1 Nimmermehr Das gläserne Haus war mit Stahlträgern und

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1 Nimmermehr Das gläserne Haus war mit Stahlträgern und
Nimmermehr
Das gläserne Haus war mit Stahlträgern und -seilen fünfundsiebzig Meter über dem
Wasser an den Steinklippen des einsamsten norwegischen Fjordes befestigt. Das
Meer darunter wurde von einer kräftigen Brise schaumig aufgewühlt und glitzerte
golden in den ersten Strahlen der aufgehenden Sonne.
Es war eine Herausforderung für den Architekten gewesen, und nicht wenige hatten
der Bewohnerin des Hauses gesagt, es sei gar nicht möglich, bevor sie schließlich
einen gefunden hatte, der - je nach Perspektive - mutig oder dumm genug für das
Projekt war.
Die Bewohnerin lag schlafend auf einem schlichten weißen Bett in dem großen
Zimmer, das die obere Etage des Hauses ausfüllte, in ihren Armen ein ebenfalls
schlafender Golden Retriever, ihr Gesicht in dem flauschigen Fell am Hals des
Hundes vergraben. Sie war eine sportliche junge Frau, Ende zwanzig, mit
schulterlangen hellbraunen Haaren, in einem weißen Sitting-Ducks-Pyjama.
Der rechteckige Raum maß zwölf mal neun Meter, aber das Bett war das einzige
Möbelstück darin. Auf Seiten der Klippe bildete der Fels selbst die Wand, ohne
weitere Verzierung, mit einer einfachen Stahltür darin. Die anderen drei Wände
bestanden aus großen Fenstern, die nur gelegentlich durch Säulen unterbrochen
wurden, die den Boden mit dem ebenfalls durchsichtigen Dach verbanden. Hätte
jemand mit einem guten Fernglas oben auf der Klippe gestanden, hätte er die junge
Frau und den Hund auf dem Bett sehen können. Dort stand aber niemand. Das Haus
am Fjord war sehr abgelegen. Florø, der nächste Ort, lag über hundert Kilometer
entfernt.
Die Bewohnerin des Glashauses schlug die Augen auf. Sie blinzelte und bemerkte,
dass das Zeug in ihrem Gesicht Hundehaare waren. Sie drehte sich auf den Rücken,
blickte in den grauen Morgenhimmel und streckte sich leise seufzend.
„Zeit aufzustehen“, murmelte sie, und nun öffnete auch der Hund seine Augen.
Ihre Augen eigentlich, denn der Hund war eine Hündin. Hanne.
Mit einer geschmeidigen Bewegung sprang die Bewohnerin des Hauses am Fjord
auf die Füße und ging zu den Fenstern, um auf das kabbelige Meer hinaus zu
blicken. Hanne folgte ihr wenig später, stellte sich neben sie und schob ihren Kopf
unter ihre Hand. Abwesend kraulte die Frau den Kopf des Tieres.
Dann wirbelte sie herum und lief zu der Tür in der Felswand. Die Tür führte zu einem
Lift, der sie bis hinunter zum Meer brachte. Hanne ließ sie oben im Haus zurück. Sie
sprang mitsamt Pyjama in das 11°C kalte Wasser und absolvierte ihr etwa
sechzigminütiges tägliches Schwimmpensum. Den Pyjama behielt sie beim
Schwimmen oft an. Er bekam dadurch einen leichten Meeresduft, den sie liebte, und
der ihr wundervolle Träume bescherte. Dass das mit den Träumen an dem Pyjama
lag, konnte sie natürlich nur vermuten.
Nach einer knappen Stunde stieg sie heftig zitternd an einer Strickleiter aus dem
Wasser und fuhr hinauf ins Erdgeschoss des Hauses, wo Hanne bereits vor der Tür
des Aufzugs auf sie wartete und sie freudig begrüßte.
Neben der Tür des Aufzugs hing ein Werbeplakat mit dem Bild einer jungen Frau und
dem Schriftzug „Ich bin ein Monster“.
Die Bewohnerin des Hauses am Fjord tätschelte kurz den Kopf der Hündin und
sprang unter die Dusche, wo sie eine gute halbe Stunde lang herrlich heißes Wasser
über ihren unterkühlten Körper laufen ließ.
Als sie aus der Dusche stieg, zuckte sie zusammen, sog scharf die Luft zwischen
ihren Zähnen ein, nahm ihren rechten Fuß in die Hand und betrachtete ihn verwirrt.
Er blutete, und eine kleine Glasscherbe steckte in ihrem Ballen. Sie zog die Scherbe
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heraus und sah die anderen Scherben auf dem Boden, große und kleine, und die
leere Stelle an der Wand über dem Waschbecken, und sie erinnerte sich. Für einen
Augenblick wanderten ihre Augen unstet durch den Raum. Ein unsicheres Lächeln
zuckte um ihre Mundwinkel, als ihr Blick auf die fast verheilten Schnitte an den
Knöcheln ihrer linken Hand fiel. Sie achtete darauf, nicht mehr auf die Scherben zu
treten und nahm sich vor, sie bei Gelegenheit aufzukehren.
Nachdem sie im Badezimmer fertig war und den nassen Pyjama gegen einen
Fleece-Freizeitanzug ausgetauscht hatte, spielte sie mit Hanne, bis ihr Telefon
klingelte.
„Ja?“
„Lenore?“ sagte die Stimme am Telefon.
„Hallo Clarence“, grüßte sie.
Sie warf Hanne einen kurzen Blick zu und seufzte leise.
Sie sprach kurz mit der Stimme aus dem Telefon und legte dann auf. Hanne sah
erwartungsvoll zu ihr auf, in der Hoffnung, dass sie den zerkauten Tennisball noch
einmal für sie werfen würde. Ihr Schwanz wedelte fröhlich von links nach rechts. Die
Hündin erkannte nicht den traurigen Ausdruck auf dem Gesicht ihrer Herrin. Die
Bewohnerin des Hauses am Fjord öffnete die Schreibtischschublade und zog etwas
daraus hervor.
„Komm mal her, Hanne.“
Die junge Frau kniete vor dem Tier nieder und kraulte seinen Kopf.
„Hanne, ich muss dir was sagen“, murmelte sie leise.
Tränen begannen über ihre Wangen zu laufen. Ihre Stimme zitterte, während sie
fortfuhr.
„Hanne, ich muss leider für eine Weile fortgehen. Ich kann nicht genau sagen, wie
lange, aber es dauert sicher ein paar Tage, vielleicht über eine Woche. Ich kann dich
solange nicht…“
Ihre Stimme brach, und sie begann von vorne. Hanne sah ihr stumm in die Augen.
Ihre Rute bewegte sich nicht mehr.
„Ich kann dich nicht so lange alleine lassen. Du weißt ja, dass…“ Sie stockte wieder.
Sie flüsterte, als sie weiter sprach.
„Du weißt ja, dass jemand dich füttern muss, und auf dich aufpassen und so.“
Sie atmete tief durch. Der Blick der Hündin schien ihr auch ein wenig traurig, als
ahnte Hanne schon, was ihre Herrin ihr sagen wollte.
„Ich muss jetzt von dir Abschied nehmen, Hanne.“ Sie schluchzte. „Du weißt doch,
dass ich dich liebe, oder? Das weißt du doch?“
Die junge Frau setzte die Spitze des langen Jagdmessers gegen den Hals der
Hündin, die ihren Blick noch immer voller Verständnis und voll hündischen
Vertrauens erwiderte. Tränen liefen an ihrem Hals herab und tropften von ihrem Kinn
auf den Boden.
„Du warst eine gute Freundin, Hanne“, murmelte sie, „Und ich hoffe, dass ich auch
eine war.“
Sie durchstach die Halsschlagader.
Ihr Körper erbebte in krampfartigem Schluchzen, während sie Hannes Leichnam in
den Lift zog, um ihn in den Fjord zu werfen. Zu den anderen.
„Schaffen Sie die ganz?“
Der Pizzamann hatte ein nettes Lächeln, fand Sonia.
„Meistens bleibt ein bisschen was übrig.“
„Sie brauchen jemanden, mit dem Sie teilen können“, versicherte er mit einem
ernsthaften Nicken. „Klarer Fall.“
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Sie lachte leise.
„Versuchen Sie gerade, sich zum Essen einzuladen?“
„Hm… Jetzt hab ich keine Zeit.“
Er zog eine unsichtbare Taschenuhr aus der unsichtbaren Weste seines
unsichtbaren Fracks und betrachtete sie besorgt, womit er wahrscheinlich
ausdrücken wollte, dass er Pizza auszuliefern und Dinge zu tun hatte.
„Aber wenn Sie heute Abend noch nichts vorhaben…“ Er zuckte die Schultern und
grinste. „Manchmal nimmt jemand eine Pizza nicht an. Und irgendwer muss sie ja
essen.“
Er legte ihr seine Visitenkarte auf den Tisch. Offenbar war er der Eigentümer.
Pluspunkt, dachte Sonia. Sie hielt sich nicht für einen Snob, aber Pizzaboten waren
doch irgendwie… eigentlich nicht ihr Niveau.
„Wenn ich heute Abend Lust auf kalte Pizza habe, sind Sie der erste, der’s erfährt.“
Er zwinkerte ihr zu, bevor er ging. Netter Typ. Sie nahm ein Achtelstück Pizza aus
dem Karton und wandte sich wieder ihrem Monitor zu.
‚…startet der NDR-Hörfunk seine neue Reihe «Platt für Anfänger». «Bregenklöterig»
oder «krüüsch» hört man dort von der kommenden Woche an immer montags bis …’
Sie war nicht zufrieden mit ihrem Beitrag. Andererseits war sie mit solchen Beiträgen
nie zufrieden. Sie hasste schon das Thema, weil es niemanden interessierte, und sie
hasste den Stil, in dem immer darüber berichtet wurde. Dass sie diesen Schund jetzt
selbst schreiben musste, gehörte zu den größten Nachteilen ihres Jobs beim Herold.
Manchmal fragte sie sich, warum sie nicht einfach die Texte von der dpa übernahm.
Die waren auch nicht besser oder schlechter als ihre eigenen. Sie freute sich schon
auf den Beitrag, der nach diesem kam. ‚Bilder von Linda McCartney im Jüdischen
Museum Rendsburg’. Wer war eigentlich Linda McCartney? Die Frau von Paul? Und
malte die selbst, oder war sie gemalt worden? Brennende Fragen, die sie bald alle
würde beantworten müssen.
Im Laufe des Tages fand sie heraus, dass Linda tatsächlich die Frau von Paul
McCartney und offenbar eine renommierte Künstlerin war. Außerdem befasste sie
sich mit einer neuen Skulptur vor dem Norderstedter Rathaus und las einige Artikel
ihrer Kollegen Korrektur. Und schon war es 17:00 Uhr und Zeit, nach Hause zu
gehen.
Sie war gerade aufgestanden, als das Telefon auf ihrem Schreibtisch klingelte. Sie
zögerte nur kurz.
„Hamburger Herold, Sonia Schopp am Apparat?“
„’n Abend, Frau Schopp. Hier ist so eine sonderbare Frau am Telefon, die sagt, sie
hätte eine Riesenstory. Sie wissen schon.“
Klar wusste sie. Es riefen jeden Tag dutzendweise solche Leute an. Manchmal
stimmte es sogar, was die dann erzählten. Das wirklich Erschreckende war, dass
sogar die erfundenen Geschichten meist stinklangweilig waren.
„Na, lassen Sie mal hören.“
„Ich stell sie dann durch.“
Ein leises Klicken in der Leitung sagte Sonia, dass er aufgelegt hatte.
„Hamburger Herold, Sonia Schopp am Apparat?“
„Guten Abend“, sagte eine Frauenstimme. „Ich vermute, Sie nehmen solche Anrufe
nicht besonders ernst, stimmt das?“
Sie hatte einen leichten Akzent. Schwer einzuordnen. Englisch, Französisch?
Französisch, dachte Sonia. Ziemlich sicher Französisch.
„Äh…“ Sie sah keinen Grund, die Anruferin anzulügen. „Wir haben schlechte
Erfahrungen gemacht. Aber wir berücksichtigen natürlich jeden Hinweis.“
Leises Lachen.
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„Gut für Sie. Ich habe nämlich einen Hinweis, der Ihrer Karriere ziemlich weiter helfen
wird.“
„Ach?“ Sie tat das also nur für Sonia. Das war echt nett von ihr.
Die Frau antwortete nicht.
„Worum geht es denn?“ frage Sonia schließlich.
„Ich habe eine Verschwörung für Sie.“ Wieder dieses leise Lachen. „Oder jedenfalls
so etwas Ähnliches.“
Eine Verschwörung. Wow. Sonia sah auf die Uhr. Sie hatte vorgehabt, den
Pizzamann anzurufen, und es war noch nicht zu spät.
„Gegen wen?“ fragte sie.
„Ich fühle mich verkannt. Sie interessieren sich nicht für das, was ich Ihnen zu sagen
habe.“
Genauso war es zwar, aber Sonia würde es nicht zugeben. Einmal in hundert Jahren
rief vielleicht jemand mit einer echten Geschichte an, und wenn Sonia diesen einen
dann vergraulte, würde sie nie wieder einen Job als Journalistin kriegen.
„Neinnein, bitte erzählen Sie es mir. Es tut mir Leid, wenn ich“
„Nicht am Telefon. Sie glauben mir ja sowieso noch nicht. Ich geb’ Ihnen Gründe, mir
zu glauben. 31. Oktober 1984. Und schauen Sie mal, was morgen zwischen eins und
zwei über den Ticker läuft. Und wenn Ihnen das noch nicht reicht, warten Sie bis
nächsten Dienstag. Da kann ich Ihnen keine Uhrzeit sagen, aber das wird dafür auch
ein ziemlicher Knüller.“
„Was meinen Sie damit? Was passiert morgen? Hallo?“
Die Frau legte auf. Sonia griff sich einen Kugelschreiber aus ihrer Schublade und
notierte ‚31. 10. 84, morgen 13-14, kommender Dienstag’. Sie war natürlich noch
nicht überzeugt, dass da wirklich etwas war, aber jedenfalls war es der Anruferin
gelungen, sie neugierig zu machen. Sie schaltete ihren Computer wieder ein und
versuchte das Datum mal bei Google. Am 31. Oktober 1984 hatte BAP in der
Mehrzweckhalle Meckenheim gespielt, irgendwelche Leute hatten einen
Pachtvertrag geschlossen, über den später der BGH ein wichtiges Urteil gefällt hatte,
Indira Gandhi war von zwei Leibwächtern ermordet worden und im Alten Rathaus in
Göttingen hatten ein paar Künstler eine Ausstellung eröffnet. Nach Google war das
Ergebnis ziemlich eindeutig. Wenn BAP nicht eine weitaus ernstere Bedrohung war,
als Sonia bisher angenommen hatte (Nicht, dass sie BAP nicht ernst nahm. Sonia
hielt BAP für eine ziemlich ernste Bedrohung.), dann hatte die Anruferin mit der
Verschwörung wahrscheinlich Indira Gandhi gemeint.
Natürlich ging es nicht unbedingt nach Google. Dummerweise war das Archiv des
Herolds erst ab 1988 digitalisiert, alles davor war im Keller in den gefürchteten
Aktenordnern.
Sie
versuchte
es
noch
mit
verschiedenen
anderen
Recherchewerkzeugen, kam aber auf keine besseren Ergebnisse. Indira Gandhi war
ihr sowieso von Anfang an als die wahrscheinlichste Möglichkeit erschienen. Das
musste die Anruferin gemeint haben. Aber was konnte morgen noch kommen? Ihr
Lexikon sagte, dass der derzeitige Präsident Abdul Kalam hieß. Sollte mit dem was
passieren? Aber wenn das schon morgen kam, was sollte dann der Knaller am
Dienstag werden? Der Papst? Bush? Der gesamte Bundestag? Aber was hätte das
mit Indien zu tun? Sonia lachte und sagte sich, dass sie ziemlich gewagte
Vermutungen auf ziemlich schwacher Basis anstellte. Aber sie war jetzt wirklich
neugierig.
Sie dachte kurz darüber nach, Dr. Meiller davon zu erzählen, der war noch da. Aber
sie hielt es für keine gute Idee. Entweder würde er die Anruferin einfach für verrückt
halten, was das ganze zu einer ziemlich peinlichen Aktion machen würde; oder er
würde an die Sache glauben und Sonia umgehend ins Archiv schicken, um
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herauszufinden, was 1984 sonst noch passiert war. Er war kein Jonah Jameson, und
er würde sie wahrscheinlich nach Hause gehen lassen, wenn sie darum bat, aber sie
wollte das einfach vermeiden. Morgen konnte sie es ihm genauso gut sagen. Sie
schrieb sich einen neuen Zettel, auf dem ‚13-14’ stand und klebte ihn auf den Monitor
auf ihrem Schreibtisch. Es würde sicher besser wirken, wenn sie es ihm vorher
erzählte.
Sonia stieg in ihren Wagen und fuhr nach Hause.
Sie stieg in den Fahrstuhl drückte die Taste für den fünften Stock und wartete darauf,
dass die Türen sich schlossen. Der Lift in diesem Gebäude war mit weitem Abstand
der langsamste, den sie kannte. Sie seufzte, verschränkte die Arme unter ihren
Brüsten und lehnte sich gegen eine Wand. Sie überlegte, ob sie den Pizzamann
einladen sollte oder nicht. Es war irgendwie armselig, sich so kurzfristig zu
verabreden, fand sie. Und er hatte sie nicht mal eingeladen, er hatte bloß gesagt,
dass er kommen würde, wenn sie es täte. Sie schüttelte den Kopf. Nein. Soviel
Selbstachtung hatte sie noch. Außerdem kam heute Abend Hearts in Atlantis, den
hatte sich schon lange mal sehen wollen. Sie würde ein paar Tage warten. Schade,
dass er sie nicht anrufen konnte, er hatte ja ihre Nummer nicht. So gesehen war es
eigentlich egal, ob sie noch wartete oder nicht. So oder so musste es von ihr
kommen.
Die Tür des Fahrstuhls war geschlossen, und die Kabine begann gemächlich, sich in
Bewegung zu setzen.
Sonia wohnte zur Zeit nicht alleine. Marten war zu Besuch. Ihr Bruder führte, alles in
allem, kein besonders erfolgreiches Leben und war kürzlich aus einer weiteren
Wohnung heraus geklagt worden. Sie hatte sich bereit erklärt, ihn für ein paar Tage
aufzunehmen. Natürlich hatte sie damals schon gewusst, dass es mehr als nur ein
paar Tage werden würden. Warum tat man Dinge, obwohl man genau wusste, dass
es einem hinterher Leid tun würde?
Er aß immer nur die Hälfte aus einem Joghurtbecher (ohne selbst je auch nur einen
gekauft zu haben natürlich), und ließ dann den Rest offen herum stehen. Er ließ
seine Sachen einfach so überall liegen und bat sie dauernd um Geld. Wofür
eigentlich? Er wohnte in ihrer Wohnung, er aß ihr Essen, und sie vermisste auch ein
paar CDs, die er immer gemocht hatte.
Die Kabine war nun im zweiten Stock angekommen und hielt an.
„Ver-dammt!“ zischte Sonia.
Schwach zitternd und gemächlich öffnete sich die Tür. Niemand war da. Natürlich.
Kein Mensch hielt es aus, so lange zu warten, bis das dämliche Ding endlich da war.
Wer den Knopf gedrückt hatte, hatte wahrscheinlich eine Weile da gestanden und
dann beschlossen, doch lieber die Treppe zu nehmen. Das war vermutlich gestern
gewesen.
Während die Tür sich wieder schloss, fragte Sonia sich, warum sie nicht selbst öfter
die Treppe nahm. Der fünfte Stock war nicht so hoch.
Ihr wurde bewusst, dass sie bald beginnen würde, ihren Bruder zu hassen, wenn er
noch viel länger bliebe. Das war wirklich nicht besonders anständig. Ob es ihr
gelingen würde, ihn ohne Blutvergießen loszuwerden?
Sie dachte über verschiedene Möglichkeiten nach, bis die Tür der Fahrstuhlkabine
schließlich extrem adagio vor ihr zur Seite glitt.
Sonia seufzte, nahm sich vor, beim nächsten Mal die Treppe zu benutzen, stieg aus
und schloss die Tür zu ihrer Wohnung auf.
„Marten, bist du heute“, begann sie, und dann sah sie, dass da zwei Personen auf
ihrer Couch saßen, von denen offensichtlich keiner ihr Bruder war.
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Sie hatten beide identisch blaue Haare und völlig unterschiedlich geschmacklose
Frisuren. Einer von ihnen drehte sich zu ihr um und musterte sie wie etwas, das
gerade aus einer Ritze unter den Dielen hervor gekrochen war.
Die beiden sahen RTL II. Zwei Containerinsassen waren offenbar gerade dabei,
einander zu erklären, warum sie sich nicht leiden konnten. Oder warum sie
aufeinander scharf waren, das wurde nicht ganz deutlich.
„Wer bist du denn?“ fragte er, in einem zu seiner Mimik passenden Tonfall.
Eins. Zwei. Drei. Vier. Fünf.
„Ich wohne hier.“
Und sie klang überhaupt nicht, als wollte sie ihm gleich die Beine brechen. Sonia
lächelte. Sie fürchtete, dass es ein bisschen angestrengt wirkte.
„Ach so. Dann bist du Sina.“
Er hatte sich schon wieder umgedreht, als er das sagte.
„Sonia.“
Niemand beachtete sie.
„Wo ist Marten?“
Die beiden Amöben auf dem Bildschirm küssten sich, als wollten sie sich gegenseitig
den Kopf abbeißen. Sonia bemerkte, dass jemand ihre Stechpalme umgeworfen
hatte. Der Topf war noch heil, aber ein großer Teil der Erde hatte sich auf dem
Teppichboden verteilt.
Marten hatte bisher noch nie Leute in ihre Wohnung gebracht. Jedenfalls hatte sie
bisher nichts davon gemerkt. Sie war sich ziemlich sicher, dass es auch nicht wieder
passieren würde.
„Äh, hallo, Tschuldigung, wisst ihr, wo mein Bruder“
„Mit den andern einkaufen gegangen, Chips und so.“
Mit den anderen. Eins. Zwei. Drei. Vier. Atmen.
„Wisst ihr, eigentlich hatte ich mir meinen Abend ein bisschen anders vorgestellt.
Würde es euch was ausmachen“
„Was?“
Einer von den beiden drehte sich zu ihr um, mit einem Gesichtsausdruck, der
ziemlich deutlich „Schon wieder!“ sagte.
„Naja, ich würde ganz gerne selbst fernsehen, deshalb wäre es ganz nett, wenn ihr
eure kleine Zusammenkunft hier woanders abhalten könntet, weil…
„Boah…“
Er verdrehte die Augen.
„Marten hat ja gesagt, wie sie drauf ist“, murmelte der andere, möglicherweise in dem
Glauben, dass sie ihn nicht hörte. Eigentlich hatte sie aber den Eindruck, dass es
ihm egal war.
Irgendwie hatte sie damit gerechnet, dass jemand noch etwas zu ihr sagen würde,
aber die beiden wandten sich wieder ihrer Trivialdokumentation zu.
„Hey, Leute, es wäre wirklich ziemlich gut, wenn ihr mir vielleicht wenigstens meinen
Fernseher überlassen könntet, hm?“
„Was ist denn ne Party ohne Fernseher?“
Party. Eins. Zwei. Atmen. Drei. Vier. Fünf.
„Äh…“
Ach was. Warum sollte sie sich eigentlich mit diesen Leuten rumschlagen? Bestimmt
hatten die Flöhe oder so was. Ganz andere Methode.
„Schon gut. Viel Spaß dann, ja?“
Sie verließ ihre Wohnung wieder und klopfte an der Tür schräg gegenüber.
Mesut war so eine Art Freund von ihr. Ungefähr einmal pro Woche - im Schnitt, nicht
regelmäßig - traf sie ihn, und sie sahen sich zusammen einen Film an oder so. Er
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war Pilot bei der Luftwaffe, aber er erzählte nie davon. Sie sprachen überhaupt nicht
besonders viel, jedenfalls nicht über wichtige Dinge, aber Sonia genoss die Zeit mit
ihm. Meistens kam er zu ihr in die Wohnung, weil seine ziemlich spartanisch
eingerichtet war, trank im Laufe des Abends genau eine Flasche Bier - nie mehr, den
letzten Schluck immer kurz bevor er ging -, gelegentlich sagte er was und sie
antwortete, dann lachten sie, und nach zwei, drei Stunden ging er wieder.
Er hatte nie auch nur versucht, den Arm um sie zu legen, aber sie waren auf sehr
angenehme Art vertraulich miteinander. Sonia mochte Mesut. Und sie hatte Glück, er
wollte sowieso Hearts in Atlantis sehen, und er hatte sogar noch etwas von seinem
Abendessen für sie übrig.
Während Sonia im Fernsehen zusah, wie Bobby Garfield zum ersten Mal Ted
Brautigan begegnete, stieg eine junge Frau in ein Flugzeug der Lufthansa auf dem
Flughafen von Oslo. Ihre hellbraunen Haare waren zu einem Zopf gebunden, der bis
unter ihre Schulterblätter herabhing, sie trug Jeans, einen hellgrauen Pullover und
eine braune Lederjacke und sah der Bewohnerin des Hauses am Fjord wirklich nicht
besonders ähnlich. Abgesehen von den fast geheilten Schnittwunden auf den
Knöcheln der linken Hand. Ihr Handgepäck bestand aus einer schlanken hellblauen
Laptophülle und einer Ausgabe des Extremsportmagazins New Spirits.
Sie sah dem zweistündigen Flug nach Frankfurt mit einer gewissen Unruhe
entgegen. Sie wusste, dass sie immer schreckliches Pech mit ihren Sitznachbarn in
Flugzeugen hatte, und es war ihr so kurzfristig nicht mehr gelungen, ihren
Nachbarplatz mit zu buchen. Sie war dankbar dafür, dass Lufthansa in der Business
Class die mittleren Plätze freihielt. Das war natürlich keine Lösung, aber doch eine
Erleichterung. Die junge Frau war eigentlich nicht besonders empfindlich, was
andere Menschen anging, obwohl sie sehr abgelegen wohnte. Sie hatte kein
Problem mit U-Bahn-Fahrten, sogar zu Stoßzeiten, und sie hatte sich schon oft
genug in voll besetzte Busse drängeln müssen, um sich daran gewöhnt zu haben.
Sie unterhielt sich von Zeit zu Zeit sogar gerne mit Taxifahrern. Sie hatte einfach nur
schreckliches Pech mit ihren Flugnachbarn. Sie bekam immer die hilflosen Mütter mit
verzweifelten Säuglingen, Siebenjährige mit nervösem Magen, alte Frauen mit Fotos
von ihren Enkeln und fette Geschäftsleute mittleren Alters mit roten Nasen, die
permanent wie hypnotisiert auf ihre Brüste starrten, solange keine Stewardess dafür
verfügbar war. Immer.
Sie betrat das Business-Class-Abteil und suchte ihren Platz. Der Nachbarplatz war
bereits besetzt. Sie hatte den Platz am Gang. Am Fenster saß ein junger Mann in
einem schlecht sitzenden, aber teuren grauen Anzug, in dessen Gesicht sie wie in
einem Buch lesen konnte. Er sah sie an, erkannte, dass sie in seinem Alter war, hielt
sie für attraktiv und begann, nachzudenken, wie er sie ansprechen konnte. Während
sie sich setzte, nickte er ihr zu und bewegte die Lippen, ohne tatsächlich einen Gruß
auszusprechen. Er war unsicher. Aber sie wusste, dass das kein gutes Zeichen war.
Sie hasste ihn jetzt schon. Sie seufzte und lehnte sich in ihren Sitz. Vielleicht lag es
gar nicht an ihren Nachbarn. Vielleicht lag es am Flugzeug. Sie hasste Flugzeuge.
Vielleicht projizierte sie das auf die anderen Insassen und hatte deshalb das Gefühl,
immer neben unerträglichen Scheusalen zu sitzen. Sie fuhr nachdenklich mit der
Zunge an ihren Zähnen entlang und beschloss, dass es einfach wirklich nur an ihren
Sitznachbarn lag.
„Machen Sie so was etwa?“ fragte der Mann auf Schwedisch.
Er sprach zu laut und in einem Ton künstlicher Fröhlichkeit.
„Hah? Ach so.“ Er sah das Extremsportmagazin an. Und grinste als wolle er einen
Wettbewerb gewinnen. „Nein, würde ich nie tun.“
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„Zu gefährlich, hm?“
Großer Gott. Sie nickte und packte den Laptop aus. Dann fiel ihr ein, dass sie warten
musste, bis das Flugzeug abgehoben hatte und die dämlichen Anschnall-Lampen
aus waren. Sie schnitt eine Grimasse und packte das Gerät wieder ein.
„Tja, äh… Sie müssen noch arbeiten, was?“
„Glücklicherweise nicht“, log sie. „Hab frei.“
„Tja… Mm… Was machen Sie denn so?“
Jesus, hab Erbarmen.
„Ich arbeite für Vattenfall.“
„Das klingt spannend. Was machen Sie denn da? Ich heiße übrigens Ragnar.“
Während die Maschine zur Startbahn rollte und abhob, nannte sie ihren Namen als
Linda und erzählte ihm von ihrer imaginären Tätigkeit. Sie leitete ein so genanntes
CDM-Projekt in Pakistan. Sie erklärte ihm, dass CDM-Projekte durch das KyotoProtokoll in die Welt gebracht worden waren und dass Vattenfall sozusagen einen
Bonus dafür bekam, in Entwicklungsländern die Emission von Treibhausgasen zu
reduzieren. Sie hatte kaum gehofft, ihn damit hinreichend langweilen zu können, und
tatsächlich hörte er ihr mit nicht nachlassender Aufmerksamkeit zu.
Bing. Die Anschnall-Lichter verloschen. Linda holte wieder den Laptop hervor und
schaltete ihn ein.
„Doch noch Arbeit?“
Sie unterdrückte ein Stöhnen.
„Neinnein.“ Sie lächelte ein falsches Lächeln, das aber ehrlicher wirkte als seins. „Ich
muss nur noch einen Rekord brechen.“
Sie setzte eine Display-Brille auf, deaktivierte das Display des Laptops und startete
ein Programm namens Discordia, Inc. Was auf dem Bildschirm erschien, sah aus wie
ein Spiel. Es begann mit dem Grundriss eines Hauses, durch das sie eine kleine
Figur bewegte. Es war ein riesiges Haus.
„Ihr eigener Rekord?“
„Genau.“
„Welches Spiel denn?“
Sie dachte darüber nach, ihn direkt zu beleidigen, damit er Ruhe gab. Gelegentlich
begegneten der kleinen Spielfigur andere Figuren, und dann erschien ein Fenster am
Bildrand, das Fotos und eine Beschreibung der Figur beinhaltete. Nach einer Weile
verschwanden die Fenster, und die kleine Spielfigur wanderte weiter durch den
Grundriss des Hauses. Es wäre ein schrecklich langweiliges Spiel gewesen, wenn es
ein Spiel gewesen wäre.
„Was für ein Spiel ist denn das?“
„Oh, das ist so ein uraltes Ding“, antwortete sie und wedelte unbestimmt mit ihrer
linken Hand herum. „Eigentlich ist es nicht mal besonders lustig, aber ich komm
irgendwie nicht davon los.“
Er lachte.
„Ja, so was kenn ich. Ich spiel immer noch manchmal stundenlang Tetris.“
„Genau so was ist das.“
Sie bekam Kopfschmerzen. Ganz plötzlich, und sehr schmerzhaft. Das lag aber nicht
an ihrem Nachbarn, obwohl sie sich wünschte, es wäre so.
Der Spielfigur begegnete eine neue andere Figur. In dem Fenster am Bildrand
erschien das Foto eines kleinen Jungen, nach den Angaben darunter war er acht
Jahre alt, hieß Bernd Junker und besuchte eine Hamburger Privatschule in der
Warnowstraße. Neben diesen Grunddaten enthielt das kleine Fenster ein
eigentümliches Sammelsurium von Informationen, von den Namen seiner Freunde
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über sein Lieblingsspiel und sein liebstes Essen bis hin zu dem Kostüm, das er gerne
zu Karnevalszeiten trug.
„Wollen Sie direkt nach Frankfurt oder reisen Sie noch weiter?“
„Ich will nach Hamburg.“
Sie erlaubte sich ein leise gehauchtes Seufzen und wählte die OK-Schaltfläche in
dem kleinen Fenster an. Die Figur des kleinen Jungen verschwand, und die
Spielfigur der jungen Frau verließ sein Schlafzimmer.
„Ich bleibe in Frankfurt. Kennen Sie die Stadt?“
Sie zog blind mit ihrer freien linken Hand einen Milky-Way-Riegel aus ihrer Tasche
und hielt ihn eine Weile. Dann begann sie ihn einhändig auszupacken, während die
rechte weiterhin den Computer bediente. Sie hatte das sichere Gefühl, dass sie auf
dieser Reise sehr viele Schokoladenriegel brauchen würde. Glücklicherweise hatte
sie genug dabei.
Sie aß alle sieben und kaufte am Flughafen Frankfurt noch ein Dutzend. Sie war
richtig erleichtert, als sie in ihr zweites Lufthansa-Flugzeug stieg und auf dem
Nachbarsitz die fette ungewaschene Frau erblickte, deren Finger tief in die Armlehne
gepresst waren, der Schweiß auf der Stirn stand und die mit bebenden Lippen durch
die Lehne des Sitzes vor ihr stierte.
Am nächsten Tag verbrannte einer der Staatsanwälte, die eines der zahllosen
Verfahren gegen den italienischen Ministerpräsidenten Berlusconi betrieben, bei
einem aus unbekannter Ursache ausgebrochenen Feuer gemeinsam mit einigen
wichtigen Beweismitteln. Sonia war auf unpassendste Weise überglücklich und lief
mit einem dümmlichen Grinsen zu Dr. Meiller.
„Zufallstreffer“, sagte er.
„Zufallstreffer?“ fragte Sonia.
„Klar.“ Dr. Meiller stützte die Ellenbogen auf seinen Schreibtisch und legte die Finger
vor seinem Kinn aneinander. „Jeden Tag kommen Tausende von Menschen ums
Leben. Ach, wahrscheinliche sind es jede Stunde Tausende.“
„Aber nicht jeder davon läuft über den Ticker.“
„Klar. Aber wie viele Todesfälle bekommen wir im Schnitt pro Stunde über den
Ticker? Doch bestimmt mindestens zehn.“
„Aber das hier ist was Politisches. Das ist… doch so was Ähnliches.“
Sie wusste, dass das nicht viel Sinn ergab. Aber sie war eben enttäuscht und hatte
keine Lust, vernünftig zu sein.
„Es hat gar nichts mit der Ermordung von Indira Gandhi zu tun. Überhaupt nichts. Es
ist immer noch sehr gut möglich, dass Ihre Anruferin sich einfach wichtig machen will.
Es ist sogar sehr wahrscheinlich.“
„Was schlagen Sie vor?“
„Wir sollten den nächsten Dienstag abwarten. Wenn dann zum Beispiel der Papst
stirbt oder die First Lady ermordet wird, werde ich mich bei Ihnen entschuldigen, und
Sie haben eine Story. Eine gute wahrscheinlich.“
„Aber… Es geht hier um Menschenleben.“
Er öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, aber sie kam ihm zuvor:
„Schon gut, ja; das sollte jetzt nicht so melodramatisch klingen. Aber offenbar bezieht
sich die Verschwörung doch auf Mordanschläge. Wenn wir jetzt schon anfangen zu
recherchieren“, sie zuckte ostentativ die Schultern, „Wer weiß? Vielleicht können wir
dann sogar dazu beitragen, den Anschlag am Dienstag zu verhindern. Vielleicht
können wir das Opfer warnen.“
„Sehen Sie viel fern, Frau Schopp?“
Sie grinste.
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„Ich verstehe Ihren Standpunkt ja“, sagte sie.
„Oh, vielen Dank.“
„Sie wissen, wie ich das meine.“
Er lächelte und nickte. Dr. Meiller war eigentlich ein ziemlich netter Kerl für einen
Chefredakteur.
„Ich meine“, fuhr Sonia fort, „Es schadet doch nicht. Was riskieren wir schon? Dann
schreibe ich eben einen Bericht vom Schützenfest weniger, oder ich arbeite
außerhalb meiner eigentlichen Arbeitszeit dran. Das könnte ich doch machen, oder?“
„Klar, das könnten Sie machen. Aber die Berichte vom Schützenfest bleiben.“ Er
lächelte, als er hinzufügte: „Da könnte ja schließlich auch jemand sterben. Halali.“
Sonia hatte bis Dienstag nicht besonders viel gefunden, hatte es aber geschafft, so
lange über die Sache nachzudenken und sich so eingehend damit zu beschäftigen,
dass sie nun ohne jeden vernünftigen Grund fest daran glaubte, dass etwas dran war
an ihrer noch-keine-Geschichte. Sie sorgte sich deshalb ein bisschen um ihr
Urteilsvermögen, aber nicht sehr.
Ungeduldig wartete sie auf die große Nachricht und gab sich redlich Mühe, ihre
eigentliche Arbeit darüber nicht mehr zu vernachlässigen, als unvermeidlich war. Es
war sehr ärgerlich, dass sie nicht einmal die ungefähre Uhrzeit kannte, zu der sie mit
der Meldung rechnen musste. Sie nervte sich selbst furchtbar damit, dass sie den
ganzen Tag lang alle fünf Minuten auf den Ticker schaute und jede einzelne der zum
Teil völlig absurden Meldungen nach Hinweisen auf eine gigantische internationale
Verschwörung durchsuchte.
Kurz vor der Mittagspause gestand sie sich ein, dass der Versuch, ihre Arbeit nicht
zu vernachlässigen, völlig missglückt war. Sie hatte noch nicht einmal die Hälfte von
dem geschafft, was sie eigentlich am Vormittag erledigt haben wollte. Dr. Meiller
würde darüber nicht sehr erfreut sein. Sonia wollte nicht für den Rest ihres Lebens
Schützenfest-Artikel schreiben. Sie nahm sich vor, sich am Nachmittag besser zu
konzentrieren und außerdem die Mittagspause ausfallen zu lassen. Sie war ohnehin
nicht besonders hungrig.
Um 13:49 Uhr meldete dpa einen Anschlag auf US-amerikanische Truppen im Irak.
Um die zwanzig Soldaten und zwei hochrangige Offiziere seien dabei ums Leben
gekommen. Schrecklich, zweifellos, aber irgendwie nicht… aufsehenerregend genug.
Sonia fand sich selbst ein bisschen zynisch, weil sie das dachte, aber es wäre eine
spektakulärere Meldung gewesen, wenn mal einen Tag lang niemand bei einem
Anschlag im Irak gestorben wäre.
Um kurz vor vier stand ihr Ressortleiter Friedrich Junius vor ihrem Schreibtisch und
faltete sie auf Postkartengröße, weil ihm der Artikel über das Altonaer Stadtteilfest
nicht gefiel. Er benutzte Begriffe wie „Abizeitung“ und „Tagebuch einer
Dreizehnjährigen“. Junius spielte gerne mal den harten Mann und sie nahm nicht
jedes Wort ernst, aber andererseits würde er Sonias Personalbeurteilung schreiben.
Sie seufzte und versuchte sich an einer fesselnderen Schilderung der Buden und
Karussells.
Die Tickermeldung, auf die sie wartete, kam nicht. Auf ihre überarbeitete Version des
Artikels bekam sie von Junius nur eine Mail mit dem Text: „Sieh zu, dass du morgen
wieder bei der Stange bist!“ und einem ClipArt von einem zornig auf und ab
springenden Mann im Anzug mit knallrotem Gesicht. Er liebte ClipArts. Er war der
einzige Kollege, den sie wirklich überhaupt gar kein bisschen leiden konnte. Natürlich
musste ausgerechnet der ihr Chef sein.
Sie blies sich mit bockiger Miene eine Haarsträhne aus dem Gesicht und vollführte
im Geiste eine obszöne Geste in Richtung seines Büros. Dann warf sie einen letzten
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Blick auf den Ticker - Snoop Dogg in eine Schießerei verwickelt, aber offenbar
unverletzt - und stand auf.
Was war los? Hatte die Frau am Telefon wirklich nur gesponnen? Oder hatte sie die
entscheidende Nachricht übersehen? War es vielleicht doch der Anschlag auf die
Soldaten gewesen?
Sie seufzte und streckte die Hand nach ihrem Computer aus, als eine Nachricht von
Dr. Meiller auftauchte.
„War was?“ stand im Betreff.
„Leider nicht“, schrieb sie zurück, schaltete das Ding aus und machte sich auf den
Nachhauseweg.
Sie fand, dass heute ein guter Abend war, um sich zu betrinken.
In ihrer Wohnung fand sie ihren Bruder zusammen mit zwei Freunden vor, die sie
noch nicht kannte. Sie setzte sich zu ihnen, und nach einer Weile und zwei Gläsern
Caipirinha fand sie sie eigentlich ganz nett. Nur wenige Gläser Caipirinha später
konnte sie sogar laut über ihre Witze lachen und fühlte sich richtig wohl mit ihnen.
Wer hätte gedacht, dass so ein mieser Tag in so einen lustigen Abend münden
würde?
Neddi erzählte gerade eine rasend komische Geschichte davon, wie sie bei Kaufhof
eine Uhr geklaut hatte und Sonia prustete vor Lachen, als bei Martens ständigem
Herumgezappe eine Nachrichtensendung auftauchte.
„Ermordet aufgefunden. Die Polizei gibt aus ermittlungstaktischen Gründen keine
Einzelheiten bekannt, nach uns vorliegenden Informationen wurden Junker und seine
Familie furchtbar zugerichtet. Unser Reporter vor Ort ist Heinz Gelder. Heinz, kannst
du mich hören?“
Er war schon bei HSE24, als Sonia sich so weit in den Griff bekommen hatte, dass
sie unter Mühen und mit kaum unterdrücktem Kichern hervorbringen konnte:
„Geh noch ma zurück zu den Nachrichten!“
„Quatsch!“ erwiderte er, „Is doch totlangweilig!“
Sie atmete tief durch und bemühte sich, ihren etwas verstreuten Verstand zu
sammeln.
„Nein, ich will das sehen! Los!“ quengelte sie, und lehnte sich über Neddi zu ihm
hinüber, um ihm die Fernbedienung wegzunehmen.
Neddi lachte auf, und Marten lachte mit.
„Schon gut, schon gut.“
Er gab ihr die Fernbedienung. Sie begann, sich ein bisschen über den Caipirinha zu
ärgern, während sie erst die richtigen Tasten und dann den richtigen Sender suchte.
„Gibt uns leider keine genaueren Auskünfte, aber allem Anschein nach wurde Rudolf
Junker am heutigen Abend in seiner Hamburger Villa getötet. Gerüchten zufolge
befanden sich auch Mitglieder seiner Familie und einige Angestellte in dem Haus, als
das Verbrechen begangen wurde. Die genaue Zahl der Opfer ist noch unklar.“
„Was ist denn?“ rief Neddi, „Das ist doch laaangweilig!“
Sonia hörte gar nicht hin. Sie hörte nicht mal dem Fernseher zu. Rudolf Junker war
eine ziemlich große Nummer. Er hatte als Gründer eines großen
Versandhandelsunternehmens eine riesige Menge Geld verdient und hatte dann
irgendwann Ende der Neunziger beschlossen, dass er in der Politik gebraucht wurde.
2003 hatte ihn die Bürgerschaft zum Ersten Bürgermeister gewählt, und er war erst
vor ein paar Wochen zurückgetreten, weil die Polizei gegen ihn in einer Mordsache
ermittelte. Ein ehemaliger Geschäftspartner oder so was.
Sonia erinnerte sich nicht an die Details und schrieb das dem Caipirinha zu.
Irgendjemand in ihrer Redaktion, dessen Name ihr gerade nicht einfallen wollte, hatte
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angedeutet, eine Quelle habe ihm gegenüber ziemlich deutlich gesagt, dass es keine
greifbaren Beweise gegen Junker gab, nur eben ein verdammt gutes Motiv. Und er
hatte dem Opfer gedroht, ein Paar Tage vor dessen Tod.
Das Telefon klingelte. Der einzige wichtige Anruf um diese Zeit würde von Dr. Meiller
kommen, und der würde bemerken, dass sie betrunken war. Das wollte sie nicht.
Sonia beschloss, das Telefon zu ignorieren. Sie konnte sich auch morgen noch für
ihren Instinkt loben lassen. Sie hatte eine Story.
In Zimmer 315 des Hotels Vier Jahreszeiten lag eine junge Frau auf dem Bett. Sie
lag auf dem Rücken. Ihr Mund war halb geöffnet, die oberen Schneidezähne waren
teilweise zu sehen. Wäre das Licht günstiger gewesen, hätte man aus einer
Perspektive direkt über ihr auch ihre Zunge erkennen können. Ihr Blick war starr zur
Zimmerdecke gerichtet. Ihre Arme waren halb ausgebreitet und die Hände lagen auf
Höhe ihrer Taille. Die junge Frau hatte in ihrem Leben viel Schuld auf sich geladen,
aber das berührte sie kaum, denn sie hatte kein Gewissen. Sie war nämlich ein
Lehrbuchbeispiel einer Soziopathin.
Die junge Frau lag wie tot auf dem Bett, und sie war sich nicht sicher, ob sie sich
hätte rühren können, wenn sie es gewollt hätte. Weil sie eine Soziopathin war, war
es nicht die unfassbare Grausamkeit ihrer Taten, die sie paralysierte. Die junge Frau
war aus anderen Gründen emotional und mental erschöpft.
Junker hatte in einem riesigen Labyrinth von einem Haus in einem Park gewohnt, der
andernorts für eine ganze Stadt gereicht hätte und in dem sich zahlreiche Nebenund Wirtschaftgebäude versteckten. Sie hatte, um sicher zu gehen, fünf Stunden auf
diesem Grundstück verbracht. Fünf Stunden, deren jede einzelne Sekunde ihre
höchste Aufmerksamkeit erfordert hatte.
Natürlich hatte Junker ein paar gelangweilte Personenschützer einer teuren privaten
Agentur dort herumstehen gehabt, aber die waren schnell beseitigt gewesen. Wenn
man das Schema kannte, wusste man, wo man sie fand. Und diese speziellen
Exemplare waren wirklich nicht besonders gut gewesen.
Das wirklich Aufzehrende war danach gekommen. Das Haus durchsuchen. Nach
Köchen, Reinigungskräften, Fahrern, Sommeliers und Fensterputzern, nach Kellnern
und Dienstboten, nach Söhnen und Töchtern, Neffen, Tanten und nicht verwandten
Besuchern. Nach Portiers und deren Verwandten, nach Haushältern und Leuten, von
denen wahrscheinlich niemand wusste, dass sie auch noch da waren.
Natürlich hatte sie nicht jeden entfernten Verwandten jedes Portiers töten müssen,
aber sie hatte sichergehen wollen, dass ihr niemand entging, der Junker nahestand.
Gerade bei diesem Auftrag durfte nichts schiefgehen. Clarence hatte das nicht
gesagt, aber sie hatte es auch so gewusst. Junker hatte nicht bezahlen wollen. Er
hatte Clarence ausgelacht. Niemand lachte über Discordia, Inc., außer vielleicht
manchmal Discordia, Inc. selbst.
Fünf Stunden durch ein dunkles, riesiges und deshalb trotz der Vielzahl an
Bewohnern leeres Haus zu schleichen und zu wissen, dass jeder, der ihr hier
begegnen konnte, ihr Todfeind war, hatte sie ausgelaugt. Dass die junge Frau eine
Soziopathin war, hieß nicht, dass sie keine Gefühle hatte. Sie fürchtete sich vor dem
Tod, wie jedes ihrer Opfer. Vielleicht mehr als viele von ihnen, weil sie ihn gut
kannte, in fast allen seinen Facetten. Sie erinnerte sich an einige, die ihr bis zum
letzten Moment mit unfassbarer Gelassenheit in die Augen gesehen hatten. Sie
verstand diese Gelassenheit nicht. Sie bemühte sich, diejenigen, die sie so ansahen,
so schnell wie möglich zu töten, damit es vorbei war.
Die junge Frau hatte Angst vor der Dunkelheit, auch wenn das angesichts ihrer
Berufswahl unvorstellbar scheint. Sie war oft genug durch finstere Gebäude
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geschlichen, um zu wissen, dass die Dunkelheit nicht der Freund des Schattens mit
dem Messer war. Die Dunkelheit war niemandes Freund. In der Dunkelheit wartete
Gefahr, egal für wen.
Menschen zeigten in Lebensgefahr oft völlig unerwartetes Verhalten. Die junge Frau
hatte Offiziere erlebt, die wimmernd auf die Knie fielen und bettelten, und sie hatte
sechsjährige Mädchen kennen gelernt, die mit einem Messer auf sie los gegangen
waren. Natürlich war es in der Mehrzahl der Fälle umgekehrt. Aber man konnte es
nie wissen.
Vor knapp einem Jahr war sie dem Tod begegnet, in Gestalt eines sechzehn Jahr
alten Au-Pair-Mädchens, von dem niemand gewusst hatte. Das Mädchen hatte sich
mit einem Fleischerbeil hinter einer Gardine versteckt und hätte die junge Frau damit
getötet, wenn es vernünftig damit hätte umgehen können. So hatte es die schwere
Klinge stattdessen nur in die Schulter der jungen Frau gegraben, nicht einmal
besonders tief, ihr aber trotzdem fürchterlich weh getan und sie noch fürchterlicher
erschreckt.
Sie erinnerte sich an ein kleines Mädchen in einem viel zu großen Kleid mit Bildern
von Katzen darauf. Auch dieses Mädchen war in ihrem Briefing nicht aufgetaucht,
niemand hatte gewusst, dass es in Junkers Haus war. Trotzdem stand es plötzlich
vor ihr, sah zu ihr auf und sagte:
„Entschuldigen Sie, wissen Sie, wo meine Mutter ist?“ Sie sprach so sorgfältig, als
hätte sie diesen Satz in stundenlanger mühevoller Arbeit auswendig gelernt und
seine Aussprache perfektioniert.
Die junge Frau hatte ihre Pistole eingesteckt und dem Mädchen mit einer routinierten
Bewegung das Genick gebrochen. Es war ihr auf sonderbare Weise unangebracht
vorgekommen, eine Vierjährige zu erschießen. Kinder hatten einen besonderen Platz
in ihrem Herzen.
Sie erinnerte sich auch an den Barkeeper in der Küche. Wer hatte einen Barkeeper
im eigenen Haus? Vielleicht hatte Junker eine kleine private Party gehabt an jenem
Abend, wer weiß. Sein Blick war von ihrem Gesicht zu der Pistole in ihrer Hand
gesprungen, erst verwirrt, dann argwöhnisch, dann unerwartet resigniert.
„Sie wollen kein Geld, oder?“ hatte er gefragt.
„Nicht von dir“, war ihre Antwort gewesen.
Die junge Frau auf dem Hotelbett seufzte. Sie versuchte, den Fernseher
einzuschalten, aber ihre Arme bewegten sich nicht. Sie wusste auch nicht, wo die
Fernbedienung war. Außerdem hatte sie schreckliche Kopfschmerzen.
Ich bin im Begriff, zu zerbrechen, dachte sie. Aber woran? An meinem Beruf?
Wahrscheinlich. Sie dachte an diesen albernen Begriff, „Burn-out-Syndrom“, aber ihr
fehlte die Kraft für ein bitteres kleines Lächeln. Er definiert mich. Was bin ich, wenn
ich ihn aufgebe? Ohne ihren Beruf würde sie erst recht vergehen, wie Asche im
Wind.
Ihr Telefon klingelte.
Philippe musste sich große Mühe geben, seine Gesichtszüge nicht entgleisen zu
lassen, als er nach der langen Fahrt durch die afrikanische Steppe aus dem
Geländewagen stieg.
Direkt vor ihm ragte eine kahlköpfige Frau in einem weißen Bademantel auf. Sie war
mindestens einen Kopf größer als er, und ihre Schultern waren scheinbar doppelt so
breit wie seine. Da sie so nah vor ihm stand, musste er seinen Kopf weit
zurücklegen, um nicht direkt in ihren Ausschnitt zu blicken.
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Sie standen im Innenhof eines mediterranen Gebäudekomplexes, der ungefähr so
aussah, wie Philippe sich immer die Landsitze spanischer Adliger vorgestellt hatte,
einschließlich eines beruhigend plätschernden Springbrunnens in der Mitte.
„Willkommen!“ rief sie auf Englisch mit einem offenen Lächeln, das zwei Reihen
strahlend weißer Zähne entblößte. „Du musst Philippe sein.“
„Ähh… Ja.“
„Ich bin Kira. Was ist deine Lieblingssprache, Philippe? Es ist doch in Ordnung, wenn
ich Philippe sage? Wir glauben hier an eine familiäre Arbeitsatmosphäre, das hat
sich bewährt.“
„Ja, das ist kein Problem“, antwortete er unsicher.
„Französisch nehme ich an?“
„Ja, tatsächlich.“
„Dann sprechen wir Französisch“, sagte sie. Sie hatte einen breiten englischen
Akzent, aber sie schien die Sprache gut zu beherrschen. „Du sollst dich ja bei uns
wohl fühlen. Es ist uns wichtig, dass unsere Mitarbeiter sich wohl fühlen.“
Erst jetzt schien sie seinen konsternierten Gesichtsausdruck zu bemerken. Sie
breitete die Arme aus und blickte an sich herab.
„Irritiert dich meine Aufmachung ein bisschen? Das tut mir Leid. Weißt du, wir
glauben hier nicht an formelle Kleidung, und ich komme gerade aus dem Pool. Ich
vertrage die Hitze hier nicht, ich würde irgendwann einfach umfallen, wenn ich nicht
regelmäßig in’s Wasser ginge. Der Pool ist natürlich für alle da, also wenn du willst,
nur zu. Aber vielleicht nicht jetzt gleich, hm?“
Sie umfasste ihr Kinn mit einer Hand und blickte kurz nachdenklich zu Boden. Dann
sah sie wieder in seine Augen und fuhr fort:
„Es sei denn, das stört dich jetzt. Ich meine, wenn es dich irritiert, dass ich einen
Bademantel anhab, während du Anzug und Krawatte trägst, kann ich das gut
verstehen. Ich will nicht, dass du dich ausgeschlossen fühlst, soll ich mich schnell
umziehen?“
Er war sich nicht sicher, wie sehr er hier auf den Arm genommen wurde.
„Äähh… Nein, das ist nicht nötig, danke… Ich fühle mich bisher sehr willkommen
hier.“
Er brachte ein Lächeln zu Stande, befürchtete aber, dass es ein bisschen gequält
wirkte.
„Das ist schön, das ist uns wichtig. Kommst du mit? Dann zeige ich dir dein Büro.“
„Ich hab noch meine Koffer im…“
Sie winkte ab.
„Schon gut, darum kümmert sich schon jemand. Komm einfach mit.“
Sie führte ihn durch einen großzügig ausgestatteten Empfangssaal in einen
Fahrstuhl, der sie hinab in einen langen, indirekt beleuchteten, mit dunklem Holz
getäfelten Flur brachte.
„Das hier ist ein ehemaliger Bunker“, erklärte Kira, während ihre Latschen über den
hölzernen Fußboden schlappten, „Wir haben die nackten Betonwände ein bisschen
nett verkleidet und die grellen Leuchtstoffröhren gegen was Angenehmeres
ausgetauscht. Man erkennt es gar nicht wieder. Du würdest dich wundern, wenn du
das vorher gesehen hättest. Natürlich ist hier unten alles klimatisiert, das muss ja
sowieso sein.“
Sie blieb vor einer Tür stehen und zog ein dickes Schlüsselbund aus einer Tasche
ihres Bademantels. Sie nahm einen Ring mit drei Schlüsseln ab.
„Das hier ist dein Büro, und das sind die Schlüssel. Außer dir haben nur Clarence
und ich Zugang. Pass gut drauf auf. Dieser ist für die Tür, dieser für den Tresor, und
dieser für die Minibar. Auf den musst du nicht so gut aufpassen, wir sind billiger als
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die meisten Hotels.“ Sie grinste. „War nur Spaß, alles in der Minibar ist umsonst.
Wenn du was willst, was nicht drin ist, oder wenn sie leer ist, ruf den Concierge an.“
Sie schloss auf.
„Wow…“
Das Büro war größer, als er erwartet hatte, nicht viel kleiner als die Wohnung, in der
er bisher gelebt hatte. An den mit dunklem Holz verkleideten Wänden hingen einige
hübsch eingerahmte großformatige Fotos der Savanne mit Giraffen und Nashörnern
und allerlei Getier. Auf dem Schreibtisch aus glänzendem dunklem Holz stand ein
Telefon, neben dem ein Blue-Tooth-Headset lag, ein großer TFT-Monitor, zwei
Lautsprecher, ein Notizblock und ein Handheld-Computer in einer Dockingstation.
Hinter dem Schreibtisch stand ein abenteuerlich geformter ergonomischer
Arbeitssessel, der so aussah, als verfügte er deutlich mehr Freiheitsgrade als der
durchschnittliche menschliche Körper, und daneben –
„Ist das eine Hängematte?“
„Ja!“ rief Kira, „Genau! Arbeitshängematten! Wahnsinn, was? Die Idee haben wir aus
einer Simpsons-Folge, aber deine Kollegen lieben sie. Die meiste Zeit musst du ja
gar nicht am Schreibtisch sitzen, vor allem, wenn du das Headset benutzt.“ Dann ließ
ihre Begeisterung plötzlich nach, sie musterte ihn forschend. „Wir können sie auch
rausnehmen. Wenn du sie nicht magst, mag ich sie auch nicht.“
„Nein… Nein, schon gut… Es ist eigentlich… eine tolle Idee.“
Sie lachte laut und klopfte ihm so kräftig auf die Schulter, dass er den Impuls
unterdrücken musste, die schmerzende Stelle mit der Hand zu reiben.
„Und… der Korb ist für mich?“
Es war ein ziemlich eindrucksvoller Präsentkorb von der Größe eines Waschzubers,
in glänzendes Zellophan eingewickelt, gefüllt mit exotischen Früchten, Blumen,
verschiedenen Gläsern, wahrscheinlich Marmelade und andere Konserven, und
einigen bunten Päckchen verschiedener Größe und Form.
„Klar. Hoffentlich gefällt er dir. Der ist von uns allen. Wir haben einen Blick in deine
Bewerbungsinterviews geworfen um rauszufinden, was dir gefallen würde.
Hoffentlich hast du uns nicht angeschwindelt, hm?“
„Neinnein… Niemals...“
„Du wirst dich noch an alles gewöhnen, versprochen. In den ersten paar Tagen ist
jeder hier ein bisschen unsicher, aber das gibt sich. Vertrauen ist bei uns ganz
wichtig, Philippe. Wenn du irgendwas auf dem Herzen hast, erzähl’s mir. Vertrauen
ist die Basis für deine Arbeit hier. Ohne Vertrauen geht es nicht. Du bist offen zu uns,
wir sind offen zu dir. Vertraust du mir, Philippe?“
„Ähh. Ja?“ Er biss sich auf die Zunge. Das hätte nicht so sehr wie eine Frage klingen
sollen.
„Gut, ich vertraue dir auch. Kennst du dieses Vertrauensspiel, man schließt die
Augen und lässt sich fallen, und der andere fängt einen auf? Das machen wir hier am
Anfang mit jedem Neuen.“
Philippe selbst war eher schmal gebaut. Als Kira sah, wie er ihren wikingerhaften
Körper zweifelnd musterte, brach sie in brüllendes Gelächter aus und klopfte ihm
wieder auf die Schulter. Es tat inzwischen schon richtig weh.
„Schon gut“, sagte sie, „war nur Spaß, du musst mich nicht auffangen, keine Angst.
Aber vertrauen musst du mir. Hier, in dem Telefon ist meine Nummer gespeichert,
und Clarences auch.“
Sie ging zu dem Schreibtisch und zeigte auf die Speichertasten.
„Zwischen ein Uhr nachts und sieben Uhr morgens solltest du einen guten Grund
haben uns anzurufen, ansonsten sind wir für alles zu haben.“ Sie grinste ihn wieder
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an. Das Grinsen war zweifellos eines der freundlichsten und ehrlichsten, die er je
empfangen hatte. Und vielleicht eines der furchteinflößendsten.
„Gut…“
„Mit Computern kommst du ja zurecht, sonst hätten wir dich nicht eingestellt. Du
findest auf dem Desktop eine Präsentation, die dir so ziemlich alles erklärt, was du
hier wissen musst, und wahrscheinlich hast du unser QualitätsmanagementHandbuch unterwegs schon gelesen, aber ich erzähl’s dir jetzt trotzdem erst mal so,
in groben Zügen, das ist irgendwie persönlicher, meinst du nicht auch?“
„Doch doch…“
„Schön. Deine Hauptaufgabe ist der Kontakt zu unseren Außendienstlern. Du bist so
was wie eine Mutter für sie, oder meinetwegen ein Vater, wenn du mit der Metapher
sonst nicht klar kommst.“
Sie zwinkerte ihm zu und lachte wieder, und für einen Moment befürchtete er, dass
sie ihn wieder schlagen würde, aber sie tat es nicht.
„Sie wenden sich mit allen ihren Problemen an dich, und du hilfst ihnen dann – du
merkst es, da haben wir wieder das Vertrauen – und wenn du das mal nicht kannst,
dann rufst du mich an. Oder Clarence. Und dann schaffen wir das schon irgendwie.
Manchmal musst du auch die Außendienstler anrufen, die Nummern findest du auf
dem Computer. Die wechseln oft, wir schicken dann dazu regelmäßig Rundmails.
Immer bevor du mit einem Außendienstler sprichst – oder währenddessen, wenn es
sich kurzfristig ergibt – rufst du ihr Dossier auf. Du findest zu jedem ein Dossier, auf
deinem Computer, das dir sagt, wie du mit ihnen umgehen musst, wo sie gerade
sind, was sie mögen und was sie hassen, was sie können und was nicht so sehr,
alles Mögliche. Manche von denen sind ein bisschen… speziell. Deshalb ist das sehr
wichtig, und wird ständig aktualisiert. Du machst das auch, wenn du was Neues
erfährst. Das ist“
Ein Mobiltelefon klingelte in ihrer Tasche. Sie klappte es auf.
„Was gibt’s denn? Oh, verdammt. Ja, warte, bin sofort da.“
Sie steckte es wieder ein und eilte zur Tür.
„Tut mir Leid, Philippe, ich muss weg, Clarence findet die Fernbedienung nicht, halt
dich an die Präsentation auf dem Desktop, wenn noch was ist, ruf mich an, ja?
Vertrauen und so, alles klar?“ rief sie ihm im Gehen zu.
„Jaja, alles… klar“, murmelte er, aber schon vor dem letzten Wort hatte Kira die Tür
zugeworfen und war verschwunden.
Er hatte kaum auf dem Arbeitssessel Platz genommen, als das Telefon klingelte. Es
war ein angenehmes, gedämpftes Läuten. Er zögerte einige Augenblicke, während
derer er versuchte, sich an den Absatz in dem QM-Handbuch zu erinnern, in dem es
ums Telefonieren ging. Dann atmete er tief durch und nahm den Hörer ab.
„Discordia Incorporated, mein Name ist Philippe, wie kann ich Ihnen helfen?“
Sonia wurde von ihrem Telefon geweckt. Es war halb sechs. Ausgezeichnet. Sie
hatte gerade einen sehr schönen Traum gehabt, in dem sie fliegen und durch Wände
sehen konnte, aber sicher hatte der Anrufer eine mindestens ebenso erfreuliche
Nachricht.
Sie sah auf das Display und stöhnte. Ihr Bruder. Sie dachte kurz darüber nach,
einfach den Akku rauszunehmen oder das ganze Ding gegen die Wand zu werfen,
vergaß die Idee aber sofort wieder. Er war immerhin ihr Bruder.
„Marten!“ rief sie in das Mikrofon, erfüllt von einer übersteigerten autogenen
geschwisterlichen Liebe, die ihr hoffentlich helfen würde, ihn nicht wüst zu
beschimpfen und in die niedersten Höllen zu verfluchen. „Schön, dass du anrufst.
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Aber warum rufst du überhaupt an, wohnst du nicht gerade bei mir? Komm doch
rein!“
„Bin gestern noch mit Neddi unterwegs gewesen“, murmelte er. „Was ist denn mit dir
los?“
Er wollte Geld. Er sprach immer so leise, wenn er sich schämte. Er schämte sich
immer, wenn er Geld brauchte. Er brauchte eigentlich immer Geld. Ihre Eltern hatten
eines Tages beschlossen, dass es pädagogisch besser wäre, ihm keines mehr zu
geben. Sonia stand diese Erkenntnis noch bevor. Sie hoffte, dass sie bald kam.
„Darf ich mich nicht freuen, mit dir zu sprechen?“
„Doch, schon…“
„Was macht deine Freundin? Carla, oder?“
„Kalle geht’s gut. Sie… lässt dich grüßen.“
Das hatte er sich natürlich jetzt einfach ausgedacht. War doch aber nett von ihm.
Wahrscheinlich wusste Kalle – grässlicher Spitzname – nicht mal, dass er eine
Schwester hatte.
„Das freut mich doch, grüß sie zurück!“
„Du… Ich hab nicht mehr so viel Geld auf meiner Karte.“
„Schon gut, erzähl, was hast du auf dem Herzen?“
Sie war immer noch bemüht, ein völlig unsinniges Übermaß an Herzlichkeit und
Sonnenschein in ihre Stimme zu legen.
„Könntest du mir vielleicht ein bisschen was leihen? Nur bis nächste Woche, dann
kann ich bei Pepe anfangen.“
Pepe war der Inhaber eines chilenischen Restaurants. Sonia kannte ihn auch, und
sie war sich nicht sicher, ob er überhaupt jemanden suchte. Es wäre auch
merkwürdig, dass Marten davon nichts erwähnt hatte, sie hatte ihn doch gestern
Abend erst gesehen. Andererseits würde ihr Bruder sie sicher nicht anlügen.
„Wie viel brauchst du denn? Und warum so früh am morgen?“
„Gar nicht so viel… Nur, damit es bis Sonntag oder so reicht.“
Heute war Mittwoch. Wie viel brauchte Marten wohl, um bis Sonntag
auszukommen? Sonia war sehr glücklich mit ihrer Stelle beim Herold, aber direkt
fürstlich war die Bezahlung am Anfang natürlich auch nicht. Außerdem war auch für
sie Monatsende, deshalb entschied sie sich, mit einem niedrigen Angebot
einzusteigen.
„Zwanzig Euro? Wenn du ein bisschen sparsam bist…“
„Hmmm nee, ich hab eigentlich gar nichts mehr im Haus… Ich müsste schon ein
bisschen was einkaufen und so… Ich gebs dir auch wieder.“
Klar. Hatte er bisher ja auch immer. Hatte er? Klar. Bestimmt. Sie erinnerte sich jetzt
nur nicht, weil es so verdammt früh war und er sie mitten in der Nacht geweckt –
ruhig bleiben, du liebst deinen Bruder, ermahnte Sonia sich.
„Ich kann dir fünfzig geben. Sonst muss ich selbst hungern. Abgemacht?“
„Hmmm na gut, reicht schon irgendwie. Wann passt es dir denn?“
„Ich hab heute viel zu tun, und ich müsste erst noch zu einem Geldautomaten. Heute
nach der Mittagspause, so ab drei Uhr oder so?“
„Hmm… Geht’s nicht n bisschen früher?“
„Marten!“ zischte sie, um gleich danach tief durchzuatmen. „Ich schaffs nicht früher,
tut mir Leid. Hältst dus irgendwie durch bis um drei?“
„Muss ja.“
Er legte auf. War der jetzt etwa beleidigt, weil sie noch was anderes zu tun hatte als
dafür zu sorgen, dass er an ihr Geld kam? Sie schnaubte, würgte ihre Decke ein
bisschen und überlegte dann, ob es sich lohnte, noch mal einzuschlafen.
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Sie hatte heute wirklich viel zu tun. Die Sache mit den Morden war ein Spitzenthema.
Sie war zwar nicht sicher, was dahinter steckte, aber wenn sie das ordentlich
machte, war ihr ein fester Redakteursposten ziemlich sicher. Außerdem war sie jetzt
sowieso schon wach. Sie stand auf, um zu frühstücken.
Ihr Telefon klingelte wieder, kurz nachdem sie in ihr Auto gestiegen war. Sie hatte
sich schon oft eines dieser angeberischen Bluetooth-Headsets kaufen wollen, aber
dann waren sie ihr doch immer zu teuer gewesen. Deshalb musste sie nun unter
Missachtung der Straßenverkehrsordnung und unter Gefährdung der Leben anderer
und ihres eigenen das Telefon aufnehmen und mit der einen Hand an ihr Ohr halten.
„Ja?“
„Glauben Sie mir jetzt? Oder halten Sie mich immer noch für einen Spinner?“ Die
Frau am Telefon sprach immer noch mit dem leichten Akzent. Sonia war sich jetzt
ziemlich sicher, dass es französisch sein musste.
Sie musste sich beherrschen, um nicht laut aufzujaulen vor Begeisterung. Das war
alles genauso wie im Film, und sie war die Hauptperson! Mit einer gewissen Distanz
war ihr bewusst, dass gestern Nacht Menschen gestorben waren, aber das gehörte
eben dazu, wenn es spannend sein sollte.
„Ich glaube Ihnen“, sagte sie so beherrscht, wie sie konnte.
„Gut. Wenn sie jetzt schon so - ah, wie sagt man - aus dem Häuschen sind, warten
wir mal ab, bis Sie die Akte bekommen haben.“
„Welche Akte?“ fragte Sonia.
„Sie sind eine Organisation. Sie nennen sich Discordia, Inc., und ich habe für sie
gearbeitet. Aber jetzt nicht mehr. Jetzt kann ich nicht mehr. Jetzt will ich nicht mehr.“
„Was für eine Akte meinen Sie?“
„Das werden Sie dann ja sehen. Sie werden springen vor Freude. Das wird nicht nur
für einen Artikel reichen, das wird ein Buch.“
„Und...“ Sonia wusste gar nicht, wo sie anfangen sollte. „Eine Organisation? Was für
eine Organisation? Die bringen Leute um? Steckt eine Regierung dahinter? Und wer
sind - Scheiße!“
Sonia vollführte eine unsinnig hektische Lenkbewegung und bremste so heftig, dass
ihr Starbuck’s-Kaffeebecher vom Rücksitz nach vorne gegen das Radio geschleudert
wurde und ein stück Kunststoff herausschlug. Ihr Telefon hatte sie fallengelassen.
Trotzdem hatte sie deutlich gespürt, wie sie das kleine schwarze Tier überfahren
hatte, das vor ihr auf die Straße gesprungen war. Oder hatte es da die ganze Zeit
gestanden, und sie hatte es bloß nicht gesehen, weil sie nicht aufgepasst hatte?
Sonia sah sich zögerlich um. Sie wusste selbst nicht, was oder wen sie suchte, aber
sie fand es oder ihn nicht. Niemand, der wild schreiend auf ihr Auto zu rannte oder
weinend auf die Straße deutete. Niemand. Nur ein paar Läden und ein ReweSupermarkt an der Ecke.
Was jetzt? dachte sie. Wem auch immer die Katze - bestimmt eine Katze, für einen
Hund war es zu klein gewesen, Sonia mochte Hunde, Katzen mochte sie nicht gehörte, er war nicht da. Sie würde ihn bestimmt nicht finden. Katzen waren bekannt
dafür, dass sie eigensinnig waren und alleine durch die Welt liefen und nur zum
Fressen nach Hause kamen. Es hatte also eh keinen Sinn, den Besitzer zu suchen.
Was konnte sie schon tun? Gar nichts. Außerdem hatte sie ein bisschen Angst
davor, gleich vor einem heulenden kleinen Mädchen zu stehen, dessen besten
Freund sie getötet hatte. Ihr wurde ein bisschen schlecht bei dem Gedanken. Sie
würde zu spät zur Arbeit kommen.
Sonia sah sich noch einmal um und fuhr dann einfach weiter.
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„An Ihrer Sache scheint was dran zu sein“, sagte Dr. Meiller.
Sie nickte eifrig und fragte: „Wissen Sie schon Einzelheiten? Ich hab’s nur über die
Nachrichten erfahren.“
Er senkte den Blick und schüttelte seinen Kopf. Es war keine Antwort auf ihre Frage.
„Schlimme Sache“, sagte er. „Hinrichtung, mit Folter. Die Polizei gibt keine
Einzelheiten bekannt, aber die Zahl der Opfer ist offenbar zweistellig. Die gesamte
Familie. Mehrere Kinder. Je näher die Verwandtschaft, desto schlimmer waren sie
zugerichtet.“
Fantastisch, dachte Sonia, unglaublich, so was gibt’s doch sonst nur im Kino. Sie
bemerkte, dass sie breit grinste. Ihren Unfall mit Fahrerflucht hatte sie schon wieder
völlig vergessen. Oder zumindest redete sie sich das ein. Meiller hob seine
Augenbrauen.
„Ich dachte nur gerade… an was anderes. Aber es gibt noch keine Verdächtigen?“
„Hm. Eigentlich keine. Also, ich habe ein bisschen was erfahren. Unter Zwei.“ Das
hieß, von einer Quelle, die nicht namentlich genannt werden wollte. „Sie haben kaum
Spuren gefunden, und keine besonders guten. Sie sind sich sicher, dass es ein
Professioneller war. Die Grausamkeit ist für einen Auftragsmörder unüblich, ist aber
leicht erklärbar, wenn der Auftraggeber es so wollte.“
Sie nickte. „Klar.“
Meiller setzte sein bestes Dann-mal-an-die-Arbeit-Lächeln auf, nickte einmal
nachdrücklich und schlug mit beiden Händen auf seinen Schreibtisch. „Sie haben
eine Story.“
„Hey Richie Rich, was hast du denn da?“
„Ja, lass mal sehen!“
„Hey, kommt schon, gebt mir das zurück!“
Julian kannte die beiden größeren Jungs. Sie gingen mit ihm zur Schule, und zogen
ihn oft auf, wenn sie zusammen in der unterirdischen Station auf die S-Bahn
warteten. Das störte ihn nicht; er war da nicht so empfindlich. Heute schienen sie
allerdings einen schlechten Tag gehabt zu haben. Patrick hatte ihm den Karton mit
seiner neuen PSP weg genommen, den Julian sich gerade gekauft hatte. Jetzt
drehten die beiden ihm den Rücken zu.
„Mit ‚Lego Batman’? Och Gott, ist das süß, der Kleine spielt mit Bauklötzen!“ rief
Patrick.
„Ja, Schwuchtel!“ stimmte Ronny ein.
„Das Spiel ist da eben dabei“, antwortete Julian, und fand die Antwort selbst ziemlich
lahm. „Kommt schon, gebt’s mir wieder!“
„Hol’s dir!“ rief Patrick, und hielt es so hoch, dass Julian es nicht erreichen konnte.
Julian sah das, und dachte gar nicht daran, sich hier am Bahnhof vor allen anderen
lächerlich zu machen,
„Na los, gib’s mir zurück“, sagte er so ruhig er konnte.
Patrick schien ziemlich enttäuscht, dass er nicht mitspielte.
„Willst du sie gar nicht wiederhaben?“
„Doch, aber ich komm ja eh nicht ran“, stellte Julian fest. „Außerdem gebt ihr es mir
ja am Ende doch zurück.“
„So, meinst du?“ fragte Patrick mit einem breiten Grinsen.
Er drehte sich um und ging, mit dem Karton in der Hand. Ronny folgte ihm. Beide
lachten.
„Hey, spinnst du?“ rief Julian.
„Hoffentlich wirft er nicht seinen Batterang nach uns“, spottete Ronny.
„Heiliger Konsolendiebstahl!“ rief Patrick.
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Julian sah den beiden nach. Die meisten der anderen Leute taten so, als wäre gar
nichts passiert. Einige versuchten, nicht so auszusehen, als würden sie zuschauen.
Ein älterer Mann sah so aus, als ränge er mit sich, irgendetwas zu tun, und wüsste
nur noch nicht recht, was.
„Ihr könnt doch nicht einfach…“ begann Julian den beiden hinterher zu rufen. Er
verstummte.
Eine junge Frau mit einem blauen Campingrucksack und großen Kopfhörern lief an
Patrick vorbei auf Julian zu und nahm ganz beiläufig die PSP aus seiner Hand.
Patrick schrie spitz auf, wie ein Mädchen, und fiel zu Boden, wo er dann kurz sitzen
blieb und sich verwirrt umsah. Julian schüttelte verwirrt den Kopf. Wie war das denn
passiert? Die Frau hatte Patrick gar nicht berührt.
Sie blieb vor Ronny stehen und lächelte ihn an.
„Lass es dir nicht wieder wegnehmen, hm?“ sagte sie, und zwinkerte ihm zu,
während die S-Bahn in den Bahnhof einfuhr.
Sie hielt Julian den Karton hin. Er nahm ihn. Sein Blick flackerte zwischen ihr und
Patrick hin und her, der sich von Ronny aufhelfen ließ und eine Stelle knapp unter
seinem Brustbein hielt, als hätte er Schmerzen.
„Äh… Danke“, sagte er, aber sie kümmerte sich schon gar nicht mehr um ihn.
Einige der Wartenden starrten sie an und begannen aufgebracht zu tuscheln, aber
sie beachtete das nicht weiter und stieg einfach ein.
Julian, Patrick und Ronny waren so verblüfft, dass der Zug abfuhr, bevor sie auf die
Idee gekommen waren, auch einzusteigen.
Die junge Frau mit dem Rucksack setzte sich nicht, sie stellte sich direkt neben die
Tür. Ihr rechter Fuß wippte im Rhythmus eines Punkrocksongs, den die
umstehenden Fahrgäste leise mithören konnten.
Sie trug eine leichte Jacke, Jeans und ein weißes Trägershirt. Sie zog viele Blicke
auf sich, weil viele der Mitfahrenden mit angesehen hatten, wie sie die PSP gerettet
hatte. Einige alte Frauen sahen sie mit offener Ablehnung an und schüttelten den
Kopf.
Konstantin Klaus musterte sie mit offenem Interesse. Auch er hatte es gesehen, und
obwohl auch er nicht leugnen konnte, dass es eigentlich ziemlich merkwürdig
gewesen war, was sie mit dem größeren Jungen gemacht hatte, hatte er es doch
andererseits irgendwie richtig gefunden. Er bemerkte, dass sie seinen Blick
erwiderte, und lächelte ihr zu. Sie erwiderte auch das Lächeln.
Sie hatte ein sympathisches Gesicht und leuchtend grüne Augen. Sie war ein paar
Jahre jünger als er, aber er fragte sich, ob er sie vielleicht ansprechen sollte.
Während er noch überlegte, was er sagen konnte, verlangsamte die S-Bahn bereits
wieder ihre Fahrt, als sie sich der nächsten Station näherte. Schließlich öffnete
Konstantin Klaus den Mund, um so etwas zu sagen wie: ‚Sie haben ein starkes
Gerechtigkeitsempfinden, was?’
Dann schloss er ihn wieder. Das würde nicht gut klingen. Er fürchtete, dass sie es als
Tadel auffassen könnte.
Sie stieg aus. Die Tür glitt zu hinter ihr, und Konstantin sah aus der abfahrenden SBahn seiner verpassten Gelegenheit nach.
Sie hielt an einem Kiosk an und kaufte zwei Überraschungseier und eine Flasche
Evian. Dann ging sie weiter. Sie war noch nie in Hamburg gewesen, aber sie wusste
genau, wohin sie ging. Sie öffnete das erste Überraschungsei, während sie ging. Sie
schob sich die beiden Schokoladenschalenhälften auf einmal in den Mund, dann
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öffnete sie den Innenbehälter. Ein Rennwagen zum Zusammenbauen. Sie warf den
ganzen Kram in einen nahe gelegenen Mülleiner.
Das zweite Überraschungsei enthielt ein Nilpferd mit einem großen gelben
Schwimmring. Sie warf es mit der Verpackung in einen anderen Abfalleimer und
schob sich dann die Schokolade in den Mund.
Sie dachte kurz darüber nach, ob sie schon einmal etwas in so einem Ei gefunden
hatte, das sie behalten wollte. Es kam ihr merkwürdig sinnlos vor, dass sie immer
wieder Überraschungseier kaufte, wenn sie mit dem Inhalt nie etwas anfangen
konnte. Andererseits schien ihr das ein ganz treffendes Gleichnis für das ganze
Leben.
Ihr Telefon klingelte, sie klappte es auf, schob den rechten Kopfhörer zur Seite und
hielt es sich ans Ohr.
„Ja?“
„Ihre Mutter möchte Sie sprechen“, sagte die Stimme am Telefon. „Passt es gerade?“
„Klar, für seine Mutter sollte man immer Zeit haben. Stellen Sie sie durch. Ach warten
Sie mal, sind Sie neu?“
„Äh.. Ja.“
„Wusste doch, dass ich Sie nicht kenne. Wie heißen Sie?“
„Ich bin Philippe.“
„Wie groß sind Sie und was wiegen Sie?“
„Ähh…“ Er zögerte kurz, aber er antwortete: „1,73m und 65 Kilo, ungefähr.“
„Und haben Sie Kira aufgefangen?“
Wieder zögerte er einige Sekunden. „Zieht sie das manchmal wirklich durch?“
„Ab und zu“, antwortete die junge Frau. „Aber sie hat sich einmal furchtbar weh getan
dabei, seitdem nicht mehr so oft.“
Er lachte. „Sie sind gar nicht so schwierig, wie ich befürchtet hatte“, sagte er.
„Und Sie sind viel mutiger, als Ihnen gut täte“, antwortete sie ihm sehr, sehr leise und
sehr, sehr ernst.
Sie konnte ihn richtig schlucken hören.
„Äh… Entschuldigen Sie bitte, ich habe das nicht…“
Sie lachte.
„Schon gut. Kira ist nicht die Einzige mit einem komischen Humor. Stellen sie bitte
meine Mutter durch, sie mag unsere Wartemelodie nicht.“
Die Leitung klickte, er hatte wohl beschlossen, lieger gar nichts mehr zu sagen.
„Hej, Schatz?“ fragte eine Frauenstimme auf Schwedisch.
„Hejsan Mam“, antwortete die junge Frau, „Ich bin gerade bei der Arbeit, was gibt’s?“
„Oh, entschuldige, ich wollte dich nicht stören.“
„Kein Problem, hab gerade nichts zu tun.“
„Ich wollte dich fragen, ob du daran denkst, dass dein Großvater nächsten Mittwoch
Geburtstag hat.“
„Was? Äh… Ja… Äh, ja… Ja natürlich. Nächste Woche schon? Wann ist die Feier?“
„Auch am Mittwoch. Hast du meine Karte nicht bekommen?“
„Ich bin doch so selten zu Hause, Mam. Aber ich schaff das ganz bestimmt.“
„Was willst du ihm denn schenken?“
„… Das weiß ich noch nicht so genau, Mam, aber ich finde bestimmt noch etwas
Tolles.“
„Ach, Schatz, aber schenk ihm nicht wieder so was Komisches wie deinem Onkel
Ingvar letztes Jahr.“
„Was heißt denn komisch? Er hat sich gefreut, Mam!“
„Ach… Er ist immer so nett, er wollte dich nicht beleidigen.“
„Also…“ Sie begann den Satz neu. „Keine Sorge, ich find schon was.“
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„Oder soll ich was für dich besorgen?“
„Bloß nicht, er glaubt uns dann nie, dass das von mir ist.“
„Wieso?“
„Weil ich keine Gartenzwerge verschenke, Mam!“
„Das war nur das eine Mal!“
„Einmal reicht“, sagte die junge Frau.
„Bringst du vielleicht auch wieder diesen bezaubernden Freund von dir mit? Jaque?
Ihr wart so ein zauberhaftes Paar!“
Sie verdrehte die Augen.
„Oh, Mam, ich fürchte, das wird nicht gehen. Jaque kann dieses Jahr nicht kommen.“
„Das ist aber schade, warum nicht?“
„Ich habe ihn mit einem Hammer erschlagen und seine Leiche in einem See
versenkt, Mam. Ich habe Ketten um seine Beine gewickelt, damit er unten bleibt, weil
ich nicht warten konnte, bis der Beton trocknet.“
Lachen kam aus dem Hörer, in diesem etwas vorwurfsvollen Tonfall, der einer
Tochter signalisiert, dass ihre Mutter nur aus Nachsicht und Resignation ihre wahre
Meinung zurückhält.
„Du hast manchmal so einen furchtbaren Humor, Schatz!“
„Tut mir Leid, Mam. Aber ich muss jetzt allmählich wieder an meine Arbeit gehen.“
„Na gut. Ich freu mich auf dich. Ich soll dich von Henrik grüßen.“
„Danke schön. Hej då, Mam.“
Sie klappte das Telefon zu und sah auf die Uhr. Es war 0712. Gut.
Um 0718 klingelte sie an der Tür zu dem Haus, in dem sich Professor Doktor Peter
Kalpers Wohnung befand.
„Ja, was denn?“
Kalper stand jeden Morgen um 0600 auf, duschte, sah die Nachrichten und
frühstückte und ging um 0730 in sein Büro. Sie mochte Menschen mit einem
zuverlässigen Tagesablauf.
„Ich bin’s, Janine, mach mal auf“, sagte die junge Frau.
„Was gibt’s denn? Ich wär’ doch eh’ gleich da gewesen.“
„Will vorher noch was besprechen.“
Der Öffner summte, und die junge Frau öffnete die Tür. Sie hörte Jazz, während sie
die Treppen empor lief. Sie hasste Jazz.
Sie klopfte an Kalpers Tür. Ein glatzköpfiger Mann mit Oberlippenbart und einem
recht abgetragenen Anzug öffnete.
„Wer sind Sie?“ fragte der Mann verblüfft.
„Sind Sie Peter Kalper?“ fragte die junge Frau.
Kalper nickte.
„Was wollen Sie denn?“
„Sie sind Astronom, oder?“
Wieder nickte Kalper.
Sie schüttelte verständnislos den Kopf. „Wer hat was gegen Astronomen, was soll
das wohl?“
Die junge Frau stieß zwei Finger gegen seine Luftröhre, sodass sie kollabierte. Dann
schubste sie ihn in seine Wohnung, trat selbst ein und schloss die Tür hinter sich.
Während Kalper am Boden lag und verzweifelt versuchte zu atmen, sah seine
Besucherin sich um.
„Alles sehr spartanisch“, bemerkte sie, während sie eine Schublade seines
Schreibtisches öffnete und die Papiere darin durchblätterte „Sie leben für die
Wissenschaft, nehme ich an. Finde ich gut.“
Dann sah sie den Wellensittich in seinem Schlafzimmer.
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„Hm“, machte sie mit zusammengepressten Lippen. „Das ist nicht gut. Es gibt nichts
Traurigeres in der Welt als einen Vogel in einem Käfig. Oder fast nichts“, fügte sie
hinzu, und dachte dabei vielleicht an eine gute Freundin, die jetzt nicht mehr lebte.
Für einen Augenblick zerfiel ihre beschwingt-joviale Fassade, ihre Lippen begannen
zu beben und ihre Augen starrten ins Nichts. Für einen Augenblick war die junge
Frau, die ganz beiläufig einen fremden Menschen getötet hatte, um dann mit ihm zu
plaudern, während er starb, vollkommen verloren und schutzlos.
Kalper röchelte leise und versuchte, zum Telefon zu kriechen. Etwas fügte sich in ihr
wieder an den rechten Platz, und die Fassade war wieder da, als wäre sie niemals
zerfallen.
„Ach kommen Sie schon“, sagte die junge Frau. „Was glauben Sie, was Sie denen
erzählen werden, hm?“
Kalper drehte sich zu ihr um und starrte sie mit blutunterlaufenen Augen an.
„Es ist leichter, wenn Sie sich nicht dagegen wehren.“
Es schien, als versuchte er, ihr etwas mitzuteilen. Aussichtslos.
„Sie machen einen ziemlich netten Eindruck, Herr Kalper, aber die Sache mit dem
Vogel verstehe ich nicht. Ich frage mich…“
Ihr Telefon vibrierte. Sie schob den rechten Teil des Kopfhörers hinter ihr Ohr.
„Ja?“ sagte sie.
„Haben Sie ihn?“
„Ja“, sagte sie wieder.
„Gut. Wir brauchen Sie für eine größere Sache. Rufen Sie bitte zurück, wenn Sie
soweit sind.“
Sie nickte.
„Ich bin unterwegs.“
Der Mann am Fußboden blickte flehend zu ihr auf. Sie kniete sich neben ihn.
„Sie wollen wissen, warum, stimmt’s?“
Kalper nickte.
„Würde mich auch interessieren. An Ihrer Stelle, meine ich. Ich hab ja schon gesagt,
dass ich’s auch selbst nicht verstehe. Tut mir Leid.“
Sie zuckte die Schultern, zog in einer fließenden Bewegung einen japanischen Dolch
unter ihrer Jacke hervor - und ließ ihn fallen. Es klang merkwürdig laut, als der
schwere stählerne Griff auf den Parkettboden schlug, und der Vogel flatterte
erschrocken in seinem Käfig herum. Wieder brach für einen Moment ihre Fassade,
und ein Ausdruck wie Angst huschte über ihr Gesicht. Ihre Lippen formten ein kurzes
schwedisches Schimpfwort, während sie sich bückte um den Dolch wieder
aufzuheben. Sie stieß ihn Kalper ins Herz, zog ihn wieder heraus, wischte ihn an
einem weißen Stofftaschentuch ab und steckte ihn wieder ein. Das Taschentuch ließ
sie liegen.
Ihr MP3-Player spielte einen Hiphop-Song, während sie die Treppe hinunter eilte. Sie
mochte den Song, aber die Musik fing trotzdem an, ihr auf den Geist zu gehen. Sie
nahm die Kopfhörer ab und verstaute sie in ihrem Rucksack, bevor sie das Haus
verließ.
Vor dem Mietshaus auf der Straße stand ein Mädchen, 17 Jahre alt, ca. 1,70m groß,
Gewicht ca. 65kg, rot gefärbte Haare, natürliche Haarfarbe dunkelbraun, etwas über
schulterlang, leicht lockig, ein kleiner Leberfleck links am Kinn, schwarz gekleidet mit
einem dunklen Ledermantel. Auf ihrem klobigen Bundeswehrrucksack hatte sie
Aufnäher angebracht. „Bring out your Dead!”, „Guns for the Poor, Bullets for the
Rich” und „Anarchy No Rules OK“ stand da zum Beispiel. Ihre Schultern bebten, und
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Janine hörte sie schluchzten. Sie wollte wirklich gerne wissen, warum das Mädchen
weinte.
Dann drehte das Mädchen sich zu ihr um und die junge Frau, die sich als Janine
ausgegeben hatte, sah den blutverschmierten schwarzen Kater in ihren Armen und
wusste es. Das Mädchen hatte einen silbernen Ring im rechten Nasenflügel.
„Haben – haben Sie es gesehen?“ schluchzte sie und sah sie flehentlich an, als
würde es das Tier wieder lebendig machen, wenn Janine den Unfall beobachtet
hätte. „Ich war - ich war nur kurz - ich wollte - und als ich wiederkam…“
„Ah, nein“, sagte sie leise und ging einen Schritt auf das Mädchen zu. „Das tut mir
leid“, sagte sie.
„Sie können ja gar nichts – gar nichts dafür.“
Die falsche Janine kam näher und legte eine Hand beruhigend auf ihre Schulter.
„Es tut mir trotzdem leid. Willst du mit mir einen Eisbecher essen?“
Das Mädchen sah sie verwirrt an. Und ein bisschen misstrauisch.
„Seh ich aus, als wär ich fünf?“
Sie schluchzte nicht mehr.
„Naja, mir hilft ein Eisbecher immer“, sagte Janine, ungerührt von der
Zurückweisung.
„Überhaupt, was haben Sie mit der Sache zu tun? Ich kenn Sie doch gar nicht.“
Janine grinste.
„Und bestimmt haben deine Eltern dir verboten, mit fremden Leuten Eis zu essen.“
Das rang ihr ein bitteres Lächeln ab.
„Na, wer weiß, was Sie für ein perverses altes Weib sind.“
Ihre Worte waren ein bisschen provokativ, aber Janine erkannte an ihrem Tonfall,
dass sie gewonnen hatte. Das Mädchen hatte für sich beschlossen, dass sie nett
war. Janine hatte ein Talent für so was.
„Ich hatte mal einen Hund, den ich sehr geliebt habe“, sagte Janine.
Damit war die letzte Spur von Misstrauen beseitigt.
„Wirklich? Was… Was ist mit ihm passiert?“
Janine blickte zu Boden.
„Ich musste ihn töten. Es war furchtbar.“
„War er krank?“
Das Mädchen sah sie mit großen Augen an, im frohen Bewusstsein, jemanden
gefunden zu haben, der ihr Leiden wirklich verstehen konnte.
„So ähnlich, ja“, sagte Janine.
Sie gingen zusammen zu einem Tierfriedhof und ließen den Kater beerdigen.
Eigentlich war dafür eine Voranmeldung nötig, aber die falsche Janine bat und
lächelte und erklärte, und irgendwie gelang es niemandem so recht, ihr ihren
Wunsch abzuschlagen.
Sie konnten so kurzfristig keinen Grabredner bekommen, das hätten sie sowieso
beide albern gefunden, aber das Mädchen sprach ein paar Worte. Es sagte, es hieße
Kristina. Sie weinten beide ein bisschen. Danach ging Janine mit ihr tatsächlich einen
Eisbecher essen, und es schien ihr dabei wirklich schon besser zu gehen. Janine
fragte sich, was sie dachte, warum sie das alles tat.
„Ich frag mich, ob es Josef gut geht, wo er jetzt ist“, sagte sie.
Josef war der Kater gewesen.
„Wo er jetzt ist?“
„Naja…“ Kristina zuckte mit den Schultern und grinste unsicher. „Im Himmel, oder
so…“
„Glaubst du…“
Ihr Telefon klingelte. Sie seufzte und nahm den Anruf an.
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„Ja?“
„Lenore, wo bleiben Sie? Was ist los bei Ihnen?“ sagte Philippe.
„Es ist etwas dazwischen gekommen.“
„Wann können Sie Ihr Briefing empfangen? Es ist sehr eilig, wir haben einen Tipp
bekommen, dem wir dringend nachgehen müssen.“
„Was für einen Tipp? Ich habe schon zwei Sachen erledigt, ich will eine Pause, ich
mag nicht mehr!“
Kristina betrachtete sie nachdenklich. Janine war jetzt plötzlich ein ganz anderer
Mensch als vor dem Anruf, kein Wunder, dass sie das neugierig machte.
Er zögerte. „Es sieht so aus, als hätten wir einen Verräter“, antwortete er schließlich.
„Jemand hat Informationen an eine Zeitung in Hamburg weitergegeben, auch
persönliche Daten von Ihnen, Lenore.“
„Vierzig Minuten“, sagte sie, dann legte sie auf.
„Was machen Sie beruflich?“ fragte Kristina.
Janine stand auf.
„Ich muss gehen.“
Sie zog einen Geldschein aus ihrer Jackentasche und legte ihn auf den Tisch, Dann
nahm sie ihren Rucksack und ging. Kristina sah ihr nach. Es dauerte eine Weile, bis
sie den Blick wieder dem Tisch zuwandte. Janine hatte einen 100-Euro-Schein
dagelassen. Kristina steckte ihn ein. Dann stand sie auf und ging ebenfalls.
„Guten Abend, Karl.“
„N’Abend Frau Schopp. Nichts vor heute Abend?“
„Sie kennen mich.“
„Keine Angst vor der Geisterstunde?“
„Doch, und wie. Schließen Sie bloß ab hinter mir.“
Beide lachten. Karl schloss Sonia das Archiv auf, öffnete die laut quietschende Tür
und schaltete das Licht ein. Das Archiv war eine lange, ungemütliche Halle im Keller
des Gebäudes. Von der Decke hingen nackte Leuchtstoffröhren, an den Wänden
standen verschlossene Metallschränke, in der Mitte des schlauchförmigen Raums
zwei lange Holztische mit Bänken, wie man sie in Bierzelten findet. Sie zog ihr
Schlüsselbund aus ihrer Handtasche hervor, öffnete einen der Aktenschränke und
nahm zwei Ordner heraus. Ihr hatte niemand vernünftig erklären können, warum die
Mitarbeiter zwar Schlüssel zu den Schränken, nicht aber zum Keller selbst bekamen,
aber es war eben schon immer so gewesen.
Sie setzte sich damit an einen der Holztische und begann zu lesen. So saß sie
ungefähr eineinhalb Stunden, bis sie die Stimme hörte.
„Sie sind hübsch, das sieht man auf dem Foto gar nicht so deutlich.“
Sonia sprang erschrocken auf und suchte nach der Quelle der Stimme. Sie spürte,
wie sie erblasste, als sie die Frau auf einem der Schränke neben der Eingangstür
sitzen sah.
„Was… Was machen Sie hier?“ fragte sie sie.
Sie konnte sich nicht erklären, wie sie da hingekommen war. Sie war doch ganz
bestimmt vorhin noch nicht da gewesen? Sonia hätte sie gesehen. Es gab im Archiv
natürlich ein paar Möglichkeiten, sich zu verstecken. Aber Sonia hätte doch etwas
mitbekommen, wenn sie auf das Regal geklettert wäre. Sie hätte doch etwas hören
müssen. Oder?
Sonia entschied, dass sie sich irgendwo versteckt haben musste, hinter einem der
Schränke oder so. Sie hatte hier nichts zu suchen, da war sie sich ziemlich sicher.
Sie arbeitete nicht beim Herold. Natürlich hätte sie eine Studentin oder so etwas sein
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können, aber eine Studentin wäre bestimmt so spät nicht mehr hier und würde
außerdem sicher nicht so mit ihr sprechen.
„Wollen sie mal raten?“ fragte die Fremde grinsend.
Ihre Beine baumelten vor dem Schrank herab. Sie war etwa so alt wie Sonia,
vielleicht fünfundzwanzig, höchstens dreißig. Sie war selbst auf etwas herbe Art gut
aussehend, fand sie. Kurze blonde Haare, mit Gel zu Spikes geformt, grasgrüne
Augen, ein fein geschnittenes Gesicht, schlank, ein nettes Lächeln. Sie trug eine
schwarze Hose und einen schwarzen Rollkragenpullover. Ihre Stimme klang
angenehm sanft und hell, beinahe mädchenhaft.
„Nein, ich will nicht raten“, sagte sie bestimmt.
Der erste Schreck war abgeklungen, und ihre gewohnte Selbstsicherheit war wieder
da. Die hatte hier nichts zu suchen.
Die Fremde ließ sich in einer flüssigen Bewegung von dem Schrank fallen, ohne
einen Laut, und ging auf sie zu. Sie trug schwarze Turnschuhe.
„Es wird Ihnen nicht gefallen“, sagte sie.
„Was soll das? Na los, raus damit.“
Die Fremde seufzte und blieb drei Meter vor ihr stehen.
„Der Artikel, den Sie da gerade schreiben, der ist wichtig, oder?“
Sonia nickte. Und überlegte, ob sie Karl rufen sollte, aber sie wollte nicht die
schwache, hilflose Frau sein. Außerdem schien die Fremde ihr trotz ihres
unverschämten Auftretens nicht sehr bedrohlich.
„Sie haben was ganz Aufregendes rausgefunden über einen Ring von
Auftragsmördern und eine Reihe von Anschlägen.“
Sie spürte wieder, wie das Blut aus ihrem Gesicht rann.
„Woher wissen Sie…?“
Die Fremde zuckte die Schultern.
„Na woher wohl? Wie haben Sie sich das Ganze denn vorgestellt? Sie berichten über
eine geheime Verbrecherorganisation, die für zahllose Morde verantwortlich ist, ohne
auf die Idee zu kommen, mal über die Konsequenzen nachzudenken?“
Sonia öffnete den Mund, um nach Karl zu rufen. Sie hörte ein leises Klicken, und
plötzlich hielt die Frau eine schwarz lackierte Pistole in der Hand. Sie starrte direkt in
den Lauf, und die Mündung sah riesig aus, als würde das Ding Pfirsichkerne
verschießen statt Neunmillimeterprojektile. Sonia keuchte.
„Ich verstehe euch Leute von den Medien nicht“, sagte die fremde Frau. „Voller Stolz
darauf, dass ihr euren Lebensunterhalt mit Tratsch und Verrat verdient. Und
unerschütterlich im Glauben an eure eigene Unverwundbarkeit und moralische
Überlegenheit.“ Ein kleines Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. „Ihr seid ja nur
Zuschauer, was?“
Ihre Schultern bebten unter einem leisen Lachen. Die Pistole bewegte sich dabei
keinen Millimeter, als wäre sie auf ein Stativ montiert.
„Aber wahrscheinlich ist es nicht fair, so was zu Ihnen zu sagen, ohne Sie überhaupt
zu kennen.“ Sie entblößte eine Reihe makellos weißer Zähne in einem breiten
Grinsen. „Hey, wer weiß, vielleicht sind Sie richtig nett.“
„Heißt das etwa…?“ fragte Sonia. Sie brachte es nicht ganz über sich, den Satz zu
beenden.
„Denken Sie mal nach!“
Als sie nur vor Angst erstarrt da stand, grinste die Frau schließlich und zuckte die
Schultern.
„Tja, Überraschung, mordende Verbrecherorganisationen glauben nicht dran, dass
jede PR gute PR ist. Wir sehen das eigentlich… genau anders herum. No news is
good news, Sie wissen schon.“
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„Sie meinen… Die haben Sie geschickt?“
Die Frau zuckte mit den Schultern. „Wie haben Sie das erraten?“
„Und jetzt erschießen Sie mich?“ Zu ihrer Überraschung stellte Sonia fest, dass sie
keine Angst hatte. Vielleicht, weil die ganze Situation zu unwirklich schien. Sie hatte
sich über die Story gefreut, aber jetzt gerade wurde ihr klar, dass sie im Grunde ihres
Herzens nie ganz geglaubt hatte, dass es da ein mächtiges Verbrechersyndikat gab,
das ein weltweites Netz von Profikillern kontrollierte.
Vielleicht lag es auch daran, dass diese sonderbare Frau, die die ganze Zeit davon
sprach, dass sie Sonia töten würde, dabei freundlich wie ein Engel lächelte. Es war
tatsächlich nicht leicht, sie nicht irgendwie ein bisschen zu mögen - trotz der
ungünstigen Umstände.
„Wenn es so einfach wäre, hätte ich Sie doch schon längst erschossen, oder?“
Es dauerte eine Weile, bis Sonia klar wurde, dass sie eine Antwort erwartete.
„Die Waffe macht Sie nervös, stimmt’s?“ fragte die Frau. „Sie sollte Ihnen sowieso
nur klar machen, dass ich es ernst meine.“
Sie steckte ihre Pistole wieder ein, in ein Halfter unter ihrer rechten Achsel. Sonia
bemerkte, dass unter der linken noch eine Waffe war. So konnte sie doch nicht in der
Öffentlichkeit rumlaufen, oder?
„Und nun?“ fragte Sonia.
Die Frau grinste sie an.
„Werden Sie ungeduldig mit mir? Ich glaube, ich mag Sie. Die meisten Leute knien in
diesem Moment vor mir und flehen und weinen und betteln.“
Sonia atmete tief durch. Mit Unbehagen spürte sie, dass sie sich über das Lob ein
wenig freute.
„Damit fange ich auch gleich an. Was bleibt mir denn übrig? Ich meine – habe ich
eine Chance hier lebend raus zu kommen?“
Die Frau blickte zu Boden und schüttelte langsam den Kopf, als täte es ihr aufrichtig
Leid.
„Ich fürchte nicht, Sonia. Ist es okay, wenn ich Sie Sonia nenne? Ihr Nachname ist
so… stumpf.“
Jetzt fühlte sie sich wirklich den Tränen nahe.
„Sie können mich Rapunzel nennen, wenn Sie mich dafür“
„Nanana, fangen Sie nicht doch noch mit dem Betteln an, das mag ich nicht. Es läuft
so: Sie sagen mir, welche dieser Ordner wichtig für Ihren Artikel sind, damit ich sie
vernichten kann. Anschließend gehen wir hier raus und in Ihr Büro und vernichten die
übrigen Unterlagen. Dann suchen wir Ihre Informanten auf, und alle anderen, die mit
dieser Sache zu tun hatten, und töten die. Ob ich Sie vorher umbringe oder Sie
mitnehme, hängt davon ab, wie Sie sich bis dahin führen.“
„Warum sollte ich Ihnen dabei helfen?“
Die Frau grinste sie wieder an.
„Das hab ich mich auch schon so oft gefragt. Aber am Ende helfen mir eigentlich alle.
Ich nehme an, dass ein paar Stunden Leben Einiges wert sind, wenn man weiß, dass
man nicht mehr hat. Ich nehme an, dass Sie lieber morgen früh sterben wollen als
jetzt gleich. Ich nehme an, dass Sie noch einen Sonnenaufgang sehen wollen, und
ich nehme an, dass Ihnen klar ist, dass man auf relativ angenehme Weise sterben
kann. Oder eben nicht.“
Sie dachte kurz nach.
„Es sind nur diese beiden Ordner hier.“
„Sie würden mich nicht anlügen, oder?“
„Wie soll ich Sie nennen?“
„Die Frage wird seltener gestellt, als man meinen sollte. Nennen Sie mich Lenore.“
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„Lenore. Wie die Geliebte aus Der Rabe?“
„Oder wie das Waschmittel. Ich mache sauber.“ Lenores Grinsen wich einem
nachdenklichen Lächeln und verschwand dann ganz. Sie trat näher an Sonia heran.
„Eigentlich bin ich mehr wie der Rabe aus dem Gedicht.“ Lenore beugte sich vor,
führte ihren Mund unmittelbar neben Sonias Ohr und legte die Hände auf ihre
Schultern. „Irgendwann sitze ich plötzlich in Ihrem Zimmer auf dem Sims und sage…
Nimmermehr.“
Das letzte Wort war nur ein Hauch. Lenores warmer Atem kitzelte in Sonias Ohr und
ließ sie zurückzucken. Mit dem gewonnenen Abstand konnte sie wieder das Lächeln
auf Lenores Gesicht sehen, das sie einlud, sich mit ihr über ihre Berufswahl zu
freuen, als hätte sie ihr gerade stolz erzählt, dass sie einen tollen Job bei Google
hatte und den ganzen Tag so viel Gratisgummibärchen essen durfte, wie sie wollte.
„Ich finde, es hatte eine poetische Schönheit“, sagte Lenore. „Die Macht des Todes
über das Leben. Die Endgültigkeit. Wessen Werk hat für immer Bestand, außer
meinem? Welcher Bildhauer…“ Sie lächelte ein bisschen verschämt, und Sonia
staune fassungslos über dieses sonderbare Gespräch. „Entschuldigen Sie bitte“,
sagte Lenore, „Sie haben jetzt bestimmt ganz andere Sorgen.“
Sie ließ Sonia los, wandte sich halb von ihr ab und blickte nachdenklich auf die
beiden Ordner.
„Das ist jetzt der Teil, auf den ich überhaupt keine Lust habe.“ Sie seufzte. „Aber es
muss ja sein. Dann schau ich mir mal an, was Sie hier haben.“
Sonia sah sie mit offenem Mund an.
„Das heißt, Sie lesen das jetzt alles durch, und ich sitze währenddessen hier und
warte, bis Sie mich umbringen?“
Die Vorstellung schien ihr entsetzlich. Sie hasste es zu warten, und eine ganze
Nacht auf ihren eigenen Tod zu warten, war wohl das Schrecklichste, was sie sich
denken konnte. Ihre widerwillige Sympathie für Lenore begann nun doch zu
schwinden.
Lenore nickte einfach.
„Es wird nicht so lange dauern. Ich lese es nicht richtig durch, ich verschaffe mir nur
einen Überblick. Was Sie solange machen, ist mir egal. Sie können sitzen, stehen,
hin und her laufen, Sie können liegen, schlafen, jonglieren oder Kreuzworträtsel
lösen. Vielleicht denken Sie über all die schönen Dinge nach, die Sie nie wieder tun
werden, und an all die lieben Menschen, die Sie nie wieder lesen werden.“
„Was?“
Lenore blickte für eine Sekunde ins Leere und schüttelte langsam ihren Kopf. „Die…
die Sie nie wieder lesen…“ Sie schüttelte wieder den Kopf, und für einen Moment
flackerte etwas wie Verwirrung und Angst über ihre Gesichtszüge. „Sehen meine
ich.“
„Geht es Ihnen gut?“ fragte Sonia, nicht ohne sich der Absurdität der Frage bewusst
zu sein.
„Nein, überhaupt nicht“, antwortete Lenore bissig. „Wenn ich wieder zu Hause bin
und nicht mehr in dieser Aktengruft, dann geht es mir gut.“
Lenore zog den ersten Ordner zu sich heran und schlug ihn auf. Sonia stöhnte.
„Vergessen Sie die Ordner. Das ist nur Hintergrundmaterial, das betrifft Sie alles gar
nicht.“
„Nennen Sie mir einen Grund, aus dem ich Ihnen glauben sollte.“
„Ich weiß sogar zwei, stecken beide in Ihrem Halfter.“
Lenore schüttelte langsam den Kopf.
„Ich will Ihnen glauben. Wirklich. Aber mein Ruf baut auf Perfektion, und ich hab ihm
versprochen, dass ich nichts übrig lasse. Unser Geheimnis ist uns ziemlich wichtig.“
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„Sie können doch sowieso nicht alle Unterlagen hier durchsehen!“
„Aber ich kann diese beiden Ordner hier durchsehen, und das werde ich tun. Sonia.“
Lenore blickte auf und sah in ihre Augen. Ihr Blick war faszinierend, auf eine
fremdartige Weise. Fast als würde man in die Augen eines außerirdischen Wesens
sehen. Und trotzdem war da noch etwas Einnehmendes in ihrer Mimik. Egal, was
Lenore tat, irgendetwas an ihr schien ständig auszustrahlen: „Richtig nettes
Mädchen“
„Sonia, vielleicht habe ich das nicht deutlich genug rübergebracht“, sagte Lenore.
„Ich brauche Ihre Hilfe, aber wir sind deshalb keine Partner. Ich habe einen Auftrag,
und Sie sind Bestandteil davon, aber ich werde genau so wenig mit Ihnen über
meinen Plan diskutieren wie ein Schlachter von einem Schwein Vorschläge dazu
annimmt, wie er die Koteletts schneiden soll. Also hören Sie auf zu quengeln, bevor
ich die Geduld verliere. Verstehen Sie das?“
Sonia nickte und wandte sich ab. Lenore blickte wieder in den Ordner.
Eine knappe Stunde später schloss sie den zweiten Ordner, massierte mit
angespanntem Ausdruck ihre Schläfen und seufzte tief. Sie hatte einen Rucksack
aus einer dunklen Ecke hervorgezogen und Notizblock und Kugelschreiber
herausgenommen. Sie hatte sich nicht viele Notizen gemacht, aber jedes Mal, wenn
sie etwas aufschrieb und Sonia gerade hinsah, las sie etwas, das Sonia für wichtig
hielt. Lenore war nicht dumm. Sonia nahm sich vor, das nicht zu vergessen.
„Sie haben einen schrecklichen Job, Sonia. Ich könnte so was nicht. Wie ertragen
Sie das nur?“
Sonia lächelte schwach und verzichtete auf eine Antwort.
„Hier ist gar nichts drin“, sagte Lenore mit einer wegwerfenden Geste.
Sie hatte Recht.
„Ich erwarte oben in Ihrem Büro deshalb die richtigen Beweise. Ich bin wirklich
gespannt.“
„Da ist auch nichts“, sagte Sonia leise, es spielte ja eh keine Rolle, was sie sagte.
Lenore stand auf und ging zur Tür. Sie drückte die Klinke nach unten.
„Was ist das denn? Hat der Kerl tatsächlich abgeschlossen?“
„Nein, bestimmt nicht.“ Sonia musste fast lachen. „Die Tür klemmt nur manchmal.“
„Was macht die Tür?“ fragte Lenore mit rührender Fassungslosigkeit in der Stimme.
„Sie klemmt. Sie geht nicht auf. Lassen Sie mich mal versuchen.“
Lenore zögerte kurz, dann trat sie zur Seite.
„Denken Sie dran, ich werde nicht lachen, wenn Sie was Komisches versuchen, ich
werde Sie einfach erschießen.“
Sonia versuchte alles, was normalerweise half, wenn die Tür klemmte. Sie zog sie
ein bisschen zu sich heran, während sie auf die Klinke drückte, sie hob sie ein
bisschen oder drückte die Klinke gegen die Tür, aber nichts passierte. Irgendwann
gab sie dann auf.
„Wir müssen Karl anrufen“, sagte sie.
Lenore murmelte: „Das darf doch alles nicht wahr sein, ist das hier die Benny-HillShow, oder was?“ Dann dachte sie kurz nach.
„Sie sind nicht der Illusion verfallen, dass er Sie retten könnte, oder?“
Sonia fiel keine passende Antwort ein.
„Wie erreiche ich ihn?“ fragte Lenore, während sie schon zu dem Telefon an der
Wand ging.
„23 ist das Telefon auf seinem Tisch. Es kann aber sein, dass er gerade einen
Rundgang macht. Er hat ein tragbares dabei, aber da kenn ich die Nummer nicht.“
Lenore nahm den Hörer ab und drückte zwei Tasten. Dann wartete sie.
29
„Ist nicht wahr“, murmelte sie, während sie wieder auflegte. Sie seufzte. „Wir haben
keine Zeit für diesen Quatsch. Kann ich von hier aus auch nach draußen
telefonieren?“
Sonia nickte. Als Lenore sich nicht zu ihr umdrehte, sagte sie „Ja.“
Lenore nahm den Hörer wieder ab und wählte. Dann fiel ihr Kopf vornüber und sie
sank sichtlich in sich zusammen. Sie ließ den Hörer einfach fallen.
„Ist nicht wahr“, murmelte sie.
Dann kehrte plötzlich die Spannung in ihren Körper zurück und sie ging zu Sonia und
sah sie an. Ihr Blick war wirklich sonderbar. Fast hypnotisch. Sonia konnte sich
vorstellen, dass ihre Opfer einfach dastanden und sie anstarrten, während sie die
Waffe zu ihrem Kopf hob und schoss.
„Was haben Sie gemacht?“ fragte Lenore.
„Was?“
„Die Tür geht nicht auf. Der Wachmann geht nicht ans Telefon. Die Leitung nach
draußen ist tot. Das ist doch kein Zufall!“
Sonia konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
„Sie glauben, ich hab Sie ausgetrickst?“
Da war plötzlich wieder die schwarze Pistole in ihrer Hand. Wie machte sie das bloß?
Sie drückte sie von unten gegen Sonias Nase.
„Machen Sie sich frei von der Vorstellung, dass Sie das hier überleben könnten“,
zischte Lenore. „Das einzige, worauf sie zurzeit noch Einfluss haben, ist meine
Laune, wenn ich sie töte, und der Zeitpunkt. Ich kann es jetzt gleich tun oder erst
morgen früh. Ich kann es Ihnen leicht machen oder schwer. Ich frage Sie, Sonia, und
ich rate Ihnen gründlich nachzudenken, bevor Sie antworten: Haben Sie etwas mit
unserer Situation zu tun? Wie kommen wir hier raus?“
Sie dachte tatsächlich nach. Das Grinsen war verschwunden.
„Ich habe nichts damit zu tun.“
Lenore sah sie kurz nachdenklich an, bevor sie sagte: „Ich glaube Ihnen, obwohl es
viel einfacher wäre, das nicht zu tun.“
„Können Sie die Tür nicht aufschießen? Ansonsten müssen wir wohl auf Karl
warten.“
Lenore nickte und steckte die Pistole wieder ein.
„OK, das ist eine Idee. Ich kann natürlich auf das Schloss schießen, aber dies ist
eine einbruchhemmende Brandschutztür aus Stahl. Sie schließt nicht nur am Schloss
selbst, sie hat auch Bolzen, die oben und unten ins Mauerwerk fahren. Die Chancen
stehen ziemlich gut, dass ich den Öffnungsmechanismus nur endgültig blockiere und
eine von uns mit einem Querschläger verletze.“
„Was ist mit den Lüftungsschächten?“ fragte sie.
Im Fernsehen funktionierte das doch immer, wenn sonst nichts mehr half. Lenore
schüttelte den Kopf.
„Die sind in diesem Gebäude zu eng, da kommen wir nicht durch.“
Sie seufzte, lehnte sich an die Wand, ließ sich daran herabsinken und setzte sich
schließlich mit verschränkten Beinen auf den Boden. Sie schloss die Augen und
legte ihren Kopf zurück.
„Was jetzt?“ fragte Sonia.
Lenore sah mit leicht zusammengekniffenen Augen zu ihr auf. „Wir versuchen es
weiter, bis Karl ans Telefon geht.“
„Was?“
Lenore hob warnend eine Hand.
„Seien Sie still, ich muss nachdenken.“
30
„Ey, was heißen die Buttons da, hä?“
„Erstens sind das keine Buttons, sondern Patches, und zweitens fuck off, du
Scheißnazi!“
Kristina wäre fast hingefallen, als der Idiot sie schubste. Seine glatzköpfigen Freunde
johlten und lachten.
„Au!“ Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er gleich handgreiflich werden würde. „Ich
will keinen Ärger, in Ordnung?“
„Auf einmal, ja?“
Er packte ihren Oberarm, so fest, dass es wehtat.
„Wir mögen keine Gruftis, du Grufti!“ johlte einer seiner glatzköpfigen Freunde.
Sie bemerkte, wie die Gruppe anfing, sie einzukreisen. Sie begann sich zu fürchten.
„Lass mich los!“
Jemand schubste sie von hinten, und sie stolperte gegen den Kerl vor ihr.
„Hey, schaut mal, die Gruftischlampe ist scharf auf mich!“
„Lasst mich doch einfach in Ruhe!“
Er legte seine Arme um sie und drückte sie an sich. Er stank nach Bier und Schweiß.
Sie stieß ihm ihr Knie zwischen die Beine und riss sich los. Er brüllte auf und fluchte,
während sie davon lief. Sie hörte, wie seine Freunde ihr nachliefen.
Sie war sich nicht ganz sicher, aber sie hatte das Gefühl, dass sie mit ihr spielten.
Bestimmt konnten die blöden Skins schneller laufen als sie, aber sie blieben hinter
ihr. Kristina war nicht besonders gut in Form, aber die Angst gab ihr mehr Ausdauer,
als sie sich zugetraut hätte. Das ging zehn Minuten, und dann zwanzig, und sie
konnte sich kaum noch auf den Beinen halten, als sie eine offene Tür sah, die in
einen beleuchteten Empfangsraum führte. Sie lief hinein.
Sie taumelte zum Rezeptionstisch und keuchte:
„Hilfe“, so leise, dass der Wachmann es nicht mal gehört hätte, wenn er auf seinem
Stuhl vor ihr gesessen hätte.
„Hey, seht mal, die Gruftischlampe will sich verstecken!“ rief einer der Glatzköpfe.
„Da hat sie aber Pech, ist keiner hier, der sie beschützt.“
Trotz ihrer tapferen Worte traten sie vorsichtig ein und sahen sich um, als würden sie
erwarten, dass sich der Hausmeister mit einem Schrotgewehr hinter den
Blumentöpfen versteckte.
„Da ist ne Kamera“, raunte einer.
Das Telefon auf dem Rezeptionsschreibtisch klingelte. Kristina wusste nicht, woher
der Impuls kam, aber sie nahm den Hörer auf.
„Hallo?“
Einige Sekunden ungläubigen Schweigens.
„Nein“, sagte eine Stimme.
„Was?“
„Was machst du denn hier?“
„Hören Sie, wer auch immer Sie sind, ich brauche Hilfe!“
Der Satz war ziemlich lang gewesen, und sie war noch immer außer Atem. Sie
keuchte.
Die Glatzköpfe standen im Eingang und sahen abwechselnd sie und sich gegenseitig
an. Sie wussten nicht, was sie tun sollten.
Die Stimme aus dem Hörer lachte.
„Willkommen im Club.“
„Das ist überhaupt nicht witzig!“ Atempause. „Ich meine sofort!“
Die Glatzköpfe kamen näher.
„Siehst du die Treppe rechts neben den Lifts?“
31
„Ja! Schneller!“
„Lauf runter ins zweite Kellergeschoss, dann den Gang entlang, es ist die letzte Tür
auf der linken Seite. Wenn es wirklich so eilig“
Sie ließ den Hörer fallen und lief. Als wäre ein Bann von ihnen abgefallen, liefen ihre
Verfolger ihr nach. Sie lief so schnell, dass sie auf der Treppe dreimal fast stolperte,
und als sie die Tür schließlich erreicht hatte, fiel sie davor auf die Knie, brachte mit
großer Mühe die Kraft auf, die Klinke herunterzudrücken und rutschte zur Seite, um
die Tür zu öffnen. Nichts geschah. Sie sah, dass der Schlüssel steckte. Sie hörte die
Schritte hinter sich. Sie drehte den Schlüssel um und griff nach der Klinke. Sie wollte
sie gerade herunterdrücken, als jemand ihre Hand packte.
„Hab sie!“ schrie er.
„Nein!“ Sie kreischte, wie die Frauen das in den Filmen manchmal taten.
Er hob sie hoch und grinste sie an. Und dann öffnete sich die Tür.
„Sie hat gar nicht geklemmt, wusst' ich's doch.“
„Janine!“
„Wer ist das?“ fragte eine Frauenstimme.
Die Hooligans waren verwirrt.
„Bist du froh, mich zu sehen?“ fragte Janine mit einem strahlenden Lächeln.
„Oh ja!“
Kristina hatte sich noch nie so gefreut, jemanden zu sehen. Dann sah sie den Lauf
der Pistole direkt vor ihren Augen.
Sonia schrie auf, als plötzlich Blut aus dem Kopf des rothaarigen Mädchens spritzte.
Ihr Körper fiel wie ein Sack Erbsen zu Boden, während der Glatzkopf in der
Bomberjacke, der sie am Arm gepackt hatte, mit weit aufgerissenen Augen
zurücktaumelte.
„Scheiße“, sagte irgendjemand draußen im Flur.
Dann hörte sie jemanden davonlaufen. Lenore steckte die Pistole mit dem
Schalldämpfer in die rechte Tasche ihres Halfters.
„Was soll das?“ schrie Sonia sie an. „Das Mädchen hat Ihnen nichts getan!“
Lenore wirbelte herum und ging schnell auf sie zu. Sonia war sich ziemlich sicher,
dass sie wieder die Waffe in ihr Gesicht stecken würde, aber sie tat es diesmal nicht.
„Sonia. Halten Sie die Klappe. Vielleicht ist es Ihnen nicht aufgefallen, aber hier
geschehen Dinge, die absolut gar nicht in meinen Plan gehören. Das macht mir
Sorgen. Wenn ich mich sorge, dann ist das nicht gut für Sie. Ich habe den Eindruck,
dass Sie stark genug sind, Ihre Hysterie in den Griff zu bekommen. Tun Sie das.“
Sie wirbelte wieder herum, hob ihren Rucksack auf und ging auf den Flur hinaus.
Sonia stand dumm da und sah ihr nach und fragte sich, wieso sie sich plötzlich in
den Griff kriegen musste, wenn Lenore diejenige war, die gerade völlig grundlos ein
unschuldiges Mädchen erschossen hatte.
„Folgen Sie mir, vier Meter hinter mir, keine schnellen Bewegungen.“
Die Freundlichkeit war von ihr abgefallen wie eine Maske. Jetzt trug sie die Maske
der eisigen Professionalität. Sie tastete sich durch den Korridor voran wie die
Soldaten im Fernsehen, allerdings ohne Waffe in der Hand. Sonia fragte sich, wie
viele Masken Lenore trug und was wohl dahinter wartete.
Sie ging zur Tür und blieb stehen. Da lag das Mädchen. Sie war blass, trug schwarze
Kleidung im Emo-Stil, und schwarzen Lippenstift. Lenore hatte ihr die Waffe unters
Kinn gehalten, die Kugel war über der Stirn wieder ausgetreten. Die Augen des
Mädchens waren offen, seine Miene leuchtete noch vor Freude. Lenore hatte sie
gekannt, woher auch immer. Sie hatte gehofft, dass Lenore sie beschützen würde.
Sonia wurde schwindelig.
32
Sie hörte Lenores Schritte näher kommen, aber sie konnte nicht zu ihr aufblicken.
Sie war sich nicht sicher, ob das daran lag, dass sie sich nicht vom Anblick des toten
Mädchens lösen konnte oder daran, dass sie Lenore jetzt nicht ins Gesicht sehen
konnte.
Lenore nahm die Leiche an den Armen und zog sie hinter die Tür, aus dem Weg. Als
wäre sie wirklich ein Sack Erbsen.
„Geht’s jetzt?“
„Was sind Sie für ein Mensch?“
„Oh, bitte!“ Lenore winkte ab.
Sonia fragte sich, ob es etwas über sie aussagte, dass es sie viel mehr bestürzte,
dass Lenore dieses Mädchen getötet hatte, als dass sie sie selbst ermorden wollte.
Sie beschloss, das als Zeichen einer unglaublich noblen Geisteshaltung zu nehmen.
Dass sie zu diesem Gedanken noch fähig war, konnte sie sich nur dadurch erklären,
dass sie sich immer noch wie in einem Albtraum fühlte und sicher war, dass sie
gleich aufwachen würde.
„Sonia!“ zischte Lenore, und ein kurzer Griff nach der Waffe genügte, um Sonia aus
ihrer Verwirrung zu wecken.
Diesmal folgte sie ihr.
Auf der zweiten Plattform der Treppe nach oben blieb Lenore schon wieder stehen,
um ihr Telefon aus der Tasche zu ziehen. Sie drückte eine Taste.
„Hier ist Lenore“, sagte sie, und dann: „Hier laufen ein paar Sachen ziemlich schief.
Wisst ihr was davon?“
Sie hörte zu.
„Warum nicht?“
Kurze Pause.
„Clarence, seht zu, dass ihr dahinter kommt, ich arbeite nicht gern im Dunkeln. Ich
glaube, jemand wusste, dass ich hier bin, und ich glaube, hier sind Leute im
Gebäude, die…“
Von oben erklangen mehrere Schüsse.
„Was hab' ich gesagt? Ich muss weiter.“
Lenore klappte das Telefon zusammen und steckte es wieder ein.
„Verdammt“, murmelte sie und blickte einige Sekunden nachdenklich ins Leere.
„Was ist los?“ fragte Sonia.
„Haben Sie nicht zugehört?“ Sie drehte sich nicht um beim Sprechen und blickte
gespannt die Treppe hinauf. Vielleicht rechnete sie damit, dass der Schütze zu ihnen
kommen würde.
Sonia wurde klar, dass das hier eine Gelegenheit war. Ihre Hand glitt langsam in ihre
Tasche und umfasste die kleine Dose darin.
„Ich will ja nur wissen, was das für mich bedeutet.“
Jetzt drehte Lenore sich um und sah sie an. Sonia zog schnell die Hand aus ihrer
Tasche, bevor ihr klar wurde, dass das erst recht Lenores Aufmerksamkeit wecken
würde. Verdammt. Aber sie schien die Bewegung gar nicht bemerkt zu haben.Lenore
kniff ihre Augen zusammen und sog scharf die Luft zwischen ihren Zähnen ein,
während ihre Hand zu ihrer Schläfe fuhr.
„Ahh, verdammt…“
Was war das denn? Sonia beschloss, dass dies nicht die Zeit war, dumme Fragen zu
stellen und sich um die Gesundheit von Auftragsmördern zu sorgen. Sie nahm die
Pfefferspray-Dose aus ihrer Handtasche und sprühte das rötlich-braune Zeug in
Lenores Gesicht.
33
Lenore gab ein unartikuliertes Röcheln und Keuchen von sich, fiel auf die Knie und
schlug beide Hände vor's Gesicht. Sonia ließ die Dose fallen und rannte die Treppe
hinauf. Hinter sich hörte sie ein Heulen wie von einem verletzten Tier, das dann in
einem erstickten Krächzen verklang. Sie hatte das Zeug noch nie benutzt und hatte
insgeheim befürchtet, dass es Lenore einfach nur wütend machen würde. Jetzt fragte
sie sich, ob sie es überleben würde.
Die Tatsache, dass Lenore keine Bedrohung mehr war, schuf Raum für die Sorge,
ob sie hier besser aufgehoben war als unten mit der Mörderin. Andererseits konnte
es kaum schlimmer werden.
Dann sah sie die beiden toten Hooligans auf dem Boden liegen und einen großen
Kerl mit Skimaske in einer schusssicheren Weste neben Karls Schreibtisch stehen.
Er hielt einen riesigen chromglänzenden Revolver in der rechten Hand, den er nun
auf sie richtete. Einige sehr lange Sekunden sah er sie nachdenklich an, dann
schüttelte er den Kopf.
„Sie sind es nicht. Verschwinden Sie“, sagte er, etwas gedämpft durch die Maske.
Das klang eigentlich nach einer guten Idee, fand sie. Sie lief aus der Tür hinaus auf
die Straße. Dann blieb sie stehen, um die Polizei zu rufen. Sie zog ihr Handy aus der
Tasche und steckte es dann wieder ein. Wer wusste schon, was da drinnen jetzt
passieren würde? Es war vielleicht keine gute Idee, einfach hier draußen stehen zu
bleiben und zu warten. Sie rannte noch ein paar Straßen weiter, bis sie sich sicher
genug fühlte, dann blieb sie stehen und stützte sich auf ein geparktes Auto, um
wieder zu Atem zu kommen. Jemand packte sie von hinten und drückte ihr einen
feuchten Lappen ins Gesicht. Sie dachte noch, dass sie jetzt nicht atmen sollte, aber
das war viel leichter gedacht als getan, nachdem sie einen neuen Rekord für den
achthundert-Meter-Sprint aufgestellt hatte.
Clarence war ein sehr großer Mann. Er war so breitschultrig und muskulös, dass er
wahrscheinlich gute Chancen gehabt hätte, als professioneller Wrestler reich zu
werden, wenn er nicht einen anderen Weg eingeschlagen hätte. Walking Mountain
hätte er sich vielleicht genannt, oder The Rock, wenn der Name nicht schon
vergeben gewesen wäre.
Clarence war 2,27m groß und er wog 142 Kilogramm. Nur ein sehr geringer Anteil
davon war Fett. Haare trugen gar nichts zu seinem Gewicht bei, denn er hatte keine,
nicht einmal Augenbrauen. Seine Augen waren von einem leuchtenden Blau, seine
Zähne strahlend weiß und seine Haut ebenholzschwarz.
Clarence stand auf einem Balkon seines palastartigen Anwesens im Südwesten von
Kamerun, nahe bei Ebolawa. Das war Kiras Idee gewesen. Als sie die Stadt auf der
Karte gesehen hatte, hatte sie gelacht und gesagt, dass es doch lustig wäre, in
einem Ort zu wohnen, der nach einer furchtbaren Krankheit benannt war. Damit war
die Sache entschieden gewesen.
Was seiner Karriere als Wrestler vielleicht geschadet hätte, war sein sehr
zurückhaltendes Temperament. Clarence legte das Telefon, das in seiner riesigen
Pranke durchaus hätte verloren gehen können, wenn er nicht aufgepasst hätte, sanft
auf den kleinen Tisch neben sich zurück und blickte nachdenklich in die endlose
Savanne, die sich vor ihm ausbreitete. Von Walking Mountain hätte man erwartet,
dass er vor Wut brüllte, sein Shirt zerriss und das kleine tragbare Telefon zwischen
seinen Kiefern in kleine Stücke zermalmte.
Der aufstrebende Unternehmer Clarence empfand keine brodelnde Wut, er war
zunächst einfach neugierig. Irgendetwas musste tatsächlich schief gelaufen sein, und
zwar wahrscheinlich auf seiner Seite. Irgendjemand hatte geredet. Oder nicht genug
aufgepasst.
34
„Du siehst unzufrieden aus, Liebling.“
Kira stellte sich dichter hinter ihn, legte ihre Arme um ihn und betastete seine
stählernen Bauchmuskeln. Sie war mit 1,92m eine sehr große Frau, aber verglichen
mit Clarence wirkte sie wie ein Kind. Sie hatte ihren Kopf geschoren, allerdings
waren ihr ihre Augenbrauen geblieben.
„Lenore hat Probleme. Offenbar hat jemand herausgefunden, wo sie ist. Mehr hat sie
mir nicht erzählt, sie hatte keine Zeit, aber wenn sie mich anruft, muss es was
Ernstes sein. Wir müssen rauskriegen, wer geredet hat, und was er wem erzählt hat.“
„Hm. So viele Leute wissen es ja nicht. Wenn du es nicht warst – da bin ich mir
sicher – und ich es nicht war, – ich lebe noch, du glaubst mir das also wohl – dann
kann es doch eigentlich nur der Dispatcher gewesen sein.“
Er schwieg eine Weile, und dachte nach. Kira durchleuchtete jeden Dispatcher sehr
gründlich, bevor sie ihn einstellte. Vergangenheit, Familie, Vermögensverhältnisse,
Referenzen, sonstige Tests, sie war da äußerst einfallsreich. Natürlich konnte einer
von ihnen Lenore verraten haben. Aber auch Kira hätte es getan haben können. Er
liebte sie, aber deswegen musste er ihr ja nicht blind vertrauen. Es hätte jedenfalls
keinen Sinn, ihr das zu sagen.
„Ganz so einfach ist es nicht“, murmelte er. „Die Leute, die die Kreditkarten
besorgen, und das Telefon. Über das Telefon kann man sie finden. Über die Karten
ist es schwieriger, aber das geht auch. Außerdem gibt es mindestens noch eine
Person, die weiß, wo sie ist.“
„Wer?“
„Die Person, die uns den Hinweis gegeben hat, wegen der Sache in Hamburg.“
„Vielleicht hat sie’s auch selbst versaut“, schlug Kira vor. „Sie ist ein bisschen
wunderlich, das weißt du besser als ich.“
Einige der anderen Mitarbeiter lud Clarence gelegentlich nach Kamerun ein, wenn es
sich ergab. Dann konnte er persönlich mit ihnen sprechen, was immer besser war als
telefonisch, konnte sie kennen lernen und besser einschätzen. Bei Lenore war das
nicht nötig, sagte er immer, die kannte er schon sehr gut, er wusste, dass er ihr
vertrauen konnte und wo ihre Talente waren.
Aber es gab noch einen anderen Grund. Clarence fürchtete sich vor Lenore. Früher
war sie anders gewesen, aber mit der Zeit kam sie ihm immer labiler vor.
Natürlich, jeder Auftragsmörder musste irgendwie anders sein als gewöhnliche
Menschen, sonst konnte er es nicht ertragen, einen Beruf auszuüben, der ihn völlig
außerhalb der menschlichen Gemeinschaft stellte. Sie fanden aber alle einen Weg,
damit zurecht zu kommen. Einer oder zwei von Clarences Leuten waren sogar
eigentlich in jeder Beziehung völlig vernünftige Männer (Fast alle waren Männer,
Lenore war eine von drei Frauen.), abgesehen davon eben, dass sie für Geld
Menschen töteten. Bei Lenore aber sprach alles dafür, dass die kleinen Risse in
ihrem Charakter sich mit der Zeit immer weiter ausdehnten und dass sie im Begriff
war, völlig den Verstand zu verlieren. Wenn es nicht sogar schon geschehen war.
Die Wahrheit war, dass Clarence sich nicht zutraute, einzuschätzen, wie weit ihr
Verfall schon fortgeschritten war, und ob sie ihn vielleicht aus einer Laune heraus
umbringen würde, wenn sie einander noch einmal begegnen sollten.
Genau so wenig konnte er ausschließen, dass sie aus einer Laune heraus
irgendetwas Dummes angestellt hatte, das ihren Auftrag kompromittiert hatte.
„Oder es ist eben alles von vornherein eine Falle gewesen“, murmelte er.
Er sprach mit niemandem über Lenores Geisteszustand, nicht einmal mit Kira. Er
wusste selbst nicht genau, warum. Vielleicht aus einer sonderbaren Loyalität heraus.
Ohne Lenore wäre sein Leben in vieler Hinsicht anders verlaufen.
35
„Du denkst manchmal einfach zu kompliziert, wenn du mich fragst. Hier, nimm ein
paar Skittles?“
„Bah Kira, du bist eklig.“
Sie grinste und zuckte die Schultern.
„Believe the rainbow. Taste the rainbow.“
Lenore hatte sich lange nicht mehr so schlecht gefühlt. Sie lag zusammengekrümmt
am Boden, ihre Handballen gegen die zusammengekniffenen Augen gepresst und
brauchte ihre ganze Konzentrationsfähigkeit und Willensstärke, um zu atmen.
Der instinktgesteuerte Teil ihres Gehirns schnürte ihre Luftröhre zu und wollte sie
dazu bringen, sich zu erbrechen. Dieser Teil bestand darauf, dass sie jetzt nicht
atmen konnte, weil dadurch gefährliche Stoffe in ihren Körper geraten konnten und
dass es dringend nötig war, alle gefährlichen Stoffe, die bereits drin waren, wieder
hinauszuspülen. Sie wusste aber, dass alles Gefährliche bereits drin war, dass sie
sich jetzt wirklich zur Genüge übergeben hatte und dass es an der Zeit war, wieder
mit der geregelten Atmung anzufangen. Immerhin spürte sie ihre Kopfschmerzen
kaum noch.
Sie hörte ein ersticktes Schluchzen und brauchte einige Augenblicke, um zu
erkennen, dass es von ihr selbst stammte.
Irgendwo in ihrem vor Schmerzen und Wut heulenden Bewusstsein war sogar noch
eine Stimme, die sie daran erinnerte, dass wahrscheinlich irgendjemand die Polizei
gerufen hatte und dass es deswegen überhaupt nicht gut war, noch viel länger hier
zu bleiben.
Nach einer Weile – sie hatte keine Vorstellung davon, wie lange genau es gedauert
hatte – schaffte sie es, die Hände aus dem Gesicht zu nehmen, die letzten Reste der
scheußlichen Flüssigkeit mit den Ärmeln aus ihrem Gesicht zu wischen und
vorsichtig ihre Augen zu öffnen. Sie sah hell und dunkel. Lenore verfluchte sich
selbst dafür, dass sie Sonias Bewegung gespürt und deshalb ihre Augen geöffnet
hatte, kurz bevor sie das Pfefferspray getroffen hatte. Sie hatte noch nie davon
gehört, dass jemand von dem Zeug erblindet war, aber permanente
Augenverletzungen waren nicht sehr ungewöhnlich. Pfefferspray war ein Glücksspiel.
Es gab sehr starke Chargen und eher ungefährliche; manche Menschen reagierten
sehr empfindlich darauf, andere weniger. Lenore gehörte leider zu ersteren.
Sie musste einfach das Beste hoffen. Sie stützte sich umständlich am
Treppengeländer ab, während sie wieder aufstand.
Ihr war schlecht und schwindelig, als sie fertig war. Das war gut, denn das hieß, dass
der Schmerz so weit nachgelassen hatte, dass sie ihre Übelkeit zu spüren begann.
Sie tastete sich an der Wand entlang in den Waschraum. Sie legte umständlich den
Rucksack und das Halfter ab, zog sich den Pullover aus und wusch sich Gesicht und
Hände. Ihre Augen pulsierten, und sie sah jetzt außer Licht und Schatten noch
sonderbare Formen und Figuren, von denen sie inständig hoffte, dass sie Trugbilder
waren. Ihr ganzes Gesicht strahlte einen ekelhaft klopfenden Schmerz aus, der von
dort aus durch ihren ganzen Körper zog und nach und nach ihren Hals, ihre
Schultern und ihre Arme zu erfassen schien, obwohl diese Körperteile eigentlich
nicht betroffen waren. Ihre Nase fühlte sich taub an, als hätte sie sie heftig gestoßen.
Sie musste sich beständig anstrengen, um den Würgereflex zu unterdrücken und
sich nicht zu übergeben. Das Atmen fiel ihr immer noch schwer. Sie hatte keine Zeit,
zu warten, bis sie wieder komplett in Form war.
Mindestens ebenso sehr wie ihr Gesicht quälte sie ihr Stolz. Lenore hatte sich von
einem Opfer mit Pfefferspray besprühen lassen wie die allerletzte Anfängerin. Sie
hatte einen Fehler gemacht, der für gewöhnlich zu Recht mit dem Tod bestraft
36
wurde, und sie schämte sich dafür. Sie war wütend auf Sonia und auf sich selbst, sie
war so frustriert, dass sie kreischen wollte, bis sie wieder keine Luft mehr bekam, und
sie wollte irgendetwas zerschlagen, aber sie hatte dafür jetzt keine Zeit. Sie wusste,
dass jemand mit einer Waffe in diesem Gebäude war, und wenn derjenige nicht sein
Gehör verloren hatte, wusste er, wo sie steckte.
Dies war einfach keine gute Gelegenheit, um sich von verletztem Stolz verführen zu
lassen. Lenore atmete tief durch und legte ihre Ausrüstung und Kleidung wieder an.
Den Pullover zog sie nicht an, der enthielt noch Reste von dem Spray, die ihren
Atem stocken ließen.
Trotzdem nahm sie ihn mit, als sie sich vorsichtig zur Tür tastete. Tränen liefen über
ihr Gesicht, ihren Hals hinab und in ihr Shirt. Es fühlte sich ekelhaft an, und Lenore
hätte es trotz all ihrer Erfahrung nie für möglich gehalten, dass ein Mensch so viel
Tränenflüssigkeit in so kurzer Zeit vergießen konnte. Verdammt, warum konnte sie
immer noch nicht richtig sehen? Sie öffnete leise die Tür und versuchte aus
Gewohnheit, in den Flur zu spähen, konnte aber nur erkennen, dass die Beleuchtung
noch aktiv war. Sie hielt ihren Pullover zwischen Daumen und Zeigefinger der
rechten Hand und streckte ihn vorsichtig in den Flur.
Obwohl sie halbwegs damit gerechnet hatte, erschrak sie doch ein wenig über das
ohrenbetäubende Dröhnen. Um Gottes Willen, womit beschoss dieser Depp sie
denn, hatte der seine Flak mitgebracht?
Sie hatte keine Patronenhülse zu Boden fallen gehört. Er benutzte also einen
Revolver. Höchstens noch fünf Schuss. Es sei denn, er trug zwei.
Sie schloss die Tür nicht, bezog dahinter Position, zog ihre eigene Waffe und
wartete. Die Tür konnte nur nach innen geöffnet werden, und dem Schussgeräusch
nach hatte der Angreifer irgendwo bei der Treppe gestanden. Er konnte sie also nicht
sehen Sie hörte Schritte. Wenn er tatsächlich ein so gewaltiges Stück Eisen hatte,
wie der Krach vermuten ließ, bestand die Gefahr, dass er sie einfach durch die Tür
erschoss. Nicht zu ändern.
Er kam näher. Lenore hielt den Atem an.
Vor der Tür blieb er stehen. Es machte sie wahnsinnig, dass sie nichts sehen konnte.
Außerdem würde sie bald wieder atmen müssen, wenn sie nicht einfach bewusstlos
zusammenbrechen wollte. Das hier war ein Albtraum. Dabei hatte der Tag ziemlich
gut angefangen.
„Lenore?“ sagte ein Mann mit einem eindeutig asiatischen Akzent. Japaner,
vermutete sie. „Ich weiß, dass Sie hier drin sind.“
Ach.
„Zeigen Sie sich, Lenore.“
Moment, bin gleich da.
Er trat einen Schritt vor. Nur noch ein ganz kleines Stück näher. Ihre Lunge begann
zu brennen. Es wurde Zeit zu atmen. Einen Schritt noch. Er tat ihn.
Es war ein wundervolles Gefühl, nach so langer Zeit wieder atmen zu können,
während sie hinter der Tür hervorsprang. Er war ein verschwommener dunkler Fleck
in ihrem Auge. Kein Problem. Es ging hier nicht um Präzision. Es ging darum, wer
schneller war. Wenn er gut war, hatte sie jetzt verloren. Er war besser, als sie
erwartet hätte. Die meisten Menschen zögern für den Bruchteil einer Sekunde, selbst
wenn sie fest entschlossen sind, zu schießen; es war ihr egal, was Soziologen
meinten, sie glaubte an die menschliche Tötungshemmung, sie hatte ihr oft genug
das Leben gerettet. Nicht heute. Der Japaner zögerte nicht. Sie hörte das gewaltige
Krachen seiner Flak gleichzeitig mit den zwei Schüssen, die sie in die Gegend
gefeuert hatte, wo seine Schultern sein mussten. Er taumelte und fiel dann rücklings
37
zu Boden. Sie hörte seine Flak zu Boden fallen und über die Fliesen rutschen. Sie
trat zwei Schritte näher an ihn heran und hielt ihre Pistole auf seine Stirn gerichtet.
Ein stetig zunehmender Schmerz unter ihrer linken Schulter legte den Schluss nahe,
dass sie getroffen worden war. Sie fühlte kurz ihr Shirt und spürte warme Nässe.
Ausgezeichnet. Es musste ein Streifschuss gewesen sein. Ein richtiger Treffer mit
diesem Artilleriegeschütz hätte wahrscheinlich ihren Arm abgetrennt.
„Bitte bewegen Sie sich jetzt nicht.“ Lenore sprach Japanisch, um sich das alte NixVerstehn-Spiel zu ersparen. „Ich möchte Ihnen nämlich noch ein paar Fragen stellen,
bevor ich Sie zu Ihren Ahnen schicke.“
Sie konnte seine Mimik nicht erkennen, aber seine Stimme klang völlig ungerührt, als
er erwiderte:
„Sie können mir nichts anhaben.“
„Was?“
Lenore war nicht oft verblüfft. Aber jetzt gerade war sie es.
„Sie können mir nichts anhaben, Gaijin“, er spuckte das Wort aus, wie nur ein
Japaner es konnte. „Auch wenn ich sterbe, wird die Gemeinschaft weiter leben.“
Die Gemeinschaft.
„Ja, kann schon sein, aber Sie doch nicht“, sagte Lenore, als würde sie hoffen, dass
er dieses Detail einfach nur übersehen hatte. Was sie natürlich nicht ernsthaft tat.
Er lachte nur, wenn auch ohne besondere Fröhlichkeit. Er führte einen Arm zu
seinem Gesicht. Sie konnte nicht scharf sehen und wusste nicht genau, was er da
tat. Vielleicht kratzte er sich an der Nase.
„Was ist denn heute bloß los?“ murmelte sie.
Sie beschloss, es auf einen Versuch ankommen zu lassen. Sie nahm ihre Waffe von
seiner Stirn, drehte sich um und schoss in seinen rechten Ellbogen. Er lachte weiter.
Japaner. Sie hatte vor Asiaten im Allgemeinen und Japanern im Speziellen einen
ganz besonderen Respekt. Sie erinnerte sich noch an einen alten Mann, der
Vorstand irgendeines Unternehmens im Toyota-Konzern gewesen war. Er hatte
einfach nur da gesessen und genickt, als sie ihre Waffe zog. Als sie ihn fragte, ob
das alles war, hatte er wieder genickt und geantwortet: „Ich bin bereit.“
Lenore empfand große Verunsicherung gegenüber Menschen, denen der Tod
gleichgültig war, denn der Tod war alles, was sie hatte.
Sie setzte den Lauf wieder an die Stirn des Japaners.
„Sie wollen mir sagen, dass Sie nicht bereit sind, meine Fragen zu beantworten,
ganz gleich, womit ich Ihnen drohe.“
„Sie können mir nichts anhaben“, erwiderte der Japaner mit schwacher Stimme.
Sie wunderte sich kurz, warum er so leise sprach. Dann wurde ihr klar, was die Hand
in seinem Gesicht gemacht hatte - oder genauer, in seinem Mund.
Lenore stöhnte und verdrehte ihre Augen. Sie versetzte dem toten Japaner einen
halbherzigen Tritt, wischte die Tränen aus ihren Augen - und bereute es sofort.
Offensichtlich hatte sie ihre Hände nicht genug gereinigt, denn sofort flammte der
Schmerz frisch auf und sie konnte die Lider nicht mehr offen halten. Mit einem
unterdrückten Wimmern taumelte sie zurück zu den Waschbecken.
Sie war gespannt, wie sie hier rauskommen würde. Sie hoffte, dass der tote Japaner
nicht zu viele seiner Freunde mitgebracht hatte.
„Geh nicht ran“, murmelte Clara unter ihrem Kopfkissen hervor, und erst in diesem
Moment wurde Christian Meiller richtig bewusst, dass das Telefon klingelte.
Er hatte gelernt, sich an Anrufe zu ungewöhnlichen Zeiten zu gewöhnen. Auch seine
Frau hatte sich damit abgefunden, dass manchmal ein Notfall die Aufmerksamkeit
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ihres Mannes erforderte, auch wenn es ihr gerade nicht passte. Ihr selbst ging es da
ja auch nicht besser.
Trotzdem waren sie beide ein wenig verstimmt, als um vier Uhr morgens das Telefon
auf seinem Nachttisch klingelte.
„Es ist bestimmt wichtig“, sagte er.
„Natürlich…“
Er tastete nach dem Hörer und fand ihn schließlich. Er ließ ihn einmal fallen, bevor er
ihn schließlich am Ohr hatte und wischte sich über die Augen, obwohl er genau
wusste, dass das nicht half.
„Meiller?“
„Dr. Christian Meiller?“ sagte eine Stimme in einem routinierten Tonfall, der ihn gleich
hellwach werden ließ.
Solche Stimmen brachten keine guten Nachrichten.
„Ich bin Kriminalkommissarin Sascha Kreusler. Heute Nacht wurde in das Gebäude
eingebrochen, in dem sich die Redaktion Ihrer Zeitung befindet.“
Nach dem längeren Satz fiel ihm auf, dass die Stimme der Polizistin seltsam heiser
und außer Atem klang.
„Oh. Ja… Ist was Schlimmes passiert?“
„Ich fürchte, ja. Herr Meiller, es würde uns sehr helfen, wenn Sie herkommen
könnten. Jemand ist getötet worden.“
Vielleicht hatte sie einen der Einbrecher gejagt, oder sie war Kettenraucherin.
„Getö… Ich bin unterwegs.“
Er legte auf. Seine Frau schaltete ihre Nachttischlampe ein und sah ihn an.
„Was ist passiert?“
„Ein Einbruch beim Herold… Offenbar schlimm… Ich muss los. Wenn ich Genaueres
weiß, rufe ich an!“
Er wusch sich kurz, zog den Anzug vom Vortag an und eilte dann die Treppe
hinunter zu seinem Wagen. Der VW blinkte freunlich, als er ihn beim Näherkommen
aufschloss. Er legte eine Hand auf den Griff der Fahrertür - und hielt inne.
„Guten Abend, Dr. Meiller. Schön, dass Sie sich so beeilt haben.“
Dr. Meillers Kopf ruckte herum. Neben seinem Wagen stand eine furchtbar
zugerichtete Gestalt. Die Frau sah im grellen Licht der Straßenlampen aus, als wäre
sie schon tot und begraben gewesen und hätte sich in dieser wunderschönen
Vollmondnacht stilgerecht ins Freie gewühlt. Ihre Augen waren blutunterlaufen und
tränten, das recht geschwollen, ihr Blick war glasig, ihre gesamte Gesichtshaut war
rot wie von einem Sonnenbrand. Sie trug ein weißes T-Shirt mit einem dunkelroten
Fleck unter der linken Schulter. Ihr Atem ging schwer, Ihre Stimme klang heiser. Sie
trug einen Rucksack und ein Pistolenhalfter mit zwei Taschen. Eine Pistole steckte
noch darin, die andere hielt sie in der Hand.
„Wer sind Sie?“ fragte Meiller.
„Bleiben wir ruhig bei Sascha. Ich hätte gerne darauf verzichtet, Sie heute Nacht
noch zu belästigen, aber widrige Umstände zwingen mich dazu. Ich möchte, dass
das hier gut klappt, und wenn Sie vernünftig mitarbeiten, wird Ihrer Familie nichts
zustoßen.“
„Was wollen Sie?“
„Sind Sie mit der Arbeit Ihrer Redakteurin Sonia Schopp vertraut?“
„Was? Sie meinen doch nicht etwa…“
„Doch doch, das meine ich.“
Er fuhr sich mit einer Hand durch die Haare, während er zu begreifen begann, was
hier geschah. Sie hatte seine Familie bedroht. Sie stand direkt hier vor seinem Haus,
in dem seine Kinder schliefen, und seine Frau.
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„Was soll ich tun?“
„Ich fahre jetzt mit Ihnen in Ihre Redaktion. Der Einbruch hat tatsächlich
stattgefunden, Sie werden dort deshalb einige Polizisten vorfinden. Aus genau
diesem Grund kann ich Sie auch nicht begleiten. Ich werde im Wagen warten,
während Sie reingehen und die Unterlagen von Frau Schopp suchen. Sie werden
vielleicht nicht mehr viel finden, denn es war schon jemand da. Was noch da ist,
bringen Sie mir mit raus. Sollten Sie dafür ungewöhnlich lange brauchen, sollte ich
einen Polizisten sehen, der mich sucht oder sollte ich irgendwann in der auch fernen
Zukunft feststellen, dass Sie irgendwas liegengelassen haben, werde ich Ihre Frau
und Ihre Kinder lebendig häuten, direkt nacheinander im selben Raum, und Sie
sehen zu. Sie werden staunen, wie lange ein Mensch ohne Haut weiterleben kann,
wenn er auf die richtige Art gepellt wird. Alles klar?“
Meiller schluckte. Ihm wurde kalt und er konnte fühlen, wie er erblasste.
„Das – das ist doch nicht“
„Doch doch. Zweifeln Sie nicht, das wird Ihnen schaden. Wenn Sie zweifeln, zwingen
Sie mich, Dinge zu tun, um Ihnen zu beweisen, dass ich es ernst meine. Sie wollen
nicht, dass ich Ihnen irgendetwas beweise.“
Er war sprachlos. Das kam nicht oft vor.
„Darf ich kurz darüber nachdenken?“ fragte er schließlich und fühlte sich dabei recht
elend.
„Nein“, antwortete Sascha sofort. „Ihre Entscheidung ist jetzt fahren oder jetzt
sterben.“
„Fahren wir.“
Er machte Anstalten, einzusteigen.
„Halt! Eins noch. Treten Sie einen Schritt zurück, nehmen Sie Ihre Beine weiter
auseinander, lehnen Sie sich mit ausgestreckten Armen an das Auto.“
„Was – ach so.“
Er tat es. Sascha trat hinter ihn.
„Wenn jetzt Ihre Nase juckt: nicht kratzen.“
Dann begann sie, ihn abzutasten. Knöchel, Waden, Knie, Oberschenkel. Ein
entschlossener Griff zwischen die Beine, dann Jacke und Oberkörper. Er war in
seiner Zeit als Reporter schon einige Male abgetastet worden, wenn er von
bestimmten Veranstaltungen berichtete. Noch nie so gründlich.
„Gut, geben Sie mir Ihre Jacke, dann steigen Sie ein.“
Sascha legte den Rucksack ab, zog die Jacke über und setzte sich auf den Rücksitz
hinter ihm. Natürlich war Meillers Jacke ihr viel zu groß, aber sie war sicher weniger
auffällig als das Halfter mit den Pistolen und das blutige Shirt.
„Halten Sie sich allgemein mit schnellen Bewegungen zurück. Ich könnte
überreagieren.“
„Verstehe.“
Einige Minuten herrschte Schweigen.
Meiller dachte über seine Situation und sich selbst nach. Es war absurd. Es war
unglaublich. Es war wie in einem Film. Gab es nicht sogar einen Film, in dem etwas
sehr Ähnliches passierte? Mit Tom Cruise? Michael hatte eine Kritik drüber
geschrieben, die war gut gewesen.
Auf seinem Rücksitz saß eine bewaffnete Frau, die ihn umbringen wollte. Für den
Fall, dass er versuchte, zu entkommen oder sie zu hintergehen, hatte sie ihm
gedroht, seine Familie zu töten.
Meiller hatte schreckliche Angst, und er konnte sein Herz deutlich spüren, aber er
dachte noch klar. Zumindest kam es ihm so vor.
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Er hatte mal gelesen, dass es bei Geiselnahmen eine gute Idee war, sich mit den
Geiselnehmern zu unterhalten. Man konnte dadurch zeigen, dass man ein echter
Mensch war, genau wie sie, und dadurch fiel es ihnen schwerer, einen zu töten.
Während er vor einer Ampel hielt, sagte er:
„Sie sind also ein Profikiller? Das ist… interessant.“
„Ich mag den Ausdruck nicht. Aber ich töte für Geld, ja. Ist das Ihre journalistische
Neugierde oder ein Psychotrick?“
„Ein bisschen von beidem vielleicht.“
Sascha wollte wohl lachen, aber es kam nur ein gurgelndes Husten heraus. Die
Atmosphäre entspannte sich trotzdem spürbar.
Meiller fuhr fort: „Der Beruf übt eine gewisse Faszination aus. Ist es… schwer?“
„Ja.“
„Heute ist was schief gegangen, hm?“
„Ich glaube nicht an die magische Wirkung des Mondes, aber heute bringt er mir
jedenfalls kein Glück.“
Wieder so ein gurgelnd würgendes Lachen.
„Ist es nur ein Beruf, oder töten Sie manchmal auch zu privaten Zwecken?“ fragte er.
„Nein, niemals“, antwortete sie sofort und viel zu schnell.
Sie log. Aber warum log sie? Welchen Grund konnte sie haben? Vielleicht ist es
einmal wahr gewesen, dachte Meiller. Die Lügen, von denen wir am verzweifelten
wünschen, sie wären wahr, sind oft die schwersten.
„Werden Sie mich umbringen?“ fragte er, plötzlich wieder ernst.
Sascha sprach in normalem Konversationston weiter.
„Wenn alles erledigt ist? Ja.“
Meiller schluckte. Er konnte immer noch keine Angst empfinden, aber deswegen
fühlte er sich noch lange nicht wohl mit dieser Soziopathin.
„Warum sagen Sie mir das? Ich meine, welchen Grund habe ich denn jetzt noch, zu
tun, was Sie mir sagen? Womit können Sie mir drohen?“
„Sie haben Familie, hab ich doch schon gesagt. Das zieht eigentlich immer. Wollte
ich erst gar nicht glauben.“
Meiller wusste nicht, wo der Gedanke herkam, aber er war plötzlich da. Also fragte
er.
„Haben Sie eigentlich selbst noch Angst vor dem Tod?“
Einige Sekunden Pause.
„Das hat mich noch nie jemand gefragt. Sie sind gut. Haben Sie mal davon gehört,
was Soldaten bei einem Angriff empfinden?“
„Ja.“ Er nickte langsam.
„Dieser seltsame Abstand von sich selbst. Alle Gefahr völlig zu vergessen und nur
noch an die Mission zu denken. Sich selbst und die eigenen Schmerzen zurück zu
stellen. Vielleicht haben Sie es mal irgendwo gelesen.“
„Ich kenne einen ehemaligen Offizier. Er hat mir davon erzählt. Ich konnte mir das
nie so recht vorstellen…“ sinnierte er, in der Hoffnung, ihr eine Erklärung zu
entlocken.
„Ich auch nicht“, sagte sie unvermittelt. Dann fügte sie mit vollkommen unerwarteter
Ehrlichkeit hinzu: „Ich habe schreckliche Angst vor dem Tod. Weil ich ihn so gut
kenne. Weil ich ihn so gut verstehe.“ Ihre Stimme wurde wieder leichter und ihre
Worte verloren Gewicht, als sie weitersprach. „Aber ich weiß, wann ich Angst haben
muss und wann nicht. Sie zum Beispiel sind…“ Sie suchte nach den richtigen
Worten. Meiller tat etwas, was er in einem Interview nie getan hätte. Aber er war
zurzeit nicht an der Stimmung, an den Leser zu denken und achtete mehr auf das,
was ihn selbst interessierte. Er unterbrach sie.
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„Harmlos?“
Sie neigte den Kopf unschlüssig von links nach rechts.
„Harmlos, meinetwegen. Ich weiß, dass ich Ihnen meine Waffe geben könnte, und
nichts würde sich an der Situation ändern. Sie würden das Opfer bleiben. Obwohl ich
natürlich nicht so dämlich wäre, das wirklich-“
„Haben Sie Sonia umgebracht?“ unterbrach er sie schon wieder.
„Noch nicht“, antwortete sie, ohne sich daran zu stören.
„Hat sie das etwa mit Ihnen gemacht?“
Sonia gab sich gerne als starke Frau, fast schon ein bisschen überzogen. Manchmal
ging ihm das ziemlich auf den Geist. Er konnte sich kaum vorstellen, dass sie einfach
friedlich wie ein Lamm hinter ihrer Mörderin hertrotten würde.
„Der Streifschuss ist nicht von ihr. Was ist mit Ihnen, Dr. Meiller? Lieben Sie Ihre
Frau?“
„Was?“
Sein Adrenalinspiegel war zu hoch, als dass er dem plötzlichen Themenwechsel
sofort hätte folgen können.
„Ich bin Junggesellin, wie Sie sich wahrscheinlich denken können. Ich frage mich
manchmal, wie es ist, eine Familie zu haben.“
Jetzt lachte Meiller. Gerade weil die Situation so unfassbar war, schien ihm ihre
Bemerkung wahnsinnig komisch.
„Und tun Sie manchmal vor dem Spiegel heimlich so, als wären Sie eine
gelangweilte Hausfrau und Mutter?“
„Warum? Ist Clara so?“
Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht. Dass sie den Namen seiner Frau
kannte, brachte ihm die Realität wieder zu Bewusstsein.
„Sind alle… Killer so wie Sie, Sascha?“
„Wie bin ich denn?“
„Ich habe sicher nicht den Anspruch, Sie nach einer Viertelstunde komplett analysiert
zu haben, aber Sie wirken intelligent, suchend, einsam. Sie spielen mit mir. Ich hätte
mehr Keule und weniger Florett erwartet.“
„Mehr Keule… Sie meinen wie Joe Pesci?“
„Genau!“
Diesmal klang Saschas Lachen schon ziemlich normal, nur noch ein bisschen wie
von einer Kettenraucherin. Ihre Stimme aber klang erschreckend humorlos, als sie
erwiderte:
„Vielleicht gehen wir nachher in einen Aufzug, und dann prügle ich Sie mit dem Griff
meiner Pistole tot.“
Die gute Gesprächsatmosphäre verflog wieder.
Das Telefon klingelte schon wieder. Clara war gerade eben wieder eingeschlafen,
und jetzt klingelte das blöde Ding schon wieder. Durch den Schleier ihrer Müdigkeit
begann die Erinnerung hindurch zu scheinen, dass Christian gesagt hatte, er würde
anrufen, sobald er Näheres wusste.
„Hallo?“ sagte sie in den Hörer und versuchte dabei, so freundlich wie möglich zu
klingen. Er meinte es ja gut.
„Guten
Morgen“,
sagte
eine
ruhige,
sachliche
Stimme.
„Ich
bin
Kriminaloberkommissar Konstantin Klaus. Es tut mir leid, dass ich Sie so früh stören
muss, ich würde gerne mit Herrn Dr. Christian Meiller sprechen.“
„Was… Aber… Wie…? Konstantin? Ich bins.“
„Clara? Ach, das ist dein… Ich habe vorhin schon an dich gedacht, als ich den
Namen gelesen habe.“
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„Was ist denn da los bei euch?“
„Hier beim Herold hat's eine ziemliche Schweinerei gegeben. Einbruch, vier Tote,
anscheinend Profis.“
Profis. Clara war wieder hellwach.
„Konstantin, hat einer von euch schon hier angerufen?“
„Hier, du meinst bei euch? Nein, auf keinen Fall. Glaub ich jedenfalls, du weißt ja,
wie das läuft. Hier hat im Moment noch niemand so richtig den Überblick.“
„Mit wem hat Christian dann vorhin gesprochen? Konstantin, du musst unbedingt
rausfinden, ob einer von euch meinen Mann angerufen hat.“
„Du meinst, er ist nicht mehr bei dir?“
„Nein. Wisst ihr schon, was die wollten?“
„Wir sind nicht sicher, aber sie scheinen die Redaktionsräume durchsucht zu haben.
Hat dein Mann an was Gefährlichem gearbeitet?“
„Äh... Ja, hat er, glaub ich. Oder jedenfalls eine Mitarbeiterin. Ich bin in zwanzig
Minuten bei euch. Gib eine Fahndung nach Christian raus.“
„Wir kümmern uns drum.“
Sie legte auf, sprang aus dem Bett, zog sich hastig an, suchte dreieinhalb Minuten
lang leise fluchend ihre Autoschlüssel, und dann wurde ihr klar, dass niemand auf die
Kinder aufpasste, während sie weg war. Sie konnte um diese Uhrzeit auch
niemanden anrufen. Aber sie musste los. Sie konnte nicht einfach hier warten, wenn
Christian vielleicht entführt worden war. Erik war 13. Außerdem schliefen die beiden
sowieso. Bis zum Morgen wäre sie wieder da. Es hatte keinen Sinn, sie jetzt deshalb
zu wecken. Sie schrieb einen Zettel mit einem gelben Textmarker und klebte ihn so
an die Innenseite von Eriks Tür, dass er ihn nicht übersehen konnte. Hallo Schatz,
dein Vater und ich haben noch schnell was Wichtiges zu erledigen, wir sind zum
Frühstück wieder da. Liebe, Mama.
Sie war sicher, dass sie rechtzeitig zurück sein würde, um den Zettel abzunehmen,
bevor Erik ihn gelesen hatte.
Sie hastete die Treppe hinunter, stürzte wieder hinauf, um ihr Mobiltelefon zu holen,
kehrte zurück und sprang in ihr Auto. Sie hatte inzwischen genug Bedenkzeit gehabt,
um zu erkennen, dass es sich nicht lohnte, mit halsbrecherischer Geschwindigkeit
zum Herold zu rasen. Es gab eigentlich keinen Grund, anzunehmen, dass Christian
dort sein würde. Sie hielt sich an alle wichtigen Verkehrsvorschriften und kam
trotzdem zügig voran, weil die Straßen der Stadt um diese Zeit noch menschenleer
waren. Das Telefon klingelte. Konstantins Nummer.
„Was gibt’s?“
„Clara, er ist jetzt hier. Er sagt, es ist alles in Ordnung. Aber niemand von uns hat ihn
angerufen, das weiß ich genau.“
„Lass mich mit ihm sprechen.“
„Clara?“ hörte sie die Stimme ihres Mannes.
„Christian. Was ist los? Mit wem hast du vorhin gesprochen?“
„Ich hab keine Ahnung, Clara, aber hier ist jetzt alles in Ordnung. Alles ist hier voll mit
Einsatzwagen und Polizisten. Der Bundeskanzler wird weniger gut geschützt als ich,
mach dir keine Sorgen. Herr Klaus hier sagte mir, dass du herkommen wolltest, das
ist nicht nötig. Bitte fahr wieder nach Hause.“
Er klang überhaupt nicht, als wäre alles in Ordnung. Sie sagte es ihm.
„Ich bin nicht ausgeschlafen und in der Redaktion herrscht ein ziemliches Chaos,
Schatz. Ich bin schlecht drauf, aber du musst dir wirklich keine Sorgen machen. Bitte
fahr nach Hause. Bitte.“
„Ich will doch nur mal selbst sehen“
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„Schatz. Vertrau mir bitte. Du musst jetzt nach Hause fahren. Wirklich. Tu es für
mich, es ist wichtig. Ich bin in Sicherheit. Ich bleibe hier bei deinen Kollegen.“
Er legte auf. Wer ihn weniger gut kannte als sie, hätte ihm nicht angemerkt, dass er
versuchte, nicht zu weinen. Sie wollte bei ihm sein und ihm helfen, und sie wollte
wissen, was wirklich los war. Aber sie vertraute ihm, und er meinte es eindeutig ernst
mit seiner Bitte. Sie war schon fast da, aber sie wäre wahrscheinlich tatsächlich
umgekehrt, wenn sie nicht gerade in diesem Moment einen Wagen am Straßenrand
erkannt hätte, der genau wie Christians aussah. Sie machte sich nicht die Mühe
ordentlich zu parken, sie hielt einfach, stieg aus und ging zu dem Wagen. Das
Kennzeichen stimmte auch.
Sie zog ihre Dienstwaffe und ging vorsichtig näher heran. Der Wagen war leer. Wenn
Christian entführt worden war, musste der Geiselnehmer doch hier irgendwo sein. Er
war sicher nicht mitgegangen. Sie wurde blass, als ihr klar wurde, womit er Christian
gedroht haben musste, um sicherzugehen, dass er zurückkehrte.
Sie hörte ein leises Klicken hinter sich und unterdrückte einen Fluch. Warum hatte
sie ihn nicht gesehen? Sie hatte sich gründlich umgesehen. Natürlich gab es immer
irgendwo ein Versteck, wenn es dunkel war.
„Weiß Ihr Mann, dass Sie heimlich nachts fremden Frauen nachsteigen?“ sagte eine
heisere Stimme. Dann fügte die Stimme hinzu: „Drehen Sie sich nicht um.“
„Tun Sie unseren Kindern nichts, bitte“, sagte Clara.
Sie verstand nicht, wieso sie die Frau nicht vorher gehört hatte. Ihr rasselnder
unsteter Atem schien ihr jetzt so schrecklich laut zu sein.
„Werd ich nicht, wenn Ihr Mann sich anständig benimmt. Sie hingegen haben Ihren
Kindern heute Nacht etwas ziemlich Furchtbares angetan.“
„Was“
„Mother“, unterbrach die Frau sie in einem rauen Flüstern, „Is the name for God on
the lips and hearts of all children.“
Und dann verstand Clara, was die Frau meinte. Sie wollte Clara töten und ihr die
Schuld dafür geben, dass die Kinder dann ohne Mutter Mutter aufwachsen würden.
Sie fasste ihre Dienstwaffe fester und wirbelte herum. Sie schaffte eine halbe
Drehung. Ihr letzter Gedanke war die Vorstellung, dass Christian ihren Kindern
würde erklären müssen, dass sie ihre Mutter nie wieder sehen würden.
Vielleicht war es eine Gnade, dass ihr nicht genug Zeit blieb, um die Situation in ihrer
ganzen Entsetzlichkeit zu verstehen.
Der Polizist, der sich als Konstantin Klaus vorgestellt hatte, legte Christian eine Hand
auf die Schulter und sah ihm eindringlich in die Augen.
„Herr Dr. Meiller. Sie können jetzt gehen, wenn Sie wollen. Für den Fall, dass Sie das
jedoch gar nicht wollen, können Sie mir das jetzt sagen. Sie müssten nicht sprechen,
falls das nicht möglich ist. Sie können mir irgendein anderes Zeichen geben. Falls
irgendetwas nicht in Ordnung ist, können wir Ihnen damit helfen. Sie können dieses
Problem, falls es eins gibt, ganz sicher nicht alleine lösen. Was Sie im Kino sehen, ist
nicht richtig. Man sollte immer die Polizei einschalten, egal, womit man bedroht wird.
Wir können Ihnen helfen.“
Er lächelte den Polizisten verlegen an und zuckte die Schultern.
„Das war eine sehr gute Ansprache. Leider gibt es nichts, was ich Ihnen sagen
könnte. Ich habe keine Ahnung, was das für ein Witzbold war, der mich da angerufen
hat, aber er hat offenbar seine Portion Humor für heute gehabt und…“ Er bemerkte,
dass er plapperte. „Ich muss dann jetzt gehen.“
„Ich würde Sie gerne zu Ihrem Wagen begleiten, Herr Dr. Meiller. Wäre Ihnen das
recht?“
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Er atmete tief durch.
„Nein, das wäre mir überhaupt nicht recht. Machen Sie hier Ihre Arbeit und lassen
Sie mich meine machen“, sagte er in seinem arrogantesten Die-Presse-ist-die-vierteGewalt-Tonfall, den er sich normalerweise für Leute aufhob, die ihn wegen
Verletzung ihres Persönlichkeitsrechts verklagen wollten.
„Darf ich fragen, was Sie mit den Unterlagen vorhaben, die Sie mitgenommen
haben?“
„Sie dürfen nicht.“
Er drehte sich um und ging, ohne die Visitenkarte auch nur anzusehen, die der Mann
ihm geben wollte.
Die Frau, die sich Sascha nannte, lehnte an einer Straßenlaterne, als er zu seinem
Wagen zurückkehrte.
„Das ging schnell. Gut.“
Er gab ihr die kleine Aktentasche, die er im Büro gepackt hatte.
„Das ist alles. Sonia hatte noch nicht viel zusammen.“
„Sie würden mich nicht anlügen, oder? Weil sie wissen, was ich dann tun würde.“
Er nickte.
Sie sah einige Sekunden nachdenklich Meillers Wagen an und sagte schließlich:
„Wir sollten jetzt einen Spaziergang machen.“
„Ist es soweit?“
Jetzt kam wieder die Angst. Er wollte nicht sterben. Er wollte leben. Er wollte sehen,
wie seine Kinder aufwuchsen. Er wollte es Clara nicht antun, sie allein zu lassen.
„So allmählich“, antwortete Sascha.
Er beschloss, weiter mit ihr zu reden. Wenn es schon nicht sein Leben rettete, würde
er wenigstens noch etwas über den Menschen erfahren, der seinen Kindern den
Vater nehmen würde.
„Was empfinden Sie dabei, Sascha? Fällt es Ihnen manchmal schwer? Gibt es Ihnen
ein Gefühl von Macht? Macht es Ihnen Spaß?“ Es gelang ihm nicht ganz, die Worte
ohne ein gewisse Bitterkeit auszusprechen.
„Meine Gewalt ist nur ein stummer Schrei nach Lie-hiebe“, sang sie vor sich hin.
„Was soll die Frage?“
„Es interessiert mich eben. Aber wenn Sie“
„Ja“, unterbrach ihn Sascha. „Auf alle drei Fragen.“
Ihr Tonfall war so beiläufig und ungeduldig, dass er keinen Zweifel daran hatte, dass
sie einfach nur das Thema wechseln wollte.
„Aber… Ist denn Ihr Leben erfüllt? Was bleibt denn von Ihnen? Wer wird sich an Sie
erinnern? Was werden Sie geschaffen haben?“
„Jetzt werden Sie ein bisschen melodramatisch, finden Sie nicht auch?“
„Belastet es Sie nicht, Menschen umzubringen, die Sie überhaupt nicht kennen?“
„In diesem Film antwortet der Mörder auf diese Frage: Darf ich Menschen nur
umbringen, nachdem ich sie kennen gelernt habe? Ich fand das ziemlich lustig, aber
ich stehle meine Bonmots nicht gerne von anderen.“ Sie machte eine dramatische
Pause und sah Meiller an. „Sie wären überrascht, wie gut man einen Menschen
kennen lernt, bevor man ihn tötet.“
„Sehen Sie viel fern?“
Er hatte keine Ahnung, warum er diese Frage gestellt hatte. Wahrscheinlich wollte er
nur alles tun, um es hinauszuzögern.
„Ich habe keinen Fernseher. Kino.“
Wenn jetzt jemand vorbeigegangen wäre, hätte er gedacht, zwei Arbeitskollegen zu
sehen, die sich nett unterhielten. Vielleicht hätte er sich über die Uhrzeit gewundert.
„Haben Sie Freunde, mit denen Sie ins Kino gehen?“
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„Ja. Aber meistens bringe ich sie danach um.“ Sascha lächelte, als sie das sagte,
aber Meiller war sich nicht sicher, wie viel Wahrheit darin steckte. „Wann waren Sie
zuletzt ihm Kino?“
„Findet Nemo, mit Clara und den Kindern.“ Der Gedanke an seine Familie machte
ihn traurig.
„Ja, der war gut. Gehen wir.“
Sascha wandte sich ab und winkte Meiller, ihr zu folgen.
„Wohin wollen Sie?“
„Ich bin wirklich gespannt, wie Sie reagieren.“
Er folgte ihr. Bis er den Wagen am Straßenrand sah. Und das Nummernschild
erkannte. Und ihm klar wurde, was geschehen sein musste.
„Nein…“
Diesmal benutzte Sascha die Pistole ohne Schalldämpfer. Der Knall hallte von den
Wänden der Hochhäuser wieder und schien in der Stille der Nacht so gewaltig, als
wäre eine Bombe explodiert.
Auch Christian Meillers letzter Gedanke galt seinen Kindern.
Nachdem sie einige Kreuzungen weiter gelaufen war, um sicher zu gehen, dass die
Polizisten sie nicht kriegen würden, die möglicherweise von dem Krach angelockt
worden waren, fiel Sascha in einen bequemeren Gang zurück. Verärgert stellte sie
fest, dass die zehn Minuten Dauerlauf sie ziemlich außer Atem gebracht hatten und
dass der Streifschuss unter ihrer Schulter aufgebrochen war. Bisher sah ihre Bilanz
für diesen Hit nicht besonders gut aus. Sie blutete, sie konnte nicht richtig atmen, ihr
Gesicht sah aus als hätte es jemand als Topfhandschuh benutzt, sie sah immer noch
unscharf, jemand war hinter ihr her, und sie hatte keine Ahnung, wohin ihre
Zielperson verschwunden sein mochte. Sie würde sich ein Hotelzimmer nehmen und
sämtliche Schokoladenriegel aus der Minibar verspeisen. Nein, das waren immer viel
zu wenige, sie würde vorher an einer Tankstelle einen gigantischen Twixvorrat
kaufen. Vielleicht auch noch einen MilkyDie Frau, die sich Sascha genannt hatte, machte einen Schritt in's Leere. Ihr rechtes
Bein war nicht mehr da. Sie spürte, wie ihr Gesicht sich in eine Grimasse
verständnisloser Furcht verzerrte und ging ausgesprochen unelegant zu Boden,
konnte sich aber mit den Händen abstützen und so Schlimmeres verhindern.
Verblüfft saß sie auf dem kalten Gehwegpflaster und massierte ihr rechtes Bein, das
sich jetzt bereits wieder fast normal anfühlte, nur noch ein bisschen zitterig.
Sie war sich ziemlich sicher zu wissen, was gerade passiert war. Sie wollte nicht
darüber nachdenken.
Sie hörte Schritte, war beinahe dankbar für die Ablenkung, drehte sich um und sah
einen komischen kleinen Kerl
in fleckiger Jeansjacke und durchlöcherter
verwaschen hellbrauner Cordhose auf sich zukommen. Seine ganze Haltung strahlte
eine erzwungene Aggression aus, die er wahrscheinlich brauchte, um seine Angst zu
überwinden. Eine Hand hielt etwas unter seiner Jacke fest.
Sascha wusste schon ziemlich genau, was das war, und sie verdrehte die Augen und
stöhnte. Ein kleiner Augenblick der Schwäche, und schon versammeln sich die
Geier. Allmählich hatte sie wirklich genug gehabt für heute. Sie stand vorsichtig auf.
„Hey, gib mia deine Brieftasche odä ich schlitz disch auf!“
Er zog ein albernes kleines Messer hervor. Sie lachte auf.
„Nicht doch.“
Das Ding wäre sogar zum Nägelreinigen lächerlich gewesen.
„Los Mann, mach schon!“
Mann? Sie lächelte ihn an und schüttelte langsam ihren Kopf.
„Sie sollten so was nicht tun“, sagte sie.
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„Hä?“
Er fuchtelte weiter mit seinem Messer. Seiner Mimik nach tat er das nicht, weil er
noch immer dachte, sie damit beeindrucken zu können, sondern einfach nur, weil
ihm nichts Besseres einfiel.
„Erstens“, begann sie, „Weil Sie offensichtlich nicht besonders klug sind und deshalb
früher oder später gefasst werden. Und zweitens - das ist eigentlich kein besonders
guter Grund, aber durch einen total verrückten Zufall ist es das heute der Wichtigereweil Sie eines Tages auf so jemanden wie mich treffen könnten.“
Sie nahm ihm das Messer weg und rammte die Pistole ohne Schalldämpfer in seinen
Mund. Sie war sich nicht sicher, ob sie ihm dabei einige Zähne ausgeschlagen hatte.
Wahrscheinlich schon. Er blickte sie aus weit aufgerissenen, verständnislosen Augen
an, die Lippen um den Lauf geschlossen wie um einen riesigen Schnuller aus Stahl.
Er fürchtete sich offenkundig so sehr, dass er nicht einmal zu zittern wagte.
Sie tippte mit der freien Hand gegen ihre Schläfe.
„Berühren sich unsere Gedanken? Sind wir eines Geistes?“
Speichel lief aus seinem vom Lauf der Pistole aufgehebelten Mund, während sein
Kopf ein merkwürdiges Zittern vollführte, das wahrscheinlich anzeigen sollte, dass er
nicken wollte, es aber nicht wagte.
Sie zog die Waffe unsanft aus seinem Mund, nahm ein Taschentuch zur Hand und
begann, sie zu reinigen. Einige Sekunden stand er noch fassungslos da, dann drehte
er sich um und rannte weg.
Sie sah ihm versonnen nach und murmelte: „Jeden Tag eine gute Tat.“
Als sie ihn nicht mehr sehen konnte, zog sie ihr Portemonnaie aus der Tasche und
warf es in einen Abfalleimer. Es wurde Zeit, die Kreditkarten zu wechseln.
Kreditkarten hinterließen eine Spur.
Sascha schüttelte den Kopf und ging weiter. Ihr Telefon klingelte.
„Ja?“
„Wie läuft's, Lenore?“
„Abgesehen davon, dass ich kurz vor der Dekompensation stehe?“
„Was?“
„Vergiss es. Ich fürchte, dass ich noch ein bisschen Zeit brauche. Das Problem, von
dem ich dir vorhin erzählt habe. Aber das kriege ich in den Griff. Ich melde mich. Halt
du mich bitte auch auf dem laufenden, wenn es bei dir was Neues gibt. Aber es ist
gut, dass du anrufst. Ich brauche ein neues Basiskit. In zwanzig Minuten am
Hauptbahnhof?“
„Das schaffen wir, ja.“
„Du bist der Beste.“
„Lenore, ist wirklich alles in Ordnung bei dir? Verschweigst du mir irgendwas?“
„Ich weiß ja selbst noch nichts. Vielleicht kannst du mir ja helfen. Find was raus,
mach mich stolz.“
Er gab auf. „Ich bemühe mich. Viel Glück.“
„Kiss-kiss.“
Sie warf das Telefon in einen Abfalleimer auf der anderen Gehwegseite und stieg in
den nächsten U-Bahn-Zugang hinab. Glücklicherweise hatte sie noch ein bisschen
Kleingeld in ihrer Hosentasche, um ein Ticket zu kaufen. Schwarzfahren machte sie
immer so nervös.
Philippe schwitzte vor Angst. Er zitterte. Die beiden Wachen hatten ihn in einen
Raum gebracht, in dem er noch nie gewesen war. Es war trotzdem nicht schwer, zu
erkennen, dass es sich um einen Verhörraum handelte. Außer mit dem Stuhl, auf
dem Philippe saß, war er eingerichtet mit einem großen Metalltisch, an dem Hand47
und Fußschellen angeschraubt waren, sowie einem weiteren kleineren Metalltisch,
auf dem eine Anzahl scheußlicher metallener Werkzeuge lagen, die meisten davon
in irgendeiner Weise mit Klingen oder Spitzen versehen. In einer Ecke stand ein
fahrbares Schränkchen mit einem Gerät, das Philippe noch nie gesehen hatte, das
ihm aber verdächtig danach aussah, als würde es zur Verabreichung von
elektrischen Schocks verwendet.
„Warum bin ich hier?“ fragte er den rechten der beiden Wachleute.
Der Mann antwortete nicht. Er erwiderte nicht einmal seinen Blick. Als Philippe ihm
heute beim Mittagessen begegnet war, hatten sie noch gemeinsam über das
Hühnerragout gescherzt. Er beschloss, es nicht weiter zu versuchen. Nachdem er
einige Minuten so da gesessen und sich die Folterwerkzeuge angesehen hatte, hörte
er von außerhalb des Raums laute Stimmen. Zunächst konnte er keine einzelnen
Worte verstehen, sondern nur die Stimmen von Clarence und Kira erkennen. Sie
schienen sich gegenseitig anzuschreien. Als sie näher kamen, wurden die Worte
deutlicher.
„…dieses dumme Schwein eigentlich!“ brüllte Clarence. „Ich gebe ihm einen Job! Ich
vertraue ihm! Ich bezahle ihn gut! Verdammt, meine Leute leben besser als die
meisten Shell-Expatriots hier im Land! Und diese RATTE wagt es, mich zu
hintergehen! Und du verteidigst ihn auch noch?“
„Wir wissen doch nicht mal, ob er es war“, erwiderte Kira, fast ebenso laut. „Du hast
vorhin noch selbst gesagt, dass es genauso gut“
„Auf wessen Seite stehst du eigentlich, hä? Natürlich war er das! Du hast doch das
gleiche gesehen wie ich!“
Philippe war so starr vor Angst, dass er nicht auf die Idee kam, sich darüber zu
wundern, dass die Folterkammer nicht schalldicht war. Sein Herz schlug immer
schneller und immer lauter. Er versuchte, es in den Griff zu bekommen, indem er tief
und langsam atmete, aber es half nicht.
„Das beweist noch gar nichts. Clarence, wir müssen ihm eine Chance geben, es uns
zu erklären!“
Sie schienen jetzt direkt vor der Tür zu stehen.
„Willst du mich VERARSCHEN?“ donnerte Clarence, „Wir sind doch hier nicht in den
beschissenen USA! Der Sausack ist SCHULDIG, darauf verwette ich deinen süßen
ARSCH!“
Philippe hatte das alles nicht gewollt. Er hatte nie darum gebeten, für eine kriminelle
Organisation zu arbeiten. Er hatte einfach nur von einem Freund gehört, dass es da
ein Unternehmen gab, dass seine Leute verdammt gut bezahlte, und er hatte sich
dort beworben. Er hatte gehofft, damit das Studium seiner Schwester bezahlen zu
und vielleicht noch seine Eltern ein wenig unterstützen zu können.
Dann hatten sie ihn zu einem Gespräch eingeladen, und er hatte erfahren wie gut er
wirklich bezahlt werden würde, und er hatte sich Mühe geben müssen, nicht
aufzuspringen und zu schreien, als sie ihm sagten, dass er die Stelle haben konnte.
Als sie ihm dann sagten, worum es ging, hatte er einfach nicht ablehnen können.
„Clarence, reiß dich zusammen, verdammt!“ schrie sie. „Ich WILL, dass wir mit ihm
reden. Du bist nicht der König von Kamerun, verdammt, das hier ist genauso meine
Sache!“
„Immer müsst ihr Weiber erst drüber reden, was? Dann red doch mit ihm!“
Es folgte noch ein kurzer, weniger lautstarker Austausch, dem Philippe nicht mehr
folgen konnte, dann öffnete sich die Tür und Kira kam herein. Sie trug diesmal keinen
Bademantel, sondern ein Tanktop, Jeans und braune Wanderschuhe. Hinter ihr her
stapfte wie ein drohender Schatten die riesige Gestalt von Clarence. Er musste sich
tief bücken, um durch die Tür zu kommen.
48
„Warum habt ihr ihn noch nicht angekettet?“ knurrte er. Seine Stimme war ein tiefes
Brummen wie von einem großen Raubtier.
Philippe hatte Clarence bisher noch nicht näher kennengelernt, ihn nur ein paar Mal
von weitem gesehen. Da hatte er immer freundlich gelächelt und trotzdem sehr
einschüchternd gewirkt. Ohne das Lächeln war er ein Ungeheuer aus einem
Albtraum. Glücklicherweise kam er nicht so nah heran wie Kira.
„Weil ich ihnen gesagt habe, dass ich erst vernünftig mit ihm reden will“, antwortete
Kira spitz. „Ob du’s glaubst oder nicht, manchmal muss man Leute nicht in Stücke
reißen, damit sie kooperieren.“
„Pff!“
Clarence verschränkte die Arme vor seiner Brust und verdrehte die Augen. Kira ging
auf Philippe zu und streckte ihm ihre Hand entgegen.
„Philippe“, sagte sie, ziemlich freundlich, während Clarence ihn mit Blicken
durchbohrte. „Behalten Sie Platz“, bat sie, als er zur Begrüßung aufstehen wollte.
„Hallo, Kira.“ Seine Stimme zitterte, ebenso wie seine Hand, die sich kalt und feucht
anfühlte.
Sie nickte ihm aufmunternd zu.
„Philippe, wir haben ein kleines Problem.“
„Kleines Problem…“ knurrte Clarence.
„Ja… Worum geht’s denn?“ fragte Philippe, so ruhig, wie es ihm unter den
Umständen möglich war.
„Siehst du… Du hast den letzten Hit für Lenore dispatcht.“
Er nickte, und ihm wurde noch ein bisschen kälter.
„Der Auftrag ist kompromittiert. Jemand ist ihr zum Ziel gefolgt. Wir müssen jetzt
herausfinden, wer sie verraten hat.“
„Als ob wir das noch nicht wüssten!“ rief Clarence und machte ein paar Schritte auf
Philippe zu. Kira drehte sich zu ihm um, um ihn zurückzuhalten. Sie zischte ihm
etwas in einer fremden Sprache zu, woraufhin er wieder „Pfff!“ machte und die Arme
vor der Brust kreuzte.
„Philippe, hast du irgendjemandem von dem Hit erzählt?“
Er atmete ein und öffnete den Mund, aber sie kam ihm zuvor.
„Denk nach. Lüg uns nicht an, das wäre ein Fehler. Es ist egal, ob du mit jemandem
innerhalb oder außerhalb der Organisation gesprochen hast. Erzähl es mir einfach.
Du bist noch neu hier. Es könnte ja sein, dass du es nicht besser wusstest. Ich bin
sicher, dass du es uns vernünftig erklären kannst, und dann finden wir auch eine
Lösung, die für uns alle fair ist. Erinnerst du dich, Vertrauen? Wir haben dir Vertrauen
gezeigt, indem wir dich hier aufgenommen und dir Lenore anvertraut haben.“ Sie
zeigte ihm ein perlenweißes Lächeln voller Zähne. „Du hast uns Vertrauen gezeigt,
indem du zu uns gekommen bist und uns erzählt hast, wo deine Familie und deine
Freunde wohnen. Das war ein guter Anfang. Ich bin sicher, dass wir darauf aufbauen
können. Vertrau mir und erzähl mir, was passiert ist. Du vertraust uns, oder?“
Philippe warf Clarence einen Blick zu und bereute es sofort. Der bedrohliche Riese
schnaufte und sah ihn immer noch an, als wollte er ihn auffressen. Ohne dass er es
wollte, flackerte sein Blick hilfesuchend zurück zu Kira.
„Wenn du es mir sagst, halte ich ihn zurück, Philippe. Es wäre für uns sehr wichtig zu
erfahren, mit wem du gesprochen hast. Aber du solltest es uns bald sagen. Clarence
hat eine sehr niedrige Frustrationstoleranz, und sogar meine Geduld hat Grenzen,
und außerdem ist er ein bisschen größer und stärker als ich, wie dir vielleicht
aufgefallen ist.“
Es tat Philippe fast ein bisschen Leid, dass er vollkommen unschuldig war und
deshalb keine Ahnung hatte, wovon sie sprach.
49
Marten stand unentschlossen am Ausgang des Hauptbahnhofs und blickte zu Pedro
hinüber. Er wollte Acid, aber er hatte keine Lust, sich dafür von Pedro demütigen zu
lassen. Vielleicht sollte er einfach gehen. Vielleicht sollte er den ganzen Dreck
einfach sein lassen, vielleicht sollte er jemanden um Hilfe bitten und endlich sein
Leben in den Griff kriegen. Vielleicht. Aber das ging auch morgen noch.
Er stieß sich von der Wand ab, an der er lehnte, und sah, wie Pedro eine Grimasse
der Verachtung schnitt, als er ihn auf sich zukommen sah.
Marten hasste diesen widerlichen Drecksack. Die Art, wie er mit ihm redete. Die Art,
wie er ihn ansah. Die Art, wie er es sich gefallen ließ. Es war noch viel schlimmer,
weil er diesmal wirklich gedacht hatte, er würde es schaffen.
„Es gibt nichts auf Kredit“, sagte Pedro, noch bevor er den Mund geöffnet hatte.
„Ich will nichts auf Kredit“, erwiderte er. „Ich hab Geld.“
Pedro grinste ihn breit an und kniff ihn kräftig in den Oberarm.
„Wen hast du beklaut, hä? Oder hast du wieder deine Schwester angepumpt, du
Opfer?“
„Das geht dich gar nichts an. Was krieg ich dafür?“
Er hielt Pedro zwei Zwanziger hin. Die Geste war schrecklich unterwürfig, das wusste
er. Wie ein Kind im Süßigkeitenladen, das nicht ganz sicher war, wie viel die Hand
voll Kleingeld von seinen Eltern eigentlich wert war.
Pedro rümpfte seine Nase.
„Dafür kann ich dich mal richtig in den Arsch treten, sonst gibt’s dafür nix. Wenn du
Kleinkram willst, geh zu den Typen auf dem Hauptschulhof. Bei mir geht unter 'nem
Hunderter gar nichts mehr.“
Marten sah zu ihm auf mit einem Blick, der so widerwärtig unterwürfig und flehentlich
war, dass ihm selbst fast schlecht wurde.
„Bitte, Pedro? Ich… Ich kann auch… Du kannst mir doch…“
„Gar nichts kann ich, das ist alles schon fertig verpackt. Piss off du Opfer.“
„Ich kann ja nächstes Mal den Rest-“
„Hörst du schlecht?“
Er hob die rechte Hand wie zu einer Ohrfeige. Dann klingelte sein Telefon.
„Bist dus, Marco? Ich hab-“ Er verstummte.
„Ja. Ja. Ja, klar. Was… Ja. Wer ist es denn? WAS? Nein. Ja, aber… Ich werd doch,
warte mal, ich weiß was. Wir kriegen das hin. In zehn Minuten, alles klar. Danke ClDanke Mann, immer wieder gern. Ja, ach und wenn ich dich schon mal dran hab…
Hallo? Bist du noch…? Scheiße!“
Pedro rammte einen Fuß auf den Boden, als wollte er ihn wie Rumpelstilzchen zehn
Klafter tief in die Erde stoßen.
„Du willst das Zeug wirklich? Du kannst es haben, und behalt meinetwegen noch die
beiden Blauen, mit so was wisch ich mir nicht mal den Arsch.“
„Ehrlich?“ Marten konnte es nicht so recht fassen und wusste nicht, ob er sich freuen
oder misstrauisch sein sollte. Er war gerade in einem Zustand, in dem er sowieso
nicht besonders viel wusste.
„Klar. Du musst nur 'ne Kleinigkeit für mich erledigen.“
Pedros schlaues Grinsen war so offensichtlich wie das von Elmer Fudd, wenn er
Bugs Bunny eine Dynamitstange in die Hand drückt. Sogar Marten konnte nicht
übersehen, dass er Übles im Schilde führte. Aber Marten brauchte das Zeug,
deswegen war es egal.
„Was? Sag's mir, ich mach's.“
Pedro zog eine DIN-A5 Kunstledermappe aus seinem Mantel und hielt sie ihm hin.
Fast ein bisschen wie er vorhin die Scheine, dachte er mit Genugtuung. Allerdings
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sah Pedro nicht halb so unterwürfig aus, das war ihm klar. Nun, man nimmt, was
man kriegt.
„Das hier ist für jemanden, den du gleich am Hauptbahnhof treffen wirst. Du öffnest
es nicht, du siehst nicht rein, klar?“
Marten nickte mit einem devoten Eifer, der ihn zum Weinen gebracht hätte, wenn er
nicht damit beschäftigt gewesen wäre, Pedro aufmerksam zuzuhören und sich jedes
Wort gut einzuprägen. Er wollte nichts falsch machen. Erst jetzt wurde ihm richtig
bewusst, wie dringend, wie unbedingt er das Acid wollte.
„Wie finde ich sie?“ fragte Marten.
„Mach dir keine Sorgen. Du gehst zum Hauptbahnhof und hältst dieses Ding, sie
findet dich. Eva wird die Mappe nehmen, und das wars. Du sprichst nicht mit Eva, du
siehst sie nicht an. Wenn sie dich etwas fragt, antwortest du, aber mach's kurz. Ja,
nein, weiß nicht. Und komm bloß nicht auf die Idee, mich zu bescheißen, du Opfer.
Capiche?“
Wieder nickte er. Er hielt es für ziemlich blöd, keinen genauen Treffpunkt
festzulegen, aber das hier war nicht sein Spiel. Er wollte nur das Acid.
„Du fängst am besten in der Wandelhalle an und läufst dann solang rum, bis Eva
dich gefunden hat. Los jetzt, lauf du Opfer, Eva ist in Eile.“
Marten lief tatsächlich. Es war nicht weit bis zum Hauptbahnhof. Vor dem Eingang
blieb er stehen. Es war Viertel nach fünf. Die ersten Frühaufsteher trieben sich schon
herum, aber die Wandelhallen waren fast leer. Er ließ seinen Blick kurz schweifen,
aber es war natürlich sinnlos, jemanden zu suchen, von dem er nur wusste, dass
Pedro sie ihm gegenüber Eva nannte. Er tat also, was Pedro gesagt hatte und
schlenderte durch die Wandelhallen, als würde er sich für die Schaufenster der
geschlossenen Geschäfte interessieren. Sein Herz raste. Vor allem, weil er das hier
hinter sich bringen und seinen Schuss nehmen wollte. Auch ein wenig, weil er nicht
wusste, was er von Eva zu erwarten hatte. Pedro hatte versucht, es nicht zu zeigen,
aber er schien Angst vor Eva zu haben. Es gab nicht besonders viele Leute, vor
denen Pedro Angst hatte, und jetzt, da er darüber nachdachte, war Marten sich
ziemlich sicher, dass er keinen von ihnen kennen lernen wollte. Er war schon fast so
weit, dass die Angst vor Eva seine Sucht überragte, als sie ihn schließlich fand.
„Wenn Clarence das wüsste, wäre er sehr verärgert“, sagte eine Stimme neben ihm.
Er drehte sich um und sah sie an, dann fiel ihm ein, dass Pedro ihm das verboten
hatte. Eva hatte offensichtlich eine harte Nacht hinter sich, aber ihre leuchtenden
Augen ließen einen das vergessen. Ihre Kleidung war gewöhnlich, ihre Jacke sogar
ein bisschen lächerlich, als hätte sie sie von ihrem Vater geliehen. Sie war ziemlich
groß, bestimmt über 1,75. Unter anderen Umständen, unter völlig anderen
Umständen, hätte er sie vielleicht gefragt, ob sie mit ihm was trinken gehen wollte. Er
fragte sich, wie er auf diesen völlig dämlichen Gedanken kam.
Er blickte zu Boden und hielt Eva die Ledermappe hin wie eine Opfergabe für einen
zornigen Gott. Seine Hände zitterten sogar, aber das lag am Entzug. Wahrscheinlich.
Acid verursacht keine körperliche Abhängigkeit, aber wenn man das Zeug eben
braucht, ist einem das egal.
„Tatsächlich könnte sehr verärgert nicht der richtige Ausdruck sein“, fuhr Eva fort,
ohne Anstalten zu machen, die Mappe entgegen zu nehmen. „Ich vermute, dass er
ein sehr schmerzhaftes, unwürdiges Ende für den Kurier arrangieren würde, wenn er
es auch nur für möglich hielte, dass so was passiert.“
Marten öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Dann fiel ihm erstens ein, dass er gar
nichts zu sagen hatte, und zweitens, dass er gar nicht mit Eva reden sollte. Sie hatte
ihn nichts gefragt.
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Sie nahm die Mappe und klemmte sie sich unter den Arm. Und blieb stehen. Was
war denn noch? Er sah nicht zu ihr auf. Er sah auf seine Füße. Ihre sah er auch. Sie
trug dunkle Nike-Turnschuhe. Er sah wieder nur noch auf seine Füße. Sie stand
einfach nur da. Was wollte sie denn noch? Er wurde allmählich nervös. Er
unterdrückte den Impuls, auf die Uhr zu sehen.
Sah sie ihn an? Er verstand gar nicht, warum er solche Angst vor dem Mädchen
hatte. Aber er hatte Angst. Weil er Pedros Angst gespürt hatte. Pedro fürchtete diese
Frau, und das hieß nichts Gutes.
Ihm konnte doch hier gar nichts passieren. Der Bahnhof war nicht so voll wie
tagsüber, aber es waren eine Menge Leute da. Und Kameras. Er konnte sich einfach
umdrehen und weggehen, oder? Er hatte die Mappe abgegeben. Er konnte jetzt
gehen und sich sein Acid abholen, damit nach Hause fahren und sich eine schöne
Nacht machen. Vielleicht wartete sie ja auch einfach nur darauf, dass er wegging.
Vielleicht gehörte das zur Etikette der Upper-Class-Kriminellen, dass der wertlose
kleine Kurier zuerst wegwieselte. Er war kurz davor, sich umzudrehen, als sie es tat.
Sie ging einen Schritt und blieb dann stehen, um sich wieder umzudrehen. Weil er
immer noch auf den Boden starrte, sah er nur, wie Evas Füße sich bewegten. Er
wusste nicht, wohin sie schaute.
„Sehen Sie mich an“, sagte sie ungeduldig, als hätte sie die ganze Zeit darauf
gewartet und wäre verärgert, dass er nicht von selbst drauf gekommen war.
Er tat es. Evas grasgrüne Augen musterten ihn mit einer Intensität, als würde sie
irgendetwas in ihm suchen. Ihre Frisur war merkwürdig. Die kurzen Spikes wirkten
viel zu heiter für jemanden, den er nicht einmal ansehen durfte. Und sie wirkten ganz
entschieden zu heiter für ihr ramponiertes Gesicht.
„Irgendwas stimmt nicht mit Ihnen“, sagte sie im gleichen ungeduldigen Ton. Ihre
linke Hand glitt unter die Jacke. „Aber ich komme nicht drauf, was es ist.“
Sie hatte ihn immer noch nichts gefragt, aber so langsam begann er zu zweifeln, ob
Pedros Ratschläge wirklich besonders gut gewesen waren. Andererseits fiel ihm
noch immer nicht ein, was er eigentlich sagen sollte. Sollte er sich entschuldigen?
Wenn ja, wofür?
Er begann zu schwitzen. Die Hand in ihrer Jacke sah nicht so aus, als würde sie sich
bloß kratzen. Und er rechnete auch nicht mit einem Trinkgeld. Die Art, wie ihre
Augen sich ein wenig verengten und ihr Blick sich auf ihn fixierte, verursachte ihm
eine Gänsehaut.
Dann war der Moment vorbei. Sie kniff die Augen zusammen und schüttelte den
Kopf. Die Hand sank hinunter und hing locker neben ihrer Hüfte. Eva drehte sich um
und ging. Mit hängenden Schultern schlurfte sie durch die Wandelhallen davon. Sie
musste wirklich eine lange Nacht gehabt haben.
Wie jeden Morgen klingelte Jan Hauptmanns Wecker um fünf Uhr dreißig.
Er öffnete die Augen und schlug die Decke zurück. Wie jeden morgen drehte er sich
zur Bettkante, setzte sich auf und blickte auf seinen Digitalwecker, lauschte ein paar
Sekunden seinem Surren und schaltete ihn dann ab. Sein linker Fuß stand auf einem
alten Pizzakarton, sein rechter auf der Plastiktüte, in der er gestern das Ben&Jerry’sEis getragen hatte. Er bückte sich, um die Plastiktüte von seinem rechten Fuß
abzuziehen, in dem Wissen, dass sie sonst daran kleben bleiben würde.
Jan Hauptmann stand auf und watete wie jeden Morgen durch zahllose andere
Tüten, Kartons, Joghurtbecher, mehr oder weniger leere Gläser und Flaschen,
Zeitungen, Briefe und sonstiges Papier zur Tür seines Badezimmers, sorgsam darauf
bedacht, auf nichts zu treten, das an seinem Fuß haften bleiben konnte.
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Der Fußboden seines Badezimmers war nicht mit Abfall übersäht. Dafür war er
vollständig mit verschieden gefärbten großen, mittleren und kleinen Handtüchern
bedeckt.
Hauptmann stellte sich vor sein Waschbecken, drehte das kalte Wasser auf und
schaufelte sich einige Händevoll davon ins Gesicht.
Er zog den Duschvorhang zur Seite und blickte auf eine tote Küchenschabe in der
Duschwanne. Sie waren immer schon tot, wenn er sie fand. Er hatte noch nie eine
lebendige gesehen, soweit er sich erinnern konnte.
Er hob sie auf, warf sie in den Badezimmermülleimer, stieg unter die Dusche und
duschte kalt. Jan Hauptmann duschte immer kalt. Er konnte warmes Wasser nicht
ausstehen.
Nach dem Duschen hob er eines der Handtücher vom Boden auf, um sich
abzutrocknen. Er bereitete sich ein Frühstück zu, indem er wie jeden Morgen vier
Eier in eine Pfanne schlug und mit einigen Scheiben Frühstücksspeck briet und dazu
vier Scheiben Weißbrot toastete und mit Butter beschmierte.
Er räumte den Tisch mit einem Schwung seines rechten Unterarms frei genug, um
den Teller darauf zu stellen und fügte damit dem Abfall auf dem Fußboden darunter
eine weitere Schicht hinzu.
Da er sowieso immer das gleiche aß, fügten sich die Reste von gestern auf der
Pfanne, dem Geschirr und dem Besteck ganz zwanglos in das Essen von heute ein.
Die Reste von vorgestern und den Tagen davor fielen eigentlich auch nicht
unangenehm auf. Jan Hauptmann spülte sein Geschirr nicht regelmäßig; er wartete
für gewöhnlich, bis es begann komisch zu schmecken.
Während des Essens blätterte er in der Zeitung, die er in der Nacht zuvor am
Bahnhof gekauft hatte. Nach seiner Erfahrung war das seine einzige Chance, schon
morgens um sechs eine Zeitung im Haus zu haben. Hauptmann las nur sehr wenige
Artikel. Erstens gefiel ihm die Art von Zeitung nicht besonders, die man nachts am
Bahnhof kaufen konnte; zweitens interessierte ihn auch der Inhalt nicht sehr.
Nachdem er sich drei Minuten lang die Zähne geputzt und mit einem frischen Stück
Zahnseide auch die Zwischenräume gereinigt und sich gründlich rasiert hatte, zog er
einen seiner dunklen Armani-Anzüge und die schwarzen Lederschuhe an, steckte
ein frisch gebügeltes Einstecktuch in die Brusttasche und legte seine GlashütteArmbanduhr an. Er band seine siebenfach gefaltete Krawatte mit einem doppelten
Windsor-Knoten und verließ seine Wohnung, um in dem herunter gekommenen Lift
mit dem defekten Bedienfeld in die Garage hinunter zu fahren. Er trug jeden Anzug
nur zweimal, dann ließ er ihn chemisch reinigen. Folgerichtig war seine Bügelfalte
fachmännisch makellos, wie der ganze Rest seines Äußeren.
Hauptmanns Wagen war ein neuer Peugeot 607, ein komfortables Auto. Er bewahrte
darin keinerlei Abfall auf und ließ es regelmäßig von außen und innen reinigen. Der
Wagen war klinisch sauber, einschließlich der Fußmatten.
Der Verkehr in Wiesbaden war um halb sieben durchaus erträglich, deswegen
brauchte er nur gute zwanzig Minuten bis zu seinem Arbeitsplatz. Er blieb knappe
fünf Minuten dort. Sein Vorgesetzter schickte ihn nach Hamburg.
Als Lenore ihre immer noch geschwollenen verklebten Augen öffnete, war es
draußen bereits wieder dunkel. Sie fühlte sich kein bisschen erholt, und sie hatte
noch dazu schon wieder dieser fürchterlichen bohrenden Kopfschmerzen. Sie fühlte
sich schmutzig und ungepflegt. Sie grunzte und murmelte und würgte und kämpfte
sich auf die Beine. Sie schleppte sich ins Badezimmer, legte die Jacke, das Halfter
und ihre restliche Kleidung ab, drehte die heiße Dusche auf, sank mit genussvoll
geschlossenen Augen an der Wand hinab in die Duschwanne und blieb eine Weile
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unter dem heißen Wasserstrahl sitzen. Es war ein gutes Gefühl. Sie erinnerte sich,
dass sie sich eigentlich beeilen sollte. Andererseits war Sonias Spur inzwischen
sowieso schon ziemlich kalt, da kam es auf ein paar Stunden mehr oder weniger
auch nicht mehr an.
Sie öffnete ihre Augen wieder und sah das Wasser über ihre Augenbrauen
hinabtropfen.
Sie sah ihre Kleider auf dem Fußboden neben der Tür liegen. Sie wollte sie nicht
wieder anziehen. Aber sie wusste nicht, woher sie jetzt neue bekommen sollte.
Unterwäsche hatte sie im Rucksack, aber nicht mehr. Die ganze Sache hier war nicht
auf längere Zeit angelegt gewesen. Vielleicht würde sie ihr Glück mit dem Concierge
versuchen. Wenn er einigermaßen auf Draht war, würde er ihr was besorgen
können. Sie wollte ja kein Abendkleid. Ihre Konfektionsgröße müsste reichen.
Aber erst würde sie sich die Zähne putzen. Ihr Mund fühlte sich an, als hätte sie in
den vergangenen Stunden eine faule Kartoffel gelutscht. Lenore schloss ihre Augen
wieder und legte den Kopf in den Nacken, um Wasser in ihren Mund laufen zu
lassen. Die ersten drei Schlucke spuckte sie aus, dann trank sie. Dadurch wurde es
schon besser. Ein bisschen. Die Kopfschmerzen blieben natürlich.
Nach einer Stunde unter dem viel zu heißen Wasser stieg sie aus der Dusche,
trocknete sich ab und rief den Concierge an. Er war sogar ganz außergewöhnlich auf
Draht und versprach ihr, in einer Stunde mit einem Satz frischer Kleider bei ihr vor
der Tür zu stehen.
Sie ging zurück ins Bad, um sich die Zähne zu putzen. Als sie sich den Mund
ausspülte, fiel es ihr plötzlich ein. Sie verschluckte sich und hing eine Weile hustend
über dem Waschbecken, bevor sie wieder zum Telefon eilen konnte.
„Wer ist da?“ fragte Clarences Stimme.
Er schlief auch gelegentlich, aber das Telefon lag immer neben seinem Bett. Sie
hatte eine Weile versucht, rauszukriegen, wann sie ihn weckte, aber das hatte sie
aufgeben müssen.
„Ich bins, Lenore. Wen hast du gestern mit den Kreditkarten geschickt?“
„Was soll das denn jetzt? Fandest du ihn scharf, und jetzt willst du seine Nummer?“
Er hätte sich vielleicht gewundert, wenn er hätte sehen können, wie sie errötete. Sie
fühlte sich nicht wohl mit diesem Thema. Der Gedanke, anderen Menschen auf diese
Weise nahe zu kommen, bereitete ihr profundes Unbehagen.
„Quatsch. Ich muss ihn was fragen. Und ihr solltet mal mit dem Kerl reden, der die
Fotos für die Dossiers macht. Das auf dem Bild, das ihr mir gegeben habt, ist nicht
Sonias Bruder, oder zumindest nicht ihr einziger.“
„Lenore, was ist eigentlich los bei dir? Hast du Sonia verloren, oder“
„Ich finde sie wieder, aber bestimmt nicht, während ich mit dir über jedes kleine Detail
streiten muss, das ich brauche!“
„Du weißt, dass wir keine persönlichen Daten“
„Der Kurier war nicht selbst da“, unterbrach sie ihn, sicher wissend, dass das seine
Meinung ändern würde.
„Und jetzt bietest du mir an, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen?“
„Du sagst es.“
Er dachte kurz nach.
„Pedro. Wenn er sich nicht hinter dem Hauptbahnhof rumtreibt und Drogen verkauft,
wohnt er in der Schanzenstraße, Nr. 23, Wohnung 117. Ich schick dir ein
Phantombild. Er ist gewitzter als die meisten Dealer, du solltest vorsichtig sein.“
„Danke, Charlie.“
„Viel Glück, Engelchen.“
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Sie legte auf. Während sie auf den Concierge wartete, gelte sie die Spikes in ihr
Haar, zog einen Bademantel über, versorgte ihre kleine Verletzung mit dem
Verbandskasten aus ihrem Rucksack und begann, sich über die Twix-Riegel
herzumachen. Die Zeit reichte nicht, um sie alle zu essen. Ab dem fünften musste sie
zwischen den einzelnen Riegeln eine Pause einhalten, um nicht alles wieder
auszuspucken.
Lenore brauchte die Schokolade, den Zucker und das Fett. Mit diesem Auftrag war
einiges schief gelaufen, und sie war daran sicher nicht unschuldig, aber sie würde es
wieder in Ordnung bringen. Sie hatte jetzt eine Spur zu Sonias Bruder, und von da
aus würde sich der Rest bestimmt irgendwie ergeben. Er konnte Sonias Wohnung
betreten, ohne dass sich jemand darüber wundern würde. Er wusste, wo sie sich
verstecken würde. Wahrscheinlich war er derjenige, den sie anrufen würde. Und
außerdem wusste er wahrscheinlich auch etwas von ihrem Artikel und musste
deshalb sowieso sterben.
Kurz dachte sie daran, dass sie noch kein Geschenk für ihren Großvater hatte, aber
dafür war jetzt keine Zeit. Sie hatte wichtigere Dinge zu tun. Die würde sie zuerst
erledigen, und dann wäre noch genug Zeit für das Geschenk.
Sie würde Sonia wieder finden. Natürlich würde sie. Sie musste.
Der Concierge brauchte tatsächlich siebenundfünfzig Minuten, entschuldigte sich
dafür und lächelte sie ganz bezaubernd an. Er brachte ihr eine Jeans, die zu ihrem
leichten Verdruss ziemlich eng saß und dazu einen hellgrünen Pullover und eine
wunderbar weite Jacke, unter der sie einen Raketenwerfer hätte verstecken können.
Sie hatte wirklich mal einen benutzt, bei einem Anschlag auf einen
kambodschanischen Politiker. Dummerweise hatte er nicht in seiner gepanzerten
Limousine gesessen, sondern in einem der Begleitfahrzeuge. Einer der Soldaten
hatte ihren rechten Oberschenkel getroffen und dabei nur knapp die Arterie verfehlt.
Aber sie hatte den Politiker schließlich doch noch erwischt. Er war ein fetter,
widerlicher Waschlappen gewesen. Es war wahrscheinlich der ärgerlichste Auftrag
ihres Lebens gewesen. Bis gestern zumindest. Aber der Raketenwerfer hatte ihr
gefallen.
Sonia rannte barfuß auf einer steinigen Straße durch eine surreale blutrote
Wüstenlandschaft. Die Wüste erstreckte sich rechts und links von ihr bis zum
Horizont, ebenso wie die Straße vor und hinter ihr. Die Straße war nicht asphaltiert,
nicht mehr als ein besserer Feldweg. Steine schnitten in ihre Fußsohlen, und die
kleinen Kiesel bohrten sich in die Haut und blieben stecken. Es schmerzte furchtbar,
aber sie konnte nicht stehen bleiben.
Sie durfte nicht. Weil sie verfolgt wurde. Sonderbarerweise von Karl. Der freundliche
alte Wachmann hatte sich nach seinem Tod in einen gierigen Zombie verwandelt,
der ihr mit schauderhaftem unartikuliertem Gebrüll nachlief. Ihn störten die kleinen
Steinchen sicherlich nicht. Karl war ja tot, der Glückliche.
Sie lief einfach weiter, trotz der Steinchen. Sie musste ja. Sie lief eine sehr lange
Zeit, ohne dass damit die überwältigende Furcht nachgelassen hätte, bis schließlich
vor ihr eine menschliche Gestalt auftauchte. Die Gestalt stand mitten auf der Straße,
ganz entspannt, locker an eine Wand gelehnt, obwohl da gar keine Wand war. Sonia
erkannte, zunächst an der Frisur, die sich gegen den blutrot strahlenden Himmel klar
abzeichnete, dann auch an Kleidung, Körperbau und Gesicht, Lenore.
Als Sonia noch etwa fünfzehn Meter von ihr entfernt war, zog die Mörderin ihre
Pistole, die in diesem Traum auf die Größe einer mittleren Haubitze angewachsen
war, und wies Sonia mit einer Kopfbewegung, an ihr vorbeizulaufen.
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Sonia lief vorbei, und sah hinter sich, wie Lenore den Zombiekarl erschoss. Das
Geräusch war ohrenbetäubend, und der Kopf des untoten Wachmanns explodierte
wie eine reife Melone.
Sie betrachtete die Szene nicht ganz aus der Ich-Perspektive. Sie sah zwar
einerseits, was die Sonia in dem Traum sah, aber sie war auch gleichzeitig weit
entfernt und in Sicherheit. Die Ereignisse hatten nichts Bedrohliches an sich, sondern
wirkten auf eine slapstickhafte Art komisch.
Sonia stürzte und spürte, wie etwas Klebriges auf ihren Rücken und Hinterkopf
spritzte.
„Ha-ha!“ rief Lenore triumphierend, „Der ist weg!“
Sonia drehte sich um und blickte zu der blonden Mörderin auf. Lenores grasgrüne
Augen fixierten sie und schienen immer näher zu kommen.
„Sie schulden mir was, Sonia“, sagte sie kichernd, „Ich darf Sie doch Sonia nennen,
oder?“
„Ich… bin… Wieso?“ nuschelte Sonia, und stellte fest, dass sie wirklich sprach.
Der Traum wich langsam der Realität, die sich aber kaum weniger weit entfernt und
kaum weniger merkwürdig anfühlte. Sie hörte ihre eigene Stimme, die ein bisschen
wie die einer Betrunkenen klang. Das war ihr peinlich, und sie beschloss, vorerst zu
schweigen.
Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie bewusstlos gewesen war. Chlorophorm aus
einem Lappen reichte nur für ein paar Minuten, das wusste sie. Aber natürlich konnte
trotzdem mehr Zeit seit ihrer Gefangennahme vergangen sein, bis sie schließlich
wieder zu sich kam. Ihr Mund war so trocken, dass sie ihre Lippen kaum auseinander
bekam, und ihre Zunge fühlte sich an wie ein alter Tafelschwamm. Sie war nass
geschwitzt, und ihr Herz raste. Die Angst aus dem Traum war noch nicht ganz
verschwunden.
Sie hob ihren Kopf, um sich umzusehen, und ließ ihn sofort wieder auf das Kissen
sinken. Offenbar lag sie auf einem Bett.
Der Raum drehte sich um sie, und sie spürte Übelkeit in sich aufsteigen. Es war ein
Gefühl, als hätte sie sich sehr lange sehr schnell mit einem Bürostuhl gedreht, nur
viel schlimmer. Sie hatte das als Kind manchmal getan und es hinterher immer
bereut. Sie war sich sicher, dass sie es nie wieder tun würde. Hier war sowieso
nirgends ein Drehstuhl zu sehen.
Ihr war auf eine sehr, sehr abstrakte Art klar, dass sie sich möglicherweise in Gefahr
befand, aber ihr Kopf war wie in Watte gepackt, und ihr kam es ein bisschen so vor,
als würde sie nur spielen, von irgendeinem Wahnsinnigen betäubt und entführt
worden zu sein, nachdem sie knapp einer anderen Wahnsinnigen entkommen war,
die sie töten wollte.
Wenn nur der Raum sich nicht so um sie drehen würde. Sie unterdrückte ein Würgen
und schloss die Augen. Das war ja furchtbar. Was war das? Nach ihrer
Blinddarmoperation hatte sie sich nicht so gefühlt. Natürlich hatte nicht jeder
Kidnapper einen Anästhesisten zur Hand. Waren das irgendwelche verbotenen
Drogen? Das konnte doch aber nichts sein, was jemand freiwillig einnahm. Sie stellte
sich vor, wie jemand mit einem Trichter Kokain in ihre Nasenlöcher schüttete, und
das brachte sie zum Lachen. Dann wurde ihr klar, dass es überhaupt keinen Sinn
ergab. Kokain war ein Aufputschmittel, und eigentlich war das nicht mal besonders
komisch. Ihre Gedanken waren nicht ganz klar.
Sonia öffnete ihre Augen wieder. Sogleich wurde die Übelkeit wieder schlimmer. Sie
fixierte einen Punkt an der Decke und versuchte, möglichst ruhig zu amten. Es wurde
ein bisschen besser. Sie versuchte noch einmal, den Kopf zu heben. Sofort überkam
sie wieder das überwältigende Schwindelgefühl, aber sie blieb standhaft und blickte
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nach vorne auf ihre Zehenspitzen. Sie hatte das merkwürdige Gefühl, dass sie
ziemlich schnell um ihre Füße herum rotierte.
Langsam ließ sie ihren Kopf wieder auf das Kissen sinken und schloss die Augen.
Sie seufzte leise. Viel besser. Aber natürlich auf lange Sicht keine Lösung.
Augen wieder auf. Sie versuchte, sehr, sehr langsam, sich aufzusetzen. Zuerst
stemmte sie ihre Ellenbogen auf die Matratze und begann dann vorsichtig, sich mit
den Füßen zurückzuschieben. Ihr war schwindlig, aber es ging. Die Wirkung der
Droge ließ sehr langsam nach.
Sie befand sich in einem Himmelbett in einer luxuriösen Suite, die durchaus ein
bisschen größer sein mochte als ihre eigene Wohnung. Jedenfalls waren die Möbel
teurer gewesen.
Die roten Samtvorhänge ihres Bettes waren zurückgezogen. Der rote Samt war ihrer
Meinung nach ein böser Schnitzer; ansonsten war das Zimmer einigermaßen
geschmackvoll eingerichtet, mit einer Biedermeiersitzecke unter den großen
Fenstern, einer passenden Tapete, hellem Parkett und einer Kassettendecke. Die
Bilder an den Wänden waren hübsch, wenn auch nichts dabei war, was einen
Kunstexperten in Ekstase versetzt hätte. Das Ganze sah ein bisschen so aus, als
hätte jemand ein Schöner-Wohnen-Foto einfach nachgestellt. Sie bemerkte die Gitter
vor den Fenstern und dachte, dass es sehr rücksichtsvoll von dem Hauseigentümer
war, sich so um ihre Sicherheit zu sorgen.
Von dem Raum, in dem sie sich gerade befand, führten zwei Türen in andere Räume
der Suite, eine davon vermutlich ins Badezimmer.
Badezimmer wäre jetzt gut. Da gab es Wasser.
Ohne Warnung kippte der Raum plötzlich nach rechts, und sie kippte seitlich auf die
Matratze. Sie fragte sich kurz, ob sie vielleicht in einem Flugzeug war, bevor sie
wieder das Bewusstsein verlor.
Diesmal dauerte es nicht sehr lange, bis sie wieder zu sich kam, oder zumindest kam
es ihr nicht lange vor.
Ihr war noch immer schwindlig, aber es war nicht mehr ganz so schlimm wie vorhin.
Sie wandte sich um, um sich auf die Bettkante zu setzen. Dabei musste sie sich an
einer der Säulen des Himmelbetts festhalten, aber es klappte immerhin.
Dann versuchte sie aufzustehen. Es war ihr peinlich, dass sie sich dabei mit beiden
Armen an der Säule hochziehen und dann weiter festhalten musste, um nicht
umzufallen. Glücklicherweise beobachtete sie niemand.
Sie stand ein paar Minuten lang so da, dann nahm sie allen ihren Mut zusammen
und begann in Richtung der mutmaßlichen Badezimmertür zu taumeln. Sie schlug
einen weiten Bogen, um die Bewegungen des Raums zu kompensieren, verfehlte die
Tür aber schließlich doch um ein paar Meter. Sie beschloss, diese letzten paar Meter
zu krabbeln. Was bedeutete schon ein bisschen Würde, verglichen mit einem
Schluck Wasser?
Sonia kroch zu der Tür und öffnete sie. Tatsächlich verbarg sich dahinter das
Badezimmer. Da der Boden immer noch schief war und sich drehte, krabbelte sie bis
zum Waschbecken und stemmte sich daran hoch. Der Wasserhahn war zu dicht über
dem Becken, als dass sie direkt ihren Kopf hätte darunter halten können. Außerdem
war sie sich nicht sicher, ob es eine gute Idee war, sich vorzubeugen und den Kopf
zu verdrehen. Andererseits würde sie das Becken loslassen müssen, wenn sie das
Wasser mit den Händen schöpfen wollte. Wahrscheinlich würde sie dann umfallen.
Dann sah sie das Zahnputzglas in einer Halterung an der Wand neben dem Spiegel.
Das konnte sie erreichen, wenn sie nur eine Hand vom Becken nahm. Das traute sie
sich zu, immerhin war sie zuvor ja sogar ein gutes Stück ganz frei durch das
Schlafzimmer gegangen. Aufrecht und ohne Festhalten!
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Sie nahm eine Hand vom Waschbecken, wartete einen Augenblick, stellte fest, dass
sie sich auch mit einer noch gut festhalten konnte, und nahm das Glas aus der
Halterung.
Sie musste kurz nachdenken, um sich daran zu erinnern, was sie jetzt als nächstes
tun musste. Wasser musste in das Glas. Dafür musste sie den Hahn drehen. Ihr
Verstand war immer noch langsam und wirr, als würde er durch tiefen Schlamm
stolpern.
Sonia hatte noch nie etwas so Gutes getrunken. Ihr Hals schmerzte ein wenig beim
Schlucken, aber das war es wert. Sie seufzte und trank mehr.
Nachdem ihr Durst gestillt war, war es an der Zeit, über die nachrangigen Probleme
nachzudenken. Zum Beispiel, dass ihre letzte Erinnerung war, vor einer
wahnsinnigen Mörderin wegzulaufen, und dass sie keinen Grund zu der Annahme
hatte, hier vor ihr sicher zu sein.
Tatsächlich musste sie damit rechnen, dass Lenore jeden Moment aus einem
Schrank gesprungen kam und in ihrer sonderbar mädchenhaften Stimme
„Überraschung!“ schrie.
Unglücklicherweise war es nicht besonders leicht zu fliehen, solange die Fenster
vergittert waren, sie keine Vorstellung davon hatte, wo sie war, die Wände auf sie
zukamen und der Fußboden unter ihr schwankte, rotierte und sich wellte.
Sie tastete sich aus dem Badezimmer und versuchte den Abstand zum Bett
abzuschätzen, und die ungefähre Richtung, in die sie gehen musste, wenn sie es
erreichen wollte.
Sie saß eine ganze Weile auf dem Bett und dachte darüber nach, wann der richtige
Zeitpunkt zu entkommen wäre. Sie war sich ziemlich sicher, dass er jetzt noch nicht
da war.
Dann klopfte jemand an die Tür. Kurz dachte sie, dass das ein gutes Zeichen war,
denn jemand, der sie erschießen wollte, würde vorher nicht darauf warten,
hereingebeten zu werden. Dann erinnerte sie sich daran, dass sie Lenore noch ganz
andere Späße zutrauen konnte.
Es klopfte noch einmal. Wer immer da draußen stand, wollte tatsächlich
hereingebeten werden. Nun, nach allem, was sie bisher wusste, war es durchaus
nicht ausgeschlossen, dass Lenore ein Vampir war. Immerhin war sie ihr in bei Nacht
erschienen, und es war noch nicht endgültig geklärt, wie sie in das Archiv gekommen
war. Vampire konnten sich in Nebel verwandeln und dann durch Schlüssellöcher
nebeln.
Sonia würde den Teufel tun, einen Vampir in ihr Schlafzimmer einzuladen. Sie warf
der Tür feindselige Blicke zu. Komm doch und hol mich.
Es klopfte zum dritten Mal.
„Frau Schopp?“ fragte eine Männerstimme.
Konnten Männer auch Vampire sein? Sie bemerkte, dass sie noch immer wirres
Zeug dachte.
„Kommen Sie rein!“ rief sie.
Sie lallte immer noch. Als die Tür sich öffnete, fügte sie hinzu:
„Sehen Sie’s mir nach, wenn ich nicht aufstehe.“
„Ich nehme den Willen für die Tat.“
Die Stimme hatte einen belustigten Unterton und einen leichten Akzent, den Sonia
nicht sofort zuordnen konnte. Die Stimme klang nett. Sie blickte auf.
In ihrem Zimmer stand eine Figur aus einer Animeserie: ein Japaner mit langen
schwarzen, eindrucksvoll glänzenden Haaren, die bis weit über seine Schultern
hinab fielen. Er trug einen dunkelblauen Anzug mit weißem Hemd und weißer
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Krawatte, an seinem Gürtel zwei riesige chromglänzende Revolver mit weißen
Griffen, die nach vorne gerichtet waren, sodass er sie über Kreuz ziehen konnte.
„Was sind Sie denn für einer?“ fragte sie mit einem glucksenden Lachen.
Vielleicht ein Vampirjäger dachte sie, und merkte, wie sie begann, sich vor Lachen
zu schütteln. Ein großer langhaariger japanischer Revolvermann, der Vampire jagte,
wie in einer Coproduktion von John Carpenter, Quentin Tarantino und Jackie Chan.
Der Mann kam auf sie zu. Sie bewunderte die Sicherheit seiner Schritte auf dem
wankenden Boden.
„Geht es Ihnen gut?“ fragt er mit ehrlicher Anteilnahme.
Er sprach Deutsch mit schwachem japanischem Akzent.
„Nicht besonders“, antwortete sie, obwohl sie zurzeit eine sonderbare Euphorie
spürte. Trotzdem war ihr noch schlecht. „Wissen Sie, wann dieser sonderbare Trip zu
Ende ist?“
Er lächelte.
„Wenn Sie das Morphin meinen, dessen Wirkung müsste sehr bald abklingen. Wenn
Sie dieses ganze Abenteuer hier meinen, so fürchte ich, dass es noch lange nicht
vorbei ist.“
„Abenteuer? So hab ich das noch gar nicht gesehen.“
Sein Lächeln wurde breiter.
„Versuchen Sie’s. Das wird Ihnen helfen.“
Sie seufzte, schloss ihre Augen und ließ sich rücklings auf das Bett fallen. Sollte der
Kerl vorhaben, ihr etwas anzutun, würde ihn jemand anderes davon abhalten
müssen. Ein Abenteuer. Vielleicht hatte er Recht. Es war ein Abenteuer. Ihrem
Leben würde ein kleines Abenteuer ganz gut tun, fand sie, aber es hätte nicht gleich
so eins sein müssen. Ein paar kleinere vorher, zum Eingewöhnen, wären gut
gewesen.
„Hilft ein bisschen.“
Er lachte leise.
„Können Sie aufstehen?“
Jetzt war es an Sonia, zu lachen.
„Ich kann aufstehen. Aber wenn ich dann noch irgendwo anders hin soll, müssen Sie
mich vielleicht tragen.“
„Sie scheinen nicht viel zu wiegen, aber Sie machen den Eindruck einer Frau, die
gerne auf eigenen Füßen steht. Wir warten.“
„Einverstanden. Worauf eigentlich?“
„Ihr Gastgeber würde sich Ihnen gerne vorstellen.“
Pedro saß an seinem Küchentisch und aß sein Lieblingsknuspermüsli. Er las dabei
einen Roman von Terry Goodkind und erholte sich von seiner Arbeit. Er hasste seine
Arbeit. Und er hasste diesen dämlichen Wichser, den er während der Arbeit
darstellte. Er wusste gar nicht mehr, wie es angefangen hatte, aber er hatte sich
irgendwie gedacht, er müsste ein harter Kerl sein, wenn er Drogen verkaufen wollte.
Wann er sich dabei zu so einem dummen Arsch entwickelt hatte, konnte er nicht
mehr so genau sagen.
Andererseits funktionierte es. Die dämlichen Junkies sahen ihn an als würde er ihnen
jeden Moment die Nase abbeißen, und auch die anderen Dealer behandelten ihn mit
angemessenem Respekt. Ein paar Mal hatte er jemanden zusammenschlagen
müssen, das ließ sich in diesem Business nicht vermeiden, aber im Großen und
Ganzen lief es smooth.
Er hatte einen riesigen Plasmafernseher, einen Festplatten-DVD-Rekorder und einen
BMW. Es gab viele Leute, die ihren Job hassten, und die meisten von ihnen
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verdienten nicht ein Zehntel von dem, was bei ihm übrig blieb. Bei den
Gelegenheiten, wenn er ihn anrief, zahlte Clarence ihm einen sehr ordentlichen
Zusatzverdienst. In ein paar Jahren würde er sich ein großzügiges Landhaus in
Irland kaufen und den Rest seines Lebens Schafe hüten können.
Er lachte leise, als er sich das vorstellte. Hoffentlich würde es ihm wirklich gefallen.
Er würde wohl einen größeren Müslivorrat mitnehmen müssen. Und Bücher, denn
Englisch lesen war ihm zu mühsam. Lieferte Amazon auch nach Irland?
Jemand klopfte an seiner Tür. Es war ein schnelles, eiliges Klopfen. Er hörte das oft.
Er fragte sich, wie die miesen kleinen Loser immer an seine Adresse kamen.
Pedro seufzte und schlüpfte in seine Pedro-Attitüde wie in einen viel zu engen,
schrecklich unbequemen und völlig lächerlichen Konfirmationsanzug, bevor er die
Tür öffnete.
„Was willst du, du Opfer?“
Auf dem Flur stand ein überraschend aufgeräumtes Mädel mit völlig klaren Augen,
wenn auch ziemlich verquollenem Gesicht, und kein bisschen zitternden Händen.
Ihre Frisur erinnerte ihn an eine Figur aus Alien v. Predator. Er hatte diese Figur
ziemlich gemocht, aber leider war sie früh gestorben. Er fragte sich, ob er mit der
Einordnung des Besuchs voreilig gewesen war und dachte über eine angemessene
Entschuldigung nach, doch sie kam ihm zuvor.
„Pedro?“
Er nickte. Und entschied sich gegen die Entschuldigung. Wenn schon, dann auch
richtig.
„Was is los, mach schon, ich hab grad ne Nutte im Bett.“
Zu seiner Überraschung wandte sie ihren Blick ab, als würde sie das peinlich
berühren. Wer hatte denn heute noch Schamgefühl?
Er dachte gerade zum zweiten Mal über eine Entschuldigung nach, als er sich
plötzlich auf seinem Fußboden wieder fand, zu Füßen der blonden Besucherin. Was
hatte sie gemacht? Er hatte gesehen, wie ihre Hand sich bewegte, aber… Reflexartig
griff er nach der Magnum in seinem Gürtel. Sie versetzte seiner Hand einen kräftigen
Tritt. Er hörte ein unangenehmes Knacken und spürte einen scharfen Schmerz in der
Hand.
Sie zog ihre eigene Pistole und hielt sie wie die Polizisten im Fernsehen, wenn sie
eine Wohnung durchsuchten, mit beiden Händen vor sich. Die Polizisten hatten dort
allerdings keine Schalldämpfer vor ihren Waffen. Ihre Nüstern blähten sich als könnte
sie es riechen, ob noch jemand hier war.
„AAH! Scheiße, was hast du“
Sie unterbrach ihn mit einem weiteren Tritt, der ihm mindestens eine Rippe brach,
dann zog sie die Tür hinter sich zu.
„Wo steckt sie?“ fragte sie.
Pedros Wohnung war winzig. Die einzigen denkbaren Verstecke waren der
Kleiderschrank, unter seinem Bett und der Winkel hinter der offenen Badezimmertür.
Pedro begann zu ahnen, wer seine Besucherin war. Ihm wurde heiß, und sein
Herzschlag beschleunigte sich.
„Hier ist niemand außer mir, okay?“
Sie glaubte ihm nicht.
„Sie haben gesagt-“
„Jaja, das war gesponnen. Glaub nicht alles, was die Leute dir erzählen.“ Er
versuchte sich an einem offenen Lächeln. „Du musst Lenore sein.“
Jetzt schien sie beschlossen zu haben, ihm vorerst zu glauben. Sie richtete ihre
Aufmerksamkeit und den Lauf ihrer Glock auf ihn. Er spürte den Angstschweiß auf
seiner Haut.
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„Kriechen Sie drei Meter zurück, langsam. Dann nehmen Sie sehr langsam die Waffe
aus Ihrem Gürtel und schieben Sie zu mir rüber.“
Er tat es. Es war nicht leicht, mit einer gebrochenen Hand und zwei gebrochenen
Rippen. Aber er war schon früher verletzt worden. Er war auch schon öfter mit einer
Waffe bedroht worden. Dies war anders. Er hatte von Lenore gehört.
„Was wollen Sie denn von mir? Ich hab keinen Stoff hier in der Wohnung.“
Sicherheitsmaßnahme. Er hatte nie was davon gehört, dass Lenore auf irgendeiner
Droge war, aber er hatte keinen Grund anzunehmen, dass er alles über sie wusste.
„Wer war der Junge, den Sie mir zum Bahnhof geschickt haben?“
Er schluckte. Eigentlich hätte er es selbst machen sollen. War sie deshalb hier?
„Das war… Der Kerl heißt Marten. Marten…“
„Schopp?“
„Genau!“
„Wo finde ich ihn?“
„Er wohnt“
„Ich weiß, wo er wohnt“, unterbrach sie ihn. „Da ist er nicht. Ich will wissen, wo ich ihn
finde.“
Woher soll ich das wissen, wollte er gerade fragen, da fiel ihm ein, mit wem er
sprach.
„Er hat ne Freundin… Ich weiß nicht, wie die beiden genau zueinander stehen, aber
ich seh' sie öfter zusammen. Nennt sich Kalle, die wohnt in Blankenese, KardinalWaltner-Straße 115. Sonst weiß ich nicht, wo er sein kann.“
„Wer sind seine anderen Freunde?“
„Ich glaube, er hat nicht viele.“
Sie trat noch einmal gegen die gebrochenen Rippen. Er schrie auf.
„Hören Sie auf zu quieken, was sind Sie denn für einer?“
„Ich seh' ihn wirklich sonst nie mit jemandem.“
„In Ordnung.“ Sie dachte kurz nach, dann nickte sie. „Er ist bei Kalle. Danke, Sie
waren mir eine große- „ Sie stockte. „Was ist das denn?“
Sie blickte konsterniert auf etwas hinter ihn. Sie steckte ihre Glock ein und ging an
ihm vorbei in seine Küche.
„Das ist ja ein Buch!“
Was war denn jetzt passiert?
„Ja… Stimmt was nicht damit?“
„Es überrascht mich, dass Sie lesen. Fantasy, wenn auch keine besonders gute. Das
ist ungewöhnlich.“
Und jetzt? Er sah sie stumm an. Sie erwiderte seinen Blick. Er dachte an sein
irisches Herrenhaus, während ihre Hand unter ihre Jacke glitt.
„Ihre Wohnung hier ist auch ziemlich bescheiden. Sie sind ein interessanter Mann.
Wahrscheinlich reden Sie sich ein, dass Sie in Wirklichkeit ganz anders sind.“
Er sah seine Magnum neben der Tür liegen, drei Meter von ihm entfernt. Keine
Chance. Er dachte an seine Schafzucht.
„Sie hätten Clarence nicht hintergehen sollen. Er mag das nicht. Wenn Sie dafür
bezahlt werden, mir selbst das Set zu bringen, dann sollten Sie's auch selbst
machen.“
Die Hand glitt langsam wieder unter ihrer Jacke hervor und hielt die Glock mit dem
Schalldämpfer. Dann setzte sie sich auf seinen Stuhl neben dem Küchentisch und
hob seinen Löffel aus der Müslischale.
„Man denkt immer, Müsli wäre gesund, aber dieses hier ist es jedenfalls ganz
bestimmt nicht. Wissen Sie eigentlich, wie viel Fett und Zucker in diesem Zeug ist?“
fragte sie, und dann erschoss sie ihn, ohne sich zu ihm umzudrehen.
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Lenore war sich nicht sicher, ob der Wachmann tot war. Vielleicht lebte er noch.
Lenore war sich auch nicht sicher, ob Dr. Meiller den Polizisten von Sonia erzählt
hatte. Vielleicht hatte er es getan. Falls eine dieser beiden Möglichkeiten eingetreten
war, wurde Sonias Wohnung bestimmt observiert. Falls nicht, war es immer noch
nicht ausgeschlossen.
Lenore war nicht bereit, dieses Risiko ohne zwingenden Grund einzugehen, deshalb
war sie ihrem ersten Impuls nicht gefolgt, zu Sonias Wohnung zu fahren und dort
nach den fehlenden Beweisen zu suchen.
Wenn sie Sonias Bruder hatte, konnte sie ihn in ihre Wohnung schicken. Er hatte
sicherlich einen Schlüssel und wusste vielleicht sogar, wo sie was aufbewahrte. Mit
viel Glück wusste er vielleicht sogar, wo sie war.
Lenore verließ das Mietshaus in der Schanzenstraße und stieg in das Taxi, das sie
vom Bahnhof hierher gebracht hatte. Sie stieg immer hinten ein, wenn sie Taxi fuhr.
„Wohin geht’s jetzt?“
„Kardinal-Waltner-Straße in Blankenese, kennen Sie das?“
„Klar.“
Er fuhr los.
„Sie sind noch jung“, sagte sie, „Sind Sie Student?“
„Muss jeder junge Taxifahrer ein Student sein?“
Sie atmete aus. Fast ein Seufzen. Als er merkte, dass sie nicht weiter auf seine
Gegenfrage reagieren wollte, sagte er:
„Ich bin sogar schon Diplombetriebswirt. Ich heiße Matthias.“
„Glückwunsch. Lenore.“
„Wie der Rabe bei Poe?“
Sie lächelte. Der Rabe. Warum dachten so viele an den Raben, obwohl der doch gar
nicht so hieß. Trotzdem war es gar nicht mal ganz falsch. Der Rabe hieß
Nimmermehr, und das war ihr wahrer Name.
„Ganz genau. Macht Ihnen Ihr Beruf Spaß?“
Er sah sie durch den Rückspiegel an. Vielleicht wollte er sehen, ob sie mit ihm zu
flirten versuchte. Der Gedanke verursachte ihr leichte Übelkeit.
„Ich hatte mir schon was anderes gedacht, aber es ist besser als gar nichts.
Manchmal ist es sogar wirklich interessant, wenn man nette Fahrgäste hat.“
Er zwinkerte ihr durch seinen Rückspiegel zu und grinste sie an. Als sie sein Grinsen
nicht erwiderte, verschwand es wieder.
„Haben Sie oft nette Fahrgäste?“
„Ab und zu. Viele Leute reden nicht mit dem Fahrer, das ist eigentlich schade. Ich
glaube, sie fühlen sich sogar ziemlich unwohl beim Schweigen, aber irgendwie
trauen sie sich auch nicht, was zu sagen, sogar wenn ich ein Gespräch anfange. Das
liegt an der erzwungenen Nähe. Ist ein bisschen wie im Fahrstuhl.“
„Fahrstuhl?“
„Kennen Sie das nicht? Wenn mehrere Leute in einem engen Fahrstuhl
zusammengedrängt sind, können die meisten sich nicht mal gegenseitig ansehen.
Die erzwungene Nähe ist ihnen so peinlich, dass sie nicht wissen, wie sie damit
umgehen sollen. Deshalb versuchen sie, die anderen zu ignorieren.“
Sie sah nachdenklich aus dem Fenster. Sie sah beleuchtete Fenster, hinter denen
Familien fernsahen. Sie sah zwei Polizisten auf Fußstreife. Und sie sah eine alte
Frau, die sich mit Hilfe eines Rollators voran schob.
„Was machen Sie denn?“ fragte er.
„Ich töte Menschen“, antwortete Lenore.
Er lachte.
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„Zahlen Sie mir auch 800 Dollar für die Nacht?“
„Es ist ganz egal, was ich Ihnen zahle. Ich nehme es Ihnen sowieso wieder weg,
nachdem ich Sie umgebracht habe.“
Er lachte wieder.
„Sie wissen, dass am Ende der Taxifahrer den Killer erschießt.“
„Nicht in meinem Film.“
Er lachte wieder, aber diesmal eindeutig nur aus Höflichkeit.
„Das hat Vincent sicher auch gedacht“, murmelte er.
Sie sah weiter aus dem Fenster. Jetzt fuhren sie auf der mittleren Spur und sie
konnte die Menschen in den Autos rechts von ihnen beobachten. In einem der Autos
saß ein junges blondes Mädchen mit Kopfhörern, das Lenores Blick erwiderte und ihr
fröhlich zuwinkte. Lenore winkte zurück und stellte sich vor, was für ein exquisit
trauriges Gefühl es wäre, das fröhliche Mädchen zu töten. Sie dachte an das Leben,
das das Mädchen möglicherweise vor sich hatte, an die Menschen, denen es
Freundin, Geliebte, Mutter sein würde, an die Freude, die das Mädchen erleben
würde und an das Unglück, das ihm widerfahren würde. Sie dachte darüber nach,
wie offen und neugierig ihr dieses Mädchen mit dem freundlichen Lächeln gegenüber
treten würde, bevor sie ihr die Kehle durchschnitt.
Kinder hatten einen besonderen Platz in ihrem Herzen.
„Vincent war der Killer in Collateral“, sagte Matthias. Offenbar nahm er an, dass sie
nicht antwortete, weil sie nicht verstanden hatte, wovon er sprach.
„Es hat ihm am Ende gar nichts ausgemacht zu sterben, oder?“ sagte sie.
Er schüttelte den Kopf.
„Er hatte ja eigentlich nichts, wofür er leben wollte. Er war eine leere Hülle. Darum
geht es in dem Film.“
Ach was.
„Welche Hausnummer?“ fragte er, als sie in die Zielstraße einbogen.
„Einhundertfünfzehn. Haben Sie etwas, wofür Sie leben wollen, Matthias?“
„Hm. Ich meine, natürlich. Aber wenn Sie wissen wollen, was das ist, würd’ ich gern
noch ein bisschen überlegen.“
Er hielt vor Haus Nr. 115.
„Überlegen Sie. Wäre doch gut, das zu wissen, bevor ich Sie umbringe, oder?“
Sie lächelte ihn durch den Rückspiegel an.
„Da haben Sie recht“, sagte er belustigt. „Soll ich wieder warten?“
„Klar.“
Sie stieg aus.
Der langhaarige Japaner führte Sonia durch einen schlecht beleuchteten Flur in ein
großes Arbeitszimmer. Hinter einem riesigen dunklen Schreibtisch saß ihr
Gastgeber.
„Ich fürchte, ich schulde Ihnen eine Entschuldigung“, sagte er, ohne ein Wort zur
Begrüßung, „Marcello hat Sie entschieden zu grob behandelt. Ich werde ihn dafür
angemessen disziplinieren lassen.“
Der Mann hinter dem Schreibtisch hatte eine Stimme wie ein Toter. Er sprach leise,
als wären die Worte nur ein Nebenprodukt seiner Atmung.
Er sah auch ein bisschen so aus. Aber er konnte wohl nichts dafür. Er war
leichenblass und dürr und saß in einem Rollstuhl, den er mit einem kleinen Stiel
lenkte, der in seinem Mund steckte.
Sonia winkte ab. Sie hatte sich noch nicht ganz von den Drogen erholt, die sie ihr
gegeben hatten. Ihr Kopf schwamm, und sie hatte weder Geduld für
Höflichkeitsfloskeln noch ein echtes Gefühl für den möglichen Ernst der Lage.
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„Das ist nicht nötig. Lassen Sie mich einfach nach Hause gehen, dann bin ich
zufrieden. Nein, halt, blöde Idee. Bringen Sie mich zur Polizei. Dann verzeihe ich
Ihnen alles.“
Er lächelte.
„Diesen Wunsch kann ich Ihnen leider nicht erfüllen.“
„Hab ich’s doch geahnt.“
„Sie werden freigelassen“, fügte er, für seine Verhältnisse ziemlich eilig, hinzu. „Ich
möchte Sie nur bitten, mir zuvor noch ein wenig behilflich zu sein.“
„Bei was?“ fragte sie, obwohl sie schon so eine Ahnung hatte. „Was ist hier eigentlich
los?“
„Mein Name ist Sebastian Maas.“
„Maas? Wie in den Maas-Märkten?“
„Das war mein Großvater. Meine Mutter war Mitglied des deutschen Bundestags“,
antwortete er.
„Cornelia Maas? Ich erinnere mich, sie wurde vor zwei Jahren… oh.“
Er lächelte wieder sein kaltes kleines Lächeln.
„Genau. Meine Mutter wurde erschossen. Ich war bei dem Vorfall zufällig zugegen
und wurde verletzt. Sie sehen die Folgen noch.“ Sein kaltes kleines kraftloses
Lächeln wurde ein bisschen breiter. „Ich werde nie wieder Fußball spielen.“
„Ich hatte nichts damit zu tun. Darf ich jetzt gehen?“ Es fiel ihr heute schwer, Mitleid
aufzubringen.
„Hören Sie mir ruhig zu Ende zu, so viel Zeit werden Sie doch wohl haben? Was sind
Sie für eine Journalistin, wenn Sie kein bisschen neugierig sind?“
Er brauchte mit seiner quälend langsamen und leisen Stimme entsetzlich lange, um
diesen Vortrag zu halten. Er fuhr fort:
„Mein Großvater hat ein beträchtliches Vermögen geschaffen, und ein großer Teil
davon ist mit dem Tod meiner Mutter auf mich übergegangen.“ Maas machte eine
Atempause. „Ich kann nicht viel damit anfangen, aber ich kann mir einen
Herzenswunsch erfüllen.“ Pause. „Und gleichzeitig einem guten Zweck dienen.“
„Sie retten das rote mitteleuropäische Eichhörnchen?“ Sie fragte sich, ob es gegen
sie sprach, dass sie ihre Schlagfertigkeit gegenüber einer bewaffneten
Auftragsmörderin verloren hatte und sie nun vor diesem armen verkrüppelten Mann
wieder fand. Tatsächlich hatte sie schon so eine Ahnung, was er ihr erzählen wollte.
Aber es war so unwirklich.
„Ich werde die Frau töten, die mir das angetan hat.“
Sie hatte es kommen sehen.
„Dann stecken Sie wahrscheinlich auch hinter meiner geheimnisvollen Informantin?“
„So ist es.“
Das war ja noch spannender als die Sache mit den Profikillern alleine. Ein Krieg im
Untergrund. Wie in diesem Film mit den Vampiren und den Werwölfen! War sie hier
bei der Versteckten Kamera? Würde gleich Fritz Egner aus irgendeiner Ecke
springen und ihr dumm lachend erklären, dass sie voll reingefallen war?
Wenn es doch stimmte und sie noch die Gelegenheit bekommen sollte, darüber zu
schreiben, würde es eine Sensation werden. Aber halt. Sie legte die Stirn in Falten,
als ihr auffiel, dass das, was Sebastian Maas da tat, auch nicht ganz legal war. Er
würde also irgendwie sicherstellen müssen, dass sie niemandem davon erzählte.
Wie würde er das wohl tun?
„Ich beginne mit Lenore, aber das muss nicht das Ende sein.“ Atempause. „Wenn ich
kann, werde ich die gesamte Organisation zerschlagen.“
Er war offenbar so eine Art Superheld. Er hatte keine psychokinetischen Kräfte,
sonst wäre er – halt, es gab sogar eine Comicfigur, die im Rollstuhl saß und eine
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Organisation anführte, die gegen das Böse kämpfte. Sonia fiel gerade der Name
nicht ein, aber Marten hatte da mal so ein Heft bei ihr herumliegen lassen.
„Wie kann ich Ihnen dabei helfen? Und warum brauchen Sie dabei noch Hilfe?
Lenore lag hilflos auf dem Boden, als ich sie zuletzt gesehen habe.“ Sie konnte einen
gewissen Stolz nicht verbergen. Das war ihr Verdienst gewesen. „Ich nehme doch
an, dass Ihre Leute sie…“ Sie bemerkte seinen Gesichtsausdruck. „Naja, vielleicht
nicht.“
„Ich habe Schwierigkeiten, gutes Personal zu finden“, bemerkte er trocken. „Die
Polizei ist jetzt dort, und sie verraten keine Einzelheiten.“ Atempause. „Aber einer
meiner Leute hat sich noch nicht wieder gemeldet. Ich rechne deshalb damit, dass
Lenore entkommen ist.“ Eine längere Pause. „Vielleicht würde es uns helfen, wenn
wir erfahren könnten, was Sie über sie wissen. Es soll nicht zu Ihrem Schaden sein,
wenn Sie mit uns kooperieren.“
Sonia zögerte. Nicht zu ihrem Schaden. Das konnte vieles heißen.
„Was meinen Sie mit kooperieren?“ fragte sie schließlich.
Jetzt zögerte er kurz, bevor er antwortete:
„Sie beantworten zunächst unsere Fragen. Und dann sehen wir weiter.“
Sonia seufzte. Genau das hatte sie befürchtet.
„Es ist nicht so, als hätte ich eine Wahl, oder?“ fragte sie.
Sie wusste nicht, ob das leichte Zittern ein Kopfschütteln war. Aber sie war sich
ziemlich sicher, dass um seine Mundwinkel ein kleines überlegenes Lächeln zuckte.
„Let your love fly, like a bird on a wing…“
Lenore sang leise vor sich hin, während sie von ihrem Taxi zur Eingangstür des
Mietshauses ging, in den Flur eintrat und die Beschriftungen der Klingelknöpfe
studierte. Sie kannte nur etwa die Hälfte des Textes, deswegen war sie zeitweise
darauf angewiesen, einfach nur die Melodie zu summen.
Natürlich stand auf keinem der kleinen Schildchen der Name Kalle. Tatsächlich
standen überall nur Nachnamen. Zu dumm.
„Just let your love flow, like a mountain stream…“
Lenores Gesang verstummte, als sie sah, dass der Finger, der über den
Klingelschildern kreiste, zu beben begonnen hatte. Und dass das leichte Beben
langsam zu einem ausgeprägten Zittern wurde, das ihre ganze linke Hand erfasste.
Sie biss ihre Zähne zusammen, schloss die Augen fest, atmete tief durch und öffnete
ihre Augen wieder. Die Hand zitterte immer noch.
„Verdammt!“ zischte sie, packte die verdammte linke Hand mit ihrer rechten und
presste, als gälte es, sie zu erwürgen. Sie steckte die zitternde Hand in die
Hosentasche.
Sie klingelte mit dem rechten Zeigefinger bei Manowski, im Erdgeschoss. Nichts. Als
nächstes versuchte sie es bei Trautwein.
„Hallooo?“
Frau Trautwein klang alt. Aber vielleicht konnte sie Lenore trotzdem helfen, Kalle zu
finden. Irgendwo musste sie ja anfangen.
„Guten Tag Frau Trautwein“, fing sie an, „Ich bin Vanessa Grieger, Polizei Hamburg.“
„Oh weih… Ist doch hoffentlich nichts passiert?“
„Keine Sorge, Frau Trautwein. Ich möchte nur kurz mit Ihnen sprechen. Es geht auch
eigentlich gar nicht um sie.“
„Ach so, also gar nichts Schlimmes?“
Sie klang, als hätte sie schon fest damit gerechnet, von einem Mobilen
Einsatzkommando überwältigt und direkt in eine Hochsicherheitszelle geschleppt zu
werden.
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„Nichts Schlimmes, Frau Trautwein. Lassen sie mich bitte rein?“
Der Türöffner summte, und Vanessa trat ein. Frau Trautwein öffnete gerade ihre Tür
einen Spalt breit und schaute heraus. Vanessa hatte den Eindruck, dass Frau
Trautwein recht geübt darin war, durch ihre halb geöffnete Tür auf den Flur zu
spähen. Jetzt öffnete sie sie ganz und kam heraus.
„Ach, Sie haben ja gar keine Uniform an.“
Und keinen Helm, keine Maske und keinen ballistischen Schild. Offenbar war Frau
Trautwein erst jetzt endgültig überzeugt, dass sie nicht wegen reichsgefährdender
Umtriebe gewaltsam verhaftet und abgeführt werden sollte. Oder jedenfalls
weitgehend.
„Jaja, manchmal sind wir auch in zivil unterwegs“, erwiderte Vanessa freundlich.
„Jaja…“
Frau Trautwein hatte vielleicht schon immer gewusst, dass mindestens die Hälfte
ihrer Bekannten und etwa drei Viertel der restlichen Menschheit in Wirklichkeit
Polizisten in Zivil waren. Vanessa fragte sich kurz, ob es Spaß machen würde,
herauszufinden, ob diese alte Frau einfach paranoid war oder wirklich etwas zu
verbergen hatte. Leider hatte sie zurzeit Wichtigeres zu tun.
„Darf ich reinkommen?“
„Ach so, ja, selbstverständlich.“
Es musste ja nicht jeder mithören, worüber sie sprachen.
Frau Trautwein führte sie in eine Wohnung, deren in braun und dunkelbeige
gehaltene, staubige Einrichtung durch die zugezogenen Vorhänge und ein nur matt
glimmendes Lämpchen über dem Couchtisch wundervoll zur Geltung gebracht
wurde. Vanessa wurde schon von dem Anblick ein bisschen schwermütig.
„Möchten sie vielleicht ein Tässchen Kaffee?“ fragte Frau Trautwein. „Den müsste ich
dann aber erst kochen…“
Es klang wie eine Drohung.
„Nein, danke. Ich möchte wirklich nur kurz ein paar Fragen stellen.“
Vanessa hatte so einen hübschen gefälschten Ausweis dabei, aber offenbar kam sie
auch ohne ihn aus..
„Worum geht es denn?“ fragte Frau Trautwein, ohne ihr einen Platz anzubieten.
„Wir suchen eine junge Frau, sie sich Kalle nennt. Der mutmaßliche tatsächliche
Name wäre wohl Karla. Wir vermuten, dass Sie hier in diesem Haus wohnt.“
Frau Trautwein sah sie an. Bis Vanessa schließlich nachgab und die Frage stellte.
„Kennen Sie so jemanden?“
Und dann ging es plötzlich los. Frau Trautwein schlug die Hände vor sich zusammen
und rang sie, während die Worte aus ihr heraussprudelten.
„Ja, natürlich, die kenne ich! Das wurde aber auch mal Zeit, dass sich da jemand
drum kümmert!“
Sie kam ein bisschen näher und beugte sich vor, um Vanessa vertraulich
zuzuraunen:
„Wissen Sie, in diesem Haus geschehen Dinge, von denen wir rechtschaffenen
Bürger uns nur mit Grausen abwenden können! Mit Grausen! Ich habe ja schon
immer gesagt, dass mit der Deitler was nicht stimmt. Wissen Sie, die hat immer so
komischen Besuch, und manchmal riecht es da auch so komisch da oben im Flur.“
Vanessa nahm an, dass Frau Trautwein sich einfach rein zufällig von Zeit zu Zeit mal
im Flur im zweiten Stock aufhielt, vielleicht um ihr Portemonnaie zu suchen, das sie
verloren hatte, oder um einfach mal die Flurfenster zu putzen. Bei diesen
Gelegenheiten waren ihr dann wohl die komischen Besucher aufgefallen, und die
verdächtigen Gerüche.
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„Und diese Musiiik! Obwohl, Musik ist das ja eigentlich gar nicht, dieser Krach, den
die heute Musik nennen. Und wenn man dann mal was sagt, dann wird sie aber auch
gleich patzig. Das ist ja heute so bei den Kindern. Wenn man alt ist, dann ist man
gleich verrückt und…“
Frau Trautwein erzählte ihr noch viel mehr. Viel, viel mehr. Sie blieb auch nicht bei
der gesuchten Person. Auch die anderen Mieter führten sich sehr sonderbar auf. Ein
schrecklich lasterhaftes Haus war dies, und dabei war das mal so eine ehrenhafte
Gegend gewesen.
Sie bat sie nach ein paar Minuten sogar, Platz zu nehmen und brachte ihr doch noch
eine Tasse Kaffee, der Himmel wusste, woher. Vanessa hörte ihr zu und warf
gelegentlich einen verzweifelt suchenden Blick in das schreckliche Zimmer, während
die depressive Stimmung sie umfing und sich mehr und mehr wie ein guter Freund
anfühlte. Sie mochte überhaupt keinen Kaffee.
Gelegentlich dachte sie noch daran, Frau Trautweins endlosen Redestrom zu
unterbrechen, aber erstens gab es einfach keine Chance, ein Wort dazwischen zu
bekommen, und zweitens raubten dieses erbärmliche Zimmer, diese erbärmliche alte
Frau und ihr grässliches Geschwätz ihr alle Kraft. Sie verlor nach einer Weile auch
ihr Zeitgefühl. Als einziger Trost blieb, dass ihr das Gespräch sicherlich viel länger
vorkam, als es tatsächlich war.
Marten war keiner von diesen Losern, die sich einfach die maximale Dosis
reinschoben, die sie noch ertragen konnten und dann einen halben Tag bewusstlos
herumlagen. Er war zwar ein Junkie, aber ein Genießer. Nicht, dass er darauf
besonders stolz war. Er wusste schon, dass er ein Problem hatte. Aber er hatte es
jedenfalls besser im Griff als Kalle.
Sie lag neben ihm auf dem Bett und murmelte irgendwas von Quallen. Sie hatte
doppelt so viel genommen wie er. Obwohl er eigentlich sogar besser damit zurecht
kam als sie. Er hatte noch nie so einen Angstflash gehabt wie sie beim letzten Mal,
und das mit den Quallen klang auch schon wieder nicht besonders fröhlich.
Er selbst lag einfach nur da, sah an die Decke und genoss die sonderbaren
Wendungen seiner Gedanken und die Bilder, die davon hervorgerufen wurden. Es
war so entspannend und friedlich. Als wäre der ganze Ärger und der ganze Stress
der Realität für eine Weile komplett abgeschaltet worden. Ein unbezahlbares Gefühl.
Als er hörte, wie jemand die Tür aufschloss und öffnete, war er sich nicht sicher, ob
das Geräusch nur eingebildet war. Niemand außer ihm und Kalle hatte einen
Schlüssel, und er hörte manchmal Geräusche, wenn er Acid genommen hatte. Dann
hörte er Schritte, die näher kamen. Es hätte immer noch ein Traum sein können,
aber er drehte sich zu Kalle um.
„Hast du das auch gehört?“
Ihre Augen waren geschlossen, und Speichel lief ihr in einem breiten Rinnsal aus
dem rechten Mundwinkel ins rechte Ohr. Die Schritte kamen immer noch näher, bis
sie schließlich vor der Schlafzimmertür anhielten.
„Kalle?“
Er berührte ihre Schulter und schüttelte sie vorsichtig. Kalle schrie schrill auf, sprang
aus dem Bett und auf einen Stuhl am Fenster.
„Hey, hey, cool down!“
Er setzte sich im Bett auf und versuchte, aufzustehen, aber ihm war schwindelig. Sie
kauerte sich wimmernd auf dem Stuhl zusammen. Und dann stieß jemand die Tür
auf. Er sah hin, und seinen Blick so schnell zu schwenken, verstärkte sein
Schwindelgefühl.
„Woau…“
67
In der offenen Tür stand eine junge blonde Frau mit zu Spikes geformten Haaren. Sie
war reingekommen wie ein Polizist bei einer Durchsuchung, mit der Pistole in beiden
Händen und schnell durch den Raum schweifendem Blick. Sie sah irgendwie nicht
gut aus, als wäre sie krank und hätte Schmerzen. Blass war sie.
Als sie sich sicher war, dass außer ihm und Kalle niemand im Raum war, wandte sie
sich ihnen voll zu und hielt die Waffe irgendwo zwischen sie gerichtet. Sie ließ ihren
Blick kurz schweifen und zog ihre Nase kraus.
Kalle schien überhaupt nichts mitzukriegen. Sie hockte zusammengekrümmt auf
ihrem Stuhl und zitterte.
„LSD?“ fragte die Blondine.
Er schüttelte langsam den Kopf. Er nahm an, dass sie Polizistin war. Er war sich
zwar sicher, dass Leugnen sinnlos war, aber er musste den Ärger ja nicht
herausfordern.
„Wir… haben… bloß…“ begann er.
Sie winkte ab, steckte ihre Waffe wieder unter ihre Jacke und unterbrach ihn.
„Klar.“
Sie atmete tief durch, packte seinen Oberarm und zog ihn auf die Beine. Sie war
kräftiger als sie aussah.
„Ich habe keine Lust mehr“, sagte sie langsam und nachdenklich, als spräche sie
mehr mit sich selbst als mit ihm.
Jetzt erkannte er sie. Seine Erinnerungen waren ein bisschen verschwommen, aber
ihre grasgrünen Augen kannte er. Und die Frisur. Die dunklen Turnschuhe.
„Sie sind… Eva, oder? Sind Sie nicht die vom Bahnhof?“
Er war noch nicht klar genug, um die Konsequenzen zu erkennen. Zunächst wusste
er nur, dass er diese Frau am Hauptbahnhof getroffen hatte.
„Wissen Sie, wie groß die Versuchung ist, diese Waffe abzuwischen, sie Ihnen in die
Hand zu drücken und einfach von hier zu verschwinden?“ Sie seufzte, und ihr Körper
spannte sich spürbar wieder an, als die Träumerei von ihr wich. „Kommen Sie mit“,
sagte sie.
„Aber…“
Sie zerrte ihn ohne ein weiteres Wort einfach hinter sich her aus der Wohnung, auf
den Flur, ins Treppenhaus, auf die Straße.
„Er war's nicht.“
„Aber wer dann?“
Kira zuckte ihre Schultern und schob ihre Unterlippe vor.
„Ich weiß es nicht, aber es gibt mindestens noch eine Person, die wusste, wo Lenore
zu finden sein würde.“
Clarence machte eine Na-los-Geste mit beiden Händen. „Sag' einfach, was du
denkst, Miss Marple.“
„Der Auftraggeber“, sagte Kira mit einem breiten Lächeln.
Es war so naheliegend, und doch waren sie zuerst nicht drauf gekommen.
„Natürlich!“ rief Clarence. Er sprang auf. Dann stockte er und strich mit einer Hand
über sein Kinn. „Glaubst du… Mkoba wusste das?“
Kira zuckte noch mal ihre Schultern.
„Sie hat die Sache vermittelt. Wir sehen einfach mal nach, ob er mehr bezahlt hat als
üblich. Wenn du willst, dass ich rate, halte ich sie für schuldig. Ich konnte sie noch
nie leiden. Aber sie ist nicht unser dringendstes Problem im Moment. Die Sache ist
ein Desaster, und das liegt nicht nur daran, dass wir gelinkt wurden. Um Mkoba
können wir uns später kümmern, aber zuerst müssen wir unseren eigenen Laden in
Ordnung bringen.“
68
„Fängst du wieder damit an.“
„Lenore“, sagte sie. „Und Philippe auch.“
„Philippe? Wieso denn Philippe?“
Clarence schüttelte heftig den Kopf, während er in seinem Wohnbüro auf und ab lief,
das trotz seiner geräumigen Gestaltung viel zu klein für den riesigen Mann schien. Er
sprach nicht besonders laut, aber Kira konnte trotzdem unschwer erkennen, dass sie
ihre nächsten Worte mit ein bisschen Vorsicht wählen sollte.
„Mir gefällt das auch nicht, Clarence, aber es muss sein. Wir haben uns nie davor
gedrückt, das Notwendige zu tun, auch wenn es uns nicht gefiel, und wir dürfen jetzt
nicht damit anfangen.“
Er schüttelte wieder den Kopf, blieb stehen, fuhr sich mit einer Hand durch sein
Gesicht, schüttelte noch einmal den Kopf.
„Nein, Kira. Philippe ist unschuldig, er hat nichts getan, du hast gerade selbst gesagt,
dass du dir sicher bist.“
Sie nickte. „Ich habe keinen Zweifel.“
„Und Lenore… hat dieses Unternehmen mit uns aufgebaut. Sie hat Dinge getan, die
niemand für möglich gehalten hätte, und sie hat die Reputation einer Todesgöttin.
Kira, Lenore war eine Zeitlang für dieses Unternehmen wichtiger als wir beide!“
Sie nickte. „Stimmt. War sie.“
Er stöhnte und ließ sich in den Sitzsack hinter sich fallen. Wer Clarence sah,
erwartete intuitiv immer, dass die Erde unter den Schritten dieses Riesen erzittern
musste, und wenn er so beiläufig eine Bewegung vollführte, bei der eigentlich der
Fußboden unter ihm hätte einbrechen müssen, fühlte sogar Kira immer noch eine
gewisse Erleichterung, wenn nichts kaputtging.
„Wir können sie nicht einfach liquidieren lassen, Kira. Nicht nur, weil ich es nicht will.
Wie würde das denn für die anderen aussehen?“
„Entschlossen.“ Sie seufzte, um ihm zu zeigen, dass es ihr genauso schwerfiel wie
ihm. „Ich mag Philippe auch. Und ich weiß, was wir Lenore zu verdanken haben. Ich
weiß aber auch, dass wir Philippe zwei Tage lang eingesperrt und verhört haben,
und dass wir ihm deshalb nicht mehr trauen können. Du weißt das genauso gut wie
ich, Clarence: Jemand, den wir so behandelt haben, macht nicht einfach weiter mit
seiner Arbeit. Und Lenore - Lenore ist einfach kaputt! Ich weiß, früher ist sie über's
Wasser gegangen, aber das war früher. Jetzt gehört sie in eine Zwangsjacke!“
„Du übertreibst.“ Sie konnte an seiner Stimme hören, dass er es besser wusste.
„Clarence, ich habe schon lange nicht mehr verstanden, wieso du einfach nicht
sehen willst, was für eine Belastung sie ist. Mach doch bloß mal die Augen auf! Ein
simpler Hit, ein völlig wehrloses Ziel, und sie lässt diese Sonia entwischen und richtet
stattdessen ein Massaker unter völlig Unbeteiligten an! Sie bringt uns noch alle in
den Bau, wenn das so weitergeht.“
„Vier Tote sind wohl kaum ein Massaker“, murrte Clarence, „Und wir wissen nicht,
welche Gründe sie hatte…“
Jetzt hielt Kira es nicht mehr aus und sprang auf. „Sie braucht keine Gründe!“ rief sie.
„Lenore hat die Kontrolle verloren, sie weiß nicht mehr, was sie tut, sie hat ein
Riesenproblem, und ihr Problem ist unser Problem.“
„Wir wissen nicht, welche Gründe-“
Sie unterbrach ihn. „Wach auf, Clarence! Es ist nicht das erste Mal! Erinnerst du dich
noch an diesen Job in Kambodscha? Jeder Anfänger mit einem Funken Verstand
hätte Gift benutzt, oder ihn bei einer Rede erschossen, oder jedenfalls irgendwas,
wobei man nicht einen ganzen Konvoi auslöschen muss! Oder der Bueler-Hit! Sie
zieht Aufmerksamkeit auf uns, und das können wir gar nicht gebrauchen!“
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Clarence hielt seine linke Hand vor seinen Mund, zur Faust geballt, und schüttelte
den Kopf. Er ließ die Hand fallen und seufzte.
„Also gut, Kira. Über Lenore können wir reden, wenn wir genau wissen, was da
eigentlich los ist. Natürlich müssen wir dann auch noch jemanden finden, der sich an
sie rantraut. Aber nicht Philippe.“
„Er wird sowieso-“
„Nein, Kira. Du hast mich soweit, jetzt lass es gut sein. Philippe nicht.“
Sie verdrehte ihre Augen. Für jemanden in seiner Position konnte Clarence so
furchtbar moralistisch sein.
Normalerweise hatte Konstantin Klaus keine Schwierigkeiten, mit dem BKA
zusammenzuarbeiten, aber er hatte den Eindruck, dass er diesmal eine Ausnahme
machen könnte.
Jan Hauptmann hatte eine Stimme wie ein unsympathischer Priester, so leise und
salbungsvoll und irgendwie schmierig. Sein Gesicht war auf irritierende Weise
feminin, wie auch seine Bewegungen. Er hatte kleine, zarte Hände, einen
Händedruck wie ein toter Fisch und einen Teint wie ein Vampir. Er machte
Konstantin Klaus nervös.
Er war kurz nach dem Anruf wegen des Mordes an Professor Kalper hier auf dem
Revier aufgetaucht und hatte ihm erklärt, dass er zur Beratung und Unterstützung
‚entsandt’ worden war und für einige Zeit eng mit ihm zusammenarbeiten würde.
Während der gesamten Fahrt hierher hatte er kein Wort gesagt. Allerdings hatte er
sich während der Fahrt immer wieder mit leicht angehobener Oberlippe und
angedeutet kraus gezogener Nase in Klaus’ Auto umgesehen, was seiner Meinung
nach vielleicht schon alles ausdrückte, was er zu sagen hatte.
Andererseits betrachtete er den Tatort nun mit ungefähr der gleichen Miene.
Vielleicht hatte er einfach nicht so viele Gesichtsausdrücke zur Auswahl. Solche
Menschen gab es ja, und manche davon wurden sogar erfolgreiche Schauspieler.
„Warum glauben Sie, dass es derselbe Täter sein soll wie bei Junker?“ fragte er den
BKA-Mann.
„Dieselbe Täterin“, korrigierte Hauptmann ihn beiläufig, ohne seine Frage zu
beantworten oder auch nur in seine Richtung zu sehen.
„Täterin?“ wiederholte er.
„Wir kennen sie. Sie wird in vielen Ländern gesucht, Herr Klaus. Vom FBI, dem
israelischen und dem russischen Geheimdienst, dem französischen, und von vielen
anderen auch. Ihr Spitzname ist May.“
„May, in Ordnung. Und woran erkennen Sie denn nun Mays Arbeit, wenn Sie sie
sehen?“
„Es gibt verschiedene Hinweise. Sie ist offensichtlich vom Fach, aber sie benimmt
sich nicht so. Üblicherweise schießen Fachleute zweimal ins Herz und einmal in den
Kopf, oder einfach zweimal in den Kopf. Solche Regeln hat sie nicht. Sie spielt gerne
mit ihren Opfern, zögert das Ende hinaus. Sie zeigt viele Merkmale eines
psychotischen Serienmörders, was sehr ungewöhnlich für Auftragsmörder ist.“
„Wenn das alles so ist“, unterbrach Klaus ihn, „Woher wissen Sie dann überhaupt
sicher, dass sie ein Profi ist?“
„Ihre Opfer sind über die ganze Welt verteilt, und immer wichtige Menschen, auf die
eine oder andere Art“, säuselte Hauptmann. „Wir können nicht völlig ausschließen,
dass sie rein intrinsische Motive hat, aber zu vieles spricht dagegen.“ Er zögerte ein
paar Sekunden, in denen sich der Hauch eines Lächelns um seine Mundwinkel
bildete. „Wir haben zwei Bilder von ihr.“
„Was? Das sagen Sie mir erst jetzt?“
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„Sie sind nutzlos.“
Er zog mit seinen zarten weißen Fingern zwei Stücke Papier aus seiner
Jackentasche und hielt sie Klaus hin. Er nahm sie.
Das erste war ein Phantombild von einer blassen Frau mit langen, lockigen
schwarzen Haaren und blauen Augen. Sie hatte eine Hakennase und schmale
Lippen, die den strengen Ausdruck ihres Gesichts noch betonten.
Das zweite war ein Foto von einer Überwachungskamera auf einem Flughafen. Es
war sehr unscharf, wahrscheinlich stark vergrößert, und zeigte eine Frau mit
schwarzen Haaren und Hakennase im Profil. Ihr Körper war hinter anderen
Menschen verborgen, nur ihr Kopf war zu erkennen.
„Ich glaube nicht, dass sie es ist“, seufzte Hauptmann. „Wir haben zwei Dutzend
völlig andere Beschreibungen, und keine Erklärung dafür, dass das FBI
ausgerechnet dieses Bild hier für die offizielle Fahndung benutzt. Wahrscheinlich
brauchte der zuständige Beamte irgendeinen Ermittlungserfolg für seine nächste
Beförderung.“
„Sie ist gefährlich?“
Das Lächeln wurde für einen Moment fast real, bevor es wieder zur Andeutung
verblasste. Gott, der Kerl war eine Karikatur seiner selbst.
„Natürlich. Alle Soziopathen sind gefährlich, weil wir sie nicht verstehen können.“
„Und Sie glauben, dass sie Sonia Schopp getötet hat?“
„Nein, das hat sie mit Sicherheit nicht“, raunte Hauptmann, als hätte Klaus ihn
gerade gefragt, ob es den Weihnachtsmann wirklich gab.
Klaus wartete ein paar Sekunden, in der Hoffnung, dass er das noch näher erklären
würde. Natürlich wartete er vergeblich.
„Warum nicht?“ kapitulierte er schließlich.
Hauptmann atmete leise aus. Es klang ein bisschen nach einem resignierten
Seufzen, wie von einem Lehrer, der ernsthaft gehofft hatte, dass es jetzt alle
verstanden haben müssten. Aber es klang gerade nicht genug nach einem
resignierten Seufzen, dass Klaus einen vernünftigen Grund gehabt hätte, beleidigt zu
sein. Der BKA-Mann faltete seine Hände, blickte eine Weile ins Leere und begann
dann zu erklären:
„Sie haben ihre Leiche nicht gefunden. May lässt ihre Opfer einfach liegen. Es gibt
vereinzelte Fälle, wie diesen, in denen die Leichen aus pragmatischen Gründen ein
kleines Stück bewegt werden, aber wir wissen von keinem Fall, in dem sie eine
Leiche regelrecht versteckt hätte.“
Vielleicht, weil in diesem Fall keine Leiche gefunden wird und es deshalb auch gar
keinen Fall gibt, dachte Klaus, aber er schwieg. Er hatte ja auch nicht geglaubt, dass
Sonia Schopp tot war, und er hatte keine Lust, mit Hauptmann Streit anzufangen.
Doch. Er hatte Lust. Aber er wusste, dass es keine gute Idee wäre.
Matthias hatte immer ein Buch dabei – zurzeit las er der Fremde Freund – und
langweilte sich deshalb in seinem Taxi vor dem Mietshaus nicht allzu sehr. Und
immerhin bekam er die Zeit bezahlt. Aber er wunderte sich doch ein bisschen, als
Lenore nach einer Stunde immer noch nicht wieder da war. Hatte sie ihn vergessen?
Auf seinem Taxameter standen schon über 120 Euro.
Es war schon vorgekommen, dass ihn jemand zwei Stunden warten lassen und dann
bezahlt hatte. Etwas öfter war es allerdings passiert, dass sein Fahrgast einfach nicht
wieder gekommen war, oder sich furchtbar über den Preis aufgeregt hatte. In der
letzten Woche zwei Mal.
Er dachte schon darüber nach, ob er vielleicht wieder losfahren sollte, als sie wieder
aus dem Haus kam. Als sie rein gegangen war, hatte er ihr nachgesehen. Ihr Gang
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war irgendwie sexy, wenn auch nicht besonders feminin. Diesmal war das allerdings
nicht zu erkennen, sie hatte nämlich einen Kerl dabei, der sich schwer auf ihre
Schulter stützte. Betrunken, wahrscheinlich. Vielleicht hatte sie ihren Mann abgeholt.
Sie hatte diesen Blick, als ginge ihr die Situation furchtbar auf den Geist. Er stieg
aus.
„Kann ich Ihnen helfen?“ rief er ihr entgegen.
„Danke, geht schon“, antwortete sie.
Sie schien tatsächlich keine großen Schwierigkeiten zu haben. Matthias war ein
bisschen überrascht, dass sie den Kerl auf den Beifahrersitz bugsierte.
Normalerweise wurden Betrunkene in den Fond gesetzt. Er war sich nicht ganz
sicher, ob er damit einverstanden war. Der Kerl sah wirklich ziemlich fertig aus.
Er blinzelte Matthias aus zusammengekniffenen Augen an und murmelte:
„Ich glaube… Ich werd’ gerade… entführt?“
„Nicht, dass der mir in den Wagen kotzt“, sagte Matthias. „Ich muss das selbst
sauber machen.“
„Nein… Ehrlich“, sagte der Kerl.
„Keine Sorge, wird er nicht“, erwiderte Lenore.
„Ich… kenne…“
„Und wenn doch?“ fragte Matthias.
„Diese Frau… gar nicht.“
„Großes Ehrenwort.“ Sie hob zwei Finger und legte ihre linke Hand auf ihre linke
Brust.
„Helfen Sie mir!“
„Was hat er denn?“
Sie machte eine abwinkende Handbewegung.
„Mein Bruder steht ein bisschen neben sich. Das gibt sich.“
Sie stieg hinten ein.
„Wo soll’s denn hingehen? Nach Hause?“
Sie lachte kurz auf.
„Ich bin hungrig. Fahren Sie zu McDonald’s. Nicht der nächste, ruhig ein bisschen
weiter weg, damit er sich vorher etwas erholen kann. Ein bisschen abgelegen.“
„Sie… Was hat sie mit mir vor? Kennen Sie sie?“ frage Marten. „Sie heißt Eva, glaub
ich.“
„Hören Sie einfach nicht auf ihn.“
„Sind Sie sicher, dass Sie zu McDonald’s wollen? Vielleicht sollte er sich erst mal
ausschlafen“, schlug Matthias vor.
„Machen Sie sich keine Sorgen um ihn“, erwiderte Lenore. „Eine halbe Stunde oder
so, dann ist er wieder auf dem Damm. Sie werden sehen.“
Matthias zuckte die Schultern und fuhr los.
Eine Zeit lang herrschte Schweigen. Dann drehte Marten sich langsam zu ihr um und
fragte:
„Was haben Sie mit mir vor?“
Als er keine Antwort bekam, sagte er:
„Sie… Sie kriegen für mich kein, na… Kein Lösegeld. Äh, wenn Sie das glauben.“
Matthias lächelte. So sah er auch nicht aus. Der Kerl war wirklich am Ende, der
wusste gar nicht mehr, was los war. Er bemitleidete Lenore ein bisschen, dass sie
sich mit dem rumschlagen musste.
„Ich kenne da diesen Kerl. Der mir das Zeug verkauft, ja? Der“, fuhr Marten nach
einer Pause fort. „Der ist echt ein gefährlicher Typ, weißt du, dem schulde ich noch
Geld.“
Was redete der denn für einen Unsinn?
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„Jaja… Ich könnte mir vorstellen, dass er sowieso schon nicht besonders gut drauf
ist“, sagte Lenore.
„Der… Der wird echt sauer, wenn ich… Oh…“
Für einen Moment klang es so, als würde er sich gleich übergeben, und Matthias
schaute kurz besorgt zu ihm rüber, aber er hatte anscheinend bloß vergessen, was
er sagen wollte.
Lenore antwortete trotzdem: „Ihm ist das mit dem Geld jetzt wahrscheinlich nicht
mehr so wichtig. Nicht diese Filiale, da stehen zu viele Autos vor der Tür. Ich mag ein
bisschen Ruhe beim Essen.“
„Hmhm…“
Matthias machte den Blinker wieder aus und fuhr weiter. Er entschied sich für einen
McDonald’s am Rand von Norderstedt, von dem er annahm, dass er um diese
Uhrzeit nicht allzu gut besucht sein dürfte. Und er hatte Recht. Nur zwei Wagen
standen auf dem Parkplatz, und eine dreiköpfige Familie verließ gerade den Laden.
„Wissen Sie was, Matthias, ich würde Sie gern einladen, mit uns zu essen.“
„Äh… Ich bin mir nicht sicher, ob das eine gute Idee ist.“
Matthias war hungrig, das war es nicht. Er war seit Stunden mit Lenore unterwegs
und hatte auch kein besonders üppiges Mittagessen gehabt. Er fand es nur erstens
seltsam, sich von einer Kundin einladen zu lassen, auch wenn es eine sehr attraktive
Kundin war. Zweitens, und das war eigentlich sein Hauptgrund, mochte er den
Gedanken nicht besonders, mit diesem kaputten Typen zusammen zu essen, der
ihm dauernd erzählte, dass er entführt wurde und Hilfe brauchte und wahrscheinlich
nach ein paar Minuten seinen Burger auf sein Tablett spucken würde. Mit Pommes.
„Ach, kommen Sie schon. Oder mögen Sie keine Burger? Wissen Sie, ich würde Sie
gerne in dem Laden erschießen, damit ich das Taxi nicht verschmutze.“
Sie bestand offenbar darauf. Er würde es schon überleben. Außerdem fand er sie
wirklich süß, und sie flirtete schließlich mit ihm, oder? Marten war nicht ihr Mann. Ihr
Bruder, hatte sie gesagt. Und wer weiß, vielleicht ergab sich ja was.
„Na gut, ich… nehm’ dann einen Salat.“
„Na sehen Sie.“
Sie lächelte. Er lächelte zurück. Er stieg aus und half Marten aus seinem Sitz,
zusammen mit Lenore.
„Warum sollten Sie mich denn eigentlich jetzt schon erschießen? Ich muss Sie doch
erst zu Ihren Opfern fahren, Sie haben noch überhaupt niemanden umgebracht!“
„Das wissen Sie bloß nicht. Und von hier aus finde ich meinen Weg selbst.
Außerdem befürchte ich, dass Sie irgendwann anfangen könnten, Marten hier zu
glauben, wenn er Ihnen oft genug sagt, dass ich ihn entführe.“
Matthias lachte auf. „Da müssen Sie sich aber keine Sorgen machen.“
„Man kann nicht vorsichtig genug sein, oder?“
Er zuckte die Schultern. „Wie Sie meinen.“
Auf dem Schild an der Tür konnte Matthias lesen, dass der Laden in zwanzig
Minuten schließen würde. Die Belegschaft bestand offenbar zurzeit nur noch aus
zwei Personen, von denen eine nach vorne an den Tresen kam, als sie eintraten. An
einem Tisch in einer Ecke des Raums saß ein bärtiger dicker Mann, der eine so
gewaltige Menge Essen vor sich hatte, dass Matthias sich nicht vorstellen konnte,
dass er das alles in zwanzig Minuten schaffen würde. Andererseits, an der Art
gemessen, wie er das Zeug in sich hinein stopfte, bestand durchaus die Möglichkeit,
dass er noch Zeit für einen Nachschlag finden würde.
Es dauerte einige Sekunden, bis es Matthias gelungen war, den Zusammenhang zu
erkennen zwischen dem durchdringenden Krachen, das plötzlich den Raum erfüllte,
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und dem dunkelroten Fleck, der ebenso plötzlich auf dem T-Shirt des dicken Mannes
erblühte.
„Pistolen mit Schalldämpfer sind auf größere Distanz völlig unbrauchbar“, erklärte
Lenore ihm in vertraulich leisem Tonfall.
Als er sie ansah, hatte sie keine Waffe in der Hand. Der dicke Mann fiel vornüber mit
dem Gesicht auf das überladene Tablett Sein Colabecher fiel dabei um und begann,
die Pommes Frites durchzusuppen.
Dann fügte sie laut für alle Anwesenden hinzu: „Niemand läuft weg, niemand ruft die
Polizei, dann werden wir uns alle wunderbar verstehen.“ Wieder ein bisschen leiser
sagte sie zu Marten und Matthias: „Mir nach.“
Er trottete hinter ihr und Marten her zum Tresen. Er sah sich um. Die Welt hatte sich
verändert. Er hatte das Gefühl, alles bewege sich in Zeitlupe, und ihm fielen die
sonderbarsten Details auf, die ihn normalerweise gar nicht interessiert hätten.
Der Behälter mit den Strohhalmen war leer. Unter einem Stuhl lag ein leerer offener
Pappbehälter für einen FishMäc. Der dicke Mann mit dem Bart trug offenbar ein
Toupet. Das Haar oben auf seinem Kopf hatte eine viel kräftigere Farbe als das am
Rand.
Lenore stützte sich mit den Handflächen auf den Tresen und begann, die Karte zu
studieren.
„Kommen Sie bitte mal nach vorne, wo ich Sie sehen kann? Das wäre sehr nett“, rief
sie dem Mann in der Küche zu. Er kam. Er war blass und wirkte, als müsste er sich
gleich übergeben. Mit seinen strähnigen blonden Haaren und seinem grässlichen
Ziegenbart sah er aus wie einer von den Rednex, oder wie diese Leute hießen, die
Cotton Eye Joe sangen.
„Setzen Sie sich da drüben hin, ja?“
Lenore zeigte auf einen Tisch in der Nähe des Tresens. Wie von einer unsichtbaren
Kraft gezogen, stolperte er zu einem der Stühle und ließ sich darauf fallen.
Die junge Frau in der schlecht sitzenden McDonald’s-Uniform war ein paar Schritte
zurückgetaumelt und lehnte zitternd an dem großen McFlurry-Automaten. Sie hatte
mit der Schulter den Behälter mit den Daim-Splittern zu Boden geworfen. Auf ihrer
Uniform war ein Kaffeefleck, und Kaffee tropfte neben ihr auf den Boden herunter.
„B-bitte bringen Sie mich nicht um!“
M. Schweittzer stand auf ihrem Namensschild. Matthias fragte sich, ob das ein Fehler
war, oder ob ihre Name wirklich mit zwei t geschrieben wurde.
„B-bitte, ich, ich tu alles, was Sie w-wollen. Wollen Sie Geld? Ich kann Ihnen das
Geld aus der Kasse geben!“
M. Schweittzer war sehr jung, vielleicht eine Schülerin oder Studentin, die sich hier in
der Spätschicht ein bisschen Geld dazu verdiente. Sie war übergewichtig, und ihr
Gesicht erinnerte durch das Fett und die leicht nach oben gebogene Nase ein wenig
an das eines Schweins. Wahrscheinlich machte man sich oft über sie lustig. Zumal
sie ausgerechnet in einem Fast-Food-Restaurant arbeitete.
„B-bitte tun Sie mir nichts!“
Lenore stand eine ganze Weile stumm da und sah M. Schweittzer an. Matthias kam
es so vor, als wären es mindestens fünf Minuten gewesen, aber wahrscheinlich war
es viel weniger.
„Wen muss ich umbringen, um hier einen Burger zu kriegen?“ fragte Lenore in
heiterem Ton.
„W-was?“ stammelte M. Schweitzer.
„Ich bin doch hier in einem Restaurant, oder? Ich stehe hier vor Ihnen, oder? Ich
habe mir Ihre dämliche Speisekarte durchgelesen, oder? Vielleicht will ich ja was
essen, hm? Sagen Sie Ihren Spruch, na los!“
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„Was?“
Lenore lachte leise.
„Versuchen Sie mal, so zu tun, als hätte ich nicht gerade Ihren zurzeit einzigen Gast
und wahrscheinlich treuesten Stammkunden erschossen. Ich gebe zu, dass das nicht
sehr nett von mir war. Behandeln Sie mich, als wäre ich einfach rein gekommen, um
was zu essen, das bin ich nämlich zum großen Teil auch.“
„W-w-was?“
Sie hatte gesagt, dass sie ihn töten wollte. Hier. Das war gar kein Scherz gewesen.
Das wurde ihm jetzt erst klar. Allem zum Trotz konnte er sich ein Grinsen nicht
verkneifen. Es gab wohl doch einen Grund dafür, dass er Taxifahrer war, während
dieser blöde selbstgerechte Arsch und sein Sitznachbar zu Unizeiten Timo
Bothmann eine Stelle im Management der Deutschen Bank gefunden hatte.
Lenore drehte sich zu ihm und Marten um, mit einem Blick als wollte sie sagen: ‚Was
ist denn mit der los?’
Dann wandte sie sich wieder M. Schweitzer zu.
„Ist heute Slow-Food-Abend, ja? Sprechen Sie mir nach: Guten Abend, Ihre
Bestellung bitte?“
„G-guten Abend, Ihre B-b-bestellung b-bitte?“
„Wissen Sie, was immer ein Problem für mich ist, wenn ich bei Ihnen esse?“ fragte
Lenore sehr leise.
„W-was?“
Matthias sah sich noch einmal in dem großen Raum um. Der dicke Mann lag immer
noch tot auf seinem Essen. Der dünne Blonde hockte immer noch an seinem Tisch
und hoffte inständig, dass man ihn einfach vergessen würde. Der Behälter mit den
Strohhalmen war immer noch leer. Aber- Matthias hätte fast aufgeschrieen vor
Überraschung. In dem Zugang zu den Waschräumen stand ein Mann. Er hätte der
Bruder des Toten sein können, und vielleicht war er es sogar. Die beiden mussten
zusammen gekommen sein. Er machte zwei Schritte auf den Toten zu und starrte ihn
mit offenem Mund an.
„Ich mag kein Ketchup auf meinem Burger.“
„Was?“
„Wissen Sie, was in Pulp Fiction mit dem Kerl passiert, der das dauernd sagt?“
Der dicke Mann aus dem Waschraum hatte sich Lenore zugewandt, und seinem
Gesichtsausdruck nach hatte er erraten, was passiert war, falls er es nicht sogar
selbst gesehen hatte. Er starrte Lenore mit einem Blick an, der allen Hass und alle
Wut der Welt ausdrückte.
Und dann fing er an, langsam auf sie zuzugehen.
„Halten Sie es für möglich, dass Sie mir…“
Lenore verstummte und wirbelte herum.
„Wo kommen Sie denn jetzt auf einmal her?“
Er antwortete nicht. Er ging einfach weiter auf sie zu, mit diesem irren Blick, und
steckte eine Hand in seine Jackentasche.
„Matthias und Marten, geht weg von mir. Da hinten zu diesem Magazinständer, und
haltet die Füße still“, sagte sie aus dem Mundwinkel.
Matthias griff nach Martens Ärmel, um ihn mit sich zu ziehen, aber der schien sich
inzwischen ein bisschen gefangen zu haben. Er ging von selbst.
„Du wolltest mir ja nicht glauben…“ murmelte er.
„Kommt nicht wieder vor, Kumpel.“
„Sie sollten jetzt wirklich stehen bleiben“, sagte Lenore.
Wie die Tauben in der Hand eines Zauberers erschien plötzlich wieder die Pistole,
schneller, als Matthias’ Auge der Bewegung folgen konnte. Aber diesmal war etwas
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nicht in Ordnung, das konnte er schon sehen, bevor die Waffe aus Lenores Hand fiel
und über den Boden rutschte, bis sie auf einen Stuhl traf und liegen blieb.
Lenore starrte mit einer Mischung aus Verwirrung und Wut auf ihre rechte Hand, die
heftig zitterte, als wäre da ein Fremdkörper am Ende ihres Armes, den sie noch nie
gesehen hatte.
Der Dicke ging einfach weiter. Er war nur noch drei oder vier Meter von ihr entfernt.
Matthias wollte Marten gerade noch weiterziehen, als es plötzlich losging. Alles
schien gleichzeitig zu passieren. Matthias bekam es kaum richtig mit.
Der Dicke zog die Hand aus seiner Tasche. Er trug einen Schlagring. Mit einem
dröhnenden Brüllen sprang er auf Lenore zu, die noch immer fassungslos auf ihre
zuckende Hand starrte. Erst im letzten Augenblick sah sie auf und versuchte,
auszuweichen. Dennoch streifte der Schlagring sie seitlich am Kopf. Ihr Gesicht
nahm einen entrückten Ausdruck an, der unter anderen Umständen vielleicht
komisch gewirkt hätte, und sie fiel mit einem dumpfen Geräusch auf die Knie.
Der Dicke stand vor ihr, und zuerst dachte Matthias, dass er auf Lenore herab blickte
und wunderte sich über die Fassungslosigkeit in seiner Miene. Dann wurde ihm klar,
dass der dicke Mann auf einen Dolch starrte, der in seiner Brust steckte. Matthias
hatte keinerlei Vorstellung, wann und wie Lenore den dicken Mann erstochen hatte.
Wo war der Dolch überhaupt hergekommen? Hatte sie mehr als zwei Hände?
Während der dicke Mann hintenüber kippte und sein Kopf mit einem unangenehmen
Laut auf den Boden schlug, fiel Lenore vorwärts auf ihre ausgestreckten
Handflächen. Sie kniff die Augen zusammen, blinzelte, zitterte, schüttelte den Kopf
und bewegte langsam die Lippen.
Seit alles angefangen hatte, waren vielleicht eine oder zwei Sekunden vergangen.
In diesem Augenblick dachte Matthias zum ersten Mal daran, dass er auch etwas tun
konnte und dass dies möglicherweise seine letzte Chance war, sein Leben zu retten,
und das der anderen. Er suchte die Pistole. Sie lag noch immer vor dem Stuhl auf
dem Boden, einen knappen Meter von Marten entfernt.
Matthias hätte fast laut aufgeschrieen vor Freude, als er sah, wie Marten aufblickte,
seine Hand nach der Waffe ausstreckte und sie ergriff.
Als Marten wankend mit der Waffe aufstand und Lenore zur Seite umfiel und auf den
Rücken rollte, stieß er wirklich einen Triumphschrei aus. Ihr blick war starr auf die
Decke gerichtet, ihr Gesichtsausdruck noch immer stumpf und leer.
Seit alles angefangen hatte, waren jetzt etwa zwei Sekunden vergangen.
Für einen Moment dachte Matthias, jetzt würde alles gut werden. Dann sah er
Martens Gesichtsausdruck. Und dann kreischte Marten mit sich überschlagender
Stimme:
„LASST MICH ALLE IN RUHE IHR BLÖDEN SCHEIßER!“
Er taumelte ein paar Schritte rückwärts, stieß gegen einen Stuhl, taumelte in eine
andere Richtung, schoss, und eine Fensterscheibe zersprang. Matthias warf sich zu
Boden, weil die Leute im Fernsehen das in solchen Momenten auch immer taten.
„NIEMAND BEWEGT SICH IHR SCHEIßSCHWEINE!“
Matthias sah, dass auch der Hinterwäldler am Boden lag, mit über dem Kopf
gefalteten Händen.
„Was ist dein Problem, Mann?“ rief Matthias Marten zu.
„WAS WOLLT IHR DENN ALLE VON MIR?“ kreischte Marten.
Matthias sah zu Lenore hinüber, als er sie etwas sagen hörte. Sie sprach undeutlich
und ziemlich schnell, deswegen verstand er sie nicht. Er hatte den sehr
besorgniserregenden Eindruck, dass er der Einzige hier war, der noch wusste, was
er tat.
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Nicht, dass ihm das viel genützt hätte, denn er hatte keine Ahnung, was er überhaupt
tun konnte.
Plötzlich kam Bewegung in Lenore. Sie hob ihren Kopf und sah sich um.
„Ergois philous gignoske, mä monon logois fuck fuck fuck fuck FUCK!”
Sie sprang in einer akrobatischen Bewegung auf die Füße. Matthias hob seinen Kopf
ein wenig, um sehen zu können, was sie tat. Sie schwankte ein wenig, schien sich
aber ansonsten gut von dem Schlag erholt zu haben.
„Was glaubst du, was du da machst, hm?“ keifte sie, während sie auf Marten zueilte.
„Du wirst jetzt augenblick…“ Dann sah sie den Ausdruck in seinem Gesicht, ihre
Stimme verklang und sie blieb ruckartig stehen, die Hand noch ausgestreckt, weil sie
vorgehabt hatte, ihm die Waffe wegzunehmen.
„Haluzinogeninduzierte akute Paranoia“, murmelte sie.
Marten schoss, und der leere Strohhalmbehälter explodierte ziemlich knapp neben
Lenore. Sie war wohl die einzige im Raum, die nicht erschrocken zusammenzuckte,
Marten selbst eingeschlossen.
Matthias konnte ihr Gesicht nicht besonders gut sehen, aber er meinte doch, darin
einen Ausdruck zu erkennen, der nicht besonders gut zu ihr passte. Sie schien Angst
zu haben.
„Marten“, sagte sie, jetzt in einem ganz anderen, freundlich beschwichtigenden Ton.
„Marten, was machen Sie denn da mit der Pistole?“
„GEH WEG! GEHT ALLE WEG!“ kreischte er, und schoss noch einmal und traf
diesmal den Fußboden links von sich.
„Marten, Sie müssen sich beruhigen, hören Sie?“
Sie ging so vollkommen in ihrer neuen Rolle auf, dass Matthias sich bewusst daran
erinnern musste dass sie die Wahnsinnige hier war und auf keinen Fall die Waffe
zurückbekommen durfte.
„Vorsicht, Marten, lass sie nicht zu nah heran kommen!“ rief er.
„Lasst mich doch alle in Ruhe!“ bat Marten, viel leiser als vorher.
„Das werden wir“, versprach Lenore ihm leise, „ Niemand hier will Ihnen etwas tun.
Sie müssen nur aufhören, uns mit der Waffe zu bedrohen. Lassen Sie sie einfach
fallen, ja? Niemand will Ihnen wehtun.“
Matthias war sich nicht sicher, ob er damit etwas Gutes tat oder überhaupt etwas
änderte, aber er rief:
„Doch, das will sie! Sie wird uns alle umbringen! Gib sie ihr nicht, Marten! „
Nicht, dass er sich wesentlich sicherer fühlte, solange Marten die Waffe noch hatte.
Lenore beachtete ihn gar nicht, und Marten ließ durch nichts erkennen, dass er ihn
gehört hatte. Was machten eigentlich die beiden Burgerbrater? Waren die
eingeschlafen?
„Marten, lassen Sie die Pistole fallen, bitte.“
Er dachte kurz darüber nach, zu ihr hinzulaufen und sie zu überwältigen. Dann fiel
ihm wieder ein, wie sie den dicken Mann erstochen hatte, ohne dass er auch nur
mitbekommen hätte, was geschah. Abgesehen davon würde Marten vielleicht auf ihn
schießen, wenn er jetzt plötzlich aufsprang.
„Was willst du denn von mir?“ Marten klang jetzt nicht mehr, als wäre er von haltloser
Panik erfasst. Er klang weinerlich.
Matthias befürchtete, dass Lenore früher oder später wieder an die Pistole kommen
würde, wenn er nichts unternahm. Aber was sollte er unternehmen?
„Ich will gar nichts von Ihnen, Marten. Legen Sie einfach die Waffe weg, und dann
können Sie gehen. Ihnen wird nichts passieren.“
„Wirklich?“ Eine Träne lief über seine rechte Wange. „Ich will doch nur nach Hause…
Ich hab doch niemandem was getan. Ich kenn euch doch alle gar nicht.“
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Lenore ging ein paar Schritte auf ihn zu, noch immer mit ausgestreckter Hand.
„Das weiß ich doch, Marten. Alles wird gut werden. Geben Sie mir einfach die Waffe,
ja? Dann wird alles gut.“
Marten begann zu schluchzen. Spätestens jetzt war Matthias davon überzeugt, dass
sie es schaffen würde. Er überlegte immer noch, was er tun sollte. Vielleicht war
Flucht die beste Möglichkeit. Er sah eine Notausgangstür neben der Theke.
„Wirklich? Kann ich dann nach Hause gehen? Ich will doch bloß nach Hause“,
schluchzte er.
Er müsste es schaffen. Lenore war zu sehr mit Marten beschäftigt, um ihn
aufzuhalten. Sogar wenn sie es bemerkte, was sollte sie tun? Sie konnte ihm nicht
nachlaufen, das wäre zu riskant.
Er begann, auf die Notausgangstür zuzukrabbeln.
„ICH HABE GESAGT NIEMAND BEWEGT SICH!“ kreischte Marten plötzlich.
Matthias hörte das Krachen eines weiteren Schusses, etwas hinter der Theke
platzte, und eine Flüssigkeit lief aus.
Als er sich umdrehte, kniete Lenore bereits auf Martens Rücken und war gerade
dabei, seine Arme mit einer Kunststofffessel aneinander zu binden.
„Das war Ihr letzter Schuss, Marten“, murmelte sie dabei, „Machen Sie sich nichts
daraus, Sie konnten das nicht wissen. Sie waren ja nicht immer dabei, wenn ich sie
benutzt habe.“
Von der Pistole war nichts mehr zu sehen. Jetzt wurde es aber Zeit. Er beschloss,
alles auf eine Karte zu setzen, stand auf und lief zur Tür. Er kam nicht besonders
weit. Ein hilfloses Röcheln entrang sich seinem Hals, als Lenore seinen Kragen
packte und er rücklings umfiel. Sie trat mit dem rechten Fuß kräftig auf seine Brust,
presste ihn zu Boden und hielt ihre Waffe in sein Gesicht.
„Warum?“ fragte er mit einem Blick in den Raum. „Was soll das alles?“
Für einen Moment flackerte wieder die Furcht durch ihr Gesicht, die er vorhin
gesehen hatte. Oder war dies eine andere Furcht? Sie öffnete den Mund und schloss
ihn wieder, ein paar Mal, fast, als würde sie auf etwas herumkauen.
„Ich weiß nicht“, antworte sie schließlich. „Ich – ich weiß – ich meine…“ Sie blinzelte
und schüttelte ihren Kopf. „Ich hatte einen Grund, hierherzukommen, aber…“
Sie stockte, ihre hellgrünen Augen sahen für kurze Zeit direkt in seine, und es fühlte
sich beinahe an, als würde in diesem Moment eine besondere Verbindung zwischen
ihnen entstehen, als sähe sie in seine Seele und er in ihre. Aber natürlich geschah in
Wirklichkeit nichts dergleichen.
„Warum erzähle ich Ihnen das?“ fragte sie, und erschoss ihn.
„Wir haben Clearance, Clarence.“
„Ich fand es das letzte Mal nicht lustig, und das davor auch nicht, und das Mal davor
auch nicht.“
Kira war die mit dem Pilotenschein, und Clarence saß nur daneben, las Death’s Acre
und freute sich auf die Zeit, wenn die Klimaanlage die widerwärtige Mittagshitze
Kameruns aus dem Cockpit vertrieben hatte.
„Aber diesmal war es schon ziemlich gut, oder?“ fragte sie, während sie die kleine
Propellermaschine auf die Startbahn lenkte. Wie der Rest des Flughafens bestand
auch die Startbahn im Grunde aus nicht mehr als einem möglichst gut gepflegten
und etwas breiteren Feldweg. Die Fahrt war ziemlich holprig, aber es reichte zum
Abheben.
„Äh… Ja.“ Clarence seufzte. „Wusstest du, dass eine Leiche in einem Zeitraum von
24 Stunden zwanzig Kilogramm Gewicht verlieren kann?“
„Zwanzig? Nein, das glaub ich nicht.“
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„Doch, das stimmt. Steht hier.“
„Ach was. Quatsch.“ Kira verschränkte die Arme vor ihrer Brust und sah Clarence
herausfordernd an. Als er ihren Blick einfach erwiderte und schwieg, schob sie
ungläubig nach:
„Wo soll das denn alles hingehen? Das verdampft doch nicht!“
„Maden. Meinst du nicht, dass du jetzt wieder mit Lenken anfangen solltest?“
Kira seufzte und legte die Hände wieder an das Lenkrad. „Maden“, sagte sie
zweifelnd.
„Maden“, versicherte Clarence.
Knapp zwei Minuten vergingen in Schweigen, während Kira darüber nachdachte.
„Ja, aber dann sind doch die Maden in der Leiche und wiegen dann eben zwanzig
Kilo… Zwanzig Kilo Maden sind eine ziemlich kranke Vorstellung, oder?“
„Finde ich auch. Ich nehme mal an, dass die weg kriechen oder… metamorphieren
und dann wegfliegen.“
Sie zog das Lenkrad zu sich und die Maschine hob ab. „Geht das so schnell?“
„Was weiß ich denn, ich bin doch kein Entomologe.“
„Wolltest nur mal mit deinem Halbwissen rumprahlen, was?“
„Genau.“
Die beiden waren auf dem Weg nach Takoradi.
„Fressen Maden eigentlich auch andere Maden?“ fragte Kira.
„Niemals. Die fressen doch nur totes Fleisch.“
„Und wenn die anderen Maden tot sind?“
Clarence seufzte resigniert, merkte sich die Seite, klappte sein Buch zusammen und
legte es in sein Seitenfach. Kira würde so bald nicht aufgeben. „Dann fressen sie sie
vielleicht.“
„Und du glaubst, so eine Made merkt den Unterschied?“
„Warum nicht?“
„Naja, mir kommen die nicht besonders clever vor.“
„Warum haben wir dann keine Maden, die uns fressen, wenn die den Unterschied
nicht merken?“
„Weil wir nicht zulassen, dass irgendwelche blöden Fliegen Eier in uns legen?“
„Ja…“ Clarence kratzte sich an der Nase. „Ja, das macht Sinn. Aber es ist doch nun
mal so, dass Maden keine anderen Maden fressen.“
„Woher weißt du das?“
„Das weiß doch jeder.“
Sie waren auf dem Weg zu Mkoba, der Vermittlerin. Sie wollten mit ihr reden, und es
würde eines dieser Gespräche werden, die man einfach nicht über das Telefon
führen kann.
„Ja?“ fragte Kira.
„Ja“, sagte Clarence.
„Ich wusste es nicht.“
„Ich liebe dich trotzdem, Schatz.“
„Es gibt ja auch Menschen, die Maden essen.“
Sie waren sich jetzt ziemlich sicher, dass Mkoba sie verraten hatte.
„Tote oder lebende?“
„Die Menschen oder die Maden?“
„Die Maden natürlich. Tote Menschen essen ja nichts mehr.“
„Tote Maden auch nicht.“
Clarence legte seine Stirn in Falten und schüttelte den Kopf, als wollte er etwas
abschütteln.
„Ja… Ja, stimmt. Hast recht… Können wir über was anderes reden?“
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„Du hast doch angefangen!“
„Und das bedaure ich sehr.“
Mkoba würde nicht lange Freude an ihren 30 Silberlingen haben.
„Wir können auch über Goofy sprechen“, schlug Kira vor.
„Nicht das schon wieder.“
„Ist doch aber so! Wenn Pluto ein Hund ist, dann kann Goofy doch unmöglich auch“
„Schweig, wenn du weiter leben willst.“
„Man schätzt ja, dass zwei Drittel aller Frauen gelegentlich Opfer häuslicher Gewalt
werden.“
„Bestimmt haben sie es verdient.“
Kira und Clarence waren ziemlich gut gelaunt, in Anbetracht der Umstände.
Als Marten wieder zu sich kam, fiel ihm zuerst ein durchdringender Geruch nach
Fäkalien auf. Gleich danach, dass er auf dem Bauch auf dem Boden lag und seine
Hände auf seinem Rücken zusammengebunden waren. Seine Nase pulsierte
schmerzhaft, wahrscheinlich, weil er darauf gefallen war.
Als nächstes vernahm er eine Frauenstimme, die scheußlich schief den Refrain von
‚Bridge over Troubled Water’ vor sich hin sang.
Er versuchte sich umzusehen, konnte aber nicht viel erkennen. Er lag anscheinend in
der Küche, um sich herum sah er die Stahlfronten der verschiedenen Friteusen und
Herde, und dann kamen Lenores Nike-Schuhe in sein Sichtfeld.
„Das war nicht sehr nett, was Sie da vorhin versucht haben“, sagte sie. „Ich kenne
ein paar Leute, die Ihnen jetzt kein Essen mehr anbieten würden.“
„Was?“
Langsam und stückchenweise kehrte seine Erinnerung zurück. Er hatte einfach die
Nerven verloren. Das musste einer von diesen Flashs gewesen sein, die Kalle
manchmal hatte. Hatte er wirklich auf Menschen geschossen? Er schwitzte, obwohl
ihm kalt war.
„Das höre ich öfter in letzter Zeit. Fange an, mich zu fragen, ob das an mir liegt. Wie
mögen Sie Ihre Burger? Es herrscht freie Auswahl zurzeit, ist das nicht wunderbar?
Das Mädchen hat gesagt, dass es die Sachen auch so zubereiten würde, wie ich will,
aber ich sage immer, wenn man was ordentlich gemacht haben will, muss man es
selbst machen. Außerdem darf sie das bestimmt gar nicht, und ich will nicht dran
Schuld sein, dass sie ihren Job verliert.“
„Was?“
Er fürchtete, dass er tatsächlich geschossen hatte. Offenbar hatte er sein Ziel nicht
getroffen. Er hoffte inständig, dass er auch alle anderen verfehlt hatte und versuchte
vergeblich, sich trotz seiner Zwangshaltung nach ihnen umzusehen. Er begann, ein
bisschen zu verstehen, wie Kalle sich während und nach ihren Flashs fühlen musste.
Er zitterte, und der Schweiß war überall und ekelhaft klebrig. Es wurde Zeit, dass er
von dem verdammten Zeug loskam. Wenn diese Irre wenigstens mit ihrem
verdammten Burgergefasel aufhören würde…
„Was. Wollen. Sie. Essen?“
„Was ist mit Ihnen los? Was wollen Sie von mir? Warum Ummmpf!“
Sie hatte ihm richtig mit Schwung seitlich in den Bauch getreten. Er rollte sich auf die
Seite und krümmte sich zusammen. Er versuchte reflexhaft, sich mit seinen Händen
zu schützen, aber die waren ja hinter seinem Rücken zusammengebunden. Das
dünne Kunststoffband schnitt in seine Handgelenke. Wenigstens trug sie keine
Wanderstiefel. Es tat trotzdem furchtbar weh.
„Marten.“
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Als er nicht antwortete, trat sie ihm noch einmal in den Bauch. Sie trat diesmal mit
deutlich weniger Kraft zu, aber es tat immer noch höllisch weh. Er erbrach sich.
„Marten?“
„Ja…“ stieß er unter Husten und Würgen hervor, um einen weiteren Tritt zu
vermeiden.
„Marten, was haben Sie gerade gelernt?“
„Was?“
Immerhin konnte er sie aufgrund seiner veränderten Position jetzt sehen, wenn auch
nur von hinten. Sie hatte sich wieder dem Herd zugewandt, auf dem sie offenbar
gerade etwas briet. Burger vermutlich.
„Marten…“ Sie zog seinen Namen drohend in die Länge.
Er sollte sich wohl möglichst schnell eine plausible Antwort einfallen lassen.
„Äh… Du stellst hier die Fragen?“
„Dicht genug dran.“ Sie nickte, ohne sich zu ihm umzudrehen. „Und jetzt machen wir
gleich mal die Probe aufs Exempel. Marten, hören Sie mir zu?“
„Ja.“
Er nickte eifrig, bevor ihm klar wurde, dass sie ihn gar nicht sehen konnte.
„Was wollen Sie essen, Marten?“
Er wollte gar nichts essen. Es lag nicht nur an dem widerlichen Gestank.
„Ich… Ist es in Ordnung, wenn ich keinen Appetit habe? Sonst nehm’ ich aber auch
gern was“, fügte er eilig hinzu.
Er war nicht besonders stolz drauf, dass seine Stimme zitterte und sein Körper sich
schon in Erwartung des möglicherweise bevorstehenden Schmerzes anspannte und
er vor Angst zu weinen begann. Aber er konnte nichts dagegen tun. Ihm blieb der
Trost, dass es den meisten Menschen in seiner Position nicht anders gegangen
wäre.
„Neinnein, das ist völlig in Ordnung. Aber wenn Sie nachher Hunger bekommen,
halten wir nicht Ihretwegen an, das ist Ihnen klar, oder?“
„Ja… Ja, das ist in Ordnung.“
Er hätte fast noch einmal gefragt, was sie mit ihm vorhatte. Oder wo sie hinwollte.
Aber er wagte es nicht. Hatte Pedro sie geschickt? Aber wenn Pedro so jemanden
kannte, hätte er davon gehört. Oder?
„Vielleicht packen wir was für Sie ein. Was mögen Sie? Rein hypothetisch, für
später?“
Marten konnte sich gerade beim besten Willen nicht vorstellen, in näherer Zukunft
etwas essen zu wollen, aber er hielt es für keine gute Idee, ihr das zu sagen.
„Ich esse sonst immer… Wir sind hier bei McDonald’s, oder?“
Blöde Frage. Hier war alles voll mit goldenen M-Symbolen, aber er hatte
Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren. Er zuckte zusammen, als ihm klar wurde,
dass er eine Frage gestellt hatte. Sie schien es nicht zu bemerken, oder es störte sie
nicht.
„Ja, sind wir. Es gibt heute eine Sonderaktion, alles ist umsonst, und Sie brauchen
nicht mal diese dämlichen Coupons, also bestellen Sie einfach, was Ihr Herz
begehrt.“
Er atmete durch.
„Ich… Dann nehm’ ich bitte… einen BigMäc, Fanta, Pommes, und… neun Chicken
McNuggets mit Barbecue-Soße?“
„Bäh!“ rief sie laut und wirbelte zu ihm herum.
Marten hörte sich ein leises erschrockenes Quieken ausstoßen.
„Marten, Sie sind eklig! Fanta! Barbecue-Soße… Na, es ist Ihre Beerdigung.“ Sie
zögerte kurz, dann schob sie ihre Unterlippe vor und sah ihn schmollend an.
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„Außerdem haben Sie gar keine Sonderwünsche! Hören Sie mal, das ist eine
einmalige Gelegenheit.“
Er hielt es für opportun, einen Sonderwunsch zu äußern, obwohl er mit dem Essen
bei McDonald’s immer ziemlich zufrieden gewesen war.
„Können Sie ein bisschen mehr Soße dazu tun, bitte? Die sind sonst immer so
trocken.“
„Sie sind echt nicht ganz dicht.“
Sie zuckte die Schultern und schob ein paar Burger mit ihrem Spachtel auf ein
Tablett. Sie legte den Spachtel kurz zur Seite und massierte beiläufig ihren Kopf, als
hätte sie Schmerzen. Ihm fiel auf, dass sie sogar eine Schürze angelegt hatte. Und
dass ein bisschen geronnenes Blut an ihrer rechten Schläfe klebte.
„Finden Sie es nicht auch entsetzlich, dass ein Buch überall auf der Welt ‚Verbrechen
und Strafe’ heißt, aber nur hier ‚Schuld und Sühne’, weil irgendwann vor Jahrzehnten
mal irgendwo jemand meinte, das würde besser klingen? Es ist eine gottverdammte
Heldentat von Swetlana Geier, das Buch mit dem richtigen Titel neu rauszubringen,
wenn Sie mich fragen. Ich meine, wenn ich ein Buch übersetze, dann habe ich doch
eine Verpflichtung gegenüber dem Künstler und dem Werk. Und wenn ich dann
bewusst schlecht übersetze – und ein Übersetzer, der Schuld und Sühne nicht von
Verbrechen und Strafe unterscheiden kann, verdient seinen Namen nicht – dann
verrate ich diese Verpflichtung. Oder was meinen Sie?“
„Ähm, ja, sicher.“
Marten hatte überhaupt nicht zugehört.
„Sie haben überhaupt nicht zugehört, oder?“
„Doch, sicher, hab ich.“
Er starrte auf die Straße vor dem Taxi, das Lenore lenkte. Das Bild erinnerte ihn an
diese Szene am Ende von Terminator II, wo die Dunkelheit jenseits der Scheinwerfer
für die ungewisse Zukunft steht. Sie fuhr sehr vorsichtig und routiniert. Von
jemandem, der ohne groß nachzudenken fünf Menschen in einem Restaurant
erschießt, hätte er einen anderen Fahrstil erwartet. Wahrscheinlich wollte sie nicht
wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung angehalten werden. Er hatte immer
noch keine Ahnung, was sie eigentlich vorhatte, aber sicherlich wurde es von der
Rechtsordnung missbilligt. Er sollte ihr den Weg zur Wohnung seiner Schwester
zeigen. Er hatte nicht lange gezögert. Vielleicht hätte man von einem heldenhaften
Bruder erwartet, dass er Schmerzen mannhaft ignorierte und falls nötig auch sein
eigenes Leben gab, um sie zu schützen. Marten war kein Held. Trotzdem hatte er
darüber nachgedacht, wie er Sonia warnen könnte, aber er hatte das Gefühl, dass
Lenore gar nicht damit rechnete, sie dort vorzufinden.
„Weil ich Probleme hab, die keinen intressiehieren…“ sang sie leise. „Ich werde Sie
jetzt nicht fragen, was ich gesagt habe.“
„Danke.“
„Hier jetzt rechts?“
„Mhm.“
Würde sie seine Schwester töten? Und was wollte sie von ihm?
Marten wurde klar, dass sie ihn nicht am Leben lassen würde. Natürlich hatte er das
im Grunde schon vorher geahnt, aber erst jetzt war ihm die Erkenntnis ganz bewusst
geworden, und nun war auch die Konsequenz offensichtlich: Er musste fliehen. Er
musste alles daran setzen, denn Flucht war seine einzige Chance.
Nur wie? Seine Hände waren immer noch auf seinem Rücken zusammengebunden,
und er war sich auch ohnehin nicht sicher, ob es eine gute Idee wäre, aus dem
fahrenden Auto zu springen. Er hatte nicht mitbekommen, wie wenig Matthias sein
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Fluchtversuch genützt hatte, aber er ahnte dennoch, dass Lenore ihn nicht einfach
gehen lassen würde.
Er sah sich um. Ein Taxi eben. Keine herumliegenden Taschenmesser, und Lenore
hatte auch ihre Pistole nicht achtlos neben seinen Händen vergessen.
Er konnte die Scheibe zertreten, um dann mit einer Scherbe seine Fessel zu
zerschneiden. Dann würde er Lenore entwaffnen, sie aus dem Auto zu Boden werfen
und mit ihren eigenen Kunststoffschnüren fesseln, sie über seine Schulter werfen,
seine imposanten Schwingen ausbreiten und mit ihr zum nächsten Polizeirevier
fliegen. Klar. Vielleicht machte er noch einen kurzen Umweg über Afghanistan und
zerschmetterte Osama Bin Laden mit einem Feuerball aus seiner Nase.
„Wir müssten jetzt bald da sein“, sagte sie.
Er schwieg. Er wusste nichts, was er sagen konnte.
„Sie müssen mir dort einen kleinen Gefallen tun, Marten.“
Er lachte auf.
„Gerne doch.“
„Sie müssen für mich in die Plan Ihrer Schwester gehen, Marten.“
Sie stockte und schüttelte ihren Kopf. Der Wagen verlor ein bisschen an
Geschwindigkeit, als ihr Fuß vom Pedal glitt.
„In die… Verdammt, ich…“
Sie schüttelte ihren Kopf und fuhr sich mit beiden Händen durch ihr Gesicht. Der
Wagen begann, auf die linke Spur zu driften, auf der ihnen gerade in diesem Moment
ein LKW entgegenkam. Marten schrie, der LKW hupte und wich auf den
glücklicherweise menschenleeren Fußweg aus, und Lenore wurde klar, dass die
Situation möglicherweise ein bisschen gefährlich war. Sie ergriff wieder das Lenkrad,
verdrehte ihre Augen, fletschte die Zähne - und kreischte, wütend und schrill und
beängstigend. Martens Herz wäre beinahe stehen geblieben, so erschrocken war er
über den gellenden Schrei. Und dann war es genauso plötzlich wieder vorbei. Lenore
fuhr, als wäre nichts gewesen, und sprach - beinahe - als wäre nichts gewesen.
Vielleicht zitterte ihre Stimme bei den ersten Worten ein bisschen.
„Sie müssen die Wohnung Ihrer Schwester aufsuchen. Wahrscheinlich werden Sie
dort einige Polizisten finden. Falls keine da sind, kommen Sie bitte sofort zurück zu
mir, dann kann ich mich selbst um die Sache kümmern. Andernfalls müssen Sie mir
Sonias Arbeitsunterlagen bringen. Wissen Sie, wo Sonia das Zeug aufbewahrt?“
„Was ist mit Sonia? Warum sind da Polizisten?“
Er war sicher nicht der beste Bruder der Welt, aber er liebte seine Schwester. Und
obwohl ihm wie so oft seine eigenen Probleme zurzeit viel dringlicher erschienen,
wurde ihm allmählich klar, dass auch Sonia in Gefahr war.
„Diese Frage beschäftigt mich auch“, antwortete Lenore. „Die erste, meine ich. Ich
fürchte, dass es ihr gut geht, machen Sie sich da keine Sorgen. Wissen Sie, wo
Sonia ihre Arbeitsunterlagen aufbewahrt?“
„Was ist passiert, verdammt? Ich will jetzt wissen Aaah!“
Ohne ihn anzusehen, hatte Lenore seine Nase mit zwei Fingern ihrer rechten Hand
gepackt und verdrehte sie nun so kräftig, dass Tränen in seine Augen stiegen.
„Nicken Sie, wenn Sie bereit sind, mir jetzt zuzuhören“, sagte sie.
Er versuchte es. Seine Nase war ohnehin schon angeschlagen, und er spürte
Übelkeit in sich aufsteigen vor Schmerz und Angst.
Marten hatte nie über eine besonders hohe Schmerztoleranz verfügt, und er hatte
auch noch nie in seinem Leben echte Schmerzen erlebt. Seine verdrehte Nase kam
ihm vor wie die grausamste Foltermethode, die sich je ein wahnsinniger Träger einer
kreisrunden Brille im weißen Kittel hatte einfallen lassen.
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„Marten, mir ist klar, dass diese Situation für Sie ungewohnt und verwirrend ist. Ich
verstehe, dass Sie sich Sorgen um Ihre Schwester machen. Aber wenn Sie noch
einmal auf eine Frage von mir mit einer Gegenfrage antworten, oder auch wenn Sie
sonst irgendwas tun, was mich verärgert, ich entscheide das dann von Fall zu Fall,
dann werde ich Ihnen einen Finger brechen. Das tut gemein weh, glauben Sie mir
das, und Sie haben zehn davon. Ich nehme an, dass Sie es spätestens nach der
ersten Hand gelernt haben werden. Haben Sie mich verstanden?“
Sie war die ganze Zeit über weiter gefahren. Offenbar lenkte es sie nicht übermäßig
ab, Marten zu quälen, zu bedrohen und zu demütigen. Ihr Ton war geschäftsmäßig,
wie ein Versicherungsvertreter, der einem Kunden die Einzelheiten seines Vertrags
erklärte. Keine Spur mehr von ihrer Verwirrung von vorhin.
Er versuchte zu nicken.
Sie ließ seine Nase wieder los. Mit einem leisen erbärmlichen Wimmern atmete er
ein. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er die Luft angehalten hatte. Er wollte reflexartig seine
pulsierend schmerzende Nase mit seinen Händen umfassen, aber die Fesseln ließen
das nicht zu.
„Achtung Marten, ich stelle jetzt zum dritten Mal meine Frage. Ich habe
Kopfschmerzen und fühle mich auch sonst nicht so gut. Sollten Sie jetzt schon
wieder nicht vernünftig antworten, kann es sein, dass ich aus Frust überreagiere und
erst im Nachhinein dann auch noch wie versprochen den Finger breche, wenn sich
der rote Nebel vor meinen Augen gelegt hat und ich wieder zu mir komme. Also
aufpassen, jetzt: Wissen Sie, wo Ihre Schwester ihre Arbeitsunterlagen aufbewahrt?“
„Ja, ich glaube schon. Sie hat einen Schreibtisch in ihrem Schlafzimmer, darauf
liegen immer ein paar Ordner.“
„Hat sie auch einen Computer?“
„Ja, da könnte auch was drauf sein.“
„Bringen Sie den bitte nicht ganz mit, dann wundern sich die Polizisten. Brennen Sie
mir ein bisschen was auf eine CD und dann formatieren Sie die Platte, sehen Sie zu,
dass es nicht zu lange dauert, es muss hauptsächlich überzeugend aussehen. Ach
ja, und fragen Sie die Polizisten nach Ihrer Schwester. Sie wissen bestimmt nichts,
aber man kann’s ja versuchen.“
„Gut.“
Seine Nase tat wirklich furchtbar weh. Der Schmerz lenkte ihn ab, er konnte sich gar
nicht mehr richtig konzentrieren. Er hoffte, dass ihm nichts Wichtiges entging.
„Darf ich noch etwas fragen?“ fragte er schüchtern und leise.
„Klar.“
Sie fuhr in eine Parklücke am rechten Straßenrand.
„Hier ist es nicht“, sagte er leise.
Er biss sich auf die Zunge, in der sicheren Erwartung einer Strafe. Aber es kam
keine.
„Ich weiß“, sagte Lenore. „Aber es ist nicht mehr weit, das schaffen Sie zu Fuß.
Beugen Sie sich mal ein bisschen vor.“
Er tat es, und sie zerschnitt seine Handfessel. Sofort fuhren seine Hände zu seiner
Nase, um sie mitleidig zu betasten.
„Sie haben wahrscheinlich zurzeit zu viel Angst vor mir, um auf diese Idee zu
kommen“, begann sie zu erklären, „Aber wenn Sie dieses Auto verlassen haben,
mich nicht mehr sehen können und mit diesen Polizisten reden, dann werden Sie
sich wahrscheinlich ziemlich sicher fühlen. Sie werden auf die sonderbarsten
Gedanken kommen und sich fragen, warum Sie zu mir zurückkommen sollten. Sie
werden denken, dass es doch das Beste wäre, den Polizisten alles zu erzählen und
mich verhaften zu lassen. Dass dann ja alles vorbei wäre.“
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Sie machte eine dramatische Pause und sah ihm in die Augen. Der Blick ihrer
grasgrünen Augen war seltsam, als könnte sie dadurch viel mehr sehen als nur
Äußerlichkeiten. Er schüttelte schwach den Kopf, um anzudeuten, dass er so etwas
nie tun würde. Obwohl es wirklich sehr vernünftig klang.
„Dem ist nicht so“, fuhr sie fort. „Erstens werde ich nicht hier im Auto warten. Ich
werde Ihnen folgen. Ich werde immer irgendwo in Ihrer Nähe sein, auch wenn Sie
mich nicht sehen können. Es ist Teil meines Jobs, nicht gesehen zu werden. Auch
die Polizisten werden mich nicht finden. Und wenn ich merke, dass Sie mich verraten
haben, dann werde ich sehr, sehr nachtragend sein, Marten. Irgendwann werden Sie
dieses Haus verlassen müssen. Vielleicht werde ich dann mit einem Gewehr auf
einem Dach liegen.“ Sie grinste zahnig. „Ich war immer gut mit dem
Scharfschützengewehr. Vielleicht bin ich dann auch noch nicht da. Vielleicht warte
ich ein paar Tage, oder ein paar Wochen. Vielleicht warte ich sogar ein paar Monate.
Und wenn ich dann plötzlich wieder da bin, fange ich vielleicht nicht mit Ihnen an,
Marten. Vielleicht wird eines Tages Ihrer Freundin etwas zustoßen. Ihrer Frau. Ihren
Kindern. Und falls ich dann - ich meine, falls ich… das nicht selbst machen kann,
dann werden andere da sein und meine Arbeit zu Ende bringen. Ich bin nicht allein,
Marten.“
Sie machte noch eine Pause.
„Worauf ich hinaus will, Marten, ist, dass Sie keine ruhige Minute mehr haben
werden, wenn Sie jetzt einen Fehler machen. Sie treffen die Entscheidung, ob heute
Abend alles vorbei ist und Sie wieder zu diesem entsetzlichen Weib und Ihrem LSD
zurückkehren, oder ob Sie sich für den Rest Ihres armseligen Lebens vor mir
fürchten müssen.“
Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter.
„Ist doch eigentlich ganz leicht, oder?“ fragte sie in aufmunterndem Ton. „Sie
schaffen das. Na los, auf geht’s!“
„Wie heißen Sie eigentlich?“ fragte Sonia den langhaarigen Japaner, als er die Tür
zu dem Zimmer öffnete, in dem sie festgehalten wurde. Er brachte ein großes Tablett
mit ihrem Abendessen. Dafür war es zwar eigentlich ein bisschen zu spät, aber zur
eigentlichen Essenszeit war sie bewusstlos gewesen. „Sie können mir auch
irgendeinen Fantasienamen sagen, aber ich würde Sie gerne irgendwie anreden.“
Er lächelte und antwortete: „Nennen Sie mich Kouhei.“
Er stellte das große Tablett auf den Tisch am Fenster, legte eine Hand auf die größte
der silbernen Kuppeln, die die Teller verdeckten und sah Sonia an.
„Möchten Sie jetzt essen?“ fragte er.
Sie nickte und erhob sich von dem Bett, auf dem sie gesessen und die Tageszeitung
gelesen hatte.
„Ich bin hungrig. Aber das hier… sieht so aus, als wäre es trotzdem ein bisschen zu
viel. Wollen Sie mitessen?“
Kouhei schüttelte seinen Kopf.
„Danke, nein. Aber ich kann gerne bleiben und Ihnen Gesellschaft leisten.“
Sie setzte sich, er hob die silberne Kuppel von ihrem Teller und gab den Blick auf ein
traumhaft dekoriertes Gericht aus einem Lachsfilet mit Kräuterkruste, Blattspinat und
gedämpftem Gemüse frei. Es roch traumhaft.
„So leicht könnte ich vergessen, dass ich hier gefangen bin“, murmelte sie, während
sie sich setzte und ihr Besteck aufnahm.
„Sehen Sie es nicht als Gefangenschaft. Sehen Sie es als Schutz“, schlug er vor.
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Sie lachte Leise, während sie begann, ihren Lachs zu zerschneiden. Eine Alte
Kindheitsgewohnheit. Sie zerschnitt ihr Essen immer in mundgerechte Happen,
bevor sie anfing.
„Schutz vor wem denn noch?“ fragte sie. „Ich denke, Sie haben Lenore eine Falle
gestellt.“
„Lenore ist nicht alleine hinter ihnen her. Sie gehört zu einer Organisation.
Außerdem…“ Er zögerte. „Ist sie entkommen.“
Sonia legte die Gabel mit dem Essen drauf auf den Teller zurück und sah zu Kouhei
auf.
„Sie ist entkommen“, wiederholte sie.
Er nickte. „Ja. Was Herr Maas vorhin andeutete, hat sich bewahrheitet. Anscheinend
hat sie einen unserer Agenten und einige Unbeteiligte getötet und ist nun auf der
Flucht, oder auf der Suche nach Ihnen.“
„Fabelhaft…“ Sonia dachte kurz nach. „Wenn sie Ihren, äh, Agenten erwischt hat,
dann weiß sie doch bestimmt, wo wir sind, oder?“
Er schüttelte den Kopf.
„Um Gottes Willen, Kouhei, können Sie sich bitte setzen, ich kann so nicht essen!“
Er zog den gegenüber stehenden Stuhl zurück und setzte sich darauf.
„Danke.“
Sonia schob sich den ersten Bissen in den Mund und begann zu kauen. Es
schmeckte großartig, aber sie konnte sich nicht darauf konzentrieren.
Er begann zu erklären: „Er wird ihr nichts erzählt haben. Erstens erhalten wir
Verhörtraining, und zweitens…“ Er brachte den Satz nicht zu Ende. Stattdessen griff
er in eine Innentasche seines Jacketts, langsam, so dass sie es gut sehen konnte,
und zog eine kleine weiße Kapsel hervor.
„Was ist das?“ fragte sie.
„Ich weiß es nicht genau. Aber wenn ich sie einnehme, bin ich zehn Sekunden später
tot.“
Sonia starrte ihn ein paar Sekunden lang ungläubig an und schüttelte den Kopf.
„Noch was, was es doch nicht bloß im Film gibt. Ihr spinnt doch alle… Dann glauben
Sie also, ich bin in Sicherheit?“
„Nein“, antwortete er. „Lenore ist eine Legende. Sie wird Sie finden.“
„Und dann haben Sie sie!“
„Nein.“ So allmählich fing er an, ihr auf die Nerven zu gehen. „Sie ist eine Legende.
Sie wird uns alle töten, und dann hat sie Sie. Aber es wird eine Ehre sein, im Kampf
gegen sie zu sterben.“ Er hob eine der anderen kleinen Silberabdeckungen von
einem Teller mit einem großen Stück Key Lime Pie. „Genießen Sie, solange Sie noch
können.“
Er grinste und seine Augen funkelten, während er das sagte, aber trotzdem war
Sonia sich nicht sicher, ob er scherzte.
Nachdem er ausgestiegen war und durch die dunklen Straßen in Richtung des
Hauses ging, in dem seine Schwester wohnte, begann Marten tatsächlich zu
zweifeln.
Er drehte sich ein paar Mal um, ohne jemanden hinter sich zu sehen. Er hatte auch
keine Autotür gehört. Wie viel von ihrer hübschen kleinen Rede war bloß Prahlerei
gewesen?
Und wie gut wusste sie überhaupt, was sie tat? Wenn die Wohnung seiner
Schwester wirklich voller Polizisten war, würden die doch wohl kaum zusehen, wie er
ihre Akten wegschleppte.
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Ein hellblauer Golf fuhr an ihm vorbei. Marten konnte kurz einen Blick auf die
Fahrerin und ihren Beifahrer erhaschen. Der Beifahrer kämpfte gerade mit einem
metallisch glänzenden Ballon, der offenbar mit Helium gefüllt war und nicht dort
bleiben wollte, wo er hingehörte.
Er fragte sich, was passieren würde, wenn er diesen Wagen anhalten, ihnen seine
Situation erklären und sich von ihnen zu einem Polizeirevier fahren lassen würde.
Würden die beiden jungen Leute ihm glauben? Würde Lenore plötzlich aus der
Dunkelheit auftauchen und sie töten? Würde sie jeden Menschen töten, dem er sich
anvertraute?
Marten ließ seinen Blick über das Wohngebiet schweifen, durch das er stapfte. Er
betrachtete die erleuchteten Fenster in den langweiligen Mietshäusern, wie alle
gleich aussahen. Er sah eine junge Frau im Licht der Eingangslampe eines der
Mietshäuser stehen und rauchen, und er konnte einen dicken bärtigen Mann sehen,
der die Ellenbogen auf sein Fensterbrett gestützt hatte und hinaus schaute.
Es war ein sonderbarer Gedanke, dass das Leben eines jeden Menschen, dem er
heute Abend begegnete, von seinen Entscheidungen, Lenores Laune und
wahrscheinlich einem guten Teil Zufall abhing.
Er dachte darüber nach, wie sie sich fühlen musste. Ständig zu wissen, dass sie
jeden Menschen, der ihr im Weg stand, einfach erschießen konnte. Die Macht. Die
Last? Spürte sie eine Last, wie Verantwortung oder Schuld? Warum tat sie das alles
überhaupt?
Marten öffnete die Tür zu Sonias Mietshaus und drückte auf den Aufzugknopf.
Und richtete sich darauf ein, zu warten. Was er tun sollte, würde Sonia schaden.
Aber würde es ihr so sehr schaden, dass er sein Leben dafür riskieren sollte, es nicht
zu tun? Immerhin ging es nur um ihre Arbeit. Er sollte ein paar Ordner und Daten
mitnehmen, was war das schon? Es war nicht so, als ob er sie persönlich an Lenore
ausliefern würde. Sie war ja gar nicht da. Es ging ja nur um ein bisschen Papier.
Lenore hatte ihm Angst machen wollen, aber was konnte sie wirklich tun, wenn er
den Polizisten die Wahrheit sagte? Kronzeugen wurden beschützt, das wusste doch
jeder.
Der Aufzug kam nicht. Es war der langsamste Aufzug der Welt, aber das kam Marten
nicht ungelegen. Er brauchte Zeit, nachzudenken.
Was würde sie wohl mit ihm machen, wenn er ihr die Unterlagen gebracht hatte?
Vielen Dank, hier hast du zwei Euro, kauf dir ein Erdbeereis? Klar. Sie hatte keinen
Grund, ihn am Leben zu lassen, oder? Es schien ihr nichts auszumachen, Leute
umzubringen. Warum sollte sie gerade bei ihm aufhören?
Sie schien sich für so eine Art Naturgewalt zu halten, eine schicksalhafte Macht,
deren bloßer Wunsch schon genügte, Dinge geschehen zu lassen, oder so. Na, sie
würde schon sehen, dass sie auch bloß ein Mensch war.
„Geh zur Polizei, haben sie gesagt. Da erlebt man was, haben sie gesagt, da wird
man herausgefordert und kann seine Persönlichkeit weiter entwickeln. Haben sie
doch gesagt, oder?“
„Haben sie gesagt.“
„Ihr Auftreten und Handeln sorgen für Sicherheit, damit das Zusammenleben in der
Bevölkerung in gesicherten Bahnen verläuft, haben sie gesagt.“
„Ja, das haben sie auch gesagt.“
„Aber ich glaube, sie haben nie was davon gesagt, dass man stundenlang vor einer
dämlichen Tür stehen muss.“
„Das haben sie nie gesagt.“
„Sie haben uns auch nicht erklärt, für wessen Sicherheit wir hier sorgen.“
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„Nee, haben sie nicht gesagt.“
„Oder warum das Zusammenleben der Bevölkerung in sichereren Bahnen verläuft,
wenn wir hier stehen.“
„Nun, man könnte den Standpunkt vertreten, dass wir für Sicherheit sorgen, indem
wir die bösen Jungs festnehmen, wenn sie hier auftauchen.“
„Hey, auf wessen Seite stehst du eigentlich?“
„Auf gar keiner.“
„Und ich dachte, du wärst eine Freundin.“
„Bin ich doch!“
„Ich hab nichts getan, dass du mir so in den Rücken fällst!“
„Quatsch.“
„Was hast du dann gemacht, hm?“
„Ich habe nur den Advocatus Diaboli gespielt.“
„War nicht so doll.“
„Nein?“
„Nein.“
„Ich kann’s auch lassen.“
„Wär’ besser.“
„Gut.“
„Gut.“
„Gut.“
„Glaubst du, sie taucht bald hier auf?“
„Was weiß ich denn, ich hab doch nicht mal…“
Die beiden jungen Polizisten unterbrachen ihren Dialog und setzten ihre dienstlichen
Mienen auf, als sie das „Ding!“ des Aufzugs hörten und Lampe über der Tür
aufleuchtete. Ein ziemlich zerzauster junger Mann eilte aus dem Lift auf sie zu und
blieb vor ihnen stehen. Er blickte unsicher von der Tür zu einem von ihnen, dann zu
der anderen.
„Guten Tag“, sagte Maria schließlich. „Können wir Ihnen helfen?“
Er zögerte noch einen Augenblick, dann öffnete er den Mund.
„Ja“, sagte er, mit greifbarer Erleichterung in Tonfall und Körperhaltung. „Ja, Sie
können mir helfen. Ich habe nämlich ein gewaltiges Problem.“
Die Mienen der beiden Polizisten zeigten Aufmerksamkeit und Interesse, aber auch
ein wenig Misstrauen. Marten war klar, dass seine Geschichte ein bisschen komisch
klang und er zurzeit wahrscheinlich nicht wie der vertrauenswürdigste Mensch auf
der Welt aussah. Er musste ein bisschen aufpassen, was er sagte.
„Wissen Sie, da ist diese Frau – sie hat mich entführt, oder so was, und sie…“ Seine
Stimme verklang.
Während er gesprochen hatte, hatte er sonderbare Geräusche gehört. Chffub,
Chffub. Chffub, Chffub. Er hatte sich darüber ein bisschen gewundert, aber er war zu
sehr mit seinen drängenderen Problemen beschäftigt gewesen, um sich darum zu
kümmern.
Jetzt allerdings bemerkte er die zwei roten Flecken, die auf dem Hemd jedes der
beiden Polizisten aufgeblüht waren und sich nun schnell ausbreiteten, während die
beiden starren Blickes an der Wand hinter sich zu Boden glitten.
Marten kannte die Redewendung vom Herzen, das in bestimmten Momenten stehen
bleibt, vorzugsweise in solchen großer Gefahr. Er hatte diese Redewendung auch
selbst schon benutzt, ohne groß darüber nachzudenken. In diesem Moment nun
spürte Marten zum ersten Mal in seinem Leben, wie ihm selbst das Herz stehen
blieb. Das tat es natürlich nicht wirklich, denn er war ja noch am Leben, aber es
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fühlte sich wirklich genau so an. Er konnte nicht mehr atmen. Sein Hals war wie
zugeschnürt. Er dachte, dass er sich nicht einmal mehr bewegen konnte, aber dann
merkte er, wie er sich langsam, mit sehr sehr kleinen Schritten umdrehte. Aus dem
Treppenhaus trat Lenore, unbewaffnet. Sie musste die Pistole mit dem
Schalldämpfer eingesteckt haben.
Der Blick ihrer grasgrünen Augen war starr auf Marten gerichtet; hielt seinen eigenen
Blick mit einer Gewalt, die ans Übernatürliche grenzte. Sie ging auf ihn zu. Schnell.
Dann blieb sie vor ihm stehen, wirbelte um ihre eigene Achse wie die Leute in diesen
Kampfsportfilmen und trat ihm so schwungvoll ins Gesicht, dass er für einen Moment
das Bewusstsein verloren haben musste, denn er fand sich, ohne sich der
verstrichenen Zeit bewusst geworden zu sein, auf dem Boden vor ihr liegend wieder.
„Du dämlicher Junkie“, zischte sie, und trat ihm mit ihrem Turnschuh kräftig in die
Rippen. Das Geräusch ließ keinen Zweifel daran, dass sie mindestens eine seiner
Rippen gebrochen hatte. Offenbar vermittelte die Werbung einen falschen Eindruck
von der schützenden Wirkung eines Luftpolsters in der Sohle.
„Du verblödetes Stück Schlacke.“
Ein weiterer Tritt, der irgendwelche Knochen brach. Marten war in einen
halbbewussten Zustand übergegangen, in dem er seinen Körper kaum noch spürte.
Er dachte gerade, dass schallgedämpfte Pistolen im Fernsehen immer ganz anders
klangen.
„Du nutzloser Abschaum. Hast du mal darüber nachgedacht, dass die beiden
vielleicht Familie hatten? Kinder? Dass jemand diese beiden Menschen geliebt hat?
Dass sie sich wahrscheinlich regelmäßig bei irgendjemandem melden und dass hier
ziemlich bald die Hölle los sein wird, weil sie das nicht tun können?“
Diesmal trat sie gegen sein Gesicht. Er spürte, wie etwas brach und etwas platzte
und etwas seine Wange hinab lief.
„Dass sie genau so ein Recht zu leben hatten wie du? Dass, wenn man genau
darüber nachdenkt, ihr Anspruch auf Leben weitaus fundierter ist als deiner, du
traurige Entschuldigung für einen Menschen? Dass ich weiß Gott schon genug
Schwierigkeiten mit diesem Auftrag hatte?“
Marten hatte keine Ahnung, wie oft sie ihn getreten hatte oder wo er war oder wie er
hieß oder was hier eigentlich passierte, als ihm endgültig die Sinne schwanden.
„Dass es ein wirklich sehr, sehr schlechtes Omen ist, wenn man Polizisten
erschießen muss? Dass das nichts mit Aberglauben zu tun hat, sondern einfach eine
G-G-G…“ Für einen Moment klang sie wie ein CD-Player, der über einen Riss in der
CD stolpert. „Wahrscheinlich hast du überhaupt nicht nachgedacht“, murmelte sie.
„Das ist ja das Problem.“
Dann stellte Lenore sich so über ihn, dass ihre Füße seinen Kopf einrahmten und
brach ihm mit einer scheinbar sehr unbedeutenden Bewegung das Genick. Sie
stützte sich mit einer Hand an die Tür und ließ sich ein paar Sekunden Zeit, um zu
Atem zu kommen, vor allem im übertragenen Sinne.
Sie spürte, dass Tränen in ihren Augen standen, Tränen der Wut, der Enttäuschung,
der Frustration, der Erschöpfung. Sie blinzelte und hielt ihren Kopf in den Nacken, bis
nicht mehr die Gefahr bestand, dass die Tränen aus ihren Augen heraus fließen
würden.
Dann fischte sie den Schlüssel aus Martens Hosentasche, öffnete die Tür und zog
die drei Leichen nacheinander in Sonias Wohnung. Sie spähte noch einmal in den
Flur. Zwei andere Türen waren da noch, aber sie war ziemlich sicher, dass niemand
etwas mitbekommen hatte. Das Blut auf dem Fußboden war natürlich ärgerlich, aber
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erfahrungsgemäß würde es niemandem besonders auffallen. Es war erstaunlich,
was Menschen übersehen konnten, wenn sie sich Ärger ersparen wollten.
Lenore schloss die Tür hinter sich, ohne das Licht eingeschaltet zu haben, und
lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. Sie schloss die Augen und versuchte für
ein paar Sekunden, sich zu entspannen. Es war wichtig, dass sie jetzt klar dachte. Es
war nicht gut, dass sie die beiden Polizisten hatte erschießen müssen. Aber sie hatte
sie erschießen müssen. Es war auch nicht gut, dass sie Marten totgetreten hatte.
Das hatte sie nicht tun müssen. Das hatte sie nur getan, weil sie die Beherrschung
verloren hatte. Und das war gar nicht gut. Es war nicht das erste Mal gewesen.
Sie zog eine kleine Taschenlampe aus ihrer Jackentasche. Vielleicht beobachtete
jemand die Wohnung von außen, und sie wollte sich nicht verraten, indem sie die
Deckenlampe einschaltete. Sonias Wohnung war geschmackvoll eingerichtet. Lenore
hätte sich hier wohl fühlen können, wenn sie nicht beruflich da gewesen wäre.
Sie war sich so sicher, alleine hier zu sein, wie sie sicher war Schuhe zu tragen, aber
bei diesem Auftrag war genug schief gelaufen. Sie schlich vorsichtig zur ersten Tür,
drückte langsam die Klinke hinunter, stieß die Tür auf und presste sich an die Wand
daneben. Nichts geschah. Sie spähte in den Raum hinter der Tür.
Der Schreibtisch, von dem Marten gesprochen hatte, stand tatsächlich im
Schlafzimmer. Außerdem ein ziemlich riesiges Bett, in dem eine ganze streng
katholische Familie Platz gefunden hätte, und ein vergleichsweise sparsamer
Kleiderschrank. In dem könnte sich natürlich jemand versteckt haben, aber man
konnte es auch übertreiben mit der Vorsicht.
Sie öffnete noch die Türen zur Küche und zum Badezimmer, auf die gleiche Art, mit
ähnlichem Ergebnis.
Sie kehrte ins Schlafzimmer zurück und blieb in der Mitte des Raums stehen. Eine
Laune trieb sie zu dem Art-Deco-Nachttisch neben dem gewaltigen Bett. Unter dem
Telefon lag ein in rotes Leder eingebundenes Büchlein. Es war eins von diesen
leeren Büchern, für die man im Schreibwarenladen leicht dreistellige Eurobeträge
ausgeben konnte. Lenore zog es unter dem Telefon hervor, sorgsam darauf bedacht,
das Gerät nicht zu berühren, und schlug das Büchlein auf.
‚Montag, 26. September 2001’ war der letzte Eintrag. Ein nicht regelmäßig benutztes
Tagebuch. Sie steckte das Büchlein in ihren Rucksack.
Als nächstes wandte sie sich den Ordnern auf dem Schreibtisch zu, um
nachzusehen, ob einer davon interessant aussah. Es war bei den meisten ziemlich
offensichtlich. Nur zwei hatten überhaupt mit der Arbeit zu tun, und sie befassten sich
mit Stadtteilfesten und Nachbarn, die sich über Nachbarn ärgerten. Sie bückte sich,
um den Computer einzuschalten.
Jemand drückte die Klinke an der Eingangstür herunter. Es war sehr leise, kaum zu
hören, aber doch unverkennbar der Versuch, herein zu kommen.
Sie hatte nicht viel Zeit für die Entscheidung. Aber ihr blieb ja auch nicht viel zu
entscheiden. Sie schaltete den PC schnell wieder aus, zog ihre Waffe und versteckte
sich im Kleiderschrank. Es war ziemlich eng darin mit ihrem Rucksack, aber sie hatte
keine Zeit, ihn abzunehmen.
Sie hörte die Eingangstür ins Schloss fallen, dann Schritte. Zwei Personen. Keine
Polizisten, keine Zivilisten. Die Bewegungen waren, leise, schnell, in etwa so, wie
Lenore selbst sich bewegte, wenn sie eine fremde Wohnung betrat.
Die beiden Neuankömmlinge schauten einmal in jeden Raum, dann schalteten sie
das Licht ein.
Dass ihnen die drei Leichen neben der Tür offenbar nicht besonders aufgefallen
waren, bestätigte Lenores Verdacht, dass es sich um ihre Gegenspieler handelte.
„Sie war schon hier“, sagte einer von ihnen auf Japanisch.
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Japanisch. Möglicherweise war das ein Zufall. In etwa so, wie wenn ihre Mutter sie
bei größeren Familienfesten regelmäßig neben unverheiratete junge Ärzte setzte.
„Der Computer ist noch da.“
Die beiden waren Muttersprachler.
„Sie hat vielleicht Kopien gemacht.“
„Da liegen auch noch Ordner. Vielleicht war es jemand anderes.“
„Vielleicht hat sie auch einfach nur die eingepackt, mit denen sie was anfangen
konnte. Oder sie hat erkannt, dass sie verschaukelt wurde.“
Die beiden gingen zum Schreibtisch, dann raschelte Papier.
„Wasser, Strom, Heizung.“
„Bewerbungsunterlagen.“
„Kontoauszüge. Sie war schon hier.“
„Lass uns gehen. Wer weiß, wann die anderen Polizisten kommen, um nach ihren
verlorenen Brüdern zu suchen.“
Nicht ganz zwei Minuten danach fiel die Tür wieder ins Schloss. Lenore wartete ein
paar Sekunden, bevor sie den Schrank verließ, dann die Wohnung. Die Tür schräg
gegenüber von Sonias Wohnung öffnete sich und ein junger Mann mit kurzen
Haaren und einem kurz geschorenen Bart schaute heraus. Er öffnete den Mund, um
irgendetwas zu sagen, aber noch bevor er dazu kam, hatte sie ihn erschossen.
„Schüüsch, schon wieder, warum habe ich das denn jetzt getan?“ murmelte sie
abwesend, während sie seinen Körper etwas weiter in seine Wohnung zurück schob,
um die Tür schließen zu können. „Hätte ich mir eigentlich auch sparen können…“
Sie verließ das Haus. Sie sah die beiden Japaner in eine Richtung gehen, in der das
Taxi nicht stand. Sie musste sich ein neues Fahrzeug besorgen, sonst würde sie sie
verlieren.
Sie folgte den beiden in sicherem Abstand und zog ihr Telefon aus der Tasche. Sie
wählte Clarences Nummer.
„Ja?“ hörte sie seine tiefe Barry-White-Stimme sagen.
„Ich bin’s. Clarence, ich verfolge hier gerade zwei von den bösen Jungs. Ich bin mir
jetzt ziemlich sicher, dass dieser Auftrag von Anfang an eine Falle war.“
„Sehen wir auch so“, bestätigte er. „Wir haben hier ein paar Leute befragt, und wir
sind uns ziemlich sicher, dass sie uns nicht belogen haben. Mkoba hat den Auftrag
vermittelt, wahrscheinlich hat der Klient sie bezahlt, damit sie ihm Einzelheiten
verrät.“
„Ich habe euch immer gesagt, dass ihr das mit den Vermittlern anders organisieren
solltet.“
„Ich weiß“, antwortete Clarence. „Aber eins nach dem anderen. Glaubst du, dass die
beiden dich zu Sonia führen können?“
„Ich glaube, dass Signs ein spektakulär mieser Film ist, Clarence, wo die beiden
hinfahren, werde ich schon noch merken.“
Einer der Japaner sah sich um. Sie war zu weit entfernt, als dass er trotz der
Dunkelheit ihr Gesicht hätte erkennen können, sogar wenn er gewusst hätte, wie sie
aussah.
„Es wäre sicher nicht verkehrt, Sonia trotz allem noch zu töten. Sie weiß auf jeden
Fall zu viel, außerdem hat sie dich gesehen.“
„Ooh… Meinst du wirklich, Clarence?“ fragte sie mit ihrer besten
Dumpfbackenstimme, „Und-und-und… Glaubst du, ich sollte dafür dieses kleine
Metalldings mit der Röhre am Ende benutzen, das ich immer mit mir rumtrage? Ich
glaube, damit geht das echt gut! Schade, dass mir nie jemand erklärt hat, wie man
das benutzt…“
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„Gibt es in diesem Unternehmen hier irgendjemanden, der nicht den Humor einer
Sechsjährigen hat?“ knurrte er.
Sie legte auf und steckte das Telefon ein. Die Japaner stiegen in einen VW-Bus und
fuhren los.
Lenore sah sich kurz unter den am Straßenrand geparkten Fahrzeugen um und
entschied sich für ein zwanzig Jahre altes Chrysler-Cabriolet, das offensichtlich
weder über Alarmanlage noch Wegfahrsperre verfügte.
Der Fahrer hatte sogar freundlicherweise das Verdeck offen gelassen. Lenore hatte
nie verstanden, wie man ein Auto über Nacht irgendwo mit offenem Verdeck stehen
lassen konnte. Es war zwar gerade noch Sommer, aber nicht mehr besonders warm.
Sie schwang sich sportlich über die Tür in den Fahrersitz, schloss mit ein paar
geübten Handbewegungen die Zündung kurz und begann, den Japanern zu folgen.
Sie schaltete das Radio ein und entschied sich für einen Nachrichtensender.
Offenbar war die Arbeitslosenrate ein bisschen gesunken, ein achtjähriger Junge aus
Cuxhaven wurde vermisst und in Georgien stand ein Bürgerkrieg mehr oder weniger
bevor. Lenore war kürzlich erst in Georgien gewesen und hatte den Verdacht, daran
nicht ganz unbeteiligt gewesen zu sein. Andererseits stand in diesen Ländern immer
ein Bürgerkrieg bevor, deshalb fühlte sie sich nicht besonders schuldig.
Die Dunkelheit war ihr Freund, denn sie erschwerte es den beiden ungemein, im
Rückspiegel einzelne Fahrzeuge zu unterscheiden. Wenn sie nicht wirklich gut
aufpassten, würden sie gar nicht merken, dass ihnen ständig dasselbe Auto folgte.
Trotzdem hielt Lenore sich natürlich an den üblichen modus operandi, hielt Abstand
und ließ gelegentlich andere Fahrzeuge zwischen sich und den VW-Bus. Es hätte
wirklich mit dem Teufel zugehen müssen, damit die beiden etwas bemerkt hätten.
Mkoba lag auf ihrer King-Size-Matratze in ihrer Deluxe-Suite im Hotel Ivoire
Intercontinental in Abidjan, betrachtete nachdenklich die halb aufgegessene DeluxePizza, die in einem riesigen Pappkarton neben ihr lag, und war sehr zufrieden mit
sich selbst.
Am Anfang hatte sie ein bisschen Angst gehabt, aber jetzt musste sie das nicht
mehr. Es war ihr schwergefallen, ihre liebgewonnene Penthousewohnung und ihr
Büro in Takorabi so überstürzt zu verlassen, und ihr fehlten einige der
zurückgelassenen Dinge bereits jetzt. Ihr neuer Blue-Ray-Player mit
Festplattenrekorder zum Beispiel, den hatte sie sich erst vor zwei Monaten gekauft,
und der Karton mit den alten Briefen, den sie in ihren Kleiderschrank vergessen
hatte. Aber das war eben der Preis gewesen, und es hatte sich gelohnt. Maas hatte
ihr genug bezahlt, dass sie für den Rest ihres Lebens nie wieder an Arbeit denken
musste.
Natürlich war es nicht nett gewesen, die Informationen über Lenore an Maas zu
verkaufen, und sicher würden Kira und Clarence sehr gefährlich werden, wenn sie es
herausfanden, aber das konnte ihr jetzt egal sein.
Morgen Mittag ging ihr Flug auf die Bahamas, den sie unter einem falschen Namen
gebucht hatte, und dann war sie endgültig raus aus allem, und alle Pferde und
Männer des Königs konnten ihr nichts mehr anhaben.
Mkoba sprang von ihrem Bett auf und der Pizzakarton rutschte unbeachtet zu Boden,
als eine ruhige Gitarrenmelodie durch ihr Fenster zu ihr hinein klang. Sie kannte die
Melodie, aber sie wusste nicht genau, woher. Mkoba lief zum Fenster und sah einen
riesigen Ghettoblaster, der an dünnen Schnüren davor hing und dessen Display ihr
bernsteinfarben entgegenleuchtete: „Track 04 – Rpt. (1) – 00:09“
Sie rannte zu ihrer Tür, riss sie auf - und starrte wie ein gehetztes Tier atemlos in
Kiras brauenlose dunkelblaue Augen.
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„Hallo, Mkoba“ sagte Kira, als Tracy Chapman durch das Fenster die ersten Worte
von All That You Have Is Your Soul zu singen begann.
„Ich… Du… Ihr…“ stammelte Mkoba. „Hallo Kira“, zwang sie sich schließlich zu
sagen. Ihre Stimme quiekte ganz furchtbar dabei.
Kira lächelte sie an und sagte in freundlichem Plauderton: „Wir müssen reden,
Mkoba. Weißt du, worüber wir reden müssen?“
Mkoba schluckte und versuchte sich auch an einem Lächeln, das aber schnell eines
unnatürlich, sehr würdelosen Todes starb. Sie versuchte ein entspanntes Lachen,
aber es klang panisch und schrill.
„Keine Ahnung, aber kann es nicht vielleicht warten? Weißt du, Kira, ich bin
eigentlich sozusagen im Urlaub und…“ antwortete sie.
Kira beugte sich zu ihr hinab, während sie ihr weiter fest in die Augen sah, und sagte
im gleichen Tonfall wie zuvor:
„Nenn noch einmal meinen Namen, du stinkendes Aas, und ich beiß dir deine Nase
ab.“
Mkoba trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Sie spürte, dass ihr Mund weit offen
stand, aber sie war machtlos dagegen.
Kira nutzte die Gelegenheit, um ganz hereinzukommen und die Tür hinter sich zu
schließen. Als wäre nichts gewesen, plauderte sie danach weiter: „Wir haben
versucht, dich zu erreichen, aber in deinem Büro ging niemand an’s Telefon. Kannst
du dir vorstellen, wie überrascht wir waren, als wir herausfanden, dass du deinen
Namen geändert und eine Reise auf die Bahamas gebucht hattest? Ohne Rückflug?“
Sie stieß Mkoba völlig unerwartet so heftig mit der flachen Hand gegen das
Brustbein, das sie mehrere Schritte zurücktaumelte, über das Sofa stolperte und mit
dem Kopf gegen die Tischkante schlug. Der Aufprall traf sie so hart, dass sie sich
übergab und für einige Augenblicke das Bewusstsein verlor. Benommen sah sie wie
durch einen Schleier, wie Kira mit einer beiläufigen Bewegung eines Armes den
Tisch freiräumte und sich darauf setzte.
Der Blick der hünenhaften glatzköpfigen Frau schweifte durch den Raum, glitt mit der
gleichen distanzierten Abscheu über die Pizza, die luxuriöse Einrichtung der Suite,
Mkoba selbst und die Lache aus Erbrochenem.
„Setz dich“, sagte Kira leise, und Mkoba krabbelte umständlich auf das Sofa, ihr
Gleichgewicht noch nicht ganz wieder hergestellt.
„Ich… Es tut mir Leid, bitte… Ich… Ihr… Bitte!“ stammelte Mkoba.
Kira schwieg, und Mkoba hörte den Text des Liedes durch das geschlossene
Fenster:
„Don’t be tempted by the shiny apple, don’t you eat of a bitter fruit.
Hunger only for a taste of justice. Hunger only for a word of truth.”
Kira zog einen kleinen silbern glänzenden Grapefruit-Löffel aus einer Tasche hervor
und betrachtete ihn eine Zeitlang stumm, bevor sie sich wieder Mkoba zuwandte.
„All that you have is your soul“, sang Tracy Chapman, und Kira sagte:
„Ich werde dir jetzt ein paar Fragen stellen, und dann – oder eigentlich schon
währenddessen – werde ich dich hiermit töten. Ich dachte, ich fange bei den Füßen
an. Was meinst du?”
Konstantin Klaus sah auf die Leichen von Maria und Jens hinab, die Hände zu
Fäusten geballt. Er hatte sie selbst hierher geschickt. Er hatte die beiden gut
gekannt.
Er hatte ihnen ein paar Mal gedroht, sie zu erwürgen, wenn sie nicht endlich die
Klappe hielten.
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Konstantin Klaus war kein Mensch, der dazu neigte, sich mit unnötigen
Selbstvorwürfen zu quälen, aber allmählich fing diese Sache doch an, ihn zu
belasten.
Er war der letzte Mensch gewesen, der mit Clara und Christian Meiller gesprochen
hatte, und er hatte gewusst, dass mit dem Chefredakteur etwas nicht stimmte, und
trotzdem hatte er ihn gehen lassen.
Er hatte entschieden, Maria und Jens hier aufzustellen.
Natürlich hatte er nicht ahnen können, dass hier ein Wahnsinniger herumlief, der
zwei Polizisten einfach erschießen würde. Oder? Clara Meiller war auch Polizistin
gewesen, und sie hatte ihre Waffe in der Hand gehalten, als sie gefunden worden
war.
„Herr Klaus?“ fragte ein junger Beamter hinter ihm leise.
Der Kollege hatte sich vorgestellt, als er Klaus reingelassen hatte, aber er hatte den
Namen schon wieder vergessen.
Klaus seufzte und fuhr sich mit den Händen durch seine Haare, bevor er sich
umdrehte. „Ja?“
„Die Zentrale hat sich gemeldet. Offenbar ist ein McDonald’s-Restaurant in
Eppendorf überfallen worden. Der Täter hat zwei Angestellte und drei Gäste
erschossen; nichts wurde gestohlen.“
„Gibt es eine Verbindung zu unserem Fall?“
„Vielleicht nicht. Aber es ist ungewöhnlich, und der Täter dort scheint ein guter
Schütze zu sein, und er hat zumindest eine ähnliche Waffe benutzt. Vielleicht ist das
Zufall.“
„Vielleicht auch nicht. Ist denn die Vorgehensweise die gleiche?“
„Wissen wir noch nicht, Friebe und Wandrey sind unterweg, um das zu prüfen.“
„Gut, was ist mit dem gestohlenen Wagen?“
„Noch nichts, aber die Fahndung läuft.“
Die Männer mit den dunklen Anzügen und den ernsten Gesichtern kamen herein und
begannen, die Leichen einzupacken.
„Das Videoband?“
„Nichts. Die Kamera wurde um 23:57 Uhr zerstört. Man sieht kurz vorher den Kerl da
reinkommen.“ Der junge Beamte zeigte auf den dritten Toten. „Er kommt rein, bleibt
eine Weile vor der Treppe stehen und geht dann rauf. Dann sieht man, wie die Tür
sich wieder öffnet, und bumm ist das Bild weg. Wir vermuten, dass der Täter das
Gebäude kannte.“
„Dann müssen wir uns das ganze Band ansehen. Vielleicht war er schon einmal hier.
Wir müssen die Leute auf dem Band mit den Bewohnern vergleichen.“
„Ich kümmere mich drum.“
„Schrecklich, oder?“
Klaus drehte sich im schmalen Flur von Sonia Schopps Wohnung um. Hinter ihm
stand der Mann vom Bundeskriminalamt. Hauptmann. Er hatte den verdammten Kerl
gar nicht näherkommen gehört. Hauptmann war stumm rein gekommen, hatte die
drei Toten komplett ignoriert und hatte angefangen, in der Wohnung
herumzuschleichen, sich gelegentlich hinzuknien oder war auf einen Stuhl zu
steigen, um sich irgendwas anzusehen. Damit schien er jetzt fertig zu sein.
„Kannten Sie die beiden Beamten?“ fragte er.
Die beiden Beamten.
„Ja. Maria Schubert und Jens Groß.“
„Ich nehme an, dass sie sich ansonsten immer umsichtig und vorschriftsmäßig
verhalten haben.“
Ansonsten.
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„Ja, haben sie. Niemand hat Augen am Hinterkopf, Herr Hauptmann.“
„Nein, natürlich nicht“, hauchte er in seinem Pastor-Fliege-Tonfall. „Die hat niemand.
Natürlich wurden die beiden nicht hinterrücks erschossen, aber ich verstehe, was Sie
meinen.“
Er schwieg einige Sekunden, in denen er stumm und voll klebrigen Mitgefühls zu
Boden blickte, dann sagte er:
„Sie ist unterbrochen worden.“
„Unterbrochen?“
„Sie können hier noch ganz leicht die Blutspuren sehen, die ihre Schuhe hinterlassen
haben, nachdem sie Herrn Schopp zu Tode getreten hat.“ Er zeigte in Richtung
Eingang. „Hier bei dem Schreibtisch verlieren sie sich allmählich, aber die Tür des
Kleiderschranks ist offen, und die Kleider darin sind zusammengeschoben. Sie hatte
sich darin versteckt.“
„Woher wissen Sie, dass sie es war? Vielleicht hat sie jemand anders gestört, und
der hat sich im Schrank versteckt.“
Es bereitete Klaus große Genugtuung zu sehen, wie Hauptmann zögerte. Der BKAMann nahm das Zifferblatt seiner protzigen goldenen Armbanduhr zwischen zwei
Finger und betrachtete es, während er nachdachte.
„Nein, das glaube ich nicht“, sagte er schließlich. Er ließ die Uhr los und ging
langsam und vorsichtig zum Eingang zurück, bemüht, auf nichts zu treten. „Ihre
Kollegen waren nicht besonders achtsam, als sie hereinkamen, aber Sie können
hier“, er zeigte auf die Flecken vor der Tür, „trotzdem noch erkennen, dass da zwei
Menschen hindurchgegangen sind, als das Blut noch nicht geronnen war. Der
Schuhgröße nach waren es wahrscheinlich Männer. Es wäre dort im Schrank kein
Platz gewesen für zwei Männer.“
„Vielleicht hat der eine sich unter dem Bett versteckt, was weiß ich!“
Klaus kam sich vor wie in einer Episode von „Monk“. Er hatte es immer völlig albern
gefunden, wie der neurotische Detektiv abenteuerliche Schlussfolgerungen auf der
wackeligsten Grundlage zog, die sich zum Schluss natürlich immer als richtig
herausstellten.
Hauptmann setzte ein verkniffenes Lächeln auf, zuckte seine Schultern und
antwortete: „Vielleicht.“
„Herr Klaus?“
Wieder der junge Beamte von vorhin. Kudow, Kubrow oder so ähnlich.
„Ich habe gerade erfahren, dass kurz nach Mitternacht jemand angezeigt hat, dass
Marten Schopp entführt wurde. Das ist der Bruder.“
„Hm“, machte Klaus. „Haben Sie den Kollegen gesagt, dass sie die Fahndung
einstellen können?“
„Ja, natürlich. Aber da ist noch etwas. Ich habe gerade mit den beiden telefoniert, die
vor Ort waren. Sie sagten, dass dort im Erdgeschoss eine alte Frau wohnt, die heute
mit einer jungen Polizistin gesprochen haben will. Soweit wir das feststellen konnten,
war aber niemand von uns dort.“
„Versuchen Sie, das sicher rauszufinden, das könnte wichtig sein. Ich fahre hin und
unterhalte mich mit ihr, wenn sie noch wach ist. Hier ist eh nichts mehr zu tun.“
„Wird gemacht.“
„Warten Sie bitte noch kurz“, sagte Hauptmann in seiner leisen, flüsterigen Stimme.
„Ja?“
„War die Frau, die mit der jungen Polizistin gesprochen haben will, diejenige, die die
Entführung gemeldet hatte?“
Der junge Polizist schaute den BKA-Mann verwirrt an, während er antwortete.
„Nein, das war jemand anders.“
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„Wie kam es dann, dass Ihre Kollegen überhaupt Kontakt mit ihr bekamen, mitten in
der Nacht? Haben sie die anderen Anwohner geweckt?“
Kudow oder so grinste und zuckte die Schultern.
„Sie hat sie von sich aus angesprochen. Offenbar schläft sie schlecht. Sie hat auch
ausdrücklich gesagt, dass wir sie jederzeit ansprechen sollen, wenn wir noch Fragen
haben. Auch heute Nacht noch. Sie war offenbar sehr nachdrücklich, was das
angeht.“
Hauptmann nickte, als würde das nur bestätigen, was er sowieso schon die ganze
Zeit vermutet hatte.
„Klar“, murmelte Klaus, „Gut, weitermachen.“
Dann wandte er sich Hauptmann zu: „Möchten Sie dabei sein?“
Der blasse BKA-Mann lächelte und breitete langsam die Arme aus.
„Deswegen bin ich doch hier. Ich helfe, wo ich kann.“
Es war schon das zweite Mal in so kurzer Zeit, dass Frau Trautwein Polizisten in
ihrer Wohnung hatte. Diese allerdings waren ihr nicht so sympathisch wie die junge
Frau vom Abend zuvor. Sie waren sogar im Gegenteil ziemlich ungehobelt, fand Frau
Trautwein. Dieser Kerl im schlecht sitzenden grauen Anzug, der sich ihr als
Konstantin Klaus vorgestellt hatte, schien sie überhaupt nicht richtig ernst zu
nehmen. Nur der andere, der schien ihr besser erzogen zu sein. Er war auch viel
besser angezogen. Kleider machen Leute, sagte Frau Trautwein immer. Frau
Trautwein glaubte fest an diesen Sinnspruch. Überhaupt glaubte sie an viele
Sinnsprüche.
„Wissen Sie, Ihre Kollegin hat mir so aufmerksam zugehört und war immer so
freundlich, und sie hat auch wirklich verstanden, worum es geht. Ich habe ja sogar
gehofft, dass das jetzt ein bisschen besser wird hier, mit all diesen jungen Strolchen
hier in der Nachbarschaft.“
Der gut erzogene Polizist lächelte ihr zu und nickte.
„Wissen Sie“, fuhr sie fort, „Diese Karla Deitler, aus dem zweiten Stock, irgendwas
stimmt mit der nicht, das hab ich schon von Anfang an gesagt. Aber auf mich hört ja
niemand. Hört ja niemand mehr auf die alten Leute! Erfahrung zählt ja heutzutage
gar nichts mehr. Wer nicht jung und knackig ist, der kann ja heute gar nichts werden.
Kein Wunder, dass im Fernsehen nur noch dieses Bummbumm-Zeug läuft und gar
nichts richtig Schönes mehr…“
Der besser angezogene Polizist, der so ähnlich hieß wie dieser eine Schriftsteller,
von dem Frau Trautwein niemals ein Buch gelesen hatte… Hauptmann, richtig, stand
auf und legte eine Hand auf ihren rechten Unterarm.
„Frau Trautwein“, sagte er im leisen, getragenen Tonfall eines Seelsorgers, „Wir
haben Grund zu der Annahme, dass diese junge Frau, die sich Ihnen gegenüber als
Polizeibeamtin ausgegeben hat, sehr gefährlich ist. Es ist von großer Bedeutung,
dass wir ihrer so schnell wie möglich habhaft werden, um Unschuldigen großes Leid
zu ersparen.“
„Gefährlich?“ fragte Frau Trautwein. Sie kniff die Augen zusammen und betrachtete
die beiden Männer einige Sekunden lang. „Aber sie war doch so aufmerksam. Und
sie wollte doch was wegen dieser Deitler da unternehmen, und deren nutzlosen
Freunden, die hier Tag und Nacht nur“
„Frau Trautwein“, raunte der Polizist. Er sah ihr direkt in die Augen, und sie konnte
seinen Atem in ihrem Gesicht spüren. Er roch nach Pfefferminz. „Diese junge Frau
hat Sie getäuscht. Sie ist eine Meisterin der Täuschung. Deswegen sind wir auf Ihre
Hilfe angewiesen, um ihre Spur nicht zu verlieren. Können Sie sie beschreiben?“
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„Ich… Naja…“ Sie dachte nach. „Ich denke schon. Aber mein Gedächtnis ist nicht
mehr das, was es mal war, wissen Sie?“
Er nickte verständnisvoll und drehte sich kurz zu dem anderen um. Der hielt seinen
Notizblock und einen Stift in der Hand.
„Bitte versuchen Sie es, Frau Trautwein. Wir brauchen Ihre Hilfe.“
„Naja… Also, ich weiß noch, dass sie so eine komische Frisur hatte, wie ein Punker,
oder so ähnlich. Deswegen habe ich ihr auch am Anfang nicht ganz getraut, weil ich
dachte, na, anständige Leute machen doch nicht so was mit ihren Haaren, aber die
Jugend denkt heute wohl einfach nicht mehr so. Die Hauptsache ist doch, dass man
irgendwie auffällt. Das ist denen doch ganz egal, ob sie aussehen wie der letzte…“
Eine gute halbe Stunde später standen Hauptmann und Klaus vor Frau Trautweins
geschlossener Tür. Constantin Klaus lehnte sich an eine Wand und atmete tief
durch.
„Noch fünf Minuten, und ich hätte angefangen, sie zu würgen“, murmelte er.
Hauptmann blickte einige Sekunden zu Boden und hielt Klaus dann seinen
Notizblock hin.
„Was man von einem Menschen erfährt, hängt nicht so sehr davon ab, was er sagt,
sondern davon, wie man ihm zuhört“, säuselte er.
Er hatte ein Bild von einer jungen Frau gezeichnet. Eine hervorragende, lebensechte
Portraitzeichnung. Sie sah der jungen Frau aus der S-Bahn ähnlich, die Klaus fast
angesprochen hätte. Er wunderte sich ein bisschen, dass er sich überhaupt noch an
sie erinnerte.
„Phantombildzeichner sind Sie auch noch?“ fragte Klaus.
„Ich habe eine Fortbildung besucht. Sie hat sich seitdem mehrfach als nützlich
erwiesen. Viele Fertigkeiten, die für unseren Beruf sehr nützlich sein können, lernt
man nicht in der regulären Ausbildung.“
Wieder einmal beschloss Konstantin Klaus, diese herablassende Belehrung zu
ignorieren und fragte stattdessen: „Und das wollen Sie alles eben gehört haben?“
Hauptmann nickte. Als hätte er den eigentlichen Sinn der Frage wirklich nicht
verstanden. Klaus seufzte resigniert.
„Gut, nehmen wir an, dass sie so aussieht.“
„So hat sie letzten Abend ausgesehen“, berichtigte Hauptmann ihn. „Und nicht
einmal das wissen wir genau. Die alte Dame ist in ihren Beobachtungen sehr
selektiv.“
„Es ist jedenfalls alles, was wir haben.“
„Ich halte es für ratsam, auch Karla Deitler noch einmal zu besuchen.“
„Unsere Leute haben doch schon mit ihr gesprochen.“
„Und bestimmt haben sie sie sehr gründlich und fachkundig befragt.“ Hauptmann
nickte langsam.
Klaus konnte einfach nicht genau bestimmen, woran genau es lag, dass ihm alles,
was der andere tat, irgendwie schmierig und unecht vorkam.
„Aber ich würde gerne noch selbst die Fragen stellen, von denen Ihre Kollegen ja gar
nicht wissen konnten, dass sie mich interessieren“, fuhr der BKA-Mann fort.
„Schließlich war ihnen zu der Zeit, als sie mit Frau Deitler sprachen, gar nicht klar,
um was es hier geht.“
„Naja, wir können ja morgen noch mal herkommen.“
Hauptmann seufzte leise, und Klaus spielte ernsthaft mit dem Gedanken, ihm direkt
zu sagen, dass er sich nach einem langen harten Arbeitstag, an dem für den Tod
zweier Kollegen verantwortlich war, nervlich außer Stande fühlte, dieses bescheuerte
Überlegenheitsspielchen zu ertragen.
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„Herr Klaus“, begann Hauptmann in seinem Singsangton, „Wir müssen bei unserer
Entscheidung berücksichtigen dass die Auskünfte von Frau Deitler uns dabei helfen
werden, eine Serienmörderin zu ergreifen. In Anbetracht dessen sollten wir nicht
zögern, jemanden zu wecken, auch auf die Gefahr hin, dass sie darüber ein wenig
verärgert sein wird. Wenn Sie gründlich darüber nachdenken, werden Sie
wahrscheinlich zu demselben Schluss gelangen.“
Und Konstantin Klaus erkannte, dass es überhaupt nichts nützen würde, das Thema
offen anzusprechen. Er wusste sogar ungefähr, was Hauptmann antworten würde. Er
würde schleimiges Bedauern darüber ausdrücken, dass Klaus sich ihm gegenüber
unterlegen fühlte und dabei unterschwellig durchscheinen lassen, dass das nur
daran liegen konnte, dass er tatsächlich hoffnungslos unterlegen war.
Vielleicht würde es helfen, sich ein bisschen auszumalen, wie er den ekligen BKAMann hinterrücks niederschlug und dann noch ein bisschen verprügelte, während er
am Boden lag. Sicher, so was gehörte sich nicht, aber in diesem Fall war es doch
eigentlich für alle Beteiligten die angenehmste Lösung, oder?
„Sie haben Recht. Gehen wir.“
„Du verstehst doch sicher, dass wir so etwas sehr ernst nehmen müssen? Ich meine,
klar, dir kommt das wahrscheinlich ein bisschen komisch vor, erst hörst du mich in
zehn Minuten achtundzwanzig Mal Vertrauen sagen, und wenig später schleppen wir
dich in diese Folterkammer... Ist wirklich nicht sehr gut gelaufen, wir schulden dir eine
Entschuldigung, keine Frage. Clarence und ich, meine ich. Die Wachmänner können
nichts dafür, die machen ja auch nur ihren Job. Aber dir ist im Großen und Ganzen
klar, dass wir sicher gehen mussten? Ich meine, nicht, dass du uns jetzt nicht mehr
vertraust oder so?“
Kira begleitete Philippe zurück in sein Büro. Clarence und sie waren offenbar zu dem
Schluss gekommen, dass er die Wahrheit gesagt hatte. Jetzt führte sie ihn durch die
sanierten Gänge des ehemaligen Bunkers, einen Arm um seine Schultern gelegt,
und redete auf Französisch auf ihn ein. Sie drückte ihn dabei fest an sich, und da sie
immer noch etwa einen Kopf größer war als er und sein Kopf deswegen immer noch
etwa in Höhe ihrer durchaus beachtlichen Brüste war, blickte er starr geradeaus.
„Immerhin waren wir ja fair, oder? Ich meine, oder haben wir was getan, was du als
unmenschlich empfunden hast?“
„Neinnein, das-das ist… das ist schon… in Ordnung“, stammelte er hastig. Sie hatten
ihm tatsächlich nicht körperlich weh getan. Er hatte trotzdem schon beim bloßen
Anblick der Instrumente gelitten, die sie ihm gezeigt hatten, und sein ganzer Körper
tat weh und war verspannt, weil er so viel Zeit in einer unnatürlichen Zwangshaltung
verbracht hatte, aber er hielt es für unangebracht, das jetzt zu erwähnen. „Ich bin
froh, dass ihr mir glaubt.“
„Oh, das tun wir! Wir sind vollends überzeugt, dass du ehrlich zu uns bist. Und du
darfst nicht denken, dass das bei uns immer so läuft. Das war ein ganz besonderer
Fall, Philippe, wir hatten einen ganzen Haufen Indizien gegen Sie. Wir konnten das ja
schlecht einfach ignorieren, oder?“
„Äh… Nein, das konntet ihr wohl nicht tun.“
„Schön, dass du das verstehst. Wir werden dich natürlich entschädigen. Sicher, die
Unannehmlichkeiten können wir nicht rückgängig machen. Aber wir können uns bei
dir entschuldigen und dir für die überstandene Untersuchungshaft einen großzügigen
Bonus zahlen. Natürlich wird keiner deiner Kollegen von dieser Sache erfahren, es
sei denn, du willst das. Und natürlich kannst du ziemlich sicher auf Clarences und
meine Schuldgefühle bauen, wenn du in Zukunft mal eine Bitte an uns hast. Aber
nutz es nicht aus, ja?“
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Das brachte ihn tatsächlich zum Lächeln, auch wenn er immer noch so nervös und
verunsichert war, dass er schwitzte, obwohl es in diesen Gängen kühl war.
„Versprochen“, antwortete er.
„Glaubst du, du kannst heute weiter arbeiten, oder brauchst du eine Pause, Philippe?
Wir könnten das gut verstehen, wirklich. Sicher war das ziemlich anstrengend für
dich. Nimm ruhig ein paar Tage Urlaub, wenn du das brauchst. Du weißt, dass wir dir
den Urlaub bezahlen, oder?“
„Ja, sicher“, murmelte Philippe. „Das ist kein Problem, ich komm schon zurecht. Die
Auswahlrunde war viel schlimmer als das Verhör gestern.“
Kira lachte laut und klopfte ihm kräftig auf die Schulter. Das tat zwar weh, schuf aber
andererseits eine willkommene Gelegenheit, seine Position zu ihr ein bisschen
angenehmer zu machen, denn sie musste dafür ihren Griff um ihn ein wenig lockern.
„Das ist die richtige Einstellung, Philippe, prima! Wir haben auch gleich was zu tun
für dich. Recherchier bitte mal durch, wie wir an den Auftraggeber für den ProfessorKalpers-Hit rankommen, und dann such uns bitte jemanden, der in der Nähe von
Hamburg ist und Lenore für uns ausschalten kann. Ich glaube, dass Pitt unser bester
Kanidat wäre, aber wenn du eine bessere Idee hast, nur zu. Oder willst du lieber
nichts mehr mit der Angelegenheit zu tun haben? Das würden wir natürlich auch
verstehen.“
„Neinnein, wirklich, ich bin in Ordnung. Ich setze mich gleich dran.“ Philippe zögerte
kurz. „Habe ich das richtig verstanden, Pitt soll Lenore töten?“ Pitt war der Deckname
eines Agenten von Discordia, Inc., der in Norddeutschland aktiv war.
„Genau. Sie ist zu einem zu großen Risiko für uns geworden. Ich könnte dir das jetzt
alles erklären, aber dafür haben wir leider keine Zeit. Glaub mir einfach, es gibt
keinen anderen Weg.“
„Was tue ich, wenn Lenore bei mir anruft?“
Sie zuckte die Schultern, und er spürte die Bewegung an seiner Wange.
„Du tust genau das, was du sonst auch tun würdest. Du lässt dir nichts anmerken.
Wir wollen ihr doch nicht die Überraschung verderben, was?“
Vertrauen, dachte Philippe, schon klar.
Sie erreichten den Gang, in dem sich die Tür zu seinem Büro befand. Kira ließ ihn
nun ganz los und öffnete sie für ihn.
„Dann mal los. Ich bin sicher, du wirst das ganz wunderbar machen. Ich vertraue dir
nämlich. Vertrauen ist wichtig für uns, Philippe. Immer dran denken, hm?“
Sie schnalzte mit der Zunge, zwinkerte ihm zu und klopfte ihm dann überraschend
sanft auf die Schulter, bevor sie sich umdrehte und ging.
„Du weißt ja, wie du mich erreichen kannst!“ rief sie ihm noch über die Schulter zu.
„Wir bauen auf dich, Philippe.“
Er schüttelte den Kopf und schloss die Tür hinter sich. Auf seinem Schreibtisch stand
ein neuer Präsentkorb, doppelt so groß wie der erste. Auf der Karte war ein Bild von
einem Kleinkind, das mit Hundeblick zu ihm aufschaute. Darunter stand in großen
Buchstaben: Es tut uns Leid!
Diese Leute waren wirklich krank.
„Arme hoch!“
Lenore stand für ungefähr fünf Sekunden vor dem breitschultrigen Kerl mit der
Desert Eagle im Hosenbund und blinzelte ihn verwirrt an.
„Und wie, glauben Sie, machen wir jetzt weiter?“ fragte sie ihn schließlich.
Er schüttelte seinen Kopf und zuckte die Schultern.
„Was glaubst du, hä? Ich check dich.“
Lenore hob eine Augenbraue.
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„Sie wollen mich durchsuchen. Okay. Was, glauben Sie zum Beispiel, könnten Sie
denn an mir finden?“
Jetzt war es an ihm, verwirrt zu gucken.
Die beiden standen im Flur eines unauffälligen Lagerhauses in der Nähe des
Hamburger Hafens, vor der Tür zum Büro des Waffenhändlers Terry, Clarences
Kontakt in Hamburg. Lenore hatte ein paar Stunden geschlafen, nachdem sie sich
ein wenig mit dem Grundstück vertraut gemacht hatte, zu dem sie den Japanern
gefolgt war. Dann hatte sie ihre dreckigen, blutigen Kleider gegen neue eingetauscht
und sich zu Terry auf den Weg gemacht.
Maas’ Haus war nicht besonders gut gesichert. Natürlich wäre es einfacher mit
Verstärkung, aber es ging viel schneller, wenn sie es alleine versuchte.
„Waffen“, sagte er.
Lenore seufzte und hielt mit leidender Miene die Fingerspitzen einer Hand an ihre
Schläfe.
„Hat Clarence mich nicht angekündigt?“ fragte sie.
„Wer?“ fragte der Türwächter.
„Oh Gott.“
Sie zog die Desert Eagle aus seinem Gürtel und warf sie hinter sich in Richtung
Ausgang. Bevor er richtig begriffen hatte, was geschah, hatte sie ihre beiden Waffen
aus den Holstern gezogen und presste je einen Lauf von unten gegen seine
Nasenlöcher.
„Sehen Sie“, erklärte sie ihm, während er mit nach unten verdrehten Augen an seiner
Nase entlang auf sie herabblickte. „Wenn Sie meine Waffen suchen, müssen Sie
mich dafür nicht abtasten, die zeige ich Ihnen gerne einfach so. In Ordnung?“
„J-ja, klar…“
„Gut.“
Sie steckte die beiden Pistolen wieder ein. Als er einfach nur da stand und sie
anstarrte, fragte sie ihn: „Machen Sie jetzt die Tür auf oder was? Himmel noch mal,
was ist denn mit Ihnen los?“
Kopfschüttelnd stapfte sie durch die Tür, die er schüchtern für sie aufhielt, und warf
ihm im Gehen noch einen letzten fassungslosen Blick zu.
„Terry, Was haben Sie denn da für einen Primaten in Ihrem Vorzimmer stehen?“ rief
sie dem Mann mit dem Bluetooth-Headset hinter dem Schreibtisch entgegen.
Er erstarrte wie das Kaninchen vor der Schlange, als sie eintrat. Er war ein Mann
mittleren Alters in einem makellos gestärkten blauen Pinpoint-Hemd ohne Krawatte,
beinahe kahlköpfig mit nur einem schmalen dunkelgrauen Haarkranz, dafür aber mit
einem schwarzen Vollbart. Sollte er gedacht haben, dass seine Regungslosigkeit ihn
verbergen würde, täuschte er sich, denn das bläuliche Blinken des Headsets verriet
ihn.
Lenore blieb vor seinem Schreibtisch stehen, hob eine Hand und begann, an den
Fingern abzuzählen, während sie sagte: „Ich brauche eine MP5SD, 4 Magazine, 200
Schuss Munition, zwei Handgranaten, nicht so wichtig, welche Sorte, und ein Kilo
C4, darf gerne auch ein bisschen mehr sein.“
„Äh…“ Der Mann hatte sich immer noch keinen Zentimeter gerührt.
Sie betrachtete ihn mit leicht verengten Augen.
„Sie sehen so aus, als wollten Sie mich gleich fragen, was ich damit vorhabe. Tun
Sie’s nicht, ich kann so was gar nicht leiden. – Hat mich denn hier niemand
angekündigt?“ Sie sah sich in dem Büro um, während sie das sagte, als würde sie
nach dem Boten Ausschau halten.
Terry schüttelte seinen Kopf.
„Was machen Sie hier?“ fragte er.
100
„Ich bin Lenore“, sagte sie ihm, bevor ihr einfiel, dass er das erstens offensichtlich
schon wusste, und dass es zweitens seine Frage nicht beantwortete, weil hier
niemand mit ihr gerechnet hatte. „Clarence sollte hier angerufen haben, aber ihm ist
anscheinend was dazwischen…“
„Keine Bewegung!“ bellte der Türsteher, der inzwischen seinen Mut und seine Desert
Eagle eingesammelt und dann die Tür zu Terrys Büro aufgestoßen hatte.
Lenore drehte sich nicht einmal zu ihm um. Sie sah dem Mann hinter dem
Schreibtisch fest in die Augen, atmete tief durch und sagte so leise und ruhig, wie sie
konnte: „Terry, ich schreie gleich. Schaffen Sie diesen Idioten hier raus und sagen
Sie mir, ob es ein Problem gibt, oder ob ich meinen Kram mitnehmen kann.“
Terry zögerte nur einen Augenblick, bevor er dem Türsteher zunickte und ihn
hinauswinkte.
Seine anfängliche Schockstarre hatte sich gelöst, und ihm wurde allmählich klar,
dass sie wirklich nur hier war, um ihm etwas abzukaufen: „Ist der Typus der Granaten
wirklich völlig egal?“
„Endlich redet hier jemand mit mir. Ja, es ist egal, solange sie laut sind, ich brauche
die nur zur Ablenkung.“
„Sie sind wirklich die Lenore, oder?“ fragte er, während er bereits angestrengt auf
seinen Monitor starrte und zu tippen begann.
„Glauben Sie, irgendjemand außer mir käme auf den Gedanken, dass es lustig wäre,
sich auch so zu nennen?“
„Auch wieder wahr“, murmelte er. „Es sieht gut aus, nur was die MP5 angeht,
müssen Sie leider wählen, ob Sie stattdessen lieber mit der A oder der K leben
wollen. SD kann ich leider erst morgen besorgen, und Sie machen nicht den
Eindruck, als wollten Sie warten.“
„Dann die K. Ich bin ja so erleichtert, dass wir uns doch gut verstehen, Terry. Ich bin
ein bisschen mit den Nerven runter, wissen Sie, und ich kann Stress gerade nicht so
gut vertragen.“
„Nein, ich hab keine Lust auf Monopoly, Monopoly ist doof!“ rief Isabelle.
„Stimmt, Monopoly ist doof!“ stimmte Laura ihr zu, aber Laura stimmte Isabelle immer
zu.
„Ich finde Monopoly toll!” meldete sich Christopher zu Wort.
„Du gewinnst ja auch jedes Mal!“ sagte Torben, der eigentlich bei jedem Spiel jedes
Mal verlor und das immer den anderen vorwarf.
„Ich bin eben besser!“ erwiderte Christopher.
„Bloß weil du mogelst!“ sagte Isabelle.
„Genau!“ bestätigte Laura.
„Wie kann man denn bei Monopoly mogeln?“ fragte Torben.
„Was wollen wir denn sonst machen?“ fragte Johannes in möglichst sachlichem
Tonfall.
Johannes war schon vierzehn, und weil er der Älteste und außerdem noch der
Bruder des Gastgebers war, fühlte er sich dafür verantwortlich, den sich
abzeichnenden Streit in vernünftige Bahnen zu lenken. Außerdem hatte sein Vater
ihm versprochen, dass er ihn auf den nächsten Segeltörn mitnehmen würde, wenn er
nett zu seinem Bruder war. Und Sophia stand auch drauf, wenn er ein guter großer
Bruder war. Johannes war deshalb hochmotiviert.
Er wunderte sich, dass Christopher überhaupt noch wagte, Monopoly vorzuschlagen.
Es löste jedes Mal den gleichen Sturm der Entrüstung aus.
„XBox“, sagte Isabelle.
„Aber das können ja höchstens vier spielen“, wandte Torben ein.
101
„Johannes kann ja der Schiedsrichter sein“, schlug Isabelle vor.
„Schiedsrichter sein ist aber doof“, meinte Johannes, „Besonders bei der XBox, wie
soll denn das gehen?“
Die Zwerge kriegten sich immer wegen irgendwelcher Kleinigkeiten in die Haare und
fanden seine Entscheidung dann furchtbar unfair, wenn es ausnahmsweise doch mal
eine Unklarheit gab.
„Oder Topfschlagen!“
Allgemeine unartikulierte Ablehnung beantwortete Lauras Vorschlag. Den anderen
war das viel zu kindisch.
„Lasst uns doch zelten gehen, im Garten“, meinte Torben. Torben war bei den
Pfadfindern und hatte kürzlich ein Zelt geschenkt bekommen. „Wir nehmen
Taschenlampen mit, und Johannes kann uns Gruselgeschichten erzählen.“
Johannes verdrehte die Augen und tat so, als würde es ihm auf die Nerven gehen,
dass er ständig Gruselgeschichten erzählen sollte. Tatsächlich fand er es irgendwie
cool, den Zwergen Angst zu machen. Torbens Vorschlag fand die Zustimmung aller
Anwesenden, und so zogen sie los, um Taschenlampen, Isoliermatten, Schlafsäcke,
Knabberzeug und das große Zelt zu holen.
Glücklicherweise war das Zelt sehr einfach aufzubauen, sodass Johannes es selbst
im Dunkeln und trotz der Hilfe seines kleinen Bruders in knapp dreißig Minuten fertig
bekam.
Nachdem es sich alle gemütlich gemacht hatten und die Schalen mit Chips und
M&Ms im Zelt verteilt waren, nahm Johannes einen letzten Schluck Cola, bevor es
losging, und alle Taschenlampen bis auf seine wurden ausgeschaltet.
Johannes räusperte sich, entschied sich für eine seiner Geschichten und begann:
„Es gibt im Norden Schottlands einen See, in dessen Umgebung ungewöhnlich oft
Wanderer verschwinden. Wenn sie dann wieder gefunden werden, sieht es oft so
aus, als wären sie in den See gefallen und ertrunken, aber…“
Es lief gut. Von Anfang an herrschte die richtige Gruselgeschichtenstimmung,
niemand machte dumme Witze, nicht einmal Laura, und Johannes hatte Spaß.
Immer an den richtigen Stellen gelang es ihm, die Zwerge zu erschrecken, und oft
schrien sie dabei richtig laut auf. Johannes erzählte mit verstellten Stimmen und
passender Mimik, und er konnte das ziemlich gut. Seine Mutter war Schauspielerin,
und sie hatte ihm kürzlich gesagt, dass sie sich vorstellen könnte, dass er auch bald
mal eine Rolle in einem ihrer Filme bekam.
Für das große Finale hatte er einen ganz besonderen Trick vorbereitet; einen Faden,
mit dem er die Zeltklappe aufziehen konnte, sodass es so aussah, als würde jemand
von außen eindringen. Jedenfalls hoffte er, dass es so aussehen würde. Er war
zuversichtlich, denn er hatte ja als einziger noch seine Taschenlampe, und die
Dunkelheit und die Schatten waren seine Freunde. Er hatte die Erfahrung gemacht,
dass es kaum etwas gibt, das nicht unheimlich wirken kann, wenn man es nicht
richtig sehen kann.
„Und als Lord Waterforth gerade nachsehen wollte, woher die seltsamen Geräusch
kamen, da…“
Johannes zog an der Leine, und die Zeltklappe raschelte laut und klappte dann nach
innen. Er schwenkte die Taschenlampe nach draußen, in der Hoffnung, dass
irgendwelche Zweige oder Büsche unheimliche Schatten werfen würden. Die Zwerge
quietschten auf und klammerten sich aneinander, und Johannes lachte. Es hatte
großartig geklappt. Dann verstummte sein Lachen, als er selbst nach draußen sah.
Sein Kinn fiel herab und seine Augen weiteten sich. Ein paar Meter vom Zelteingang
entfernt, im direkten Licht seiner Taschenlampe stand vor dem Zaun zum
Nachbargrundstück eine menschliche Gestalt mit Rucksack in schwarzer Kleidung
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mit einer Skimaske, das Urbild eines Einbrechers. Die Gestalt legte den Kopf in den
Nacken und stöhnte. Sie zog eine Maschinenpistole unter ihrer Jacke hervor, richtete
sie auf das Zelt und hielt dann unentschlossen inne.
„Ich wollte ja die mit Schalldämpfer“, murmelte sie, um dann lauter und ziemlich
resigniert zu fragen: „Ihr würdet niemandem von der Sache hier erzählen, oder?
Wenigstens nicht innerhalb der nächsten zehn Minuten, vielleicht?“
Sonia ging die Treppe hinauf zu ihrem Zimmer. Auf der vorletzten Stufe blieb sie
stehen, lehnte sich mit geschlossenen Augen an das Geländer und seufzte.
Maas hatte ihr versprochen, dass sie morgen gehen konnte. Sie hatte ihnen alles
erzählt, was sie wusste. Morgen um diese Zeit konnte sie wieder zu Hause sein.
Konnte sie weiterleben. Dann wäre alles vorbei. Sie lächelte, als sie daran dachte,
dass sie ihren Freunden einiges zu erklären hatte. Mesut war sicher verrückt vor
Sorge. Und ihre Eltern. Vielleicht fahndete die Polizei nach ihr. Vielleicht hatte sogar
Marten mitbekommen, dass irgendwas nicht stimmte. Wahrscheinlich heute morgen,
als er versucht hatte, sie wieder anzupumpen. Sie lachte leise. Sie war eine Geisel
gewesen, von einem Killer bedroht worden, entkommen, dann wieder entführt
worden und hatte einer Gruppe von Untergrundkämpfern geholfen, einen Schlag
gegen eine andere zu führen.
Sie hatte ein richtiges Abenteuer erlebt, und in gewisser Weise freute sie sich darauf,
davon zu erzählen. Nicht nur weil sie die Gesichter ihrer Freunde sehen wollte,
sondern auch, weil sie es kaum erwarten konnte, auf dieses ganze Drama
zurückzublicken und darüber zu lachen.
Sie öffnete die Augen wieder und blickte auf die Tapete mit dem dunkelgrünen
Blattmuster. Es war ein hübsches Muster.
Eine Explosion erschütterte das Haus. Sonia hörte ein gewaltiges Krachen, das ein
schrilles Klingeln in ihren Ohren zurückließ. Der Fußboden bebte unter ihren Füßen
und das Geländer an ihrer Hüfte. Durch das Klingeln hindurch hörte sie knallende
Geräusche - weitere Explosionen, Schüsse? -, Schreie, Rufe, und ein neues,
gemächlicheres Krachen, vielleicht ein Teil des Gebäudes, der zusammenbrach.
Kouhei kam den Flur entlang auf sie zu gelaufen. Er beugte sich vor, nah an ihr
rechtes Ohr, und rief:
„Bitte gehen Sie in Ihr Zimmer und schließen Sie die Tür.“
„Was ist denn…“ begann Sonia, aber er kümmerte sich nicht mehr um sie, rannte die
Treppe hinunter und verschwand.
Sie blieb einen Moment lang verunsichert stehen, bevor sie mit klopfendem Herzen
den Flur entlang zur Tür ihres Zimmers eilte, hineinhuschte und mit zitternden
Fingern die Tür hinter sich verschloss. Eine kalte Hand packte Sonias Herz, als sie
sich umdrehte und die schwarz vermummte Gestalt auf ihrem Bett sitzen sah. Das
einzige, was aus der schwarzen Skimaske hervorschaute, war ein Paar grüner
Augen. Lenores Augen.
Sonia wollte schreien, aber die Furcht schnürte ihre Kehle zu. Sie wirbelte herum, um
zu fliehen, drückte die Klinke herunter, warf sich gegen die Tür - und erinnerte sich
im selben Moment daran, dass sie die gerade eben noch verschlossen hatte. Als sie
gerade nach dem Schlüssel greifen wollte, presste sich eine in einen schwarzen
Lederhandschuh gekleidete Hand auf ihren Mund, und Lenore verdrehte ihren
rechten Arm in einem Polizeihaltegriff hinter ihrem Rücken.
„Hallo Sonia“, sagte sie in fröhlichem Plauderton. „Finden Sie, dass ich in diesem
Ding fett aussehe?“
103
„Mmmm?“ Sonia wusste selbst nicht genau, was sie mit diesem Laut ausdrücken
wollte, aber es war ohnehin das einzige, was sie mit Lenores Hand vor ihrem Mund
herausbringen konnte.
„Ist aber unglaublich bequem, sollte man gar nicht glauben. Freuen Sie sich, mich zu
sehen?“
Sonia erschauerte, als sie sich daran erinnerte, unter welchen Umständen sie diese
Frage zuletzt gehört hatte. Lenore hatte das Mädchen im Keller das Gleiche gefragt.
Sie schüttelte heftig den Kopf, und Lenore lachte.
„Das ist aber schade; denn wissen Sie, ich bin sehr froh, Sie zu sehen.“
Sie verdrehte den Arm ein Stück weiter, so dass es anfing weh zu tun.
„Sie würden nicht schreien, wenn ich meine Hand da wegnähme, oder?“
Sonia schüttelte den Kopf.
„Gut. Das ist sehr vernünftig von Ihnen.“
Lenore nahm die behandschuhte Hand von ihrem Mund und tastete sie ab.
„Die anderen waren offenbar gründlicher als ich. Gut.“
„Was?“
Die Gedanken rasten in Sonias Kopf. Was war geschehen? Es hatte eine Explosion
gegeben, und jetzt war Lenore in ihrem Zimmer. Sie würde also doch sterben. Aber
warum war sie noch nicht tot? Warum hatte Lenore sie nicht gleich umgebracht?
Sonia bekam gar nicht richtig mit, als Lenore sagte:
„Die Lage ist offenbar komplizierter, als wir ursprünglich angenommen haben.“
„Was?“
Sie hatte die Worte gehört, aber nur als ein Gemurmel im Hintergrund, wie einen
fröhlichen Wasserfall oder so.
„Ich werde Sie nicht umbringen“, flüsterte Lenore in ihr Ohr. Sie ließ Sonia los und
trat einen Schritt zurück.
Sonia drehte sich um, sodass sie sie sehen konnte. „Was? Aber…“
„Wissen Sie eigentlich, was mit Leuten passiert, die dauernd ‚Was?’ sagen?“
„Wa… Woher weiß ich, dass das stimmt?“
Lenore zuckte ihre Schultern und lächelte.
„Das wissen Sie nicht. Ich weiß das selbst noch nicht so ganz genau, ich muss es mir
noch überlegen. Aber es ist Ihre einzige Hoffnung, deswegen sollten Sie’s besser
glauben.“
Das Argument hatte einiges für sich. Es war schließlich nicht so, als hätte sie
irgendeine Wahl. Vielleicht würde ihr ja später sogar wieder die Flucht gelingen.
Lenore fixierte sie mit ihren grasgrünen Augen. Sonia konnte ihrem Blick nicht lange
standhalten. Sie hatte einmal irgendwo gelesen, dass Tiere Menschen nicht in die
Augen sehen, weil sie darin etwas sehen, was sie beunruhigt. Etwas Fremdartiges,
das sie nicht verstehen. Sie konnte das nachempfinden.
„Bitte versuchen Sie nicht noch mal so einen blöden Scherz wie beim letzten Mal, ja?
Ich würde Ihnen das diesmal wirklich übel nehmen.“
Sie fügte keine Drohung hinzu, aber Sonia konnte sie in ihrem Tonfall mitschwingen
hören.
Sie nickte.
„Fein. Dann gehen Sie jetzt bitte vor, dort durch das Fenster, und dann die
Strickleiter hinab. Wir wollen den anderen nicht zu viel Zeit lassen, mir auf die
Schliche zu kommen.“
Sonia kletterte die Strickleiter hinunter in den Garten und ließ sich von Lenore durch
Büsche und Bäume zu einem Loch im Zaun zum Nachbargrundstück führen. Ein Zelt
stand unter einem Baum, die Klappe verschlossen, aber Sonia war zu sehr mit sich
selbst beschäftigt, um darüber nachzudenken.
104
Kouhei hatte ihr eine der kleinen weißen Kapseln gegeben und sie gewarnt, dass sie
sehr gefährlich waren. Das Ding war zu klein, als dass Lenore es beim Abtasten
hätte finden können, deswegen steckte es immer noch in der Brusttasche von Sonias
Bluse. Es war einerseits eine potentiell sehr mächtige Waffe, aber andererseits
brauchte Sonia jetzt eine Gelegenheit, diese Waffe einzusetzen. Ob Lenore sich von
ihr einen Cocktail ausgeben lassen würde?
„Geht es ein bisschen schneller?“ fragte Lenore, während sie die Skimaske abnahm
und einsteckte. „Ich wäre gerne hier weg, bevor die Polizei auftaucht.“
Sie führte Sonia durch eine kleine Pforte von dem Nachbargrundstück und dann
kleine, verschlungene Pfade entlang bis zu einer Nebenstraße, in der ein
unauffälliger Kleinwagen parkte. Sie öffnete die Beifahrertür, schob Sonia hinein und
setzte sich selbst auf den Fahrersitz.
Sie griff über Sonias Beine ins Handschuhfach, um zwei Milky-Way-Riegel daraus
hervorzuziehen. Sie packte den ersten aus und schob ihn sich ganz in den Mund. Sie
kaute ein paar Mal und packte währenddessen den zweiten aus. Sie schluckte und
verschlang den zweiten Riegel in der gleichen Geschwindigkeit. Sie schien sie gar
nicht richtig zu kauen, sondern sie nur schnell so zu deformieren, dass sie durch
ihren Hals passten. Sie seufzte zufrieden und ließ den Motor an, blinkte, schaute
über ihre linke Schulter und fuhr auf die Straße.
„Ich sollte jetzt wohl allmählich entscheiden, was ich mit Ihnen mache“, sagte sie
nach einer Weile.
In der Stille des fahrenden Wagens dachte Sonia kurz daran, Hunger vorzutäuschen
und Lenore zu fragen, ob sie nicht irgendwo anhalten konnten, um etwas zu essen.
Sie verwarf den Gedanken sofort. Es wäre zu offensichtlich gewesen. Sie musste
einfach auf ihre Gelegenheit warten.
Glücklicherweise gab es noch eine andere Frage, die sie fast genauso sehr
beschäftigte:
„Was ist denn überhaupt los? Warum wollen Sie mich plötzlich nicht mehr töten?“
Lenore seufzte.
„Ich glaube, ich kann Sie noch gebrauchen. Sie wissen ein paar Dinge. Maas ist mit
ein bisschen Glück vielleicht erledigt, aber wir wüssten trotzdem gerne noch ein
bisschen mehr darüber, wie es zu diesem ganzen Schlamassel gekommen ist.“
„Maas ist tot?“
„Wahrscheinlich nicht. Ich hätte die ganze Mission riskiert, wenn ich mich mit dem
Sprengsatz nah genug an sein Schlafzimmer gewagt hätte, um ihn zu kriegen. Ich
bin hungrig, und wir haben sowieso Zeit. Was mögen Sie?“
Was sie mochte. Es fiel Sonia auch in alltäglichen Situationen nicht besonders leicht,
ein Restaurant auszuwählen. Entführt zu werden und mit einer offenkundig
Wahnsinnigen über Gründe für und gegen einen Mord an ihr selbst zu parlieren
steigerte ihre Entschlussfreude nicht besonders. Im Gegenteil. Andererseits spürte
sie eine irrationale Angst, sie würde eine Chance verpassen, wenn sie nicht zügig
antwortete. Als würde Lenore sich plötzlich doch noch dagegen entscheiden, essen
zu gehen, bloß weil ihr nicht auf Anhieb ein Restaurant einfiel.
„Wer zahlt denn?“ eröffnete sie die Verhandlungen schließlich mit einem tapferen
Versuch zu scherzen.
Lenore ging darauf ein.
„Clarence“, erwiderte sie mit einem breiten, zahnigen Grinsen. „Wir haben eine
Abmachung; ich nörgle nicht an seinen Abschusslisten herum, und er nicht an
meinen Spesenabrechnungen.“
„Dann vielleicht im Jacob? Da war ich noch nie.“
105
Ein bekanntes teures Restaurant an der Elbchaussee. War für Sonia immer der
Inbegriff des unbezahlbaren Luxus gewesen.
Lenore seufzte, allerdings ohne echte Schwermut.
„Eigentlich nicht mein Stil. Aber ich habe gefragt.“
Nach einigen Sekunden des Schweigens murmelte sie, möglicherweise nur an sich
selbst gerichtet: „Andererseits ist es nicht besonders anonym. Vielleicht versprechen
Sie sich etwas von Ihrer Auswahl?“
„Nur ein Essen, das ich mir sonst nicht leisten könnte“, erwiderte Sonia beinahe
aufrichtig.
Lenore zauderte noch ein bisschen, aber wenig später betraten sie das Restaurant
Jacob. Das Grundstück, auf dem Maas Sonia gefangen gehalten hatte, war nicht
weit entfernt gewesen. Vielleicht hatte Lenore deshalb so schnell zugestimmt. Sie
hatte nicht einmal ihre Kleidung gewechselt. Lediglich ihre sichtbaren Waffen hatte
sie abgelegt. Mit dem schwarzen Rollkragenpullover und der passenden schwarzen
Hose konnte sie genauso gut als depressive Künstlerin durchgehen wie als
nächtliche Fassadenkletterin.
Obwohl die Kellner sie mit tadelloser professioneller Höflichkeit begrüßten, zu einem
Tisch führten und ihnen die Karten überreichten, fühlte Sonia sich ein wenig unwohl
in der elitären Atmosphäre des Spitzenrestaurants. Sie rechnete fortwährend mit
schiefen Blicken, die nicht kamen, und obwohl die meisten anderen Gäste zwar
teurer aber nicht unbedingt geschmackvoller gekleidet waren als sie selbst, befreite
sie nicht von dem Gefühl, dass man heimlich über sie lachte.
Während sie die Karte las, musste sie wegen der Preise immer wieder
unangebrachte Überreaktionen wie Hustenanfälle und Gelächter unterdrücken, und
schließlich orderte sie das Abendmenü einschließlich passenden Weins für 180
Euro. Lenore bestellte à la carte und rasselte ziemlich routiniert die teils deutschen,
teils französischen Namen ihrer acht Gänge herunter, ohne nur ein einziges Wort
ablesen zu müssen. Ein gutes Gedächtnis war in ihrem Beruf sicher wichtig. Ebenso
wie soziale Anpassungsfähigkeit.
Zwischen Sonias konfierter Vierländer Entenkeule und dem Hirschkalbsrücken mit
Pfefferjus beziehungsweise unmittelbar nach Lenores Bretonischem Rochenflügel
begann sie, ernsthaft an ihrem Plan zu zweifeln. Im Auto war es ihr noch durchaus
erstrebenswert erschienen, aber je weiter sich die Situation dahingehend entwickelte,
dass sie Lenore tatsächlich töten würde, desto mehr schwand ihre Mordlust. Es lag
vielleicht an dem leckeren Essen und der beruhigenden Musik, aber wahrscheinlich
war sie einfach ein Feigling.
Leise hörte Sonia das Summen eines Vibrationsalarms. Lenore zog ein Mobiltelefon
aus ihrer Tasche - und ließ es fallen. Sie starrte kurz auf die krampfartig zuckenden
Finger ihrer rechten Hand, um sie dann hastig in ihrer Tasche zu verstecken.
„Fuck!“ zischte sie, während sie sich unter den Tisch beugte, um mit der Linken das
Telefon aufzuheben, das dort immer noch vor sich hin vibrierte.
Sonia schluckte. Ihr wurde heiß. Und dann kalt. Schweiß trat auf ihre Stirn, und ihre
Handflächen wurden feucht. Dennoch glitt ihre Hand, als wäre sie gar nicht unter
ihrer bewussten Kontrolle, in ihre Hosentasche und zog die kleine weiße Tablette
hervor, die Kouhei ihr gegeben hatte. Sonia spürte, wie ihr Atem schneller ging und
ihre Kehle sich zuschnürte. Es konnte schief gehen. Aber dies war ihre Gelegenheit,
und es war eine viel bessere, als sie zu hoffen gewagt hatte. Es war keine Zeit,
darüber nachzudenken.
Sie ließ die Kapsel in Lenores Glas fallen. Lenore trank Bitter Lemon. Noch so ein
glücklicher Zufall. In der trüben Brühe konnte man unmöglich das feine Pulver
ausmachen, zu dem die kleine Tablette sofort zerfiel. Als Lenore wenige Sekunden
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später wieder auftauchte, hätte auch Sherlock Holmes keinen Unterschied mehr
bemerkt.
„Ja?“, meldete sie sich. „Äh… Das ist jetzt schlecht.“ „Wie, eilig? Hat sie denn gesagt,
worum es geht?“
Einige der anderen Gäste begannen, ihr tadelnde Blicke zuzuwerfen.
Lenore verdrehte die Augen und seufzte.
„Es geht gerade wirklich nicht, Philippe. Sagen Sie ihr bitte, dass ich zurückrufe,
sobald ich kann.“
Sie legte ihr Telefon auf den Tisch, betrachtete es kurz lächelnd und sagte, halb an
Sonia gewandt: „Meine Mutter. Sie wird immer völlig überdreht, wenn sie einen
Geburtstag plant.“
Sie griff nach ihrem Glas und nahm einen tiefen Schluck. Sonia sog scharf Luft ein
und spürte, wie sie zu zittern begann.
Ihr wurde klar, dass sie Lenore mit bebenden Lippen und geweiteten Augen
anstarrte. Und noch viel schlimmer, dass Lenore es im selben Augenblick auch
bemerkte. Ihre grünen Augen verweilten einige Sekunden in Sonias Gesicht, um
dann zu ihrem Teller zu zucken, dann zu ihrem Glas.
„Sie haben mich vergiftet, oder?“ hauchte sie.
Ihre Stimme zitterte ebenfalls, und aus ihrem Tonfall wie aus ihrer Mimik sprach
entsetzliche Angst, die Sonia auf absurde Art berührte. Sie nickte sehr langsam.
Ein Schauer durchlief sichtbar Lenores ganzen Körper. Sonia stand langsam auf. Ihr
Blick fiel auf Lenores Telefon auf dem Tisch. Ein kleines Motorola Razr V3. Sie hob
es auf und steckte es ein. Sie konnte damit die Polizei rufen. Und vielleicht würde
das Adressbuch wertvolle Informationen beinhalten. Selbst verwundert von ihrer
Geistesgegenwart verharrte sie einen Moment am Tisch. Lenores linke Hand zuckte
mit schlangenhafter Erst-hier-dann-dort-Geschwindigkeit zu Sonias Kragen. Mit
überraschender Kraft zog Lenore sie am Stoff ihrer Bluse auf die Tischplatte hinab,
sodass Sonias Kinn die weiße Tischdecke berührte. Sie konnte Lenores Gesicht aus
dieser Position nicht erkennen.
„Sie denken, Sie haben es geschafft“, sagte Lenore mit ungewohnt müder Stimme.
Erst jetzt fiel Sonia auf, dass im Restaurant völlige Stille herrschte, gewiss weil alle
gebannt das merkwürdige Schauspiel an ihrem Tisch beobachteten.
Lenore hatte einen Tisch in einer etwas abgelegenen Ecke ausgewählt, wo sie ein
bisschen für sich waren, aber dennoch entging natürlich niemandem, was sich
gerade abspielte.
„Sie denken, Sie sind entkommen“, raunte Lenore, noch immer leise aber mit immer
mehr Dringlichkeit in der Stimme. „Sie denken, Sie werden einfach in Ihr Leben
zurückkehren und das hier bald vergessen. Sie denken, Sie können jetzt einfach
gehen und mich hier sterben lassen…“
Für drei Sekunden schwieg Lenore, und das einzige, was Sonia hören konnte, war
das leise Husten eines anderen Gastes und ihr eigenes angestrengtes Atmen, weil
Lenore sie noch immer in eine sehr schmerzhafte und völlig unnatürliche Haltung
zwang.
„Sie haben NICHT!“ schrie Lenore plötzlich in die Stille hinein, jedes einzelne Wort
betonend, mit so viel Leidenschaft und - Hass? Wut? Angst? - in der Stimme, dass
Sonia sich fühlte, als hätte sie ihr in den Magen geboxt. Sie hörte andere Menschen
im Restaurant erschrecken, hörte, wie jemand erschrocken nach Luft schnappte und
wie ein Besteckteil zu Boden fiel.
„Sie sind NICHT!“ schrie Lenore, „Sie werden NICHT! Sie können NICHT!“
Eine kurze Pause, Sonia konnte nun auch Lenore keuchen hören, so sehr hatte sie
sich mit ihren Worten verausgabt. Sie fragte sich, wann das verdammte Zeug endlich
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zu wirken anfangen würde, und ob Lenore genug getrunken hatte. Sie hätte sich
selbst dafür in den Hintern treten können, dass sie ihre Mimik nicht besser kontrolliert
hatte.
„Sie werden nicht“, sagte Lenore, jetzt wieder in normaler Gesprächslautstärke, aber
noch immer jedes einzelne Wort betonend. „Sie sind nicht.“
Lenores Griff löste sich von Sonias Kragen so plötzlich wie er gekommen war. Sie
umfasste die Tischplatte, stemmte sich nach oben und sah sich hilfesuchend um.
Keine Spur von der Kraft und der Entschlossenheit, die sie gerade noch in der
Stimme der Mörderin gehört hatte. Anscheinend war ihr zumindest klar geworden,
dass sie dringendere Dinge zu tun hatte, als sich mit Sonia zu streiten.
Sonia drehte sich um und ging zum Ausgang. Hinter sich hörte sie das Klirren eines
auf dem Boden zerspringenden Glases und dann Lenores mühsam beherrschte
Stimme, die rief:
„Sonia, das wird Ihnen Leid tun!“ Dann nach einer Pause: „Ein Arzt! Ist ein Arzt hier?
Ich brauche einen Arzt. Bitte, ich brauche dringend einen Arzt!“
Sonia öffnete die Tür und verließ das Restaurant Jacob. Mit einer äußeren Ruhe, die
sie sich selbst nicht erklären konnte, stieg sie in eines der wartenden Taxis und ließ
sich auf die Rückbank fallen.
Alle Gespräche waren verstummt und sämtliche Anwesenden starrten sie an; aber
niemand sprang auf, wedelte mit einem schwarzen Lederkoffer umher und forderte
die Leute auf, ihn durchzulassen. Als auch auf ihren dritten Hilferuf niemand
reagierte, gestand Lenore sich ein, dass sie mit ihrem Problem wieder einmal allein
dastand.
Lenore kannte sich mit Gift ganz gut aus, aber da sie nicht wusste, welches Gift
Sonia ihr verabreicht hatte, nützte das nicht viel. Sie hatte auch keine Reiseaoptheke
mit Gegengiften bei sich, es war also eigentlich ohnehin egal.
Was auch immer es war, sie musste es aus sich herausbekommen. Nicht besonders
eindrucksvoll, aber ihre vorerst einzige Hoffnung. Sie hatte nur einen einzigen
Schluck aus dem Glas genommen, bevor ihr Sonias Mimik aufgefallen war. Sonia
hatte das Bitter Lemon nicht umgerührt, das meiste Pulver befand sich also
hoffentlich noch am Boden des Glases, wo es keinen Schaden anrichten konnte.
Lenore spürte noch keine Symptome außer Magenschmerzen und Übelkeit, was ein
weiteres gutes Zeichen war.
Lenore fixierte die mutigste Kellnerin, die bis auf Armlänge an sie herangetreten war
und sagte mit fester Stimme:
„Bringen Sie mir einen Salzstreuer, eine Flasche Wasser und ein Glas. Beeilen Sie
sich.“
Die junge Frau schaute sie verstört an.
„Schnell!“ fauchte Lenore.
Sie nickte und eilte davon. Lenore schloss die Augen vor dem Anblick des plötzlich
gar nicht mehr so leckeren Rochenflügels und versuchte, sich zu beruhigen und nach
weiteren Symptomen der Vergiftung Ausschau zu halten. Ihre Hände zitterten, aber
das konnte an der Nervosität liegen. Um den Begriff Todesangst zu vermeiden.
„Verzeihen Sie?“ Die Kellnerin.
Lenore schlug ihre Augen auf und griff ohne weitere Zeremonien das Glas und den
Salzstreuer. Sie schraubte einhändig den Deckel ab, schüttete eine großzügige
Portion Salz in das Glas, ließ den Streuer fallen, entriss der jungen Frau die
Wasserflasche und löste das Salz darin auf, indem sie mit ihrer Gabel umrührte.
Währenddessen warnte sie die Kellnerin vor:
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„Ich werde jetzt gleich auf Ihren Teppich speien. Bitte glauben Sie mir, dass ich so
was normalerweise nicht mache.“
Sie kippte das Salzwasser herunter, beute sich vor, stützte ihre Arme auf eine
Stuhllehne und gab dem Brechreiz nach. Sie fragte sich, ob sie die Menschen in dem
Restaurant töten sollte. Ihr Verhalten war so auffällig gewesen, dass es vielleicht
eine gute Idee gewesen wäre, keine Zeugen zu hinterlassen. Andererseits befanden
sich einschließlich Kellnern sicher über zwanzig Personen in diesem Raum, und es
gab zu viele Ausgänge. Es würde also bestimmt jemand entkommen. Sie entschied
sich gegen den Massenmord, kurz bevor sie zu würgen aufhörte.
Lenore griff nach der Flasche und leerte ihren restlichen Inhalt in einem Zug. Was
noch in ihrem Magen war, musste jetzt verdünnt werden.
„Noch eine!“ wies sie die entgeistert starrende Kellnerin an.
Sie stürzte auch die zweite Wasserflasche hinunter, verschüttete dabei allerdings
einen Teil. Mit Wasserflecken auf ihrem schwarzen Pullover stand sie schwer atmend
in einer Lache aus Erbrochenem in einem teuren Hamburger Restaurant und fragte
sich, was in einer solchen Situation das angemessene Verhalten wäre. Sie ertappte
sich bei einem Gefühl, von dem sie vermutete, dass es in näherer Zukunft ein guter
Vertrauter werden würde: Lenore schämte sich.
„Die Rechnung, bitte“, sagte sie; bezahlte, und verließ Jacobs Restaurant.
Vor ihrem kleinen Mietwagen blieb sie stehen, schloss die Augen und atmete ein
paar Mal tief ein und aus. Es war zu riskant, in den Wagen zu steigen. Sie wusste
nicht, ob sie fahren konnte. Es war aber auch zu riskant, hier zu bleiben, denn
irgendwann würden die Menschen im Restaurant aus ihrer Verwirrung erwachen und
mindestens einen Krankenwagen rufen. Lenore nahm ihren Rucksack aus dem Auto,
drehte sich um, schlang beide Arme um ihren schmerzenden Bauch und machte sich
auf den langen Weg zurück zu ihrem Hotel, oder zur nächsten U-Bahn-Station, oder
wohin auch immer sie es noch schaffen würde.
Ihr war schlecht. Sie hatte Kopfschmerzen, aber die hatten andere Gründe. Ihr war
auch schwindelig, und das war bestimmt das Gift. Lenore blieb wieder stehen, stützte
sich auf einen Gehwegpoller und sah sich um.
Sie fühlte sich noch immer schrecklich bloßgestellt und gekränkt, und sie hätte
stundenlang schreien und mit den Fäusten auf die Erde trommeln können, weil Sonia
sie schon wieder ausgetrickst hatte.
Sie versuchte sich mit Beispielen anderer Leute in noch peinlicheren Situationen zu
besänftigen. Ihr fiel nichts ein. In diesem Moment wurde ihr klar, was eigentlich
schon seit einiger Zeit offensichtlich war. Sie hasste diesen Job. Sie wollte nicht
mehr, sie konnte nicht mehr. Sie musste aufhören. Sie würde Clarence sagen, dass
sie aussteigen wollte. Dafür musste sie natürlich erst einmal hier rauskommen. Das
musste sie noch schaffen. Die Mission war ihr egal, aber sie würde nicht hier und
jetzt einfach aufgeben. Sie würde nicht einfach hier auf dem Gehweg
zusammensacken und warten, bis sie starb oder bis ein neugieriger Polizist zufällig
den Fund seines Lebens machte.
„Was machst du, wenn sie anrufen? Du musst dir vorher überlegen, was du sagst,
damit sie nicht“
„Mach dir keine Sorgen, Nikki. Wann haben meine Eltern das letzte Mal angerufen,
während du hier warst?“
„Und was, wenn heute das erste Mal ist? Das wär’ mir so peinlich, wenn deine Eltern
das rausfinden.“
„Tun sie nicht. Ich bin vielleicht ein Loser und ein Streber, aber ich bin nicht blöd.“
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„Das bist du nicht und ja, ich weiß. Aber du bist auch erst elf, Julian, und ich fühl’
mich wirklich mies, weil ich dich allein lasse und deine Eltern verarsche.“
Julian seufzte, aber er lächelte auch, weil sie ihm bei dem Loser widersprochen
hatte.
„Ich werd’ Lou nicht in den Mikrowellenherd stecken, und ich werd auch keine
Lagerfeuer im Wohnzimmer machen, okay? Solange du morgen spätestens um zwölf
hier bist, ist alles bestens.“
„Zwölf? Du hast doch gesagt, sie kommen um zwei nach Hause?“
„Glaub ich auch, aber vielleicht kommen sie früher. Aber sie kommen auf keinen Fall
vor zwölf.“
„Zwölf… Na gut, das krieg ich hin… Irgendwie.“
„Alles klar, oder?“
„Julian?“
„Was?“
„Bitte, bitte bitte bitte mach keinen Quatsch, ja? Deine Eltern bringen mich um, wenn
was passiert.“
Er hätte sie wieder fragen können, wann er in den Jahren, in denen sie auf ihn
aufgepasst hatte, jemals Quatsch gemacht hatte, aber Julian war sehr erwachsen für
einen Elfjährigen.
„Versprochen“, sagte er deshalb einfach.
„Und wenn irgendwas ist oder so, oder… Oder eben irgendwas ist, dann ruf mich an,
versprochen?“
„Versprochen.“
„Danke, Julian, du hast was gut.“
Nikki legte auf. Nikki war sechzehn und passte manchmal auf Julian auf, wenn seine
Eltern nicht da waren. Sie wohnte hier in der Nachbarschaft, und ihre Eltern waren
befreundet. Manchmal gingen sie gemeinsam zur Schule. Und er war ein kleines
bisschen verliebt in sie. Er sah sich im Spiegel, als er das Telefon zurück auf die
Station stellte, und ihm fiel auf, dass er wie ein Idiot grinste. Es war besonders
idiotisch, weil Nikki nur deshalb nicht auf ihn aufpassen konnte, weil sie mit ihrem
Freund einen Ausflug machte. Aber sie war ja erst sechzehn, da konnte sich noch
Vieles ändern, und Julian konnte warten.
Allerdings war Nikkis Dankbarkeit dafür, dass er ihren kleinen Schwindel mitmachte,
nicht der einzige Grund für seine gute Laune. Weil er allein zu Hause war, würde er
eine Pizza aufbacken. Seine Eltern konnten Pizza nicht ausstehen. Außerdem lief
heute Abend Enemy Mine im Fernsehen, und den konnte man gar nicht oft genug
sehen.
Zuerst würde er allerdings mit Lou einen Spaziergang machen. Den Begriff „Gassi
gehen“ mochte er nicht, das klang schrecklich blöd. Er nahm die Pizza aus dem
Tiefkühlfach, packte sie aus, schob sie in den Ofen und stellte ihn so ein, dass sie in
einer halben Stunde fertig sein würde. Genau dann, wenn er und Lou zurückkamen.
Lou wartete schwanzwedelnd und leise winselnd vor der Tür auf ihn. Hunde spüren,
wenn ein Spaziergang bevorsteht, und Lou war keine Ausnahme. Julian zog die
Flexi-Leine aus der Schublade, klickte sie an Lous Halsband, prüfte noch einmal, ob
er alles dabei hatte - den Haustürschlüssel, die Taschenlampe, seine PSP, die er
immer dabei hatte, seit die merkwürdige Frau mit den blonden Spikes ihn vor der SBahn gerettet hatte. Er trug sie in einer Bauchtasche, die er zwar ein bisschen
peinlich, aber furchtbar praktisch fand. Ein Mobiltelefon durfte er erst haben, wenn er
14 war, wegen der Kosten. Das fand er albern, weil er nicht so doof war, dass er auf
irgendwelche Abotricks reingefallen wäre, teure Nummern angerufen oder hunderte
Euro für Klingeltöne ausgegeben hätte, aber seine Eltern sahen zu viel fern und
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glaubten deshalb, dass Minderjährige sich mit einem Mobiltelefon zwangsläufig
hoffnungslos verschuldeten.
„Komm, Lou, los geht’s.“
Das Licht der Straßenlaterne, unter der er hindurchging, blendete ihn ein wenig,
deshalb bemerkte er die Gestalt in der Dunkelheit erst, als er sie schon fast berühren
konnte. Sie stützte sich schwer auf einen Gartenzaun, war weit vornüber gebeugt
und würgte, wie jemand, der sich übergeben wollte, aber nichts mehr im Magen
hatte.
Lou tapste neugierig auf sie zu und schnüffelte an ihren Turnschuhen.
Julian blieb erschrocken stehen und wollte Lou gerade wegziehen und die
Straßenseite wechseln, als er merkt, dass sie ihm bekannt vorkam. Er stockte. Und
dann drehte sie sich zu ihm, und es gab keinen Zweifel mehr: Es war die Frau mit
den blonden Spikes. Ihr Mund war mit Erbrochenem verschmiert, ihre Augen, die in
der U-Bahn-Station so lebendig und freundlich ausgesehen hatten, waren
blutunterlaufen und stierten unfokussiert links und rechts an ihm vorbei. Zuerst
dachte er, dass sie betrunken sein musste, und er spürte etwas wie eine Klammer
um seinen Brustkorb, die das Atmen erschwerte. Er mochte Betrunkene überhaupt
nicht. Sie machten ihm Angst und ekelten ihn an. Sein Onkel Thomas war
Alkoholiker. Aber weil sie ihn nun einmal gesehen hatte - obwohl sie kein Zeichen
gab, ihn zu erkennen - brachte er es nicht über sich, einfach wegzulaufen.
„Äh…“ begann er, und erst jetzt schien ihr richtig klar zu werden, dass jemand vor ihr
stand, „Kann ich… Ich meine… Geht es… Brauchen Sie Hilfe?“ stotterte er.
Sie zögerte kurz.
„Julian?“ fragte sie.
Vielleicht war sie gar nicht betrunken. Ihre Stimme war zwar wirklich undeutlich und
nuschelig, und sie stierte immer noch so ziellos ins Leere, aber irgendetwas war
merkwürdig. Sie klang nicht nuschelig wie eine Betrunkene, eher so, als wäre sie
krank oder sehr müde.
Lou hatte genug von ihren Schuhen und schnüffelte sich an den Zaun heran. Julian
zog ihn zurück.
„Ja… Kann ich Ihnen helfen?“ fragte er, jetzt fester, weil er keinen Grund mehr hatte,
sich vor ihr zu fürchten.
Sie seufzte, legte eine Hand über ihre Augen und massierte ihre Schläfe mit Daumen
und Zeigefinger.
„Ich brauche Hilfe“, sagte sie langsam. „Aber ob du mir helfen kannst, musst du
wissen. Sind deine Eltern zu Hause?“
„Nein.“
Er antwortete, ohne nachzudenken. Zu spät fiel ihm ein, dass seine Mutter ihm
immer wieder und wieder erklärt hatte, dass er Fremden gegenüber nie zugeben
durfte, dass seine Eltern nicht da waren.
„Aber sie kommen bald wieder“, fügte er hastig hinzu.
Sie lächelte.
„Sie kommen nicht bald wieder, oder?“ fragte sie in sehr freundlichem Ton.
„Nein.“ Sie hatte ihn durchschaut. Außerdem war ihm die Lüge sowieso von Anfang
an kindisch vorgekommen.
Er tätschelte Lous Kopf, damit der kleine Cockerspaniel nicht anfing, sich zu
langweilen.
„Das ist gut“, sagte sie. „Kannst du mich bitte mit nach Hause nehmen? Ich muss…
mich eine Weile ausruhen.“
Sie streckte eine Hand in seine Richtung aus.
„Was ist mit Ihnen?“ fragte Julian.
111
Sie seufzte wieder.
„Ich habe was Schlechtes gegessen. Aber das geht wieder vorbei, mach dir keine
Sorgen. Ich brauche nur ein bisschen Ruhe. Bitte?“
Er nahm ihre Hand. Sie fühlte sich gut an, schlank und warm und sehr feingliedrig. Er
stellte sich vor, dass es die Hand einer Pianistin war, oder vielleicht einer Malerin.
Irgendwoher kam plötzlich die Vorstellung, wie fabelhaft es sein musste, diese
freundliche, spontane junge Frau mit den schlanken Händen als Mutter zu haben,
und er schob den Gedanken sofort wieder von sich, weil er ihn albern fand. Er kannte
sie ja gar nicht.
„Kann ich mich ein bisschen auf dich stützen?“ fragte sie, „Mir ist ziemlich
schwindelig.“
„Okay…“
„Wie heißt dein Hund?“ fragte sie, während Julian sie die Straße entlang führte.
„Lou.“
„Das ist ein hübscher Name. Ich hatte auch mal einen Hund…“
„Ist er gestorben?“
„Es war ein Autounfall. Er war noch ein Welpe…“
Sie klang so schrecklich traurig, dass er bereute, gefragt zu haben.
„Tut mir Leid“, murmelte Julian.
Sie zuckte ihre Schultern.
„Es gibt schlimmere Arten zu sterben.“
Sein Kopf ruckte zu ihr hinüber. Warum hatte sie das gesagt? Was meinte sie damit?
Und warum war ihr Tonfall auf einmal so… anders? In diesem Augenblick bereute er,
ihre Hand genommen zu haben, und er versuchte unwillkürlich, die seine
zurückzuziehen, aber sie hielt ihn fest. Er zog nicht weiter.
Den Rest des Weges gingen sie schweigend, und Julian hatte noch nie in seinem
Leben solche Angst gehabt. Er hatte das Gefühl, einen echt schlimmen Fehler
gemacht zu haben.
Vielleicht sollte er sie lieber doch nicht mit nach Hause nehmen. Aber wie sollte er ihr
das jetzt plötzlich erklären?
Es war absurd, aber er dachte vor allem daran, wie enttäuscht Nikki von ihm sein
würde, wenn ihm etwas zustieß.
Sonia gab dem Taxifahrer in ihrer Aufregung ein völlig überhöhtes Trinkgeld und
blieb dann einige Sekunden in stummer Ehrfurcht mit offenem Mund vor der
Polizeidienststelle stehen. Es war ein sympathisches L-förmiges Backsteingebäude,
umgeben von Bäumen und Büschen. Im beleuchteten Innenhof standen acht
Einsatzfahrzeuge. Nie in ihrem Leben hatte Sonia sich so über Autos gefreut. Sie
legte den Kopf in den Nacken und blickte zu dem beleuchteten Schriftzug an der
Wand auf wie eine Gläubige zu einem weinenden Marienstandbild. Sie widerstand
dem intuitiven Verlangen, auf die Knie zu fallen und den Boden zu küssen und
brachte sich schließlich dazu, die letzten Schritte bis zur Tür zu gehen und das
Polizeikommissariat 26 zu betreten.
Es war ein sonderbares Gefühl. Es erinnerte Sonia ein bisschen an ihre
Abiturprüfung. Einerseits wusste sie, dass es jetzt vorbei war, dass sie alles
Schlimme hinter sich hatte und keine Angst mehr haben musste. Andererseits war
diese Tatsache noch nicht ganz bei ihr angekommen. Es stellte sich keine recht
Erleichterung ein, und keine Freude, und ganz bestimmt keine Ruhe und kein Gefühl
der Sicherheit. Aber es war vorbei. Sie war in einer Polizeidienststelle, sie war in
Sicherheit vor Lenore und allen anderen Verrückten. Maas’ Haus war eine Sache,
112
aber sogar Lenore würde es nicht wagen, sich direkt mit der gesamten Staatsgewalt
der Bundesrepublik anzulegen, oder?
Das Innere dieses Bollwerks der Staatsgewalt war ein bisschen antiklimaktisch.
Sonia betrat einen nahezu leeren Raum, in dem sich nur zwei Personen aufhielten.
Ihr zugewandt stand gerade ein junges Mädchen in Uniform auf, das sie nicht einmal
als Kindergärtnerin eingestellt hätte, weil sie nicht so aussah, als wäre sie in der
Lage, einen wütenden Sechsjährigen zu bändigen.
„Guten Abend“, sagte die Polizistin mit einem breiten Stewardessen-Lächeln, das
unter anderen Umständen sicher eine angenehme Überraschung gewesen wäre.
Zum Beispiel, wenn Sonia nicht gerade von einer wahnsinnigen Serienmörderin
verfolgt worden wäre.
Die Polizistin war fast zehn Zentimeter kleiner als Sonia selbst, hatte die
leuchtenden, riesigen blauen Augen, schulterlangen blonden Haare und die Figur der
Protagonistin einer Manga-Serie, die Sonia als Kind ab und zu gesehen hatte. Mila
hieß die, oder so ähnlich. Sie war augenscheinlich allerhöchstens zwanzig.
Wahrscheinlich verbrachte sie große Teile ihrer Dienstzeit damit, Verdächtigen zu
erklären, dass sie wirklich keine verkleidete Stripperin war.
Weiter hinten saß an einem anderen Schreibtisch mit dem Rücken zu Sonia ein
zweiter Uniformierter, von dem sie nicht viel erkennen konnte, außer dass er offenbar
deutlich übergewichtig und schon etwas älter war. Sie stützte sich auf den Tresen
und musterte ihr Gegenüber. Immerhin steckte da eine große schwarze Pistole im
Gürtel der Stripperin, und all dieses andere Zeug auch, das Polizisten eben immer
am Gürtel haben.
Sonia hatte sich nie besonders für Waffen interessiert. Ihr fiel auf, wie groß und
sperrig das Ding wirkte, wie es dort in seiner Halterung am Gürtel der kleinen jungen
Frau steckte. Auf eine kalte, technische Weise durchaus gefährlich, aber das fand sie
in diesem Moment sehr gut so. Englische Polizisten trugen überhaupt keine
Schusswaffen, oder? Sonia war froh, dass sie nicht in England war.
„Sie müssen schon was sagen, sonst passiert hier gar nichts“, sagte Mila mit ihrem
breiten Lächeln und den großen leuchtenden Augen.
„Ja… Ja natürlich, Entschuldigung.“ Sonia versuchte, tief durchzuatmen, aber sie war
immer noch so aufgeregt, dass es beinahe wie ein Schluchzen klang. „Können Sie
mir bitte sagen, dass ich in Sicherheit bin? Ich brauche das jetzt.“
Spätestens jetzt hätte das Lächeln wirklich verschwinden oder zumindest einfrieren
müssen. Aber es blieb. Es mischte sich nur ein bisschen Sorge und so etwas wie
Mitgefühl hinein.
„Sie sind in Sicherheit“, sagte sie. Es klang wirklich gut. Natürlich waren es nur
Worte, aber Sonia fühlte sich besser. Die Pistole sah wirklich verdammt groß aus.
„Danke.“
Und dann erstarb das Lächeln plötzlich, und auf Milas Stirn erschien sogar eine Spur
einer Nachdenklichkeitsfalte.
„Ihnen geht es doch gut? Brauchen Sie Hilfe? Also ich meine, einen Arzt oder so
was?“
Sonia zögerte, bevor sie antwortete: „Also… Ich bin nicht verletzt, falls Sie das
meinen, aber… Ja. Oh ja, ich brauche Hilfe.“
Die kleine Blonde schlug eine Hand vor ihren Mund und ließ sie dann mit peinlich
berührter Miene sinken. Ob sie sich der albernen Geste schämte oder eines anderen
Fehlers war nicht klar zu erkennen.
„Sie sind doch nicht… Sie sind es, oder? Sonia Schopp? Sie haben vom Taxi aus die
Notrufzentrale angerufen, richtig? Wir haben vorhin den Anruf bekommen, aber ich
hatte Sie mir mitgenommener vorgestellt.“
113
Während sie sprach, kam sie hinter dem Tresen hervor und schien dann kurz
darüber nachzudenken, einen Arm um Sonia zu legen, entschied sich dann aber
dagegen.
„Kommen Sie bitte mit. Kann ich Ihnen etwas zu trinken bringen? Oder zu essen?
Brauchen Sie sonst irgendetwas?“
M. Dohms war in das metallene Namensschild auf der Brust der Polizistin graviert. M
passte ja ganz gut, dachte Sonia. Sie schüttelte langsam ihren Kopf.
„Ich weiß nicht genau, was ich brauche. Ich hatte ehrlich gesagt gehofft, dass ich
jetzt erst mal gar nichts mehr entscheiden muss und Sie mir sagen, was passiert.
Können wir das bitte so machen?“
Mila lächelte ein bisschen schüchtern und nickte zögerlich.
„Ich versuche mein Bestes, in Ordnung? Die Sonderkommission ist auch schon
informiert, und in spätestens zwanzig Minuten sind hier Dutzende Leute, die genau
wissen, was zu tun ist. Bis dahin kann ich Sie in einem unserer Verhörräume
unterbringen und Ihnen einen Tee kochen.“
Sonia dachte kurz über das Angebot nach.
„Ich verzichte auf den Tee. Bitte bleiben Sie einfach bei mir, ja?“
„Riecht es hier etwa nach Pizza?“ fragte sie.
Und genauso plötzlich, wie sie entstanden war, verschwand die merkwürdige
Stimmung wieder. Das Lächeln in ihrem Gesicht vertrieb den gruseligen Ausdruck,
und in ihrer Stimme klang so viel arglose Freude mit, dass er nicht anders konnte, als
mit ihr zu lächeln.
„Ja, das ist Pizza“, sagte er, während er Lou die Leine abnahm.
„Welche Sorte?“
„Pasta.“ Er nahm den Beutel mit dem Trockenfutter aus dem Schrank und füllte und
zwei Händevoll davon in Lous Napf.
„Pizza mit Nudeln drauf?“
„Ja.“
„Merkwürdig, dass ich überhaupt schon wieder Appetit habe. Ich glaube, ich sollte eh
noch nichts essen…“
„Ähm…“ Er war sich nicht sicher, was er sagen sollte, aber dann entschied er,
einfach zu fragen. „Wie heißen Sie eigentlich?“
Sie lachte.
„Ich schlag dir was vor. Du sagst mir, wo ich mich ein bisschen ausruhen kann, und
ich sag dir meinen Namen. Abgemacht?“
„Klar. Entschuldigung…“
Er führte sie zum Sofa.
„Sie können sich hinlegen, wenn Sie sich ausruhen wollen. Wir haben leider kein Bett
frei, falls Sie…“
„Schon gut. Danke.“
Sie begann, ihre Schuhe auszuziehen.
„Lenore“, sagte sie.
„Wie diese Frau aus dem Raben?“
„Sag mal, wie alt bist du?“
„Ich bin elf.“
„Hätte ich erst mal auch geschätzt. Aber du benimmst dich nicht so.“
„Danke“, sagte Julian, weil ihm nichts Besseres einfiel.
Sie legte sich auf das Sofa, mit dem Kopf und den Füßen auf den Armlehnen. Sie
trug lustige Socken. Die eine war schwarz mit einem roten Muster, die andere rot mit
dem gleichen Muster in schwarz.
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Er öffnete die Backofenklappe, zog das Blech heraus, schob die Pizza auf einen
großen Teller. Die Küche war offen und nur durch einen Tisch mit Barhockern vom
Wohnzimmer getrennt.
„Soll ich sie Ihnen achteln oder essen Sie…“
Er hielt inne, als er sah, dass Lenore eingeschlafen war. Lou stand neben ihr,
schnüffelte, leckte ihre Hand und tappte zu seinem Korb. Julian nahm es als gutes
Zeichen, dass Lou sie offenbar mochte.
„Bleibt mehr für mich“, murmelte er und setzte sich an den Küchentisch.
Er hatte die Pizza noch nicht ganz aufgegessen, als Enemy Mine anfing, deshalb
nahm er seinen Teller mit vor den Fernseher und aß auf dem Fußboden weiter. Er
benutzte Kopfhörer, damit er sie nicht weckte.
Er fand es selbst ein bisschen seltsam, dass er sich nicht unwohl fühlte, obwohl auf
dem Sofa hinter ihm eine Frau schlief, die er überhaupt nicht kannte. Aber irgendwie
kam Lenore ihm schon wie eine Freundin vor. Er vertraute ihr, und Lou schien es ja
genauso zu gehen. Natürlich würden seine Eltern ausrasten, wenn sie davon
erfuhren, und Nikki würde wahrscheinlich auch einen Schreikrampf kriegen, aber er
musste es ihnen ja nicht erzählen.
Nach Enemy Mine kam noch so eine komische Gameshow, die ihn nicht
interessierte, deshalb holte er das Graveyard-Buch aus seinem Schulrucksack und
versuchte zu lesen. Es gelang ihm aber nicht besonders gut, weil er immer wieder
über die Sache mit Lenore nachdachte. Was würde er machen, wenn sie die ganze
Nacht durchschlief? Er wusste nicht genau, wann Nikki wiederkommen würde. Sie
konnte es natürlich schlecht seinen Eltern erzählen, weil sie dann ja selbst auch dran
wäre, aber trotzdem wusste er nicht, wie er ihr die Sache erklären würde. Das
beschäftigte ihn, bis Lenore schließlich wieder erwachte. Er hörte sie etwas flüstern,
das er nicht verstehen konnte, das aber sehr erleichtert klang. Er sah zu ihr hinüber,
und sie erwiderte seinen Blick. Und lächelte.
„Es geht mir viel besser“, sagte sie. Die Worte waren erfüllt von einer stillen Freude,
und Julian war sehr erleichtert. Er war nicht oft Gastgeber für irgendjemanden,
geschweige denn für Erwachsene, und er war froh, dass er es offenbar richtig
gemacht hatte. Außerdem war es ein gutes Gefühl, Lenore geholfen zu haben.
„Das freut mich“, sagte er nur, auch wenn es ein bisschen doof klang.
„Kannst du mir vielleicht ein Glas Wasser bringen?“ fragte sie. „Ein großes?“
„Klar doch.“
Er sprang schnell auf und lief, um ihr das Glas zu holen. Sie nahm es - und
verschüttete beinahe die Hälfte, so stark zitterte ihre linke Hand. Sie nahm es in die
rechte und trank es aus. Glücklicherweise saß sie ein bisschen vorgebeugt, sodass
das Wasser auf dem Teppich landete, nicht auf dem Sofa.
„Danke schön“, sagte sie, aber das Lächeln war verschwunden.
„Geht es Ihnen wirklich gut?“
„Ich habe einen Gehirntumor“, antwortete sie mit tonloser Stimme und gesenktem
Blick.
„Oh“, sagte er. „Das tut mir Leid.“ Er stand noch immer vor ihr und wusste nicht so
recht, was er mit sich anfangen sollte, deswegen setzte er sich wieder vor dem Sofa
auf den Teppichboden.
„Er ist… ziemlich sicher nicht operabel“, fuhr sie fort. Sie hielt das Glas in ihrer Hand
und drehte es langsam und sah dem Licht darin zu. „Ich warte noch auf den
endgültigen Befund, aber der Tumor muss bösartig sein, wenn die Symptome mich
nicht ganz arg täuschen, und ich habe ihn zu spät entdeckt und ich werde
wahrscheinlich…“ Sie hielt inne und schüttelte ihren Kopf, nur ganz leicht. Als sie
weiter sprach, hatte ihre Stimme wieder Betonung und klang beinahe so
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unbeschwert wie vorher. „Entschuldige bitte. Das ist nicht dein Problem. Vergiss
einfach, dass ich das gesagt habe, ja?“
Er zögerte. Er wollte irgendetwas in der Richtung sagen, dass er es gar nicht
vergessen wollte und dass es ihm wirklich Leid tat. Und es schmerzte ihn tatsächlich,
dass diese liebenswerte lebendige junge Frau an so einer gemeinen Krankheit wie
Krebs sterben würde. Aber er wusste nicht, wie er das ausdrücken sollte.
„Es ist nicht fair“, sagte er schließlich.
Zu seiner Überraschung lachte sie, wenn auch nicht besonders fröhlich.
„Doch“, sagte Lenore, „Das ist es eigentlich schon. Aber das ist wieder eine andere
Geschichte, die nicht dein Problem ist.“
„Sie sind nicht von hier, oder?“
Sie stellte das Glas vor sich auf den Boden und sah ihn mit diesem merkwürdigen
misstrauischen Lächeln an, das ihm viel lieber war als das herablassende Getue, das
die meisten Erwachsenen an den Tag legten, wenn sie merkten, dass er mit ihnen
auf Augenhöhe sprach.
„Woran merkst du das?“
„Sie reden ein bisschen komisch. Aber nicht schlecht oder so, nur ein kleines
bisschen anders als Leute, die ich kenne“, fügte er schnell hinzu.
„Das fällt sonst nie jemandem auf…“
Er wollte das Thema wechseln, weil es ihm ein bisschen unangenehm war, wenn
Leute ihn lobten: „Sind Sie beruflich hier, oder im Urlaub?“
„Beruflich.“ Sie seufzte tief und lange und lehnte sich dabei weit auf dem Sofa
zurück. „Ich glaube aber, ich schmeiße hin.“
„Sie wollen kündigen?“ fragte er überrascht.
Sie zuckte die Schultern.
„Vielleicht.“ Nach einer Pause: „Ja. Ich hab keine Lust mehr. Mein Job ist…
frustrierend, weißt du? Und ich bin nicht mal mehr besonders gut darin.“
„Wieso nicht mehr?“
„Ich glaube, es hat mit dem Tumor zu tun. Wäre mir jedenfalls immer noch lieber, als
wenn ich einfach so zu blöd dafür wäre.“
„Was machen Sie denn eigentlich?“
Sie zögerte kurz, bevor sie antwortete: „Ich bin so eine Art Kurier. Ich finde Leute,
und… rede mit ihnen. Stelle Fragen. Oder überbringe Botschaften. Ich kann’s einfach
nicht mehr. Ich will nicht mehr.“ Sie schüttelte langsam ihren Kopf, während sie das
sagte.
„Dann sind Sie auch hier, um jemanden zu finden?“
Sie nickte. „Ja. Ich hab sie sogar schon gefunden, zwei Mal, aber sie ist mir
entwischt.“
„Mein Vater sagt immer, man muss zu Ende bringen, was man angefangen hat.“
Sie Lachte laut auf und wurde dann sofort wieder ernst. „Sagt er das?“
Julian nickte. „Sie können doch danach aufhören. Wenn Sie die Sache hier erledigt
haben. Mein Vater sagt immer, man findet sonst eh keine Ruhe. Außerdem ist es
nicht in Ordnung, einen Job anzunehmen und dann mittendrin aufzuhören. Bestimmt
sind Sie gar nicht so schlecht, wie es Ihnen vorkommt. Sie schaffen das schon!“
Sie seufzte wieder, aber diesmal wirkte es nicht so traurig, eher nachdenklich.
„Vielleicht hat dein Vater Recht“, sagte sie. Dann sah sie auf und ihm direkt in die
Augen. Ihr Blick war unglaublich intensiv. „Aber ich will wirklich nicht mehr. Ich habe
einen ziemlichen Schlamassel angerichtet, weißt du?“
„Umso mehr Grund, die Sache in Ordnung zu bringen, bevor Sie aufhören. Ich kenn
das selbst. Wenn ich meine Hausaufgaben erledigt habe, fühle ich mich immer viel
besser, auch wenn’s schwer war und ich erst dachte, ich schaff’ es nicht.“
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Sie lächelte. Es war ein unglaublich warmes, freundliches Lächeln. Julian dachte,
dass er vielleicht auch ein kleines bisschen in sie verliebt war. Obwohl er sich nicht
sicher war, wie das mit Nikki zusammen passte. Konnte man in zwei Frauen verliebt
sein?
„Vielleicht hast du Recht“, sagte sie. „Wenn ich jetzt aufgebe, habe ich verloren.“
Julian grinste sie an. „Verlieren Sie auch nicht so gerne?“
Sie schüttelte ihren Kopf. „Überhaupt nicht.“
„Wissen Sie denn, wo Sie denjenigen wiederfinden, den Sie suchen?“
„Nein. Aber ich weiß, wie ich sie erreichen kann.“
Sie sah auf ihre Armbanduhr - eine unauffällige dünne schwarze - und stand auf. Lou
sah das wohl als ein Signal, dass jetzt etwas Interessantes passieren würde, denn er
sprang aus seinem Korb und lief zu ihr, um schwanzwedelnd zu ihr aufzuschauen.
„Das ist ein bisschen taktlos, aber ich denke, dass es besser ist, wenn ich mich jetzt
an die Arbeit mache, wenn ich doch nicht aufgeben will. Ich habe schon viel mehr
Zeit verloren, als ich mir leisten kann.“
„So spät noch? Es ist mitten in der Nacht!“
Sie lachte wieder.
„Gerade da gibt es für mich immer am meisten zu tun.“
Er konnte sich schon ein paar Möglichkeiten denken, was das zu bedeuten haben
könnte. Es klang abenteuerlich. Aber er fragte nicht weiter. Vielleicht, weil er es nicht
wissen wollte, falls sie etwas Verbotenes machte.
Sie hob ihren Rucksack auf und ging zur Tür, und Lou und Julian liefen ihr nach. Sie
drehte sich zu ihnen um und gab Julian ihre Hand. Er mochte das Gefühl. Meistens,
wenn Erwachsene ihm die Hand gaben, grinsten sie dabei, als fänden sie es
wahnsinnig witzig und albern, aber Lenore schien es ernst zu meinen. Nachdem sie
seine Hand wieder losgelassen hatte, schaute sie einige Sekunden nachdenklich auf
ihn herab. Sie griff in ihre schwarze Lederjacke und zögerte einen Augenblick.
Als sie die Hand aus ihrer Jacke hervorzog, hielt sie eine kleine weiße Visitenkarte.
Sie streckte sie Julian entgegen, und er nahm sie. Es war eine schlichte weiße Karte
aus dickem Papier mit deutlich fühlbarer Struktur, auf der in schlichter schwarzer
Schrift gedruckt stand:
Discordia, Inc.
Und darunter eine sehr lange Telefonnummer. Nichts weiter.
„Wenn du mal ein wirklich schlimmes Problem hast, ruf an und frag nach Le- Nein.“
Sie machte eine nachdenkliche Pause, bevor sie weiter sprach. „Frag nach Clarence.
Ich arbeite dann wahrscheinlich nicht mehr dort.“
„Was ist das für eine Firma?“ fragte Julian.
„Wir lösen Probleme“, sagte Lenore. „Aber nur große. Ruf nur an, wenn ein Problem
so wichtig ist, dass du… deine Seele dafür verkaufen würdest.“
„Meine Seele?“
„Deine Seele. Und heb die Karte gut auf. Wir stehen nicht im Telefonbuch. Vielen
Dank für alles, Julian.“
Sie winkte ihm noch einmal zu, bevor sie die Tür öffnete und verschwand.
Julian stand noch lange da und betrachtete die Karte. Und fragte sich, woher sie
seinen Namen gekannt hatte.
Lenore lehnte sich neben der Tür an die kalte grob verputzte Wand des
Treppenhauses und schloss ihre Augen. Sie hätte den Jungen vielleicht töten sollen,
aber sie hatte es nicht getan. Sie war sich nicht sicher, ob das ein gutes oder ein
schlechtes Zeichen war. Kinder hatten einen besonderen Platz in ihrem Herzen.
Julian hatte sie fast umarmen wollen, das hatte sie bemerkt. Sie hätte es sich sogar
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gefallen lassen. Eigentlich bedauerte sie sogar ein bisschen, dass er es nicht getan
hatte. Aber sie hatte nicht die Kraft, es von sich aus zu tun.
Es gab Zeiten, da spürte sie den verdammten Tumor. Da konnte sie fühlen, wie er
sich in ihr Gehirn fraß und Stück um Stück von ihr zerstörte. Das waren Zeiten, in
denen sie weinen wollte, und schreien, und manchmal tat sie sehr unvernünftige
Dinge in diesen Zeiten. Sie wollte nicht sterben. Sie wollte so verzweifelt nicht
sterben, dass es sie selbst manchmal anwiderte. Jedes Mal, wenn ihre Hand zitterte
oder sie einen Teil ihres Körpers nicht mehr fühlen konnte oder sie ein falsches Wort
sagte und ihr das richtige nicht einfiel, spürte sie die kalte Hand nach ihr greifen, und
sie konnte nicht verstehen, warum sie sterben musste. Warum in einer Welt ohne
Gott und ohne Gerechtigkeit ausgerechnet sie schon so jung sterben musste. Lenore
hasste es, wenn ihre Opfer bettelten, und sie verachtete es auch an sich selbst, aber
sie konnte nicht anders, als um ihr Leben zu flehen und zu weinen und zu klagen.
Sie erniedrigte sich vor niemandem als vor sich selbst, aber das ist eigentlich auch
die einzige Erniedrigung, die wirklich zählt.
Lenore schniefte und wischte sich mit dem Handrücken Tränen aus dem Gesicht. Sie
würde jetzt ihren verdammten Job erledigen, dann würde sie nach Hause fahren und
den Geburtstag ihres Großvaters feiern, und dann würde sie allmählich
degenerieren, bis sie schließlich starb, wenn der Tumor ihr Atemzentrum oder einen
anderen lebenswichtigen Bereich ihres Gehirns erreichte. Vielleicht würde das
passieren, bevor oder nachdem sie die Kontrolle über ihren Speichelfluss, ihre
Sprache, ihre Augen, ihre Schließmuskeln endgültig verloren hatte, aber spielte das
noch eine große Rolle?
Lenore ließ sich langsam an der Wand hinabsinken. Sie spürte Tränen über ihre
Wangen rinnen und wie sich langsam ihr Hals zuzuschnüren begann. Sie wollte sich
jetzt nicht ihrer Verzweiflung und ihrem Selbstmitleid und Wut hingeben, aber sie
befürchtete, dass sie keine Wahl hatte.
Sie hatte niemandem von dem Tumor erzählt. Nicht einmal ihrer Mutter. Nicht einmal
Clarence. Sie würde es nie wieder jemandem erzählen, und sie würde ganz alleine
sterben, vielleicht in ihrem Haus am Fjord, oder vielleicht in irgendeinem
Krankenhaus. Sie fürchtete sich besonders vor der Einsamkeit am Ende, obwohl sie
beim besten Willen nicht wusste, was sie gerade beim Sterben mit Gesellschaft
anfangen sollte, zumal sie doch ihr ganzes Leben lang immer alleine gewesen war.
Ein leises Schluchzen entrang sich ihrem Hals, und sie erstickte es, so gut sie
konnte. Sie hätte sich schrecklich geschämt, wenn Julian sie gehört hätte.
Sabine Schopp summte leise die Melodie mit, die sie aus den Lautsprechern des
Mövenpick-Cafés ab Flughafen hörte. Strangers in the Night. eigentlich hielt sie nicht
viel von Sinatra. Ihr Bruder liebte Old Blue Eyes mit solcher Leidenschaft, dass er ihr
sogar die Freude an seinen weniger bekannten Stücken für alle Zeiten ausgetrieben
hatte. Sie tappte sogar den Rhythmus mit den Fingern auf ihrem Koffer mit. Das
zufriedene Lächeln war sicher in ihrem Gesicht verankert, obwohl sie jetzt schon seit
einer Viertelstunde auf ihren Mann wartete, der sie eigentlich abholen wollte.
Wahrscheinlich stand er im Stau.
Sabine Schopp war blendender Laune. Sie hatte die letzten zwei Tage in Mailand
verbracht - Milano, sie selbst nannte alle italienischen Städte nur bei ihren
italienischen Namen und kümmerte sich nicht darum, dass das gelegentlich affektiert
wirkte - und fühlte sich wie nach einem mehrwöchigen Urlaub. Italien hatte diese
Wirkung auf sie, und es gab keine Region Italiens, die sie so sehr liebte wie die
Lombardei, und keine Stadt wie Milano. Sie konnte Stunden damit zubringen, einfach
auf der Piazza Mercanti die Palazzi zu betrachten, Espresso zu trinken und die
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Menschen zu beobachten. Italiener. Laut, aber sympathisch. Lebhaft eben.
Südländisch.
Natürlich freute sie sich auch, wieder nach Hause zu kommen. Sie hatte Carsten
vermisst, und war ein bisschen besorgt, ob er nicht doch böse war, dass sie
zugestimmt hatte, ohne ihn zu fliegen. Aber er war selbst Schuld, er hatte es ja
vorgeschlagen.
Am kommenden Wochenende würde sich die ganze engere Familie, also sie selbst
und Carsten, ihre Mutter und seine, ihr Bruder, Sonia und Marten, zum Abendessen
treffen. Sie freute sich sehr darauf, Sonia wieder zu sehen. Und auch Marten
natürlich. Marten. Ihre Hände hörten für die Zeit eines Seufzers mit dem Trommeln
auf, aber das Lächeln blieb.
Sie konnte es kaum erwarten, ihnen ihre Geschenke zu geben. Carsten würde
seines sofort erhalten, für ihn hatte sie eine EcoSphere gekauft, ein ovales
Glasgefäß, in dem sich ein komplettes Ökosystem befand. Kleine Krebse
schwammen darin herum, die sich von Algen ernährten, die für ihr Wachstum nur
Sonnenlicht und die vorhandenen Nährstoffe benötigten. Sie hatte es schon aus dem
Koffer geholt und hielt die Plastiktüte mit dem Karton in der Hand.
Angeblich würde alles darin ganz von selbst weiter leben für mindestens fünf Jahre,
ohne dass man Futter dazugeben oder das Glas auch nur berühren müsste. Carsten
wäre sicher begeistert. Er hatte vor acht Jahren mal ein Aquarium gekauft, aber aus
irgendwelchen Gründen waren ihm stets nach kurzer Zeit sämtliche Fische
eingegangen. Nach dem dritten Versuch hatte er aufgegeben. Sonia und Sabine
zogen ihn noch heute gerne mit seinem schwarzen Daumen auf. Sie grinste. Ein
versiegeltes, völlig autarkes Ökosystem hinter einer robusten Glaswand war genau
das richtige für ihn.
Seine einzige Möglichkeit, Schaden anzurichten, bestand darin, die Kugel in eine
dunkle Schublade zu legen und mehrere Tage darin zu lassen. Sie machte sich eine
gedankliche Notiz, das regelmäßig zu überprüfen. Wenn sie mal wieder für eine
Weile ohne ihn verreiste, würde sie natürlich einen Krebssitter engagieren müssen,
dachte sie, und lachte leise. Sie freute sich auf seinen Gesichtsausdruck, wenn sie
ihm das erklärte.
Für Sonia hatte sie einen grässlich kratzigen dunkelbraunen Schal mitgebracht. Aus
Rache. Zu ihrem letzten Geburtstag hatte sie von ihrer Lieblingstochter ein sehr
ähnliches Accessoir erhalten, das offenbar aus bemalten Drähten bestand, jedenfalls
fühlte es sich auf der Haut so an.
Und für Marten hatte sie eine kniehohe Actionfigur der Hauptperson aus Waterworld
mitgebracht. Sie selbst fand weder den Film noch die Figur besonders ansprechend,
aber er würde sich sicherlich darüber freuen. Falls er nicht schon eine hatte. Sabine
seufzte noch einmal, wieder ohne ihr Lächeln zu verlieren. Sie hatte zu wenig
Kontakt zu ihrem Sohn. Sie war sich ziemlich sicher, dass das nicht ihre Schuld war,
aber das machte es natürlich auch nicht besser.
Sonia hatte sogar einmal angedeutet, dass er vielleicht Drogen nahm. Was war nur
passiert? Marten hatte in der Schule immer ganz ordentliche Zensuren bekommen.
Nicht so wie Sonia, deren schlechteste Zensur stets die Zwei Minus in Musik
gewesen war, aber doch besser als der Durchschnitt. Erst später, als er sein erstes
Studium angefangen hatte - Medizin; Carsten war sich von Anfang an sicher
gewesen, dass das ein Fehler gewesen war - da hatte er sich von ihnen entfernt.
Das Studium hatte er abgebrochen. Dann ein neues angefangen, Archäologie, und
nach zwei Semestern abgebrochen. Dann nichts mehr. Wenn sie ihn fragten, was er
machen wollte, schnitt er nur eine Grimasse und zeichnete ein Quadrat in die Luft.
Square. Spießer meinte er damit. Ob er wohl wusste, dass sie den Ausdruck kannte?
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Sabine lächelte. Ihrer Meinung nach war sie recht gut auf dem Laufenden für eine
Siebenundvierzigjährige. Andererseits dachten die anderen das wahrscheinlich auch
alle.
Sabine beschloss, beim Essen am Wochenende noch einmal zu versuchen, mit ihm
zu sprechen. Nicht, dass sie das nicht schon oft versucht hätte… Vielleicht war es
die gehobene Urlaubsstimmung, die ihr die Hoffnung gab, dass es diesmal anders
laufen könnte. Aber vielleicht konnte sie ja auch wirklich…
Sie unterbrach den Gedanken, als sie Carsten in seinem Rollstuhl in der Menge der
umherhuschenden Menschen in der Halle entdeckte. Sie hob ihren Arm, winkte ihm
zu, nahm den Koffergriff in die Hand und eilte auf ihn zu.
„Na“, sagte sie, als sie nah genug bei ihm war, dass er sie hören konnte, „Du hast dir
aber ganz schön Zeit gelassen, hast du etwa…“
Zum ersten Mal seit Stunden, möglicherweise sogar seit Tagen, flackerte das
Lächeln in ihrem Gesicht, als sie sein Gesicht sah.
„Was…?“
Er schüttelte den Kopf.
„Zu Hause“, sagte er.
Sie sog Luft ein, und ihr Atem stockte, während sie darüber nachdachte.
„Nein“, sagte sie schließlich, „Das geht nicht. Das halte ich nicht aus. Was ist los,
Carsten?“
Er sah sich mit einem beinahe verzweifelten Blick um.
„Ich kann das nicht hier.“
Sie zeigte auf einen der vielen Wegweiser.
„Es gibt hier einen Andachtsraum, da können wir uns unterhalten. Aber ich werde
jetzt nicht eine Stunde lang im Auto neben dir sitzen und darauf warten, zu erfahren,
welche Katastrophe passiert ist, während ich weg war.
Er zuckte die Schultern und rollte vor ihr her zu der menschenleeren
Flughafenkappelle, und sie setzte sich darin auf einen Stuhl, ihm gegenüber. Sie
bemerkte gar nicht, dass sie immer noch die Tüte mit der EcoSphere trug.
„Was ist passiert?“
Er sah sie lange Zeit an, bevor er antwortete, Ihr kam es vor, als wären es fast fünf
Minuten, bevor er begann. Er machte es kurz. Er versuchte nicht, sie vorzubereiten
oder zu schonen. Marten war tot. Sonia war entführt worden. Vielleicht von der
gleichen Person, die Marten getötet hatte.
„Er ist tot?“ fragte sie.
Carsten nickte.
Sie spürte, wie ihre Unterlippe zu zittern begann, und dann spürte sie die ersten
Tränen über ihre Wangen laufen.
„Aber - aber Sonia geht es gut?“ fragte sie.
Er kam näher und nahm sie in den Arm, so gut er das aus seinem Rollstuhl heraus
konnte.
„Sie… Sie haben gesagt, dass wir die Hoffnung nicht aufgeben sollen, aber…“ Er
seufzte. „Ich weiß nicht, ob sie mich nur schonen wollten. Niemand hat Lösegeld
verlangt. Die Polizei meint, dass es nicht um Geld geht.“
Nicht um Geld? Aber worum sollte es denn dann gehen? Warum sollte denn sonst
jemand Sonia entführen? Und Marten. Sabine dachte an die entsetzliche Actionfigur
in ihrem Koffer, und dann begann sie zu schluchzen.
„Ich ha-hab dir was mit-mitgebracht“, stieß sie hervor und befreite sich aus seinen
Armen, um ihm die Tüte entgegen halten zu können.
Carsten blickte mit starrer Miene darauf hinab, dann nickte er mit einem Hauch eines
zitterigen Lächelns. Er nahm das Geschenk und legte es auf seinen Schoß.
120
„Es ist ge-genau das richtige für dich“, sagte sie. „Aber we-wenn ich das nächste Mal
weg bin… We-wenn ich das nächste Mal…“
Er beugte sich vor, um sie wieder in den Arm zu nehmen.
Bevor sie ihr Gesicht in der Halsbeuge ihres Mannes vergrub, sah Sonia Schopp
noch, wie die Tür der Kapelle sich öffnete und eine junge Frau eintrat.
„Sie ist ihr schon wieder entwischt.“
Clarences Finger gruben sich tief in die Armlehnen seines Sessels. Das ‚Siehst du,
was hab’ ich gesagt’-Grinsen in Kiras Gesicht verbesserte seine Stimmung auch
nicht.
„Schon wieder“, sagte er. Es klang ein bisschen merkwürdig, weil es ihm schwerfiel,
seine Zähne auseinanderzubekommen.
„Genau“, antwortete die Stimme aus dem Lautsprecher. „Und jetzt ist sie in einem
Polizeirevier in Blankenese.“
„Was für ein Glück, dass sie gar kein Ziel mehr für uns ist“, warf Kira ein.
„Ich käme an sie ran“, sagte die Stimme. „Es wäre nicht einfach, womit ich sagen will,
es wäre nicht ganz billig, aber ich käme an sie ran.“
„Was nützt uns das?“ fragte Clarence. „Wenn Sonia tot ist, dann ist Lenore weg.“
„Wir können ihr einen neuen Auftrag geben“, meinte Kira. „Dann könnten wir alles
genau so vorbereiten, wie wir es brauchen.“
Clarence schüttelte seinen Kopf. „Nein. Wir bringen es jetzt zu Ende. Und dafür
brauchen wir Sonia als Köder.“
„Wie ihr meint“, sagte die Stimme. „Aber ich weiß nicht, ob sie ein geeigneter Köder
ist, solange sie sich in polizeilicher Obhut befindet.“
„Lenore wird sich etwas einfallen lassen.“ Clarence sah, wie Kiras Augen sich
weiteten und wie sie ihren Mund öffnete, um so etwas zu sagen wie: ‚Klar, hat sie ja
bisher auch immer, und ist doch prima gelaufen, oder nicht?’, aber er hob eine Hand,
und sprach weiter: „Und wenn wir sie dabei noch ein bisschen unterstützen, wird es
schon klappen.“
„Ich tue mein Bestes, aber ich muss aufpassen“, sagte die Stimme aus dem
Lautsprecher. „Mein Partner hier traut mir nicht besonders, glaube ich, und wenn ich
zu viel in eure Richtung arbeite, könnte er dahinterkommen, dass ich für das andere
Team spiele.“
Clarence zuckte wieder die Schultern. „Was willst du damit sagen, du musst
aufpassen? Machst du das normalerweise nicht?“
„Du weißt, was ich meine.“
„Ja. Und du weißt auch, was ich meine, oder? Ich schätze, das macht das hier zu
einem erfolgreich beendeten Gespräch.“
Clarence unterbrach die Verbindung, ballte eine Hand zur Faust und schnaubte.
„Was denkt der Kerl?“
Kira grinste weiter.
„Vielleicht solltest du mich einfach die ganze Sache in die Hand nehmen lassen,
Schatz.“
„Sollte ich vielleicht. Aber ich gönne es dir nicht, Kira. Ich weiß, dass du darauf schon
lange wartest, und ich werde nicht zulassen, dass Lenores Tod deine persönliche
kleine Trophäe wird. Das hat sie nicht verdient.“
„Was hat sie verdient, Clarence?“ fragte Kira. Das Grinsen war verschwunden. „Was
hat sie verdient, hm? Sag mir, was sie dafür verdient hat, dass sie einen lächerlich
einfachen Hit zu unserem privaten kleinen Fucking-Vietnam gemacht hat, sag es mir
bitte!“ Zum Schluss schrie sie beinahe.
121
Jetzt war es Clarence, der lächelte. Es war ein trauriges, melancholisches, sehr
kleines Lächeln.
„Genau das, was sie bekommen wird“, antwortete er leise.
Monica Dohms - das war der richtige Name der Stripper-Polizistin - kicherte so
fröhlich und mädchenhaft, dass Sonia zum wiederholten Male dachte, dass sie
wirklich völlig ihren Beruf verfehlt hatte, so sympathisch sie auch war. Mit so einem
Auftreten konnte man doch nicht bei der Polizei arbeiten. Naja, andererseits musste
irgendjemand ja auch Grundschulen besuchen und den Kindern erklären, dass man
erst nach links schaut, und dann nach rechts, und dann wieder nach links.
„Ob Sie’s glauben oder nicht, das ist mir wirklich schon passiert“, antwortete sie auf
Sonias Frage, „Er hat sogar versucht, mir die Handfesseln abzunehmen, bevor ich
ihm dann noch einmal nachdrücklich erklärt hatte, dass ich wirklich nicht für ihn
strippen würde, weil mein Freund da einen gewissen Exklusivitätsanspruch hat…“
Sonia lachte, obwohl ihr eigentlich nicht danach war. Es war schwer, sich der
anscheinend unerschütterlichen guten Laune der blonden Polizistin zu entziehen.
Trotzdem war Sonia es allmählich Leid, hier zu sitzen und zu warten.
„Wissen Sie, ich will wirklich nicht nerven“, sagte sie nach dem gefühlt
vierhundertsten Blick auf ihre Uhr, „Aber ich glaube, ich warte hier schon seit zwei
Stunden. Kann ich nicht einfach auch mit jemand anderem reden als diesen beiden
Leuten, die Sie angekündigt haben?“
Es waren eigentlich genug Polizisten da. Schon eine knappe Viertelstunde, nachdem
Monica sie in den Verhörraum gebracht hatte, war ein Trupp Maskierter vom MEK
eingetroffen. Sie hatten Sonia um eine kurze Beschreibung Lenores gebeten und ihr
dann versprochen, zu ihren Eltern zu fahren, um sie in Sicherheit zu bringen.
Insgesamt hatte sie mit dem Chef des Kommandos vielleicht eine Dreiviertelstunde
zugebracht, und seitdem wartete sie auf einen Herrn Klaus, der für den ganzen
Lenore-Fall verantwortlich war und angeblich auch noch jemanden vom BKA
mitbringen würde. Aber er kam nicht. Monica hatte ihr nach einem Telefongespräch
mit ihm gesagt, die beiden wären noch beim Innensenator, der darauf bestanden
hatte, sich von ihnen genau erklären zu lassen, was los war, bevor er seine
Pressekonferenz gab. Sonia wusste nicht, ob so was üblich war, aber sie fand es
jedenfalls schrecklich unfair, dass sie hier stundenlang sitzengelassen wurde und
niemand sich um sie zu kümmern schien.
Monica lächelte ein bisschen beschämt. Eigentlich nannte Sonia sie natürlich Frau
Dohms, aber in ihren Gedanken war sie Monica.
„Es tut mir echt Leid“ sagte sie, „Ich habe was von zwanzig Minuten gesagt, glaube
ich, aber ich konnte das ja auch nicht wissen. Ich habe mich auf Herrn Klaus
verlassen. Sie sollten mal sehen, was da draußen los ist. Ich glaube, sämtliche
Reporter dieser Republik haben sich auf Hamburg gestürzt wie die Schmeißfliegen,
und wenn ich hier aus dem Fenster schaue, dann könnte ich…“ Monicas Augen
wurden noch größer, als sie ohnehin schon waren, und sie schlug sich wieder eine
Hand vor den Mund. „Oh Gott“, sagte sie. „Das tut mir Leid, ich hatte ganz
vergessen, dass Sie auch… Oh Gott, entschuldigen Sie bitte, ich habe mal wieder…
Verzeihen Sie mir?“
Sonia lächelte mild, obwohl ihr Monica mit ihrem komödienhaften Getue allmählich
ein bisschen auf die Nerven ging. Sie überkam gerade wieder das Bedürfnis, sich in
einer dunklen Ecke zusammen zu rollen und den Rest dieser Odyssee einfach zu
verschlafen
122
„Mir gehen meine Kollegen auch manchmal auf den Geist. Machen Sie sich keine
Gedanken.“
„Na gut. Tut mir aber wirklich Leid, ich habe eigentlich nichts gegen Reporter, wirklich
nicht, aber manchmal… Sie wissen ja bestimmt auch, wie das manchmal ist…“ Sie
zuckte die Schultern und suchte mit ihren großen blauen Augen in Sonias Gesicht
nach Verständnis und Zustimmung. „Aber was ich eigentlich sagen wollte: In den
Medien ist die Sache riesengroß. Im Fernsehen haben sie Sondersendungen und
alles Mögliche, und der Senator hat einen Auftritt nach dem anderen, und deshalb
musste das sein. Hier ist außerdem gerade jede zweite Straße gesperrt, und man
kommt auch mit Blaulicht nirgends so richtig gut durch, weil alles mit
Übertragungswagen voll ist…“ Noch mal ein Schulterzucken. „Das letzte, was ich
gehört habe, war, dass sie in spätestens zehn Minuten hier sein müssten.“
„Und was ist mit meinen Eltern?“ Sonia hatte die Frage eigentlich schon lange stellen
wollen, sich aber nicht getraut. Sie hatte versucht, sie anzurufen, um sie zu
beruhigen und ihnen zu sagen, dass es ihr gut ging, aber sie hatte sie nicht erreicht.
Monica schüttelte den Kopf. „Tut mir Leid… Zu Hause waren sie nicht. Wir haben
inzwischen rausgekriegt, dass Ihre Mutter offenbar heute Nacht in Fuhlsbüttel landen
wollte und das Kommando ist unterwegs zum Flughafen, aber da jemanden zu
finden, ist natürlich auch ein Glücksspiel, zumal Ihre Eltern ja vielleicht schon wieder
auf dem Weg zurück nach Hause sind. Wir tun, was wir können, versprochen.“ Sie
legte eine Hand auf Sonias Schulter, und Sonia wunderte sich, dass das tatsächlich
ein bisschen beruhigend wirkte.
Sonia seufzte und massierte ihre Schläfen, die Ellenbogen auf den Tisch gestützt.
Sie hatte eigentlich von der Reise nach Mailand gewusst, aber nicht daran gedacht.
Verdammt. Hätte sie das den Polizisten gleich gesagt, wäre das alles bestimmt viel
einfacher gewesen.
Etwas vibrierte in ihrer Tasche. Lenores Telefon. Bevor sie sich selbst der Absicht
bewusst war, sagte sie schon: „Ähm… Steht das Angebot mit dem Tee eigentlich
noch? Ich glaube, ich hätte jetzt doch gerne was zu trinken.“
Monica nickte eifrig und sprang auf. „Klar, kein Problem. Mit Zucker, oder Süßstoff?“
Sonia schüttelte ihren Kopf. „Ohne alles bitte.“
„Was für Tee mögen Sie?“
Verdammt, egal! dachte Sonia, Bloß sieh zu, dass du hier raus bist, bevor die
Mailbox rangeht. Oder hatte man als Auftragsmörderin keine Mailbox, um keine
Spuren zu hinterlassen?
„Grünen, bitte“, antworte sie, so ruhig sie konnte.
Die Tür hatte sich gerade hinter Monica geschlossen, als das Vibrieren aufhörte.
„Mist“, zischte Sonia. Sie fummelte das Telefon trotzdem hektisch aus ihrer Tasche
und schaute sich den entgangenen Anruf an. Unterdrückte Rufnummer. Nicht
unbedingt eine Überraschung, aber sie hatte trotzdem gehofft…
Als sie es gerade wieder einstecken wollte, leuchtete das Display noch einmal auf,
und es begann wieder zu vibrieren. Sonia dachte kurz darüber nach, doch nicht
ranzugehen und einfach zu warten, bis Monica zurückkam, um dann mit ihr darüber
zu sprechen. Aber sie hatte genug davon zu warten. Die letzten zwei Stunden hatten
ihr Vertrauen in die Hamburger Polizei nicht unbedingt gestärkt. Wahrscheinlich
würde der Anrufer schnell bemerken, dass er nicht mit der richtigen Person sprach.
Aber es bestand eine Chance, dass Sonia etwas über die Organisation erfahren
würde, die ihr nach dem Leben trachtete. Immerhin war das hier immer noch genau
die Geschichte, von der jeder Journalist träumte, und Sonia war nicht bereit, diese
Chance einfach wegzuwerfen.
Sie drückte auf die grüne Taste. „Ja?“
123
„Hallo Sonia“, hörte sie Lenores Stimme sagen. Sonia sprang erschrocken auf, ihr
Blick huschte suchend durch den Raum, als würde sie befürchte, dass die Mörderin
irgendwo in der Ecke hockte und sie angrinste. Der Raum und das Polizeirevier
fühlte sie plötzlich wieder gar nicht sicher an, und sie erinnerte sich an die Leute mit
den Masken. Die hatten wirklich sehr professionell gewirkt. „Legen Sie bitte nicht
auf“, fügte Lenore eilig hinzu. Sie sprach geschäftsmäßig, in sachlichem ruhigem
Ton. „Ich möchte Ihnen etwas vorschlagen, das für uns beide von Vorteil sein wird.“
Sonia fragte sich noch einmal, ob das eine gute Idee war, entschied sich aber vorerst
dafür, mitzuspielen. Sie war in Sicherheit, erinnerte sie sich selbst. Vielleicht hatte
noch eine Gefahr bestanden, dass Lenore es mit Monica und ihrem dicken Kollegen
aufnahm, aber jetzt war das MEK da, und eine Horde Reporter außerdem noch.
„Zuerst sollten Sie wissen, dass ich Ihnen nicht böse bin. Wegen des Gifts, meine
ich. Es war ganz allein mein Fehler. Sie mussten das ausnutzen.“
„Okay…“ sagte Sonia verwirrt. Sie glaubte natürlich kein Wort.
„Sind Sie alleine?“
Sonia war ein bisschen verärgert, dass Lenore immer noch so auftrat, als hätte sie
alles unter Kontrolle. Sie war nicht mehr die mit der Pistole. Sonia hatte gewonnen.
Es gefiel ihr nicht, dass Lenore einfach weitermachen wollte, als wäre sie eine
unaufhaltsame Naturgewalt. Sonia musste ihr zeigen, dass sie ihr nicht unterlegen
war und sich nicht mehr in die Opferrolle drängen lassen würde.
„Was soll die Frage?“
„Sie sind doch bestimmt zur Polizei gegangen. Sicher sind Sie von einer ganzen
Einsatzgruppe umzingelt.“
Sonia seufzte laut. „Natürlich ist hier alles voller Polizisten. Aber ich bin alleine in
diesem Raum.“
„Gut. Ich glaube Ihnen. Wo sind Sie?“
„Vergessen Sie’s.“
„Schon gut.“ Ein leises Lachen. „Was haben Sie denen gesagt?“
Sonia erlaubte sich einen Hauch eines Lächelns. Lenore hatte Angst. Sie wusste
nicht, was Sonia wusste. Und sie hatte Angst, dass Sonia es der Polizei sagen
würde. Das war ein gutes Gefühl, obwohl Sonia nicht das Gefühl hatte, etwas zu
wissen, was Lenore besonders schaden konnte.
„Noch nicht viel. Ich warte immer noch auf die Leute, die mich befragen sollen.“
„Das ist gut, Sonia. Wir können immer noch Freundinnen werden.“
„Das glaube ich nicht.“
„Verschließen Sie sich nicht, Sonia.“ Lenore lachte wieder. „Hören Sie sich erst
einmal an, was ich zu sagen habe.“
Sonia blickte noch einmal zur Tür. Sie fürchtete, dass Monica bald zurückkommen
würde.
„Was wollen Sie von mir?“
„Sehen Sie, es ist für uns beide ziemlich einfach. Ich will mein Telefon wieder haben,
und Sie wollen nicht, dass Ihren Eltern etwas passiert.“
„Ich sagte schon, dass sie beschützt werden.“
„Oh, kommen Sie. Glauben Sie, ich würde anrufen, wenn ich es nicht besser
wüsste?“
Sonia schluckte, aber der Kloß in ihrem Hals war noch da.
„Was soll das bedeuten?“
„Sagen Sie ‚Hallo’ zu Ihrer Tochter“, hörte sie Lenores Stimme ziemlich leise sagen,
und dann die Stimme ihrer Mutter: „Sonia? Sonia, geht es dir gut? Dein Vater und
ich-„ „Das reicht schon“, unterbrach Lenore sie.
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„Was wollen Sie?“ Beinah hätte Sonia geschrien, aber sie war sich noch nicht sicher,
ob die Polizisten von dem Gespräch wissen sollten.
„Habe ich doch gesagt. Ich will das Telefon. Die Daten darauf sind verschlüsselt,
aber ich habe mir mal sagen lassen, dass man mit genug Zeit jeden Schlüssel
knacken kann.“
„Ich sollte auflegen. Bevor Sie mich tatsächlich zu diesem Wahnsinn überreden.“
„Lieben Sie Ihre Eltern, Sonia?“
Sie wollte schreien. Sie spürte den Drang. Sie konnte den Schrei fast körperlich in
sich aufsteigen spüren. Es erforderte Kraft, ihn zurückzuhalten. Lenore hatte es
wieder geschafft, sie hatte die Kontrolle wieder, und Sonia war wieder das Opfer, und
sie hatte wieder Angst vor dem Ungeheuer, das sich im Körper einer sympathischen
jungen Frau versteckte.
„Was genau ist Ihr Vorschlag?“
„Wir treffen uns. Sie bringen das Telefon mit, und ich stelle Ihnen ein paar Fragen.
Sie verstehen sicher, dass ich sehr verärgert reagieren werde, wenn ich feststelle,
dass jemand an dem Telefon herumgebastelt hat.“
„Das ist verrückt. Woher weiß ich, dass Sie mich nicht einfach doch noch
erschießen?“
„Woher weiß ich, dass Sie nicht die Polizei mitbringen? Ich fürchte mich vor diesem
Treffen vielleicht mehr als Sie, Sonia. Ich habe keinen Grund mehr, Sie zu töten. Der
Auftrag wurde storniert.“
„Das sagen Sie.“
„Wir machen Rückschritte. Denken Sie konstruktiv, Sonia.“
Sonia schüttelte langsam den Kopf, ihr Mund halb offen, als ihr bewusst wurde, dass
Lenores sonderbare Magie auch übers Telefon wirkte. Obwohl die Massenmörderin
gerade damit gedroht hatte, Sonias Eltern zu töten, fiel es ihr schwer, sie als
Bedrohung anzusehen. Lenore vermittelte ihr das Gefühl, mit einer Freundin zu
sprechen. Natürlich kannte Sonia sie inzwischen gut genug, um nicht darauf herein
zu fallen. Aber es war ein unheimliches Gefühl.
„Ich weiß nicht mal, ob ich hier überhaupt rauskomme, sogar, wenn ich will“, sagte
sie.
„Ihnen fällt was ein“, erwiderte Lenore. „Sie sind nicht festgenommen, Sie sind keine
Verdächtige. Die denken garantiert nicht mal daran, dass Sie versuchen könnten zu
fliehen.“
„Dann bleiben immer noch die zweihundertachtzig Kamerateams, die hier vor der Tür
stehen. Was soll ich mit denen machen?“
„Vielleicht erkläre ich es Ihnen am besten noch einmal“, sagte Lenore. „Ich biete
Ihnen an, sich kurz mit mir zu treffen, mir ein kleines Mobiltelefon zu geben und ein
paar Worte mit mir zu wechseln, und dann können Sie nach Hause fahren und Ihr
Leben fortsetzen, ohne je wieder von uns zu hören. Es sei denn, Sie wollen. Die
Organisation ist sehr großzügig zu ihren Partnern.“ Lenore legte eine Pause ein, um
ihre Worte wirken zu lassen. „Die Alternative ist, dass wir Ihre Eltern töten, alle Ihr
näheren Verwandten, und dann Sie. Vielleicht noch einige Ihrer Freunde. Sie wissen,
dass wir das können.“ Sie lachte leise. „Wenn man es so darstellt, scheint es gar
keine besonders schwierige Entscheidung zu sein, oder was meinen Sie?“
Sonia stöhnte und vergrub ihr Gesicht in ihren Händen. Womit hatte sie das
verdient? Es war nicht so, als hätte sie einen außergewöhnlich gefährlichen Beruf
gewählt. Es gab wahnsinnig viele Menschen, die Jahrzehnte lang in Hamburger
Zeitungsredaktionen arbeiteten, ohne auch nur ein einziges Mal einer wahnsinnigen
Massenmörderin zu begegnen. Sie hätte das doch wirklich nicht vorher wissen
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können. Diese Sache mit der Mörderorganisation hatte einfach nach einer
interessanten Story ausgesehen. Sie hatte doch wirklich nicht wissen können, dass
das solche Konsequenzen haben würde.
„Fühlen Sie sich nicht gut?“ hörte sie die schleimige Stimme des BKA-Polizisten in
dem teuren Anzug.
Was von jedem anderen wahrscheinlich nach wohlwollender Sorge geklungen hätte,
klang aus seinem Mund wie verhüllter Spott. Sonia hatte den Kerl vom ersten
Augenblick an eklig gefunden. Seine Augen hatten so einen feuchten Glanz, und
sein Gesichtsausdruck erinnerte sie an die Niederen Männer aus dem Film, den sie
mit Mesut gesehen hatte. Hearts in Atlantis. Sie versuchte, sich daran zu erinnern,
wie es war, entspannt im Fernsehen andere Menschen in gefährlichen Situationen zu
beobachten, in dem sicheren Gefühl, dass so etwas niemals einem selbst passieren
konnte, aber es wollte ihr nicht recht gelingen.
Sie hob ihren Kopf und sah ihn an. Sein ganzes Gehabe hatte etwas Schleimiges an
sich. Sie erwartete ständig, dass er heimlich versuchte, sie unsittlich zu begaffen
oder ihr ein bisschen näher kam als eigentlich nötig war, aber das tat er nicht. Er
schien völlig zufrieden damit zu sein, wie ein Perverser auszusehen, ohne sich
tatsächlich wie einer zu benehmen. Sie konnte sich sonderbarer Weise seinen
Namen nicht merken, obwohl das nicht besonders schwer sein sollte. Irgendein
berühmter Schriftsteller. Andersch? Mann? Hochhuth?
„Es geht schon“, sagte sie.
Er nickte langsam und gewichtig.
„Sind Sie sicher, dass Sie das hier tun wollen?“ fragte der andere.
Er hieß Klaus, das wusste sie noch. Er war sympathischer als der mit dem
Schriftsteller-Namen. Natürlich hatte das nicht besonders viel zu sagen. Die beiden
waren kurz nach dem Telefonat mit Lenore angekommen, waren jetzt seit einer
knappen Dreiviertelstunde hier, und Sonia wünschte sich schon die Zeit mit Monica
zurück.
„Ja“, antwortete sie. „Völlig sicher.“
Sie war sich natürlich kein bisschen sicher, aber sie wollte ihre Eltern nicht verlieren.
Und sie wollte, dass Lenore den Rest ihres Lebens in einem
Hochsicherheitsgefängnis verbrachte. Sie hatte den beiden erzählt, was Lenore von
ihr verlangte.
„Ich halte Ihren Plan nach wie vor für einen großen Fehler“, sagte der Schleimer zu
seinem Kollegen. „Es scheint schwer vorstellbar, dass der Innensenator dem
zugestimmt hat.“
„Es geschehen eben schwer vorstellbare Dinge in Hamburg“, antwortete der andere.
Sonia hatte das Gefühl, dass die beiden sich mit Freuden gegenseitig totgeschlagen
hätten, wenn jemand ihnen die Gelegenheit geboten hätte. Es wäre wohl zu viel
verlangt gewesen, dass wenigstens die Polizisten, die ihr helfen sollten, sich auf
ihren Fall konzentrieren könnten, statt ihre kleinen Beamtenkriege auszufechten.
„Und das MEK hatte auch keine Einwände?“ fragte der BKA-Mann.
Sonia konnte einfach nicht fassen, dass er Kerl sogar in Anwesenheit des Opfers
nichts Besseres zu tun hatte, als permanent seinen Kollegen zu ködern und zu
reizen.
„Ich weiß nicht, wie es bei Ihnen in Wiesbaden läuft, aber hier bei uns haben wir so
was wie eine Befehlskette, und da steht das Kommando unter dem Innensenator“,
fuhr Klaus ihn an.
Der schleimige BKA-Beamte hob beschwichtigend eine Hand, als hätte er nicht die
ganze Zeit auf genau so einen Ausbruch hingearbeitet.
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„Schon gut“, säuselte er, „Ich bin nur als Berater hier, Sie treffen die Entscheidungen.
Aber können Sie mir bitte die Einzelheiten des Plans noch einmal erklären?“
Monica stöhnte und stieß sich von der Wand ab, an der sie die ganze Zeit gelehnt
und unbeteiligt zugehört hatte - einmal hatte sie sogar ein paar Minuten damit
zugebracht, eine Haarsträhne um ihren Zeigefinger zu wickeln. Sie ging auf die
Männer zu und blieb ein bisschen zu nah vor dem BKA-Beamten stehen.
„Herr Hauptmann, Herr Klaus“, sagte sie, „Können wir uns bitte kurz mal draußen
unterhalten? Ginge das?“
Ihre Ungeduld und ihre Verärgerung waren nur ganz mühsam unter einer dünnen
Schicht Subordination verborgen. Sonia war überrascht, das hätte sie ihr nicht
zugetraut. In diesem Moment stieg die junge Polizistin in ihrer Wertschätzungsskala
um mehrere Größenordnungen.
Herr Hauptmann schaute überrascht zu ihr hinab, als hätte ein Stuhl ihn plötzlich
angesprochen.
„Ich sehe keine Notwendigkeit“, antwortete er. „Aber wenn Sie eine Pause brauchen,
können Sie gerne den Raum verlassen.“
Monica trat erschrocken einen Schritt zurück und sah Hauptmann mit offenem Mund
und weit aufgerissenen Augen an. Ihre Lippen bewegten sich langsam, als wollte sie
etwas sagen, wüsste aber nicht, was.
Klaus’ Blick wanderte ein paar Mal fassungslos zwischen den beiden hin und her.
„Sagen sie mal, bekommen Sie beim BKA Incentives dafür, dass Sie andere Leute
beleidigen, oder ist das bloß ein Hobby von Ihnen?“ fragt er.
Sonia hätte heulen können. Gab es denn sogar auf Seiten der Guten nur Gestörte
und Egomanen?
„Was ist mit Hauptmann?“
„Hat sich abgesetzt. Wollte mit der Sache nichts zu tun haben, hat er gesagt.
Wahrscheinlich sitzt er gerade in seinem Hotelzimmer und schreibt einen empörten
Bericht an seinen Vorgesetzten.“
Konstantin Klaus lachte auf, nicht hauptsächlich über die Vorstellung, wie der lästige
BKA-Mann grimmig vor sich hin tippte, sondern vor allem über den absurden
Umstand, dass alle Beteiligten der Meinung waren, er wäre auf ihrer Seite. Sonia
vertraute Klaus, weil er ein Polizist war, und Lenore vertraute ihm, weil er für
Discordia, Inc. arbeitete.
„Ich fasse immer noch nicht, dass er Ihnen die Sache überhaupt abgekauft hat“,
sagte sie.
„Ich weiß nicht, ob er’s mir wirklich abgekauft hat, aber es ist jetzt auch egal. Die
Sache ist bald erledigt, und dann sind wir beide hier weg“, und zwar endgültiger, als
sie sich das jetzt vorstellte.
„Jinxen Sie’s nicht“, sagte sie, „Ich bin so endlos froh, wenn ich das hier hinter mir
habe.“
„Es kann sich nur noch um Minuten handeln“, sagte er.
Er konnte sie seufzen hören. „Hoffen wir das Beste.“ Sie legte auf.
Klaus schmunzelte versonnen, während er das Telefon in seine Hosentasche schob.
Er verlagerte ein wenig sein Gewicht, weil seine Ellenbogen begannen, weh zu tun,
und spähte noch einmal durch das Zielfernrohr seines Gewehres.
Es war zu dumm, dass sie sich den Bergedorfer Friedhof ausgewählt hatte. Alles war
voller Bäume und Büsche, und es hatte endlos lange gedauert, einen Ort zu finden,
von dem er den Treffpunkt halbwegs überblicken konnte.
Es tat ihm ein bisschen Leid um Lenore. Jedem konnte mal ein Fehler passieren. Er
fand eigentlich nicht, dass sie deshalb verdient hatte, zu sterben. Außerdem klang
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sie sehr sympathisch am Telefon. Sie hatte eine nette Stimme, sehr einnehmend, sie
klang viel jünger, als sie seiner Meinung nach sein konnte. Unter anderen
Umständen wäre es vielleicht eine Freude gewesen, mit ihr zu arbeiten. Bestimmt
war sie hübsch. Jemand mit so einer Stimme konnte eigentlich nur hübsch sein und
ein nettes Lächeln haben. Andererseits hatte er nicht vergessen, dass sie Maria und
Jens erschossen hatte. Sie hatte die Kontrolle verloren, und war eine Gefahr für
andere und sich selbst. Er schüttelte langsam betrübt den Kopf. Mit dem Lächeln war
es bald vorbei.
Es kam ihm vage so vor, als hätte er ein leises Geräusch hinter sich gehört, kurz
bevor die Kugel ihn traf.
Lenore stand über dem reglosen Körper von Konstantin Klaus, ihr Blick starr und
glasig und fassungslos. Sie hatte es bis zum Schluss nicht glauben wollen, aber es
gab jetzt keine andere Erklärung mehr. Klaus hätte nicht hier sein dürfen. Er hatte
hier nichts zu suchen. Seine Aufgabe war es, die Polizei fernzuhalten und sich darum
zu kümmern, dass Lenore hier ihre Ruhe hatte. Stattdessen lag er hier mit einem
Scharfschützengewehr mit Nachtsichtzielfernrohr.
„Clarence…“ murmelte sie. „Du verdammter… großer… schwarzer… Mann.“
Lenore biss sich auf die Unterlippe. „Ich war dir treu“, sagte sie leise und
nachdenklich, „Ich war immer treu. Ich habe immer getan, was du verlangt hast.“
Tränen traten in ihre Augen, und ihre Stimme brach. „Ich habe zu dir aufgesehen, du
blöder Hund!“ Sie schrie nicht, weil niemand sie hören durfte, aber sie spürte, dass
sie sich nicht mehr lange würde beherrschen können, wenn sie sich weiter in ihre
Wut und ihre Enttäuschung hineinsteigerte. Sie zwang sich, ruhiger zu atmen und
nicht mehr daran zu denken, dass dieser Mann, der für sie wie ein Bruder oder
vielleicht wie ein Vater gewesen war, sie so verraten hatte. Sie atmete tief durch. Sie
wäre für ihn gestorben, und er schickte diesen billigen Handlanger, um sie zu
liquidieren.
„Pfah!“ Sie stieß ein bitteres Lachen aus.
War sie wirklich schon so heruntergekommen? Hielt Clarence sie für so unfähig,
dass er ernsthaft Pitt auf sie ansetzte? Oder war das Kira? Kira war immer gegen
Lenore gewesen, das wusste sie. Kira wäre auf die Idee gekommen, dass Pitt das
schon irgendwie hinbekommen würde.
Pitt! Dieser erbärmliche Gernegroß war sogar zu blöd gewesen, um zu ahnen, dass
Hauptmann ihn die ganze Zeit über durchschaut hatte. Gleich nach dem Gespräch
mit Sonia hatte Lenore sich aufgemacht, um ihn zu finden. Es war leichter gewesen,
als sie erwartet hätte, denn er hatte ganz alleine in seinem Auto gesessen und
telefoniert.
Hätte sie Pitt die Sache überlassen, wäre der ganze verschlafene Friedhof schon
voller Maskierter, und sie beide gemeinsam auf dem Weg nach… Wo auch immer
die Deutschen ihre gefährlichen Verbrecher einsperrten.
Lenore war sich nicht sicher, ob sie heulen sollte, weil Kira und Clarence so von ihr
denken konnten, oder wenigstens ein bisschen erleichtert sein sollte, weil sie doch
offenbar Unrecht gehabt hatten. Pitt war tot, und Lenore war noch am Leben. Und
Sonia hatte auch nicht mehr viel vor sich. Sie hatte so gut wie gewonnen, obwohl es
ihr niemand mehr zugetraut hatte.
Sie ertappte sich bei dem Gedanken, dass Clarence vielleicht seine Meinung von ihr
überdenken würde. Vielleicht wäre er sogar ein bisschen stolz auf sie, wenn er
erfuhrNein. Sie wischte die Tränen aus ihrem Gesicht und steckte die Waffe mit dem
Schalldämpfer ein, mit der sie Pitt erschossen hatte. Sie würde jetzt ihren letzten Job
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erledigen, und dann konnte Clarence ihretwegen eine Boygroup gründen und ein
Village-People-Revival veranstalten, ihr war es egal.
Sonia würde ihr letztes Opfer werden. Sie wusste nicht, wie viel Zeit sie noch hatte,
und sie würde sie nicht damit verschwenden, für diese verlogene Bande den
Laufburschen zu mimen. Vertrauen, am Fuß!
Sie würde stattdessen…
Lenores Verstand schreckte zurück vor der sinnlosen Leere, die ihr Leben war, und
wandte sich schnell wieder dem Auftrag zu.
Sonia folgte einem Fußweg auf dem Bergedorfer Friedhof, schlecht beleuchtet von
weit auseinander stehenden Laternen, überhangen von nadeligen Fichtenzweigen,
begrenzt von Büschen und Sträuchern. Sonia folgte dem Weg. Es war finstere
Nacht, halb vier Uhr Morgens, und immer wieder erschrak sie vor einem Schatten
oder blieb sekundenlang stehen, um in die Dunkelheit zu starren, weil sie eine
Bewegung gesehen zu haben glaubte. Sie schaute den eingebildeten Bewegungen
abwechselnd mit wütender Furcht und mit furchtsamer Hoffnung nach, je nachdem,
ob sie sie für Lenore hielt oder für einen der Polizisten, die sich hier auf dem Friedhof
versteckten, um sie zu beschützen.
Sie musste ein gutes Stück gehen, bis sie rechter Hand einen noch schmaleren Pfad
passierte und einen Pfiff hörte. Im Schein einer dieser kleinen kniehohen
Gehweglampen stand eine Gestalt mit einem breitkrempigen, beigen Hut in einem
weiten gleichfarbigen Mantel mit hochgeschlagenem Kragen.
Die Gestalt winkte ihr zu, heranzukommen. Sonia tat es.
„Sie haben es geschafft. Wunderbar. Ist das nicht eine pittoreske Szene, die ich hier
vorbereitet habe?“
Sonia fühlte sich flau im Magen, ihr Herz flatterte, und ihr Hals war plötzlich furchtbar
trocken. Sie wollte am liebsten das Telefon einfach hinwerfen und weglaufen, aber
Herr Klaus hatte ihr gesagt, dass sie ein bisschen Zeit schinden musste, damit er
feststellen konnte, wo ihre Eltern waren. Lenore hatte eine Funkverbindung zu dem
Versteck, die er orten konnte. Sonia verstand von solchem technischen Kram nichts,
aber so hatte er es ihr erklärt. Sie hatte ihre Zweifel an seinem Plan, aber ihr selbst
war auch nichts Klügeres eingefallen, und sie hatte sich auch nicht wegen so einer
technischen Frage mit ihm anlegen wollen.
„Ja“, antwortete sie, „Wie im Comic. Was… Was wollen Sie von mir wissen?“
Das war natürlich keine besonders gute Frage, um Zeit zu schinden. Das war eine
Frage, die direkt zur Sache kam. Aber Sonia hatte jetzt einfach nicht die Nerven, um
über das Wetter zu plaudern. Lenore lächelte. Und seufzte.
„Wissen Sie, wie ich mich fühle?“ fragte sie.
Sonia blinzelte sie nur perplex an.
„Ich bin am Ende, Sonia. Ich brauche meine ganze Willenskraft, um nicht hier auf der
Stelle zusammenzubrechen. Burn-Out, oder so. Oder einfach Schlafmangel. Seien
Sie bitte ein bisschen geduldig mit mir.“ Sie gähnte, wie um ihre Worte zu
unterstreichen. „Geben Sie mir das Telefon.“
Sonia zog es aus ihrer Tasche und gab es Lenore mit spitzen Fingern, um nicht die
kalte Hand der Mörderin zu berühren. Lenore trat einen Schritt zurück, um das Gerät
besser in das Licht der Lampe halten zu können, und betrachtete es. Sie drehte es
um, öffnete die Akkuklappe, inspizierte kurz das Innenleben, zuckte schließlich die
Schultern und steckte es in ihre Manteltasche.
„Vertrauen ist der Anfang von allem“, murmelte sie dabei.
„Gut. Dann stellen Sie jetzt noch Ihre Fragen, und dann kann ich gehen?“ fragte
Sonia mit einer vorsichtigen Andeutung eines Lächelns.
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Lenore erwiderte ihr Lächeln. Und für einen Augenblick fühlte Sonia sich gut. Für
einen Augenblick dachte sie nicht mehr daran, dass diese Frau ihre Eltern entführt
hatte und damit drohte, sie zu töten. Und nur Gott wusste, wie viele andere
Menschen sie schon getötet hatte. Lenore hatte etwas an sich, das ihr
Unterbewusstsein ansprach und es binnen Sekunden davon überzeugte, dass sie
ein guter Freund war. Sie legte ihre rechte Hand auf Sonias Schulter.
Und Lenore sagte: „Nein.“
„Wie… Nein… Sie haben doch gesagt…“ Sonia war verwirrt.
Lenore lächelte sie an, wie eine gute Freundin, die ein kleines Geständnis abzulegen
hat.
„Es gibt da eine geheime Technik zur Informationsverschleierung, die ich von einem
alten chinesischen Mönch gelernt habe“, sagte sie. „Man nennt sie ‚Lügen’, und ich
benutze sie gerne hin und wieder, um…“
„Ich will Ihre Hände sehen, jetzt sofort!“
Sonia spähte verwirrt über Lenores Schulter. Sie konnte nicht deutlich sehen, aber
die kurvige Figur und die langen blonden Haare waren noch gut genug
auszumachen, und auch die Stimme meinte Sonia zu erkennen, obwohl sie sie noch
nicht so entschlossen und hart gehört hatte. Aber… Was hatte das zu bedeuten?
„Frau Schopp, geht es Ihnen gut?“ fragte Monica.
Lenore sah Sonia an. Sie hatte tatsächlich ihre Hände gehoben.
„Wer zur Hölle ist das?“ zischte sie.
„Ich weiß nicht“, murmelte Sonia verwirrt. „Was machen Sie hier?“ rief sie Monica zu.
„Ich verstehe das nicht! Was ist mit Herrn Klaus. Was ist mit meinen Eltern?“
„Lange Geschichte, würde ich Ihnen lieber später erklären. Aber es ist jetzt vorbei“,
sagte Monica. „Das MEK ist unterwegs, ich habe sie vorhin benachrichtigt.“
Lenore drehte sich langsam um.
„Ach, Sie sind es! Klaus hat mir von Ihnen erzählt. Sie sehen wirklich aus wie Seras
Victoria.“
„Bleiben Sie stehen!“ rief Monica ihr zu.
„Wollen Sie mich nicht fesseln?“ fragte Lenore.
Monica schüttelte den Kopf. „Ich komme nicht näher an Sie ran, bis das Kommando
da ist. Und Sie werden einfach genau so stehen bleiben.“
Lenore zögerte kurz, bevor sie ihre Hände langsam sinken ließ. Sie legte
nachdenklich ihren Kopf schief.
„Ich glaube, Sie können es nicht“, sagte Sie.
„Sie irren sich!“ rief Monica, etwas zu laut und zu schrill, um überzeugend zu klingen.
„Ich glaube nicht“, antwortete Lenore, und Sonia sah von hinten, wie sie ihren
Ellbogen anwinkelte, um unter ihren Mantel zu greifen.
„Töten Sie sie!“ schrie Sonia, außer sich bei dem Gedanken, Lenore könnte es schon
wieder schaffen. „Schießen Sie!“
Und Monica schoss.
Lenore schrie, wurde zurückgeschleudert, prallte gegen Sonia, die zurücktaumelte,
und fiel zu Boden, die linke Hand gegen ihre rechte Schulter gepresst. Sonia sah,
wie Lenores Waffe über das Pflaster rutschte und erst einige Meter hinter ihr zur
Ruhe kam.
„Fuck!“ schimpfte sie, während Monica näher kam, die Waffe immer noch auf Lenore
gerichtet.
„Bewegen Sie sich noch einmal“, sagte sie, „Nur ein kleines bisschen, und ich höre
erst auf zu schießen, wenn das Magazin leer ist.“
„Schon gut“, antwortete Lenore, „Ich bin fertig. Ich hatte sowieso…“ Ihre Augen
fixierten jemanden in der Dunkelheit hinter Monica. „Clarence!“
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Monica erschrak und wirbelte herum. Sonia fühlte ihr Herz stehenbleiben, als sie es
geschehen sah. Ein Albtraum. Es war ein Albtraum. Was geschah hier? Wo war
Klaus, wo waren seine Leute?
„Nein!“ schrie sie, „Nicht! Da ist…“
Doch es war zu spät. Lenore war mit dieser gespenstischen Geschwindigkeit
aufgesprungen, mit der sie sich manchmal bewegen konnte, und hatte Monica von
hinten gepackt, um ihr die Waffe zu entringen. Sie stieß die blonde Polizistin von sich
und wandte sich wieder Sonia zu.
„… niemand“, beendete Sonia den Satz, bevor Lenore ihr mit Monicas Waffe in den
Kopf schoss.
Monica sprang auf und stürzte sich auf Lenore, als die sich gerade wieder zu ihr
umdrehte. Die beiden stürzten hart auf den Boden und rangen knurrend und
keuchend um die Waffe.
Monica hatte beide Hände um Lenores Hände gelegt, die die Pistole hielten und
versuchte, ihre Finger davon zu lösen. Das Blut aus Lenores Schusswunde hinterließ
dunkle Flecken auf ihrer dunkelblauen Uniform.
„Ich werde zu alt für diesen“, begann Lenore, doch die Worte gingen in einen
gellenden Schrei aus Schmerz und Wut über, als Monica eine Hand von den ihren
befreite und Zeige- und Mittelfinger gegen das blutende Loch in ihrer Schulter stieß.
„Aaah fuck, fuck, fuck, du verdammte kleine Schlampe!“ zischte sie, und presste
reflexartig eine Hand auf die Wunde, während Monica triumphierend die Pistole
ergriff und auf sie richtete.
„Keine Bewegung!“ keuchte sie.
Sie saß auf Lenores Oberschenkeln, die unter ihr nun ganz ruhig lag und in den Lauf
der Pistole blickte.
„Was ist mit Sonias Eltern?“ fragte sie die Polizistin.
Monica sah sie nur fragend an.
„Sie haben vorhin selbst gesagt, dass das Kommando bald da ist. Dann ist alles zu
spät, dann habe ich verloren, und die beiden sind tot. Aber noch sind nur wir beide
hier, und wenn Sie mich einfach laufen lassen und denen eine nette kleine
Geschichte erzählen, dann rufe ich jetzt sofort meinen Partner an, und Herr und Frau
Schopp sind frei.“
„Was macht er, wenn Sie gar nicht mehr anrufen?“ fragte Monica.
„Dann schneidet er sie in kleine Stücke, packt sie in Müllsäcke und wirft sie mit
Gewichten dran in den Hafen.“
Die blonde Polizistin schluckte.
„Vergessen Sie’s. Ich glaube Ihnen kein-“
Ein glucksendes Gurgeln entrang sich Sonias Hals, und die Köpfe beider Frauen
ruckten entgeistert zu ihr herum.
Lenore gewann ihre Geistesgegenwart einen Sekundenbruchteil früher zurück. Sie
packte mit beiden Händen die Waffe. Ein Schuss löste sich, aber die Kugel schlug
wirkungslos in einen Baumstamm. Lenore warf Monica zu Boden und entrang ihr die
Pistole. Sie presste den Lauf an Monicas linke Schläfe. Mit vor Schmerz und
Anspannung verzerrtem Gesicht starrte sie abwechselnd in die angstvoll
aufgerissenen blauen Augen der jungen Polizistin und auf ihre eigene Hand, die den
schweren, harten Stahl hielt. Unvermittelt verschwand die Anspannung aus ihren
Zügen, und ihr Blick wurde weicher. Sie seufzte.
Monica starrte verwirrt zu ihr auf. Ihr Atem ging stoßweise, ihr Herz raste.
„Wissen Sie, was?“ fragte Lenore.
„W-was?“
131
„Ich bin durch. Ich mach das nicht mehr. Warum? Warum sollte ich Sie jetzt
erschießen, hm? Sie machen doch auch nur Ihren Job. Wahrscheinlich haben Sie
persönlich gar nichts gegen mich, oder?“
„Ich, n-nein, gar n-nichts!“ stammelte Monica.
Lenore lachte.
„Schon gut, es ist egal. Ich werde jetzt gleich aufstehen und weglaufen. Ich fände es
fair, wenn Sie sich die Richtung nicht merken würden, immerhin schulden Sie mir Ihr
Leben. Aber ich glaube, ich kann auch so entwischen. Aber folgen Sie mir nicht, ja?
Dann muss ich Sie doch noch erschießen, und das wollen wir beide nicht.“
Monica starrte sie verständnislos an, und Lenore schüttelte wieder versonnen den
Kopf.
„Wissen Sie was? Ich mag Sie irgendwie. Aber vielleicht liegt das nur am Blutverlust.
Machen Sie sich nichts draus, dass Sie’s nicht geschafft habe, ja? Das war wirklich
Glück. Hätten Sie mich beim zweiten Mal ein paar Zentimeter weiter rechts erwischt,
wär’s vorbei gewesen. Und so bin ich auch nicht sicher, wie weit ich komme, aber es
blutet nicht sehr stark, immerhin.“
Sie stand auf und wandte sich noch einmal zu Monica um.
„Ach ja, machen Sie sich um Sonias Eltern bitte keine Sorgen. Die beiden sind schon
lange tot, und bestimmt findet sie bald irgendjemand. Die Mühe können Sie sich echt
sparen.“
Monica richtete ihren Oberkörper ein Stück auf und sah ihr nach. Als sie die
fliehende Mörderin nicht mehr sehen konnte, schweifte ihr Blick über die Leiche von
Sonia Schopp, bevor sie sich wieder zu Boden sinken ließ, die Hände vor ihr Gesicht
schlug und laut zu schluchzen begann.
„Wie finden wir sie?”
„Always look on the bright side of life!“
Clarence konnte sich ein breites Grinsen nicht verkneifen, während er auf den
Zeitungsausschnitt hinabschaute, den Kira mit verkniffener Miene auf seinen
Schreibtisch geworfen hatte.
„Wo. Wohnt. Sie?“
„Always look on the right side of life!“
“Wehe, du fängst jetzt an zu pfeifen!”
Clarence begann zu pfeifen.
„Clarence!“ schrie Kira und schlug mit der Faust auf den Tisch.
Er hörte auf zu pfeifen.
„Ist dir klar, was jetzt passiert?“
„Was?“ Er grinste immer noch. Er konnte nicht anders. Lenore hatte es geschafft. Sie
hatte es Kira gezeigt, und Konstantin Klaus hatte er eh nie leiden können.
„Jetzt kommt sie und holt uns. Und das lasse ich nicht zu, Clarence. Keine
abgehalfterte ehemalige Mitarbeiterin kommt hier her und bringt uns um. Wir
schicken ihr Pawel. Und Nikomo. Wir schicken einen gottverdamten nuklearen
Gefechtskopf, wenn es sein muss, aber Lenore wird sterben!“
Er schüttelte den Kopf.
„Gar nichts werden wir schicken. Lenore weiß jetzt, wie die Dinge stehen. Jetzt soll
sie entscheiden, was sie daraus macht. Ich find’s spannend.“
Mit offenem Mund trat sie ein paar Schritte von seinem Schreibtisch zurück. „Du bist
verrückt“, stieß sie schließlich hervor.
Er stand auf und stützte beide Arme auf die Tischplatte.
„Vielleicht. Und ich fand schon immer, dass das ein fantastisches Gefühl ist. Ich bin
es leid, vernünftige Entscheidungen zu treffen. Es war eine vernünftige
132
Entscheidung, jemanden zu schicken, der sie liquidiert. Und siehst du, wohin uns das
gebracht hat? Nicht nur, dass es nicht funktioniert hat, ich fühle mich außerdem noch
wie ein niederträchtiger Wurm. Damit ist jetzt Schluss. Ich bin hier und warte. Wenn
sie mich holen will, soll sie kommen.“
Kira machte diesen Gesichtsausdruck, der nicht anders zu beschreiben war als
„Zähnefletschen“ und der anzeigte, das sie sehr, sehr verärgert war, und verwirrt.
„Sie wird uns alle töten, Clarence.“
„Was ist aus ‚Lenore ist einfach kaputt’ geworden? ‚Sie gehört in eine
Zwangsjacke’?“
„Weil sie zu viel Aufmerksamkeit erzeugt! Weil sie zu viele Leute umbringt!“
„Und wer wollte gerade eben noch einen Atomsprengkopf?“
Sie warf die Arme in die Luft und stieß einen Laut aus, der ein bisschen wie ein
Fauchen und ein bisschen wie ein Schrei klang und den er unglaublich sexy fand.
Clarence trat um seinen Schreibtisch herum und auf sie zu und blieb erst kurz vor ihr
stehen. „Ich hab’ sowieso genug davon, hier zu sitzen wie ein Banker und nichts
weiter zu machen als zu telefonieren und Memos zu schreiben. Komm, lass dich
drauf ein und genieß es.“
Sie schüttelte ihren Kopf.
„Du bist verrückt.“
„Sind wir das nicht alle, Liebling?“
Sie war ungewöhnlich. Dag drehte den Kopf zu seinem Fahrgast um und betrachtete
die junge Frau, solange der Verkehr ihm das gestattete. Die Straßen in dieser
Gegend waren ohnehin kaum befahren, und nach Einbruch der Dunkelheit kündigten
sich andere Fahrzeuge schon von Weitem durch ihre Scheinwerfer an. Natürlich
hatte Dag ab und zu Kunden, die über lange Strecken gefahren werden wollten, aber
das waren dann meistens hektische Geschäftsleute, die verärgert waren, weil sie
den letzten Zug verpasst hatten oder sonst etwas in ihrem sensiblen Terminplan
durcheinander geraten war.
Die junge Frau mit den hellbraunen Haaren in dem einfachen blauen Kleid neben
ihm war überhaupt nicht hektisch und kein bisschen verärgert. Sie hatte ihre
Rückenlehne zurückgedreht, den Kopf in den Nacken gelegt und blickte durch das
Sonnendach seines Taxis in den Nachthimmel, mit einem verträumten
Gesichtsausdruck. Ihr Gesicht sprach wie ihr gesamter Körper von Muße und
Erholung. Sie atmete tief, langsam und bewusst. Dag mochte sie. Sie war ihm auf
Anhieb sympathisch gewesen, obwohl sie nicht viel gesagt hatte. Nicht nur, weil sie
hübsch war. Dag war glücklich verheiratet und hielt es deshalb für unter seiner
Würde, sich von anderen Frauen angezogen zu fühlen. Er mochte ihre entspannte
Art, ihr freundliches Lächeln.
Zuerst hatte er seine Zweifel gehabt, weil sie ziemlich unsicher auf sein Taxi
zugekommen war, fast wankend, mit einem Gesichtsausdruck, als wäre ihr schlecht,
den rechten Arm in einer Schlinge, einen dicken Verband um ihre Schulter. Er hatte
gedacht, sie wäre vielleicht betrunken. Allein schon die Tatsache, dass sie nicht
einmal eine Jacke trug, war verdächtig. Es war kalt. Aber er hatte sich getäuscht.
Vielleicht war ihr Flug unangenehm gewesen, vielleicht war ihr Gepäck
verlorengegangen.
Er beschloss, vorsichtig zu versuchen, ein Gespräch anzufangen. Sie hatten noch
zwei Stunden Fahrt vor sich, und er hatte die letzten Nächte wenig geschlafen. Er
war noch nicht schläfrig, aber er wusste, dass es früher oder später dazu kommen
würde. Er wollte nicht Schuld daran sein, dass die Urlaubsreise der jungen Frau mit
einem Autounfall endete. Oder begann, je nachdem.
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„Sie sind mit dem Flugzeug angekommen?“
Eigentlich keine besonders geistreiche Frage. Sie war am Flughafen zugestiegen.
Aber direkt zu fragen, wo sie gewesen war, schien ihm zu aufdringlich. Aus den
Augenwinkeln konnte er sehen, wie sie ihr Kinn in der Andeutung eines Nickens zu
ihrer Brust senkte.
„Und ich hätte nie gedacht, dass ein Mensch sich so oft übergeben könnte wie dieser
Kerl neben mir.“
Er lächelte ihr mitfühlend zu, aber sie sah ihn nicht an.
„War denn wenigstens die Reise schön?“
„Ich war in Deutschland. Schreckliches Land.“
„Arbeit?“
„Oh ja, und wie. Und ich habe einen ziemlichen Schlamassel daraus gemacht.“
„Haben Sie es denn am Ende geschafft?“ fragte Dag.
Sie nickte. „Ja… Irgendwie schon.“
„Darauf kommt es an“, sagte er aufmunternd.
Sie nickte wieder. Ein bisschen nachdenklich. Nicht ganz überzeugt.
„Wahrscheinlich haben Sie Recht. Ich will den Job trotzdem nicht mehr… Ich wollte
die ganze Zeit dem Herrn auf Knien dafür danken, dass es jetzt zu Ende ist, aber ich
hatte Angst, dass sie mich nicht mitnehmen würden, wenn ich mich merkwürdig
benehme. Aber sobald ich Ihren Wagen verlasse, werde ich auf die Knie fallen.
Wundern Sie sich bitte nicht.“
„Das wäre schade um Ihr Kleid“, sagte er lächelnd.
Es war wirklich ein hübsches Kleid. Einfach, aber ansprechend. Sie seufzte.
„Da haben Sie Recht. Und meine Mutter müsste sich den ganzen Abend für mich
schämen.“
Sie lachte leise.
„Sie wird sich schon genug über meine Verletzung echauffieren.“
„Sie fahren zu Ihren Eltern?“
Wieder ein kleines Nicken.
„Mein Großvater feiert heute seinen 89. Geburtstag. Fast hätte ich es nicht mehr
geschafft.“
„89, Donnerwetter, darauf kann er sich ja schon was einbilden. Richten Sie ihm
meinen Glückwunsch aus.“
„Werde ich“, antwortete sie. „Er ist ein wunderbarer alter Mann.“ Sie lachte wieder
leise. „Er ist so ein Großvater wie aus einem Lieblingsbuch, verstehen Sie?“
„Klar. Ich hatte so ein Lieblingsbuch.“
Und er wäre auch gerne so ein Großvater geworden. Seine Tochter war vor vier
Jahren gestorben, bevor es dazu hatte kommen können. Sie war die Bürovorsteherin
der dänischen Agrarministerin gewesen und hatte offenbar bei einem Anschlag auf
die Ministerin im Weg gestanden. Zwei Schüsse in ihr Gesicht. Sie hatten das
Requiem mit geschlossenem Sarg feiern müssen.
„Er hat einen buschigen weißen Bart, aber er ist nicht dick“, erzählte sie. „Er ist
eigentlich sogar ein ziemlich asketischer Typ. Seine Geburtstagstorte ist immer nur
für die Gäste. Er isst nichts außer Schwarzbrot und Quark, wenn er nicht gezwungen
wird.“ Wieder ihr leises Lachen. „Ein Apfel ist für ihn festliche Schlemmerei.“
„Ich hatte einen Onkel, der sich so ernährt hat. Ist trotzdem nur 68 geworden.“
„Ich glaube auch nicht an gesunde Ernährung“ sagte sie. Sie sprach zunehmend
leiser und undeutlicher. Er sah zu ihr und sah, dass ihre Augen geschlossen waren.
Sie schlief ein. Schade.
„Dabei sehen Sie so sportlich aus.“
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„Eben. Wissen Sie, mein Großvater ist toll. Aber die anderen Verwandten sind
furchtbar.“
„Ja?“
„Laaangweilig.“ Sie gähnte. „Eines Tages bring ich sie alle um.“
Er war ein bisschen überrascht von der Wendung des Gesprächs. Andererseits hatte
er selbst auch schon solche Gedanken gehegt. Natürlich nie im Ernst, aber
Verwandte konnten eine schwere Prüfung sein.
„Vielleicht gleich heute, wenn sie alle zusammen sind.“
Sie nuschelte schon richtig. Bald würde er auf sich allein gestellt sein. Manchmal half
es, wenn er sich kräftig in die Wange kniff. Das sah dann natürlich merkwürdig aus,
aber es war besser als am Steuer einzuschlafen.
„Dann müssen Sie mich aber auch umbringen, ich bin ja jetzt Mitwisser“, scherzte er.
Sie lachte leise.
„Da haben Sie recht“, murmelte sie. „Aber erst lasse ich Sie mich nach Hause
fahren…“
„Abgemacht.“
Dag lächelte.
„Was haben Sie eigentlich mit Ihrer Schulter gemacht?“
Sie antwortete natürlich nicht mehr. Er sah in ihr entspannt lächelndes Gesicht und
fühlte sich fast so wie früher beim Anblick seiner schlafenden Tochter.
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