vermerkten, da fiel auch der
Begriff „Landfunk“. Unser Chef aber fand das wohl nicht so lustig und erließ eine
entsprechende Anweisung.
Die Schwedenfähren
Ein fester Posten im Grenzwellenverkehr (UKW kannten wir damals noch nicht)
waren die Ladungsmeldungen der von Trelleborg kommenden Schwedenfähren an
die Hafenmeisterei Sassnitz, damit man sich dort auf eine zügige Entladung
vorbereiten konnte. Das Gespräch mit den Funkern der „Starke“, „Konung Gustav
V“ und „Trelleborg“ empfand ich immer als eine schöne Abwechslung, sie hatten
diesen schönen schwedischen Akzent in ihrem Deutsch. Schon nach kurzer Zeit
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kam bei mir der Ehrgeiz auf, ihnen hier und da auf Schwedisch zu antworten. Was
ich nicht im Wörterbuch fand oder nicht richtig aussprechen konnte, fragte ich sie,
und sie halfen gerne, bis wir dann den gesamten Verkehr auf Schwedisch
abwickelten. Irgendwann freundete ich mich mit Walter Brandt an, und manchmal
tauschte ich mit einem Kollegen sogar den Arbeitsplatz, wenn ich ihn an der
Frequenz erwartete. Wir verabredeten uns in Sassnitz, verfehlten uns aber. Seine
Briefe habe ich noch, da steht zum Beispiel „Jag förstår Din svenska mycket bra.“
Als ich ihn 2003 in Trelleborg besuchen wollte, erfuhr ich von den Nachmietern
seiner Wohnung, daß er vor fünf Jahren gestorben war.
Tågfärja „Trelleborg“
i Sassnitz, 1959
Der Strand
Unvergeßlich bleiben die Stunden nach einer überstandenen Nachtschicht im
Sommer, denn dann holten wir uns nur etwas zu essen und zu trinken, nahmen
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eine Decke unter den Arm und zogen los zum Strand. Dort schliefen wir, bis das
damals noch sehr bescheidene Strandleben uns wach machte. Unser bevorzugtes
Ziel war die Gegend um den Flakturm, dieser militärischen Ruine aus dem Krieg,
fast auf halbem Wege nach Juliusruh. Das war die paradiesische Zeit, als zwischen
einer Strandburg und der nächsten noch 20 Meter oder mehr lagen. FKK war
selbstverständlich; Baden in Kleidung war für uns absurd. Allerdings: Wo sich
heute der Jachthafen befindet (oder muß ich „Marina“, so wie die Margarinesorte,
sagen?), stand zu meiner Zeit ein fürchterlich stinkender Schweinestall, und beim
Dunkelwerden oder gar nachts ging man besser nicht an den Strand, denn dann
konnte man leicht auf eine Streife (wahrscheinlich der „Grenzbrigade Küste“)
stoßen, die den Ausweis sehen wollte .
Betriebssportfeste, Musik und Bücher
Zu unserer Zeit gab es Betriebssportfeste bei Rügen Radio. Die Sprintstrecken
wurden auf der Straße vor dem Funkamtsgelände markiert, ja, bei dem damaligen
Verkehr war das noch möglich. An einen sehr schönen und erfolgreichen
selbstgestalteten Mozartabend im Speisesaal kann ich mich gut erinnern, bis vor
meinem letzten Umzug hatte ich sogar noch mein Manuskript dazu. Mit Eva
Schultz und Irmgard Fritzsche (geb. Kokles) brachten wir eine Lesung aus einer
Mozart-Biographie, dazu Musikbeispiele von Schallplatte. Mit klassischer Musik
verbinden sich auch meine Gedanken an Ernst Lahl. In seinem Zimmer – man stieß
auf seine Tür, wenn man im Wohnheim die Treppe hoch kam – hörte ich mit ihm
tief bewegt das Klavierkonzert Nr. 1 von Tschaikowski. Auch als später der Beginn
dieses Konzerts zur Erkennungsmusik des Weihnachtssolidaritätskonzerts des
DDR-Rundfunks „Dem Frieden die Freiheit“ wurde, mußte ich immer an diesen
einsamen Menschen denken.
Es
gab
bei
Rügen
Radio
eine
Gewerkschaftsbibliothek, die von Frau Lange oder
Frau John verwaltet wurde, glaube ich. Zwei, drei
Bücher von dort hatte ich immer auf dem Zimmer.
Zu unserer Lektüre gehörten vor allem die abenteuerlichen Erlebnisse der Arktisforscher und die
Rolle der Funker dabei, z.B. „Die Geburt auf dem
Gurkenland“ von Boris Gorbatow (erschienen 1952), die Geschichten und Berichte
über den legendären Eisbrecher „Krassin“, den sowjetischen Funker Ernst Krenkel,
die „Tscheljuskin“ und die Polarexpedition „Nordpol 1“, die Nobi le-Katastrophe.
Autor: Wolfgang Buddrus
www.ruegen-radio.org
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Herr Hummel war schon zu meiner Zeit
nicht mehr der Jüngste, wie man so sagt.
Er schied gerade aus dem aktiven
Funkdienst aus, wenn ich mich recht
erinnere. Er war aber auch erfolgreicher
Sportschütze (KK-Pistole) und versuchte,
uns junge Burschen als Nachwuchs zu
gewinnen. Am Strand unter dem Steilufer
trainierten wir bei ihm, man stelle sich
das heute vor! Zu dieser „alten Garde“ der
Funker, die jetzt am Ende ihres
Berufslebens standen, gehörte auch
Walter Pott, dessen Sohn Joachim auch
Funker und später Wachleiter wurde.
Über die Herkunft und Ausbildung dieser
allerersten Funker ist mir leider nichts
bekannt.
Meister Hummel beurteilt das Trefferbild.
Horst Waldeck war der Hauptbuchhalter bei Rügen Radio und fuhr dann einige Zeit als
Zahlmeister auf dem Typ-IV-Schiff der DSR MS „Berlin“, das sollte wohl so eine Art Erfahrungsaustausch sein. Als sein Schiff dann mal (zur Reparatur?) in Warnemünde lag, haben
wir ihn an Bord besucht. Dabei erfuhr ich doch mit einiger Überraschung, welches Bier
(nämlich Rostocker Hafenbräu) in welchen Mengen (nämlich kistenweise) von den Seeleuten
konsumiert wird.
Zu einigen vom grün uniformierten Betriebsschutz entwickelte sich mit der Zeit
auch ein freundschaftliches Verhältnis, sie waren ja kaum älter als wir. Aber den
Betriebsausweis durfte man nicht vergessen, sonst mußte man an der Wache beim
Eingang zum Betriebsgelände tatsächlich noch einmal umkehren und ihn von oben
holen.
Autor: Wolfgang Buddrus
www.ruegen-radio.org
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Die Hauptstraße in Glowe 1957/58. Im Vordergrund die Gaststätte „Zur Schaabe“,
hinten das weiße Haus kannten wir als „Kurhaus“, in dem wir zum Schwof gingen.
Fast am (damaligen) Ortsausgang in Richtung Juliusruh gab es ein
Landambulatorium mit dem be rühmten Dr. Schwertz und Schwester Marlies, der
Frau meines Wachleiters. Dort habe ich die be rühmte Schwertzsche Schwitzpackung, das erfolgreiche Heilmittel gegen Erkältungskrankheiten, kennengelernt.
Nach höchstens einer Woche konnte man geheilt entlassen werden.
Die Reste der Erdarbeiten für den geplanten Kanaldurchstich von der Ostsee zum
Großen Jasmunder Bodden fanden wir gleich hinter dem Funkamt und dann auf
der anderen Straßenseite bis hin zum Bodden. Dieses Gelände zu erforschen war
natürlich ungeheuer spannend. Ohne das Hintergrundwissen von heute wußten wir
nur, daß da vor nicht langer Zeit etwas Geheimnisvolles vor sich gegangen war. Wir
fanden halbverrostete Geschoßhülsen, 2 cm oder größer, das gab Nahrung für alle
möglichen Spekulationen. (Damals wußten wir noch nicht, daß diese Geschoßhülsen von den Aktivitäten der Flakstellungen zeugten, die hier in den Kriegsjahren
bestanden hatten.)
Und wir waren bei einem Großeinsatz dabei, als die kahlen Flächen zwischen
Straße und Bodden (wohl auch ein Überbleibsel dieses begonnenen wahnwitzigen
Kanaldurchstichs) mit Pappeln aufgeforstet wurden. Wenn ich heute, im Jahr 2009,
durch den hohen Pappelwald dort gehe, stelle ich mir mit gemischten Gefühlen
immer wieder vor, wie wir seinerzeit Löcher in den Sand gruben und die ein bis zwei
Meter hohen Pappeln einsetzten, in Reih und Glied.
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Mit Verwunderung denke ich heute daran, wie wenig wir
eigentlich von Rügen wußten, wir kamen durch den
Schichtdienst nicht zu größeren Unternehmungen und
hatten dann wohl auch keine Lust dazu. Ich mochte
immer die Boddenseite ganz besonders, den Weg am Ufer
an Alt Glowe vorbei, dann durch den Blaubeerwald bis
fast nach Breege, was man eben so zu Fuß erreichen
konnte. Mit dem Fahrrad, ich mußte es mir von meinem
Kumpel Jürgen Drude borgen, fuhr ich bis zum Bahnhof
Sagard,
dort
gab
ich
das
Rad
bei
der
Gepäckaufbewahrung auf und fuhr mit der Bahn nach
Sassnitz zu meiner Freundin. Die Fotos, die wir damals
auf dem Findling „Klein Helgoland“ machten, gehören
heute zu meinen besonders gehüte ten Schätzen. Nach
Bergen kam man ab und zu mit dem Bus, weiter nie. Daß
einer von uns, nämlich Schorsch Fiege, dann ein 250-ccm-Motorrad AWO Sport hatte, war
eine Sensation. Schorsch stellte sich glücklicherweise nicht so pingelig an, wir machten so
manche halsbrecherische Geländefahrt im Wald der Schaabe auf dem Gelände, das später
der Zeltplatz wurde.
Hausarbeiten zum Großfunkzeugnis I. Klasse
Zumindest bei Rügen Radio wurde angestrebt, nach dem ersten Berufsjahr die Prüfung für
das Großfunkzeugnis I. Klasse abzulegen. Das war für den Funker nicht nur eine
Prestigefrage, als Funker I. Klasse bekam man ja auch ein höheres Gehalt. Die Prüfung
bestand natürlich aus einer praktischen Prüfung, aber man hatte auch in halbjährlichem
Abstand zwei Hausarbeiten anzufertigen. Meine Hausarbeit für das zweite Halbjahr besitze
ich noch heute, sie hatte das Thema „Die Entwicklung des Funk verkehrs mit besonderer
Berücksichtigung des Seefunkdienstes“. Na ja, zur Prüfung habe ich mich dann aber nicht
mehr beworben, meine Begeisterung für den Funkerberuf war durch den Schichtdienst, die
praktisch nicht vorhandenen Entwicklungsmöglichkeiten und den für einen ledigen jungen
Mann nicht gerade attraktiven Standort Glowe doch ziemlich verflogen. Mit einigen Schwierigkeiten kam ich im Herbst 1959 von Rügen Radio los und ging nach Rostock, wo ich dann
schließlich an der Universität mein Studium aufnahm. Es blieb also bei meinem
Großfunkzeugnis II. Klasse Nr. 165, unterschrieben von Herrn Klose, Bereich Rundfunk
und Fernsehen des Ministeriums für Post- und Fernmeldewesen.
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Ein neues Kapitel: Als Lehrer an der Funkschule
Im Sommer 1963 legte ich an der Universität Rostock mein Staatsexamen ab, und bereits
im September begann ich meine Lehrtätigkeit an der Funkschule in Königs Wusterhausen.
Es war schon ein merkwürdiges Gefühl, an der Schule, an der ich erst vor wenigen Jahren
als Funker ausgebildet worden war, jetzt als Lehrer selbst Funker auszubilden. Für meine
Stellung an der Funkschule hatte das Vor- und Nachteile.
Meine erste Funkerklasse,
die ich an der Funkschule in Englisch und Französisch unterrichtete, war die 921.
Das waren 29 Schüler, von denen 22 dann im Juli 1964 die Prüfung bestanden. Ich war
nicht viel älter als die Schüler. In dieser Klasse 921 waren auch noch Martin Beiersdorff
und Willi Vehlow tätig, dann Herbert Lange in Funktechnik und Herr Borchers in Deutsch,
der den schönen Brauch eingeführt hatte, jede Unterrichtsstunde mit einem Gedicht unter
der Überschrift „Perlen der deutschen Literatur“ zu beginnen. Aus dieser Klasse sind später
mehrere leitende Mitarbeiter bei Rügen Radio und erfahrene Funker bis zum letzten Tag
geworden. Es ist mir eine Freude, mit mehreren von ihnen immer noch freundschaftlich
verbunden zu sein.
Was ist einem Funker von seiner Ausbildung geblieben?
Also ich profitiere seit Jahrzehnten sehr von de m 10-Finger-Blind-Schreiben auf der
Tastatur (einst Schreibmaschine, heute PC-Tastatur), das wir alle lernen mußten. Bei der
obersten Zeile mit den Ziffern und Zeichen muß ich aber immer noch hinsehen, da habe ich
in der Schule gebummelt. In Englisch sollte sich eigentlich jeder im Urlaub verständigen
können. Diejeni gen, die Französisch und Russisch lernen mußten, können zumindest
Wörter und Sätze in diesen Sprachen lesen und korrekt aussprechen. Sie haben alle eine
elektrotechnische und funktechnische Grundausbildung, die im Alltag durchaus nützlich
sein kann. Sie haben ganz ordentliche geografische Kenntnisse und wissen mehr von der
Seefahrt als der Durchschnittsbürger, das kann z.B. für seesportliche Aktivitäten ganz
nützlich sein. Und wer will, kann im Verkehr mit Eingeweihten sehr platzsparend die QGruppen und andere Funkbetriebsabkürzungen verwenden.
Wir waren Mitgestalter einer wesentlichen Etappe in der Entwicklung der drahtlosen
Kommunikation
und
schließlich
Zeugen
ihres
Übergangs
zur
weltweiten
Satellitenkommunikation. Und das ist nicht wenig.
Altefähr, Juli/August 2009
Wolfgang Buddrus
Autor: Wolfgang Buddrus
www.ruegen-radio.org
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