V Schriftsystem 20090907 - UK-Online

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V Schriftsystem 20090907 - UK-Online
Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009
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Semesterprogramm
Thema
Datum
16.4. System und Norm; Schriftsystem und Orthographie; Schriftsystem und lautlich
realisiertes Sprachsystem; Schriftsystemeinheiten
23.4. Phonographie: traditionelle Graphem-Phonem-Beziehungen
30.4. Phonographie: Laut- und Schreibsilbe, Fußstruktur
7.5. Phonographie: Laut- und Buchstabenmerkmale
14.5. Morpheme: morphologisch bedingte Schreibungen; Worttrennung
21.5. Feiertag
28.5. Morpheme: Divis, Apostroph, Binnengroßschreibung
4.6. Pfingstferien
11.6. Feiertag
18.6. Wort oder Syntagma: Zusammen- oder Getrenntschreibung
25.6. Syntax: wortinitiale Großschreibung – zwei Auffassungen
2.7. Syntax: Kommasetzung im Deutschen
3.7. Zwischenprüfung
9.7. Syntax: Kommasetzung sprachvergleichend
16.7. Syntax: Interpunktion im Ansatz von Bredel (2008) – Filler (Gedankenstrich,
Auslassungspunkte)
23.7. Syntax: Interpunktion im Ansatz von Bredel (2008) – Klitika (Punkt, Semikolon,
Fragezeichen, Ausrufezeichen, Komma)
Notationen
<Tag>
Schriftform
/ta:g/
zugrunde liegende phonologische Form
[ta:k]
phonologische Oberflächenform, phonetische Realisierung
System und Norm; Schriftsystem und Orthographie
Sprachregularität als Teil des Sprachsystems: historisch gewachsene, allein
Mitgliedern einer Sprachgemeinschaft (Muttersprechern) verfügbare Gesetzmäßigkeit
einer Sprache. Nach Auffassung Chomskys verfügen alle Menschen über ein
angeborenes universelles Sprachsystem (Universalgrammatik).
Das Schriftsystem ist die im graphischen Medium realisierte Variante des
Sprachsystems. Das ist das System aller schriftbezogenen Regularitäten einer Sprache
und der schriftlichen Formen, die diesen Regularitäten entsprechen, d. h. das System aller
prinzipiell möglichen Schreibformen (vgl. Neef 2005, referiert in Dürscheid 2006: 127).
Bsp.: <fal>, <faal>, <fahl> für /fa:l/
Das Sprachsystem des Deutschen wird in mindestens drei Modalitäten realisiert:
lautsprachlich, schriftsprachlich und gebärdensprachlich.
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Regel im engeren Sinne (als Gegenbegriff zu Regularität, s. Eisenberg 2006, Bd. 1, S.
6f.): theoretisches Modell einer Sprachregularität. D. h. innerhalb einer bestimmten
Theorie mit deren Mitteln formulierte Beschreibung einer Regularität.
Prinzip: Regel oder Regularität mit einem sehr großen Anwendungsbereich, d. h. eine
sehr allgemeine (ggf. universale) Regel bzw. Regularität.
Explizite Sprachnorm als Teil des Normsystems: Eine von sozialen Sprach- oder
Kulturinstitutionen (z. B. Dudenredaktion, Journalismusverband, Kultusministerkonferenz) explizit formulierte Festlegung (präskriptive Aussage), die innerhalb der
Möglichkeiten bzw. des Variantenspektrums des Sprachsystems eine Möglichkeit als
verbindlich auswählt. Die wichtigste Funktion der Sprachnormierung ist die Schaffung
einer überregionalen Standardsprache [allgemeiner: Leitvarietät].
Die Orthographie ist die im graphischen Medium realisierte Variante des sprachlichen
Normsystems.
Das Standarddeutsche [alltagssprachl. das Hochdeutsche] ist die implizit und weitgehend
auch explizit normierte überregionale Varietät des deutschen Sprachsystems.
Explizite Normen können alle (etwa lautliche, morphologische, syntaktische, semantische,
pragmatische, orthographische) Aspekte der Sprache erfassen. Explizit normativ
orientierte Grammatiken heißen präskriptiv (Gegenbegriff: deskriptiv).
Zum Verhältnis zwischen Sprachsystem (Schriftsystem) und Normsystem
(Orthographie):
"Normative Festlegungen [...] bleiben in der Regel innerhalb dessen, was vom System
gedeckt ist. Sie treffen eine Auswahl unter systematisch zulässigen Formen" (Eisenberg
2006, Bd. 1, S. 10).
"Ein sprachliches Normsystem ist ein sozial verankertes Modell des Sprachsystems"
(Eisenberg 1983: 50).
sprachlich korrekt / richtig vs. sprachlich inkorrekt / falsch werden nur in normativen /
präskriptiven Aussagen gebraucht (stattdessen auch: normkonform / normwidrig).
In Beschreibungen des Sprachsystems (d.h. deskriptiven Theorien) werden stattdessen
akzeptabel / inakzeptabel oder grammatisch / ungrammatisch verwendet.
Der Begriff ‚implizite Norm’ ist schwerer einzugrenzen: "Die grammatischen Regularitäten
unserer Sprache brauchen nicht bewusst zu sein, aber sie sind verbindlich. Wir erwerben
sie und halten uns an sie. Man hat sie deshalb implizite Normen genannt." (Eisenberg
2006, Bd. 1, S. 10)
norm- und sprachsystemkonform
des Bären, dem Bären
norm- und schriftsystemkonform
<Tal> für /ta:l/
normwidrig, aber
systemkonform in best.
Sprachvarietäten
des Bärs, dem Bär
normwidrig, aber
schriftsystemkonform
<Taal>, <Tahl> für /ta:l/
norm- und systemwidrig
*des Bär, *dem Bäre
norm- und schriftsystemwidrig
*<Tall> für /ta:l/
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<Stuhl> für /štu:l/
<Stul> für /štu:l/
3
*<Stuul> für /štu:l/
Literatur zum Verhältnis zwischen System und Norm
Coseriu, Eugenio. 1971. System, Norm und Rede. In: Petersen, Uwe (Hrsg.). Coseriu,
Eugenio: Sprache. Strukturen und Funktionen. XII Aufsätze zur allgemeinen und
romanischen Sprachwissenschaft.
Duden. 1985. Richtiges und gutes Deutsch. Wörterbuch der sprachlichen Zweifelsfälle. 3.
neu bearb. und erw. Aufl. Dudenreihe Bd. 9. Mannheim: Dudenverlag. (ständig neue
überarbeitete Auflagen).
●Dürscheid, Christa. 2006. Einführung in die Schriftlinguistik. Grundlagen und Theorien.
3., überarb. und erg. Aufl. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht, Kap. 1 und Kap. 4.1.
Eisenberg, Peter. 1983. Orthographie und Schriftsystem. In: Günther, Klaus B. / Günther,
Hartmut (Hgg.). Schrift, Schreiben, Schriftlichkeit. Tübingen: Niemeyer, 41-68.
●Eisenberg, Peter. 2006. Grundriß der deutschen Grammatik. Bd. 1: Das Wort. 3.
durchges. Aufl. Stuttgart: Metzler.
●Fuhrhop, Nanna. 2005. Orthografie. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, Kap. 1.
Neef, Martin. 2005. Die Graphematik des Deutschen. Tübingen: Niemeyer.
Das orthographische Normsystem
Augst, Gerhard / Blüml, Karl / Nerius, Dieter / Sitta, Horst (Hgg.). 1997. Zur Neuregelung
der deutschen Orthographie. Begründung und Kritik. Tübingen: Niemeyer.
Duden. 1991. Die Rechtschreibung der deutschen Sprache. 20. Aufl. Mannheim et al.:
Dudenverlag. Kommentar: Die letzte Auflage mit dem alten Normsystem.
Duden. 1996. Rechtschreibung der deutschen Sprache. 21., völlig neu bearbeitete und
erweiterte Auflage. Mannheim et al.: Dudenverlag. Kommentar: Die erste Auflage mit
dem neuen Normsystem.
Duden. 2006. Rechtschreibung der deutschen Sprache. 24., völlig neu bearbeitete und
erweiterte Auflage. Mannheim et al.: Dudenverlag. Kommentar: Die erste Auflage mit
der Reform der Reform.
●Dürscheid, Christa. 2006. Einführung in die Schriftlinguistik. Grundlagen und Theorien.
3., überarb. und erg. Aufl. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht, Kap. 5.
Internationaler Arbeitskreis für Orthographie (Hg.). 1995. Deutsche Rechtschreibung.
Vorlage für die amtliche Regelung. Tübingen: Narr. Vollständiger Nachdruck im Duden
(1996).
Schriftsystem und lautlich realisiertes Sprachsystem
Über das Verhältnis zwischen Schriftsystem und lautlich realisiertem Sprachsystem gibt es
zwei verschiedene Auffassungen:
- die Autonomie- bzw. Korrespondenzhypothese
- die Ableitbarkeitshypothese
Die Korrespondenzhypothese (u. a. alle Arbeiten von Peter Eisenberg, Hartmut Günther,
Utz Maas, Christa Röber-Siekmeyer, Rüdiger Weingarten, Beatrice Primus, Ursula Bredel,
Nanna Fuhrhop, Martin Neef):1
1
Diese Auffassung wird irreführenderweise auch als ‚Autonomiehypothese’ bezeichnet, obwohl keiner ihrer
Vertreter behauptet, dass ein Schriftsystem völlig unabhängig vom lautlich realisierten Sprachsystem ist (s.
Definition Schriftsystem).
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● Es gibt eigenständige Schriftsystemregularitäten bzw. -prinzipien.
● Schriftsystem-Einheiten (wie etwa Buchstabe, Graphem, Spatium, Interpunktionszeichen) können ohne Bezug auf das lautlich realisierte Sprachsystem definiert werden.
● Es gibt Korrespondenzregeln zwischen Schriftsystemeinheiten und lautlich realisierten
Spracheinheiten in beiden Richtungen.
Beispiel: Die Schriftsystemeinheit der Schreibsilbe und die Schriftsystemregeln der
Worttrennung am Zeilenende stimmen mit der phonologischen Silbeneinheit und der
phonologischen Worttrennung nach Sprechsilben nicht genau überein (vgl. <wid-rig> vs.
/vi-driç/). Es gibt allerdings Korrespondenzen zwischen Worttrennungsregeln nach
Schreibsilben und Worttrennungsregeln nach Sprechsilben.
Die (derivationelle) Ableitbarkeitshypothese
● Eigenständige Schriftsystemregularitäten sind Randerscheinungen.
● Schriftsystem-Einheiten (wie etwa Buchstabe, Graphem, Spatium, Interpunktionszeichen) können nicht ohne Bezug auf das lautlich realisierte Sprachsystem definiert
werden.
● Schriftsprachliche Formen sind vollständig aus ihrer lautlich realisierten Form ableitbar.
● Das lautlich realisierte Sprachsystem ist phylogenetisch [sprachevolutionär],
ontogenetisch [hinsichtlich des individuellen Spracherwerbs] und logisch primär.
Vertreter der Ableitbarkeitshypothese
Bierwisch, Manfred. 1972. Schriftstruktur und Phonologie. In: Probleme und Ergebnisse
der Psychologie 43, 21-44.
Garbe, Burckhard. 1985. Graphemtheorien und mögliche Strukturmodelle zur
Beschreibung der Orthographie. In: Augst, Gerhard (Hg.). Graphematik und
Orthographie. Frankfurt a. M.: Peter Lang, 1-21.
Ossner, Jakob. 1996. Silbifizierung und Orthographie des Deutschen. Linguistische
Berichte 165, 369-400.
Evidenz gegen die Ableitbarkeitshypothese
● Es gibt sehr systematische eigenständige Schriftsystemprinzipien.
● Schriftsprachliche Formen (z. B. Dehnungszeichen, Worttrennung am Zeilenende)
können nicht vollständig aus ihrer lautlich realisierten Form abgeleitet werden. M.a.W.: Es
gibt Fälle, die nicht ausschließlich lautsprachlich motiviert sind.
● Es gibt sehr systematische schriftsystembasierte Korrespondenzen, d.h. solche, die aus
der graphematischen Form die phonologische Form ableiten.
● Selektive Sprachstörungen, d.h. die schriftsprachliche Kompetenz ist gestört, die
lautsprachliche Kompetenz ist intakt.
Logische vs. derivationelle Abhängigkeit
Definition Schriftsystem: Ein graphisches Zeichensystem ist ein Schriftsystem, wenn es
einen konventionalisierten, regelhaften Zusammenhang mit dem lautlich realisierten
System einer Einzelsprache aufweist.
Laut dieser Definition2 ist jedes Schriftsystem von der entsprechenden Lautsprache
logisch abhängig, aber nicht umgekehrt. M.a.W.: Es gibt keine Schriftsprache im strikten
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Einen weiteren Schriftsystembegriff findet man z.B. bei Harris (1985), der auch das mathematische
Zeichensystem und das musikalische Notensystem als Schriftsystem auffasst. In dieser weiten Auffassung
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Sinn ohne entsprechende Lautsprache, aber durchaus Lautsprachen ohne
entsprechendes Schriftsystem. Die Lautsprache ist somit eine notwendige Bedingung,
aber keine hinreichende Bedingung für die entsprechende Schriftsprache.
Diese logische Abhängigkeit wurde in der traditionellen Forschung im Sinne einer
derivationellen Ableitung missverstanden (vgl. Neef 2005).
Derivationelle Sicht und Schreiberperspektive: Wenn der Laut /a/ vorliegt (logisch
hinreichende Bedingung), dann schreibe den Buchstabe <a>.
Korrespondenztheoretische Sicht und Leseperspektive: Wenn schriftlich <a> vorliegt, dann
spricht man /a/ aus (logisch notwendige Bedingung).
Literatur zum Verhältnis zwischen Schriftsystem und lautlich realisiertem Sprachsystem
●Dürscheid, Christa. 2006. Einführung in die Schriftlinguistik. Grundlagen und Theorien.
3., überarb. und erg. Aufl. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht, Kap. 1 und Kap. 4.2.
●Maas, Utz. 1992. Grundzüge der deutschen Orthographie. Tübingen: Niemeyer. Kap. 1.
●Neef, Martin / Primus, Beatrice. 2001. Stumme Zeugen der Autonomie - Eine Replik auf
Ossner. Linguistische Berichte 187, 353-378.
Neef, Martin. 2005. Die Graphematik des Deutschen. Tübingen: Niemeyer.
Günther, Hartmut / Pompino-Marschall, Bernd. 1996. Basale Aspekte der Produktion und
Perzeption mündlicher und schriftlicher Äußerungen. In: Günther, Hartmut / Ludwig,
Otto (Hgg.). Schrift und Schriftlichkeit. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler
Forschung. 2. Bd. Berlin: de Gruyter, 903-917.
Schriftsystemeinheiten
Schriftsystemvarianten
Normaler Textmodus vs. Listenmodus (Tabellen, Werbeplakate u. Ä.), mathematische
oder chemische Formeln u. Ä. (vgl. Bredel 2008)
Dies ist der Textmodus.
H2O im Listenmodus
Native Schreibung vs.
Buklee
Fremdwortschreibung vs.
Bouclé
fremde Schreibung
consecutio temporum
Besondere Systeme bilden u. a. die Schreibung der Eigennamen (z. B. Claus, Troisdorf,
Franck), der Interjektionen und Lautmalereien (z. B. brrr, hmmm).
Falls nicht ausdrücklich anders angegeben, beziehen sich alle Angaben in der Vorlesung
(Definitionen, Regeln u. a.) auf den normalen Textmodus und die native Schreibung ohne
Eigennamen und Interjektionen bzw. Lautmalereien.
ist ein Schriftsystem logisch unabhängig von einem lautlich realisierten Sprachsystem. Lit.: Harris, Roy.
1995. Signs of writing. London: Routledge.
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Die Grundeinheiten des deutschen Schriftsystems nach Gallmann (1985:10f., vgl.
auch Günther 1988: 64f.) 3
1) Segmente: Buchstaben, Hilfszeichen wie Komma, Punkt und Apostroph, Ziffern,
Diakritika u. Ä.
2) lineare suprasegmentale Mittel: durchgehende Großschreibung, Hoch-/Tiefstellung,
Unterstreichung, Schriftart wie Kursive oder Fett, Sperren u. Ä.
3) flächige suprasegmentale Mittel: Zeile, Einzug, Umrandung, Textblock wie Titel,
Abschnitt und Fußnote u. Ä.
Alle diese (und ggf. weitere hier noch nicht vorgestellte) Einheiten und Mittel sind lt.
Gallmann nicht weiter zerlegbare, relevante Struktureinheiten in dem Sinn, dass sich die
Schriftsystemregeln des Deutschen auf sie beziehen.
Segmente sind Einheiten, die in der horizontalen oder additiv-vertikalen Verkettung nicht
weiter zerlegt werden können. So sind bspw. <ä> und <ü> keine Segmente, weil sie aus
einem Buchstaben und einem Diakritikum bestehen.
Hinweis: Für B. Primus und U. Bredel sind die meisten Buchstaben und viele
Interpunktionszeichen in distinktive Einzelsegmente zerlegbar.
Buchstaben
Die autonome distributionelle Definition von Buchstaben bei Günther (1988: 67):
Buchstaben sind segmentale Einheiten des Schriftsystems, die in grundsätzlich beliebig
langer Folge alternierend (d. h. auch selbständig) auf einer Zeile erscheinen können.
Die Relevanz der Buchstaben für das Schriftsystem des Deutschen zeigt sich darin, dass
es Regeln gibt, die sich auf sie beziehen. Eine buchstabenbezogene Regel ist die
Anfangsgroßschreibung wie in Weg vs. Waldweg und weg von hier. Dass diese Regel
buchstaben- und nicht graphembezogen ist, demonstriert Schrift vs. *SCHrift. Auch der
visuelle Umfang, d. h. das graphische Gewicht eines Wortes bemisst sich an der Zahl
seiner Buchstaben.
Diakritika können nicht selbständig, sondern nur durch eine vertikale additive
Verknüpfung an einen Buchstaben vorkommen. Bsp.: <ä>, <é>
Hilfszeichen. z. B. Interpunktionszeichen, können nicht oder nur sehr eingeschränkt
miteinander kombiniert werden. Das gilt auch für das Leerzeichen (Spatium). Seine
Funktion ist es, graphematische Worteinheiten zeilenintern anzuzeigen, und in dieser
Funktion darf es nicht wiederholt werden.
Ziffern sind funktional betrachtet Logogramme, die einen direkten Bedeutungsbezug
herstellen (keine Abbildung der phonologischen Form). Distributionell lassen sie sich
dadurch bestimmen, dass sie zwar miteinander, aber nur sehr eingeschränkt mit
Buchstaben kombiniert werden (vgl. Günther 1988: 67).
Buchstabenvarianten (Allographen)
Hinsichtlich des Schriftsystems nicht-funktionale Buchstabenvarianten:
3
Gallmann fasst alle relevanten Struktureinheiten des deutschen Schriftsystems als Grapheme auf.
Graphematik wird u. a. in Dürscheid (2006) entsprechend weit gefasst. In dieser Vorlesung werden nur
diejenigen Einheiten als Grapheme bezeichnet, die aus Buchstaben bestehen.
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Druckschriftbuchstabe vs. Handschriftbuchstabe, Times vs. Arial u. a.
Hinweis: solche Varianten können soziale, ästhetische o. ä. Funktionen übernehmen.
Funktionale Buchstabenvarianten: Majuskel <B> vs. Minuskel <b>, recte vs. kursive
Varianten <b> vs. <b> in wissenschaftlichen Texten.
Kleinbuchstaben der normalen (oder: recte) Druckschrift sind die unmarkierten Varianten
bzw. Grundvarianten (vgl. Gallmann 1985, Günther 1988). Von ihnen lässt sich der
Gebrauch der anderen Varianten durch Regeln ableiten (vgl. Klein-/Großschreibung).
Grapheme
Grapheme können gemäß der Ableitbarkeitshypothese auf der Basis von Phonemen wie
folgt definiert werden (Garbe 1985: 10):
Phonembasierte Definition: Ein Graphem ist die Menge aller Schreibungen, die es für
ein Phonem gibt.
Nach Garbes Auffassung entspricht z. B. dem Phonem /a:/ unter Ausschluss von Fremdgraphien und Eigennamen das Graphem <A, a, Ah, ah, Aa, aa> das z. B. in As, das,
Ahnung, Fahndung, Aar und Haar verwendet wird. In dieser Sicht ist ein Graphem ein
graphischer Repräsentant eines Phonems bzw. ein Zeichen, dessen Bezeichnetes ein
Phonem ist.
Bedeutungsbezogene autonome Definition: Ein Graphem ist die kleinste bedeutungsunterscheidende Einheit des Schriftsystems (Günther 1988: 77).
Die Parallele zur funktionalen Definition des Phonems: Phoneme sind die kleinsten
bedeutungsunterscheidenden Einheiten des mündlichen Sprachsystems. Grapheme
lassen sich analog zu Phonemen mit Hilfe von Minimalpaaren ermitteln (nach Günther
1988: 82):
<a>
<b>
<c>
<d>
<e>
<f>
<g>
<h>
<i>
<j>
<k>
<l>
<m>
<n>
<o>
dann – denn
bein – dein
sank – sack
dort – wort
echt – acht
fett – nett
gast – hast
heiß – weiß
ist – ost
jagt – sagt
kann – wann
leer – heer
mehr – wehr
nein – wein
ohr – ihr
<p>
<q>
<r>
<s>
<t>
<u>
<v>
<w>
<x>
<y>
<z>
<ä>
<ö>
<ü>
<ß>
pest – nest
quell – duell
rein – sein
sohn – hohn
tier – bier
um – am
voll – toll
wahr – jahr
axt – amt
yoga – toga
zorn – dorn
äst – ist
hölle - halle
üben - eben
reißen - reisen
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Ein Kritikpunkt an Günthers Graphemdefinition ist der fehlende Bezug zu den
Schriftsystemregeln des Deutschen. Wenn man allein mit Minimalpaaren arbeitet, kommt
man ggf. zu keinem klaren Ergebnis (vgl. Kohrt 1985: 441, Augst 1985: 113):
ma/sch/en
ma/ch/en
ma/l/en
mi/s/ch
mi/l/ch
mis/ch
mis/t
Ergebnis: es könnte sich bei <sch> um eine Folge von Graphemen handelt.
Die Worttrennungsregel ist eine einschlägige graphembezogene Regel, die das Zerlegen
von Graphemen in Buchstaben verbietet. Erst durch Hinzuziehen dieser Regel erkennt
man, dass es sich bei <sch> und <ch> in den obigen Beispielen um unzerlegbare
Einheiten des Schriftsystems handelt. Dass nicht jede Buchstabenfolge <sch> das
besprochene Graphem repräsentiert (vgl. Häs-chen, Mäus-chen), tut nichts zur Sache. Es
zeigt nur, dass das Deutsche neben dem Graphem <sch> auch die Graphemfolge
<<s><ch>> hat.
Autonome regelbasierte Definition: Ein Graphem ist ein aus Buchstaben gebildetes
Segment, das in graphematischen Regeln als kleinste unteilbare relevante Einheit fungiert
(Eisenberg 2005).
Unzerlegbarkeit alleine reicht als Kriterium nicht aus. Die Doppelvokale in Haar, Moor oder
Heer sind zwar nicht trennbar, aber ihre Nichttrennbarkeit lässt sich alternativ durch die
Tatsache erklären, dass beide Vokalgrapheme im Nukleus der Schreibsilbe stehen. Im
Zweifelsfall ist dem Grundsatz zu folgen, dass zusätzliche Grundeinheiten – in diesem Fall
neben <a>, <o> und <e> die zusätzlichen Grapheme <aa>, <oo>, <ee> – nicht ohne
triftigen Grund anzunehmen sind.
Dass Grapheme lexikalisch distinktive (bedeutungsunterscheidende) Einheiten sind, folgt
aus der allgemeinen Bestimmung, dass es sich um relevante Einheiten des Schriftsystems
handelt. Die Definition fordert nicht, dass ein Graphem für alle graphematischen Regeln
als kleinste Einheit fungiert. Es gibt Regeln, in denen Buchstaben relevante Einheiten sind,
wie die oben erwähnte Regel der Anfangsgroßschreibung.
Das native Grapheminventar von Eisenberg (2005, 2006: 306):
9 Vokalgrapheme: <a>, <e>, <i>, <o>, <u>, <ä>, <ö>, <ü>, <ie>
20 Konsonantengrapheme: <b>, <d>, <f>, <g>, <ch>, <h>, <j>, <k>, <l>, <m>, <n>, <p>,
<qu>, <r>, <s>, <sch>, <ß>, <t>, <w>, <z>
Keine produktiven Grapheme des Deutschen laut Eisenberg (2006: 306): <c, y, v, x>. Für
<c> ist dies unumstritten.
Grapheme anderer Schriftsysteme sind z. B. <ph>, <é> und <ai> wie in Telephon, Bouclé
und Malaise.
Ein gutes Kriterium für die Unterscheidung zwischen nicht-nativer Einheit und produktiver
nativer Einheit: Falls es sich nicht um Eigennamen oder Fachtermini handelt, gibt es eine
starke Tendenz, eine nicht-native Einheit durch eine produktive native Einheit zu ersetzen:
Club, Klub
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Bouclé, Buklee
Graphie, Grafie
Bouclé, Buklee
Malaise, Maläse
Yoghurt, Jogurt
Literatur über die Schriftsystemvarianten und –einheiten:
Augst, Gerhard. 1985. Dehnungs-h und Geminate in der graphematischen Struktur. In:
Augst, Gerhard (Hg.). Graphematik und Orthographie. Frankfurt a. M.: Peter Lang,
112-121.
●Bredel, Ursula. 2008. Die Interpunktion des Deutschen. Ein kompositionelles System zur
Online-Steuerung des Lesens. Tübingen: Niemeyer.
●Eisenberg, Peter. 2005. Der Buchstabe und die Schriftstruktur des Wortes. DUDEN. Die
Grammatik. 7., völlig neu erarb. und erw. Aufl. Hrsg. von der Dudenredaktion.
Mannheim, 61-94.
●Eisenberg, Peter. 2006. Grundriß der deutschen Grammatik. Bd. 1: Das Wort. 3.
durchges. Aufl. Stuttgart: Metzler. Kap. 8
Gallmann, Peter. 1985. Graphische Elemente der geschriebenen Sprache. Grundlagen für
eine Reform der Orthographie. Tübingen: Niemeyer.
Garbe, Burckhard. 1985. Graphemtheorien und mögliche Strukturmodelle zur
Beschreibung der Orthographie. In: Augst, Gerhard (Hg.). Graphematik und
Orthographie. Frankfurt a. M.: Peter Lang, 1-21.
Günther, Hartmut. 1988. Schriftliche Sprache: Strukturen geschriebener Wörter und ihre
Verarbeitung beim Lesen. Tübingen: Narr.
Kohrt, Manfred. 1985. Problemgeschichte des Graphembegriffs und des frühen
Phonembegriffs. Tübingen: Niemeyer.
Literatur über die Geschichte der Schrift und über andere Schriftsysteme
Campbell, George L. 1997. Handbook of scripts and alphabets. London: Routledge.
Coulmas, Florian. 1989. The writing systems of the world. Oxford: Blackwell.
Coulmas, Florian. 2003. Writing systems: An introduction to their linguistic analysis.
Cambridge: Cambridge University Press.
Daniels, Peter / Bright, William (eds.) 1996. The world's writing systems. Oxford: Oxford
University Press.
●Dürscheid, Christa. 2006. Einführung in die Schriftlinguistik. Grundlagen und Theorien.
3., überarb. und erg. Aufl. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht, Kap. 2 und Kap. 3.
Günther, Hartmut/Ludwig, Otto (Hgg.). 1994/1996. Schrift und Schriftlichkeit. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung. 1. Bd. 1994. 2. Bd. 1996. Berlin: de
Gruyter.
Haarmann, Harald. 1990. Universalgeschichte der Schrift. Frankfurt am Main: Campus.
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Phonographie: Traditionelle Graphem-Phonem-Beziehungen
Phonologische Grundlagen
Phonetische Symbole und traditionelle phonetisch-phonologische Merkmale der
deutschen Konsonanten (vgl. Internationales Phonetisches Alphabet (IPA))
● Artikulationsort (der passiven Artikulatoren)
● Artikulationsart
● Phonation / Stimmhaftigkeit
stimmlos/
stimmhaft
plosiv
frikativ
nasal
labial
dentalalveolar
p/b
t/d
k/g
Paar/Bar
tu/du
Kuss/Guss
[ana]
Anna
f/v
s/z
/
ç/
x/-
fahr/
wahr
weiße/
weise
schön/
Gage
ich/Jahr
ach
rau
m
n
ŋ
muss
Nuss
Enge
lateral
postalveolar
palatal
velar
uvular
glottal /
laryngal
h
hau
l
lau
vibrant
r
R
rau
rau
Hinweis: Statt des Frikativs [] erscheint oft der Approximant "Halbvokal" [j]
Traditionelle phonetisch-phonologische Merkmale der deutschen Vokale
gespannt & lang /
ungespannt & kurz
geschlossen (hoch)
halb geschlossen
(mittel)
offen (tief)
vorn
ungerundet
i: / e: / / :
hinten
gerundet
y: / ø: / œ
ungerundet
/
gerundet
u: / o: / : / a
Das Drei-Stufen-Modell der Graphematik von Peter Eisenberg
Eisenberg 2006, Kap. 8; übernommen in Fuhrhop (2005) und Dürscheid (2006)
phonographische alphabetische) Schreibung: Korrespondenzen zu einer rein
segmentalphonologischen Repräsentation, d.h. die Verschriftung phonologischer
Information, die unabhängig von der Silbenstruktur ist.
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Schriftsysteme, deren Grundeinheiten sich auf Phoneme beziehen, nennt man
Alphabetschriften.
silbische Schreibung: Verschriftung silbenstruktureller phonologischer Information
morphologische Schreibung: Verschriftung morphologischer Information, wie etwa
Stamm vs. Affix, Stammkonstanz (vgl. sie hall--en, es hall--t, wir reis--en, er reis--t)
Die auch als Prinzipien der Orthographie bekannten Generalisierungen sind keine
konkreten Schriftsystemregeln, sondern allgemeinere und somit abstraktere
Generalisierungen über solche Regeln. Sie fassen einzelne Schriftsystemregeln
zusammen und ordnen sie nach den Teilbereichen des mündlichen Sprachsystems in
phonologische, lexikalische, morphologische, syntaktische oder etwa semantische ein
(wegweisend durch diesen Ebenenbezug ist Nerius / Scharnhorst (1980)).
phonographische
Schreibung lt. Eisenberg
/haln/
<halen>
/halt/
<halt>
/st/
<reißt>
/te:ln/
<schtelen>
/te:lt/
<schtelt>
silbische Schreibung
lt. Eisenberg
<hallen>
<halt>
morphologische
Schreibung lt. Eisenberg
<hallt> (vs. <halt>)
<reist>
<stehlen>
<stehlt>
Das phonologische Prinzip in traditionellen Formulierungen
Starke, restriktive Variante: J e d e m Graphem / Buchstaben entspricht genau e i n
Phonem / Laut und umgekehrt j e d e m Phonem / Laut genau e i n Graphem /
Buchstabe.
Schwächere, weniger restriktive Variante: Phonemen lassen sich r e g e l h a f t
Grapheme zuordnen.
Alltagssprachliche Variante: Schreib, wie du sprichst!
Die Vorteile der Auffassung von Eisenberg: Eisenberg differenziert in Einklang mit der
neueren Phonologieforschung zwischen der Ebene der Segmente und der
Silbenstrukturebene. Eisenbergs Ansatz kann dadurch u. a. den Unterschied zwischen
Schriftsystem und Normsystem sowie den Schriftspracherwerb angemessener erfassen.
Phonographische Schreibung: Die Graphem-Phonem-Korrespondenzregeln (GPKRegeln) für Konsonanten in Eisenberg (2006, Kap. 8):
/p/→ <p>
/pçst/ - <Post>
/t/→ <t>
/k/→ <k>
/ton/ - <Ton>
/kalt/ - <kalt>
/b/→ <b>
/d/→ <d>
/bnt/ - <bunt>
/dst/ - <Durst>
Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009
//→ <g>
/nst/ - <Gunst>
/kv/→ <qu>
/f/→ <f>
/kvl/ - <Qual>
/fç/ - <Frosch>
/s/→ <ß>
/z/→ <s>
//→ <sch>
/ /→ <ch>
/v/→ <w>
//→ <j>
/h/ → <h>
/m/→ <m>
/n/→ <n>
/!/→ <ng>
/l/→ <l>
//→ <r>
/t"s/→ <z>
/us/ - <Ruß>
/zamt/ - <Samt>
/ot/ - <Schrot>
/ml / - <Milch>
/vk/ - <Werk>
/!/ - <jung>
/hat/ - <hart>
/ml / - <Milch>
/napf/ - <Napf>
/!/ - <jung>
/l t/ - <Licht>
/ t/ - <Recht>
/t"sat/ - <zart>
12
Eine GPK-Regel hat allgemein die Form einer sog. kontextfreien Ersetzungsregel, bei der
eine Folge von Phonemen durch eine Folge von Graphemen ersetzt wird. Eindeutigkeit
einer Abbildung liegt vor, wenn das betreffende Phonem nur einmal in einer GPK-Regel
vorkommt. Das ist im o.g. System der Fall bis auf [k], [v], [t] und [s], die sowohl für sich als
auch in den Phonemfolgen [kv] und [t"s] vorkommen. Eineindeutigkeit einer Abbildung
liegt vor, wenn das betreffende Phonem und das betreffende Graphem nur einmal in einer
GPK-Regel vorkommen. Dies ist bspw. für /p/→ <p> der Fall.
Die GPK-Regeln für Vokale in Eisenberg (2006, Kap. 8)
a. Gespannte Vokale
/i/→ <ie>
/kil/ - <Kiel>
/y/→ <ü>
/vyst/ - <wüst>
/e/→ <e>
/vem/ - <wem>
/ø/→ <ö>
/øn/ - <schön>
/æ/→ <ä>
/bæ/ - <Bär>
//→ <a>
/tn/ - <Tran>
/o/→ <o>
/ton/ - <Ton>
/u/→ <u>
/mut/ - <Mut>
b. Ungespannte Vokale
//→ <i>
/ml / - <Milch>
/'/→ <ü>
/h'p/ - <hübsch>
//→ <e>
/vlt/ - <Welt>
/œ/→ <ö>
/kœln/ - <Köln>
/a/→ <a>
/kalt/ - <kalt>
/)/→ <o>
/f)st/ - <Frost>
//→ <u>
/t/ - <Gurt>
Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009
13
c. Reduktionsvokal
//→ <e>
/k / - <Kirche>
d. Diphthonge
/ai/→ <ei>
/au/→ <au>
/)i/→ <eu>
/bain/ - <Bein>
/t"saun/ - <Zaun>
/h)i/ - <Heu>
Nachteile des Modells von Eisenberg / Weiterentwicklungen
1) Eisenberg (2006: 310): „[es] wurde die Blickrichtung vom Lautlichen zum
Geschriebenen gewählt. Diese Blickrichtung ist nicht die einzig mögliche und auch nicht
in irgendeiner Weise natürlicher als die vom Geschriebenen auf das Lautliche.“
Vgl. vom Geschriebenen zum Lautlichen Primus (2000) und Neef (2005). Vgl. auch die
Ausführungen zur Korrespondenz- vs. Ableitbarkeitshypothese weiter oben.
2) Phoneme werden als Bündel von phonologischen Merkmalen definiert. Auch
Buchstaben lassen sich weiter zerlegen => merkmalsbasierte Graphematik (s. spätere
Vorlesung).
3) Keine konsequente Trennung zwischen zugrundeliegender phonologischer Form
(eigenständigen Phonemen) und oberflächenphonologischer Form (Phone, Allophone)
Primus (2000): Nicht-distinktive (nicht bedeutungsunterscheidende) lautliche Kontraste
werden graphematisch nicht gekennzeichnet. M.a.W.: regulär verschriftet werden die
zugrundeliegenden phonologischen Formen bzw. Phoneme.
Nicht gekennzeichnet werden somit folgende Kontraste, die nach Meinung der meisten
Phonologen nicht bedeutungsunterscheidend sind.
Von Eisenberg berücksichtigt:
phonetisch
die r-Varianten
die Aspiration
der glottale Verschluss
der velare / dorsale
Frikativ
Graphematik
[o:t] vs. [to:,]
[the:]
zugrundeliegend
phonologisch
//
/te:/
[ana]
[bax]
/ana/
/ba /
<Anna>
<Bach>
Graphematik
[t:k]
zugrundeliegend
phonologisch
/t:g/
[]
--
<Kirche>
[!]
/n/
<jung>
Von Eisenberg nicht berücksichtigt:
phonetisch
die Auslautverhärtung (lt.
Eisenberg morphologisch)
das Schwa ist kein
eigenständiges Phonem (vgl.
Becker 1996, Wiese 2000)
der velare Nasal ist kein
eigenständiges Phonem
<rot>, <Tor>
<Tee>
<Tag>
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(Wiese 2000)
gespannt/ungespannt bzw.
lang/kurz sind nicht
segmentalphonologisch
distinktiv (Becker 1996,
Wiese 2000)
z. B. [:] vs. [a]
14
<Tal> vs. <an>
Eisenberg (2006: 309): Die Abbildung der betonbaren Vokale ist eindeutig, aber nicht
eineindeutig, weil Paare von gespannten und ungespannten Vokalen auf ein Graphem
abgebildet werden. Man kann durchaus erwägen, nur ein Vokalsystem anzusetzen und
Gespanntheit/Ungespanntheit aus der Silbenstruktur abzuleiten. Die Phonem-GraphemBeziehungen für die betonbaren Vokale sind dann eineindeutig.
Exkurs Auslautverhärtung: Alle Obstruenten (Plosive und Frikative) werden im Silbenreim
(zweite Nukleusposition und Silbenkoda) stimmlos realisiert.
Tag [k]
Rad [t]
gib [p]
-
Tages [g]
Räder [d]
geben [b]
Löwchen [f] Röslein [s] -
Löwe [v]
Rose [z]
Exkurs über die Ableitung des velaren Nasals durch phonologische Regeln:
Bsp.: /lang/
zugrundeliegende Repräsentation (Lexikon)
/laŋg/
Nasalassimilation
[laŋ]
g-Tilgung nach [ŋ], phonetische Form
Begründung für die Phonemfolge /ng/ anstelle von /ŋ/:
- der velare Nasal kommt nicht als Silben- oder Wortanfang vor
- vor dem velaren Nasal erscheint kein langer Vokal
- in einigen Dialekten ist /g/ hörbar, vgl. auch jung - Jugend
- Ökonomie: ein Phonem weniger, eine GPK-Regel weniger
Phonographie: Laut- und Schreibsilbe, Fußstruktur
Die neuere Schriftsystemforschung trägt der in der neueren Phonologie entwickelten
Annahme Rechnung, dass lautliche und somit auch graphematische Einheiten auf
mehreren Ebenen hierarchisch strukturiert sind (suprasegmentale oder autosegmentale
Phonologie).
Die Verschriftung silbenstruktureller Information wird bereits bei Maas (1992) und
Eisenberg (2005, 2006) berücksichtigt (erste Aufl. 1995 bzw. 1998; übernommen von
Fuhrhop (2005) und Dürscheid (2006)).
Beispiele für silbische Schreibungen bei Eisenberg (op. cit.):
- die Schreibung <st> und <sp> anstelle von <scht> und <schp> im Anfangsrand einer
Schreibsilbe wie in <stark> und <spröde>
- das System der Schreibdiphthonge
- die Schreibung von Silbengelenken (Schärfungsgraphien) wie in <hallen> und <Betten>
- Dehnungsgraphien wie in <ge-hen> und <steh-len>
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15
Nachteile der bisherigen silbischen Ansätze in der Graphematik:
- keine graphematischen silbischen Strukturen (keine Baumdiagramme)
- graphematische Füße werden vernachlässigt
- Schwa und Gespanntheit werden weiterhin segmental aufgefasst (s. weiter oben)
Hierarchische graphematische Strukturen am Bsp. des Wortes schrieben (Primus 2009):
<ω>
|
F
σ
O
N
graphematisches Wort
graphematischer Fuß
σ
O
N
|
|
G G G G G G
| | |
|
|
sch r i e
b e
|
<gerundet>
<kanonisch>
graphematische Silben
K
|
G
|
n
Konstituenten der Silbe: O = Onset / Anfangsrand
N = Nukleus, K = Koda, Endrand
Grapheme
Buchstaben
Buchstabenmerkmale für <e>
Laut- und Schrifteinheiten sind analog strukturiert: beide Systeme verfügen über die oben
angegebenen, teilweise anders benannten Struktureinheiten und strukturieren diese auch
weitgehend analog. Die kleinste funktionale Spracheinheit ist das Merkmal, d. h. die
kleinste bedeutungsunterscheidende Komponente eines Lautes oder Buchstabens. Die
oben angegebenen Merkmale für <e> werden später erläutert. Merkmale werden zu
Buchstaben zusammengefügt. Bestimmte Buchstaben können alleine oder in bestimmten
Verbindungen wie bspw. <sch> Grapheme bilden. Grapheme wiederum bilden
Silbenkonstituenten, die zu ganzen Silben, sodann zu Füßen und schließlich zu
Wörtern zusammengefügt werden.
In der Phonologie wird eine solche hierarchische Anordnung prosodische Hierarchie
genannt.
Im Deutschen sind drei Silbentypen relevant:
● betonte Vollsilben (auch Tonsilben)
● unbetonte Vollsilben und
● Reduktionssilben.4
Vollsilben können den Wortakzent tragen, Reduktionssilben nicht. Da Wörter betonbar
sein müssen, folgt, dass ein Wort aus mindestens einer Vollsilbe bestehen muss. D.h.:
Reduktionssilben gibt es nur in mehrsilbigen Wörtern.
Der Nukleus (Kern) jeder Vollsilbe hat zwei Positionen, die obligatorisch gefüllt werden
müssen. Der Nukleus jeder Reduktionssilbe ist einfach (nicht verzweigend) und besteht
nur aus V (für die Phonologie Wiese 2000, für die Graphematik Primus 2000, 2003, 2009).
4
Eine etwas andere Auffassung findet man in den Arbeiten von Utz Maas und Röber-Siekmeyer.
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16
Schärfungsschreibung (graphematische Konsonantenverdopplung)
Duden-Rechtschreibung (2006) und manche Standardwerke (Nerius 2007): „Folgt im
Wortstamm auf einen betonten kurzen Vokal nur ein einzelner Konsonant, so
kennzeichnet man die Kürze des Vokals durch Verdopplung des Konsonantenbuchstabens“.
Erfasst: Bett, Bett--en, Lamm, Lämm--er, hall--t, renn--st
Nicht erfasst: Ärzt--innen, Kollege
Ausnahmen: mit, an, ob (Funktionswörter), Bus, Limit, Anorak (Fremdwörter?), Papa
Eisenberg (1997, 2005, 2006): Ist ein Konsonant ein Silbengelenk, so wird er durch
Verdopplung des Buchstabens für den Konsonanten dargestellt.
Gelenkkonsonanten sind eine Folge der silbenstrukturellen Besonderheit des Deutschen,
dass ein betonter Kurzvokal nie in offener Silbe stehen kann. Lamm und Bett befolgen
dieses Gesetz durch einen silbenschließenden Konsonanten, Betten und Lämmer durch
einen Gelenkkonsonanten. Ein Gelenkkonsonant ist dadurch charakterisiert, dass er eine
Silbe schließt und zugleich die nächste Silbe eröffnet, wie in (a) weiter unten gezeigt. Da
Gelenkkonsonanten nur nach Kurzvokal vorkommen, zeigt die graphematische
Konsonantenverdopplung auch Vokalkürze an, aber eben nur indirekt.
Phonologisches Silbengelenk (a)
graphematische Doppelkonsonanz (b):
(a)
(b)
/ω/
σ
O
/l
N
<ω>
σ
O N K
| |
V C C V
|
|
i
t ə n /
σ
O
V
|
< l i
σ
N
O
|
C C
| |
t t
N
|
V
|
e
K
n>
Erfasst: Betten, Lämmer
Nicht erfasst: Bett, Lamm, hall--t, renn—st (morphologisch erklärt)
Nicht erfasst: Ärztinnen, Kollege
Ausnahmen: Limit, Anorak, Kamera (Fremdwörter?), Mama
Keine Ausnahmen: mit, an, ob
Ein grundsätzlicher Vorteil der Analyse von Eisenberg liegt in der Tatsache, dass die
Verdopplung des Konsonantengraphems unmittelbar aus den Eigenschaften des
entsprechenden phonologischen Konsonanten abgeleitet wird.
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17
Dehnungszeichen (Primus 2000, 2003, 2009)
Phonologische Grundlagen: Die silbenstrukturelle Repräsentation der Vokalopposition
(Wiese 2000, Lenerz 2000), vgl. auch /litən/ weiter oben.
σ
σ
O
R
│
N
C C
│ │
k n
V C
i
O
<Knie>
R
│
N
C C
│ │
k n
V
│
i
R – Reim (Nukleus+Koda)
C
│
f
<Kniff>
Die Vokalquantität bzw. Gespanntheit ist weitgehend nur in Tonsilben
bedeutungsunterscheidend (Becker 1996).
Phonologischer Silbennukleus
/l
Graphematischer Silbennukleus
N
N
V C
V C
i d/
<l
N
V C
/z
e /
i
N
V C
| |
<l i e d>
d>
N
V
|
<s e
N
C
|
e>
V C
<s
e
K
C
|
h>
Alternativ könnte man das Dehnungs-h wie die anderen Dehnungszeichen in der zweiten
Nukleusposition platzieren. Der Unterschied: Das Dehnungs-h erscheint auch im Onset,
vgl. <se-hen>, die anderen nicht.
Graphematische silbenstrukturelle Beschränkungen
(i)
Vokalbuchstaben in Dehnungsfunktion besetzen die zweite Nukleusposition.
(ii)
Die phonologisch nicht-korrespondierenden (stummen) Buchstaben <a, e, o> und
die phonologisch korrespondierenden Buchstaben <i, u> sind in der zweiten
Nukleusposition komplementär verteilt. Die Form der stummen Buchstaben <e, a,
o> weist ein gerundetes Grundelement auf (einen Halbkreis oder Spazierstock),
während das Grundelement der phonographischen Buchstaben <i u> gerade ist (vgl.
Primus 2003, 2006).
Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009
(a)
S
s
H
M
N
(b)
18
N
V X
│ │
e e
i e
a a r
o o r
│
<gerundet>
/stumm/
V
│
s e
S a
H e
B ä
X
│
i
i t e
u
u m e
│
<nicht gerundet>
/korrespondierend/
Diese Beschränkung schließt die Dehnungsgraphien <ii>, <uu> und <üü> aus.
(iii)
In der zweiten Nukleusposition sind komplexe Grapheme oder Buchstabenfolgen
ausgeschlossen (Komplexitätsbeschränkung). Vier Datenbereiche a) –d) werden
damit erklärt:
a) Komplexe Grapheme können nicht als Schärfungszeichen verwendet werden:
waschen
lachen
*waschschen
*lachchen
b) Umlautbuchstaben sind komplex (Buchstabe + Trema) und können nicht als
Dehnungszeichen verwendet werden:
Haar
Boot
*Häärchen
*Böötchen
Härchen
Bötchen
c) Die phonologische Umlautung von /u/ im Diphthong kann nicht verschriftet werden:
Baum
heute
*Baüme
*heüte
Bäume
heute
Hinweis: phonologisch wird nur /u/ umgelautet / frontiert (vgl. Wiese 2000).
d) <ß> ist aus der Ligatur von < ʃ> und < ʒ> entstanden, vgl. die Bezeichnung „Eszet“. Die
Neuregelung behandelt es stillschweigend als komplexes Graphem: es kann nie einem
Kurzvokal folgen.
Alte Regelung:
Neue Regelung:
Fuß, Füße
Fluß, Flüsse
Fuß, Füße
Fluss, Flüsse
s, ß und ss
Phonologie
/s/ erscheint im Standarddeutschen in nativen Wörter nie im absoluten Silbenonset.
Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009
Bsp.: Samt /zamt/, */samt/
Fremdwort: Set /st/
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Dialektal: Samt /samt/
Im Silbenreim (bzw. in allen C-Positionen nach der V-Nukleusposition) wird zugrunde
liegendes /z/ als [s] realisiert (Auslautverhärtung).
Bsp.: Haus zugrunde liegend /z/ wie in Hauses
Graphematik
GPK-Metaprinzip (Primus 2000): GPK-Regeln beziehen sich auf die zugrunde liegende
phonologische Form (phonologisches Lexikonwissen).
a)
b)
/s/→ <ß>
/z/→ <s>
/us/ - <Ruß>
/zamt/ - <Samt>
c)
<ß> ist ein komplexes Graphem und kann daher nicht in der zweiten
Nukleusposition erscheinen (Primus 2003).
Eisenberg (2005, 2006)
Eisenberg (2005, 2006)
/ms/ → <muß>
*<muß>
<mus>
<muss>
nach GPK-Regel a)
nach Beschränkung c)
nach Metabeschränkung d)
morphologische Schreibung wegen müssen
/bs/ → <buß>
*<buß>
<bus>
nach GPK-Regel a)
nach Beschränkung c)
nach Metabeschränkung d)
d) Der Regelkonflikt zwischen GPK-Regeln und strukturellen graphematischen
Beschränkungen für Sibilanten (s-Laute) wird zugunsten der Schreibung mit <s> gelöst
(Metabeschränkung, d. h. Regelung des Beschränkungskonflikts; Quellenangabe:
Primus, dieses Vorlesungsskript). Die Schreibung mit <s> wird als Default bezeichnet.
e) //→ <sch>
/ot/ - <Schrot>
(Eisenberg 2006)
f) Im Silbenonset kann <scht> und <schp> nicht realisiert werden (Eisenberg 2006).
/te:ln/ →
<schtelen>
*<schtelen>
<stelen>
<stehlen>
nach GPK-Regel e)
nach Beschränkung f)
nach Metabeschränkung d)
Dehnungsgraphie – phonologisch nicht vorhersagbar
Fazit: Die Schreibung <s> für /s/ oder // ist in Eisenbergs Ansatz nicht phonologisch
determiniert.
Der Vorteil der suprasegmentalen Graphematik: Sie ermöglicht die Formulierung einfacher
graphematischer Regeln.
Für die V-Position gelten mit Ausnahme der e-Laute bidirektionale (eineindeutige)
Phonem-Graphem-Korrespondenzen (Eigennamen, Fremdwörter ausgenommen).
Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009
V
|
/a/
/i/
/u/
/o/
/y/
/ø/
<=>
<=>
<=>
<=>
<=>
<=>
V
|
<a>
<i>
<u>
<o>
<ü>
<ö>
20
Hinweis: Der Buchstabe <y> ist nicht nativ!
Hinweis: Die Vokallänge ist irrelevant in der V-Position.
Das Ebenenprinzip: Suprasegmentale phonologische Kontraste werden graphematisch
rein suprasegmental repräsentiert (keine spezifischen Buchstaben für Langvokal vs.
Kurzvokal und für Schwa); segmentale phonologische Kontraste werden graphematisch
segmental repräsentiert.
Silbenstrukturen im Schriftspracherwerb
● Die Auswertung des Korpus von Thomé (1999) ergab, dass Schulkinder der
Komplexitätsbeschränkung intuitiv folgen (vgl. Neef / Primus 2001). Thomé hat 62
Kunstwörter 79 Schülern der 3. und 4. Klasse diktieren lassen. Auf rund 110
phonographische Fehler – darunter <klieckig> oder <cklechich> für [klεkix] – kommt nur
eine Verletzung der Komplexitätsbeschränkung vor, nämlich <plaüsen>.
● Die Untersuchung von Röber (2006) zum Schrifterwerb der i-Laute ergibt, dass die
meisten Falschschreibungen der Verzicht auf Markierung mit <e> oder <h> (Stifel) oder
überflüssige Markierungen (Apfelsiene) sind. Solche Fehler bestätigen die Hypothesen,
- dass für die Schreibsilbe zwei distinkte Nukleuspositionen anzunehmen sind und
- dass die zweite Position suprasegmentalen lautlichen Gegebenheiten vorbehalten und
daher auf der Buchstabenebene phonographisch weniger systematisch ist als die erste
Nukleusposition.
● Andere Untersuchungen zeigen die Relevanz graphematischer Silbenstrukturen bei der
Gelenkschreibung (vgl. Röber-Siekmeyer / Pfisterer 1998) sowie bei Handbewegungen
oder Tastenbetätigungsintervallen beim Schreiben (Nottbusch 2008).
Fußstrukturen (Primus 2009)
Der Fuß ist eine Einheit, die genau eine Tonsilbe und gegebenenfalls eine oder zwei
unbetonte Silben enthält.
Die Fußstruktur von schrieben und litten weiter oben ist ein Trochäus mit einer Tonsilbe
und einer Reduktionssilbe. Dieser Fußtyp ist kanonisch für das Deutsche, dem sehr
viele flexionsmorphologische Formen folgen (vgl. Wiese 2000, Eisenberg 2006).
Mit Bezug auf die kanonische Fußstruktur können wir die Systematik der Verschriftung der
Vokalquantität gut in den Griff bekommen.
(I) Die Verschriftung der Vokalquantität in der Tonsilbe eines kanonischen Trochäus
vorangehender Kurzvokal ↔ keine graphematische
Langvokal →
Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009
graphematische Doppelkonsonanz (regulär,
produktiv)
Betten
Lacke
lottern
Happen
offen
lassen
Widder
irren
wirren
Doppelkonsonanz ↔
vorangehender Langvokal
(regulär, produktiv)
be ten
Lake
Lote
hapern
Ofen
lasen
wider
Iren
Viren
21
Dehnungszeichen
(irregulär, unproduktiv)
Beeten
doofen
wieder
ihren
vieren
In der zweiten Zeile erscheinen die entscheidenden beiden Silbenstrukturpositionen
umrahmt: in allen drei Fällen steht ein <e> in der ersten Nukleusposition. Hier wird die
Vokalqualität eindeutig fixiert. In der zweiten Nukleusposition erscheint in Betten ein
stummer Gelenkanzeiger und in Beeten ein stummer Dehnungsbuchstabe. In beten wird
<e> mit beiden Nukleuspositionen assoziiert und zeigt damit Vokallänge an, was
oberflächlich betrachtet nicht zu erkennen ist.
Warum verzichtet man so häufig auf die Verschriftung der Vokallänge? Warum ist sie
weitgehend unproduktiv?
Eine Antwort ergibt sich, wenn man Gelenkschreibungen im kanonischen Trochäus als
Referenz heranzieht (erste Spalte). Um kanonische Trochäen zu erhalten, ist meistens
eine Flexionsform vonnöten (vgl. Eisenbergs Begriff der Explizitform (2006)).
Beachten muss man lediglich, dass Gelenkschreibungen bei komplexen Graphemen nicht
möglich sind, weil in der zweiten Nukleusposition keine komplexen Grapheme stehen
können: *raschscheln, *lachchen, *laßßen. Dies bedeutet, dass bei komplexen
intervokalischen Graphemen die Vokalquantität nicht eindeutig erkennbar ist, vgl. duschen
mit Lang- oder Kurzvokal und huschen mit Kurzvokal.
Ansonsten ist die Verschriftung von Gelenkbildung und mithin Vokalkürze durch eine
graphematische Doppelkonsonanz im kanonischen Trochäus regulär und produktiv (vgl.
jobben, joggen). Erst die Regelhaftigkeit der Gelenkschreibung bedingt die Regelhaftigkeit
ihrer Absenz (zweite Spalte): Wenn sie nicht vorliegt, wie in beten, kann man im
kanonischen Trochäus auf Vokallänge schließen. Dies gilt per logischem Gesetz: „Wenn
ein Silbengelenk und als Folge davon ein Kurzvokal vorliegt, dann wird das Graphem, das
dem Gelenkkonsonanten entspricht, verdoppelt“ (erste Spalte). Dies ist logisch äquivalent
mit „Wenn kein doppelter Konsonantbuchstabe vorliegt, dann ist dieser Konsonant kein
Gelenk und der vorangehende Vokal nicht kurz“ (zweite Spalte).
Eine explizite Dehnungsgraphie (dritte Spalte) ist folglich beim kanonischen Trochäus
nicht nötig. Sie ist in der Tat unproduktiv, auch wenn für den Langvokal /i:/ im nativen
Wortschatz <ie> wesentlich häufiger vorkommt als <i> (vgl. Röber 2006).
Die nächste Synopse in (II) zeigt, dass sich die Verhältnisse in einer nicht-kanonischen
Fußstrukturposition ändern. D.h.: die Tonsilbe ist nicht wortinital wie in Kommode, blamiert
und Allee oder der Fuß endet nicht mit einer Reduktionssilbe wie in Limit und Koma. In
solchen Fällen ist lediglich die Dehnungsgraphie mit <ee> und <ie> bei einigen betonten
Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009
22
Suffixen regulär und produktiv (dritte Spalte). Der einfache Pfeil in den ersten beiden
Spalten gibt an, in welcher Richtung Irregularität herrscht.
(II)
Die Verschriftung der Vokalquantität in einer nicht-kanonischen Fußstrukturposition
vorangehender Kurzvokal keine graphematische
→ graphematische
Doppelkonsonanz →
Doppelkonsonanz
vorangehender Langvokal
regulär: Kommode
irregulär: Limit, blamiert
regulär: Lima, Koma
irregulär: Limit, blamiert
Langvokal → Dehnungszeichen;
regulär und produktiv in einigen
betonten Suffixen:
Allee, Armee, Buklee
Magie, Chemie
radieren, dosieren
Fazit: Die graphematische Doppelkonsonanz zeigt im kanonischen Trochäus regelhaft
phonologische Gelenke an; ihre Absenz signalisiert im kanonischen
Trochäus einen Langvokal. Dehnungszeichen sind in der Tonsilbe des kanonischen
Trochäus mithin unnötig und deshalb unproduktiv.
Die Verhältnisse kehren sich in nicht-kanonischen Fußstrukturen um. Die graphematische
Doppelkonsonanz ist hier unsystematisch, womit aus ihrer Absenz auch keine Vokallänge
abgeleitet werden kann. Dehnungszeichen sind hingegen in nicht-kanonischen
Fußstrukturen produktiv. Damit zeigen sie nicht nur Vokallänge an, sondern auch die
Tatsache, dass eine nicht-kanonische Fußstruktur vorliegt, nämlich dass eine in dieser
Position unerwartete Tonsilbe vorliegt.
Zusammenfassung. Eine hierarchische Strukturierung oberhalb der Phonem- und
Buchstabenebene scheint prima facie unnötig komplex. Nichtsdestotrotz wird diese
Komplexität durch mehrere große Vorteile wettgemacht. Zum einen erlauben die
verschiedenen Struktureinheiten einen systematischeren Zugriff auf phonographische
Regularitäten als herkömmliche Ansätze, die mehr Unregelmäßigkeiten in Kauf nehmen
müssen. Zum anderen können wir größere Zusammenhänge besser verstehen.
Literatur zur Phonologie
Becker, Thomas. 1996. Das Vokalsystem der deutschen Standardsprache. Frankfurt a.
M.: Peter Lang.
Hall, Tracy A. 2000. Phonologie. Eine Einführung. Berlin: de Gruyter.
Lenerz, Jürgen. 2000. Zur sogenannten Vokalopposition im Deutschen. In: Zeitschrift für
Sprachwissenschaft 19, 167-209.
Ramers, Karl-Heinz. 2001. Einführung in die Phonologie. 2. Aufl. (1. Aufl. 1998). München.
Wiese, Richard. 2000. The phonology of German. 1st ed. 1996. 2nd rev. ed. 2000. Oxford:
Oxford University Press.
Literatur zur Graphematik (Lautebene und Silbenebene)
Duden. 2006. Rechtschreibung der deutschen Sprache. 24., völlig neu bearbeitete und
erweiterte Auflage. Mannheim et al.: Dudenverlag. Kommentar: Die erste Auflage mit
der Reform der Reform.
●Dürscheid, Christa. 2006. Einführung in die Schriftlinguistik. Grundlagen und Theorien.
3., überarb. und erg. Aufl. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht, Kap. 4.3.
●Eisenberg, Peter. 1997. Die besondere Kennzeichnung der kurzen Vokale - Vergleich
und Bewertung der Neuregelung. In: Augst, Gerhard et al. (Hgg.). Zur Neuregelung der
deutschen Orthographie. Begründung und Kritik. Tübingen: Niemeyer, 323-336.
Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009
23
●Eisenberg, Peter. 2005. Der Buchstabe und die Schriftstruktur des Wortes. In: DUDEN.
Die Grammatik. 7., völlig neu erarb. und erw. Aufl. hrsg. von der Dudenredaktion.
Mannheim, 61-94.
●Eisenberg, Peter. 2006. Grundriß der deutschen Grammatik. Bd. 1: Das Wort. 3.
durchges. Aufl. Stuttgart: Metzler. Kap. 8.
●Fuhrhop, Nanna. 2005. Orthografie. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, Kap. 2.-3.
●Maas, Utz. 1992. Grundzüge der deutschen Orthographie. Tübingen: Niemeyer, Kap. 1827.
●Neef, Martin / Primus, Beatrice. 2001. Stumme Zeugen der Autonomie - Eine Replik auf
Ossner. Linguistische Berichte 187, 353-378.
Neef, Martin. 2005. Die Graphematik des Deutschen. Tübingen: Niemeyer.
Nerius, Dieter / Scharnhorst, Jürgen. 1980. Grundpositionen der Orthographie. In: Nerius,
Dieter / Scharnhorst, Jürgen. (Hgg.). Theoretische Probleme der deutschen
Orthographie. Berlin: Akademie Verlag, 11–74.
●Nerius, Dieter. 2007. Deutsche Orthographie. 4. neu bearbeitete Auflage. Hildesheim:
Olms. Kap. 4
Nottbusch, Guido. 2008. Handschriftliche Sprachproduktion. Sprachstrukturelle und
ontogenetische Aspekte. Tübingen: Niemeyer.
●Primus, Beatrice. 2000. Suprasegmentale Graphematik und Phonologie: Die
Dehnungszeichen im Deutschen. Linguistische Berichte 181, 5-34.
●Primus, Beatrice. 2003. Zum Silbenbegriff in der Schrift-, Laut- und Gebärdensprache Versuch einer mediumunabhängigen Fundierung. Zeitschrift für Sprachwissenschaft
22, 3-55.
●Primus, Beatrice. 2009. Strukturelle Grundlagen des deutschen Schriftsystems. Erscheint
in: Bredel, Ursula / Hinney, Gabriele / Müller, Astrid (Hgg.). Rechtschreib- und
Schriftkompetenz: Graphematik, Didaktik, Empirie. Tübingen: Niemeyer.
Ramers, Karl Heinz. 1999. Vokalquantität als orthographisches Problem: Zur Funktion der
Doppelkonsonanzschreibung im Deutschen. In: Linguistische Berichte 177, 52-64.
Vgl. dazu: Eisenberg, Peter. 1999. Vokallängenbezeichnung als Problem. Linguistische
Berichte 179, 343-349.
Ramers, Peter. 1999. Zur Doppelkonsonanzschreibung im Deutschen: Eine Rereplik.
Linguistische Berichte 179, 350-360.
Röber, Christa. 2006. Die Systematik der Orthographie als Basis von Analysen von
Kinderschreibungen. Eine empirische Untersuchung zur Schreibung der i-Laute. In:
Bredel, Ursula / Günther, Hartmut (Hgg.). Orthographietheorie und Rechtschreibunterricht. Tübingen: Niemeyer, 71-102.
Röber-Siekmeyer, Christa / Pfisterer, Katja. 1998. Silbenorientiertes Arbeiten mit einem
leseschwachen Zweitklässler. Begründung und Beschreibung einer nicht
buchstabenorientierten Unterrichtsfolge zum Lesenlernen. In: Weingarten, Rüdiger /
Günther, Hartmut (Hgg.). Schriftspracherwerb. Baltmannsweiler: Schneider
Hohengehren, 36–61.
Thomé, Günther. 1999. Orthographieerwerb. Qualitative Fehleranalysen zum Aufbau der
orthographischen Kompetenz. Frankfurt a. M.: Peter Lang.
Die Schreibung der Fremdwörter
●Eisenberg, Peter. 2006. Grundriß der deutschen Grammatik. Bd. 1: Das Wort. 3.
durchges. Aufl. Stuttgart: Metzler. Kap. 8.6.
●Fuhrhop, Nanna. 2005. Orthografie. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, Kap. 5.
●Maas, Utz. 1992. Grundzüge der deutschen Orthographie. Tübingen: Niemeyer, Kap. 27.
Neef, Martin. 2005. Die Graphematik des Deutschen. Tübingen: Niemeyer.
Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009
24
Phonographie: Laut- und Buchstabenmerkmale
Primus (2004, 2006): Unsere Schriftzeichen sind in kleinere Basiselemente zerlegbar.
Deren Eigenschaften bestimmen die sprachenübergreifende Funktion eines Schriftzeichens und klassifizieren Schriftzeichen zu größeren Form-Funktionsgruppen. Die
Zerlegung der Buchstaben ermöglicht die Formulierung von phonographischen
Korrespendenzregeln, die ganze Klassen von Buchstaben und Lauten zusammenfassen.
Buchstabenstruktur (nur Buchstabenkörper ohne Diakritikum)
Coda
Kopf
Coda
Kopf
Kriterien für Buchstabenköpfe:
obligatorisch, vgl. <i>
vertikal
bevorzugt länger als eine Coda
initiale Position im kanonischen Fall
I. Graphematische Kopfrundung und artikulatorische Öffnung am Bsp. der
Vokalbuchstaben
a. <nicht gerundet >
↔ /geschlossen/
<i>-/ɪ/, <u>-/υ/
b. <gerundet>
↔ /nicht geschlossen/
<e>-/ε/, <o>-/ɔ/, <a>-/a/
Ein Buchstabe mit einem geraden Kopf, wie <i, u>, korrespondiert mit einem
geschlossenen Laut, d. h. /ɪ/ oder /υ/. Ein Buchstabe mit einem gerundetem Kopf, wie <a,
e, o>, entspricht einem nicht geschlossenen, d. h. einem mit größerer Mundöffnung
produzierten Laut, wie /a, ε, ɔ/.
II. Kanonische Ausrichtung und Artikulationsort
a. <kanonisch>
↔ /vorne/
b. < nicht kanonisch> ↔ /nicht vorne/
<i>-/ɪ/, <e>-/ε/
<u>-/υ/, <o>-/ɔ/, <a>-/a/
Die kanonischen Buchstabenformen fügen sich der rechtsläufigen Zeilenrichtung und
bilden möglichst geschlossene geometrische Figuren wie bei <i> und <e>. M.a.W.: der
Kopf darf nicht rechts stehen und darf sich nicht nach links öffnen. Die Coda muss sich
zum Kopf wenden und somit eine geschlossene geometrische Figur bilden.
Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009
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Bei Buchstaben, denen weiter hinten artikulierte Laute entsprechen, sind Kopf und Coda
nicht kanonisch ausgerichtet: der Kopf zeigt nach links, hat eine linksseitige Coda, oder
eine Coda, die sich vom Kopf abwendet, vgl. <j, k, g, a, u>.
III setzt das Buchstaben-Phonem-Paar <a>-/a/ von <e>-/ε/ und <o>-/ɔ/ ab:
III.
< oben offen, d.h. nach oben nicht verbunden> signalisiert höhere Sonorität
IV. Das Trema ersetzt den Lautwert /nicht vorne/ durch /vorne/ bei nicht-kanonisch
ausgerichteten Vokalbuchstaben.
IV ist unabängig von der phonologischen Umlautung wie in Hand-Hände: Bär, Käse,
Pädagoge, Büro, Ödem
/vorderer Laut/
<kanonische Ausrichtung>
/geschlossener Laut/
<gerade Kopflinie>
i
/nicht-geschlossener Laut/
<gerundete Kopflinie>
/nicht-vorderer Laut/
<nicht-kanonische Ausrichtung>
ü
u
e, ö
ä
o
a
/offenerer/ Laut als /ε/ und /o/
<oben offen> gegenüber <e> und <o>
Graphematische Längenhierarchie (Fuhrhop / Buchmann 2009)
langer
Kopf
schräger
Kopf
kurzer gerader Kopf
kurzer
gebogener
Kopf
nach oben verbunden
b, p, q, d, v, w, x, z,
k, h, t, ß,
j, f
gebogene
Koda
m, n
nach oben nicht
verbunden
nicht gebogene Koda gebogene
Koda
r, l
i
u
a, e, o
L Ä N G E
Autonome Definition Konsonantenbuchstabe (nicht in Fuhrhop / Buchmann 2009): ein
Buchstabe, der die Position 1-4 auf der Längenhierarchie besetzt, d. h. ein Buchstabe,
dessen Kopf lang, schräg oder kurz, gerade und nach oben verbunden ist.
Autonome Definition Vokalbuchstabe (nicht in Fuhrhop / Buchmann 2009): ein Buchstabe,
der die Position 5-7 auf der Längenhierarchie besetzt, d.h. ein Buchstabe, dessen Kopf
kurz und gebogen oder kurz, gerade und nach oben nicht verbunden ist.
Vorteile einer merkmalsbasierten Graphematik
Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009
26
● Ökonomie: weniger phonographische Korrespondenzregeln
Wenn man Vokalquantität und Schwa als silbenbasierte Erscheinungen außen vor lässt,
so stellt Eisenberg für die 8 gespannten Vokale 8 einzelne phonographische
Korrespondenzregeln auf (vgl. weiter oben). Primus (2009) kommt mit 6 Korrespondenzen
aus: s. oben Ia, Ib, IIa, IIb, III und IV. Alle außer der Tremaregel gelten auch für
Konsonantenbuchstaben, was in dieser Vorlesung aus Zeitgründen nicht demonstriert
werden kann (vgl. Primus 2004, 2006). Wenn man Vokale und Konsonanten
zusammenfasst, ist das merkmalsbasierte Modell sehr viel sparsamer als herkömmliche
Analysen. Dieser Vorteil ergibt sich aus der klassifizierenden Funktion von Merkmalen
(vgl. auch die Rolle der Merkmale in der Phonologie).
● Erklärungsadäquatheit: eine merkmalsbasierte Graphematik stellt größere
Zusammenhänge her und erfasst mehr Fakten, z. B.:
a) Das graphematische Kopfmerkmal <+ gerundet> signalisiert in der zweiten
Nukleusposition die Dehnungsfunktion. Die stummen Buchstaben <e, a, o> haben einen
gerundeten Kopf (einen Halbkreis oder Spazierstock), während der Kopf der
phonographischen Buchstaben <i u> gerade ist (vgl. weiter oben).
b) Man kann Vokal- und Konsonantenbuchstaben autonom definieren (s. oben).
Graphematisches Nukleusgesetz: Im Nukleus jeder Schreibsilbe muss ein Vokalbuchstabe
stehen (Primus 2003).
Dies erklärt u. a., warum <Dirndl> oder <Jandl> graphematisch einsilbig sind, d. h. am
Zeilenende nicht getrennt werden können.
c) Graphematische Merkmale zeigen die graphematische Silbenstuktur an (vgl.
Längenhierarchie).
<Dirndl>
<können>
<Ferien>
graphematisch einsilbig (aber phonologisch zweisilbig), hat genau einen
Buchstaben, dessen Kopf <kurz , gerundet> oder <kurz, gerade und nach
oben nicht verbunden> ist.
graphematisch zweisilbig, hat genau zwei Buchstaben, deren Kopf <kurz ,
gerundet> oder <kurz, gerade und nach oben nicht verbunden> ist.
graphematisch dreisilbig (aber phonologisch zweisilbig), hat genau drei
Buchstaben, deren Kopf <kurz , gerundet> oder <kurz, gerade und nach
oben nicht verbunden> ist.
d) Der phonologische Wert eines Buchstabens ergibt sich in vielen Fällen unmittelbar
aus der Form der Buchstabenteile.
So ist bspw. bei der Artikulation offener Vokale die Lippenstellung und Mundöffnung
sichtbar größer, bögiger als bei der Artikulation der geschlossenen Laute. Diesen
Unterschied geben gerundete vs. gerade Kopflinien unmittelbar, d. h. ikonisch-bildhaft,
wieder.
Vordere Laute sind einfacher zu artikulieren und wahrzunehmen als hintere Laute und
dementsprechend sind Buchstabenformen für vordere Laute einfacher („kanonischer“) als
für hintere Laute, vgl. <i, e> mit <u, o, a>.
e) Ein merkmalsbasiertes graphematisches Modell greift auf systematische phonologische
Lautkontraste und mithin auf Lautklassen zu und trägt damit zur Stärkung des
phonologischen Bewusstseins, einer wichtigen Voraussetzung für die Schrifteignung,
unmittelbar bei.
Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009
27
Literatur – Buchstabenmerkmale
Althaus, Hans P. 1980. Graphetik. In: Althaus, Hans P./Henne, Helmut/Wiegand, Ernst
(Hgg.). Lexikon der germanistischen Linguistik (LGL). 2. neub. Aufl. Tübingen:
Niemeyer, 138-142.
Berkemeier, Anne. 1998. Kontrastive Analyse von Schriftsysteminventaren. In: Hasert,
Jürgen / Ossner, Jakob (Hg.). Schriften schreiben. Osnabrücker Beiträge zur
Sprachtheorie (OBST) 56, 48-74.
Bredel, Ursula. 2008. Die Interpunktion im gegenwärtigen Deutsch. Ein kompositionelles
System zur Online-Steuerung des Lesens. Tübingen: Niemeyer.
Brekle, Herbert E. 1994. Die Buchstabenformen westlicher Alphabetschriften in ihrer
historischen Entwicklung. In: Günther, Hartmut/Ludwig, Otto (Hgg.). Schrift und
Schriftlichkeit. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung. 1. Bd. Berlin:
de Gruyter, 171-204.
Fuhrhop, Nanna / Buchmann, Franziska. 2009. Die Längenhierarchie: Zum Bau der
graphematischen Silbe. Linguistische Berichte 218, 127-155.
Fuhrhop, Nanna / Buchmann, Franziska / Barghorn, Rebecca. 2009. The Letter Length
Hierarchy: Evidence from German and English. Erscheint in Written Language and
Literacy.
●Primus, Beatrice. 2009. Strukturelle Grundlagen des deutschen Schriftsystems. Erscheint
in: Bredel, Ursula / Hinney, Gabriele / Müller, Astrid (Hgg.). Rechtschreib- und
Schriftkompetenz: Graphematik, Didaktik, Empirie. Tübingen: Niemeyer.
●Primus, Beatrice. 2003. Zum Silbenbegriff in der Schrift-, Laut- und Gebärdensprache Versuch einer mediumunabhängigen Fundierung. Zeitschrift für Sprachwissenschaft
22, 3-55.
Primus, Beatrice. 2004. A featural analysis of the Modern Roman Alphabet. In: Written
Language and Literacy 7.2, 235-274.
●Primus, Beatrice. 2006. Buchstabenkomponenten und ihre Grammatik. In: Bredel, Ursula
/ Günther, Hartmut (Hgg.). Orthographietheorie und Rechtschreibunterricht. Tübingen:
Niemeyer, 5-43.
Primus, Beatrice. 2007. Die Buchstaben unseres Alphabets: Form – Entwicklung –
Funktion. In: Boschung, Dieter / Hellenkämper, Hansgerd (Hgg.). Kosmos der Zeichen
- Schriftbild und Bildformel in Antike und Mittelalter. Wiesbaden: Reichert, 45-65.
Watt, William C. 1980. What is the proper characterization of the alphabet? Part 2: Composition. In: Ars Semeiotica 3, 3-46.
Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009
28
Morpheme im Paradigma: morphologisch bedingte Schreibungen
Das graphematische Prinzip der Morphemkonstanz (auch Schema- oder Stammkonstanz):
Die Schreibung der Wortstämme und Affixe bleibt in der Flexion, in Zusammensetzungen
und Ableitungen weitgehend konstant (Internationaler Arbeitskreis 1995: 16).
Das allgemeine Prinzip der Paradigmenuniformität: Die Form eines Morphems (z. B.
Stammmorphems) ist in einem morphologischen Paradigma (z. B. Flexionsparadigma,
Wortfamilie) konstant.
Anders formuliert: Vermeide Allomorphie.
Noch allgemeiner: Einer Funktion entspricht eine Form.
Paradigmatischer (analogischer) Ausgleich in der Sprachgeschichte:
Präteritalausgleich
Stamm Affix
Mhd. Präteritum
1.Pers. Sg.
half
1. Pers. Pl.
hulfen
Nhd. Präteritum
1.Pers. Sg.
half
1. Pers. Pl.
halfen
<ä>-Schreibung für //
Das Drei-Stufen-Modell von Peter Eisenberg (Wiederholung):
phonographische
Schreibung
/haln/
<halen>
/halt/
<halt>
/st/
<geste>
silbische Schreibung
morphologische Schreibung
<hallen>
<halt>
--
<hallt> wegen <hallen>
<gäste> wegen <gast>
Eisenbergs (2006) einzige GPK-Regel für //
//→ <e>
/vlt/ - <Welt>
Die phonographische <ä>-Schreibung betrifft nur den gespannten Laut /æ/ bzw. /:/
/æ/→ <ä>
/bæ/ - <Bär>
Die morphologische <ä>-Schreibung für // im „Internationaler Arbeitskreis“ (1995: 23):
Für kurzes [ε] schreibt man ä statt e, wenn es eine Grundform mit a gibt. [...]
In wenigen Wörtern schreibt man ausnahmsweise ä. Dies betrifft Wörter wie: ätzen,
dämmern, Geländer, Lärm, März, Schärpe. [...]
In wenigen Wörtern schreibt man ausnahmsweise e. Dies betrifft Wörter wie: Eltern (trotz
alt); schwenken - schwanken."
Methodische Kritik am Internationalen Arbeitskreis:
Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009
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Nur die zweite Gruppe von Beispielen (Eltern etc.) falsifiziert die wenn-dann-Aussage und
enthält echte Ausnahmen.
Die erste Gruppe von Beispielen (ätzen etc.) wird von der Regel gar nicht erfasst. Somit
handelt es sich nicht um Ausnahmen oder Gegenbeispiele im strikten Sinn. Es handelt
sich um nicht erklärte / erfasste / geregelte Fälle. Diese Beispiele wären Ausnahmen nur
unter der Interpretation der Regel als genau-dann-wenn-Aussage.
Verbflexion, Person
Ahd. waskan Singular,
Präsens (9. Jh., Otfrid)
Nhd. waschen Singular,
Präsens
Nominalflexion, Numerus
Ahd.
Nhd.
Stamm
1. Pers.
2. Pers.
3. Pers.
1. Pers.
2. Pers.
3. Pers.
waskwaskwaskwaschwäschwäsch-
Singular
Plural
Singular
Plural
Stamm
gast
gestgast
gäst-
Bindevokal
+Affix
u
i-st
i-t
e
st
t
Affix
ie
Hinweis B. Primus: Die graphematische Stammallomorphie kann man bei morphologischen <ä>-Schreibungen nur dann als beseitigt einstufen, wenn man <ä> als
komplexes Graphem bestehend aus <a> + Trema analysiert. M.a.W.: die graphematische
Stammkonstanz betrifft den Buchstaben <a>, nicht das Graphem <ä>.
Das Stammkonstanzprinzip ist bei Geilfuß-Wolfgang (2007) buchstabenbezogen: Die
Buchstaben, aus denen die geschriebenen Stämme eines [morphologischen] Paradigmas
bestehen, sollen identisch sein.
Neuregelung 1996f.: Neue ä-Schreibungen aufgrund der angegebenen Wortverwandten
Obligatorisch: behände (Hand), belämmert (*Lamm), Bändel (Band), ein-/verbläuen
(*blau), Gämse (Gams), Gräuel (grauen), Quäntchen (*Quantum), Schlägel (schlagen),
schnäuzen (Schnauze), Ständel (Stand), Stängel (Stange), überschwänglich (Überschwang)
* falsch angesetzter Wortverwandter ("Volksetymologie")
Fakultativ: aufwändig - aufwendig (Aufwand/aufwenden), Schänke - Schenke
(Schank/schenken)
Rückgängig, obligatorisch: Wechte (kein Wortverwandter mit <a>)
Morphologisch motivierte Verdopplung von Konsonantenbuchstaben
Phonologisch motivierte Schärfungsschreibung – zwei Auffassungen (Wiederholung):
1. Duden-Rechtschreibung (2006) und manche Standardwerke (Nerius 2007): „Folgt im
Wortstamm auf einen betonten kurzen Vokal nur ein einzelner Konsonant, so kennzeichnet man die Kürze des Vokals durch Verdopplung des Konsonantenbuchstabens“.
Erfasst: Bett, Bett--en, Lamm, Lämm--er, hall--t, renn--st
Nicht erfasst: Ärzt--innen, Kollege
Ausnahmen: mit, an, ob (Funktionswörter), Bus, Limit, Anorak, Kamera, Papa
Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009
30
2. Eisenberg (2006): Ist ein Konsonant ein Silbengelenk, so wird er durch Verdopplung
des Buchstabens für den Konsonanten dargestellt.
Erfasst: Betten, Lämmer, Modelle
Erfasst, keine Ausnahmen: mit, an, ob, in, Bus
Nicht erfasst: Bett, Lamm, Modell, hall--t, renn--st (morphologisch erklärt)
Nicht erfasst: Ärztinnen, Kollege
Ausnahmen: Limit, Anorak, Kamera, Mama
Ein grundsätzlicher Vorteil der Analyse von Eisenberg liegt darin, dass die Verdopplung
des Konsonantengraphems unmittelbar aus den Eigenschaften des entsprechenden
phonologischen Konsonanten abgeleitet wird.
Primus (2009): Silbengelenke in einem Trochäus mit Reduktionssilbe (in der kanonischen
Fußstruktur des Deutschen) werden ausnahmslos durch graphematische Doppelkonsonanz verschriftet.
kein Trochäus mit Reduktionssilbe: Limit, Anorak, Kamera, Mama
Trochäus mit Reduktionssilbe, vgl. die Fußstruktur von [Ärzt][innen]
Zur Fußstruktur des Deutschen, vgl. Wiese 2000.
Morphologisch motivierte Verdopplung von Konsonantenbuchstaben
1. Duden-Rechtschreibung in Fällen, in denen der vorangehende Kurzvokal im Wortstamm
nicht betont ist: frittieren (Frittate), nummerieren (Nummer), platzieren (Platz)
2. Eisenberg (viel mehr Fälle): Bett, Lamm, Modell, hall--t, renn--st
Der konzeptuelle Vorteil des mehrstufigen Ansatzes von Eisenberg: Paradigmatischer
Ausgleich schafft Regularität, ist selbst jedoch nicht vollständig regulär / vorhersagbar.
muss – müssen, robbt – robben; ABER: Job – jobben, Bus – Busse, Jet - jetten
Erst nach der Neuregelung 1996: frittieren (Frittate), Karamell (Karamelle), Mopp
(moppen), nummerieren (Nummer), platzieren (Platz), Stepp (steppen), Stopp (stoppen),
Tipp (tippen), Tollpatsch (toll)
Die Auslautverhärtung – zwei Auffassungen
Traditionell (u.a. Eisenberg 2007, Fuhrhop 2005, Dürscheid 2006): morphologisch bedingt
phonographische Schreibung
[t.k]
<tak>
/t./
<tage>
silbische Schreibung
morphologische Schreibung
<tag> wegen <tage>
Kritik: [t.k] ist nicht die (zugrundeliegende) phonologische Form, sondern die
phonetische Form (s. eckige Klammern), vgl. Wiese 2000.
Primus (2000): Nicht-distinktive (nicht bedeutungsunterscheidende) lautliche Kontraste
werden graphematisch nicht gekennzeichnet. M.a.W.: regulär verschriftet werden die
zugrundeliegenden phonologischen Formen bzw. Phoneme.
Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009
phonetisch
zugrundeliegend
phonologisch
/t./
[t.k]
31
graphematisch
<Tag>
Exkurs Auslautverhärtung (Wiederholung): Alle Obstruenten (Plosive und Frikative)
werden im Silbenreim (zweite Nukleusposition und Silbenkoda) stimmlos realisiert.
Tag [k]
Rad [t]
gib [p]
-
Tages [g]
Räder [d]
geben [b]
Löwchen [f] Röslein [s] -
Löwe [v]
Rose [z]
Andere morphologische Schreibungen (Auswahl)
a) Die Suffixe -zial und -ziell
Neuregelung, fakultativ neben -tial/tiell: differenzial (Differenz), existenziell (Existenz),
potenzial (Potenz), sequenziell (Sequenz)
b) Suffix –ig: König (Könige), beliebig (beliebige)
Primus: Die Schreibungen von –ig kann man phonographisch erklären, da die
zugrundeliegende phonologische Form des Suffixes auf /g/ endet (vgl. die norddt.
Aussprache von Tag, g-Frikativierung bei Wiese 2000).
c) Dehnungs-h nach <ie>-Dehnungsgraphie: stiehlt, befiehlt, empfiehlt (s. Eisenberg
2006), da ein Dehnungs-h hier überflüssig ist.
Methodische / konzeptuelle Kritik (Geilfuß-Wolfgang 2007): Der Begriff der Grundform
(Duden-Rechtschreibung alle neueren Auflagen, Nerius 2004, 2007, Internationaler
Arbeitskreis 1995 u.a.), Explizitform (Eisenberg 2006) oder Stützform (Maas 1992) ist
überflüssig.
Die Grundform ist der nicht-flektierte Stamm: Bett, Lamm, Modell, hall, renn
Die Explizitform ist bei Eisenberg der flektierte Stamm (zweisilbig mit Silbengelenk):
Betten, Lämmer, Modelle
Man kann auf diese Begriffe verzichten, wenn man die Interaktion zwischen
phonologischer und morphologischer Schreibung genauer als bei Eisenberg, DudenRechtschreibung, Maas u. a. erfasst (Geilfuß-Wolfgang 2007 im Rahmen der
Optimalitätstheorie):
Regelhierarchie I
/bt/, /btn/
Bett, Betten, Bettes
Bet, Beten, Betes
Bet, Betten, Bettes
Schärfungsschreibung
GPK
*
***
Kommentar: <tt> in Bett
kein Silbengelenk
Kommentar: drei
stumme <t>
graphematische
Stammkonstanz
**
**
*
Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009
Regelhierarchie II
/bt/, /btn/
Bett, Betten, Bettes
Bet, Beten, Betes
Bet, Betten, Bettes
graphematische
Stammkonstanz
32
Schärfungsschreibung
GPK
*
**
***
*
**
Regelinteraktion (Metaregel): Im deutschen Schriftsystem sind morphologische
Schreibregeln höherrangig als phonographische Korrespondenzregeln.
Allgemeineres Regelinteraktionsprinzip: Im deutschen Schriftsystem sind innergraphematische Schreibregeln höherrangig als phonographische Korrespondenzregeln.
Methodische Kritik an Eisenberg (2006) und traditionellen Graphematikmodellen: Die
Regelinteraktion bzw. Ebenen-Interaktion wird nicht genauer erklärt.
Literatur – Morphemkonstanz und morphologisch, paradigmatisch motivierte Schreibungen
Duden. 2006. Rechtschreibung der deutschen Sprache. 24., völlig neu bearbeitete und
erweiterte Auflage. Mannheim et al.: Dudenverlag.
●Dürscheid, Christa. 2006. Einführung in die Schriftlinguistik. Grundlagen und Theorien.
3., überarb. und erg. Aufl. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht, Kap. 4.3.
●Eisenberg, Peter. 2006. Grundriß der deutschen Grammatik. Bd. 1: Das Wort. 3.
durchges. Aufl. Stuttgart: Metzler. Kap. 8.
●Fuhrhop, Nanna. 2005. Orthografie. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, Kap. 2.-3.
Geilfuß-Wolfgang, Jochen. 2007. Stammkonstanz ohne Stützformen. Zeitschrift für
Sprachwissenschaft 26, 133-154.
Internationaler Arbeitskreis für Orthographie (Hg.). 1995. Deutsche Rechtschreibung.
Vorlage für die amtliche Regelung. Tübingen: Narr.
●Maas, Utz. 1992. Grundzüge der deutschen Orthographie. Tübingen: Niemeyer, Kap. 1827.
Nerius, Dieter. 2004. Das morphematische Prinzip im Rahmen der Orthographietheorie.
Sprachwissenschaft 29, 25-32.
●Nerius, Dieter. 2007. Deutsche Orthographie. 4. neu bearbeitete Auflage. Hildesheim:
Olms. Kap. 3.1.5 und Kap. 4.
●Primus, Beatrice. 2000. Suprasegmentale Graphematik und Phonologie: Die
Dehnungszeichen im Deutschen. Linguistische Berichte 181, 5-34.
●Primus, Beatrice. 2009. Strukturelle Grundlagen des deutschen Schriftsystems. Erscheint
in: Bredel, Ursula / Hinney, Gabriele / Müller, Astrid (Hgg.). Rechtschreib- und
Schriftkompetenz: Graphematik, Didaktik, Empirie. Tübingen: Niemeyer.
Wiese, Richard. 2000. The phonology of German. 1st ed. 1996. 2nd rev. ed. 2000. Oxford:
Oxford University Press.
Anhang: Morphologische Grundbegriffe
Notation für Morphemgrenzen: #, - (Divis), = hier im Skript
Ein Morphem ist das kleinste sprachliche Zeichen, d. h. eine Lautstruktur, die eine
außerphonologische Funktion [ein signifié] hat.
Wenn man (z. B. für Kasusmorpheme) 'Bedeutung' sehr weit fasst, kann man ein
Morphem auch als die kleinste bedeutungstragende Einheit des Sprachsystems
auffassen.
Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009
33
Ein Allomorph ist eine nicht-funktionale Variante eines Morphems.
Das Pluralmorphem hat mehrere Allomorphe wie z.B. -en (Frauen), -n (Blumen), -er
(Männer), -e (Tage), -s (Autos)
Ein Wortbildungsmorphem (auch lexikalisches Morphem) hat eine lexikalische Bedeutung
(z. B. be, such und er in Be=such=er); ein Flexionsmorphem (auch grammatisches
Morphem) hat eine grammatische Bedeutung wie etwa Plural, Kasus etc.
Ein Stamm ist eine ggf. durch Wortbildungsmorpheme erweiterte Wurzel, an die
Flexionsmorpheme treten können (such, besuch, Besucher). Die Wurzel ist das
lexikalische Hauptmorphem eines Wortes. Jedes Wort und jeder Stamm besteht aus
mindestens einer Wurzel.
Eine endozentrische (kopfbasierte, subordinative) morphologische Struktur:
Wortform [N, mask, Gen]
Stamm [N, mask]
Stamm
│
Wurzel
│
Nacht
Flexionssuffix [N, mask, Gen]
Stamm [N, mask]
Wurzel
│
schwärm
WB-Suffix [N, mask]
│
er
s
rot markiert: der Kopf der lexikalischen Wortstruktur und die Merkmale, die vom
lexikalischen Kopfmorphem bestimmt werden: N = nominal, mask = maskulines Genus
grün markiert: der Kopf der flexivischen (grammatischen) Wortstruktur und die Merkmale,
die vom flexivischen (grammatischen) Kopf bestimmt werden: N = nominal, mask =
maskulines Genus, Gen - Genitiv, Singular
Nach der Position zum Stamm werden folgende Affixarten unterschieden:
Präfix:
aus-bilden, Un-ruhe, ge-lernt
Suffix:
Bild-ung, Arbeit-er, lern-t-e
Innerhalb des Stammes!
Infix im Lat.:
ru-m-pere / ruptus
Kein Infix:
Frömm-ig-keit
Worttrennung am Zeilenende
Duden-Rechtschreibung 2006: „Für die Trennung der Wörter am Zeilenende gibt es zwei
Grundprinzipien: Man trennt einfache Wörter nach Sprechsilben, wie sie sich beim
langsamen Vorlesen ergeben, und man trennt zusammengesetzte Wörter und Wörter mit
Vorsilben nach ihren erkennbaren Bestandteilen.“ (idem Nerius 2007).
etwas genauer: man trennt zusammengesetzte Wörter und Wörter mit Präfixen nach ihren
erkennbaren morphologischen Bestandteilen.
Kritik an den Duden-Worttrennungsregeln(vgl. auch Maas 1992, Günther 1992):
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1) Die Interaktion der Grundprinzipien wird nicht präzisiert. Die obige Formulierung
suggeriert, dass im Konfliktfall das zuerst genannte Sprechsilben-Prinzip Vorrang hat.
2) Silbengelenke und onsetlose Schwa-Silben bieten dem Sprechsilbenprinzip Probleme.
Man ermutigt Schüler beim Lesen, nicht angemessene Lautformen zu produzieren:
zwei Konsonanten statt eines Silbengelenkkonsonanten: Män-ner, Mül-ler, Bes-se-rung,
Kat-zen, Städ-ter
Vollvokal statt Schwa: Brau-e-rei, fe-en-haft, Se-en-plat-te, ge-hen
3) Die innergraphematische Grundregel kommt nicht vor.
Die innergraphematische Worttrennungsregel: Das letzte (und ggf. einzige)
Konsonantengraphem zwischen zwei Vokalbuchstaben kommt auf die nächste Zeile.
Quelle: Günther 1992, Maas 1992, Eisenberg 2006, Fuhrhop 2005, Dürscheid 2006, Primus 2000, 2009
tre-ten, Ru-der, ra-sche, rei-ßen, Ko-kon, Na-ta-li-tät, bo-xen
nä-hen, ge-hen
Män-ner, Mül-ler, Bes-se-rung, Kat-zen, Städ-ter
war-te, fin-den, Knos-pen
wid-rig, dunk-le, Pub-li-kum, Dip-lom, Zyk-lus, Feb-ruar
Duden-Rechtschreibung 2006, K 164(2), geht lautbezogen vor: „Ein einzelner Konsonant
im Wortinneren kommt in der Regel auf die neue Zeile; von mehreren Konsonanten trennt
man nur den letzten ab.“
Kritik: „von mehreren Konsonanten trennt man nur den letzten ab“ ist keine lautbezogene
Silbifizierung.
Günther (1992): Den Sprechsilbenbezug braucht man nur
a) bei Fremdwörtern: Pu-bli-kum, Di-plom, Zy-klus, Fe-bru-ar
b) und wenn zwei Vokalbuchstaben aufeinandertreffen, um zwischen (graphematischen
oder lautlichen) Diphthong und Hiat zu unterscheiden: Sai-te vs. na-iv, Zoo vs. Zo-ologe
Die Regelhierarchie für die Worttrennung am Zeilenende im Konfliktfall und orthographisch
zugelassene Dubletten (Primus 2009):
morphologisch
ver-armt
hin-auf
graphematisch
dunk-le
hi-nauf
Feb-ruar
phonologisch (Sprechsilbe)
hi-nauf
Zo-ologe
Fe-bruar
Der Vorrang der morphologischen Trennung ist in der Schriftproduktion (Handschriftzüge,
Tastenintervalle) experimentell nachgewiesen (Nottbusch 2008).
Spezialregeln
- das Verbot der Abtrennung einzelner Vokale (vor der Reform 1996 und nach der Reform
2006): *a-ber, *Ra-ti-o
- das Verbot der Trennung von <st> (vor der Reform von 1996)
- das Verbot der Trennung von <ck> (nach der Reform von 1996 und 2006): ba-cke, *bakke
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Exkurs – phonologische Silbifizierung: Jede Silbe beginnt idealerweise mit einem
Sonoritätsminimum. Daraus folgt: Bei mehreren intervokalischen Konsonanten beginnt die
nächste Silbe mit dem am wenigsten sonoren Konsonanten.
Sonoritätsskala: tiefe Vokale > hohe Vokale > r > l > Nasale > Frikative > Plosive
Trennung nach Sprechsilben: *wi-drig, *dun-kle, Pu-bli-kum, Di-plom, Zy-klus, Fe-bru-ar
Literatur - Worttrennung am Zeilenende
Duden. 2006. Rechtschreibung der deutschen Sprache. 24., völlig neu bearbeitete und
erweiterte Auflage. Mannheim et al.: Dudenverlag.
●Dürscheid, Christa. 2006. Einführung in die Schriftlinguistik. Grundlagen und Theorien.
3., überarb. und erg. Aufl. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht, Kap. 4.3.
●Eisenberg, Peter. 2006. Grundriß der deutschen Grammatik. Bd. 1: Das Wort. 3.
durchges. Aufl. Stuttgart: Metzler. Kap. 8.
●Fuhrhop, Nanna. 2005. Orthografie. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, Kap. 2.-3.
Geilfuß-Wolfgang, Jochen. 2007. Worttrennung am Zeilenende. Tübingen: Niemeyer.
Günther, Hartmut. 1992. Re-re-plik. Zur linguistischen Rekonstruktion und zur
anwenderorientierten Formulierung der orthographischen Worttrennungsregel im
Deutschen. Deutsche Sprache 20, 244-255.
●Maas, Utz. 1992. Grundzüge der deutschen Orthographie. Tübingen: Niemeyer, Kap. 1827.
●Nerius, Dieter. 2007. Deutsche Orthographie. 4. neu bearbeitete Auflage. Hildesheim:
Olms. Kap. 4.
Nottbusch, Guido. 2008. Handschriftliche Sprachproduktion. Sprachstrukturelle und
ontogenetische Aspekte. Tübingen: Niemeyer.
●Primus, Beatrice. 2003. Zum Silbenbegriff in der Schrift-, Laut- und Gebärdensprache Versuch einer mediumunabhängigen Fundierung. Zeitschrift für Sprachwissenschaft
22, 3-55.
●Primus, Beatrice. 2009. Strukturelle Grundlagen des deutschen Schriftsystems. Erscheint
in: Bredel, Ursula / Hinney, Gabriele / Müller, Astrid (Hgg.). Rechtschreib- und
Schriftkompetenz: Graphematik, Didaktik, Empirie. Tübingen: Niemeyer.
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Morpheme: Apostroph und Divis (Bindestrich)
Apostroph
Duden-Rechtschreibung (2006): Der Apostroph zeigt an, dass in einem Wort ein oder
mehrere Buchstaben ausgelassen worden sind (vgl. aber K 16). In vielen Fällen können
die Schreibenden selbst entscheiden, ob sie einen Apostroph setzen wollen oder nicht
(vgl. K 14).
K 13: Man setzt einen Apostroph bei Wörtern mit Auslassungen, wenn die verkürzten
Wortformen sonst schwer lesbar oder missverständlich wären.
Ein einz'ger Augenblick kann alles umgestalten.
's ist schon spät.
Das Wasser rauscht', das Wasser schwoll ...
Solche Formen treten oft in dichterischen Texten auf. Als gut lesbar und
unmissverständlich gelten dagegen im Allgemeinen die folgenden Fälle:
ich wechsle (wechsele)
trockner (trockener) Boden
Das hör (höre) ich gern.
Leg (lege) den Mantel ab.
Bursch (Bursche)
öd (öde)
trüb (trübe)
heut (heute)
K 14: Man kann einen Apostroph setzen, wenn Wörter der gesprochenen Sprache mit
Auslassungen schriftlich wiedergegeben werden und sonst schwer verständlich sind.
So 'n Blödsinn!
Nimm 'ne andere Farbe.
Kommen S' 'nauf!
Er hat g'nug.
Sie saß auf'm Tisch.
Wir gehen in 'n Zirkus.
Wie du's haben willst.
Da fährt sich's schlecht.
Bei den allgemein üblichen Verschmelzungen von Präposition (Verhältniswort) und Artikel
setzt man in der Regel keinen Apostroph (zur, zum, beim).
K 16: Der Apostroph steht zur Kennzeichnung des Genitivs (Wesfalls) von Namen, die auf
s, ss, ß, tz, z, x enden und keinen Artikel o. Ä. bei sich haben.
Hans Sachs' Gedichte, Le Mans' Umgebung, Grass' Blechtrommel, Voß' Übersetzung,
Ringelnatz' Gedichte, Marx' Philosophie, das Leben Johannes' des Täufers
(aber: die Gedichte des Hans Sachs, das Leben des Johannes)
Nicht als Auslassungszeichen, sondern in Verdeutlichung der Grundform eines
Personennamens wird der Apostroph gelegentlich in folgenden Fällen gebraucht:
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Vor der Adjektivendung -sch.
die Grimm'schen Märchen (neben: die grimmschen Märchen)
der Ohm'sche Widerstand (neben: der ohmsche Widerstand)
Vor dem Genitiv-s.
Andrea's Blumenecke (zur Unterscheidung vom männlichen Vornamen Andreas)
Willi's Würstchenbude
Bindestrich (Divis)
Duden-Rechtschreibung (2006): Der Bindestrich kann zur Hervorhebung einzelner
Bestandteile in Zusammensetzungen und Ableitungen verwendet werden, die
normalerweise in einem Wort geschrieben werden (K 21-25). Er muss gesetzt werden,
wenn die Zusammensetzungen mit (einzelnen) Buchstaben, Ziffern oder Abkürzungen
gebildet werden und wenn es sich um mehrteilige Zusammensetzungen mit Wortgruppen
handelt (K 26-30).
Darüber hinaus markiert er, als sogenannter „Ergänzungsstrich“, bei der
Zusammenfassung mehrerer Wörter das Ersparen von Wortteilen (K 31).
Steht ein Bindestrich am Zeilenende, dann gilt er zugleich als Trennungsstrich.
Hervorhebung einzelner Bestandteile in Zusammensetzungen und Ableitungen (K21-25)
Hervorhebung:
Ich-Sucht (neben: Ichsucht)
Soll-Stärke (neben: Sollstärke)
etwas be-greifen (um besonders zu betonen, dass ein konkretes Greifen gemeint ist)
die Hoch-Zeit der Renaissance (um deutlich hervorzuheben, dass hier die Blütezeit der
Renaissance gemeint ist)
Unübersichtlichkeit:
Mehrzweck-Küchenmaschine
Lotto-Annahmestelle
Umsatzsteuer-Tabelle
Fremdwörter:
Desktop-Publishing
Shopping-Center
unübersichtliche oder sonst schlecht lesbare Zusammensetzungen aus gleichrangigen
Adjektiven:
ein französisch-deutsches Wörterbuch
die medizinisch-technische Assistentin
geistig-kulturelle Strömungen
Es steht kein Bindestrich, wenn das erste Adjektiv nur die Bedeutung des zweiten
Adjektivs näher bestimmt.
schwerreich
tiefblau
lauwarm
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Zusammengesetzte Farbbezeichnungen werden meist ohne Bindestrich geschrieben,
wenn eine Mischfarbe/Farbtönung gemeint ist.
das blaurote Kleid (die Farbe des Kleids ist ein bläuliches Rot)
Missverständnisse:
Druck-Erzeugnis
Drucker-Zeugnis
Zusammentreffen dreier gleicher Buchstaben in Zusammensetzungen:
Kaffee-Ersatz (neben: Kaffeeersatz)
Schwimm-Meisterschaft (neben: Schwimmmeisterschaft)
Aneinanderreihungen:
das Sowohl-als-auch
Magen-Darm-Katarrh
Mund-zu-Mund-Beatmung
Links-rechts-Kombination
Make-up
A-Dur-Tonleiter
400-m-Lauf
E.-T.-A.-Hoffmann-Straße
1.-Klasse-Kabine
Substantivisch gebrauchte Infinitive mit mehreren Bestandteilen schreibt man mit
Bindestrichen, wenn sonst unübersichtliche und schwer lesbare Aneinanderreihungen
entstehen.
zum Aus-der-Haut-Fahren
das Nicht-mehr-fertig-Werden
Aber:
das Sichausweinen
das Motorradfahren
das Inkrafttreten
Zusammensetzungen mit Abkürzungen (obligatorisch)
Kfz-Papiere, UKW-Sender, Musik-CD
Zusammensetzungen mit einzelnen Buchstaben und Ziffern (obligatorisch)
i-Punkt, A-Dur, a-Moll, Dehnungs-h, Super-G
Vor Nachsilben (Suffixen) steht nur dann ein Bindestrich, wenn sie mit einem
Einzelbuchstaben verbunden werden.
n-fach, n-tel, die x-te Wurzel (obligatorisch)
aber:
die 68er, 32stel, 5%ig, FKKler
Der Wortbestandteil „-fach“ kann mit oder ohne Bindestrich an die Ziffer angehängt
werden: 8fach oder 8-fach, 8,5fach oder 8,5-fach
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Ergänzungsstrich (K31)
Einen Ergänzungsstrich (Bindestrich als Ergänzungszeichen) setzt man um anzuzeigen,
dass ein gleicher Bestandteil von Zusammensetzungen oder Ableitungen eingespart wird.
Ein- und Ausgang
Balkon-, Garten- und Campingmöbel
saft- und kraftlos
Trennstrich (s. Worttrennung am Zeilenende)
Kritik an der Duden-Rechtschreibung und anderen Standardwerken
- unnötig viele Einzelbestimmungen (z. B. 11 Einzelbestimmungen für den Bindestrich
ohne Trennstrich im Duden-Rechtschreibung 2006)
- morphologisch nicht gut systematisiert
- eine Grundfunktion ist nicht erkennbar. Das Prinzip der funktionalen Eindeutigkeit bzw.
Polysemie-Vermeidung („einer Form entspricht genau eine Funktion“) scheint massiv
verletzt zu sein.
Der Ansatz von Bredel (2008, 2009)
Der Ansatz von Bredel hebt sich durch zwei Hauptannahmen von bisherigen
Auffassungen ab:
i) Die Formmerkmale der Interpunktionszeichen sind nicht arbiträr, sondern funktional
motiviert. Die Funktion der Einzelzeichen lässt sich aus den Einzelmerkmalen oder
Einzelelementen, aus denen sie zusammengesetzt sind, und der Art ihrer Kombination
ermitteln (Kompositionalität).
ii) Die Interpunktionszeichen steuern den Leseprozess. Da im Leseprozess auch
grammatische Strukturen nach allgemeinen Sprachverarbeitungsstrategien verarbeitet
werden, ergeben sich indirekte Bezüge zu grammatischen, u. a. auch morphologischen
Strukturen (Optimierung des Leseprozesses als Grundfunktion).
In Bredels Ansatz gehören Bindestrich (Divis) und Apostroph zur Klasse der Füllerzeichen
(Filler), die auch den Gedankenstrich und die Auslassungspunkte umfasst.
Füller formal:
● nicht auf der Grundlinie (zu den Auslassungspunkten s. Bredel 2008, 2009)
● nicht klitisch bzw. asymmetrisch, d.h. links ein Buchstabe, rechts ein Spatium, sondern
symmetrisch, d.h. rechts und links von ihnen können graphische Zeichen der gleichen
Klasse stehen:
Buchstaben links und rechts: n-fach, heil’ge
Leerzeichen links und rechts: er geht – glaube ich zumindest – spazieren, er geht ...
Füller funktional:
Die Füller zeigen dem Leser, dass ein Defekt bei der Verkettung sprachlichen Materials
vorliegt.
Die verlängerten [reduplizierten] Füller, Gedankenstrich und Auslassungspunkte, zeigen
Defekte auf der Satz- und Textebene an.
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40
Die einfachen Füller, Bindestrich und Apostroph, zeigen Defekte innerhalb eines Wortes
an.
Die horizontalen Füller, Gedankenstrich und Bindestrich, signalisieren Defekte, die im
unmittelbar benachbarten Text behoben werden.
Die nicht-horizontalen Füller, Auslassungspunkte und Apostroph, zeigen im Text nicht
behebbare Defekte, zu denen insbesondere Auslassungen gehören.5
Zusammenfassung – Bindestrich und Apostroph im System der Füller nach Bredel (2008,
2009) – Formmerkmale in Klammern
Defekt im benachbarten
Text
behoben
[horizontal]
nicht behoben
[nicht-horizontal]
Defekt innerhalb eines
Wortes [einfach]
BINDESTRICH / DIVIS
auf- und abschreitende
See-Elefanten im heiligen Bezirk
APOSTROPH
heil’gen
Defekt auf der Satz- oder
Textebene [redupliziert]
GEDANKENSTRICH
Er hatte das Geld – gestohlen
AUSLASSUNGSPUNKTE
Er hatte das Geld …
Der Divis kommt in drei Umgebungen vor, die in Standardwerken isoliert voneinander
behandelt werden:
i) als Trennstrich am Zeilenende (heili-[Zeilenwechsel]gen),
ii) als Ergänzungsstrich (auf- und abschreitende)
iii) als Bindestrich (See-Elefant)
Die gemeinsame Eigenschaft dieser Umgebungen in der leseprozessorientierten
Auffassung Bredels: Der Divis instruiert den Leser, eine gegebene Buchstabenkette als
nicht vollständige Wortstruktur zu erfassen. Der zur Komplettierung erforderliche Wortrest
ist jedoch in der unmittelbaren Textumgebung auffindbar. Es handelt sich demnach um
einen behebbaren Defekt, eine temporäre Unterbrechung in der Verarbeitung der
Wortstruktur. Die Unterbrechung kann erfolgen:
i) wegen des Zeilenendes (heili-[Zeilenwechsel]gen)
ii) aufgrund einer Koordinationsreduktion (auf- und abschreitende)
iii) Es liegen besondere morphologische Strukturen vor, die besser verarbeitet werden
können, wenn der Leseprozess wortintern an der besonderen Morphemfuge unterbrochen
wird:
Remotivierung: be-greifen, Hoch-Zeit
Unklare Morphemfuge: Drucker-Zeugnis, Druck-Erzeugnis, See-Elefant
Keine endozentrische Komposition: Garmisch-Partenkirchen, französisch-deutsch
(Kopulativkomposition)
Univerbierung („Aneinanderreihung“ oder Zusammenrückung, keine Komposition): zum
Aus-der-Haut-Fahren, das Nicht-mehr-fertig-Werden
Univerbierung mit Sondermorphem (obligatorisch)
Abkürzungen: Kfz-Papiere, UKW-Sender, Musik-CD
einzelne Buchstaben oder Ziffern: i-Punkt, A-Dur, a-Moll, Dehnungs-h, Super-G
5
Bei Bredel (2008, 2009) [±vertikal] anstelle von [±horizontal]
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41
Der Apostroph ist wie der Divis auf Wortstrukturen bezogen. Im Gegensatz zum Divis
indiziert er jedoch Defekte, die nicht in der Textumgebung behoben werden, sondern vom
Leser repariert werden müssen. Die Defekte beziehen sich beim Apostroph – wie Bunčić
(2004) an mehreren Sprachen zeigt – bevorzugt auf Morpheme, wie etwa:
i) bei unklaren Genitivsuffixen: Alice’, Andreas’, Andrea’s
ii) bei Eigennamen mit dem adjektivischen Suffix -sche: Grimm’sche ist keine
Adjektivierung, sondern eine Kombination aus Eigennamen (s. Großschreibung) und
adjektivischem Suffix. Vgl. demgegenüber: grimmsche, kölsche, jambische, melodische
iii) bei verkürzten Morphemen: auf’m, ich hab’s, heil’gen
Die Vorteile des Ansatzes von Bredel (s. auch Buchstabenanalyse mithilfe von
Merkmalen)
a) Form und Funktion werden systematisch zueinander in Beziehung gesetzt.
- Die Funktion der Zeichen ist aus ihrer Form ableitbar / erlernbar.
- Das Prinzip der funktionalen Eindeutigkeit („einem Formmerkmal entspricht genau
eine Funktion“) wird befolgt.
b) Interpunktionszeichen werden – aufgrund der Dekomposition in Merkmale bzw.
Elementarteile – zu Klassen zusammengefügt, so dass man ganzen Klassen von Zeichen
eine Grundfunktion zuordnen kann.
c) starke Reduzierung der funktionalen Bestimmungen (Einfachheit). Dies wird erreicht
durch i) Dekomposition und ii) Leseprozessorientierung anstelle der Angabe
grammatischer Konstruktionen wie etwa Komposition, Koordination etc.
Literatur
Bernabei, Dante. 2003. Der Bindestrich. Vorschlag zur Systematisierung. Frankfurt/M. et
al.: Lang.
●Bredel, Ursula. 2008. Die Interpunktion des Deutschen. Ein kompositionelles System zur
Online-Steuerung des Lesens. Tübingen: Niemeyer.
●Bredel, Ursula. 2009. Das Interpunktionssystem des Deutschen. In: Linke, Angelika /
Feilke, Helmuth (Hgg.). Oberfläche und Performanz. Tübingen: Niemeyer, 117-135.
Bunčić, Daniel. 2004. The apostrophe: A neglected and misunderstood reading aid. In:
Written Language and Literacy 7.2, 185-204.
●Duden. 2006. Rechtschreibung der deutschen Sprache. 24., völlig neu bearbeitete und
erweiterte Auflage. Mannheim et al.: Dudenverlag.
Fuhrhop, Nanna 2008. Das graphematische Wort (im Deutschen). Eine erste Annäherung.
Zeitschrift für Sprachwissenschaft 27, 189-228.
Gallmann, Peter. 1989. Syngrapheme an und in Wortformen. Bindestrich und Apostroph
im Deutschen. In: Eisenberg, Peter / Günther, Hartmut (Hrsg.). Schriftsystem und
Orthographie. Tübingen: Niemeyer, 85-110.
Heller, Klaus. 2000. „Bindestrich“ und „Zergliederungs-Sucht“. In: Sprachreport 16/1. Hrsg.
vom Institut für deutsche Sprache, 26-27.
Klein, Wolf-Peter. 2002. Der Apostroph in der deutschen Gegenwartssprache.
Logographische Gebrauchserweiterung auf phonologischer Basis. Zeitschrift für
germanistische Linguistik 30, 169-197.
Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009
42
●Primus, Beatrice. 2009. Strukturelle Grundlagen des deutschen Schriftsystems. Erscheint
in: Bredel, Ursula / Hinney, Gabriele / Müller, Astrid (Hgg.). Rechtschreib- und
Schriftkompetenz: Graphematik, Didaktik, Empirie. Tübingen: Niemeyer.
Morpheme: BinnenGroßschreibung
InterCity, BuchScheck, GebäudeManagement, KurzFilmTage
Aufgrund des Prinzips der wortinitialen Großschreibung erwartet man die
Binnengroßschreibung nur bei Substantiv-Morphemen: *GrimmSche, *beGreift, *SuperG.
Allerdings wird sie zur Vermeidung der Doppelnennung männlicher und weiblicher Formen
auch beim Affix -in verwendet (BürgerInnen, KollegInnen),
Es handelt sich um einen Bereich des Schriftsystems, der nicht normiert ist, d. h. keine
Entsprechung im Normsystem hat.
Literatur
●Dürscheid, Christa. 2006. Einführung in die Schriftlinguistik. Grundlagen und Theorien.
3., überarb. und erg. Aufl. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht, Kap. 4.7.
Dürscheid, Christa. 2000. Verschriftungstendenzen jenseits der Rechtschreibreform. In:
Zeitschrift für germanistische Linguistik 28.2, 237-247.
Nussbaumer, M. 1996. BinnenGroßschreibung. In: Sprachreport 3/96. Hrsg. vom Institut
für deutsche Sprache, 1-3.
Heller, Klaus. 1996. Großschreibung im Wortinneren. In Sprachreport 3/96. Hrsg. vom
Institut für deutsche Sprache, 3-4.
Wort oder Syntagma: Zusammen- oder Getrenntschreibung
1. Duden-Rechtschreibung (vgl. auch Nerius 2007, Kap. 5.2.1)
Duden-Rechtschreibung (2006: 50): „Die Unterscheidung von getrennt geschriebenen
Wortgruppen und zusammengeschriebenen Zusammensetzungen ist nicht immer
eindeutig möglich. Wo die nachstehenden Hinweise und das amtliche Regelwerk keine
Klarheit schaffen, sollte sowohl Getrenntschreibung als auch Zusammenschreibung
toleriert werden.“
Die folgende Darstellung behandelt die Getrennt- und Zusammenschreibung unter diesen
Gesichtspunkten (vgl. i) – v)):
i) Zusammensetzungen und Wortgruppen mit Verben (K 47-56) (auffallen / auf fällt,
dass ...; aufeinanderprallen, klein schneiden / kleinschneiden, schwarzarbeiten,
preisgeben, davonkommen / davon kommen; da sein, getrennt schreiben, Schlittschuh
laufen, einkaufen gehen)
„Getrennt schreibt man alle eindeutigen Wortgruppen wie „zusammen verreisen“, „klein
beigeben“, „schwindlig machen“, „schwanger werden“ usw. Wegen der Komplexität der
Getrennt- und Zusammenschreibung kann es Fälle geben, die mithilfe der nachstehenden
Regelungen nicht eindeutig zu klären sind. Wenn auch das Wörterverzeichnis nicht
Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009
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weiterhilft, stehen den Schreibenden gewisse Freiräume für eigene Entscheidungen
offen.“
ii) Zusammensetzungen und Wortgruppen mit Adjektiven und Partizipien (K 57-62)
(bitterkalt, teilnehmend, mondbeschienen; gestochen scharf, riesig groß, schwer
verständlich/schwerverständlich)
iii) Präposition (Verhältniswort) und Substantiv (K 63) (anstatt, anstelle/an Stelle, zu
Fuß)
iv) Geografische Namen auf „-er“ (K 64) (Schweizergarde, Walliser Alpen)
v) Zahlen (K 65 u. K 66) (neunzehnhundertneunundneunzig, zwei Millionen)
Kritik an Duden-Rechtschreibung
i) Die beiden weiter unten genannten Grundprinzipien der Getrennt- und Zusammenschreibung werden nicht explizit genannt, sondern nebenbei, sehr ungenau und nur
einmal genannt: „Die Unterscheidung von getrennt geschriebenen Wortgruppen und
zusammengeschriebenen Zusammensetzungen ist nicht immer eindeutig möglich.“
[Unterstreichung durch B. Primus].
ii) Die Grundprinzipien (bzw. die Unterscheidung zwischen Wortgruppen und
Zusammensetzungen) werden nicht für eine Erklärung der 5 aufgeführten Datenbereiche
herangezogen.
iii) Es werden keine Erkennungsmerkmale bzw. Kriterien der Unterscheidung zwischen
Wortgruppen und Zusammensetzungen angegeben.
iv) „Wegen der Komplexität der Getrennt- und Zusammenschreibung kann es Fälle geben,
die mithilfe der nachstehenden Regelungen nicht eindeutig zu klären sind.“ Diese Angabe
geht von der falschen Annahmen aus, dass die Komplexität in der Getrennt- und
Zusammenschreibung, also im Schriftsystem, und nicht in der Unterscheidung zwischen
Wortgruppen und Zusammensetzungen, also im lautlich realisierten Sprachsystem, liegt.
v) Es wird nicht erkannt, dass nicht eindeutig zu klärende Fälle auch darauf
zurückzuführen sind, dass es im lautlich realisierten Sprachsystem strukturelle
Mehrdeutigkeiten gibt.
2. Fuhrhop (2005, 2007)
Weitere verwandte Vorschläge: alle in der Literatur angegebenen Arbeiten außer DudenRechtschreibung und Nerius (2007).
Die beiden Grundprinzipien der Getrennt- und Zusammenschreibung (Fuhrhop 2005,
2007):
(a) Wortprinzip: Innerhalb eines Wortes erscheint kein Spatium. M.a.W.: Wenn zwei
Einheiten durch eine Wortbildungsregel miteinander verknüpft sind, werden sie nicht durch
Spatien getrennt.
(b) Relationales Prinzip (Syntagmaprinzip): Die Einheiten einer syntaktischen Verknüpfung
werden durch Spatien getrennt. M.a.W. Wenn zwei Einheiten in einer syntaktischen
Relation zueinander stehen, werden sie durch Spatien getrennt.
Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009
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Aufgrund der Prinzipien (a) und (b) geht es bei der Spatiumsetzung darum, komplexe
Wörter wie etwa Zusammensetzungen von syntaktischen Verknüpfungen (Wortgruppen,
Phrasen) im Sprachsystem zu trennen. Die Grundfunktion der Spatiumsetzung ist es, die
Einheiten der Syntax (des Satz- und Wortgruppenaufbaus) anzuzeigen (vgl. auch Bredel
2006, 2007).
Antike scriptio continua: Griechisches Apollodor-Fragment auf Papyrus, 1. Jh. v. Chr.
ΕΚΤΑΣΤΟΥ∆ΙΟΣΦΑΝΤΙΚΕΦΑΛΑΣ
Α Π Ο Λ Ε Σ Α Ι Π Ρ Α Τ Ι Σ Τ Α Π Α Ν Τ Ω Ν
Das abgebildete Fragment lautet in der Übersetzung: Sie sagten, dass [Athene], aus dem
Haupt des Zeus [entsprungen], als erste von allen in der gegen Kronos stattfindenden
Schlacht den Pallas tötete.
Die Skala zwischen Wortbildung (einem morphologisch komplexen Wort) und
syntaktischer Fügung (Wortgruppe)
Schwierigkeiten, komplexe Wörter wie etwa Zusammensetzungen von syntaktischen
Verknüpfungen (Wortgruppen, Phrasen) zu trennen, liegen in der Natur der lautlich
realisierten Sprache und nicht in der Natur des Schriftsystems.
Sonnenstrahl, Zeitungsleser,
entzündungshemmend
N
N
sonne
Fuge
n
N
strahl
der Gottesanbeter
N
N
Gott
Fuge
es
N
anbeter
Kompositum - Erkennungsmerkmale:
Grundwort / Kopf immer rechts; Grundwort
bestimmt Wortart und Flexionsmerkmale des
Kompositums
nur 1 Hauptakzent, tendenziell links
Erstglied nicht flektierbar
Morphemfuge, die kein Flexionssuffix sein kann
Glieder keine Wortgruppen, also N und nicht NP,
V und nicht VP etc. Vgl. den Artikel der
Sonnenstrahl, nicht *Sonnenderstrahl
Kompositum - Erkennungsmerkmale:
Grundwort / Kopf immer rechts; Grundwort
bestimmt Wortart und Flexionsmerkmale des
Kompositums
nur 1 Hauptakzent, tendenziell links
Erstglied nicht flektierbar
Glieder keine Wortgruppen, also N und nicht NP,
V und nicht VP etc.
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ABER: die Morphemfuge könnte ein
Flexionssuffix sein
mithilfe / mit Hilfe, sodass / so
dass; infolge, trotzdem
P
P
mit
N
hilfe
Rad fahren / radfahren
Eis laufen / eislaufen
Neuregelung: Rad fahren,
eislaufen
V
N
rad
V
fahren
schwarzfahren
Univerbierung / Zusammenrückung –
Erkennungsmerkmale:
kein Grundwort / Kopf rechts
nicht produktiv
kein Fugenelement
nur 1 Hauptakzent, aber: tendenziell rechts
Glieder keine Wortgruppen: *mitdeinerhilfe
Verb-Inkorporation - Merkmale:
Grundwort / Kopf ist V
nur 1 Hauptakzent
kein Fugenelement
Erstglied keine Wortgruppe und somit
syntaktisch nicht erweiterbar:
nicht statt kein nicht / *kein Rad fahren, nicht /*
kein eislaufen
*sehr schwarzfahren (schwarz nicht zur
Wortgruppe erweiterbar)
*großengewinnbringend (gewinn nicht zur
Wortgruppe erweiterbar)
V
A
schwarz
V
fahren
gewinnbringend
V-Partizip
N
gewinn
V-Partizip
bringend
syntaktische Fügung
NP
Erkennungsmerkmale:
NP
des Gottes
N
Anbeter
PP
P
mit
NP
Hilfe
deiner Hilfe
Hilfe des Vaters
Grundwort / Kopf steht rechts oder links
zwei Akzente möglich, Hauptakzent tendenziell
rechts
kein Fugenelement, jedes einzelne Glied ist
nach den syntaktischen Regeln flektierbar
mindestens ein Glied ist eine Wortgruppe und
somit syntaktisch erweiterbar
45
Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009
46
VP
AP
schwindlig
sehr schwindlig
V
machen
Partizipphrase
NP
Gewinn
großen Gewinn
V-Partizip
bringend
Die angegeben Schreibvarianten waren jahrzehntelang im Fokus der Reformdiskussion.
Hinweis: Wortgruppen können durch ein Wort (nämlich den Kopf) vertreten sein: Hunde
bellen, an dich, Kinder laufen schnell. Ein zuverlässiges Kriterium für das Vorliegen einer
Wortgruppe ist also nicht, ob sie aus einem Wort besteht oder nicht, sondern ob das Wort
zur einer Phrase erweiterbar ist oder nicht (Einfügeprobe).
Der unproblematische Bereich umfasst die Fälle, in denen die Anwendung der beiden
Prinzipien der Spatiumsetzung sprachlich eindeutige Ergebnisse ergibt (erste und letzte
Tabellenzeile). Diese Fälle sind auch im Schriftsystem unproblematisch. In den
Randbereich (Tabellenmitte) fallen die Problemfälle, bei welchen die Anwendung der
beiden Prinzipien zu Schwierigkeiten oder zu uneinheitlichen Ergebnissen führt. Diese
Probleme spiegelt das Schriftsystem lediglich wider.
Viele Fälle sind strukturell mehrdeutig und deswegen kann ihre Zusammen- oder
Getrenntschreibung nicht per Wörterverzeichnis oder Regel festgelegt werden. Beispiele:
Gottesanbeter – Gottes Anbeter
mithilfe – mit Hilfe
blaumachen – blau machen
gewinnbringend – Gewinn bringend
Die Missverständnisse, die in der Praxis wie in vielen wissenschaftlichen Arbeiten zu
diesem Thema herrschen, rühren teilweise daher, dass die Einheiten isoliert betrachtet
werden. Man meint mit Wortlisten der Sache Herr zu werden. Doch bereits die scheinbar
triviale Frage, ob man Gottes?anbeter getrennt oder zusammenschreibt, kann ohne
syntaktischen Kontext nicht beantwortet werden. In der Gottesanbeter liegt ein
Kompositum vor, während des Gottes Anbeter ein Syntagma ist (Primus 2009).
Fazit: die Grundprinzipien der Spatiumsetzung sind sehr einfach. Die Zweifelsfälle
ergeben sich aus der Natur des zugrunde liegenden Sprachsystems.
Literatur:
Duden. 2006. Rechtschreibung der deutschen Sprache. 24., völlig neu bearbeitete und
erweiterte Auflage. Mannheim et al.: Dudenverlag.
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47
●Dürscheid, Christa. 2006. Einführung in die Schriftlinguistik. Grundlagen und Theorien.
3., überarb. und erg. Aufl. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht, Kap. 4.5.3
Eisenberg, Peter. 2006. Grundriß der deutschen Grammatik. Bd. 1: Das Wort. 3.
durchges. Aufl. Stuttgart: Metzler. Kap. 8.4
●Fuhrhop, Nanna. 2005. Orthografie. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, Kap. 7-8
Fuhrhop, Nanna. 2007. Zwischen Wort und Syntagma. Zur grammatischen Fundierung der
Getrennt- und Zusammenschreibung. Tübingen: Niemeyer.
Günther, Hartmut. 1997. Zur grammatischen Basis der Getrennt-/Zusammenschreibung im
Deutschen. In: Dürscheid, Ch./Ramers, K.H./Schwarz, M. (Hgg.). Sprache im Fokus.
Festschrift für Heinz Vater zum 65. Geburtstag. Tübingen: Niemeyer, 3-16.
Jacobs, Joachim. 2002. Warum wir zusammenschreiben nicht immer zusammenschreiben
- Präferenzgesetze im Schriftsystem. In: Restle, David / Zaefferer, Dietmar (Hgg.)
Sounds and systems. Studies in structure and change. Berlin: de Gruyter, 367-389.
Jacobs, Joachim. 2005. Spatien. Zum System der Getrennt- und Zusammenschreibung im
heutigen Deutsch. Berlin: de Gruyter.
●Maas, Utz. 1992. Grundzüge der deutschen Orthographie. Tübingen: Niemeyer, Kap. 15.
●Nerius, Dieter. 2007. Deutsche Orthographie. 4. neu bearbeitete Auflage. Hildesheim:
Olms. Kap. 5.2.1
●Primus, Beatrice. 2009. Strukturelle Grundlagen des deutschen Schriftsystems. Erscheint
in: Bredel, Ursula / Hinney, Gabriele / Müller, Astrid (Hgg.). Rechtschreib- und
Schriftkompetenz: Graphematik, Didaktik, Empirie. Tübingen: Niemeyer.
Zur historischen Entwicklung der Spatiumsetzung aus der antiken scriptio continua
Bredel, Ursula. 2007. Interpunktionszeichen: Form – Entwicklung – Funktion. In:
Boschung, Dieter / Hellenkämper, Hansgerd (Hgg.). Kosmos der Zeichen - Schriftbild
und Bildformel in Antike und Mittelalter, Wiesbaden: Reichert, 67-86.
Bredel, Ursula. 2006. Die Herausbildung des syntaktischen Prinzips in der Historiogenese
und in der Ontogenese der Schrift. In: Bredel, Ursula / Günther, Hartmut (Hgg.).
Orthographietheorie und Rechtschreibunterricht. Tübingen: Niemeyer, 139-163.
Parkes, Malcolm Beckwith. 1993. Pause and Effect. An Introduction to the History of
Punctuation in the West. Berkley: University of California Press.
Saenger, Paul. 1997. Space between Words. The Origins of Silent Reading. – California:
Stanford University Press.
Zum Erwerb der Spatiumsetzung:
Bredel, Ursula. 2006. Die Herausbildung des syntaktischen Prinzips in der Historiogenese
und in der Ontogenese der Schrift. In: Bredel, Ursula / Günther, Hartmut (Hgg.).
Orthographietheorie und Rechtschreibunterricht. Tübingen: Niemeyer, 139-163.
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Wortinitiale Großschreibung
1. Die Entstehung der Kleinbuchstaben und der Unterscheidung zwischen Großund Kleinbuchstaben
Antike griechische Majuskelschrift - Griechisches Apollodor-Fragment auf Papyrus, 1.
Jh. v. Chr. (Wiederholung):
ΕΚΤΑΣΤΟΥ∆ΙΟΣΦΑΝΤΙΚΕΦΑΛΑΣ
Α Π Ο Λ Ε Σ Α Ι Π Ρ Α Τ Ι Σ Τ Α Π Α Ν Τ Ω Ν
Das abgebildete Fragment lautet in der Übersetzung: Sie sagten, dass [Athene], aus dem
Haupt des Zeus [entsprungen], als erste von allen in der gegen Kronos stattfindenden
Schlacht den Pallas tötete.
Die Unzialschrift unterscheidet bereits zwischen langen und kurzen Buchstaben. Sie
entstand im 4. Jahrhundert n. Chr. und wurde bis zum 6. Jahrhundert für Bücher (Codices)
verwendet:
Spätestens ab dem 8. Jh. n. Chr. sind mit der Entwicklung und Etablierung der
Karolingischen Minuskelschrift die Kleinbuchstaben zur Normalschrift emporgestiegen;
den Großbuchstaben blieb die Rolle der Auszeichnungsschrift für Namen, Absatzanfänge,
Titel und andere besondere Funktionen.
Althochdeutsche Handschrift, 11. Jh. n. Chr. (Otloh von St. Emmeram, einer der besten
Kalligraphen seiner Zeit):
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2. Die wortinitiale Großschreibung im gegenwärtigen Schrift- und Normsystem des
Deutschen
Die satzinterne Großschreibung bei Substantiven gilt als schwer zu lernen und unsystematisch. Dies liegt weniger in der Natur unseres Schriftsystems als in der Fehleinschätzung
vieler Schriftsystemforscher, Didaktiker und Sprachreformer. Hinsichtlich der satzinternen
Großschreibung gibt es zwei Auffassungen, denen verschiedene Nominalitätskonzepte
entsprechen (vgl. Gallmann 1997):
(a) Das Wortartprinzip: Substantive werden mit einem initialen Großbuchstaben
geschrieben (Duden-Rechtschreibung (alle Auflagen), Nerius 2007).
(b) Das syntaktische Prinzip: Der Kopf jeder Nominalgruppe wird mit einem initialen
Großbuchstaben geschrieben (u. a. Maas, Röber-Siekmeyer, Günther, Nünke, Bredel,
Eisenberg, Fuhrhop, Primus, s. Literaturangaben).
2.1. Das Wortartprinzip nach Duden-Rechtschreibung
Die Auffassung (a) ist wortartbezogen im Sinne der traditionellen Grammatik. Hier herrscht
das lexikonbasierte Wortartkonzept, demzufolge Wortarten Lexemklassen sind (vgl. die
Duden-Grammatik, Nerius 2007: 204-206). Ein Ausdruck, der nach (a) mit einem initialen
Großbuchstaben geschrieben werden muss, wird über die Lexemklasse Substantiv
erfasst. Kennzeichnend für diese Wortartkonzeption ist bspw., dass nicht die tatsächliche
nominale Flexion und die syntaktischen Begleiter (Artikel, Adjektiv) als Kriterien
herangezogen werden, sondern die grundsätzliche Flektierbarkeit nach Kasus und
Numerus sowie das feste Genus (Duden-Grammatik).
„Die Grundregel lautet, dass Substantive (Nomen, Hauptwörter), Satzanfänge und
Eigennamen mit großem Anfangsbuchstaben geschrieben werden. Schwierigkeiten
können dadurch entstehen, dass nicht immer klar zu erkennen ist, ob ein Substantiv, ein
Satzanfang oder ein Eigenname vorliegt.“ (Duden-Rechtschreibung 2006: 58)
Die Darstellung in Duden-Rechtschreibung (2006: 58f.) behandelt die Groß- und
Kleinschreibung unter diesen Gesichtspunkten:
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- Substantive und ehemalige Substantive (K 67-71)
- Substantivierungen (K 72-82)
- Anrede
- Titel und Namen
- Satzanfang
- Einzelbuchstaben und Abkürzungen
K 67 Substantive schreibt man groß. (Vgl. aber K 70 u. K 71): Erde, Kindheit, Verständnis
Das gilt auch für Namen: Franziska, Thomas
K 68 Auch in Zusammensetzungen und Aneinanderreihungen mit Bindestrich werden die
Substantive großgeschrieben. Das erste Wort einer substantivischen Zusammensetzung
oder Aneinanderreihung schreibt man auch dann groß, wenn es kein Substantiv ist.
Mehrzweck-Küchenmaschine
Ad-hoc-Arbeitsgruppe
das Auf-der-faulen-Haut-Liegen
K 69 Die Bezeichnungen von Tageszeiten nach Adverbien wie „gestern“, „heute“,
„morgen“ werden als Substantive angesehen und großgeschrieben.
vorgestern Nacht
gestern Abend
K 70 Aus Substantiven entstandene Wörter anderer Wortarten werden kleingeschrieben.
abends, morgens
Mir ist angst. (Aber: Ich habe Angst.)
dank, kraft
ein bisschen (= ein wenig)
ein paar (= einige), aber: ein Paar (= zwei zusammengehörende) Schuhe
K 71 Aus Substantiven entstandene Verbzusätze werden auch in getrennter Wortstellung
kleingeschrieben: teilnehmen, ich nehme an der Veranstaltung teil
K 72 Substantivierungen (Gebrauch von Wörtern anderer Wortarten als Substantive)
1. Als Substantive gebrauchte Adjektive und Partizipien werden in der Regel großgeschrieben: das Gute, die Angesprochene, Altes und Neues; und Ähnliches (Abk. u. Ä.)
2. Häufig zeigen vorangehende Wörter wie „alles“, „etwas“, „nichts“, „viel“, „wenig“ den
substantivischen Gebrauch an: alles Gewollte, etwas [besonders] Gutes, nichts Wichtiges,
viel Unnötiges, wenig Durchdachtes
3. Die Großschreibung gilt auch in festen Wortgruppen: im Dunkeln tappen, im Trüben
fischen, auf dem Laufenden sein, zum Besten geben
4. Kleinschreibung gilt dagegen in festen adverbialen Wendungen aus Präposition und
artikellosem, nicht dekliniertem Adjektiv. Ist das Adjektiv dekliniert, kann es sowohl kleinals auch großgeschrieben werden.
durch dick und dünn, über kurz oder lang
von nahem oder Nahem, bis auf weiteres oder Weiteres
K 73 Adjektive und Partizipien mit Artikel werden kleingeschrieben, wenn sie Beifügung
(Attribut) zu einem vorangehenden oder folgenden Substantiv sind.
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Mir gefallen alle Krawatten sehr gut. Besonders mag ich die gestreiften und die
gepunkteten (= die gestreiften und gepunkteten Krawatten).
K 74 Superlative mit „am“, nach denen man mit „wie?“ fragen kann, schreibt man klein. (In
diesen Fällen ist „am“ nicht zu „an dem“ auflösbar.)
Etwas zu essen brauchen wir (wie?) am nötigsten.
Aber: Es fehlt uns am (= an dem) Nötigsten.
K 75 In festen adverbialen Wendungen aus „aufs“ oder „auf das“ und Superlativ, die sich
mit „wie?“ erfragen lassen, kann das Adjektiv groß- oder kleingeschrieben werden.
Er erschrak aufs Äußerste oder aufs äußerste.
K 76 1. Als Substantive gebrauchte Pronomen (Fürwörter) schreibt man groß. (Meist steht
in diesen Fällen ein Artikel.)
jemandem das Du anbieten
ein gewisser Jemand
Der Hund ist eine Sie.
2. Sonst schreibt man sie klein, auch wenn sie als Stellvertreter von Substantiven
verwendet werden.
Kommst du?
Da ist doch jemand!
Hier hat sich schon mancher verirrt.
Wenn einer eine Reise tut ...
Es ist alles bereit.
3. Possessivpronomen (besitzanzeigende Fürwörter) in Verbindung mit dem bestimmten
Artikel können auch großgeschrieben werden.
Jedem das seine oder Seine.
Wir haben das unsere oder Unsere zur Finanzierung des Projekts geleistet.
K 77 1. Die Zahladjektive „viel“, „wenig“, „[der] eine“, „[der] andere“ können
großgeschrieben werden, wenn ihr substantivischer Charakter hervorgehoben werden soll.
Das Lob der vielen oder Vielen (= der breiten Masse) war ihr nicht wichtig.
2. In der Regel werden sie jedoch mit allen ihren Beugungs- und Steigerungsformen
kleingeschrieben.
K 78 1. Als Substantive gebrauchte Grundzahlen schreibt man groß, wenn sie Ziffern
bezeichnen.
eine Acht schreiben
vier Einsen im Zeugnis haben
2. Sonst werden Grundzahlen unter einer Million kleingeschrieben.
Alle vier waren jünger als zwanzig.
K 79 Die Wörter „hundert“, „tausend“ oder „Dutzend“ können klein- oder großgeschrieben
werden, wenn mit ihnen unbestimmte, nicht in Ziffern schreibbare Mengen angegeben
werden.
Auf dem Platz drängten sich Hunderte oder hunderte von Menschen.
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K 80 Als Substantive gebrauchte Bruchzahlen und Ordnungszahlen schreibt man groß.
ein Zehntel des Kuchens (aber: ein zehntel Gramm)
Die Unterscheidung zwischen Ordnungszahlen, die eine Reihenfolge angeben, und
denen, die eine Rangfolge angeben, hat keinen Einfluss mehr auf die Schreibung.
Jeder Dritte, der hereinkam, trug einen Hut.
Sie wurde Dritte im Weitsprung.
Als Erstes werden wir mal im Kühlschrank nachsehen.
Den Letzten beißen die Hunde.
K 81 Als Substantive gebrauchte Adverbien, Präpositionen, Konjunktionen und
Interjektionen schreibt man groß.
1. Adverbien
Sie lebt nur im Heute, ein Gestern oder Morgen kennt sie nicht.
Auf das ganze Drum und Dran könnte ich verzichten.
2. Präpositionen (Verhältniswörter)
Wir müssen das Für und Wider abwägen.
3. Konjunktionen (Bindewörter)
Entscheidend ist nicht nur das Ob, sondern auch das Wie.
4. Interjektionen (Ausrufewörter)
Mit dem üblichen Weh und Ach gab er ihr schließlich das Geld.
5. Bei mehrteiligen, mit einem Bindestrich verbundenen Konjunktionen gilt das nur für das
erste Wort: Es gibt hier nur ein Sowohl-als-auch, kein Entweder-oder.
K 82 1. Als Substantive gebrauchte Infinitive (Grundformen) schreibt man groß.
das Rechnen, das Lesen, das Schreiben, [das] Verlegen von Rohren, im Sitzen und
Liegen, für Hobeln und Einsetzen [der Türen], zum Verwechseln ähnlich, lautes
Schnarchen
2. Infinitive ohne Artikel, Präposition oder nähere Bestimmung können in bestimmten
Fällen entweder als Substantiv oder als Verb aufgefasst und demnach groß- oder
kleingeschrieben werden.
... weil Geben oder geben seliger denn Nehmen oder nehmen ist.
Wir lernen [das] Segeln oder [ein Boot] segeln.
Kritik an Duden-Rechtschreibung
i) Das bekannte Problem der wortartbezogenen Schreibregel sind Substantivierungen und
Desubstantivierungen. Dabei sind nicht Wortartwechsel problematisch, die aus einer
expliziten Derivation hervorgehen, wie etwa die Substantivierung Leser aus lesen und die
Desubstantivierung schriftlich aus Schrift. Problematisch für diese Auffassung sind
Konversionen. Ein Wort wird bei Konversion nicht durch Wortbildungsmittel (z. B. Affixe) in
eine andere Wortart überführt, sondern lediglich in einer anderen syntaktischen
Umgebung und ggf. mit anderer Flexion verwendet, z. B.
dunkel werden – dem Dunkelwerden
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ich – des Ichs
eine etwas unangenehme Erfahrung – etwas Unangenehmes
die Ängste – (mir ist) angst
Die Substantivierung durch Konversion wird im Deutschen intensiv und oft ad hoc genutzt.
Die Tatsache, dass grundsätzlich jede Wortart syntaktisch wie ein Substantiv verwendet
werden kann, stellt die gesamte Konzeption der wortartbezogenen Großschreibregel in
Frage.
ii) Die Missverständnisse, die in der Praxis wie in vielen wissenschaftlichen Arbeiten zu
diesem Thema herrschen, rühren teilweise daher, dass die Einheiten isoliert betrachtet
werden. Man meint mit Wortlisten (dem Wörterbuchteil des Duden-Rechtscheibung) der
Sache Herr zu werden. Dies wird durch die Überbewertung des lexikalischen
Wortartenprinzips noch verstärkt.
2.2. Das syntaktische Prinzip: Der Kopf (Kern) einer Nominalphrase
Das syntaktische Prinzip (b) verwendet das syntaktische relationale Konzept des Kopfes
einer Wortgruppe bzw. Phrase. Alternative Bezeichnungen für Kopf sind Kern oder
Regens. Jede Phrase hat einen Kopf. Kopf und Phrase haben dieselben kategorialen
Eigenschaften. Dies wird bis zu einem gewissen Grad auch in der traditionellen
Terminologie berücksichtigt: Verbalphrase – Verb, Nominalphrase – Nomen,
Adjektivphrase – Adjektiv usf. Des Weiteren bestimmt das Verknüpfungspotenzial des
Kopfes, durch welche weiteren Kategorien eine Phrase erweiterbar ist. Für den Kopf einer
Nominalgruppe sind vorangestellte flektierte adjektivische Attribute (große Angst) und
artikelähnliche Wörter an ihrem linken Rand kennzeichnend (diese große Angst).
Man kann eine Kopfkategorie auch ‚von oben’, d. h. aufgrund der Kategorie der Phrase
bestimmen. In diesem Zusammenhang steht das Kriterium der nominalen syntaktischen
Funktion (vgl. Gallmann 1997), das u. a. bei Subjekten und Objekten, die nur durch eine
Nominalphrase realisiert werden können, sehr nützlich ist. So haben wir nominale Köpfe in
hat Angst und kriegt Angst, weil die betreffenden Verben an dieser Stelle nominale
Objekte selegieren. Im Unterschied dazu liegen in mir ist angst und das ist mir schnuppe
adjektivische Prädikative wie in mir ist kalt vor. Auch Präpositionen regieren in der Regel
Nominalphrasen, so dass die Funktion ‚Ergänzung einer Präposition’ auf eine
Nominalphrase verweist.
Das syntaktische Prinzip (b) setzt ein distributionelles Kategorienkonzept voraus. Das
wichtigste Kriterium sind die syntagmatischen Relationen, die eine Einheit eingeht. Damit
wird ihr gesamtes syntaktisches Verknüpfungspotenzial erfasst. In der Praxis begnügt man
sich mit einigen symptomatischen Verknüpfungen (insbes. mit einem Artikel und einem
Adjektiv).
syntaktische Kriterien:
einen Mann sehen
ein robustes Ich haben
das schnelle Lesen der
Zeitung; Schnarchen stört
dein Auf-der-faulen-HautLiegen stört mich
die Ad-hoc-Arbeitsgruppe
arbeitet gut
artikelfähig
attributfähig
ja
ja
ja
ja
ja
ja
nominale syntaktische
Funktion
ja (Objekt)
ja (Objekt)
ja
ja
ja
ja (Subjekt)
ja
ja
ja (Subjekt)
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das Gute sehen; etwas
Unangenehmes erleben
sie lebt im Heute; ein Gestern
kennt sie nicht
das Für und Wider abwägen;
entscheidend ist das Ob; es
gibt hier kein Entweder-oder
eine verdiente Eins
bekommen; eine Acht
zeichnen
eine / die / diese Million
Menschen, sechs Millionen,
idem Dutzend
ein / *das / *dieses hundert
Menschen, sechs hundert
(sechs *hunderte), idem
tausend
kraft seines Amtes (aber: die
Kraft seines Amtes)
er fährt rad (alte Schreibung)
er fährt ein schnelles Rad
wir lernen segeln (vgl. auch
kennenlernen)
wir lernen das Segeln gegen
den Wind
er hat Angst
mir ist angst
er nimmt teil (aber: er nimmt
einen Teil des Geldes)
er läuft eis; er steht kopf
ich kaufe ein paar
Rosen(aber: dort steht ein
schönes Paar Schuhe)
im Allgemeinen
im Dunkeln tappen
ohne Weiteres / weiteres
er kam abends
er mag Franziska
weil sie ihn sieht
er kam vorgestern Nacht
die Ad-hoc-Arbeitsgruppe
54
ja
ja
ja (Objekt)
ja (im)
ja, aber
semantisch
beschränkt
ja, aber
semantisch
beschränkt
ja
Ergänzung einer
Präposition bzw. Objekt
ja
ja
ja
ja (Objekt bzw. Subjekt)
ja (Objekt)
ja, aber
semantisch
beschränkt
nein
Klassifikator / Numerativ
nein
nein
nein
nein
ja
nein
ja
nein
ja
ja
nein (Präposition, Kopf
einer PP)
nein (Verbinkorporation,
s. Getrennt/Zusammenschreibung)
ja (Objekt)
nein, lernen kann einen
Infinitiv regieren
ja (Objekt)
ja
nein
ja
nein
nein
nein
nein
nein
nein (indefinites Zahlwort
wie einige, mehrere)
ja? (im)
nein
nein
nein
nein
nein
nein
nein
nein
nein
nein*)
nein*)
nein
nein
Ergänzung einer
Präposition
Ergänzung einer
Präposition
nein
ja
ja
nein
nein
nein, nur
indefinite
Zahlwörter
nein
ja (Objekt)
nein (vgl. mir ist kalt /
*Kälte)
nein
*) Eigennamen und Pronomen können nur durch Appositionen erweitert werden: ihn, den
ich ja aus der Schule kenne; er mag Franziska, meine Freundin.
Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009
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Fazit: Die größte Reichweite und Zuverlässigkeit hat das syntaktische Prinzip. Daraus
ergibt sich als Grundfunktion der wortinitialen Großschreibung die Optimierung der
Phrasengliederung durch eine bessere Identifizierung der Nominalphrasen beim Lesen
(vgl. Bock et al. 1989, Günther / Nünke 2005). Allerdings sind manche Initialen nur durch
das Wortartenprinzip erklärbar.
die Ad-hoc-Arbeitsgruppe
syntaktisches Prinzip
vs.
Sowohl-als-auch
Wortartenprinzip
Die Neuregelung hat das Wortartenprinzip gestärkt: vorgestern Nacht; er fährt Rad (als
Verbinkorporation).
Die Zweifelsfälle sind im lautlich realisierten Sprachsystem begründet. Zwei Typen von
Zweifelsfällen:
i) aufgrund von Mehrdeutigkeit, z.B. ich habe Angst / mir ist angst; ein paar / diese Paar
Schuhe; kraft seines Amtes / die Kraft seines Armes
ii) aufgrund uneinheitlicher syntaktischer Eigenschaften, z.B. im Allgemeinen, ohne
Weiteres / weiteres, im Dunkeln tappen, aufs Äußerste / aufs äußerste erschrecken (der in
der Präposition inkorporierte Artikel -s (das) kann sowohl ein Substantiv als auch ein
Adjektiv im Superlativ begleiten).
Literatur:
Bock, Michael / Hagenschneider, Klaus / Schweer, Alfred. 1989. Zur Funktion der Großund Kleinschreibung beim Lesen deutscher, niederländischer und englischer Texte. In:
Eisenberg, Peter / Günther, Hartmut. (Hgg.). Schriftsystem und Orthographie.
Tübingen: Niemeyer, 23-56.
Duden. 2006. Rechtschreibung der deutschen Sprache. 24., völlig neu bearbeitete und
erweiterte Auflage. Mannheim et al.: Dudenverlag.
●Dürscheid, Christa. 2006. Einführung in die Schriftlinguistik. Grundlagen und Theorien.
3., überarb. und erg. Aufl. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht, Kap. 4.5.2
Eisenberg, Peter. 2006. Grundriß der deutschen Grammatik. Bd. 1: Das Wort. 3.
durchges. Aufl. Stuttgart: Metzler. Kap. 8.5
●Fuhrhop, Nanna. 2005. Orthografie. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, Kap. 6
Gallmann, Peter. 1997. Konzepte der Nominalität. In: Augst, Gerhard/ Blüml, Karl/ Nerius,
Dieter/ Sitta, Horst (Hgg.) Zur Neuregelung der deutschen Orthographie. Begründung
und Kritik. Tübingen: Niemeyer, 209-241.
●Maas, Utz. 1992. Grundzüge der deutschen Orthographie. Tübingen: Niemeyer, Kap. 14.
Mentrup, Wolfgang (Hg.). 1980. Materialien zur historischen entwicklung der gross- und
kleinschreibung. Tübingen: Niemeyer.
●Nerius, Dieter. 2007. Deutsche Orthographie. 4. neu bearbeitete Auflage. Hildesheim:
Olms. Kap. 5.2.3
●Primus, Beatrice. 2009. Strukturelle Grundlagen des deutschen Schriftsystems. Erscheint
in: Bredel, Ursula / Hinney, Gabriele / Müller, Astrid (Hgg.). Rechtschreib- und
Schriftkompetenz: Graphematik, Didaktik, Empirie. Tübingen: Niemeyer.
Zur historischen Entwicklung der Majuskel-Minuskel-Unterscheidung und der wortinitialen
Großschreibung
Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009
56
Bergmann, Rolf / Nerius, Dieter (Hgg.) 1998. Die Entwicklung der Großschreibung im
Deutschen von 1500 bis 1700. 2 Bde. Heidelberg: Carl Winter.
Bredel, Ursula. 2006. Die Herausbildung des syntaktischen Prinzips in der Historiogenese
und in der Ontogenese der Schrift. In: Bredel, Ursula / Günther, Hartmut (Hgg.).
Orthographietheorie und Rechtschreibunterricht. Tübingen: Niemeyer, 139-163.
Primus, Beatrice. 2007. Die Buchstaben unseres Alphabets: Form – Entwicklung –
Funktion. In: Boschung, Dieter / Hellenkämper, Hansgerd (Hgg.). Kosmos der Zeichen
- Schriftbild und Bildformel in Antike und Mittelalter. Wiesbaden: Reichert, 45-65.
Zum Erwerb und zur Didaktik der wortinitialen Großschreibung
Becker, Nicole. 1999. Untersuchungen zum Erwerb der Substantivgroßschreibung bei
Grundschulkindern. Examensarbeit Erste Staatsprüfung (Primarstufe): Seminar für
Deutsche Sprache und ihre Didaktik, Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der
Universität zu Köln.
Bredel, Ursula. 2006. Die Herausbildung des syntaktischen Prinzips in der Historiogenese
und in der Ontogenese der Schrift. In: Bredel, Ursula / Günther, Hartmut (Hgg.).
Orthographietheorie und Rechtschreibunterricht. Tübingen: Niemeyer, 139-163.
Günther, Hartmut / Nünke, Ellen. 2005. Warum das Kleine groß geschrieben wird, wie
man das lernt und wie man das lehrt. Köbes 1 (Kölner Beiträge zur Sprachdidaktik,
online)
Günther, Hartmut. 2007. Der Vistembar brehlte dem Luhr Knotten auf den bänken Leuster
– Wie sich die Fähigkeit zur satzinternen Großschreibung entwickelt. Zeitschrift für
Sprachwissenschaft 26, 155-179.
Nünke, Ellen / Wilhelmus, Christiane. 2001. Stufenwörter in Treppengedichten - Ein
alternativer Ansatz zur Groß- und Kleinschreibung. Praxis Deutsch 170, 20-23.
Röber-Siekmeyer, Christa. 1999. Ein anderer Weg zur Groß- und Kleinschreibung.
Düsseldorf: Klett-Grundschulverlag.
Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009
57
Syntax: Kommasetzung im Deutschen
1. Duden-Rechtschreibung und traditionelle Forschung
„Die Funktionen des Kommas in der geschriebenen deutschen Literatursprache sind – im
Gegensatz zur Funktion der meisten übrigen Satzzeichen – vielgestaltig und schwer
überschaubar“ (Nerius 2007: 247).
Zitat-Anfang (Duden-Rechtschreibung 2006: 71):
Das Komma ist ein Gliederungszeichen. Innerhalb eines Ganzsatzes grenzt es bestimmte
Wörter, Wortgruppen oder Teilsätze voneinander oder vom übrigen Text des Satzes ab.
Werden solche Wörter, Wortgruppen oder Teilsätze von zwei Kommas eingeschlossen,
weil sie in den übergeordneten Text eingeschoben sind, so spricht man auch vom
„paarigen“ Gebrauch des Kommas.
Die folgende Darstellung behandelt die Kommasetzung unter diesen Gesichtspunkten:
● Bei Aufzählungen (K 100-102) (Feuer, Wasser, Luft und Erde. Sie wirkte ruhig,
gelassen, entspannt.)
● Bei nachgestellten Zusätzen (K 103-107) (Das ist Michael, mein Bruder. Sie liest viel,
vor allem Krimis.)
● Bei Datums-, Wohnungs-, Literaturangaben (K 108-110) (Sie kommt Mittwoch, den 13.
März. Herr Meier aus Bonn, Lindenstraße 12[,] hat zwei Freikarten gewonnen. Ich
zitiere aus dem Brockhaus, 21. Auflage, Band 14.)
● Bei Konjunktionen (Bindewörtern) (K 111-113) (Er stand auf und ging. Wir waren arm,
aber gesund.)
● Bei Partizip- und Infinitivgruppen (K 114-117) (Das ist[,] grob gerechnet[,] die Hälfte. Sie
weigerte sich[,] uns zu helfen.)
● Bei Teilsätzen (selbstständigen Teilsätzen und Nebensätzen) (K 118-125) (Hier stehe
ich, ich kann nicht anders. Nimm das Geld[,] oder lass es bleiben. Ich freue mich, dass
du wieder gesund bist.)
● Bei mehrteiligen Nebensatzeinleitungen (K 126-128) (Angenommen[,] dass morgen
gutes Wetter ist ...)
● Bei Hervorhebungen, Ausrufen, Anreden (K 129-132) (Deine Mutter, die habe ich gut
gekannt. Ach, das ist aber schade. Harry, fahr bitte den Wagen vor.)
Zitat Ende (Duden-Rechtschreibung 2006: 71)
Das Komma bei Partizip- und Infinitivgruppen eingehender
Zitat-Anfang (Duden-Rechtschreibung 2006: 79):
K 114 1. Partizipgruppen kann man durch Komma[s] abtrennen, um die Gliederung des
Satzes deutlich zu machen oder um Missverständnisse auszuschließen. (Vgl. aber K 115.)
Das ist[,] grob gerechnet[,] die Hälfte.
Die Renovierung Ihrer Wohnung betreffend[,] möchte ich Ihnen den folgenden
Vorschlag machen.
2. Das gilt auch für Adjektivgruppen und entsprechende andere Wortgruppen.
Seit mehreren Jahren kränklich[,] hatte er sich in ein Sanatorium zurückgezogen.
K 115 1. Partizipgruppen werden durch Komma[s] abgetrennt, wenn sie
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a) mit einem hinweisenden Wort oder einer Wortgruppe angekündigt oder wieder
aufgenommen werden,
Aus vollem Halse lachend, so kam sie auf uns zu.
Auf diese Weise, jeden Stein einzeln umdrehend, hatten wir schließlich Erfolg mit
unserer Suche.
b) als einem Substantiv oder Pronomen nachgestellte Zusätze oder Erläuterungen
anzusehen sind.
Er, tödlich getroffen, fiel vom Pferd.
Das ist falsch, logisch betrachtet.
2. Das gilt auch für Adjektivgruppen und entsprechende andere Wortgruppen. (Vgl. K
106.)
Nur so, bleich und ganz in Schwarz, ist mir mein Großvater in Erinnerung geblieben.
Sie, ihr Glas in der Hand [haltend], stand an der Theke.
K 116 Infinitivgruppen kann man durch Komma[s] abtrennen, um die Gliederung des
Satzes deutlich zu machen oder um Missverständnisse auszuschließen (vgl. aber K 117).
Sie weigerte sich[,] zu helfen.
Sie weigerte sich[,] uns zu helfen.
Wir versuchten[,] die Torte mit Sahne zu verzieren.
Sich selbst zu besiegen[,] ist der schönste Sieg.
K 117 Infinitivgruppen werden durch Komma abgetrennt, wenn sie
1. mit „als“, „anstatt“, „außer“, „ohne“, „statt“ oder „um“ eingeleitet werden,
Ich kenne nichts Schöneres, als mit einem guten Buch am Kamin zu sitzen.
Anstatt einen Brief zu schreiben, könntest du auch einfach anrufen.
Ihr könnt nichts tun, außer abzuwarten.
Er antwortete, ohne gefragt worden zu sein.
Wir wollen helfen, statt nur zu reden.
Sie ging nach Hause, um sich umzuziehen.
2. von einem Substantiv abhängen,
Mein Vorschlag, ins Kino zu gehen, wurde verworfen.
Er gab uns den Rat, erst einmal in Ruhe zu überlegen.
3. mit einem hinweisenden Wort angekündigt oder wieder aufgenommen werden.
Zu tanzen, das ist ihre größte Freude.
Erinnere mich daran, den Mülleimer auszuleeren.
Ihre Absicht ist es, im nächsten Jahr nach Mallorca zu fahren.
4. Man kann bei einem einfachen Infinitiv (nur Verb + „zu“) die Kommas auch weglassen,
sofern keine Missverständnisse entstehen können.
Seine Angst[,] zu versagen[,] war unbegründet.
Wir zweifeln nicht daran[,] zu gewinnen.
In den folgenden Fällen (in denen der Infinitiv mit einem übergeordneten Verb ein
mehrteiliges Prädikat bildet) werden Infinitivgruppen im Allgemeinen nicht durch Komma
abgetrennt:
1. Wenn die Infinitivgruppe von einem Hilfsverb oder von „brauchen“, „pflegen“, „scheinen“
abhängig ist.
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Die Spur war ganz deutlich zu sehen.
Sie haben uns gar nichts zu befehlen!
Du brauchst dich wegen dieser Sache nicht zu schämen.
Sie pflegt abends ein Glas Wein zu trinken.
Er scheint heute schlecht gelaunt zu sein.
2. Wenn die Infinitivgruppe
a) mit dem übergeordneten Satz verschränkt ist,
Diesen Vorgang wollen wir zu erklären versuchen. (Übergeordneter Satz: „wir wollen
versuchen“; Infinitivgruppe: „diesen Vorgang zu erklären“.)
b) den übergeordneten Satz einschließt,
Den genannten Betrag bitten wir auf unser Konto zu überweisen. (Übergeordneter
Satz: „wir bitten“.)
c) in der verbalen Klammer steht.
Wir hatten den Betrag zu überweisen beschlossen. (Verbale Klammer: „hatten ...
beschlossen“; Infinitivgruppe: „den Betrag zu überweisen“.)
Zitat Ende (Duden-Rechtschreibung 2006: 79)
2. Die Kommasetzung in der neueren Schriftsystemforschung
Quellen: Primus (1993, 1997), sprachvergleichend besser systematisiert in Primus (2007,
2009). Vgl. auch Bredel & Primus (2007), Bredel (2008, 2009), Eisenberg et al. (2005),
Mesch (im Erscheinen).
Nerius (2007) etwas widersprüchlich: S. 247-248 traditionell; S. 449 bietet eine Systematik
in Anlehnung an Primus (1997) ohne direkte Quellenangabe, hält aber am paarigen
Komma fest.
Komma bei Infinitiv- und Partizipgruppen: Primus (op. cit.), Gallmann (1997), Fuhrhop
(2005), Dürscheid (2006).
Als Vorläufer die negative Interpunktionsgrundregel von Maas (1992: 86): „Elemente, die
in solchermaßen syntaktisch erklärten differenzierten Relationen zueinander stehen,
werden durch keine Satzzeichen getrennt.“
Syntaktisch differenzierte Relationen liegen vor genau dann, wenn jedes syntaktische
Element in einer bestimmten und von jedem anderen Element verschiedenen
syntaktischen Relation steht (d.h. verschiedene Satzglieder und Gliedteile vorliegen).
Kommentar Primus: diese Bedingung erfüllen nur syntaktische Subordinationsverhältnisse, vgl. z. B. die CP-IP-VP-Satzstruktur ohne koordinierte Elemente.
Die positive Interpunktionsgrundregel (Maas 1992: 87): „Wenn die syntaktischen
Relationen zwischen den Elementen eines Satzes nicht differenziert sind, muss ein
Komma stehen.“ Erklärt das Komma bei Koordination und bei Herausstellung.
Die drei Bedingungen in (1) erklären bis auf wenige Fälle alle Normen zur Kommasetzung
im alten Normsystem vor 1996 und im neuen Normsystem nach 2006 (vgl. Primus 2007,
2009, Bredel & Primus 2007):
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(1)
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Ein Komma steht zwischen zwei (einfachen oder komplexen) sprachlichen
Ausdrücken genau dann, wenn (a) und (b) oder (a) und (c) zutreffen:
(a) Die Ausdrücke stehen in derselben kommunikativen Einheit (demselben „Satz“
im weitesten Sinn).
(b) Die Ausdrücke sind nicht-subordinativ miteinander verknüpft.
(c) Die Ausdrücke sind durch eine Satzgrenze getrennt.
Die erste Bedingung (1a) ist sprachenübergreifend gültig und schränkt das Komma auf ein
satzinternes Vorkommen ein, wobei Satz im weitesten Sinne gemeint ist (vgl. Ach, du
hier?). Anders formuliert (vgl. Bredel (op. cit.)): ein Komma zwischen zwei Ausdrücken
signalisiert dem Leser, den syntaktischen Prozessor nicht abzuschalten. Diese Bedingung
sondert damit das Komma von satzabschließenden Interpunktionszeichen wie Punkt,
Ausrufezeichen und Fragezeichen ab.
Die zweite Bedingung (1b) gilt – wie die erste – für alle Sprachen, die das Komma
verwenden. Das Komma zeigt in solchen Fällen eine Koordination oder eine
Herausstellung an. In beiden Fällen liegt keine kanonische syntaktische Subordination vor.
Komma bei Koordination (Duden-Rechtschreibung: Aufzählungen K100-102 und
Konjunktionen K111-113, partiell auch Teilsätze, s. (2d))
(2)
(a) Feuer, Wasser, Luft und Erde.
(b) Sie wirkte ruhig, gelassen, entspannt.
(c) Wir waren arm, aber gesund.
(d) Nimm das Geld[,] oder lass es bleiben.
Was die zweite Bedingung (1b) nicht erfasst, ist die komplementäre Verteilung zwischen
einer echten koordinativen Konjunktion wie und und oder und dem Komma, die in den
verschiedenen Schriftsystemen unterschiedlich normiert wird. Im Deutschen gilt folgende
Zusatzregel: Das Komma erscheint fakultativ neben einem echten Koordinator nur dann,
wenn die Konjunkte vollständige Hauptsätze sind.
Exkurs: echte koordinierende Konjunktion
Nur zwischen den Konjunkten (idem oder):
Wir waren arm und (wir waren) gesund.
*Wir waren arm, wir waren und gesund.
Kein echter Koordinator:
Wir waren arm, aber (wir waren) gesund.
Wir waren arm, wir waren aber gesund.
Wiederholbar:
Sie wirkte ruhig und gelassen und entspannt.
Kein echter Koordinator: *Sie wirkte ruhig aber gelassen aber entspannt.
Exkurs Ende
Komma bei Herausstellungen
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Duden-Rechtschreibung: nachgestellte Zusätze (K 103-107), Datums-, Wohnungs-,
Literaturangaben (K 108-110), Hervorhebungen, Ausrufe, Anreden (K 129-132), verstreut
auch bei den anderen Konstruktionen.
Die wichtigsten Herausstellungen des Deutschen nach Altmann (1981) und Beispiele aus
Duden-Rechtschreibung (2006) mit der dortigen Beschreibung in Klammern:
● Linksversetzung (Hervorhebung): Deine Mutter, die habe ich gut gekannt.
● vokativische Herausstellung (Anrede): Harry, fahr bitte den Wagen vor. Fahr bitte den
Wagen vor, Harry.
● herausgestellte Interjektion (Ausruf): Ach, das ist aber schade.
● Nachtrag (nachgestellte Zusätze):
Sie liest viel, vor allem Krimis.
Wir müssen etwas unternehmen, und zwar bald.
● Parenthetische Herausstellung / Apposition (nachgestellte Zusätze, Datums-,
Wohnungs-, Literaturangaben):
Johannes Gutenberg, der Erfinder des Buchdruckes, wurde in Mainz geboren.
Dein Wintermantel, der blaue, muss in die Reinigung.
Herr Meier aus Bonn, Lindenstraße 12, hat zwei Freikarten gewonnen.
Keine Apposition: Heinrich der Löwe. Vgl. aber als Apposition: Heinrich, der Löwe, ...
Die Annahme eines paarigen Kommas (Maas 1992, Duden-Rechtschreibung 2006, Nerius
2007) ist überflüssig:
Johannes Gutenberg, der Erfinder des Buchdruckes, wurde in Mainz geboren.
[
A
] [
zw. A und B
keine Subordination
B
][
C
]
zw. B und C
keine Subordination
Wie die verschiedenartigen und sehr ungenauen Angaben im Rechtschreibduden zeigen,
konnte die traditionelle Forschung Herausstellungen als einheitliches Phänomen nicht
erfassen. Damit wird auch die Systematik des Kommas in diesem Bereich verdunkelt.
Erkennungsmerkmale:
i) intonatorische Herauslösung aus dem Trägersatz.
ii) ein syntaktischer Doppelgänger (Pronomen u. Ä.): Deine Mutter, die habe ich gut
gekannt. Dieser Doppelgänger ist syntaktisch in den Trägersatz subordinativ eingebunden,
fungiert mithin bspw. als Subjekt oder Objekt, und verhindert die Unterordnung des
herausgestellten Materials. Auch bei Appositionen findet man eine Verdopplung, vgl.
Heinrich der Löwe lebte hier vs. Heinrich, der Löwe, lebte hier.
iii) in den Trägersatz nicht integrierbar, vgl. Anreden, Vokative, Interjektionen,
Appositionen und einige Nachträge.
Es gibt auch mehrdeutige Fälle, wo die Interpretation als Herausstellung nur durch eine
Analyse des Diskurszusammenhangs, der Intonation bzw. der Autorintention geklärt
werden kann:
Geh, bitte, nach Hause! vs. Geh bitte nach Hause!
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Die Optionsfreiheit gilt nicht dem Komma, sondern der syntaktischen Konstruktion. Bei
einer Interpretation als Herausstellung muss der Schreiber die Kommas setzen. Bei
Unterordnung darf er kein Komma verwenden.
Die dritte Bedingung (1c) verlangt in Verbund mit der ersten Bedingung (1a) ein Komma
bei satzinternen Satzgrenzen. Solche liegen vor bei
● Satzkoordination (vgl. (2d) weiter oben)
● Herausstellung, wo Elemente außerhalb des Trägersatzes stehen, sie selbst aber nicht
satzwertig sein müssen (anders Nerius 2007: 449).
● Satzsubordination (bei „Neben“sätzen und satzwertigen Infinitiv- und Partizipgruppen)
Satzkoordination und Herausstellung werden durch die zweite, sprachenübergreifende
Bedingung (1b) erfasst, aber die Satzsubordination wird nur durch die dritte,
sprachspezifische Bedingung (1c) erklärt. Während Nebensätze, die durch finite Verben
gebildet werden, für die dritte Bedingung völlig unproblematisch sind, führte die
Kommasetzung bei Partizip- und Infinitivkonstruktionen zu erheblichen
Verständnisschwierigkeiten und fiel aus diesem Grund der Reform von 1996 zum Opfer.
Die Reform von 2006 stellte die Verhältnisse vor 1996 weitgehend wieder her.
Abgrenzungsprobleme im lautlich realisierten Sprachsystem:
Partizipgruppen können verbal und mithin satzwertig sein, oder adjektivisch und mithin
Adjektivphrasen sein. Partizipgruppen können des Weiteren subordiniert oder
herausgestellt werden.
Das ist[,] grob gerechnet[,] die Hälfte.
Aus vollem Halse lachend, so kam sie auf uns zu. (Komma obligatorisch, weil das
hinweisende Wort „so“ eine Herausstellung signalisiert.)
Er, tödlich getroffen, fiel vom Pferd. (Komma obligatorisch, weil eine Herausstellung
vorliegt.)
Infinitivkonstruktionen können im Deutschen ihre Satzwertigkeit verlieren, wenn sie
kohärent angeknüpft sind. Bei kohärenten Infinitivgruppen bilden Matrixverb und
subordiniertes Infinitivverb eine Art komplexes Prädikat.
i) Infinitivgruppen, die als Adjunkte / Adverbiale fungieren, sind nie kohärent und müssen
folglich durch Komma abgetrennt werden. Solche Adjunkte werden mit „als“, „anstatt“,
„außer“, „ohne“, „statt“ oder „um“ eingeleitet.
Ich kenne nichts Schöneres, als mit einem guten Buch am Kamin zu sitzen.
Anstatt einen Brief zu schreiben, könntest du auch einfach anrufen.
Ihr könnt nichts tun, außer abzuwarten.
Er antwortete, ohne gefragt worden zu sein.
Wir wollen helfen, statt nur zu reden.
ii) Infinitivgruppen, die als Attribute von einem Substantiv abhängen, sind nie kohärent:
Mein Vorschlag, ins Kino zu gehen, wurde verworfen.
Er gab uns den Rat, erst einmal in Ruhe zu überlegen.
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iii) Infinitivgruppen, die mit einem hinweisenden Wort angekündigt oder wieder
aufgenommen werden, sind nie kohärent; sie sind meistens sogar herausgestellt.
Zu tanzen, das ist ihre größte Freude.
Erinnere mich daran, den Mülleimer auszuleeren.
Ihre Absicht ist es, im nächsten Jahr nach Mallorca zu fahren.
iv) Kohärente Infinitivgruppen, die nicht durch ein Komma abgetrennt werden dürfen,
hängen von einem Hilfsverb oder von „brauchen“, „pflegen“, „scheinen“, „drohen“ ab.
Die Spur war ganz deutlich zu sehen.
Sie haben uns gar nichts zu befehlen!
Du brauchst dich wegen dieser Sache nicht zu schämen.
Sie pflegt abends ein Glas Wein zu trinken.
Er scheint heute schlecht gelaunt zu sein.
Das Haus droht einzustürzen.
v) Wenn eine Infinitivgruppe als Objekt bestimmter Verben wie versuchen oder bitten
fungiert, kann sie kohärent oder inkohärent sein. Eindeutig kohärent bei
Satzverschränkung und innerhalb der verbalen Klammer:
Diesen Vorgang wollen wir zu erklären versuchen. (Verschränkung: Objekt von zu
erklären im Vorfeld von wollen ... versuchen).
Den genannten Betrag bitten wir auf unser Konto zu überweisen. (Verschränkung w.o.)
Wir hatten den Betrag zu überweisen beschlossen. (in der verbalen Klammer)
Fazit: Duden-Rechtschreibung (2006) und andere traditionelle Darstellungen erfassen die
in der neueren Forschung herausgearbeitete einfache Systematik des Kommas nicht.
Salopp formuliert signalisiert das Komma eine satzinterne Nicht-Subordination oder eine
satzinterne Satzgrenze. Zweifelsfälle und Probleme ergeben sich nicht im reformierbaren
Schriftsystem, sondern im nicht-reformierbaren lautlich realisierten Sprachsystem.
Literatur:
Afflerbach, Sabine. 1997. Ontogenese der Kommasetzung vom 7. bis zum 17. Lebensjahr.
Eine empirische Studie. Frankfurt a. M.: Peter Lang.
Altmann, Hans. 1981. Formen der 'Herausstellung' im Deutschen. Tübingen: Niemeyer.
●Bredel, Ursula. 2008. Die Interpunktion des Deutschen. Ein kompositionelles System zur
Online-Steuerung des Lesens. Tübingen: Niemeyer.
●Bredel, Ursula. 2009. Das Interpunktionssystem des Deutschen. In: Linke, Angelika /
Feilke, Helmuth (Hgg.). Oberfläche und Performanz. Tübingen: Niemeyer, 117-135.
●Bredel, Ursula / Primus, Beatrice. 2007. Komma et Co: Zwiegespräch zwischen
Grammatik und Performanz. In: Zeitschrift für Sprachwissenschaft 26, 81-131.
Duden. 2006. Rechtschreibung der deutschen Sprache. 24., völlig neu bearbeitete und
erweiterte Auflage. Mannheim et al.: Dudenverlag.
●Dürscheid, Christa. 2006. Einführung in die Schriftlinguistik. Grundlagen und Theorien.
3., überarb. und erg. Aufl. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht, Kap. 4.6
•Eisenberg, Peter / Feilke, Helmut / Menzel, Wolfgang. 2005. Zeichen setzen Interpunktion. Basisartikel Praxis Deutsch 191.
●Fuhrhop, Nanna. 2005. Orthografie. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, Kap. 9.
Gallmann, Peter. 1997. Zum Komma bei Infinitivgruppen. In: Augst, Gerhard et al. (Hgg.)
Zur Neuregelung der deutschen Orthographie. Begründung und Kritik. Tübingen:
Niemeyer, 435-462.
Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009
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Günther, Hartmut. 2000. "...und hält den Verstand an" - Eine Etüde zur Entwicklung der
deutschen Interpunktion 1522-1961. In: Thieroff, Rolf / Tamrat, Matthias / Fuhrhop,
Nanna / Teuber, Oliver (Hgg.) Deutsche Grammatik in Theorie und Praxis. Festschrift
für Peter Eisenberg. Tübingen: Niemeyer, 275-286.
●Maas, Utz. 1992. Grundzüge der deutschen Orthographie. Tübingen: Niemeyer, Kap. 89.
●Nerius, Dieter. 2007. Deutsche Orthographie. 4. neu bearbeitete Auflage. Hildesheim:
Olms.
Primus, Beatrice. 1993. Sprachnorm und Sprachregularität: Das Komma im Deutschen. In:
Deutsche Sprache 21, 244-263.
Primus, Beatrice. 1997. Satzbegriffe und Interpunktion. In: Augst, Gerhard et al. (Hgg.).
Zur Neuregelung der deutschen Orthographie. Begründung und Kritik. Tübingen:
Niemeyer, 463-488.
Primus, Beatrice. 2007. The typological and historical variation of punctuation systems:
Comma constraints. Written Language and Literacy 10.2, 103-128.
●Primus, Beatrice. 2009. Strukturelle Grundlagen des deutschen Schriftsystems. Erscheint
in: Bredel, Ursula / Hinney, Gabriele / Müller, Astrid (Hgg.). Rechtschreib- und
Schriftkompetenz: Graphematik, Didaktik, Empirie. Tübingen: Niemeyer.
Kommasetzung im Sprachvergleich
Der Interpunktion, dem Komma im Besonderen, werden in der Forschung unterschiedliche
Funktionen zugewiesen (vgl. Bredel & Primus 2007, Mesch (i. E.)):
(1)
(2)
(3)
(4)
prosodische bzw. stilistisch-rhetorische
semantische (z. B. Nerius 2007: 147f.)
syntaktische (Eisenberg 1979, Behrens 1989, Primus op. cit.)
Steuerung des Online-Leseprozesses (Bredel op. cit.)
Einem Interpunktionssystem werden in einigen Ansätzen mehrere Funktionen
zugeschrieben, vgl. Baudusch (1981, 2000) zum Deutschen:
Intonation Syntax Semantik u. a.
Interpunktion
ODER: die verschiedenen Funktionen werden zur typologischen oder diachronen
Differenzierung von Interpunktionssystemen herangezogen (vgl. die kritische Diskussion in
Bredel & Primus 2007, Primus 2007).
Fälle wie die folgenden unterstützen scheinbar die These, die Kommasetzung sei
semantisch und/oder prosodisch-stilistisch motiviert:
(1)
Ich rate, ihm schnell zu helfen.
Ich rate ihm, schnell zu helfen.
Ich rate ihm schnell, zu helfen.
(2)
Der Lehrer sagt, Hans beherrscht die Kommasetzung nicht.
Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009
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Der Lehrer, sagt Hans, beherrscht die Kommasetzung nicht.
Zur vermeintlichen prosodischen und stilistisch-rhetorischen Funktion des Kommas: Die
Varianten in (2) haben eine unterschiedliche Intonation / Prosodie und einen
unterschiedlichen stilistischen Effekt. ABER: Die Unterschiede in Prosodie und Stilistik
sind die Folge einer unterschiedlichen syntaktischen Konstruktion (nämlich einer
Herausstellung), die wiederum die Kommasetzung direkt determiniert.
Zur vermeintlichen semantischen Funktion des Kommas: Die Varianten in (1) und (2)
haben je eine unterschiedliche Bedeutung. ABER: Die unterschiedliche Bedeutung ist die
Folge einer unterschiedlichen syntaktischen Konstruktion, die wiederum die
Kommasetzung direkt determiniert. Dem Komma kommt die Aufgabe zu, dem Leser die
jeweilige syntaktische Konstruktion optisch anzuzeigen. Zwischen Kommasetzung und
Semantik gibt es kein unmittelbares Verhältnis.
Die traditionelle funktionale Interpunktionstypologie geht davon aus, dass die o.g.
Funktionen jeweils unterschiedliche Interpunktionssysteme determinieren. Dabei spielt die
Kommasetzung, welche die deutlichste Sprachvariation zeigt, eine entscheidende Rolle in
der Interpunktionstypologie. Das bedeutet, dass in unterschiedlichen Kommasystemen
eine jeweils unterschiedliche Funktion als dominant erachtet wird.
rhetorisch-stilistische Interpunktion
grammatisch-syntaktische Interpunktion
"Die Satzzeichen sind graphische
Zeichen für den Intonationsverlauf und
die Gliederung der Rede durch Pausen."
(Berschin et al. 1995: 156)
"Die Satzzeichen tragen zur Konstituierung
und Kennzeichnung bestimmter syntaktischer Bezüge und Konstruktionen bei."
(Behrens 1989: 128)
Es gibt keine festen Regeln, die Zeichensetzung hängt vielmehr "sehr vom
subjektiven Stilgefühl" ab. (Vera-Morales
1995: 812)
Intonation, Stil
Semantik/Pragmatik
Syntax
Interpunktion
Intonation
Bsp. die romanischen
Interpunktionssysteme
Interpunktion
Bsp.: die moderne deutsche Interpunktion
kontrovers diskutiert:
ältere deutsche Interpunktion (Besch 1981, dagegen argumentiert Günther 2000)
englische Interpunktion (Quirk et al. 1972, Nunberg / Briscoe 2002)
Quirk et al. (1972: 1055): "punctuation practice is governed primarily by grammatical
considerations [...] traditional attempts to relate punctuation directly to (in particular)
pauses are misguided. Nor, except to a minor and peripheral extent, is punctuation
concerned with expressing emotive or rhetorical overtones, as prosodic features frequently
are [...] there are two important qualifications to make to the foregoing generalizations [...]
a great deal of flexibility possible in the use of the comma"
Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009
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Als diachrone Hypothese: rhetorisch-stilistische > grammatische Interpunktion
Vgl. u.a. Müller 1964 zum Lateinischen, Besch 1981 zum Deutschen
Bredel & Primus (2007), Primus (2007): Bei der Interpunktion geht es im Kern:
a) nicht um syntaktische Konstruktionen, sondern um grundlegende syntaktische
Verknüpfungsrelationen / -verfahren.
b) um eine besondere (Komma), defektive (Gedankenstrich, Auslassungspunkte) oder
abwesende syntaktische Verknüpfung (Satzabschlusszeichen).
Alle Kommasetzungssysteme sind syntaktisch motiviert und unterscheiden sich nur
hinsichtlich der Bedingung (1c) voneinander.
(1)
Ein Komma steht zwischen zwei (einfachen oder komplexen) sprachlichen
Ausdrücken genau dann, wenn (a) und (b) oder (a) und (c) zutreffen:
(a) Die Ausdrücke stehen in derselben kommunikativen Einheit (demselben „Satz“
im weitesten Sinn).
(b) Die Ausdrücke sind nicht-subordinativ miteinander verknüpft.
Für Koordinationen mit einem echten Koordinator haben unterschiedliche Systeme
eine unterschiedliche Zusatzregel, welche die komplementäre Verteilung von
Komma und Koordinator regelt.
(c) Die Ausdrücke sind durch eine Satzgrenze getrennt.
Kommasysteme, in denen (1c) neben (1a, b) gilt: z. B. Deutsch, Russisch,
Ungarisch, älteres Norwegisch, älteres Schwedisch
Kommasysteme, in denen nur (1a, b), nicht (1c) gilt: z. B. alle romanischen
Sprachen, Englisch, neueres Norwegisch und Schwedisch
Bsp. Englisch
Satzinterne Satzgrenzen ohne Herausstellung (relevant ausschließlich für Bedingung
(1c)):
Restriktive Relativsätze: *Dogs, that bark, don't bite.
(* in der Sprichwort-Lesart)
Cleft-Sätze: *It was John, who won the race.
Subjekt- oder Objektsätze ohne pronominale Kopie:*I told him, that he was a liar.
Obligatorische Herausstellungen (Bedingung (1b)):
My neighbour, she's just won the lottery.
I don't think a lot of him, the new manager.
I suggest you drop the idea, Audrey.
*My neighbour, just won the lottery.
*I don't like, the new manager.
*I suggest you drop the idea Audrey.
Optionale Herausstellung:
Frankly, it was an absolute disgrace.
Frankly it was an absolute disgrace.
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Ambig:
I know Helen
I know, Helen.
‘Ich kenne Helene.’
’ich weiß (es), Helene.’
Zusätzliche Literatur, s. auch Vorlesung zur Kommasetzung im Deutschen
Baudusch, Renate. 1981. Prinzipien der deutschen Interpunktion. Zeitschrift für
Germanistik 2, 206–218.
Baudusch, Renate. 2000. Zeichensetzung klipp und klar. Funktion und Gebrauch der
Satzzeichen verständlich erklärt. Völlig neu bearbeitet und erweitert von Dr. Ulrich
Adolphs und Dr. Gisela Hack-Molitor. Gütersloh, München: Bertelsmann.
Behrens, Ulrike. 1989. Wenn nicht alle Zeichen trügen. Interpunktion als Markierung
syntaktischer Konstruktionen. Frankfurt a. M.: Peter Lang.
Berschin, Helmut / Fernández-Sevilla, Julio / Felixberger, Josef. 1995. Die spanische
Sprache. 2. Aufl. München: Hueber.
Besch, Werner. 1981. Zur Entwicklung der deutschen Interpunktion seit dem späten
Mittelalter. In: Smits, K./Besch, W./Lange, V. (Hgg.). Interpretation und Edition
deutscher Texte des Mittelalters. Festschrift für John Asher. Berlin: Erich Schmidt, 187206.
Eisenberg, Peter. 1979. Grammatik oder Rhetorik? Über die Motiviertheit unserer
Zeichensetzung. In: Zeitschrift für germanistische Linguistik 7, 323-337.
Günther, Hartmut. 2000. "...und hält den Verstand an" - Eine Etüde zur Entwicklung der
deutschen Interpunktion 1522-1961. In: Thieroff, R. / Tamrat, M. / Fuhrhop, N. /
Teuber, O. (Hgg.) Deutsche Grammatik in Theorie und Praxis. Festschrift für Peter
Eisenberg. Tübingen: Niemeyer, 275-286.
Mesch, Birgit (im Erscheinen). Kleines Zeichen – grosse Wirkung: Das Komma im
Deutschen und Spanischen. Vortrag für den "Internationalen Germanisten-Kongress"
in Sevilla vom 15. bis 17. Dez. 2008. Zur Veröffentlichung eingereicht in: Estudios
Filológicos Alemanes. Revista del Grupo de Investigación. Filología Alemana. Bd. 16.
Sevilla: Fénix Editora. Im Erscheinen.
Müller, Rudolf Wolfgang. 1964. Rhetorische und syntaktische Interpunktion. Untersuchungen zur Pausenbezeichnung im antiken Latein. Dissertation, Universität
Tübingen.
Nunberg, Geoffrey / Ted Briscoe. 2002. Punctuation. In: Huddleston, R. / Pullum, G.K. The
Cambridge Grammar of the English Language. Cambridge: Cambridge University
Press, 1723-1764.
Quirk, Randolph / Greenbaum, Sidney / Leech, Geoffrey / Svartvik, Jan. 1972. A grammar
of contemporary English. London: Longman, Appendix III: Punctuation 1053-1081.
Vera-Morales, José. 1995. Spanische Grammatik. München / Wien / Oldenburg.
Die Interpunktion im Ansatz von Bredel – Filler (Gedankenstrich,
Auslassungspunkte)
Definition (Bredel 2008, 2009): Die Interpunktionszeichen sind einelementige Paradigmen
des Schriftsystems [d. h. nicht füreinander substituierbar], die nicht miteinander
kombinierbar, nicht verbalisierbar sind, selbständig vorkommen und ohne graphischen
Kontext darstellbar sind.
Der Schrägstrich ist verbalisierbar und somit im Sinne der obigen Definition kein
Interpunktionszeichen: Schüler/innen → Schüler und Schülerinnen.
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Die Interpunktionszeichen des Deutschen gemäß obiger Definition:
<- ’… – . , ; : ! ? ( ) „“>
Der Ansatz von Bredel hebt sich durch zwei Hauptannahmen von bisherigen
Auffassungen ab:
i) Kompositionalität: Die Formmerkmale der Interpunktionszeichen sind nicht arbiträr,
sondern funktional motiviert. Die Funktion der Einzelzeichen lässt sich aus den
Einzelmerkmalen oder Einzelelementen, aus denen sie zusammengesetzt sind, und der
Art ihrer Kombination ermitteln.
ii) Optimierung des Leseprozesses als Grundfunktion: Die Interpunktionszeichen steuern
den Leseprozess. Mithin gehören sie zur Performanz (neuronale Sprachverarbeitung) und
nicht zum grammatischen System (Kompetenz). Da im Leseprozess auch grammatische
Strukturen nach allgemeinen Sprachverarbeitungsstrategien verarbeitet werden, ergeben
sich indirekte Bezüge zu grammatischen, u. a. auch morphologischen und syntaktischen
Strukturen.
Grundfunktion der Interpunktion: Interpunktionszeichen treten nur dann auf, wenn der
Leser von Default-Sprachverarbeitungsstrategien abweichen muss (vgl. auch Maas 1992
in grammatischen Termini in der Vorlesung zur Kommasetzung im Deutschen).
In Bredels Ansatz gehören Gedankenstrich und Auslassungspunkte zur Klasse der
Füllerzeichen (Filler), die auch Bindestrich (Divis) und Apostroph umfasst.
Füller formal:
● Merkmal [+LEER]: kein Grundlinienkontakt. Auslassungspunkten sind zugrundeliegend
hochgestellte Apostrophe: <´´´>. Dies war auch ihre ursprüngliche historisch belegte Form.
● Filler besetzen einen eigenen segmentalen Schreibraum und können links und rechts
neben sich denselben Typ von Zeichen haben. Klitika lehnen sich an ein Stützzeichen an:
S
e
e
-
Filler
E
l
e
f
a
n
t!
Klitikon
Buchstaben links und rechts: n-fach, heil’ge
Leerzeichen links und rechts: er geht – glaube ich zumindest – spazieren, er geht ...
Füller funktional: okulomotorische Zeichen („Augenzeichen“): Anzeiger defekter Einheiten.
Das Wort bzw. der Text muss rekodiert werden (Rekodieren).
Die verlängerten [+reduplizierten] Füller, Gedankenstrich und Auslassungspunkte, zeigen
Defekte auf der Satz- und Textebene an.
Die einfachen [-reduplizierten] Füller, Bindestrich und Apostroph, zeigen Defekte innerhalb
eines Wortes an.
Die nicht-vertikalen Füller, Gedankenstrich und Bindestrich, signalisieren reversible
Defekte, die im unmittelbar benachbarten Text behoben werden.
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Die vertikalen Füller, Auslassungspunkte und Apostroph, zeigen im Text nicht behebbare /
irreversible Defekte, zu denen insbesondere Auslassungen gehören.
Zusammenfassung – Füller – Funktion und Formmerkmale in Klammern
Defekt im benachbarten
Defekt innerhalb eines
Defekt auf der Satz- oder
Text
Wortes [-redupliziert]
Textebene [+redupliziert]
BINDESTRICH / DIVIS
GEDANKENSTRICH
auf- und abschreitende
behoben/reversibel
See-Elefanten im heiliEr hatte das Geld – gestohlen
[-vertikal]
gen Bezirk
nicht behoben/irreversibel APOSTROPH
AUSLASSUNGSPUNKTE
heil’gen
Er hatte das Geld …
[+vertikal]
Auslassungspunkte
Formmerkmale: [+LEER], [+REDUPLIZIERT], [+VERTIKAL].
Funktion: Anzeiger defekter bzw. vom Default abweichender Satz- und Texteigenschaften
oberhalb der Wortebene, die im unmittelbaren Kontext nicht repariert werden (z. B.
Abbruch, Auslassung).
Zum Vergleich: Duden-Rechtschreibung (2006)
K 17 : Drei Auslassungspunkte zeigen an, dass in einem Wort, Satz oder Text Teile
ausgelassen worden sind.
Verd...!
Der Horcher an der Wand ...
Die Erhebung fand in den nachfolgend genannten Städten ... zum ersten Mal statt.
Hinweis: im ersten Beispiel liegt eine Ein-Wort-Äußerung vor, allerdings könnte man
argumentieren, dass ein Defekt unterhalb der Wortebene vorliegt.
Gedankenstrich
Formmerkmale: [+LEER], [+REDUPLIZIERT], [–VERTIKAL].
Funktion: Anzeiger defekter bzw. vom Default abweichender Satz- und Texteigenschaften
oberhalb der Wortebene, z. B. Abbruch, Themenwechsel, Sprecherwechsel. Der Defekt
wird im unmittelbaren Kontext behoben (z. B. Abbruch und Wiederaufnahme, neues
Thema, neuer Sprecher).
Der Gedankenstrich kann parallel zum Divis beschrieben werden mit dem Unterschied,
dass nicht Wort-, sondern Satz- und Texteigenschaften betroffen sind.
a) „Trenn-Gedankenstrich“: Er hatte das Geld – gestohlen.
b) „Binde-Gedankenstrich“: Bist du sicher? – Ganz sicher!
c) „Ergänzungs-Gedankenstrich“: Du bist ein –!
Der Ergänzungs-Gedankenstrich ist in Bezug auf die Opposition Reversibilität vs.
Irreversibilität inkonsistent.
Vergleich Auslassungspunkte vs. Gedankenstrich:
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Die Erhebung fand in den nachfolgend genannten Städten ... zum ersten Mal statt.
Die Erhebung fand in den nachfolgend genannten Städten – zum ersten Mal statt.
Zum Vergleich – der Gedankenstrich in Duden-Rechtschreibung
„Der Gedankenstrich wird häufig dort verwendet, wo man in der gesprochenen Sprache
eine deutliche Pause macht. Oft könnten in solchen Fällen auch andere Satzzeichen wie
Kommas oder Klammern gesetzt werden.“
Der einfache Gedankenstrich
K 43: Ein Gedankenstrich kündigt etwas Folgendes, oft etwas Unerwartetes an.
(Gelegentlich kann an dieser Stelle auch ein Doppelpunkt oder ein Komma stehen.)
Plötzlich – ein gellender Aufschrei!
Auch möglich: Plötzlich: ein gellender Aufschrei!
Plötzlich, ein gellender Aufschrei!
Du kannst das Auto haben – und zwar geschenkt!
Auch möglich: Du kannst das Auto haben, und zwar geschenkt!
In manchen Texten kennzeichnet der Gedankenstrich auch (statt Auslassungspunkten)
das Verschweigen eines Gedankenabschlusses.
„Sei still, du –!“, schrie er ihn wütend an.
K 44: Zwischen Sätzen kann der Gedankenstrich den Wechsel des Themas oder des
Sprechers anzeigen.
Wir sprachen in der letzten Sitzung über die Frage der Neustrukturierung unserer
Abteilung. – Ist übrigens heute schon die Post gekommen?
„Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht?“ – „Siehst, Vater, du den Erlkönig
nicht?“
Der doppelte (paarige) Gedankenstrich
K 45: Mit Gedankenstrichen kann man Zusätze oder Nachträge deutlich vom übrigen Text
abgrenzen. (Meist können an den entsprechenden Stellen auch Kommas stehen;
Klammern wären oft ebenso möglich.)
Dieses Bild – es ist das letzte und bekannteste der Künstlerin – wurde vor einigen
Jahren nach Amerika verkauft.
Auch möglich: Dieses Bild, es ist das letzte und bekannteste der Künstlerin, wurde ...
Dieses Bild (es ist das letzte und bekannteste der Künstlerin) wurde ...
Weitere Funktionen in Berger (1982):
Bei kettenartig aneinandergereihten Stichwörtern:
Weitere Stilmittel: Anrede – Verallgemeinerung – Adjektiv
Bei Gegenüberstellungen: bald hier – bald dort
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Zum Unterschied zwischen Komma und Gedankenstrich (vgl. Primus 2008):
Der Gedankenstrich als Augenzeichen (okulomotorische Funktion): der grammatische
Prozessor bekommt keinerlei Anweisungen. Die NP-Struktur wird mithin nicht zerstört:
dieser – für – meine – weitere – Untersuchung – sehr – wichtigen – Stelle
Das Komma als Strukturierungszeichen: Der grammatische Prozessor bekommt die
Anweisung, syntaktisch nicht-subordinativ zu verknüpfen. Da dies bei der vorgegebenen
Wortkette syntaktisch nicht möglich ist, wird die NP-Struktur zerstört:
dieser, für, meine, weitere, Untersuchung, sehr, wichtigen, Stelle
Ein scheinbar paradoxer Befund: Der zweite Gedankenstrich wird immer gesetzt, das
zweite Komma wird bei NP-internen Herausstellungen eher gemieden:
an dieser – für meine weitere Untersuchung sehr wichtigen – Stelle
an dieser, für meine weitere Untersuchung sehr wichtigen(,) Stelle
These Primus (2008): an der syntaktisch engen Verknüpfungsstelle zwischen
Adjektivphrasen-Kopf (wichtigen) und NP-Kopf (Stelle, s. Kongruenz als Zeichen der
Subordination trotz Herausstellung), stört das grammatische Komma, nicht aber der nichtgrammatische Gedankenstrich.
Literatur:
Berger, Dieter. 1982. Komma, Punkt und alle anderen Satzzeichen. 2. Aufl. Mannheim:
Dudenverlag.
●Bredel, Ursula / Primus, Beatrice. 2007. Komma et Co: Zwiegespräch zwischen
Grammatik und Performanz. In: Zeitschrift für Sprachwissenschaft 26, 81-131.
●Bredel, Ursula. 2008. Die Interpunktion des Deutschen. Ein kompositionelles System zur
Online-Steuerung des Lesens. Tübingen: Niemeyer.
●Bredel, Ursula. 2009. Das Interpunktionssystem des Deutschen. In: Linke, Angelika /
Feilke, Helmuth (Hgg.). Oberfläche und Performanz. Tübingen: Niemeyer, 117-135.
Duden. 2006. Rechtschreibung der deutschen Sprache. 24., völlig neu bearbeitete und
erweiterte Auflage. Mannheim et al.: Dudenverlag.
Primus, Beatrice . 2008. Diese – etwas vernachlässigte – Herausstellung. In: Deutsche
Sprache 2008 (1), 3- 26.
Interpunktion im Ansatz von Bredel – Klitika (Punkt, Semikolon, Fragezeichen,
Ausrufezeichen, Komma)
Interpunktionszeichen
Filler
<- … – ’>
Form:
[+LEER]: kein Grundlinienkontakt
Funktion:
Klitika
<. , ; : ! ? ( ) „“>
Form:
[-LEER]: mit Grundlinienkontakt
Funktion:
Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009
okulomotorische Zeichen
Anzeiger defekter Einheiten
Rekodieren
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Subvokalisationszeichen: Anzeiger
sprachlicher, nicht-defekter Strukturen
Dekodieren
Klitika
<. , ; :>
Form: [-vertikal]
Funktion: grammatisch
< ! ? ( ) „“>
Form: [+vertikal]
Funktion: kommunikativer Rollenwechsel
Klitika mit vertikalem Aufbauelement signalisieren einen kommunikativen Rollenwechsel.
Die normale Rollenverteilung in der schriftlichen Kommunikation ist die zwischen einem
anonymen Autor und einem anonymen Adressaten (= normale Interaktionsrollen).
Der Adressat ist ein Nicht-Wissender, der vom Autor Informationen bekommt (= normale
epistemische Rollen). Die Klitika mit vertikalem Aufbauelement zeigen an, wenn sich an
dieser normalen Rollenverteilung etwas ändert:
Form: [-redupliziert]. Funktion: Veränderung der epistemischen Rollen
Fragezeichen: Der Adressat bekommt keine Information, sondern soll eine Information
geben. Der Autor ist ein Nicht-Wissender, der Adressat ein Wissender.
Ausrufezeichen: Der Adressat soll die Information zusätzlich bewerten. Er übernimmt die
Rolle des Bewertenden.
Form: [+redupliziert]. Funktion: Veränderung der Interaktionsrollen
Anführungszeichen: Das Geschriebene ist keine Autorrede, sondern Figurenrede.
Klammern: Das Geschriebene ist eine Erläuterung außerhalb des Trägertextes. Autor und
Adressat befinden sich außerhalb des Trägertextes in einer zusätzlichen ‚entre nous‘Interaktion.
Klitika, deren Aufbauelement [-vertikal] ist, weisen auf die grammatische Sprachverarbeitung hin (vgl. Bredel / Primus 2007)
Punkt: die grammatische Sprachverarbeitung wird abgeschlossen.
Der Mensch denkt. Gott lenkt.
Doppelpunkt: die grammatische Sprachverarbeitung wird abgeschlossen (Punkt auf der
Grundlinie, Majuskel kann folgen); ein Element der Vorgängereinheit wird aufgegriffen und
weitergeführt (reduplizierter Punkt).
Der Mensch denkt: Gott lenkt.
Komma: die grammatische Sprachverarbeitung läuft weiter (satzinterne Verknüpfung), ist
aber nicht subordinativ oder muss eine Satzgrenze überwinden.
Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009
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Der Mensch denkt, Gott lenkt.
Mensch, denk an Gott.
Semikolon: die grammatische Sprachverarbeitung läuft weiter, ist aber nicht subordinativ
(Komma auf der Grundlinie); die nicht-subordinativ verknüpften Teile sind in sich
abgeschlossen, keine Subordinationsreste (Punkt als Aufbauelement). Also keine
Herausstellung, sondern Satzkoordination ohne Koordinationstilgung.
Der Mensch denkt; Gott lenkt. *Gott denkt; lenkt.
Zusammenfassung (Bredel 2009):
[±VERTIKAL]
(Instruktionstyp)
[±REDUPLIZIERT]
(Domäne)
[+REDUPLIZIERT]
[–REDUPLIZIERT]
Sprachsystem
Text
Satz
Wort
<:>
[-VERTIKAL]
Verkettung
<–>
<„“> <( )>
[+VERTIKAL]
Rollenwechsel
<.> <,> <;>
<…>
Literatur wie in der vorigen Vorlesung
<->
<?> <!>
<’>
[±LEER]
(Kodiermodus)
[-LEER]
Dekodieren
[+LEER]
Rekodieren
[-LEER]
Dekodieren
+[LEER]
Rekodieren