Narrative Verfahren

Transcription

Narrative Verfahren
Einführung in die Literaturwissenschaft / W.S. 2012/13 / Wolfgang Struck
Demodokos. John Flaxman (1810)
Narrative Verfahren: Wie entstehen Geschichten?
Erzählen ist ein grundlegender – kultur- und epochenübergreifender - Modus der Kommunikation.
Auch wenn der Begriff im engeren Sinn an die
mündliche Rede gebunden ist, lassen sich doch
Charakteristika der spezifischen Form sprachlicher
Mitteilung, die mit ‚Erzählen’ im allgemeinen
Wortgebrauch verbunden ist, auch schriftlich und in
anderen Medien realisieren. Beispiele dafür bieten
Formen literarischen und filmischen Erzählens.
Erzählen ist also auch medienübergreifend. Gerade
aufgrund dieser Ausdehnung ist der Begriff jedoch
schwer einheitlich zu definieren; es läßt sich aber
fragen nach eben den Charakteristika, die den verschiedenen Formen von ‚Erzählen‘ gemeinsam
sind. Dabei ist zugleich zu fragen nach den möglichen Ausdifferenzierungen des Konzepts: welche
unterschiedlichen Formen des ‚Erzählens‘ gibt es,
was macht sie trotzdem zu Formen des Erzählens?
a): Die Odyssee
Narrative Verfahren ergänzen die poetischen Verfahren wie Reim, Metrum und Bildlichkeit. Sie
stehen damit nicht im Gegensatz zu diesen; auch
narrative Texte können, wie beispielsweise die
Odyssee oder die Ballade Erlkönig, im Hinblick auf
poetische Verfahren beschrieben werden. Sie fokussieren vielmehr einen anderen Aspekt literarischer
(aber auch nicht-literarischer) Texte: das Erzählen
von Geschichten.
Bei dem „Sang, dessen Ruhm den Himmel damals
erreichte“, der hier vorgetragen wird, handelt es
sich um eine Episode aus der Ilias, dem der
Odyssee vorangehenden Epos. Es handelt sich um
ein Geschehen, das ebenfalls der in der Odyssee
erzählten Geschichte vorangeht. Wie die Odyssee
selbst ist auch die Ilias eine epische Dichtung, die
ein umfangreiches, komplexes Geschehen in
Versen (Hexameter: 6-füßige Daktylen) präsentiert.
Eine Art Urszene des Erzählens findet sich im 8.
Buch der Odyssee, wo der Held am Hof des Königs
Alkinoos zu einem Fest geladen wird, dessen Höhepunkt der Auftritt eines Erzählers/Sängers (eines
Rhapsoden) bildet:
Und den geschätzten Sänger führend, nahte der Herold.
Ihm war die Muse hold; sie gab ihm Gutes und Schlimmes:
Nahm ihm das Licht seiner Augen und schenkte ihm süße Gesänge.
[...]
Aber nachdem sie sich dann am Trinken erquickt und am Essen,
Trieb die Muse den Sänger, den Ruhm der Männer zu singen
Aus dem Sang, dessen Ruhm den Himmel damals erreichte,
Von des Odysseus Streit mit dem Peleussohne Achilleus.
[...]
[Odyssee, dt. von Roland Hampe, Stuttgart: Reclam 1979; 8.
Gesang, Vers 62ff.]
2
Und so kann man sich auch für die Odyssee selbst
vorstellen, daß sie auf eine ähnliches Weise präsentiert worden ist: in einem öffentlichen Vortrag
durch einen Rhapsoden, der die Verse (im Fall der
Odyssee sind es immerhin 12200 Hexameter, die in
24 "Bücher" bzw. "Gesänge" unterteilt sind) in
einer Art Sprechgesang rezitiert oder singt,
begleitet auf einer Lyra. Gelegentlich hat man in
dem blinden Sänger sogar ein Selbstportrait des
Dichters der Odyssee, Homer, sehen wollen. Das ist
allerdings reine Spekulation – über den Dichter der
Odyssee ist praktisch nichts bekannt. Naheliegender
scheint es daher, die Blindheit als rhetorische Figur
zu verstehen: der Sänger ist blind für das
Geschehen um ihn herum, dafür ‚sieht‘ er aber in
einem übertragenen Sinne die Dinge, die die Muse
ihm weist, ‚sieht‘ also mehr als alle anderen.
Es spricht damit nicht als reale, empirische
Person, sondern aus einer Position göttlicher
Inspiration, und es verfügt damit über ein
Wissen und eine Ausdruckskraft, die diejenige
normaler Menschen übersteigt; eine
‚Entrealisierung‘ des Dichters, die im GenieBegriff späterer Zeiten nachwirkt (die Genien
sind eine römische Variante der Muse).
(3) Erst nachdem auf diese Weise das Aussagesubjekt bestimmt ist, wird auch das Objekt des
Erzählens benannt: der Mann Odysseus und
seine Taten und Erlebnisse.
Noch ein anderes Detail legt es jedoch nahe, in der
hier dargestellten Sprechsituation einen Hinweis
auf die Sprechsituation des gesamten Textes zu
sehen: die Muse nämlich, die den Sänger zu seiner
Darbietung befähigt, ja sogar treibt, wird bereits im
ersten Vers der Odyssee in ähnlicher Weise
angesprochen, einem Vers, der ebenfalls dem
Erzählen selbst gewidmet ist:
Nenne mir, Muse, den Mann, den vielgewandten, der vielfach
Wurde verschlagen, seit Trojas heilige Burg er zerstörte“
[Odyssee, 1. Gesang, Vers 1f.]
Entworfen wird hier eine dreistellige Konstellation:
Der Erzählerals Vermittler:
Illustration aus einer Handschrift des 13.
Jahrhunderts (Wolfram von Eschenbach:
Willehalm)
Ich (mir) – die Muse – der Mann
Das Objekt, von dem erzählt werden soll (der
"Mann", seine Taten und sein Schicksal) steht hier
erst an dritter Stelle, davor stehen die Instanzen des
Erzählens. Dem Hinweis darauf, was erzählt wird,
geht also ein Hinweis voraus, wer erzählt.
Wer ‚spricht‘ hier?
(1) Schon das Ich ist nicht das ‚Ich‘ eines Menschen, der im 8. Jh. v. Chr. gelebt hat und vielleicht Homer geheißen hat (genauere Informationen über den Verfasser der Odyssee sind
kaum bekannt), sondern es ist – zugleich – Teil
einer literarischen Konvention: des
Prooimions, der traditionellen Eingangsformel
epischer Texte, in der ein Dichter/Sänger
(Rhapsode) eine Göttin der Kunst um Beistand
bittet (die Musen sind Töchter des Zeus und
der Titanin Mnemosyne, unter ihnen ist
Kalliope –"die Schönstimmige" – die Muse des
epischen Gesangs; „Singe den Zorn, o Göttin,
des Peleiaden Achilleus“ heißt es etwa am
Beginn der Ilias).
(2) Darüber hinaus delegiert dieses Ich seine
Rede/sein Schreiben – teilweise – an die Muse.
Diese Illustration eines mittelalterlichen
Erzähltextes stellt den Erzähler (Mitte) zwischen
die Figuren der Handlung, die demgegenüber nur
schattenhaft gezeichnet sind. Wie ein Moderator
präsentiert er sie dem Publikum.
In der Odyssee wird der so definierte Erzähler
gleich im Anschluß an das Prooimion seine
Fähigkeit unter Beweis stellen, indem er von einem
Ort berichtet, der menschlicher Erfahrung
grundsätzlich nicht zugänglich ist: dem
Götterhimmel Olymp. Hier wird gerade auf einer
Versammlung der Götter über das weitere Schicksal
des Odysseus beraten. Dieser befindet sich, wie wir
zunächst erfahren, bereits im 8. Jahr auf der Insel
Ogygia, der vorläufigen
seine Fähigkeit unter Beweis stellen, indem er von
einem Ort berichtet, der menschlicher Erfahrung
grundsätzlich nicht zugänglich ist: dem
Götterhimmel Olymp. Hier wird gerade auf einer
Versammlung der Götter über das weitere Schicksal
des Odysseus beraten. Dieser befindet sich, wie wir
zunächst erfahren, bereits im 8. Jahr auf der Insel
Ogygia, der vorläufigen Endstation einer durch
immer neue Unglücke unterbrochenen Seereise, die
ihn vor Troja zurück in seiner Heimat Ithaka hätte
führen sollen. Auf Ogygia hat sich die Nymphe
3
Kalypso in Odysseus verliebt, die nun ihre weiblichen ebenso wie ihre göttlichen Reize aufbietet,
um ihn bei sich zu halten. Auf der Götterversammlung faßt jedoch Zeus den Beschluß, daß
Odysseus nun endlich nach Hause zurückkehren
darf; und so endet diese erste ‚Szene‘ mit einer
doppelten Aktion: der Götterbote Hermes wird nach
Ogygia geschickt, um Kalypso zu befehlen,
Odysseus ziehen zu lassen, und Athene begibt sich
in Odysseus‘ Heimat Ithaka, um seine Rückkehr
vorzubereiten.
4. Telemachos bei König Menelaos in Lakedämon
(Sparta); Ithaka: Beschluß der Freier, Odysseus‘
Sohn bei seiner Rückkehr zu töten
5. Ogygia: Odysseus bei Kalypso, Ankunft des
Hermes, der die Entscheidung des Götterrats überbringt; Bau des Floßes, Aufbruch (nach fünf
Tagen), Schiffbruch (nach 18 Tagen Fahrt)
6. Odysseus bei den Phäaken: die Königstochter
Nausikaa findet den am Strand schlafenden Schiffbrüchigen und bringt ihn zu ihrem Vater, König
Alkinoos
7. Bei den Phäaken: freundliche Aufnahme des
Odysseus
8. Bei den Phäaken: Gastmahl und Vortrag des Sängers (Rhapsoden) Demodokos, u.a. über den Untergang Trojas (Ereignisse der Ilias), darin kommt
auch Odysseus vor; Tränen des Odysseus
9. Bei den Phäaken, Gastmahl: Odysseus gibt seine
Identität zu erkennen und beginnt, seine Geschichte
zu erzählen:
Die Erzählung 'folgt' zunächst Athene und schildert
in den kommenden drei Büchern die desolaten Zustände auf Ithaka, wo eine große Gruppe von Adligen Odysseus' Frau Penelope bedrängt, unter ihnen
einen neuen Mann zu wählen, sowie eine Reise, die
Odysseus' Sohn Telemachos auf Anraten Athenes
unternimmt, um die Spur seines Vaters aufzunehmen und Unterstützung gegen die 'Freier' zu
finden. Das 5. Buch 'springt' dann nach Ogygia, um
zu schildern, wie Hermes dort ankommt und Kalypso die Aufforderung der Götter überbringt.
Dieses Geschehen verläuft zeitgleich mit dem im 3.
Buch geschilderten, es findet also ein Sprung in der
Zeit zurück statt. Oder anders gesagt: zwei parallel
stattfindende Handlungen werden nacheinander
geschildert.
Einen Überblick über den weiteren Verlauf gibt die
folgende Synopse:
Die Odyssee (Synopse)
1. Prooimion (Musenanruf); Götterversammlung;
Odysseus, der bereits im achten Jahr auf der Insel
Ogygia bei der Nymphe Kalypso ist, soll die Rückkehr in seine Heimat Ithaka ermöglicht werden;
Athenes Ermahnung an Telemachos
2. Ithaka: die Freier (d.h. der Adel Ithakas) bedrängen Odysseus‘ Frau Penelope, einen neuen Mann
und damit Herrscher des Inselfürstentums zu wählen; Odysseus‘ Sohn Telemachos verläßt das Land
3. Telemachos bei König Nestor in Pylos
-
Erlebnisse bei den Kikonen, Lotophagen und
Kyklopen (Blendung des Polyphemos, durch
die sich Odysseus den Zorn Poseidons zugezogen hat)
10. Fortsetzung von Odysseus‘ Erzählungen:
-
Äolos
Lästrygonen
Kirke (Zauberin, die die Gefährten Odysseus‘
in Schweine verwandelt)
11. Fortsetzung von Odysseus‘ Erzählungen:
-
Das Totenreich (Hades; dorthin ist Odysseus
von Kirke versetzt worden)
12. Fortsetzung von Odysseus‘ Erzählungen:
-
Die Sirenen
Skylla und Charybdis
Diebstahl der heiligen Rinder des Sonnengottes
Helios; daraufhin läßt Zeus das Schiff untergehen; Tod aller Gefährten
Odysseus treibt 9 Tage auf dem Meer und landet dann auf Ogygia
13. Odysseus‘ Abfahrt von den Phäaken und Ankunft in Ithaka, von Athene als Bettler getarnt
14. Odysseus beim ‚göttlichen Sauhirten‘ Eumaios
15. Rückkehr Telemachos nach Ithaka, Athene bewahrt ihn vor einem Hinterhalt der Freier
4
16. Telemachos trifft Odysseus (der mit Eumaios
‚die Nacht verplaudert hat‘); die Freier bedrängen
weiterhin Penelope und wollen Telemachos töten
Erzählung kann der Chronologie der Ereignisse
folgen, sie kann aber auch mehr oder weniger stark
davon abweichen, so wie es die Odyssee tut.
17. Odysseus, immer noch als Bettler getarnt, in
der Stadt/am Hof, von Freiern, Knechten und
Mägden verspottet und bedroht
18. Telemachos kommt ebenfalls in die Stadt; weitere Konflikte mit den Freiern; Faustkampf des
Odysseus mit dem Bettler Iros
19. Abend: Odysseus (unerkannt) und Penelope;
Telemachos entfernt alle Waffen aus dem Saal des
Palastes, den die Freier zur Nacht verlassen haben;
die Amme erkennt Odysseus, als sie ihm die Füße
wäscht
20. Nacht und folgender Tag: düstere Vorahnungen; die Freier bedrängen Penelope
21. Der Bogenkampf: Odysseus (‚Der Bettler‘) besteht als einziger den ‚Ehetest‘
22. Die Rache: Odysseus gibt sich zu erkennen und
tötet gemeinsam mit Telemachos und Eumaios die
wehrlosen Freier, die untreuen Mägde und Knechte
werden hingerichtet
23. Odysseus überzeugt Penelope von seiner Identität, beide verbringen gemeinsam die Nacht
24. Athene versöhnt Odysseus mit den aufständischen Volk, das die Ermordung der Freier (der gesamten adligen Jugend der Insel) nicht hinnehmen
will
Allerdings folgen auch diese Abweichungen einer
eigenen Logik. Wenn etwa die Erzählung im 2. bis
4. Buch zunächst dem Weg des Telemachos folgt,
dann folgt sie damit auch der Eigendynamik einer
Handlung, die durch die Ankunft Athenes ausgelöst
worden ist. Es wird also zunächst eine (Teil-) Geschichte bis zu ihrem vorläufigen Ende erzhält,
bevor dann eine weitere Teilgeschichte erzählt
wird.
Das heißt: Geschichten ergeben sich nicht nur daraus, daß bestimmte Ereignisse aufeinander folgen,
sondern diese Ereignisse stehen auch in systematischen Zusammenhängen. Aus dieser Beobachtung
hat Aristoteles die eine Definition von Geschichte
abgeleitet, die bis heute für Theorien des Erzählens
von zentraler Bedeutung ist.
b) was wird erzählt: Aristoteles’ Definition
Die Synopse folgt der vergegebenen Segmentierung
der Odyssee in 24 Bücher/Gesänge. Dabei zeigt
sich, daß die Reihenfolge, in der das Geschehen
geschildert wird, immer wieder in markanter Weise
von der Chronologie, in der die geschilderten
Ereingnisse stattgefunden haben, abweicht.
Zwischen dem ersten und dem letzten Buch vergehen 40 Tage. Die Handlung der Odyssee umfaßt
jedoch einen weit größeren Zeitraum, nämlich die
zehn Jahre, die zwischen dem Sieg des griechischen
Heeres über Troja, dem Aufbruch der Krieger
Richtung Heimat und der verzögerten Rückkehr des
Odysseus liegen. Die Ereignisse dieser zehn Jahre
werden in langen Rückblenden in das Geschehen
der letzten 40 Tage integriert. Die Erzählung folgt
also nicht linear dem Zeitablauf, sondern sie bewegt
sich abwechselnd vorwärts und rückwärts. Dies
ergibt ein sehr viel komplexeres Verlaufsschema als
es sich etwa im Drama findet Es gibt also
verschiedene Möglichkeiten, eine Geschichte in
ihrem zeitlichen Verlauf zu präsentieren: die
Aristoteles’ Definition findet sich in seiner Poetik
unter den Stichworten ‚Handlung‘, ‚Fabel‘ und
‚Mythos‘, die alle die “Zusammenfügung der Geschehnisse” zu einem “Ganzen” bezeichnen, genauer, zu einer “Handlung mit Anfang, Mitte und
Ende” (23. Kap.):
“Ein Ganzes ist, was Anfang, Mitte und Ende hat.
Ein Anfang ist, was selbst nicht mit Notwendigkeit
auf etwas anderes folgt, nach dem jedoch natürlicherweise etwas anderes eintritt oder entsteht. Ein
Ende ist umgekehrt, was selbst natürlicherweise auf
etwas anderes folgt, und zwar notwendigerweise
oder in der Regel, während nach ihm nichts anderes
mehr eintritt. Eine Mitte ist, was sowohl selbst auf
etwas anderes folgt als auch etwas anderes nach
sich zieht. Demzufolge dürfen Handlungen, wenn
sie gut zusammengefügt sein sollen, nicht an
beliebiger Stelle einsetzen noch an beliebiger Stelle
enden, sondern müssen sich an die genannten
Grundsätze halten.” (Poetik, 7. Kap.)
5
“Die Fabel des Stücks ist nicht schon dann [...] eine
Einheit, wenn sie sich um einen einzigen Helden
dreht. Denn diesem einen stößt unendlich vieles zu,
woraus keinerlei Einheit hervorgeht. So führt der
eine auch vielerlei Handlungen aus, ohne daß sich
daraus eine einheitliche Handlung ergibt. [Daher]
müssen die Teile der Geschehnisse so zusammengefügt sein, daß sich das Ganze verändert und
durcheinander gerät, wenn irgendein Teil
umgestellt oder weggenommen wird. Denn was
ohne sichtbare Folgen vorhanden sein oder fehlen
kann, ist gar nicht ein Teil des Ganzen.” (Poetik, 8.
Kap)
Gegenüber einer Chronik, die Ereignisse in ihrer
zeitlichen Abfolge aufzeichnet (die Ereignisse folgen aufeinander), ist die Ereinisfolge in einer Geschichte auf spezifische Weise motiviert (kausallogisch, mythisch, poetisch: die Ereignisse folgen
auseinander). In Weiterentwicklung von Aristoteles‘ Fabel-Begriff läßt sich die Geschichte auch beschreiben als strukturiertes – in der Terminologie
Jurij Lotmans: sekundär modellbildendes – System.
Die Ereigniskette:
derung eingetreten ist; z.B.: warum ist der Held am
Ende arm, obwohl er doch am Anfang reich war,
oder warum ist ‚Hans im Glück‘ zu einem späteren
Zeitpunkt arm, obwohl er doch zwischenzeitlich
reich war?).
Solche konzeptuellen Differenzen führen auf eine
Ebene fundamentaler abstrakter Konzepte und
deren Verbindung (z.B. die Verschränkung ‚arm‘
und ‚glücklich‘ vs. ‚reich’ und ‚unglücklich‘).
Erzählungen sind damit Indikator ideologischer
Systeme.
In der Odyssee lassen sich auf diese Weise mehrere
Geschichten unterscheiden, die miteinander verwoben sind. In erster Linie sind das die
Handlungsstränge um den reisenden Odysseus und
die Handlung auf Ithaka um Penelope, Telemachos
und die Freier, die während der ersten 12 Bücher
parallel verlaufen und erst in der zweiten Hälfte des
Textes zusammengeführt werden. Eine solche Segmentierung erlaubt es, die Odyssee als Integration
von (mindestens) zwei elementaren Handlungsschemata zu beschreiben:
-
Der König starb und dann starb die Königin
ist dieser Definition zufolge keine Geschichte, sie
wird dazu erst, wenn eine Motivation hinzukommt:
Der König starb und dann starb aus Gram auch die
Königin.
(nach Edward M. Forster, Aspects of the novel,
Olando 1955)
Auch eine Ereigniskette wie Odysseus geht von zu
Hause weg, ist in der Fremde (fern von der Heimat)
– kehrt in die Heimat zurück ist zunächst keine Geschichte, sie wird es erst, indem ein Motiv für die
Rückkehr existiert, also etwa das Heimweh Odysseus‘ und die Sehnsucht nach seiner Frau. Anders
gesagt: Anfang (Odysseus ist in der Fremde) und
Ende (Odysseus ist wieder zuhause) stehen nicht in
einer einfachen Differenz, sondern in einer bewerteten, hierarchisierten, konzeptuellen Differenz (für
die Odyssee etwa: in der Heimat ist es besser als in
der Fremde). Eben diese konzeptuelle Differenz
motiviert die Rückkehr.
Geschichten bieten – oder suchen nach – Erklärungen, Rechtfertigungen, Be- und Verurteilungen, in
der Regel für Veränderungen in der erzählten Welt
oder der erzählten Welt als ganzer (gelegentlich
auch für deren Ausbleiben). Entscheidend dabei ist
die anfangs erwähnte Grundstruktur von Anfang –
Mitte – Ende: mit ihr ist verbunden die Vorstellung
einer konzeptuelle Differenz zwischen Anfang und
Ende (diese Differenz kann sich auch so realisieren,
daß am Ende der Anfangszustand wiederhergestellt
ist, obwohl zwischendurch eine konstitutive Verän-
-
Seefahrer-Geschichte, die von der abenteuerlichen und gefährlichen Fahrt am Rand der bekannten Welt handelt
Geschichte vom heimkehrenden König, der sich
seine frühere Stellung erst wieder neu erkämpfen muß
Für die Seefahrer-Geschichte etwa läßt sich neben
der konzeptuellen Differenz von Heimat und
Fremde weiterhin eine Diffferenz von Gruppe und
Individuum feststellen: Odysseus bricht mit seinen
Gefährten auf, wobei er zwar der Anführer der
Gruppe ist, aber durchaus kein allmächtiger
Herrscher; vielmehr muß er immer wieder um die
Kooperation der Gefährten werben und ist dabei
nicht immer erfolgreich: es ist gerade die Eigenmächtigkeit der Gefährten, die immer wieder zu
Katastrophen führt). Am Ende dagegen ist Odysseus allein: er hat die Gruppe der Gefährten eingetauscht gegen individuelle Erfahrung. So erzählt die
Odyssee auch die Geschichte einer Individuation.
Zugleich erzählt sie davon, wie dieses Individuum
sich bewährt gegen die mythischen Mächte, die die
Natur beherrschen: erzählt wird auch die
Geschichte einer Emanzipation (ein Prozeß, der
sich auch auf der Ebene der Erzählperspektiven
bestätigt, wenn mit Odysseus ein individueller
Erzähler dem Allgemeinwissen des Rhapsoden
entgegengesetzt wird, s.u.).
Für die Geschichte vom heimkehrenden König läßt
sich eine ähnliche Differenz feststellen: während
Odysseus abwesend ist, gibt es keine klare Hierarchie und es herrscht eine desolate Situation von
Chaos und Anarchie, am Ende dagegen ein Zustand
6
von Ordnung und Harmonie. Die mit äußerster Brutalität durchgeführte Auslöschung praktische der
gesamten Adelsschicht der Insel, an deren Ende
Odysseus als unbestrittener – und nunmehr unbestreitbarer – Herrscher überbleibt, würde also motiviert – und legitimiert – durch eine wertbesetzte
Differenz von Chaos und Ordnung und zugleich
von Gruppe und Individuum. Legitimiert wird hier
also ein spezifisches, monarchisches
Herrschaftssystem.
c) wer erzählt?
Daß in der Odyssee die Geschichte einer Individuation erzählt wird, zeigt auch ein Blick auf die Organisation des Erzählens, genauer: darauf, wie die
dem Beginn der Handlung vorausliegenden Ereignisse in die Erzählung integriert werden. Zum Teil
sind sie Gegenstand des Vortrags durch den
Rhapsoden Demodokos, der im 8. Gesang auftritt.
Die Situation auf dem Fest bildet hier einen Rahmen, in den eine Binnenerzählung eingebettet ist.
Dabei wird auf eine weitere Spezifik des rhapsodischen Gesangs hingewiesen, die einerseits die Form
des Vortrags betrifft ("gar schön nach der Ordnung"), andererseits aber auch das, was erzählt
wird:
Aber nachdem sie sich dann am Trinken erquickt und am Essen,
Sprach den Demodokos an der erfindungsreiche Odysseus:
Weit vor den Sterblichen allen, Demodokos, muß ich dich
preisen.
Dich hat die Muse gelehrt, Zeus‘ Tochter, oder Apollon;
Denn gar schön nach der Ordnung besingst du das Los der
Achäer,
Was sie taten und litten und wie die Achäer sich mühten,
So wie selber Erlebtes oder von Zeugen Gehörtes.
Doch auf, schreite nun fort, und singe des hölzernen Pferdes
Schaffung, welches Epeios schuf mit Hilfe Athenes,
Das mit List auf die Burg einst brachte der hehre Odyseus,
Angefüllt mit Männern, die Ilion [Troja] übermannten.
[8. Gesang, Vers 484ff.]
Daß der - für die Teilnehmer des Festes anonyme Zuhörer Odysseus hier den ihm bis dahin unbekannten Sänger auffordern kann, ganz bestimmte
Ereignisse zu berichten, deutet daraufhin, daß es
keine individuelle Erfindung ist, was hier Gegenstand des 'Sanges' wird, sondern ein prinzipiell
allen zugängliches Wissen, und daß die Leistung
des Sängers vor allem darin besteht, dieses Wissen
in die richtige "Ordnung" zu bringen. Die Szene
verweist damit auf eine Funktion der epischen
Dichtung in Kulturen, die keine Schrift besitzen
(wie die griechische zu der Zeit, als die geschilderten Ereignisse stattgefunden haben, etwa 1200 v.
Chr.): sie bewahrt die Erinnerung an Ereignisse, die
für die gesamte Gesellschaft von Bedeutung sind.
Vor allem der Vers verleiht der Erzählung von
solchen Ereignissen eine relativ feste Form. So
können auch längere Text memoriert, auswendig
gelernt, immer wieder reproduziert und schließlich
an die Rhapsoden der folgenden Generation weitergegeben werden.
Die Odyssee setzt dem Gesang des Rhapsoden Demodokos jedoch einen anderen Vortrag an die
Seite. Als der Sänger nämlich gebeten wird, auch
vom weiteren Schicksal des Odysseus nach der
Abreise aus dem besiegten Troja zu berichten, kann
dieser keine Auskunft geben. Er 'weiß' nur, was die
längst in die Heimat zurückgekehrten Griechen
berichtet haben; von diesen waren Odysseus und
seine Gefährten jedoch gleich nach der Abfahrt von
Troja getrennt worden, und sie sind bis zu dem Tag
des Festes verschollen geblieben. Nun aber gibt
Odysseus sich zu erkennen, und in den folgenden
Gesängen berichtet er selbst von dem, was er seit
seiner Trennung von den anderen Griechen erlebt
hat. Auch hier wird also eine privilegierte Position
des Erzählers konstruiert, aber sie beruht nicht mehr
darauf, daß er von den Musen inspiriert worden
wäre, sondern daß er etwas berichtet, das nur er
allein wissen kann, weil nur er es erlebt hat.
Hier werden also zwei Erzähler einander
gegenübergestellt, die auf unterschiedliche Weise
privilegiert sind:
(a) durch (göttliche) Inspiration
(b) durch individuelle Erfahrung
Entsprechend lassen sich zwei Aspekte des Erzählens unterscheiden:
(a) Erzählen als Kunst (d.h. als aufgrund poetischer
Verfahren organisierte Form)
(b) Erzählen als Mitteilung (Kommunikation)
d) Die Ebenen des narrativen Textes
Aus der dreistelligen Konstellation „Ich – die Muse
– der Mann“, mit der die Odyssee beginnt, lassen
sich drei Fragen ableiten, die an jede Erzählung
gestellt werden können: wer erzählt, wie wird erzählt und was wird erzählt. Während die ersten
beiden Fragen neben der expliziten oder impliziten
Erzählfigur auch die Organisation des Zeitablaufs
sowie Fragen nach der sprachlichen Form (so ist
etwa das, was erzählt wird, zumindest bis zu einem
gewissen Grad davon unabhängig, ob es in griechischer oder deutscher Sprache formuliert ist, oder ob
es in Hexameter-Versen oder in Prosa präsentiert
wird) und nach der medialen Vermittlung (beispielsweise mündlicher Vortrag oder schriftlicher
Text) umfassen, betrifft die dritte Frage die Geschichte im Sinne Aristoteles’, also die Frage nach
relevanten Ereignissen, Anfang, Mitte und Schluß
sowie nach konstitutiven Differenzen.
7
Grundsätzlich ist es sinnvoll, verschiedene Ebenen
des Erzählens zu unterscheiden; zunächst:
-
das Erzählte, die Geschichte selbst (was wird
erzählt: histoire)
-
das Erzählen (oder allgemeiner: die Vermittlung) der Geschichte (wie wird erzählt, wer
erzählt: discours)
Ebene 0
Beide Ebenen lassen sich weiter differenzieren, so
gehört zur Ebene des Erzählens insbesondere die
Frage, wer erzählt; bei der Analyse des Erzählten
läßt sich eine dynamische Ebene der Ereignisse von
einer statischen Ebene allgemeiner Regeln, Gesetze
etc. (abstrakte Konzepte) unterscheiden.
Geschehen/Geschehensmomente
abstrakte Konzepte
ungeordnete, sinnindifferente Menge von
Ereignissen
nicht-zeitliche (achronische)
Ordnungsschemata (Anschauungen,
Überzeugungen, Wertvorstellungen,
Personen- und Handlungsschemata,
historische Konzepte, z.B.
Epochenmuster); häufig in
Oppositionspaaren auszudrücken
+ chronologische Ordnung
[Chronik; Aristoteles: Ereignisse folgen aufeinander]
+ Selektion
+ Kombination: motivierte Folge einander zugeordneter Ereignisse
[Aristoteles: Ereignisse folgen auseinander]
+ konzeptuelle Differenz
(spezifische Spannung zwischen Anfang und Ende;
Geschichte als Interpretation dieser Veränderung)
+ Konfiguration
+ Zuordnung semantischer Räume
Ebene 1
Geschichte / histoire (was wird erzählt: Menge der abstrahierbaren Ereignisse in ihrer
(chrono-) logischen und konzeptuellen Ordnung
+ (Um-) Organisation der Abfolge / Arragement
+ Perspektivierung (Erzählinstanz als Vermittlung)
+ poetische Verfahren (Sprache, Metrum, Vers/Prosa, Bildlichkeit/Uneigentlichkeit)
+ mediale Realisation (Mündlichkeit/Schriftlichkeit, Literatur, Film, Theater...
[Selektion und Kombination möglicher narrativer, poetischer, rhetorischer Verfahren: wie
wird die Geschichte ‚erzählt‘]
Ebene 2
Text / discours (in seiner medial realisierten Form, also als geschriebener/gedruckter Text,
als Rezitation, als rhapsodischer Gesang, als Hörspiel, als Film ...), wie wird erzählt, wer
spricht?
8
Bei den Ebenen 0 und 1 handelt es sich um Abstraktionen, die aus den jeweiligen, konkret realisierten Texten rekonstruiert werden, d.h. Ausgangspunkt für Literaturwissenschaft sind die vorliegenden Texte. Der Rückgang auf die elementareren (‚tieferen‘) Ebenen stellt Kriterien der Textbeschreibung zur Verfügung und liefet wertvolle
heuristische Hinweise zur Analyse und Interpretation (zum Verstehen des Textes; so stellt etwa der
Versuch, zentrale abstrakte Konzepte zu isolieren,
bereits einen wesentlichen Interpretationsschritt
dar). Es geht also darum, den schrittweisen Aufbau
eines Textes aufgrund einer ihm zugrundeliegenden
Erzählgrammatik nachzuvollziehen. Ziel ist es
dabei zunächst, einen gegebenen Text so weit zu
abstrahieren, daß die ‚hinter‘ ihm verborgenen
Konzepte und die ihm zugrundeliegenden elementaren Erzählstrukturen (-muster, -schemata) erkennbar werden. Das macht Texte untereinander
vergleichbar und erlaubt Aussagen über die – häufig unbewußten – kulturellen Überzeugungen, Ängste, Hoffnungen, Wünsche, Ideologien, die darauf
Einfluß haben, wie Geschehensmomente zu Geschichten verbunden werden.
Demgegenüber geht es bei der Analyse des discours gerade um die Verfahren, die – in ihrer jeweiligen Kombination – die Individualität dieses
einen, bestimmten Textes ausmachen. Auch dazu
haben Erzähltheorien eine Reihe von Kriterien
entwickelt. Die im folgenden aufgelisteten Kategorien überschneiden sich teilweise, sie sind nicht klar
voneinander abgrenzbar und hierarchisierbar. Sie
liefern jedoch ein Arsenal heuristischer (also vorläufiger) Fragen, mit denen die Eigentümlichkeit
eines Textes deskriptiv zu erfassen ist (wobei jeweils zu prüfen ist, welche Fragen sinnvoll an den
jeweiligen Text zu stellen sind und welche Funktion die jeweiligen Kriterien für die Textbedeutung
haben). Sie erlauben es, den bisher im Blick auf
poetische Verfahren erstellten Fragekatalog im
Hinblick auf narrative Verfahren zu erweitern:
•
konzeptuelle Differenzen
- Anfangs- und Endpunkt
- relevante Veränderungen / Ereignisse
- weitere relevante Situationen und Ereignisse
•
welche Motivationen vermitteln zwischen den
einzelnen Geschehensmomenten? E. M. Forster
gibt folgendes Beispiel: "Der König starb und
dann starb die Königin": hier handelt es sich
um keine Geschichte, da die Ereignisse lediglich aufeinander folgen; "Der König starb und
dann starb aus Gram die Königin": hier liegt
eine Motivation vor, die Ereignisse folgen auseinander, also handelt es sich um eine Geschichte
•
semantische Räume (welche semantischen
Eigenschaften werden topographischen Räumen zugeordnet, wie sieht das Raum-Modell
der erzählten Welt aus, welche Grenzen sind
erkennbar, wo finden Grenzüberschreitungen
statt?)
•
abstrakte Konzepte (welche – häufig in
Oppositionspaaren formulierbaren – Gesetze
Normen und Werte charakterisieren die dargestellte Welt?)
Mögliche/relevante Kategorien zur Analyse des
discours:
wie wird erzält?
•
•
•
Kategorien zur Analyse der histoire:
was wird erzählt?
Die unter Berücksichtigung der discours-Ebene
rekonstruierte Geschichte (die ‚besprochene Welt‘)
ist dann in zunehmender Abstraktion zu analysieren
im Hinblick auf Kriterien wie:
•
Konfiguration (welche Figuren tauchen auf,
welche Merkmale zeichnen sie jeweils aus,
welche Figurengruppen lassen sich bilden,
welches Relationengefüge läßt sich feststellen?)
•
Selektion und Kombination von Geschehensmomenten (welches Geschehen ist relevant,
welches weniger relevant?)
Sprachliche Strukturen; rhetorische und stilistische Aspekte
Temporale Strukturen:
• Umstellung der Ereignisfolge
• Verhältnis von erzählter Zeit und Erzählzeit (vorher - gleichzeitig - nachher)
• ‘Erzählgeschwindigkeit’: zeitdehnend zeitdeckend - zeitraffend
Erzählweise (berichtend - szenisch)
wer erzählt?
•
•
•
•
•
•
•
Sprechsituation: Verhältnis von Sprechsituation und besprochener Situation
Sprecher (lassen sich biologische, soziale,
psychische, ethische Kriterien finden, gibt es
Informationen über Alter, Geschlecht, Bildung,
soziale Stellung, Beruf, Aussehen etc.?)
Adressaten / Verhältnis Sprecher-Adressat
• wohlwollendes oder skeptisches Publikum
• Lehrer-Schüler-Verhältnis
• Verteidigungsrede vor Gericht u.s.w.
gibt es Sprecher-/Adressatenwechsel?
gibt es verschiedene Erzählebenen (Rahmenund Binnenhandlung)? wie ist ihre Beziehung
zueinander?
Zeit und Ort der Äußerung
Verhältnis von Sprecher und Adressat
9
•
•
•
•
•
Verhältnis von Sprechsituation und besprochener Situation
•
vorher – nachher
• Anteil der Sprechsituation an der besprochenen Situation
Verhältnis von Sprecher und Besprochenem
• Beteiligtsein oder Neutralität; Grad der Informiertheit)
Motivation und Funktion des Sprechaktes
Modalitäten des Sprechaktes
• Medium, Texttyp, Kode
welche Größen des Sprechaktes werden fokussiert?
Die Frage, wer erzählt, kann von entscheidender
Bedeutung sein, da die ganze erzählte Welt sich im
Akt des Erzählens konstituiert. Man bezeichnet
diesen Konstitutionsprozeß auch als Diegese und
unterscheidet entsprechend die extradiegetische
Welt (die Welt, in der erzählt wird: Sprechsituation)
von der inner- oder intradiegetischen Welt (die
Welt, über die erzählt wird, oder genauer: die erzählt wird, d.h. im Akt des Erzählens entsteht).
Die Unterscheidung von diegetischer und
mimetischer Form der Darstellung, oder von
Diegesis und Mimesis geht zurück auf Platon (Der
Staat, 387-367 v. Chr.).
Mimesis: Illusion einer direkten, nicht durch einen
Erzähler vermittelten Teilhabe an einem Geschehen
(showing) (etwa im Drama, wo die Figuren sich in
ihrer Rede und ihren Handlungen selbst darzustellen scheinen)
Diegesis: Erzählakt und Erzählerfigur (telling) sind
eigenständig modelliert und bilden eine Art Filter,
durch den das dargestellte Geschehen wahrnehmbar
wird. Die Diegesis kann in einer anthropomorphen
Figur (einem Erzähler oder einer Erzählerin) konkretisiert sein, sie kann aber auch abstrakter angelegt sein. So spricht man beispielsweise auch beim
Film von der Kameraarbeit (Fokussierung, Kamerabewegungen, Einstellungsgrößen, Rahmungen)
und der Montage (Schnitt, Kombination) als diegetischer Funktion.
Unter Diegese wird auch die Gesamtheit des erzählten Geschehens, sowie weitergehend die im
Erzählakt konstituierte Welt (das räumliche und
zeitliche Universum, in dem die Figuren sich befinden, die semantischen Räume und abstrakten Konzepte) verstanden (Gerard Genette: Die Erzählung,
München: Fink 1998).
Entsprechend der Stellung zur diegetischen Welt
läßt sich die Perspektive bestimmen, aus der erzählt
wird:
Ist die Vermittlungsinstanz (Erzählfigur) Teil der
erzählten Welt, ist die Erzählung intradiegetisch;
steht sie dagegen außerhalb der erzählten Welt, ist
die Erzählung extradiegetisch. Sie kann damit aber
immer noch an der erzählten Geschichte selbst
teilhaben, etwa wenn auf ein vergangenes Geschehen, in das die Erzählfigur selbst involviert war,
zurückgeblickt wird (Odysseus auf dem Fest des
Alkinoos), in diesem Fall ist das Erzählen homodiegetisch. Hat die Erzählfigur dagegen keinen
Anteil am Erzählten, ist das Erzählen heterodiegetisch (der Sänger Demodokos, der von Odysseus
Kriegstaten berichtet).
Der Akt des Erzählens, die Diegese, begründet eine
eigene Welt, die diegetische Welt, in der grundsätzlich andere Gesetze gelten können als in der
Welt, in der erzählt wird. So ist etwa das Eintreten
wunderbarer Ereignisse, das Auftreten von Riesen
und Zwergen oder Ähnliches in einem Märchen
nicht besonders verwunderlich, in einer der 'normalen' Welt entsprechenden Welt, in der so ein
Märchen erzählt wird, wäre es dagegen sehr ungewöhnlich. Der von der Muse inspirierte Sänger der
Odyssee kann etwa von den Beratungen der Götter
berichten, der 'Ich'-Erzähler eines realistischen
Romans aus dem 19. Jahrhundert könnte das nicht
(oder nur um den Preis, auch ansonsten 'wunderlich'
zu wirken, d.h. seine Glaubwürdigkeit einzubüßen).
Die diegetische Welt kann also der 'normalen' Erfahrungswelt entsprechen, sie muß es aber nicht.
Daher besteht ein zentraler Schritt der Analyse
einer Erzählung darin, die Gesetze der erzählten
Welt zu rekonstruieren.
Nicht immer ist die 'sprechende' Instanz auf der
hierarchisch höchsten internen Sprechsituation als
Person konkretisiert, sie kann auch lediglich eine
abstrakte Instanz sein. Dennoch ist eine solche
Instanz prinzipiell vorhanden, sie definiert sich in
erster Linie über die Informationen, die über die
erzählte Welt zur Verfügung gestellt werden, also
über das Wissen, über das die vermittelnde Instanz
verfügt und über die Ereignisse, die in ihrem
'Blickfeld', ihrem Fokus, liegen; darüber hinaus
manifestiert sie sich in oft nur implizit greifbaren
Wertungen, (Vor-) Urteilen und Ähnlichem.
Eine alternative Formulierung für die
Vermittlungsfunktion des Erzählens bildet die
Beschreibung als Point of View oder
Fokalisierung. Grundsätzlich lassen sich drei
Möglichkeiten des Point of View bzw. der
Fokalisierung unterscheiden:
-
interner POV / interne Fokalisierung: das
'Blickfeld' ist auf die Perspektive einer Figur
eingeschränkt; dies ist häufig der Fall bei
"Ich"-Erzählungen, in denen eine Figur über
die eigenen Erfahrungen, über die eigene psychische Innenwelt und über das von ihr wahrnehmbare/wahrgenommene Geschehen berichtet; ebenfalls relativ häufig ist der Fall, daß
10
-
-
von einer Person in der grammatischen 3. Person ("er"/"sie") gesprochen wird, dennoch
aber eine ähnliche Beschränkung der Perspektive vorliegt wie im Fall der "Ich"-Erzählung
(personales Erzählen)
externer POV / externe Fokalsierung: beschränkt sich auch die Darstellung äußerlich
wahrnehmbaren (allgemein zugänglichen) Geschehens
polyperspektivischer POV / Null-Fokalisierung: es werden verschiedene Blickpunkte
eingenommen; im Extremfall ist das Blickfeld
der Erzählinstanz unbeschränkt, es ist kein
Filter/Fokus erkennbar, durch den Menge und
Art der verfügbaren Informationen eingeschränkt würden; das heißt zum Beispiel, daß
die Erzälhung Einblicke in die Gedankenwelt
bzw. das psychische 'Innenleben' verschiedener Figuren bietet, daß Geschehen präsentiert
wird, das an verschiedenen Orten gleichzeitig
stattfindet etc. (ein Standardfall einer Null-Fokalisierung ist das auktoriale Erzählen)
e) Franz Kafka: Das Urteil
Die Lektüre von Franz Kafkas Erzählung "Das
Urteil" geht aus von einer scheinbaren Inkonsistenz
in der Motivation der Geschehensfolge: was hat der
im ersten Teil der Erzählung entfaltete Konflikt
zwischen Georg Bendemann und dem nach Rußland ausgewanderten Freund mit dem Vater-SohnKonflikt des zweiten Teils zu tun? Eine mögliche
Verbindung ergibt sich, wenn man die Aufmerksamkeit auf die Frage richtet, aus welcher Perspektive das Geschehen eigentlich betrachtet wird.
Während zunächst ein externer POV etabliert zu
werden scheint, lassen sich weitere Inkonsistenzen
(Georg Bendemann nimmt seinen Vater, der ihm
wenige Augenblicke zuvor noch als "Riese" gegenübergestanden war, auf den Arm und trägt ihn ins
Bett) eher durch einen internen POV erklären. Die
Verlagerung auf der Ebene semantischer Räume
von 'außen' (dem Blick über Straße und Fluß in die
Ferne, dem Brief nach Rußland) nach 'innen' (dem
Weg in das dunkle Zimmer des Vaters, dessen
Blick von einer hohen Mauer begrenzt ist, und
weiter bis zum/ins Bett) entspricht somit der Verlagerung der Beobachterperspektive von einem externen zu einem internen POV. Dabei wird der
Vergleich der Lebensgeschichten Georgs und des
Freundes zu einer Abwägung über den richtigen
Weg, die sich unter der Perspektive eines nicht
ausgetragenen Vater-Sohn-Konflikt anders darstellt.
Dies lenkt die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung
der Erzählfunktion, die gleichsam einen Filter zwischen die Rezipienten und die erzählte Welt legt.
Entscheidend sind damit alle Frage, die z.B. Informiertheit, Wissensstand, Zuverlässigkeit, Glaubwürdigkeit, Absichten dieser Instanz betrifft (s.o
unter ‚wer erzählt).
Der Weg von außen nach innen: semantische
Räume und Bewegungsrichtungen in Das Urteil
11