Buch_Johnson 9.indb

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Buch_Johnson 9.indb
_Schmutztitel_
_vakat_
_Titelei_
_Impressum_
Inhalt
Vorwort
7
Norbert Mecklenburg

Barbara Scheuermann
55
Rainer Paasch-Beeck
9
Nachbarschaften mit Unterschieden.
Interkulturelles als soziographisches Erzählen
in Uwe Johnsons „Jahrestagen“
„Halt dir grade, Mensch!“
Uwe Johnson: Fremdbilder und Selbstbild.
Die Kesten-Affäre und ihre Folgen
„In Anklam aber empfängt mich die Hölle“.
39 versiegelte Todesfälle in den „Jahrestagen“
Jurij Sacharow
0
Carsten Gansel
29
Birgit Dahlke
57
Oliver Fritsch
69
Sieglinde Geisel
83
Uwe Johnson in der ehemaligen Sowjetunion –
kritische Bilanz einer Rezeptionsgeschichte
Von Kindheit, Pop und Faserland –
Junge deutsche Autoren und Uwe Johnson
zwischen Nähe und Distanz
Die beteiligte Chronistin –
Annett Gröschners Wahlverwandtschaft mit Uwe Johnson
Von der Gewilltheit des Zuhörers.
Zur Rolle des Lesers in Thorsten Krämers
„Neue Musik aus Japan“ und Uwe Johnsons „Zwei Ansichten“
„Fremd in der Fremde“.
Uwe Johnson und Christoph Brumme –
zwei Autoren, die vieles trennt und die vieles verbindet
5
Jana Hensel
9
Tobias Hülswitt
20
Das Land, in dem ich war.
Zur Konstruktion von Kindheit in Texten
junger ostdeutscher Autoren nach 989
Das alte Rom in seinen Provinzen.
Die junge deutsche Literatur kam aus dem Westen,
im Osten herrschte verschüchterte Stille
Dokumentation
Peter Kauffold
209
Walter Hinck
25
Jürgen Becker
22
Martin Wiebel
229
Chistoph Busch
235
Carsten Gansel
24
Rainer Paasch-Beeck
263
Von der Pflicht, wieder neu zu entdecken.
Festrede des Ministers für Bildung, Wissenschaft und Kultur
des Landes Mecklenburg-Vorpommern
Erinnerungen haften an den Landschaften.
Laudatio auf Jürgen Becker
Das Vergangene wieder vergegenwärtigen.
Dankesrede
Annäherung durch Entfernung.
Laudatio auf Christoph Busch und Peter Steinbach
Auf der Suche nach einer menschlichen Welt.
Dankesrede
„Aber der einzelne kommt aus seinen
historischen Zusammenhängen nicht heraus“.
Gespräch mit Jürgen Becker
„Nachbarschaft als Fremde“.
Eine Johnson-Tagung in Iserlohn
6
Vorwort
Jahrbücher und Schriftenreihen zu Autoren und literaturgeschichtlichen
Themen erfreuen sich zwar nach wie vor einer guten Konjunktur, aber oft
genug erweist sich früher oder später das Sujet als erschöpft. Diese Prognose
trifft auf Uwe Johnson trotz der inzwischen außerordentlich umfangreichen
Sekundärliteratur nicht zu. Das „Internationale Uwe-Johnson-Forum“ feiert
inzwischen sein fünfzehnjähriges Bestehen, der „Uwe-Johnson-Preis“ wurde
2003 zum fünften Mal verliehen, und auch die „Uwe-Johnson-Tage“ in Neubrandenburg finden seit mehr als zehn Jahren statt. Vor diesem Hintergrund
hält unser Periodicum an seinem Ziel fest, das schriftstellerische Werk Uwe
Johnsons mit wechselnden methodischen Zugriffen zu erschließen. Nach wie
vor gilt der Leitgedanke der Offenheit: Jüngeren Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftlern wird die Möglichkeit geboten, ihre Lese-Erfahrungen mit
Johnsons Erzähltexten und Korrespondenzen vorzustellen, neue Denkfiguren
zu erproben und Analyseansätze zu präsentieren. Dabei sollen die jeweiligen
Deutungsmuster Ausgangspunkte für weitere Diskussionen bilden – nicht
zuletzt unter den verschiedenen Generationen von Johnson-Lesern.
Norbert Mecklenburg geht in seinem umfassenden Beitrag interkulturellen
Aspekten im Werk von Uwe Johnson auf den Grund. Er zeigt, wie in den „Jahrestagen“ nicht zuletzt über die ‚kulturelle Verschiedenheit‘ von Menschen in ihren
Räumen erzählt wird. Das Erfahren von ‚Fremde‘ spielt folglich für Johnsons
Figuren eine zentrale Rolle, und insofern sieht Mecklenburg den Autor als einen
„Fachmann für Fremdheitsfragen“. Das Besondere etwa in „Jahrestage“ besteht
darin, dass politische, historische, soziale, regionale und kulturelle Unterschiede
einander nicht polarisierend entgegengestellt oder beliebig präsentiert werden,
vielmehr erfolgt im Erzählprozess eine Differenzierung.
Barbara Scheuermann untersucht am Bespiel der „Kesten-Äffäre“ von 96 und
ihrer späten Nachwirkungen, in welchem Maße für Uwe Johnson Prinzipien
von ‚Wahrhaftigkeit‘ und ‚Verläßlichkeit‘ in poetologischen wie persönlichen
Fragen bestimmend geblieben sind. Rainer Paasch-Beck wendet sich einem
Kapitel in Johnsons Biographie zu, zu dem bisher nur sehr wenige Fakten
vorliegen, den ‚Anklamer Jahren‘. Er zeigt, wie Johnson in seinem ‚Riesentext‘
„Jahrestage“ an einen der dunkelsten Punkte der Stadtgeschichte erinnert, die
7
Vorwort
Rolle des Wehrmachtsgefängnisses, in dem in der Zeit von 94 bis 945 etwa 39
Soldaten hingerichtet wurden. Jurij Sacharov resümiert die Rezeptionsspuren
Johnsons in der ehemaligen Sowjetunion. Er deckt dabei Klischee-Bildungen
und Abwehrhaltungen auf und zieht eine insgesamt kritische Bilanz. Mehrere
Beiträge – sie sind das Ergebnis eines Neubrandenburger Kolloquiums – fragen
danach, welche Bedeutung Uwe Johnson für die jüngste Autorengeneration
hat. Carsten Gansel steckt unter diesem Vorzeichen einen Rahmen ab und
setzt die am Ende der 90er Jahre im Zeichen von ‚Pop‘ angetretene neue Erzählergeneration ins Verhältnis zu Uwe Johnson. Dabei geht es ihm sowohl
um poetologische wie literarische Bezüge. Birgit Dahlke zeigt an ausgewählten
Texten von Anett Gröschner, wie die Autorin Uwe Johnson insofern nahe steht,
als auch sie am Ende der 90er Jahre erzählend eine Wirklichkeit wiederherstellt,
die bereits vergangen ist. Während Birgit Dahlke eine ,Wahlverwandtschaft‘
zwischen einer Autorin mit ostdeutscher Herkunft und Uwe Johnson nachweist, wendet sich Oliver Fritsch einem jungen Autor zu, der westdeutsch
sozialisiert ist. In einem Vergleich von Thorsten Krämers „Neue Musik aus
Japan“ und Johnsons „Zwei Ansichten“ zeigt er, inwieweit beide dem Leser
eine vergleichbare emanzipatorische Rolle zuweisen. Sieglinde Geisel geht
einmal mehr Uwe Johnsons „Mutmassungen über Jakob“ nach und setzt diesen
Roman in Beziehung zu Christoph Brummes Kindheitsgeschichte „Nichts als
das“. Vor diesem Hintergrund werden Gemeinsamkeiten wie Unterschiede der
Erzähltechniken deutlich. Nach der Konstruktion von Kindheit bei jungen
ostdeutschen Autoren (ab dem Jahr 989) fragt Jana Hensel, und sie weist an
Romanen von Julia Schoch, Antje Strubel, Falko Henning und Jochen Schmidt
nach, wie diese junge Generation zehn Jahre nach der Wende auf der Suche
nach dem ist, was ihre Geschichte einmal hätte sein können. Tobias Hülswitt,
einer jener jungen Autoren, die mit ihrem Romandebüt viel beachtet wurden,
geht in einem Essay der jungen deutschen Literatur nach, die zunächst – so
seine Diagnose – aus dem ‚Westen‘ kam.
Der Band wird mit der Dokumentation der Laudationes und der Dankesreden zum „Uwe-Johnson-Preis“ des Jahres 200 fortgesetzt. Die Reden auf den
Preisträger Jürgen Becker von Peter Kaufhold und Walter Hinck sind ebenso
nachzulesen wie die Dankesrede von Jürgen Becker. Walter Hinck spürt in
seinem Beitrag den Anfängen Jürgen Beckers nach und macht anschaulich, auf
welche Weise es bis zu dem Buch „Aus der Geschichte der Trennungen“ und
8
Internationales Uwe-Johnson-Forum – Band 9
damit sukzessive zu einer Annäherung an die zunächst abgewehrte romanhafte
Form gekommen ist. Becker betont in seiner Dankesrede die erzählerische Nähe
wie die Distanz zu Uwe Johnson und liefert so erkenntnisreiche Einblicke in
seine Poetologie. Die Laudatio von Martin Wiebel auf die beiden Träger des
„Uwe-Johnson-Sonderpreises“, Christoph Busch und Peter Steinbach, markiert deutlich, welchem Grundprinzip das Drehbuch der Verfilmung nach
Johnsons „Jahrestagen“ verpflichtet ist, nämlich einer ‚Annäherung durch
Entfernung‘. Busch stellt in seiner Dankesrede heraus, welche Entdeckung sie
bei ihrer Arbeit an den „Jahrestagen“ gemacht haben, dass Johnsons Text bei
aller Trauer auch noch etwas anderes wie einen ‚roten Faden‘ durchzieht: die
‚Hoffnung‘. Den Schlußteil des Bandes bildet ein Gespräch zwischen Carsten
Gansel und Jürgen Becker sowie eine Replik von Rainer Paasch-Beck zu einer
Uwe-Johnson-Tagung in Iserlohn.
Carsten Gansel
Nicolai Riedel
April 2004
9
Norbert Mecklenburg
Nachbarschaften mit Unterschieden
Interkulturelles als soziographisches Erzählen
in Uwe Johnsons „Jahrestagen“
Uwe Johnsons „Jahrestage“ sind bis zum Rand voll von Unterschieden aller
Art, auch von kulturellen. Die Hauptfigur ist eine Arbeitsmigrantin. Sie lebt als
Deutsche in der Weltmetropole New York. Sie ist in ihrem Leben über mehrere
Grenzen gegangen und blickt auf die Verschiedenheit ihrer Lebensgebiete
erzählend zurück. Diese Grundkonstellation macht den Roman für eine interkulturelle Betrachtung interessant.„Fremde und Fremderfahrung“, location und
dislocation spielen in den „Jahrestagen“ eine zentrale Rolle.1 Johnson erweist
sich hier als literarischer „Fachmann für Fremdheitsfragen“.2
Auch unter diesem Gesichtspunkt läßt sich sein Weg von den früheren Romanen zu dem Hauptwerk als „Ausdifferenzierung“3 bestimmen, nämlich
als Erweiterung des dargestellten Spektrums kultureller Differenzen und
Kontakte und als Verfeinerung von deren erzählerischer Gestaltung. Johnsons Weg zu einem ,interkulturellen Erzählen‘ verläuft, kurz skizziert, so: In
„Ingrid Babendererde“, der jugendlich-frühreifen Literarisierung schulischer,
regionaler und politischer Erfahrung, verbleibt das Themenfeld der Grenze
und der Unterschiede noch am Rande. In „Mutmassungen über Jakob“ kommt
Vielstimmigkeit als Technik und als Programm hinzu, ein Schreibansatz, mit
dem Differenzen aller Art differenziert gestaltet werden können. „Das dritte
Buch über Achim“ bezieht sich direkt auf „die Grenze: die Entfernung: den
Unterschied“, d.h. auf den in der deutschen Teilung sichtbaren politischen,
gesellschaftlichen, kulturellen Ost-West-Gegensatz. Dieses Konfliktfeld wird
in den „Jahrestagen“ aufgehoben, also zugleich bewahrt und relativiert durch
Einbettung in einen weiteren historisch-politischen Horizont.
So kann man die Entfaltung von Johnsons Erzählkunst als Ausdifferenzierung
des Erzählens von Differenzen beschreiben. Problematisch aber erschiene es
mir, Johnson vorrangig als Erzähler von kulturellen Differenzen, von Fremdheitsfragen nur in einem „kulturologischen Sinne“4 herauszustellen. Denn
Norbert Mecklenburg
die vielfältigen Fremdheitsaspekte in den „Jahrestagen“ lassen sich nicht alle
auf kulturelle Aspekte reduzieren. Dieses Erzählwerk ist unter interkultureller
Perspektive gerade deshalb interessant, weil es – in markantem Unterschied
zu einer postmodernen Denkmode – Kulturdifferenzen realistisch, d.h. nicht
anstelle von oder vorrangig vor anderen Unterschieden, sondern immer mit
ihnen zusammen darstellt.
Johnsons Erzählkunst in den „Jahrestagen“ orientiert sich zwar in hohem Maße
an Differenzen: politischen, historischen, sozialen, regionalen, kulturellen
usw. Das geschieht aber in der Weise, daß die Differenzen nicht polarisierend
festgeschrieben, vielmehr differenziert werden. Jedoch wird diese Differenzierung nicht ins Beliebige vorangetrieben; im Gegenzug zu ihr wird eine klare
Gewichtung unter den verschiedenen Differenzen vorgenommen. Dabei treten
nicht etwa die kulturellen, vielmehr die sozialen Unterschiede als die wichtigsten hervor. Diese These möchte ich im Folgenden so erläutern, daß ich einige
Komplexe und Kapitel der „Jahrestage“ exemplarisch untersuche. Ich habe
solche ausgewählt, die etwas mit einer Leitdifferenz des ganzen Romans zu
tun haben, der Differenz von Nachbarschaft und Fremde. Einige Bemerkungen
hierzu und ein paar Hinweise auf das breite Spektrum der Differenzen in den
„Jahrestagen“ seien vorangeschickt.
Bei Johnson wird in dem Wort ,Nachbarschaft‘ die räumliche immer von einer
sozialen Bedeutung überlagert, und zwar so, daß damit kein ausschließender
Gegensatz zu ,Fremde‘ und ,Fremdheit‘ ausgesprochen wird. Heinrich Cresspahl bleibt in Jerichow als Nachbar unter Nachbarn zeitlebens in gewisser
Weise dennoch ein Fremder. Gesine erfährt in New York, in der Fremde und
als Fremde, dennoch Nachbarschaft. Und das hat auch Uwe Johnson in seinem letzten Lebensjahrzehnt erfahren und in seinen „Insel-Geschichten“ zu
gestalten begonnen: ein Fremder als Nachbar unter Nachbarn.
Nachbarschaft ist zweifellos ein Schlüsselbegriff bei Johnson. Neben die neutrale Grundbedeutung ,menschliche Beziehungen im Nahbereich des sozialen
Raumes‘ tritt die von Nachbarlichkeit als Wertbegriff für eine positive Qualität
menschlicher Beziehungen. Zu ihr gehören Freundlichkeit und Vertrauen,
Anerkennung und zwanglose Verständigung, wechselseitige Hilfe und Solidarität. Auch wenn sich dabei regionalistische oder kommunitaristische Ansätze
aufdrängen, die gegen eine ,abstrakte Gesellschaft‘ die ,konkrete Gemeinschaft‘
auszuspielen lieben, läßt sich Johnsons Konzept der Nachbarlichkeit nicht in
solcher Weise einengen.
12
Nachbarschaften mit Unterschieden
Wie in diesen Ansätzen aber gewinnt auch in Johnsons Lesart der Begriff
der Nachbarschaft eine kritische und zugleich eine utopische Funktion. Die
Kritik richtet sich gegen Verhältnisse und Strukturen der Entfremdung, die
Nachbarschaft verhindern oder zerstören können. Sie berührt sich mit einer
Kultur- und Stadtkritik, welche die „kleinste Nachbarschaft“ als Modell einer
neuen Weltordnung denkt, die keine Machtordnung, sondern eine Lebensordnung wäre,5 und die ohne das „Lebensmuster“ der Nachbarschaft keine „reife
Menschlichkeit“ in der modernen Welt für möglich hält.6
Die Utopie der Nachbarschaft besteht in der Idee, daß alle Fremdheit aufgehoben und alle Menschen Nachbarn würden. Diese Utopie wird von Gesine am
Ende der „Jahrestage“ sehr bestimmt und sehr marxistisch (mit dem Begriff
„Gesetz“) gegen erfahrene und erwartbare Enttäuschung mit der Hoffnung
auf eine Zukunft beschworen, in der „Menschen von dunkler Hautfarbe mit
rosanen leben als Nachbarn und in Freundschaft unter einander“ (885).7 Damit
ist das Problemfeld umrissen, auf dem wir uns zusammen mit Uwe Johnson
bewegen, wenn wir nach seinem erzählerischen Umgang mit Unterschieden,
mit der Dialektik von Nachbarschaft und Fremde fragen.
Wie wird diese Dialektik nun in den „Jahrestagen“ entfaltet? Gesine Cresspahl,
die Zentralfigur des Werks, lebt als Deutsche in New York. Das ermöglicht
einen doppelt fremden Blick, auf Amerika ebenso wie zurück auf das Herkunftsland. Gesine ist eine Fremde in New York, aber das bereits sechs Jahre
lang. So hat sie in ihrem Wohngebiet, Upper West Side, am Riverside Drive,
eine gewisse Nachbarschaft erworben. Nicht zuletzt verdankt sie das Marie,
ihrer Tochter, die als kaum Vierjährige den Umzug von Düsseldorf nach New
York zunächst als Trauma, als Fremdheitsschock erlebt hat. Inzwischen aber, als
Zehn- und Elfjährige, hat sie sich in ihre amerikanische Umgebung erheblich
mehr integriert als ihre Mutter. Damit ist die interkulturelle Grunddifferenz
der „Jahrestage“ auf der Gegenwartsebene bereits von vornherein differenziert
durch die Generationsdifferenz; Die Fremdheit Gesines wird ständig begleitet
von der Nicht-Fremdheit Maries.
Auf der so skizzierten Grundstruktur der „Jahrestage“ erhebt sich ein weiter,
vieldimensionaler Erzählraum, der aus Spannungsfeldern in Gestalt von Differenzen aufgebaut ist. Die Differenzen Deutschland-USA, Europa-Amerika
werden synchron von dem politischen Ost-West-Konflikt überlagert, dem
historischen Systemgegensatz von Kapitalismus und Kommunismus. Darin eingelagert ist die – inzwischen gleichfalls historische – deutsch-deutsche Differenz,
13
Norbert Mecklenburg
die Gesine durch ihre Lebensgeschichte wie durch ihre Zeitgenossenschaft nach
New York mitbringt. Diese Differenz aber wird ihrerseits durch Historisierung
differenziert. Denn die Jerichow–, also die Vergangenheitsebene des Romans
ist von der diachronen Differenz zweier totalitärer politischer Systeme auf
deutschem Boden bestimmt, dem Nazi-Reich und der frühen DDR.
Der Roman entwirft Amerika- und Deutschlandbilder im Wechsel. Gesine
blickt mit fremden Augen auf die USA und zurück auf Deutschland, wobei
ihre Blicke auf Westdeutschland nicht nur fremd, sondern auch kalt und
abweisend wirken. Die differentielle Betrachtungsweise stellt unter dem
Aspekt des Totalitarismus das nationalsozialistische und das stalinistische
System hintereinander, unter dem Aspekt des Rassismus den Antisemitismus
in Deutschland und die Diskriminierung der Afro-Amerikaner – und auch
der Puertorikaner – durch die weiße Mittel- und Oberschicht in den USA.
Gelegentliche Seitenblicke auf die historische Vernichtung und gegenwärtige
Verachtung der Indianer ergänzen das Bild.
Der Befund, daß Kultur und Kulturdifferenzen in den „Jahrestagen“ eine geringe
Rolle spielen, wird gerade durch Episoden bestätigt, in denen sie eigentlich im
Zentrum stehen müßten: Episoden vom Typ ,Leben in einem fremden Land‘,
also Parallelgeschichten zu der Rahmengeschichte über Gesine in New York.
Dazu gehören die Kapitel über Lisbeth in Richmond, über Robert Papenbrock
in Süd- und Nordamerika – von allen Familienmitgliedern das weitestgereiste –,
über Slata, seine Beute-Geliebte, in Gneez. Dazu gehören aber auch: Gesine in
Westdeutschland, Jakob in Olmütz. (Heinrich Cresspahls diverse Auslandsaufenthalte8 bleiben in den „Jahrestagen“ im Erzählhintergrund).
Dazu kommen noch Episoden im Irrealis vom Typ »Was wäre gewesen, wenn«.
Das ist eine Erzähltechnik, die geradezu darauf angelegt ist, Differenzen
durchzuspielen: Wenn Heinrich und Lisbeth in Richmond geblieben wären…
(33ff.). Wenn Mr. Smith in Jerichow zu Besuch gekommen wäre … (652ff.).
Wenn Jerichow zu Westen gekommen wäre … (239ff.). In all diesen Episoden
über Unterschiede des Lebens in einem anderen Land sind die kulturellen
Unterschiede zwar realistischerweise mitgezeichnet, primär geht es jedoch
immer um anderes.
Schließlich wären solche Episoden von Interesse, in denen, im Gegenzug zur
desillusionierenden Bestandsaufnahme von Trennungen, von Strukturen der
Fremdheit, die Utopie der Nachbarlichkeit in verschiedenen Beleuchtungen
aufscheint. Außer dem zentralen, mehr und mehr ins Zeichen des Scheiterns
14
Nachbarschaften mit Unterschieden
tretenden Prager Entwurf sind das vor allem die Kapitel über den Schlegelhof
als Landkommune, über Gesines Ferienleben mit den Paepckes auf dem Fischland, über das von Marie erfundene Kinderland „Cydamonoe“. Auch Jakobs
Eisenbahneridylle in Olmütz gehört dazu. Und last not least das Mädchen Marjorie, eine bloße Blickbekanntschaft, eine Winterfee wie aus „Tausendundeiner
Nacht“, die schöne, zarte Erscheinung von Freundlichkeit mitten in New York,
jenseits oder diesseits der Trennung von Nachbarschaft und Fremde.
Nachbarn als Fremde, Fremde als Nachbarn – es ist schon das erste Kapitel,
eine Art von Präludium zu dem ganzen Roman, das neben mehreren anderen
deutlich auch dieses Thema anschlägt und es auf markante Weise exponiert.
„Jahrestage“, das Epos von Jerichow und New York, Vergangenheit und Gegenwart, beginnt mit der Gegenwart. Aber es beginnt nicht mit New York
selbst, sondern – nach einem suggestiven Strand- und Meeresbild – mit der
Beschreibung eines amerikanischen Dorfes, die in den Bericht über einen
zehntägigen Urlaub Gesines an der Küste von New Jersey eingebettet ist. Das
leitende Konzept dieser Beschreibung ist die Frage: Wie hält es die Gemeinde
dieses Dorfes mit Nachbarschaft, mit Fremden?
Obwohl Gesine allein angereist ist und auch zurückreist im Zug wie andere
Angestellte am Montagmorgen in der lonely crowd, „jeder allein mit seinem
Aktenkoffer“ (0), gibt es einen Hauch von Nachbarschaft: Am Strand kann sie
„benachbarten Gesprächen“ lauschen; das Haus, das ihr Freunde zur Verfügung
gestellt haben, hat ein „Nachbarhaus“ mit freundlichen, hilfsbereiten Nachbarn.
Dennoch bleibt sie eine von den „Fremden“, denen das Dorf Zutritt zum Strand
„verkauft“. Allenfalls sieht man sie als eine „Katholikin irischer Abstammung“
an, d.h. für WASPs (White Anglo-Saxon Protestants) eine Fremde mit dem
niedrigsten Fremdheitsgrad. (Warum? Vielleicht weil man sie nicht in der
Kirche gesehen hat und so weit wie Europa nicht denken kann).
Dieses Dorf ist keine Dorfgemeinschaft. Es zerfällt in drei Gruppen: die privilegierten Villenbesitzer, die zahlenden Fremden, die „dunkelhäutige Dienerschaft“. Diese hat eine eigene Kirche, d.h. es herrscht rigide Rassentrennung.
Bei den Immobilien wie am Strand sind Neger nicht zugelassen. „Auch Juden
sind hier nicht erwünscht“ (7). Das weckt in Gesine negative Erinnerungen an
ihre Kindheitswelt unterm Nationalsozialismus, wie der Meeresstrand positive
Ansichten weckt von damaligen Ferien. Aber: „Waren es Ferien?“ (9)
Der skeptische Doppelblick auf Gegenwart und Vergangenheit wirft Fragen auf,
die das ganze weitere Werk durchziehen: Wie läßt sich, kurz- oder längerfristig,
15
Norbert Mecklenburg
Nachbarschaft in einem Land erfahren, wo Tauschprinzip und Apartheid die
Menschen trennen? Wo soziales Fremdsein auf ökonomischer Entfremdung
basiert und Nachbarschaft durch Rassenvorurteile und Klassenunterschiede
eingeschränkt wird? Ist es in New York anders als in diesem anonymen Küstendorf von New Jersey? Ist es anders gewesen in der deutschen Herkunftswelt?
Das Kapitel, das die „Jahrestage“ eröffnet, evoziert die Opposition Dorf/Provinz
– Stadt/Metropole und unterläuft bzw. differenziert sie zugleich. Das geschieht
dadurch, daß es sie mit der von Nachbarlichkeit und Entfremdung nicht zusammenfallen läßt. Uwe Johnsons soziographisches Erzählen differenziert die
Differenzen. Es zeigt Nachbarschaften mit Unterschieden.
In den folgenden Abschnitten wird beobachtet, wie der Erzähler der „Jahrestage“
die Rolle eines New-York-Ethnologen spielt und dabei den ethnologischen
Blick scherzhaft dekonstruiert, um ernsthaft auf Ethnozentrismus und Rassenideologie in den USA hinzuweisen „Gelb in New York“. Als Soziograph eines
New Yorker Viertels präsentiert er sodann die harte Gegenrechnung zu dessen
trügerisch multikultureller Oberfläche: soziales Elend und Ausbeutung (Obere
Westseite: Multikultur und Slums). Eine Nachbarin, die zugleich eine Fremde
bleibt (Mrs. Ferwalter), und ein Nachbar, der gewaltsam zu einem Fremden
gemacht wird (Dr. Arthur Semig) – das sind die beiden zentralen Figuren des
Themenfeldes der Shoah in den „Jahrestagen“, an dem sich Reichweite und
Grenze eines interkulturellen Erzählens messen lassen. Einer interkulturellen
Idylle, die aber von gleichen und verschiedenen politischen Verhältnissen
überschattet wird, widmet sich der Schlußabschnitt (Jakob in Olmütz). Jeder
Abschnitt nimmt die Leitthemen ,Nachbarschaft/Fremde‘ und ,Differenzierung
der Differenzen‘ auf, hält sich dabei jedoch auch für den jeweiligen ,Eigensinn‘
der herangezogenen „Jahrestage“-Kapitel offen.
16
Nachbarschaften mit Unterschieden
Gelb in New York
Natürlich sind die „Jahrestage“ voll von „interkulturellen“ Beobachtungen
darüber, was in New York, in Amerika anders ist: von der Art des Zeitunglesens
(4) oder des Kopfsprungs (487) über die „Pantomimen“ (54) des Begrüßens
(865, 734) und Verabredens bis zu Festbräuchen und Erziehungsstilen. Jedoch
aufs Ganze gesehen spricht Uwe Johnson kulturelle Differenzen eher beiläufig
an und verwendet die Sprache der Ethnologie nur ironisch, parodistisch, satirisch, indem er von kommunistischen „Häuptlingen“ (54) spricht, sei es – mit
sarkastischer „Faust“-Anspielung – von des amerikanischen „Landes Brauch“
des Erschießens (522), sei es von der „mecklenburgischen Seele“ – womit die
bornierte Provinzbourgeoisie gemeint ist. Aber hat er nicht wenigstens einmal
doch den „Kulturologen“ gespielt? Ist nicht das Kapitel über „Gelb in New York“
ein Beitrag zur Ethnologie und Kultursemiotik der amerikanischen Metropole?
Ist es einer, dann ein ziemlich dekonstruktiver.
Das Kapitel war ursprünglich ein 966 auf Englisch verfaßter Brief „A letter
from abroad“, der auf Deutsch 967 in Enzensbergers „Kursbuch“ erschienen ist, unter dem Titel „Ein Brief aus New York“ und mit dem Briefschluß
„Schöne Grüße aus New York. Uwe Johnson“.9 Ein Brief Johnsons an seinen
Studienfreund Manfred Bierwisch vom 7.0.966 zeigt, daß der Autor sich
den Ostberliner Sprachwissenschaftler als idealen Adressaten gedacht hat.10
Tatsächlich mischen sich mit der Beschreibung gelber Objekte in New York
Betrachtungen zu dem Wort „gelb“ bzw. „yellow“ und seinen Verwendungen
im amerikanischen Englisch, wie man sie im „Webster“ verzeichnet findet. So
gehen Stadt-Ethnographie und Kultursemiotik ineinander über: Der Stellenwert
der Farbe Gelb wird in sprachlichen und anderen kulturellen Zeichensystemen
beobachtet. Für die „Jahrestage“ hat Johnson – außer kleineren Veränderungen, meist von ungezwungenerem in mehr gravitätischen Stil – das Brief-„Du“
durch ein „Sie“ ersetzt. So ergibt sich ein Text, der mit „wissen Sie“, „sehen Sie“,
„wohin Sie blicken“, „was Sie kennen“ wie ein belehrender Vortrag in der Art
eines Fremdenführers klingt.
Es ist ein Vortrag „über einen Unterschied“, über das, „was hier anders ist in
New York im Staate New York“: „Gelb, zum Beispiel“ (690). Gelb sind im New
Yorker Stadtbild und Alltag andere Gegenstände als, zum Beispiel, in Berlin.
Und „yellow“ kommt im Amerikanischen in anderen Redewendungen vor
als z.B. im Deutschen „gelb“. Das ist nicht anders zu erwarten, aber was das
Merkwürdige ist: „Gelb ist hier anderswo“, d.h. obwohl man nirgendwo so viel
17
Norbert Mecklenburg
Gelb sehen kann wie in dieser Stadt, assoziieren deren Bewohner mit dieser
Farbe andere Orte und andere Menschen. Was es mit diesem Paradox auf sich
hat, klärt sich erst am Ende des Kapitels.
Dieses besteht aus einer einzigen, in typisch topischer Manier gebotenen Reihung
von diversen Beispielen für Gelb in New York. Diese lineare, additive Reihung
von scheinbar Gleichem, nämlich Gelbem, verdeckt, daß da sehr Heterogenes
auf verschiedenen Ebenen angesprochen wird. Auf der ersten Ebene, welche
die Hauptmasse der Beispiele bietet, vermittelt der New-York-Ethnologe interkulturelles Wissen über Gegenstände der Alltagswelt, des Straßenbildes und
Verkehrswesens, die Gelb großenteils als Signal- oder Symbolfarbe tragen. Das
ergibt so etwas wie ein Rasterbild von New York, ein verfremdetes Porträt der
Stadt in Gelb. Es fragt sich allerdings, was man weiß, wenn man das alles weiß.
Heraus kommt letztlich nur: Einiges ist gelb, anders als anderswo, anderes ist gelb,
ebenso wie anderswo. (Wenn bei den gelben Verkehrsampeln angemerkt ist, sie
seien „des Sprechens unkundig“ (69), dann ist wohl nicht, wie der „Jahrestage“Kommentar meint, an „akustische Signale“ anderer New Yorker Ampeln zu denken,11 vielmehr an den Unterschied zu Ampeln in der DDR, deren Nichtbeachten
den Lautspecherverweis eines Verkehrspolizisten nach sich ziehen konnte, wie
es der Westdeutsche Karsch 960 mit Befremden wahrnimmt12).
Auf einer zweiten Ebene wird der Sprachgebrauch beobachtet, die Idiomatik
des Wortes „yellow“. Doch auch das ist dadurch verfremdet, daß die entsprechenden Ausdrücke und Wendungen auf Deutsch erscheinen, manchmal
obendrein mit drastisch bis grotesk verdeutlichenden Zusätzen.
„Als ein Gelber gilt hier ein Eifersüchtiger, ein Neidhammel, ein Melancholiker,
ein Verräter […]. Gelbe Leute sind hier welche zum Verachten, gelb heißen
die Boulevardblätter so [im Originaltext wohl fehlerhaft: wo] wie die gelbe
Bildzeitung […]. Hier glaubt die Sprache, daß manche Eingeborene im Südwesten des Landes gelbe Bäuche haben, gelb wie Schwefel.“ (69)
Gemeint ist hier der abfällige Ausdruck „Yellowbelly“ für Mexikaner.
Dieses Beispiel gehört auch schon zur dritten Ebene des Textes, auf welcher
der „kulturologische“ Diskurs über Gelb in vielfältiger Weise gebrochen und
unterminiert wird. Denn der Vergleich mit Schwefel diffamiert den schon als
„Eingeborenen“ diskriminierten Mexikaner als Teufel. Was die Sprache hier
„glaubt“, wird als Verhexung durch Sprache bloßgestellt. Die Betrachtung über
Sprache und Weltbild der New Yorker entpuppt sich als Ideologiekritik an
Rassismus. Dieser ist es, der am Ende herauskommt, wenn sich das Paradox
18
Nachbarschaften mit Unterschieden
„Gelb ist hier anderswo“ auflöst. Es fängt harmlos an: Unter die gelben Dinge,
die es nicht nur in New York, sondern überall gibt, wie Eigelb, Gelbsucht und
Butterblumen, sind auch die „gelben“ Mongolen geschmuggelt. Später folgen
die „gelbbäuchigen“ Mexikaner, und schließlich treten die Vietnamesen mit
ihrer „gelben Hautfarbe“ auf.
Auf die antwortlose Frage, was es mit dem vielen Gelb auf sich hat, geben
zum Schluß die „Autoritäten“ ihren Bescheid – also Stimmen, die Michail
Bachtin unter dem Begriff des ,autoritären Wortes‘ faßt. Eine solche läßt sich
so vernehmen: „Wir alle können von Glück reden, daß wir diese Bauernbande
in Viet Nam oder wie das da genannt wird wenigstens aus anderen Gründen
umbringen als wegen ihrer gelben Hautfarbe.“ Das zitiert unser Kulturologe
und fügt in scheinbar gleichem Ton hinzu:
„Schließlich werden Sie zugeben, daß in New York oder in einer beliebigen
anderen Stadt des Landes niemand umgebracht wird, weil er eine gelbe Haut
am Leibe hat. Erstens geht es da um dunklere Schattierungen. Zum anderen
ist dies ein freies Land. Sie müssen die Sache mehr gelb sehen.“ (693)
Der alberne, verulkende letzte Satz läßt ebenso wie der zynische Hinweis auf
„dunklere Schattierungen“ an dieser Passage markant hervortreten, was das
ganze Kapitel als einen parodistisch-satirischen „Jux“ charakterisiert: ein karnevalistisches Verfahren, das in Scherz und Ernst nicht nur das „autoritäre Wort“
eines amerikanischen Alltagsrassismus und Kriegschauvinismus, sondern auch
die Expertenstimme des Kulturanthropologen bloßstellt, in der „jene Leute“
karikiert sind, die „nach ganz kurzer Zeit Aufenthalts in einer fremden Stadt
genau wissen, wo es lang geht und warum alles so funktioniert“.13 Das Sprichwort
„Wer viel fragt, kriegt viel Antwort“ aber, welches das ganze Kapitel einrahmt
(690, 693), verweist auf die Unverläßlichkeit dieser interkulturellen Belehrung
über Gelb in New York: Es gibt ein paar Sachen, „die stimmen, und ein paar
Sachen, die nicht stimmen“. Das Konstruieren von Differenzen zwischen „uns“
und „ihnen“, Eigenem und Fremdem, hier aufgebaut auf der Farbsemantik und
dem Hautfarben-Paradigma, wird dekonstruiert: Der kulturologische Diskurs
zerfällt, und zum Vorschein kommen Ethnozentrismus und Rassenideologie.
Das im Text präsentierte autoritäre Wort vertritt eine Denk- und Redeweise,
wie sie real z.B. der amerikanische Außenminister Dean Rusk artikuliert hat,
als er 967 in Hinblick auf die Vietnamesen vor der „Gelben Gefahr“ warnte.14
Der deutsche Leser mag sich daran erinnern, daß auch in seinem Land die
Farbe Gelb dazu gedient hat, andere zu diffamieren und umzubringen, von
der „Gelben Gefahr“15 bis zum „Gelben Stern“.
19
Norbert Mecklenburg
In San Francisco aber fragte eine junge amerikanische Johnsonforscherin den
Autor, ob er nicht so, wie er das Andersartige von New York auf einen charakteristischen Begriff, nämlich Gelb, gebracht habe, vielleicht einen solchen
treffenden Begriff auch für San Francisco nennen könne. Johnson mußte sie
doppelt enttäuschen: indem er auf den Scherzcharakter seines Textes16 hinwies
und indem er ernsthaft hinzufügte: „Ich würde mich mitnichten unterfangen,
eine Stadt in einem einzigen Symbol unterzubringen, das wäre wohl ziemlich
eng für all die Leute, die darin wohnen.“17
Obere Westseite: Multikultur und Slums
Uwe Johnson hat Gesine einen Blick auf Amerika und New York verliehen,
der bei aller Offenheit für eine Fülle konkreter Beobachtungen letztlich immer wieder auf die Doppeldiagnose Kapitalismus und Rassismus hinausläuft.
Dennoch hat er sie keineswegs ohne jede Wahrnehmung der multiethnischen
Seite der von zahlreichen Einwanderungsgruppen besiedelten Weltmetropole
gelassen. Aber mit einem tiefergehenden Interesse für Multikulturelles, für die
Kulturseite dieser Heterogenität – wie für Kultur überhaupt18 – hat er sie nicht
ausgestattet, schon gar nicht mit postmoderner Schwärmerei für kulturelle
Vielfalt oder Hybridität.
Exemplarisch dafür ist Gesines dankbares, aber keineswegs euphorisches
Bekenntnis zur Oberen Westseite von Manhattan als ihrem augenblicklichen
Lebensgebiet. Zusätzlich macht ihr Blick über den Atlantik, auf Westdeutschland,
wo man den „allbekannten Antifaschisten Willy Brandt“ als Außenminister
unter einem ehemaligen Nazi als Bundeskanzler sehen kann, den „hiesigen
Aufenthalt angenehm“ (73). Jedoch nicht die USA, das Viertel ist „unsere Gegend“ (76) geworden durch erfahrene Freundlichkeit (73). Man verhält sich
hier zu den Cresspahls wie zu „Bekannten“, ja wie zu „Nachbarn“. Das bewirkt
geradezu eine Einbildung von „Heimat“.
Beim Spazierengehen, beim Einkaufen erscheint der Broadway-Abschnitt der
Upper West Side als „unser Broadway“, als der Marktplatz „unseres Viertels“.
Dieser Markt wartet auf mit „japanischem Bier, Kamtschatkakrebsen, irischem
Honig, düsseldorfer Senf oder dresdner Stollen“. Er bietet chinesische, israelische, indische, italienische Gaststätten. Mit Schlachter Schustek, der noch
etwas westfälisches Deutsch kann wie seine puertorikanischen Gehilfen genug
Jiddisch für die Kunden, tauschen Gesine und Marie gern Freundlichkeiten,
20
Nachbarschaften mit Unterschieden
mag das auch – wie Gesine ernüchternd hinzufügt – ein „Schmiermittel der
Warengesellschaft“ sein (75). In dem „Guten Eßgeschäft“ werden sie angesprochen als „unentbehrliche, zu lange schon entbehrte Nachbarn“, mag das
auch – wie Gesines ehemalige Mitschüler in der DDR, etwas grobschlächtiger
als sie, sagen würden – den „Kapitalismus perpetuieren“ (76).
Von einigen aufhellenden Akzenten abgesehen, wird in den „Jahrestagen“ ein
distanziertes, skeptisches Bild New Yorker Multikulturalität geboten: durch
einen historischen Blick auf die Besiedlungsfolge (52, 842f.) und durch einen
soziologischen Blick auf das Viertel mit seinen jeweils „für sich“ bleibenden
Gruppen (574ff., 88ff.). Als Marie sich „verkuckt“ an das multikulturelle Straßenbild von San Francisco, an die „einverstandene Art“, mit der „die gelben
und schwarzen und rosanen Leute“ miteinander und mit Fremden umgehen
„in einer Kameradschaft“, da dämpft Gesine diesen Anhauch von Utopie mit
einem skeptischen Hinweis auf das ungenaue „Auge des Durchreisenden“
(846). Ihr selbst bietet das multikulturelle Straßenbild von Uptown Broadway
letztlich nur einen Schein von Nachbarlichkeit.
Was Gesine von der Upper West Side wahrnimmt und mitteilt, beschränkt
sich nun aber keineswegs auf ihre persönlichen Lebensumstände oder gar
auf ihr Heimatdefizit. Ihre über mehrere „Jahrestage“-Kapitel verstreuten
Beschreibungen dieses Teils von New York haben vielmehr einen relativ selbständigen soziographischen Sachgehalt. Das liegt vor allem daran, daß ihr
der Autor hier seine eigenen Ansichten von New York zugeschrieben hat, die
er bereits ein Jahr vor Erscheinen des ersten Bandes veröffentlicht hatte. Sein
essayistisches Stadtporträt „Ein Teil von New York“19 entstand, wie Johnsons
Tagebuch ausweist,20 im Januar 968, also unmittelbar vor Beginn der ersten,
der New Yorker Phase des Schreibens an den „Jahrestagen“. Der Autor fertigte
es zweifellos als eine Materialgrundlage für diese an (BU 424), aber zugleich
auch für den dokumentarisch-experimentellen New York-Film „Summer in
the City“ von Michael Blackwood, für den Johnson das Drehbuch schrieb und
als Off-Sprecher mitwirkte.
Einbringen konnte er eigene mehrmonatige Erfahrung mit der Oberen Westseite, dazu – wie üblich – breitgestreute Recherchen zu New York. Für sein Bild
von diesem Stadtteil war vor allem die Lektüre eines Buches wichtig: Joseph P.
Lyfords „The Airtight Cage“, das Gesine selbst einmal zur Lektüre empfiehlt
(88). Lyford verbindet in seiner umfangreichen Studie von 966 über New
Yorks West Side und ihre Slums21 schriftstellerisch eindrucksvoll seine eigene
21
Norbert Mecklenburg
langjährige Erfahrung als Bewohner des Viertels mit ausgedehnten soziographischen Ermittlungen als teilnehmender Beobachter, anschauliche Reportagen
mit einer die Sozialstrukturen aufdeckenden Analyse. Kurz gesagt: Lyford bot
journalistisch, was Johnson episch vorhatte. Darum lehnt sich seine Darstellung in Gesamtbild und Details sehr stark an Lyfords Buch an. Aus ihm hat
er, wie sich nachweisen läßt, viel Wissen und Anschauungsmaterial für Essay
und Roman übernommen.22
Das betrifft Daten zu Bebauung und Besiedlungsfolge – WASPs, Iren, Juden,
Neger, Puertorikaner (842f.: L 4f.) –, Immigration und Slumbildung, die Johnson
vor allem dem ersten Kapitel bei Lyford, betitelt „The Area“ (L -6), entnommen hat. Ein paar Beispiele: Sprachenvielfalt auf dem Broadway (27, T 50: L 3),
Inseln von gehobenem Wohnkomfort in der Gegend Central Park West (574:
L ), die im Norden der area expandierende Columbia-Universität (573: L 2),
Maximierung von Mieteinnahmen durch mehrfache Wohnungsteilungen (843:
L 33). Viele sprechende, symptomatische Details stammen aus Lyford. So die
Bezeichnung „Boulevard“ für den Broadway der Pferdekutschenzeit (97: L 2)
oder die ironische Bezeichnung „Luftpost“ für herabgeworfenen Müll, welche
die „Tante Times“ nicht kennt oder nicht in den Mund nehmen mag (27, 846);
Lyford widmet solcher „Airmail“ einen langen Abschnitt (L 24-28).
Auch generelle Einschätzungen Lyfords finden bei Johnson ein Echo: Bestimmung des Slums als einer „American institution“ (L XX), Kritik an rassistischen
,Erklärungen‘ des Slum-Elends, Skepsis gegenüber liberaler Ideologie und
revolutionärer Euphorie, die Konservatismus, Fatalismus und Anpasssungstendenz der Neger des Viertels ignorieren, welche nach „mehr Polizei“ verlangen
(845: L XXII), „futility of individual protest“ (L 302), Kennzeichnung der area
als bloßes Nebeneinander (576), als „conglomeration“ anstelle von „community“ oder „neighborhood“ (L ), Lyfords kritischen Leitbegriffen. In seinem
Schlußplädoyer beklagt Lyford eine allgemeine „auto-anesthesia“ gegenüber
der sozialen Misere und der Destruktivität des Gesellschaftssystems, das sie
erzeugt (L 346f.). Das ist genau jener Verlust einer „Empfindlichkeit gegen
Schmerz“, den auch Gesine fürchtet (828).
Johnsons Essay, für den Lyford die Hauptquelle darstellt, besteht thematisch
aus drei Teilen: Er behandelt erstens das gesamte Gebiet der Upper West Side
als Stadtteil in Manhattan, vor allem dabei die Straße Riverside Drive und den
Riverside Park; zweitens die Slums dieses Stadtteils, erst allgemein soziographisch, dann speziell das Konfliktfeld um Sanierungsmaßnahmen; drittens den
22
Nachbarschaften mit Unterschieden
Broadway-Abschnitt der Upper West Side. Dieser Einteilung entsprechend ist
der Essay stückweise, stilistisch überarbeitet und teilweise ergänzt, in verschiedene „Jahrestage“-Kapitel eingegangen23 – ausgenommen der Abschnitt über
Sanierung (T 45-48); darauf werde ich zurückkommen.
Aus einem genauen Vergleich ergeben sich vier Bearbeitungstendenzen: Erstens werden die Essaystücke episch integriert. Die Reporterstimme Johnsons
wird überlagert von der Figurenstimme Gesines. Was im Essay „konservative
Weiße“ über die Slums sagen (T 43), ist im Roman Gesines Freundin Ginny
Carpenter in den Mund gelegt (844). Zweitens: „Der offensichtliche Unterschied
ist der zwischen Reichtum und Armut, dem angenehmen Leben und einem
Leben in Schwierigkeiten“ (T 36). Diese soziale Sicht und gesellschaftskritische
Bewertung, wie sie den ganzen Essay prägen, werden im Roman durchgehend
übernommen, aber oft noch schärfer akzentuiert. Drittens tritt jedoch im
Stadtteilbild der „Jahrestage“ gegenüber dem des Essays die politische Dimension hinter der sozialen zurück. Denn Johnson hat diejenigen Passagen nicht
übernommen, in denen Kommunalpolitik als Sanierungsprogramm, Protest
und – nach Gruppen unterschiedene – Gegenwehr angesprochen wird. Das
bedeutet einen Verlust an Differenzierung.
Viertens tritt im Roman auch die kulturelle Dimension der Stadtteilbeschreibung
hinter der sozialen zurück. Das betrifft z.B. Passagen über Verschiedenheit und
Abgrenzung der Gruppen voneinander. Im Essay wird der Zusammenhalt der
Puertorikaner durch „Kultur“, „Familie“ und „Religion“ herausgestellt (T 45);
in den Roman hat dieser Passus keinen Eingang gefunden. Im Essay heißt es:
„alle Gruppen halten fest an ihrer Sprache, an ihrer Kultur“ (36); im Roman wird
die Kultur bezeichnenderweise weggelassen (574). Im Essay werden Heterogenität und Instabilität des Viertels in Anlehnung an Lyford kultursoziologisch
bestimmt und negativ bewertet: es ist keine „Heimat“, keine „Gemeinde“, es
hat keine „Identität“. Was früher einmal ein Dorf war und Bloomingdale, Tal
der Blumen, hieß, nennen die Bewohner jetzt bloß „area“, als wäre es „nur eine
zufällige Ansammlung von Häusern, ein zufälliges Nebeneinander von Leuten,
keine Nachbarschaft, eine Gegend aus Unterschieden“ (T 36). Im Roman fällt
diese kultursoziologische Bewertung durch den Autor weg (576). Auch auf die
Formel „Gegend aus Unterschieden“, die im Essay negativ gemeint ist, als erfordere „Nachbarschaft“ Homogenität und schlösse Unterschiede aus, verzichtet
der Roman. Dies ist zweifellos ein Gewinn an Differenzierung.
23
Norbert Mecklenburg
Man sieht, Gesines Erfahrung entspricht kaum dem salad bowl-, geschweige
denn dem melting pot-Modell amerikanischer Multikulturalität. Durchschlagend ist in ihren Augen letztlich immer die soziale Seite der Medaille, und das
heißt: Diskriminierung, Elend, Ausbeutung. In historischer Hinsicht wird das
gleiche Problemfeld an den Indianern entfaltet. „Was Himmler mit den Juden
gemacht hat, haben wir im Effekt mit den Indianern angestellt“ (85). Wenn
zu dieser Äußerung von Gesines amerikanischem Freund Jim O’Driscoll eine
Variante in dem Party-Gerede bei der Gräfin Seydlitz zu vernehmen ist (876),
dann ist damit zwar eine leicht ironische Distanzierung gegenüber solch einem
selbstkritischen Verbalradikalismus angedeutet, aber zugleich das harte Faktum
des Völkermords benannt, das aus der neuzeitlichen europäisch-amerikanischen Geschichte nicht weggedacht werden kann. An die vertriebenen und
vernichteten Altamerikaner erinnern auf Ausflügen in dem ihnen gestohlenen
Land topographische Namen wie „Raritan-Bucht“ (225). An sie erinnert der
Sandsteinfries an dem New Yorker Haus, in dem Gesine und Marie wohnen
(549). Marie aber hat den Alltagsrassismus der weißen Mittelschicht gegenüber
den übriggebliebenen Indianern so weit verinnerlicht, daß sie sie „vanishing
Americans“ nennt, „als sei es in der Ordnung, daß die ihrer eigenen Hautfarbe
überlebten“ (55).
Hinter den Rassenkonflikten stehen Klassenkonflikte. Diese Sicht zieht sich,
mit unzähligen Einzelstellen und zahlreichen Stimmen, als Leitthema durch
das ganze Werk. Sie wird in reportageartigen Teilen, z.B. in den Slum-Abschnitten, ebenso deutlich wie in erzählenden Teilen, z.B. in der Edmondo- und der
Francine-Geschichte. Es sind zwei Geschichten, in denen Freundschaften nicht
an Kulturdifferenz, vielmehr am sozialen Unterschied scheitern, genauer: am
Elend des Slums, gegen das individuelle private Aktionen nicht ankommen
können. Marie hat als Vierjährige Edmondo Barrios zum ersten amerikanischen Freund gehabt und an ihm die Trennung zwischen „Gefärbten“ und
Rosahäutigen gelernt (435). So lernte sie auch das „Ghetto“ von Ost-Harlem,
den Slum, kennen – ein Schock für sie (436ff.). Von sozialem Elend und psychosomatischer Krankheit gezeichnet, kam er in eine Heilanstalt, wo Marie
ihn einmal besuchte. „Dann konnte man ihn nicht mehr besuchen“ (439).
Ebenso traurig verläuft die Freundschaft mit Maries Klassenkameradin Francine,
der „Alibinegerin“ aus ganz ähnlichen Verhältnissen wie Edmondo. Es fängt
schon schwierig an, denn die Arbeit des Freundlichseins muß Marie gegen ihre
eigenen, von der übrigen Klasse geteilten Rassenvorurteile leisten (28ff.). Es
spitzt sich zu, als die bürgerlichen Cresspahls das Mädchen aus dem Slum in
24
Nachbarschaften mit Unterschieden
ihre Wohnung aufnehmen: zuerst Schwierigkeiten des Umgangs miteinander,
dann deren behutsame Überwindung. Doch gerade als sich Francine „fast zu
Hause“ fühlt und sichtlich aufblüht, wird sie – nach einem typisch Johnsonschen
Erzählmuster – von der Fürsorge abgeholt. Der Entwurf einer Nachbarschaft
und Freundschaft gegen die Rassentrennung ist gescheitert. Die Freundinnen
verfehlen sich auf der Suche nacheinander. Schließlich verliert Marie Francine aus den Augen, und Gesine resümiert traurig: sie „mag gestorben sein; ist
verloren“ (885).
Nicht zu finden ist sie jedenfalls von Mutter und Tochter Cresspahl bei ihrer
Suchaktion in den Slums der Oberen Westseite. Dafür erhalten sie – und mit
ihnen der Leser im Kapitel vom 9. März – ein genaues Bild dieses Teils ihrer
Nachbarschaft (84-847), der ihnen, obwohl bloß „um die Ecke“ gelegen, so
fremd ist und bleibt wie eine „ausländische Gegend“ (842). So werden sie zu
Zeugen eines gesellschaftlichen Verbrechens: „Wir haben es gesehen“ (847). So
hat Johnson mit der Francine-Geschichte, deren Schluß den Kapitelrahmen
bildet, eine Reportage über die Slums auf lockere Weise episch verflochten.
Diese Reportage ist so angelegt, daß die sichtbaren Gegebenheiten des Slums
auf die ihnen zugrunde liegenden gesellschaftlichen, ökonomischen Ursachen
und Strukturen hin durchleuchtet werden.
Der Slum – so läßt sich das Grundargument zusammenfassen – ist ein ehemals
bürgerliches Wohnviertel für „Weiße“, das im Lauf der Besiedlung durch andere
ethnische Gruppen immer mehr herunterkommt, nicht durch deren Verhalten,
vielmehr durch „Erwerb und Eigentum“ (843), d.h. durch Profitinteresse und
Ausbeutung. Lyford schreibt: „The slum itself is the product of an economic
conspiracy“ (L 300); bei Uwe Johnson heißt es: „Erwerb und Eigentum stellen
den Slum erst einmal her“ (843). Die sozialkritische Schärfe dieser Diagnose
gipfelt in dem Satz: „Der Slum ist ein Gefängnis, in das die Gesellschaft jene
deportiert, die sie selbst verstümmelt hat“ (845). Dem „Gefangenen des Slum“
ist der Ausweg in ein lebenswertes Leben versperrt (846). Das entspricht Lyfords Vergleichen des Slums mit einem „concentration camp“ (L XXII) und
mit einem luftdichten Käfig, einem „airtight cage of poverty, frustration, and
fear“, in das die Bewohner „imprisoned“ sind (L 34).
Zur Veranschaulichung hat Johnson noch drastischeres Belegmaterial aus einer
sehr guten Reportage über die Slums des Stadtteils Brownsville in der „New
York Times“ vom 7. März 968 – also zwei Tage vor dem Slumming-Ausflug
der Cresspahls – hinzugefügt:24 Da stiehlt man aus manchen Häusern die
Wasserleitungen, aber die Diebe sind „nice“ und stellen vorher den Haupthahn
25
Norbert Mecklenburg
ab (846). Da ist von Kindern die Rede, die sich zu Hause nicht richtig waschen
können und sich darum schämen, in die Schule zu gehen: „the teachers start
fussing at them“ (847). Da lockt ein Kind mit „Here, kitty, here, kitty“ eine katzengroße Ratte (843). Und Bürgermeister Lindsay nennt in seinen „speeches“
Brownsville „Bombsville“, weil von den „Slumghettos“ angeblich Aufstand und
Terror drohen (847).
Da die Slums überwiegend von den sozial am tiefsten Stehenden, Negern, bewohnt werden, ist das hier und anderswo in den „Jahrestagen“ vermittelte Bild
des Slums in einen Diskurs über Rassen und ihre angebliche Verschiedenheit
eingebettet. Dieser Diskurs ist – wenigstens an der Textoberfläche – vielstimmig. Schon Marie und Gesine stellen hier zwei unterschiedliche Stimmen dar.
Marie „möchte nirgends leben, nur in New York“ (259). Ihre amerikanische
Sozialisation schließt frühe Übernahme des alltäglichen Rassismus der weißen
Mittelschicht in ihr Denken ein. Für dieses Denken ist ein Satz wie der folgende
typisch und wird von Gesine als ein solcher herausgestellt: „Neger haben auch
einen anderen Körperbau als wir“ (22). Diesen Rassismus, den Marie jedoch mit
zunehmend schlechtem Gewissen artikuliert, hat sie von ihrer Nachbarschaft
bezogen, von einem Dr. Brewster – „alle diese Betrunkenen und Neger und
Ritualmorde“ () – oder von der Stiefmutter ihrer Freundin Marcia.
Diese nette Ginny Carpenter, von Gesine ironisch gerühmt als eine „Großmacht in unserer Gegend, ein Pfeiler unserer Nachbarschaft“ doziert immer
wieder „über die dunkelhäutige Rasse als solche“ (424, 426), z.B. daß „diese
Schwarzen schlicht nicht verstünden, in einer Zivilisation zu leben“ – als sei
das eine „Veranlagung von der Natur aus“ (844). Diese Ginny-Stimme als
Personifikation der Ideologie konservativer weißer Amerikaner hat Johnson
aus Lyfords Einleitung übernommen, in der die typische, diskriminierende
Meinung angeführt wird, „that the inhabitants of the slum are generally not
fit to live anywhere else“ (L XXVI). Genau diese Meinung hat Johnson Ginny
Carpenter in den Mund gelegt.
Gegen diese falsche Verallgemeinerung, in Form eines ideologischen, rassistischen Erklärungsmodells für die Slums, das biologische und kulturelle Differenz
im Sinne von Minderwertigkeit nicht-weißer Rassen behauptet, stellen Lyford,
Johnson und Gesine ein soziologisches Erklärungsmodell. Das bedeutet zunächst
einmal einen Gewinn an Differenzierung. Allerdings kommt es bei diesem
Modell wiederum auf feine Unterschiede an. So wird in den „Jahrestagen“ aus
der „New York Times“ ein prominenter New Yorker Psychologe zustimmend
26
Nachbarschaften mit Unterschieden
zitiert, der – übrigens selber Afroamerikaner – , den Ghettoneger beschreibt
als „zynisch, verbittert, feindselig und entnervt, weil die berufliche Situation,
die der Wohnverhältnisse und die der Schule im nationalen Slum keinerlei
Fortschritt aufweisen“ (33). Problematisch ist dieser Erklärungsansatz jedoch
weniger wegen seiner Reduktion der sozialen auf die psychische Dimension
als vielmehr wiederum wegen seiner pauschalisierenden Tendenz, welche die
Slumbewohner als homogene Gruppe erscheinen läßt.
Einer solchen Tendenz unterliegt aber auch Gesine, wenn sie wiederholt aus
Wohnungsnot und Armut das Potential für Gewalt und Kriminalität in den
Slums erwachsen sieht. Sie stellt Mr. Shuldiner die Slums in den Seitenstraßen
der Upper West Side vor Augen. Die Beschwerden ihrer Bewohner nützen
nichts: „Warum sollten die nicht Ihrer Frau die Handtasche wegreißen, das
Messer unters Kinn halten? (575) Ganz ähnlich heißt es an anderer Stelle: „Da
die Weißen als Gruppe Hilfe verweigern, warum nicht dem einzelnen Weißen
ein Messer aufs Herz setzen und seiner Brieftasche, seiner Ladenkasse, seiner
Wohnung Hilfsmittel entnehmen. Da dem Gefangenen des Slum ein Ausweg
in das lebenswerte Leben versperrt ist, sollte er lange zögern, dem Leben in
den Illusionen und Krankheiten des Rauschgiftes zu entgehen?“ (846)
Diese Sicht ist, wie das Buch von Lyford zeigt, gerade als soziologische Sicht
zu undifferenziert. Johnson hat nicht darauf geachtet, nicht darauf achten
wollen, daß die Slumbevölkerung keineswegs – aufgrund gleichen sozialen
Elends – homogen ist, sondern sich scharf in zwei Gruppen teilt, „the people“,
die Mehrheit, die nach einem friedlichen, gesellschaftskonformen Leben strebt,
und „the others“, eine Minderheit ohne „sense of belonging“ und „neighborhood“, die von Drogen, Gewalt, Kriminalität geprägt ist (L XXI-XXV). Diese
Gruppe der „others“ aber als die typischen Slumbewohner hinzustellen, ist
eine falsche Verallgemeinerung.
Warum unterläuft sie dem Autor, entgegen seinem Konzept der Differenzierung?
Ich glaube, die Antwort ist einfach. Man kommt ihr näher, wenn man sieht, wie
Johnson aus seinem minutiös gezeichneten Bild der Slumbevölkerung als OpferTäter alles das sorgfältig heraushält, was man demokratische Sozialpolitik nennt
– von staatlichen bzw. städtischen Refomprogrammen über kommunale wie
überregionale Organisationen bis zu Eigeninitiativen, Protest, Gegenwehr der
„community“. Genau jenen Abschnitt seines eigenen Essays, der in Anlehnung
an Lyford (L X, 8-0, 9ff.) diese politische Dimension behandelt (T 45-48),
hat er aus den „Jahrestagen“ herausgehalten. Da Reformen das System nicht
27
Norbert Mecklenburg
ändern können, sind sie uninteressant – das scheint Johnsons und Gesines
Antwort zu sein, es wäre eine klassisch marxistische. Würden sie wohl andere,
die sich für soziale Reformen einsetzen, ebenso eiskalt abkanzeln wie sie es
mit der Salonrassistin Ginny Carpenter tun? „Kaum eines jener Argumente,
die einer annähernd gleichmäßigen Verteilung des gesellschaftlichen Eigentums steuern sollen, ist bemüht um Brillanz oder doch den Anschein von
Schlüssigkeit“ (844).25
Mrs. Ferwalter
Die erste Nachbarschaft am Riverside Drive wurde der Fremden aus Deutschland, der jungen, alleinstehenden Mutter Gesine Cresspahl, 96 angeboten,
und sie ist haltbar geblieben, die Nachbarschaft mit Mrs. Ferwalter. Hier hat
Johnson die unter all den schwierigen oder weniger schwierigen Nachbarschaften in den „Jahrestagen“ wohl unwahrscheinlichste gestaltet. Denn es ist eine
Nachbarschaft, die ein äußerstes Maß an vorgegebener und sich einstellender
Fremdheit überbrückt, die eine beträchtliche Distanz einschließt und die
dennoch fast an Freundschaft heranreicht.
Drei markante Momente der Fremdheit durchlaufen kontinuierlich die Erzählung von dieser Nachbarschaft zwischen Gesine und Frau Ferwalter. Das erste
und dominante beruht darauf, daß die jüdische Immigrantin eine Überlebende
der Shoah ist. Seitdem Gesine die Nummer gesehen hat, die in den linken
Unterarm ihrer Nachbarin tätowiert ist, belastet sie ihre mitgebrachte, unüberwindliche Befangenheit und Scham, die sie als Deutsche im Bewußtsein der
deutschen Schuld gegenüber Juden empfindet. Diesen Graben kann sie nicht
überspringen, es ist Mrs. Ferwalter, die ihr entgegenkommt – das erste Mal
wortwörtlich: aufstehend von einer „benachbarten Bank“ im Park (45) – und
die damit die Freundschaft überhaupt ermöglicht. Der Graben, die Kommunikationshemmung, bleibt auf Gesines Seite dennoch bestehen, symbolisiert
durch die wiederholte Formel: Danach „können wir sie nicht fragen“ (46). So
erfährt sie erst nach sieben Jahren, daß ihre Nachbarin in Auschwitz war.
Das zweite Fremdheitsmoment dagegen geht umgekehrt von der orthodoxen
Jüdin aus und besteht in der strengen Sortierung der Menschen in Gläubige
und Gojim („Gois“), d.h. Nichtgläubige. Dieser Unterscheidung ordnet sie die
in „für sich“ lebende und assimilierte Juden unter. Zur ersten Gruppe zählte
ihre Familie in ihrem Heimatdorf in der östlichsten Slowakei; die zur zweiten
28
Nachbarschaften mit Unterschieden
Gehörenden, wie sie vor allem in der westlichen Tschechoslowakei zu finden
waren, nannten sie „Moritze“ (69). Dieser Spitzname rührt vermutlich daher,
daß Juden unter Assimilationsdruck Vornamen wie „Mosche“, „Moses“ gern
durch „Moritz“ ersetzten, einen Gleichklangsnamen also, der dadurch jedoch
bald seinerseits einen jüdischen Anstrich erhielt.26
Nun beschränkt sich diese Abgrenzung bei den Ferwalters allein auf das Feiern
der jüdischen Feste und auf den Intimbereich der Kleinfamilie, repräsentiert
vom gemeinsamen Essen nach den religiösen Speisegeboten – darum sind die
Cresspahls „noch nie zum Essen eingeladen“ worden (72), schon gar nicht zu
Yom Kippur oder Chanukka oder zur Sederfeier des Passahfestes. Dennoch
bekundet Gesine darüber wiederholt ihr Befremden (50, 79). Dieses Befremden beruht aber nicht etwa – wie bei Marie – auf unbefriedigter Neugier auf
religiöse Folklore. Auch sieht sie sich nicht schmerzlich ausgeschlossen aus dem
„fremdkulturellen“ Bereich der Nachbarn. Befremdet ist Gesine allein deshalb,
weil deren Grenzziehung (Gläubige/Gojim) zu ihrer eigenen (Täter/Opfer) so
irritierend querläuft. Die Differenzdefinitionen differieren.
Dieses Befremden Gesines schafft nun aber, gegenläufig zu der behutsamen
freundschaftlichen Annäherung, ein drittes Fremdheitsmoment in dieser Nachbarschaft, eine kritische Distanz, die zwar Gesine beileibe nicht ihrer jüdischen
Freundin, um so mehr jedoch der „Genosse Schriftsteller“ dem Leser signalisiert.
Gesine kann nicht davon absehen, daß sie die Denkweise Mrs. Ferwalters in
wichtigen Punkten nicht nur fremd, sondern auch falsch finden muß, wenn sie
nicht ihr eigenes Denken verraten will. Wo sie ihre Nachbarin nicht verstehen
kann, folgt sie darum nicht der postmodernen Parole, den Fremden fremd sein
zu lassen, sondern versucht das Nichtverstehbare zu erklären. Das Muster dafür
liefert ihr die klassische Konzeption von Ideologiekritik, die auch Religion als
Ideologie, als „verkehrtes Weltbewußtsein“ (Marx) erklärt.
In das komplexe Porträt der Mrs. Ferwalter, das mehrere „Jahrestage“-Kapitel
mosaikartig herstellen, gehen die widerstreitenden Impulse der Zuneigung und
der Abwehr, der Solidarität und der Distanzierung, der Empathie und der Kritik
ein. Die Bekanntschaft hat begonnen mit Müttersolidarität und Einkaufstips,
mit der Hochschätzung auch anderer als amerikanischer „Schicklichkeiten“,
nämlich europäischer (789), mit Gesines Kenntnis des Brotgeschmacks in
Budweis, nach dem Frau Ferwalter Heimweh hat (47). Diese ist, was man ein
schlichtes Gemüt nennt, soziologisch ausgedrückt: eine typische Kleinbürgerin.
Sie ist naiv und sentimental – in Filmen liebt sie romantischen Kitsch (792) –,
29
Norbert Mecklenburg
sie ist durch und durch unpolitisch, und sie ist, leider, ein bißchen dumm. Dies
zeigt sich ebenso anrührend wie drastisch z.B. an der Geschichte ihrer amerikanischen Staatsbürgerschaftsprüfung (67). Sie hat eine verblüffend ungebrochene Hochschätzung der Deutschen und Gesines als einer Deutschen,
weil sie sie nicht mit Hitler, sondern mit Europa assoziiert. Und sie hat eine
bewundernde Schwäche für große, gutaussehende Menschen germanischen
Typs mit strenger Disziplin (790).
Gesine mag über den einen Zug an ihrer jüdischen Nachbarin gerührt sein, den
anderen belächeln. Was sie fassungslos befremdet aufnehmen muß, ist deren
Hang, die Nazi-Deutschen zu entschuldigen. Die guten Deutschen „haben
es nicht gewußt“, was sie mit den Juden gemacht haben (790). Der deutsche
Staatspräsident Lübke, ehemaliger „K.Z.-Baumeister“ – sicherlich mußte er „das
damals tun, gewiß hatte er eine Ehefrau“ (788f.). Eine der SS-Wächterinnen
in Mauthausen „war so gut, sie hatte fünf Kinder und mußte das alles ja“ (46).
Auch in Auschwitz war die „Chefin“, Frau Stiebitz, eine „gute Frau“ (786).27 Was
Gesines Befremden aber in – freilich unausgesprochene – Kritik umschlagen
läßt, ist Mrs. Ferwalters Begabung, „das alles“ und auch noch anderes mit einer
religiösen Rechtfertigung zu versehen.
Dafür gibt es eine Reihe von Beispielen. Die meisten werden in einem Kapitel
präsentiert, das nicht die Lebensgeschichte, sondern die Denkweise von Frau
Ferwalter nachzeichnet. Das aber geschieht in einem so kritischen Licht, daß
die Freundschaftsbekundung Gesines gegenüber ihrer Nachbarin am Kapitelschluß, wenn auch nur versteckt im Rahmen eines „Kopfgesprächs“, ebenso
nachdrücklich wie unwahrscheinlich anmutet.
Als erstes möchte ich gezielt an einem Beispiel zeigen, daß sich Gesines Kritik
in keiner Weise speziell gegen die jüdische Religion richtet, vielmehr gegen ein
typisch religiöses Denkmuster überhaupt. Rebecca Ferwalter, Maries Freundin,
ist im Unterschied zu dieser
„lange erzogen worden nach finsteren Prinzipien des Alten Testaments; züchtige
ich nicht mein Kind? beweise ich nicht, daß ich es liebe? Daß die Cresspahl
ihr Kind frei aufwachsen ließ, Mrs. Ferwalter sah es mit entsetztem Mißtrauen,
und erst spät nahm sie sich ein wenig Milde an“ (79).
Ehe hier womöglich ein beliebtes christlich-antijüdisches Denkmuster einrasten kann – Neues gegen Altes Testament –, erinnert sich der aufmerksame
Leser daran, daß Gesine den für diese Art von Erziehung einschlägigen Salomo-Spruch (Sprüche 3, 24) zur Erklärung des religiösen, verbrecherischen,
30
Nachbarschaften mit Unterschieden
schließlich geisteskranken Verhaltens ihrer allzu christlichen Mutter in der
Wassertonnen-Episode herangezogen hat: „‚Wer sein Kind liebt‘, Marie, der…“
(68).28 Hier geht es also nicht um eine christlich-jüdische Differenz, sondern
um die Differenz autoritär-inhumaner und aufgeklärt-moderner Erziehung.
Befremden erregt bei Gesine, wie Mrs. Ferwalter Gott und Religion mit sehr
irdischen Dingen verquicken kann: Die jüdische Kapo, die ihr im Lager Böses
angetan hatte, aber in Israel vor Gericht mit Freispruch davonkam, ist von Gott
dann doch noch „gestraft“ worden: mit einem schlechten Ehemann (788). Die
Ferwalters sind nach dem Krieg aus der Tschechoslowakei über Israel in die
USA mit Hilfe von Schwarzmarktgeschäften gelangt, erzählt Mrs. Ferwalter
und nennt es „des Allmächtigen Hilfe“ (789). Wenn sie einem religiösen
Sozialdarwinismus frönt, wie er auch im christlichen Calvinismus verbreitet
ist, dann nimmt auch ihr religiöser Rassismus nicht mehr wunder. Unter den
Orthodoxen haben Reiche einen „Vorzug“, denn ihr Reichtum beruht auf
„Gottes Entscheidung“. Ebenso ist es Gott, der „die Armut bestimmt hat, den
ungeschickten Juden wie den leider gänzlich von der Vorsehung angeschwärzten
Negern“ (67f.). Mrs. Ferwalter „glaubt allen Ernstes, Gott habe diese gemacht,
in Schmutz und Armut und Sünde zu leben“ (79). Darum darf Rebecca nicht
in die Wohnung der Cresspahls kommen, solange die ein schwarzes Kind
namens Francine aufgenommen haben (790, 792).
Gibt es etwas, das Gesines Denken noch mehr zuwider sein könnte als diese
sozialtheologischen Grundsätze ihrer Nachbarin? Es gibt etwas, und leider
muß Gesine auch das registieren, allerdings mit größtmöglicher kritischer
Distanzierung, und zwar dort, wo ihre jüdische Freundin in ihre religiöse
Rechtfertigungssucht sogar noch die Shoah einbezieht. An diesem Punkt
reagiert Gesine nicht nur kritisch, sondern ausgesprochen polemisch, ja verletzend, denn sie fühlt sich hier selber in ihrer intellektuellen und moralischen
Integrität verletzt! Darum verfremdet sie ihre Erläuterung zum jüdischen
Seder-Ritual durch ein geradezu blasphemisches Wortspiel: Die Juden feiern
ihre „Beförderung zum auserwählten Volk, dem selektierten“ (98). Ich glaube
nicht, daß man diese extrem anstößige Stelle „kultursoziologisch“ bewältigen
kann.29 Dagegen spricht vor allem ein Ausspruch Mrs. Ferwalters, den Gesine
bereits früher hat anhören müssen, so daß diese frühere Textstelle ein unüberlesbares Interpretament für die spätere abgibt. Mrs. Ferwalter hat nämlich
klipp und klar gesagt: „Was die Deutschen den Juden getan haben, es ist von
Gott so beschlossen worden.“ (792)
31
Norbert Mecklenburg
Mit diesem Satz ist nur der äußerste Befremdungspunkt in der Beziehung
zwischen Mrs. Cresspahl und Mrs. Ferwalter markiert. Aber auch wenn man
diese Beziehung im Ganzen betrachtet, mit ihrem vertrackten Ineinander
von Freundschaft und Fremdheit, dann kann man hier kein Beispiel für eine
„interkulturelle“ Erzählstrategie sehen. Diese Nachbarschaft läßt sich nicht
hochrechnen zu einem Romanprogramm, das auf Anerkennung kultureller
Andersheit gerichtet wäre. Jüdische Personen und Sachverhalte in den „Jahrestagen“, auf der New-York-Ebene breit aufgefächert, durch die mitlaufende
Jerichow-Ebene durchgehend perspektiviert auf das Leitthema der Shoah,
werden nicht primär kulturbezogen dargeboten. Das Judentum formiert sich
in Gesines Blick keineswegs als homogene fremde Kultur.30 Die in die Kalenderstruktur des Werks eingepaßten Ausschnitte aus der religiösen jüdischen
Kultur, in erster Linie Festtagsriten und -mythen, die ebenso kunstvoll wie
versteckt zu einer sekundären, symbolischen Bedeutungsebene verknüpft sind,
genügen m.E. nicht, von einem „kulturalistischen Impetus“ des ganzen Romans
zu sprechen.31 Johnsons erzählerischer Umgang mit Differenzen impliziert
vielmehr eine Kritik an Kulturalismus als einer Dominantsetzung kultureller
gegenüber anderen Differenzen.
Die Fremdheit zwischen Gesine und Mrs. Ferwalter ist, von beiden Seiten aus,
eine andere als Kulturfremdheit, und auch ihre Nachbarschaft beruht nicht
auf interkultureller Kommunikation. Daß sie an Freundschaft heranreicht,
beruht schlicht und einfach auf persönlicher Zuwendung und wechselseitigem
Gernhaben. Die Fremdheitsmomente lähmen Gesine nur deshalb nicht, weil
sie ihre Nachbarin als einen besonders gutherzigen, entgegenkommenden,
freundlichen Menschen erfährt und schätzt.
Der Autor aber dürfte in der Emigrantin vom Riverside Drive vor allem die
für sein zeitgeschichtlich-dokumentarisches Erzählen kostbare Stimme einer
Zeitzeugin, einer Überlebenden geschätzt haben. Daß er sich in dieser Einschätzung nicht getäuscht hat, läßt sich an einer kurzen, rätselhaften Textpassage
aufweisen. Sie dreht sich scheinbar um eine innerdeutsche Kulturdifferenz,
nämlich um die Frage, was Schwaben von anderen unterscheidet. „Bitte, was
sind Schwaben?“ (786) Das fragt Mrs. Ferwalter Mrs. Cresspahl, als sie wieder
einmal auf einer Bank im Riverside Park beisammensitzen. Allein, die Jüdin aus
der östlichen Slowakei stellt ihrer Nachbarin aus dem nördlichen Deutschland
diese Frage nicht aus interkultureller Neugier auf intrakulturelle, regionale
deutsche Differenzen. Es geht nicht – wie Gesines ebenso hilflose wie korrekte
Antwort unterstellt – um eine Definition für die „Bewohner einer süddeutschen
32
Nachbarschaften mit Unterschieden
Provinz“, also um Kulturkunde deutscher Stämme und Landschaften. Es geht
der Fragenden überhaupt nicht um Kulturunterschiede. Und um Kultur geht
es allenfalls negativ, nämlich um jene deutsche Barbarei, welche die Jüdin am
eigenen Leib erfahren hat. Unmittelbar nach dem rätselhaften Gespräch über
„Schwaben“ gibt Mrs. Ferwalter den längeren Lebensbericht aus dem Todeslager,
der fast das ganze weitere „Jahrestage“-Kapitel vom . August füllt und der
mit dem lapidaren Satz beginnt: „Wir kamen nach Auschwitz.“
Das „Gespräch auf einer Parkbank“ hat sich zunächst ganz harmlos um ein
Kindertreffen gedreht, das Marie vor der Abreise nach Prag plant, und dann,
schon weniger harmlos, um die Partei der Neonazis in der Bundesrepublik.
(„Was wollen die bloß?/Änderung der Grenzen, so für den Anfang.“) Dann
kommt Mrs. Ferwalter auf das Gebäck zu sprechen, das sie zu dem Treffen
beisteuern will, weil Kinder das mögen, nämlich „Passovergebäck“.
„Wir haben es zum letzten Mal zu Hause gebacken im vierundvierziger Jahr.
Damals gehörte unser Ort zu Ungarn. Transporte kamen schon seit 94 durch,
und im Land wurden Leute abgeholt. Im Mai 944 wurden alle genommen.
Ich hatte einen katholischen Paß, mit katholischer Religion. Die Deutschen
haben mich angesehen, und genommen. Die Ungarn und die Deutschen, die
waren einander wert. Es waren alles Soldaten. Bitte, was sind Schwaben?
Bewohner einer süddeutschen Provinz, dächten wir.
Sind Schwaben mehr für Hitler gewesen als andere?
So wie die anderen auch.
Das waren Schwaben.
(Siebenbürger?
Nein. Die waren doch dagegen.)
Wir kamen nach Auschwitz. Ich war da acht Monate.
Die meisten kamen gleich ins Krematorium.“
Was Mrs. Ferwalter hier naiv-lakonisch mitteilt, fügt sich Punkt für Punkt
exakt in die Chronik der Vernichtung ein. Ihr ruthenisches, d.h. ukrainisches
Heimatdorf lag im östlichsten Teil der Tschechoslowakei, in der KarpatenUkraine. Diese wurde 939, nach Auflösung des tschechoslowakischen Staates
durch die Nazis, von Ungarn annektiert. Und in der Tat gab es dort bereits
94/42 erste Deportationen von Juden, nämlich sobald Ungarn unter einer
rabiat antisemitischen Regierung an der Seite von Nazi-Deutschland in den
Krieg gegen die Sowjetunion eintrat.32 Dabei waren die Juden der KarpatenUkraine in besonderem Maß betroffen, weil ein antijüdisches Gesetz von
33
Norbert Mecklenburg
939 den meisten von ihnen die Einbürgerung verwehrte. „Die Ungarn und
die Deutschen, die waren einander wert.“ Von dieser ungarischen Verfolgung
blieb Mrs. Ferwalter verschont. Offenbar auch dadurch, daß sie wie viele andere
orthodoxe Juden33 – um des Überlebens willen, nicht aus Glaubensgründen
– zum Katholizismus übertrat. Dessen ungarische Repräsentanten leisteten
lange zähen, letztlich vergeblichen Widerstand gegen die Verfolgung ihrer
jüdischen Kirchenmitglieder.34
„Im Mai 944 wurden alle genommen.“ Auch diese Aussage Mrs. Ferwalters
paßt überaus exakt in den historischen Rahmen. Im März 944 überrannten
die Deutschen Ungarn und überschwemmten das Land mit einem Heer von
Funktionären der „Endlösung“.35 Der rasante Zeitplan der Vernichtung, der
umgehende Ghettoisierung und sofortige Deportation vorsah, bezog sich
auf sechs Zonen; die letzte war die Hauptstadt Budapest, die erste die Karpathen-Ukraine. Hier wurden die Juden planmäßig zwischen April und Juni
abtransportiert.36 Die junge Frau, die spätere Mrs. Ferwalter, wurde im Mai
„genommen“ – obwohl sie sich als Katholikin ausweisen konnte: „Die Deutschen haben mich angesehen, und genommen. […] Es waren alles Soldaten.
Bitte, was sind Schwaben?“
Was sie „Soldaten“ nennt, das waren natürlich SS-Uniformierte – aber warum
fragt Mrs. Ferwalter in diesem Zusammenhang nach Schwaben und ob die
„mehr für Hitler gewesen“ seien als andere? Gesine verneint dieses verständlicher Weise. Aber die Fragerin beharrt auffällig nachdrücklich darauf: Die
SS-Mannschaften, die sie „genommen“ haben, waren „Schwaben“. Daran rätseln auch – das steht in Klammern – der „Genosse Schriftsteller“ und Gesine
gemeinsam weiter: Ob es vielleicht Siebenbürger waren? Nein, die seien doch
dagegen gewesen, d.h. gegen Hitler. Beide bewegen sich an den Tatsachen, auf
die sich Mrs. Ferwalter so insistierend wie ahnungslos bezieht, dicht vorbei.
Aber noch dichter und noch hilfloser daneben trifft hier der sonst so hilfreiche
„Jahrestage“-Kommentar, der die dunkle Textstelle so aufhellen möchte: Für die
„Schwaben“ verweist er unpassend auf „deutsche Volksinseln in der Slowakei“
– wo doch eine tschechoslowakische Jüdin deren Bewohner gewiß richtig zu
erkennen und zu benennen gewußt hätte. Und von den Siebenbürgern teilt
er überflüssig mit, viele von ihnen seien 944 ins Reich evakuiert oder nach
Rußland deportiert worden.37 Aber das geschah ja nicht, weil sie gegen Hitler
gewesen wären! (Gegen Hitler waren unter den Deutschsprechenden in Südosteuropa die in der Bukowina um und in Czernowitz Lebenden: es waren
größtenteils Juden).
34
Nachbarschaften mit Unterschieden
Des Rätsels Lösung ist einfach. Nur habe ich bisher nicht ermitteln können, wo
Johnson sie gefunden haben könnte. So möchte ich überhaupt bezweifeln, ob
er selber die Lösung gekannt hat, d.h. ob er sich der Tragweite dessen bewußt
war, was er seine Figur hier über „Schwaben“ und deren besonders starke HitlerAnhängerschaft aussagen läßt. Das klingt freilich etwas paradox: Die Figur, der
Text soll mehr wissen als der Autor? Das ist indessen weniger paradox, wenn
man, und zwar mit guten Gründen, annimmt, Johnson habe für diesen Bericht
seiner Mrs. Ferwalter mündliche Mitteilungen einer Überlebenden aus seiner
New Yorker Nachbarschaft verwendet und protokolliert,38 in – wie sich jetzt
erweist – berechtigtem Vertrauen auf die Authentizität dieses Zeugnisses, auch
dort, wo es ein Rätsel aufgibt.
Apropos, der Name der Schwaben in Schwaben, des Germanenstammes der
Sueben, kommt nach Jacob Grimm ganz ungermanisch von dem slawischen
Wort „svoboda“, das Freiheit bedeutet. So heißt 968 der Staatspräsident des
Landes, aus dem Mrs. Ferwalter stammt und in das Gesine und Marie in wenigen
Tagen reisen wollen. „Schwaben“ aber nannte man in Südosteuropa diejenigen
Deutschstämmigen, die, überwiegend aus fränkischen Gebieten kommend, im
8. Jahrhundert, nach der Vertreibung der Türken, beiderseits der mittleren
Donau angesiedelt wurden, zwischen Donau und Drau um Fünfkirchen (Pecs),
im Banat um Temeschburg (Temeschwar) – die „Donauschwaben“, wie sie
darum später genannt wurden. Zusammen mit den „Siebenbürger Sachsen“
– die ebensowenig aus Sachsen stammten wie die „Schwaben“ aus Schwaben
– gehörten sie bis 99 zu Österreich-Ungarn, danach als deutsche Minderheiten
teils zu Ungarn, teils zu Rumänien.
Gerade bei ihnen nun förderte die Volkstumspolitik und -ideologie des Nazireichs so gezielt wie erfolgreich die „völkische Bewegung“. So fanden sich unter
diesen und anderen „Volksdeutschen“ besonders fanatische Hitleranhänger. Den
Antisemitismus mußten sie nicht erst lernen. Die „Landsmannschaften“ der
Ungarn- und Rumäniendeutschen arbeiteten sogar eng mit NS-Amtswaltern
zusammen. Als „Volksgruppenführung“ wurden sie schließlich so etwas wie
Dienststellen Himmlers, die sich der Rekrutierung von „Volksdeutschen“ für
die SS widmeten. Am Ende dienten 60.000 Donauschwaben und Siebenbürger
in Himmlers Armee.39
Je länger nun der Krieg dauerte, desto empfindlicher mangelte es an Personal
für die „Endlösung“, besonders bei den SS-Wachmannschaften. So wurden seit
942 auch hierfür viele „Volksdeutsche“ herangezogen. Sie waren Verbände
35
Norbert Mecklenburg
zweiter Klasse, eine Art „Bodensatz der SS“.40 944 waren mehr als ein Drittel
der Wachmannschaft in Auschwitz „Volksdeutsche“ (ca. 900), und von ihnen
wiederum waren ein Drittel, also ca. 300, Siebenbürger und Donauschwaben.
Von dieser Sorte waren es zweifellos auch welche, die Mrs. Ferwalter „genommen“ und nach Auschwitz deportiert haben. Das waren die „Schwaben“.
Dr. Arthur Semig
Dr. Arthur Semig, Tierarzt in Jerichow und beamteter Fleischbeschauer im
Landkreis Gneez, ist ein Nachbar, der zum Fremden gemacht wird. So könnte
man seine Geschichte auf eine Formel bringen. Aber das wäre zu undifferenziert.
Denn zum Nachbarn, nämlich von Cresspahl, wird er erst, und ein Fremder,
nämlich ein nicht Zugehöriger, ein Außenseiter, ist er in einer bestimmten
Hinsicht von Anbeginn. Der Leser der „Jahrestage“ sieht ihn zuerst mit den
Augen Papenbrocks. Der mag sich 93 nicht anfreunden mit einem künftigen
Schwiegersohn, der erstens keinen Hut trägt und zweitens im Ostseebad Rande
sich sehen läßt zusammen „mit einem Dr. Semig“. Und dieser erlaubt es sich
doch, auf der Terrasse „vor einem christlichen Hotel“ zu sitzen (70f.).
Da es sich hier nicht etwa um ein christliches Hospiz handelt, sondern, wie
der Leser ein paar Zeilen zuvor erfahren hat, um das Hotel Erbgroßherzog,
merkt er bereits beim ersten Lesen der „Jahrestage“, daß Papenbrocks Blick
ein antisemitischer ist und Semig von ihm als Jude ausgegrenzt wird. Doch
erst nach Kenntnis des weiteren Buches weiß er, wie weit diese Ausgrenzung
geht. Denn das antisemitische Ressentiment Papenbrocks und anderer bleibt
nicht nur davon unbeeindruckt, daß Dr. Semig zwei Diplome an der Wand
hängen hat und „zu Kaisers Geburtstag seine Kriegsauszeichnungen durch
die Stadtstraße“ zu tragen pflegt, sondern auch davon, daß „der Jude“ Semig
Christ ist, evangelisches Gemeindemitglied.
Diese Textstelle, mit späteren zusammengenommen, zeigt mehrerlei: . An der
Haltung Papenbrocks als Repräsentanten des deutsch-nationalen Besitzbürgertums wird eine der Ursachen für das Nazi-Reich und damit für die Shoah
personifizierend kenntlich gemacht. Antisemitismus gehörte zum deutschen
Alltag, nicht nur kurz, vielmehr lange vor 933. (Das ist schon auf der ersten
„Jahrestage“-Seite angedeutet mit Gesines Nachdenken, ob „Juden vor 933
noch mieten durften in dem Fischerdorf vor Jerichow“ (7). Und dieser All36
Nachbarschaften mit Unterschieden
tagsantisemitismus bildete nach 933 eine der Grundlagen für die schrittweise
Durchsetzung des Vernichtungsantisemitismus.
2. Die Borniertheit des Ressentiments zeigt sich daran, daß es stur wider besseres Wissen festgehalten wird: Da sitzt „der Jude“ vor einem „christlichen
Hotel“, obwohl man ihn jeden Sonntag in der Kirche sehen kann. Da verläßt
einer frühzeitig die Hochzeitsfeier, „erstaunlich taktvoll für einen Juden, und
für einen Akademiker“ (5) – so wundern sich die Papenbrocks und die von
Bothmers. Da zieht ein Pastor Methling, dessen Vorliebe für Bargeld bekannt ist,
über die „Geldgier“ der Juden vom Leder. „Dr. Semig hatte oft genug im Preis
nachgelassen. Er [Methling. N.M.] sprach von der jüdischen Gleichgültigkeit
gegen die Idee der Nation, aber er hatte in der Heimat gepredigt, als Semig im
Graben lag“ (238). Auch vor Gericht kann Semig bewußt die christliche Form
des Eides wählen,41 helfen wird es ihm doch nicht. Man erkennt sehr wohl die
Differenz der Wirklichkeit gegenüber dem Vorurteil, das falsche Differenzen
fixiert, aber revidieren wird man es dennoch nicht.
3. Arthur Semigs maximale Integration und – bezogen auf seine jüdische
Abstammung – Assimilation, nämlich durch Herkunft und Beruf, nationale
Gesinnung und christliche Konfession, regionale Zugehörigkeit und gutbürgerliche Heirat, haben ihn vermutlich zu keinem Zeitpunkt seines Lebens vor
Diskriminierung bewahrt und werden es, ab 933, immer weniger tun – so
sehr er das, wie sich zeigen wird, in typisch bildungsbürgerlich-unpolitischen
Illusionen befangen, ignoriert oder verdrängt.
Das Verdrängte kommt zumindest indirekt zu Wort in einer bitter ironischen
Äußerung Semigs, die Gesine sich ausdenkt als Teil seines Terrassengesprächs
mit Cresspahl. Die wirtschaftliche Krisensituation – so läßt sie Semig ausführen
– zwinge auch ihn als Tierarzt zu mehr Zugeständnissen:
„Früher hätte ich abgeklingelt. Aber in solcher Notzeit, und als Jude…
Was Sie nich sagn.
Aber mein lieber Herr Cresspahl, sehen Sie das nich? Sie wissen doch, man sieht
es. Sehen Sie mich mal an, Herr Cresspahl! Nu weiten Se dat, nich?“ (7)
So könnten sie miteinander gesprochen haben, denkt sich Gesine; so könnte
Cresspahl Näheres über Semigs Herkunft erfahren haben. Das veranlaßt ihn
jedoch – wie sich später zeigt – weder zu der Meinung, daß man „es sieht“,
nämlich das Jüdische, noch überhaupt dazu, ihn als Juden zu betrachten. Semig
mag „mit seinem geschorenen Hasenkopf“ (4) etwas komisch aussehen – aber
37
Norbert Mecklenburg
jüdisch? Sehen er und seine – in keiner Weise jüdische – Frau einander doch
so ähnlich (294)! Wollte ein antisemitischer Blick an den „krummen Lippen“
und der „gekrausten Nase“ Semigs (4f.) typisch Jüdisches identifizieren, er
sähe sich zurechtgewiesen von einer transkulturell aufgeklärten Marie, die
Semigs freundliches Nasenkräuseln in dem von Mr. Fang Liu in einer New
Yorker Wäscherei wiederfindet (37f.). Nicht „nur Chinesen“ (wie Gesine ironisch behauptet) also oder nur Juden lächeln Kinder so an. Ob man „es sieht“
oder nicht – das bleibt freilich noch auf der New-York-Ebene des Romans ein
heikles Problem. Gesine bekennt von sich, halb ironisch, halb irritiert: „Schon
sechs Jahre habe ich sie zu Nachbarn, und kann sie von den andern nicht unterscheiden. Womöglich gibt es solchen Blick als Begabung. Ich habe sie nicht.“
(88) Was Arthur Semig betrifft, so hat er, „groß gewachsen, schmal und fest
am ganzen Leibe“ (294), jedenfalls keine Ähnlichkeit mit einem „Schmulchen
Schievelbeiner“ (233).
Die Bekanntschaft des Handwerkers Cresspahl mit dem Akademiker Semig
beruht zunächst auf Neugier des Verliebten auf Jerichow, den Ort, in dem
Lisbeth lebt. Daraus wird aber erstaunlich schnell so etwas wie Freundschaft
(„Er war nun fast befreundet mit dem Mann, so weit es eben gehen konnte mit
einem Studierten...“ 48) – wenn auch in Grenzen, gezogen durch die „Steifheiten und Vornehmheiten“ Semigs (425). Vielleicht verbindet auch beide, den
Einheimischen, der zugleich ungewollt Außenseiter ist, und den „Ausländer“,
der gegen seinen Wunsch einheimisch wird, ein gleiches Gefühl der Fremdheit
gegenüber diesem Ort: innere Nachbarschaft von zwei Männern, die ihrer
äußeren Nachbarschaft, wenn auch in verschiedener Hinsicht, fremd bleiben?
Diese beiden Mecklenburger jedenfalls schätzen einander nicht als Landsleute,
sondern als anständige Menschen.
Unwahrscheinlich, auch aufgrund vergleichsweise geringer erzählerischer
Ausgestaltung, wirkt diese Freundschaft über die soziale Klassendifferenz
hinweg gleichwohl. Man merkt ihr die Hand des Autors an, der demonstrieren
möchte, wie sich der Held der Erzählung demonstrativ mit einem assoziiert,
den die anderen zunehmend diskriminieren. Denn die persönliche und familiäre Nachbarschaft, ermöglicht durch die Hausschenkung an Gesine, beginnt
gleichzeitig mit der bürgerlichen Entrechtung Semigs, deren Schatten der
„Judenboykott“ am . April 933 vorauswirft.
Diese auffällige Freundschaft wird bezeugt durch Teilnahme Arthurs an Heinrichs und Lisbeths Hochzeit, und zwar als Trauzeuge, und später durch seine
38
Nachbarschaften mit Unterschieden
Bestellung zum Taufpaten für Gesine. Als Cresspahl diese bei Pastor Brüshaver
vornimmt, kommt zwar etwas verklemmt, aber dennoch unangenehm sichtbar
dessen christlicher Antisemitismus zum Vorschein, von dem er sich später wohl
nicht leichter, wenn auch früher und klarer lösen wird als sein berühmterer
Amts- und Waffenbruder Martin Niemöller. 938 jedenfalls hat er ihn geradezu
vergessen oder verdrängt, indem er sich einredet, Arthur Semig, seit einigen
Monaten nach Österreich verzogen, sei für ihn immer nur „ein Glied seiner
Gemeinde gewesen, nicht ein Jude“ (645). Im März 933 dagegen hat er auf
Cresspahls Verlangen nach Semigs Taufpatenschaft zunächst so abweisend
reagiert, daß dieser fast drohend zu erklären sich genötigt sieht: „Herr Semig
ist kein Jude, schon sein Großvater hat die Taufe genommen, und die Kösters
werden ihre Tochter nicht blinden Auges weggegeben haben“ (299).
Das ist nun zwar auf den ersten Blick sympathische Demonstration einer
Freundschaft gegen Rassenvorurteile und zugleich des kirchlichen Rechtsstandpunkts – selbst Pastor Methling hätte damals Cresspahls Verlangen nicht
abschlagen können –, auf den zweiten Blick aber nicht ohne Zweideutigkeit.
Besser hätte sich Cresspahl wohl mit einem Argument begnügt als mit dreien;
das Erste hätte ja für sein Verhandlungsziel vollauf genügt! Ein Taufpate muß
Kirchenmitgliedschaft, aber keinen getauften Großvater nachweisen. Man wird
weder rechtlich noch religiös mehr Christ, je mehr christliche Ahnen man
hat. Anstatt den Pastor für dessen Vorbehalt gegen Semig zur Rede zu stellen,
kommt Cresspahl mit seinem Hinweis auf den Großvater ungewollt und ohne
es zu ahnen selber der demnächst fälligen NS-Gesetzgebung entgegen.
Sein drittes Argument ist noch zweideutiger. Was heißt: Die Kösters werden
ihre Tochter „nicht blinden Auges weggegeben“ haben? Hatten sie einen solchen Blick als Begabung zu sehen, was Cresspahl weiß, aber gewiß nicht vom
Sehen: nämlich daß Arthur Semig sein Christentum „in einer ordentlichen
Art unterhalten“ habe (Bd. 2, Anh. S. XIV)? Wenn Cresspahl nicht meint, man
könne einem Menschen seine Christlichkeit ansehen, was kann man ihm dann
ansehen? Etwa seine jüdische Abstammung? „Sie wissen doch, man sieht es.“
Aber Arthur sieht doch Dora so ähnlich! Cresspahls Argument ähnelt verdächtig demjenigen van der Straatens in Fontanes Roman „L’Adultera“, der
das antisemitische Mißtrauen seiner Frau gegenüber dem erwarteten Gast
namens Rubehn so auszuräumen versucht: „Er [d.h. Rubehn. N. M.] ist nicht
bloß christlich, er ist auch protestantisch, so gut wie du und ich. Und wenn du
noch zweifelst, so lasse dich durch den Augenschein überzeugen.“ Und dann
zeigt er ihr ein Photo…42
39
Norbert Mecklenburg
Cresspahls gut gemeintes, jedoch verfängliches Großvater-Argument aber, das
er am 7. März 933 Brüshaver vorhält, ist wenig später gänzlich kraftlos. Am
. April wurde eine Verordnung erlassen, die definierte, was das Gesetz vom
7. April zur „Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ in §3 als eine „nicht
arische Abstammung“ bezeichnete: nämlich wenn jemand auch nur einen
jüdischen Eltern- oder Großelternteil hatte.43 Aufgrund dieses Gesetzes wird
Semig aus seinem Amt als Kreisveterinär geworfen. Das geschieht zwar insofern gesetzeswidrig, als man, vorgeblich aus Versehen, keine Rücksicht darauf
genommen hat, daß Semig als ehemaliger Frontsoldat von der Zwangspensionierung ausgenommen ist (359). Dagegen erhebt er, wenn auch erfolglos,
Einspruch, nicht jedoch gegen seine Einstufung als nicht arisch. Denn er kann
zwar einen Großvater vorweisen, der die Taufe genommen hat – der Ausdruck
„genommen“ deutet an, daß jener nicht „liegend“, sondern „stehend“ getauft
worden, d.h. aus dem Judentum übergetreten ist44 –, aber ansonsten muß er
sich mit „jüdischen Großeltern“ abfinden (Bd. 2, Anh. S. XIV), und zwar mit
dreien, wenn man davon ausgeht, daß die Taufe des einen Großvaters nicht eine
solche seiner Frau einschließt.45 So ist er – nach der Definition der Nürnberger
Gesetze von 935 – Jude und lebt in einer so genannten Mischehe.
Natürlich sind all diese Ausdrücke und Unterscheidungen auf den Rassenund Vernichtungsantisemitismus des Nazi-Staates bezogen. „Was er glaubt
ist einerlei/In der Rasse liegt die Schweinerei.“46 Oder, im Originalton der
Hamburger Gestapo: „Wenn man einen Hund mit Wasser übergießt, so bleibt
er doch ein Hund.“47 Die perverse Paradoxie der Nazi-Gesetze liegt ja darin,
daß sie, zum „Schutze des deutschen Blutes“, und zwar „ohne Rücksichtnahme
auf Konfession“, eine Zugehörigkeit zu „jüdischem Blut“ gerade und allein
nach der Konfession, nämlich derjenigen der Großeltern, definieren.48 Gewiß
darf man hier nicht gedankenlos oder nachlässig den Nazi-Sprachgebrauch
übernehmen – Semig als „Dreivierteljude“ usw. – , andererseits scheint es
mir kaum möglich, sprachlich hinter die Shoah einfach zurückzugehen,
indem man Judesein konfessionell definiert wie Christsein.49 Das gelingt ja
– wie gezeigt – nicht einmal Cresspahl unzweideutig. In Raul Hilbergs Standardwerk „Die Vernichtung der europäischen Juden“ sind die Christen, die
nach Nazi-Gesetzen als Juden oder Mischlinge eingestuft, verfolgt, ermordet
wurden, keineswegs vergessen. Auch in einer Studie über Johnsons Darstellung der Verfolgung der „Juden in Mecklenburg“ sind mit dem Wort „Juden“
ebenso „Menschen jüdischer Herkunft“ wie „Menschen jüdischen Glaubens“
gemeint.50 Der Christ Arthur Semig ist Jude nur in dem Sinne, daß er wegen
40
Nachbarschaften mit Unterschieden
seiner jüdischen Herkunft mit Gewalt zum Juden gemacht wird. Das kann
kein „Jahrestage“-Leser überlesen.
Problematisch ist es allerdings, wenn man Arthur Semig als „assimilierten
Juden“ bezeichnet. Denn es ist sicher angebracht, zwischen Dr. Arthur Semig
und z.B. Dr. Wilhelm Spiegel sorgfältig zu unterscheiden, 51 auch wenn der
„Jahrestage“-Diskurs beide – über Dora Semigs Perspektive – eng zusammenführt. Engführung heißt bei Johnson ja keineswegs Verwischung von
Unterschieden. Semig, Tierarzt, ist Mitglied der Evangelischen Gemeinde in
Jerichow, Spiegel, Rechtsanwalt und SPD-Politiker, am 3. März 933 ermordet, war Mitglied der Israelitischen Gemeinde in Kiel.52 Auf Spiegel paßt die
Bezeichnung „Vertreter eines bürgerlich-national assimilierten Judentums“53
gewiß besser als auf Semig, denn Spiegel nahm bewußt und aktiv diejenige
Errungenschaft der Judenemanzipation in Anspruch, die Juden seit dem
Kaiserreich dazu motivierte, sich deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens
zu nennen. Christen mit jüdischen Vorfahren kamen größtenteils aus dieser
Gruppe; insofern verkörpern sie gewissermaßen eine maximale Stufe der
Assimilation (. Stufe: bürgerliche Gleichstellung; 2. Stufe: kulturelle Assimilation; 3. Stufe: Religionswechsel).54
Allerdings sieht man Wilhelm Spiegel nicht gern als „jüdischen Rechtsanwalt“
(294) bezeichnet, wie es der „Genosse Schriftsteller“ einmal tut – vielleicht
um dem Leser mit dem Zaunspfahl zu winken.55 Johnson stellt uns ja auch
Arthur Semig nicht als „christlichen Tierarzt“ vor. Gewiß wurde der Sozialist
und Antifaschist Spiegel auch ermordet, weil er Jude war, aber das meinten
seine Mörder ja wohl kaum im religiösen Sinne. „Was er glaubt ist einerlei…“
Genau darum macht sich Dora Semig nach der Lektüre der Zeitungsnachricht
über Spiegels Ermordung Sorgen um ihren Mann.
Ich glaube, es gibt einen Grund, warum einige „Jahrestage“-Interpreten, darunter
auch ich, den Christen Arthur Semig, sicher zu undifferenziert, als typischen
Vertreter eines assimilierten Judentums bezeichnet haben.56 Dieser Grund liegt
darin, wie und nach welchen Konzepten Johnson selbst diese Figur modelliert
hat, also wiederum in seiner „Erzähl- und Aufklärungsabsicht“. Zwar gehört
zu Johnsons Figurenpoetik bekanntlich der Grundsatz, sie als autonome Personen zu behandeln und zu respektieren, so als könnten sie jederzeit von sich
sagen: Nicht die anderen, sondern ich selbst bestimme, wer ich bin.57 Semig
bestimmt sich als deutschen Staatsbürger christlichen Glaubens, und wenn
Cresspahl das respektiert, sollte es auch der Leser tun. Aber diese Autonomie,
41
Norbert Mecklenburg
diese individuelle Differenz gegenüber Zuschreibungen von außen, wird leider
in zweierlei Hinsicht unterlaufen.
Das Eine ist, daß es bekanntlich mit unserer Autonomie nicht so weit her ist,
wie unsere Selbstliebe es will, wenn wir nüchtern die Determinanten unseres
Lebens ins Auge fassen. „Wir sind immer mehr Sein als Bewußtsein“ – in dieser
Einsicht stimmt Gadamer nicht nur mit Heidegger, sondern auch mit Marx
überein, und auch Johnsons realistische Figurenpoetik entspricht ihr. Allerdings
legt sie ebenso auf den Spielraum Wert, den eine Person gerade dann nutzen
kann, wenn sie ein illusionsloses Bewußtsein ihrer eigenen Determinanten hat.
Gesine hat dieses Bewußtsein, Arthur Semig nicht. Er macht sich Illusionen,
und er verdrängt das Wissen um seinen Status als „existentieller“ Außenseiter.58
Nicht daß er zu einer lutherischen anstatt zu einer israelitischen Gemeinde
gehört, ist der entscheidende Unterschied gegenüber Wilhelm Spiegel, sondern daß er unpolitisch lebt und denkt – ganz so wie viele andere bürgerliche
Deutsche jüdischer Herkunft, die ebenfalls zu spät „aufgewacht“ sind (893),
nämlich aus Illusionen über ihre Integration in Deutschland.
Genau auf dieses typische Mentalitätsmuster kommt es Johnson bei der Modellierung der Semig-Figur und ihrer Geschichte an. Arthur kann und will nicht
begreifen, warum er aus dem Land gehen soll, in dem „alle so sprachen wie er,
wenn sie auch in Manchem anders dachten“ (472). Hier zeigt sich der zweite
Grund dafür, daß man nur begrenzt von einer Autonomie der Romanfiguren
ausgehen kann. Sie sind und bleiben eben Figuren, nüchtern textanalytisch
ausgedrückt: semantische Merkmalbündel, und unterscheiden sich darin von
realen Personen. Auch eine Figur Johnsons kann, entgegen seinen bekannten
Mystifikationen, nur in dem Rahmen über sich selbst bestimmen, den der Autor
für sie vorbestimmt hat. Seinen Erzählkonzepten ist sie unterworfen.
Warum z.B. hat Johnson seinem Jerichower Tierarzt den seltenen Familiennamen „Semig“ gegeben? Der Vorname „Arthur“ ist nicht jüdisch, sondern
keltisch, auch wenn er im 9. Jahrhundert bei jüdischer Namenflucht gern als
Ersatzname gewählt wurde. Namen wie „Semisch“ oder „Semig“ können von
dem wendischen Wort „samu“ = „selbst“ abgeleitet werden59 – so wäre Arthur
Semig niemand anderer als eben er selbst. Oder „Semig“ ist wie „Simm“ Kurzform eines wendischen Namens „Simand“ (auch „Simank“, „Schimmang“), der
auf den biblischen Namen „Simon“ zurückgeht.60 Darum war „Simon“ natürlich
immer auch ein christlicher Vorname, jedoch, wegen der Nähe zu „Simeon“
und „Simson“, auch ein jüdischer bzw. jüdisch besetzter Familienname. „Simon“
42
Nachbarschaften mit Unterschieden
kommt von griech. simós = stumpfnäsig. Sollte das auf Arthurs „Hasenkopf “
verweisen? Aber ist ein Hase nicht eher langnäsig? Woran immer Johnson bei
seiner Namenwahl gedacht haben mag – noch leichter als bei „Arthur“ „Arier“
kann sich bei „Semig“ „Semit“ als Assoziation einstellen. Sollte das gewollt
sein, so verwiese diese literarische Namenstrategie symbolisch auf ein nicht
tilgbares Element in der Anlage der Figur Arthur Semig: ihre unbestimmte
und doch gewisse jüdische Herkunft.
Ein anderes Erzählkonzept besteht darin, daß die Arthur Semig aufgezwungene Identitätskrise im Verhalten seiner Frau Dora gespiegelt wird. Das Symbiotisch-Solidarische dieser Ehe schließt für Dora nicht nur jeden Gedanken
daran aus, auf die infamen Versprechungen der Behörden für eine Scheidung
einzugehen (624), sondern führt in der Emigration, im geteilten Leiden an
Not und Demütigung, bei ihr zu einer merkwürdigen Überidentifikation mit
der jüdischen Zwangsidentität ihres Mannes, und zwar noch bevor Arthur
selbst „aufgewacht“ ist. Ausgerechnet Dora, die – wie es ironisch-paradox heißt
– „von Natur evangelisch ist“ (544), schließt sich selbst in diese Identität mit ein,
indem sie am eigenen Leibe erfährt, daß „wir Juden sind“ (65f.). So spricht
sie in einem Brief von sich selbst als einer „Jüdin, die ich bin“ (982). Was sie
damit meint, bleibt eine Leerstelle. Die Christin Dora spricht hier übrigens
ähnlich wie die Christin Lisbeth. Die sagt: „Christus war auch ein Jude. Denn
sind wir auch welche“ (547).
Gesine aber fragt sich befremdet: Ist Dora „bei den Tschechen oder den
Franzosen zum Glauben der Juden übergetreten? Hat Semig am Ende in der
Fremde versucht, wie die Juden zu leben?“ So offen diese Fragen bleiben, so
unwahrscheinlich macht der Kapitelkontext, daß Gesine sie bejaht. Denn es
ist eben dieses Karfreitagskapitel, das Passahkapitel, das ihre härteste Aussage
über Religion enthält, nämlich über den Glauben der Juden in Hinblick auf
die Vernichtung der Juden (98). Arthurs „Aufwachen“ versteht Gesine darum
gewiß nicht als Erweckung zum jüdischen Glauben, sondern als Erkenntnis
seiner lebensbedrohlichen Lage, und Doras Bekenntnis als „Jüdin“ nicht als
religiöse Konversion, sondern als menschlich-partnerschaftliche Solidarität.
Dora identifiziert sich freiwillig mit der Rolle, in die ihr Mann gezwungen
wird. Er ist für sie Jude in dem Sinne, daß er als Jude vertrieben und verfolgt
wird, und indem sie dieses Schicksal mit ihm teilt, fühlt auch sie sich als „Jüdin“.
Diese demonstrative Geste sollte man ebenso ernst nehmen wie Cresspahls
demonstrative Bezeugung, daß Arthur Semig Christ ist. Er ist beides.
43
Norbert Mecklenburg
Das leitende Erzählkonzept für Semigs Geschichte aber lautet: Illusion und
Desillusionierung. So groß die Anteilnahme ist, die sein Weg aus bürgerlicher
Sekurität und kleinstädtischer Nachbarschaft in die Fremde, in die Erniedrigung, ins Nichts weckt, sowenig läßt sich die Kritik überlesen, welche die
Erzählung an dieser Figur implizit übt. Die Anfänge der systematischen rassistischen Diskriminierung hält Arthur für „persönliche Intrige“ (359f.). Ans
Grotesk-Komische grenzt die Erzählung darüber, wie er sich mit Händen und
Füßen gegen das Bemühen seiner Freunde wehrt, ihn zur Selbstrettung durch
Auswanderung zu bewegen, das er als „Einmischung“ zurückweist (544-547).
Noch während seiner Haftzeit 937 wiegt er sich in der „Gewißheit, daß nicht
möglich war, was ihm zustieß“, daß das ihm widerfahrende Unrecht nur ein
„Versehen“ sein könne. Nur „seiner Frau zuliebe“ geht er schließlich auf eine
„Reise“, nicht etwa in die Emigration (624).
Diese Haltung Semigs kritisiert die Erzählung nicht als seine persönliche Schwäche – so hätte er, als Überlebender, sich womöglich selber kritisiert –, vielmehr
als Befangenheit in einem Denkmuster seiner sozialen Klasse. Das wird nirgendwo deutlicher als in der Gegenüberstellung mit der anderen Familie jüdischer
Herkunft in Jerichow, den Tannebaums. Diese Gegenüberstellung dient allein
dem Zweck der Differenzierung. Semig ist wie Tannebaum ein Fremder in der
Jerichower Gemeinschaft, nämlich ein als Jude stigmatisierter Außenseiter, aber
im Unterschied zu dem Kleiderhändler ist er sozial, regional, kulturell weitgehend integriert, denn er hat von Anfang an „dazugehört, mit Besitz, mit Bildung“
(544). So lassen die anderen mit Besitz oder Bildung den Akademiker Semig
– „Jude hin. Jude her“ (357) – mehr als Nachbarn gelten als den anderen, ihm
soll „nichts passieren“, und darum wollen sie – Antisemiten, die sie trotz aller
Nachbarschaft sind – „sich wenigstens einen Juden vom Halse schaffen“ (544).
Johnson realisiert das Erzählprogramm einer Differenzierung der Differenzen
in den „Jahrestagen“ vorrangig dadurch, daß er seine Figuren und ihre Beziehungen sozial durchmodelliert. Die soziale Differenz ist die Schlüsseldifferenz.
An ihr relativieren sich andere Differenzen. Sie selbst aber relativiert sich nur in
besonderen Fällen menschlich-persönlicher Nähe und Freundschaft. Das wird
von Johnson so konsequent befolgt, daß er manchmal, ganz selten, mit dem
Zaunpfahl winkt. So teilt er dem Leser z.B. mit: „Von den Tannebaums, jüdische
[!] Kleiderhandlung zu Jerichow, verabschiedete Dr. Semig sich nicht. Er hatte
kein Mal mit ihnen zu tun gehabt; nicht einmal als Kundschaft“ (626). Das sind
ganz überflüssige Sätze, kein Leser würde es anders erwarten. So unterstreichen
sie nur dick, was der Leser längst weiß: daß Semig und Tannebaum eben zwei
44
Nachbarschaften mit Unterschieden
verschiedenen Gruppen angehören, auch wenn der NS-Antisemitismus sie
mit Gewalt in eine zwingt.
Jakob in Olmütz
Auch Jakob hatte, wie Gesine und eine Reihe weiterer Personen in den „Jahrestagen“, eine interkulturelle Erfahrung gemacht. Er hat eine Zeitlang in einem
anderen Volk und einer fremden Sprache gelebt. Das war genau ein Jahr vor
seiner Erfahrung mit dem kapitalistischen Westen, in Düsseldorf bei Gesine,
einer sehr irritierenden, befremdenden Erfahrung, die, bei seiner Heimkehr,
mit dem Tod endete. Demgegenüber ist die Erfahrung mit den Tschechen,
dem „Brudervolk“ im Rahmen des Ostblocks, nahezu idyllisch, zumindest
sehr nachbarlich. Diese Erfahrung von Nachbarlichkeit steht jedoch in krassem Gegensatz zu dem gleichzeitig vermittelten Wissen über kommunistische
Machtstrategien im tschechoslowakischen Nachbarland.
Daß es gerade ein Ort in der ČSSR ist, in dem Jakob ein paar Wochen lang im
Herbst 955 bei Eisenbahnern gelebt haben soll, paßt gegen Ende des „Jahrestage“-Erzählprojekts, am 3. August 968 (805-82), dem Jahrestag des Mauerbaus sieben Jahre zuvor (789), auffällig gut, der erzählenden Figur Gesine wie
dem „Genossen Schriftsteller“. Johnson stellt dadurch eine Doppelklammer her,
einerseits zur Jerichow-Ebene: zweimal das stalinistische System der Fünfziger
Jahre und sein Terror in zwei betroffenen Ländern; andererseits zur Gegenwartsebene: zweimal ČSSR. Das Land, in das Gesine und Marie eine Woche
später reisen sollen, Jakob war schon einmal da, 3 Jahre früher. Johnson war
die Doppelklammer offenbar so wichtig, daß er diese Jakob-Episode im Kapitel
vom 3. August anachronisch eingeschoben hat: zwischen den Lockenvitz-Prozeß und Gesines Abitur 952. Das Jahr 955 ist erst am 7. August fällig (864ff.),
da ist aber die Schul- und DDR-Geschichte schon zu Ende erzählt.
Warum aber greift Gesine hier in ihrer Erzählung vor? Über Jakobs Besuch bei
„sin lütt Süster“, die inzwischen in Halle studiert (834), und über die aus den
„Mutmassungen“ bekannten Ereignisse im Herbst 956 (866) spricht sie mit
Marie jeweils erst ein paar Tage später. Sie selbst gibt die Antwort:
„Hier haben wir ein Kind, dem steht die Reise in sieben Tagen ungemütlich
bevor, dem ist das Land zu fremd, […]. Nun muß eine Verköstigung her, ein
Vorgeschmack; der lange aufgesparte für Notzeiten. Ob Marie wohl weiß, daß
45
Norbert Mecklenburg
Jakob im Herbst 955 Briefe geschrieben hat aus Olmütz, Olomouc, wo er auf
dem hl. n. die Betriebstechnik des Dispatchens einübte, am Eisenbahnkilometer
Nr. 253 von Prag aus?“ (806f.)
Marie soll das fremde Land, in das sie nicht gerne mitgeht, etwas vertrauter
werden. So versucht Gesine sie zu ködern, indem sie erzählt, wie dieses Land
Jakob etwas vertraut wurde, als er 955 eine Zeitlang bei tschechischen Eisenbahnern in Mähren „en famille“ lebte (807). Von diesen Leuten hat Gesine als
Jakobs „lütt Süster“ seitdem „eine Einladung“ (809). Marie beißt an: „Jakob
hat einmal gearbeitet, wo wir sein werden? Sehen wir uns das an?“ (807)
Jakob hat seit 953 mit Gesine Briefe darüber ausgetauscht, wie „das Leben
ist in der Fremde“ (490). Aus der einen Fremde, Westdeutschland, schrieb
Gesine; 955 konnte dann auch Jakob einmal von einer Fremde berichten, für
die sich Gesine schon damals sehr interessierte: Prag, die Stadt Kafkas, die ihr
aber aus beruflichen Gründen unzugänglich war. Jakob hat also Briefe aus
Olmütz geschrieben, und einer davon liegt – angeblich – in einem Banksafe in
Düsseldorf verwahrt (8). Es bleibt für den Leser ungewiß, ob Gesine ihrer
Tochter nur erzählt, was sie weiß, ob sie es für ihren Zweck ausschmückt, ob
es Jakobs Brief und Olmütz-Erfahrung überhaupt gibt. Gesine beschwört das
auf Verlangen Maries zwar, aber dem „Genossen Schriftsteller“ bekennt sie
hernach: „Und wenn’s ein Meineid war, ich tät’s gleich noch mal“ (8).
Gleichwohl hat dieser vielleicht doppelt fiktive Brief von 955 insofern einen
dokumentarischen Wert, als er – wie noch näher gezeigt werden soll – so detaillierte zeitgeschichtliche Informationen über die ČSSR enthält, wie sie im
Westen damals noch kaum bekannt waren. (Eine lange SPIEGEL-Serie über
kommunistische Machtstrategien in verschiedenen osteuropäischen Ländern,
aus der Johnson Informationen auch zur ČSSR entnehmen konnte,61 erschien
erst ein Jahr später62).
Der Kapitelbeginn bietet Nachrichten von einem ziemlich unterkühlten
Besuch Ulbrichts bei Dubček – Spätstalinismus vs. Reformkommunismus
– und einen Rückblick auf die vortägige Reise der Cresspahls nach Chicago
(805f.). Für den neuen Tag ist ein Ausflug vorgesehen. Dieser Ausflug mit der
U-Bahn auf die Insel Rockaway im Atlantik bildet den Erzählrahmen für die
Geschichte von Jakob in Olmütz: Wahrzunehmen sind da eine verkommene,
durch Bauspekulation zerstörte amerikanische Gegend und verkümmerte
menschliche Beziehungen (8f.). Das steht in gezieltem Kontrast zu dem
alteuropäischen mährischen Ort Olmütz und der warmherzigen Nachbar46
Nachbarschaften mit Unterschieden
lichkeit der dortigen Gastgeber gegenüber Jakob. Trotzdem würde Marie am
Ende doch lieber in Amerika bleiben, und sie lacht über eine Frau, die mitten
im fröhlichen Menschengewimmel des U-Bahnsteigs ein deutschsprachiges
Buch liest über die „Einsamkeit des Menschen in der modernen amerikanischen Gesellschaft“ (82).
Der Binnenteil besteht aus Gesines Erzählung von Jakob in Olmütz, mit kurzen
Zwischenbemerkungen Maries. Er bietet vier Abschnitte: () die stimmungsvolle
Beschreibung eines spätherbstlichen Morgens bei Feliks und Tonja (807f.); (2)
wie sie Jakob liebevoll umsorgen und auf eine Zugreise nach Prag mitnehmen
(809); (3) wie sie ihm ‚Landeskunde‘ vermitteln über die kommunistische
Machtübernahme in der ČSSR, exemplarisch mit Hinweisen zum Kirchenkampf und zu einer infamen „Parfümkistenverschwörung“ (80); (4) wie
Jakob – nur? – gesprächsweise verstrickt wird in eine sehr private Frage: Wann
ist eine außereheliche Liebschaft ein Verrat (8)?
Diese Sequenzbildung zeigt deutlich, wie Johnson hier in charakteristischer
Weise dokumentarisch-zeitgeschichtliche Information (3) in eine fiktionale
Handlung (, 2, 4) eingebettet, Ansichten von einem fremden Land narrativiert
hat. Er läßt den Leser daran teilhaben, was Marie von Gesine, Gesine von Jakob, Jakob von Feliks und Tonja erfahren hat. So kann er ihm, wie es Gesine
– allerdings nicht ganz erfolgreich – mit Marie versucht, dieses andere Land
und seine Leute ein Stück näherbringen. Gleichzeitig wird durch kapitelinterne
und -übergreifende Klammerbildung eine komplexe Opposition aufgebaut:
hier Rockaway/USA, ‚freie Welt‘, aber ‚Entfremdung‘ – dort Olmütz/ČSSR,
Kommunismus, aber Nachbarlichkeit. Ein interkulturelles Erzählen also, das
die Differenzen nicht polarisiert, sondern differenziert.
Die Strategie des Näherbringens besteht in der Anbindung der politisch-historischen Sachinformationen an die Begegnung mit Personen als Zeitzeugen.
Feliks und Tonja geben Jakob eine Lektion in Landeskunde. Diese besteht
erstens aus Grundwissen, von historischen Daten („Olmützer Punktuation“)
und Bauwerken bis zum Alltagsleben unter staatssozialistischer Mangelwirtschaft (kein Draht, keine Zitronen, keine Teelichter); zweitens aus Kafkakunde,
denn die Pragreise führt systematisch zu den Lebensstätten des Prager Autors63
(Gesine in Düsseldorf hat sich bei Jakob Fotos davon bestellt); drittens – und
das nimmt den meisten Raum ein – Kommunistenkunde. (Leider ist nicht zu
erkennen, wie Jakob diese Lektion aufnimmt). Für den Leser wie für Marie
ist diese tschechoslowakische Landeskunde zugleich Geschichtskunde, die
47
Norbert Mecklenburg
auf Vergleichen und Unterscheiden angelegt, an Bekanntes anschließbar ist:
ČSSR- vs. DDR-Kommunismus, stalinistische vs. nationalsozialistische Machtergreifung, katholischer vs. evangelischer Kirchenkampf.
Zu einer Erzählkunst, die Fremdes näherbringt, gehört in diesem Kapitel
noch mehrerlei: Da sind der Einstieg in medias res mit einer suggestiven
Morgenszene und die Einlage einer ebenso suggestiven Katzenszene (809)
– Szenen, die den Leser unmittelbar in Jakobs Olmützer Leben „en famille“
hineinziehen. Da ist ein Erzählhumor, der die fremden Menschen näherbringt, indem er Allzumenschliches nicht übergeht: Das katholische Ehepaar
hat bei seinem riskant staatskritischen Erzählen Vertrauen zu Jakob, „obwohl
er nach Luther erzogen war und in die Hölle kommen würde“ (80). Da ist
das Problem der Fremdsprache, das punktuell, exemplarisch gezeigt, jedoch
ziemlich heruntergespielt wird – Jakob lernt etwas Tschechisch –, im Ganzen
jedoch überspielt wird durch ,Übersetzung‘ der auf Tschechisch zu denkenden
Gespräche in vertrauten norddeutschen Sound: „Nu hab dich man nicht so
für deine achsseen Heller!“ Jakobs stummes Blickgespräch mit einem kleinen
Jungen wird sogar, wohl dem zuhörenden Kind Marie zuliebe, auf Englisch
dargeboten (808).64
Und da ist schließlich, in Gegenzug zur näherbringenden Anbindung an die
Figurenperspektive Jakobs, eine kräftige Relativierung dieser interkulturellen
Idylle durch Einblenden der harschen politischen Fakten. Daß Tschechen als
„Nachbarn“ auch anders sein konnten, hat im übrigen die Lebensgeschichte
Prof. Kreslils gezeigt (926). Vollends Distanz schaffen die Schlußszene (4), in
der wie aus heiterem Himmel ein Ehebruch ominös beschworen wird – vermutlich aufgrund einer entsprechenden Obsession des Autors – , und Gesines
dickes Herausstreichen ihrer Unverläßlichkeit als Nacherzählerin – oder Erfinderin? – von Jakob-Briefen (8).
Den Höhepunkt des Kapitels und den Abschluß der Lektion in Landeskunde
bildet die dichte Verflechtung von fiktionaler und dokumentarischer Erzählung
in der Geschichte von der „Parfümkisten-Verschwörung“ (80f.). Sie ist, abgesehen von der Einleitungsszene, die längste Episode des Kapitels. Olmütz als
Schauplatz verbindet die kleine mit der großen Geschichte, zu der Namen wie
Beran, Beneš, Gottwald und Jan Masaryk gehören. Oral history wird simuliert:
„Dafür sind wir hier in Olmütz berühmt, Jakob.“
Wie der ungeklärte, vermutliche Mord der Kommunisten an dem Außenminister Masaryk (852, 027f.). sind es auch Lehrstücke über ihre skrupellosen
48
Nachbarschaften mit Unterschieden
Machtstrategien, wie sie mit dem Erzbischof Josef Beran umsprangen, der
jahrelang in Dachau KZ-Häftling gewesen war, oder mit dem Staatspräsidenten
Beneš. Diese relativ bekannten Ereignisse werden nur kurz angedeutet. (Der
Leser weiß bereits, daß erst mit dem Prager Frühling ihre Aufarbeitung einsetzte.
399, 54) Im Vergleich mit ihnen klingt die grotesk-infame Geschichte von der
„Parfümkisten-Verschwörung“ am . September 947, einem kommunistischen
Spengstoffattentat auf drei Prager Minister, darunter auch Masaryk, wie ausgedacht. Dabei hat Johnson sie Punkt für Punkt aus einer zeitgeschichtlichen
Untersuchung getreu übernommen.65 (Diese Quelle ist eindeutig identifizierbar,
u.a. durch Johnsons irreführende Bezeichnung der „Volkssozialisten“, einer
demokratischen Mitte-Links-Partei, als „Nationalsozialisten“, 8066).
Neben einem Tischler – das schreibt der Eisenbahner Jakob der Tischlerstochter
Gesine – gehörte auch ein Eisenbahner aus dem Distrikt Olmütz, also ein Arbeitskollege von Feliks, zu den Beteiligten. Dadurch ist diese historische Episode
noch suggestiver in den fiktionalen Rahmen eingeflochten. Einmal jedoch hat
Johnson eine kleine, aber für seine Technik des „Einschwärzens“ bezeichnende
stilistische Änderung vorgenommen: Dem in das Attentat verstrickten Eisenbahner Opluštil, der vernommen werden sollte, drohten seine kommunistischen
Parteioberen an, er könnte – wie es in Johnsons Quelle heißt – „be crushed
between two cars“.67 Statt „cars“ schreibt Johnson: „Waggons“: Das ist näher
dran an Eisenbahneralltag und – wie der Leser der „Mutmassungen“ weiß – an
den Umständen, unter denen Jakob stirbt, genau ein Jahr, nachdem er diese
Geschichte von seinen tschechischen Kollegen gehört hat.
Anmerkungen
1
Wolf Dieter Otto: Fremde und Fremderfahrung in Uwe Johnsons „Jahrestagen“.
In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache. 9. Jg., 993, S. 44-66. – Colin Riordan:
„Nachmittage in der Fremde.“ Dislokation in Uwe Johnsons „Jahrestage“. In: Reisen
im Diskurs. Modelle der literarischen Fremderfahrung von den Pilgerberichten bis
zur Postmoderne. Tagungsakten des Internationalen Symposions zur Reiseliteratur,
University College Dublin. Herausgegeben von Anne Fuchs und Theo Harden.
Heidelberg: Carl Winter 995, S. 23-228. (= Neue Bremer Beiträge. 8).
2
Thomas Schmidt: Der Kalender und die Folgen. Uwe Johnsons Roman „Jahrestage“.
Ein Beitrag zum Problem des kollektiven Gedächtnisses. Göttingen: Vandenhoeck
& Ruprecht 2000, S. 237. (= Johnson-Studien. 4).
49
Norbert Mecklenburg
3
Norbert Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsons. „Jahrestage“ und andere
Prosa. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 997, S. 3-20.
4
Vgl. Anm. 2.
5
Lewis Mumford: Die Stadt. Geschichte und Ausblick. Köln, Berlin: Kiepenheuer &
Witsch 963, S. 670f.
6
Alexander Mitscherlich: Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Anstiftung zum Unfrieden.
Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 965, S. 26. (= edition suhrkamp. 23).
7
Uwe Johnson: Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag. Bd. : 970, Bd. 2: 97, Bd. 3: 973, Bd. 4: 983. – Hier und im folgenden
werden die Seitenangaben aus dieser Ausgabe dem Text mit einfachen Zahlen in
Klammern eingefügt.
8
Uwe Johnson: Heute Neunzig Jahr. Herausgegeben von Norbert Mecklenburg.
Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 996, S. 28-32, 54-67.
9
Uwe Johnson: Ein Brief aus New York. In: Johnsons „Jahrestage“. Herausgegeben
von Michael Bengel. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 985, S. 30-34. (= suhrkamp
taschenbuch materialien. 2057).
10
Eberhard Fahlke: „Die Katze Erinnerung“. Uwe Johnson – Eine Chronik in Briefen
und Bildern. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 994, S. 94.
11
Johnsons „Jahrestage“. Der Kommentar. Herausgegeben von Holger Helbig, Klaus
Kokol, Irmgard Müller, Dietrich Spaeth (†) und Ulrich Fries. Göttingen: Vandenhoeck
& Ruprecht 999, S. 909.
12
Uwe Johnson: Das dritte Buch über Achim. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 96,
S. 8f.
13
Eberhard Fahlke: „Die Katze Erinnerung“, a.a.O., S. 94f.
14
Ekkehart Krippendorff: Die amerikanische Strategie. Entscheidungsprozeß und
Instrumentarium der amerikanischen Außenpolitik. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag
970, S. 463.
15
Uwe Johnson: Heute Neunzig Jahr, a.a.O., S. 5f.
16
Diesen Scherz als Karikatur des „Kursbuch“-Marxismus mißverstehen kann nur, wer
vergessen hat, daß er sich selber einmal als Johnsonforscher zu den „sogenannten
linken westdeutschen Intellektuellen“ gezählt hat: Bernd Neumann: Uwe Johnson.
Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 994, S. 596.
17
Vgl. Anm. 0.
18
Er hat wohl selber gemerkt, daß da an seiner Figur etwas nicht stimmt; darum läßt
er sie einmal sich bei ihm beschweren: Er habe ausgelassen, daß sie in zehn Monaten
immerhin dreimal in der Philharmonie gewesen sei (427).
19
In: Neue Rundschau. 80. Jg., 969, S. 26-274; abgedruckt in: Johnsons „Jahrestage“.
Herausgegeben von Michael Bengel, a.a.O., S. 35-52 (im folgenden zitiert als T).
50
Nachbarschaften mit Unterschieden
20
Ich verdanke diese Information Eberhard Fahlke (Uwe-Johnson-Archiv, Frankfurt/M.).
21
Joseph P. Lyford: The Airtight Cage. A Study of New York’s West Side. New York:
Harper & Row 966, 356 S. (im folgenden zitiert als L).
22
Vgl. Sibylle Luithlen: Konzepte der Amerikadarstellung in Uwe Johnsons „Jahrestagen“. Köln 998, Magisterarbeit.
23
Upper West Side (T 35f.): 573-576; Riverside Drive (T 36-40): 5-54; Riverside Park
(40f.): 88-9); Slums (T 4-45): 84-848; Broadway (T. 48-52): 26f., 96-99, 75f.
24
Steven V. Roberts: Brownsville Sinks in Decay and Fear. In: The New York Times,
Ausgabe vom 7.03.968. – Die im Text folgenden englischen Zitate stammen alle aus
diesem Artikel.
25
Das ist ein Satz wie Leuten ins Stammbuch geschrieben, welche die marxistische
Art der Gesellschaftskritik in den „Jahrestagen“ leugnen wollen. Leute, die das, auch
aufgrund solcher Sätze, nicht gut können und darum eine Differenz zwischen Gesines
marxistischer und Johnsons angeblich un- oder sogar antimarxistischer Sichtweise
konstruieren, müssen damit an der Identität der Aussagen im Roman und im New
York-Essay scheitern; dieser hält sogar den Ausdruck „idiotisch“ bereit (T 43).
26
Dietz Bering: Der Name als Stigma. Antisemitismus im deutschen Alltag 82-933.
Stuttgart: Klett-Cotta 987, S. 6, 350.
27
In den Büchern über die Shoah aus Johnsons Bibliothek ist der Name bisher nicht
gefunden worden. Er findet sich auch nicht in dem umfangreichen Namenregister
bei Danuta Czech: Kalendarium der Ereignisse im Konzentrationslager AuschwitzBirkenau 939-945. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag, 989. Vielleicht war es ein
Spitzname, abgeleitet von dem Verb ‚stibitzen‘, d.h. „heimlich und listig kleinigkeiten
entwenden“ (Grimm: Deutsches Wörterbuch); denn der würde zu dem von Frau
Ferwalter beschriebenen Verhalten dieser vergleichsweise „guten“ KZ-Wächterin
genau passen: als Ermunterung, etwas Nahrung unauffällig zu stibitzen.
28
Vgl. auch Uwe Johnson: Heute Neunzig Jahr, a.a.O., S. 95.
29
Thomas Schmidt: Der Kalender und die Folgen, a.a.O., S. 294. – Dazu kritisch Norbert Mecklenburg: Ungeziefer und selektiertes Volk. In: The Germanic Review. 78.
Jg., 200, S. 254-266, hier S. 263.
30
Thomas Schmidt: Der Kalender und die Folgen, a.a.O., S. 25.
31
Thomas Schmidt, a.a.O., S. 238.
32
Raul Hilberg: Die Vernichtung der europäischen Juden. Durchgesehene und erweiterte Ausgabe. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag 990, Bd. 2, S. 862, 875.
(= Fischer Taschenbücher. 062).
33
Raul Hilberg, a.a.O., S. 78, 790.
34
Raul Hilberg, a.a.O., S. 862-896.
51
Norbert Mecklenburg
35
Raul Hilberg, a.a.O., S. 859, 886.
Raul Hilberg, a.a.O., S. 897f., 906. – Vgl. Martin Gilbert: Endlösung. Die Vertreibung
und Vernichtung der Juden. Ein Atlas. Aus dem Englischen von Nikolaus Hansen.
Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag 982, 264 S. (= rororo aktuell. 503). – (UweJohnson-Archiv, Nr. 828), Karte 255.
37
Johnsons „Jahrestage“. Der Kommentar, a.a.O., S. 960f.
38
In seinem Essay „Ein Teil von New York“, den Johnson vor den „Jahrestagen“ veröffentlicht hat, ist die Rede von einer realen jüdischen Nachbarin vom Riverside Drive,
einer „Emigrantin aus Karlovy Vary“, welche die gleichen nostalgischen Gefühle hat
wie die Mrs. Ferwalter zugeschriebenen: Johnsons „Jahrestage“. Hrsg. v. Michael
Bengel, a.a.O., 985, S. 38. – Vgl. auch Bernd Auerochs: „Ich bin dreizehn Jahre alt
jeden Augenblick.“ Zum Holocaust und zum Verhältnis zwischen Deutschen und
Juden in Uwe Johnsons „Jahrestagen“. In: Zeitschrift für deutsche Philologie. Berlin.
2. Jg., 993, S. 595-67, hier S. 6.
39
Dieter Schlesak: Unser Erbe, das Nichts. In: Die Zeit. Hamburg. Nr. 42 vom 4.0.988.
– Schlesak bezieht sich u.a. auf Hans Wolfram Hockl: Offene Karten. Dokumente zur
Geschichte der Deutschen in Rumänien 930-980. Linz 980, S. 38. (= Donauschwäbische Beiträge. 76).
40
Raul Hilberg: Vernichtung, a.a.O., S. 966f.
41
Rainer Paasch-Beeck: Zwischen „Boykott“ und „Pogrom“. Die Verdrängung und
Ermordung der jüdischen Bevölkerung Mecklenburgs im Spiegel der „Jahrestage“.
In: Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur. München. 200, H. 65/66 (Uwe Johnson.
Neufassung), S. 9-34; hier S. 27f.
42
Theodor Fontane: Romane und Erzählungen. Berlin: Aufbau-Verlag, 3. Aufl. 984, Bd.
3, S. 24. Vgl. dazu Elisabeth Hoffmann: „L’Adultera“ und die ‚Judenfrage‘ (ungedr.
Vortragsmanuskript). – Norbert Mecklenburg: Theodor Fontane. Romankunst der
Vielstimmigkeit. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 998, S. 97ff.
43
Raul Hilberg: Vernichtung, a.a.O., S. 70.
44
Diesen Hinweis verdanke ich Elisabeth Hoffmann.
45
Es ist also irreführend zu sagen, Semig habe „unter seinen Vorfahren auch einen
jüdischen Großvater gehabt“: Paasch-Beeck: Zwischen „Boykott“ und „Pogrom“,
a.a.O., S. 29.
46
Raul Hilberg: Vernichtung, a.a.O., S. 70.
47
Ursula Büttner/Martin Greschat: Die verlassenen Kinder der Kirche. Der Umgang
mit Christen jüdischer Herkunft im ‚Dritten Reich‘. Göttingen: Vandenhoeck &
Ruprecht 998, S. 2.
48
Also keineswegs nach dem „blood of their grandparents“ (Michael Berenbaum,
zitiert bei Paasch-Beeck: Zwischen „Boykott“ und „Pogrom“, a.a.O., S. 28), das sie
ebensowenig definieren können wie das der Enkel.
36
52
Nachbarschaften mit Unterschieden
49
Die Hilfsbezeichnung „Judenchristen“ – immer in distanzierenden Gänsefüßchen
– ist eben nur eine Hilfsbezeichnung. Büttner/Greschat: Die verlassenen Kinder,
a.a.O., S. 9.
50
Rainer Paasch-Beeck: Zwischen „Boykott“ und „Pogrom“, a.a.O., S. 22.
51
Rainer Paasch-Beeck, a.a.O., S. 27.
52
„Israelitisch“ sind in Wahrheit auch die „israelischen Kultusnachrichten“, die der
Verleger des Lübecker General-Anzeigers 933 aus dem Blatt wirft (98), als es noch
keinen Staat Israel gab.
53
Norbert Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsons, a.a.O., S. 305.
54
Es waren die „‚Judenchristen‘, die sich am stärksten der deutschen Mehrheit assimiliert […] hatten“. Büttner/Greschat: Die verlassenen Kinder, a.a.O., S. 2.
55
Rainer Paasch-Beeck (Zwischen „Boykott“ und „Pogrom“, a.a.O., S. 25) nennt das
höflicher „Erzähl- und Aufklärungsabsicht Johnsons“.
56
Vgl. Anm. 53 sowie Auerochs: „Ich bin dreizehn Jahre alt jeden Augenblick“, a.a.O.,
S. 605; Michael Hofmann: Dr. med. vet. Arthur Semig: ein Jude in Jerichow. In: Zeitschrift für deutsche Philologie. Berlin. 4. Jg., 995 (Sonderband), S. 65-84, hier S. 73.
57
Rainer Paasch-Beeck: Zwischen „Boykott“ und „Pogrom“, a.a.O., S. 29. – Ganz in
diesem Sinne läßt Johnson Gesine sagen: „Meine Psychologie mach ich mir selber,
Genosse Schriftsteller.“ (428).
58
Das heißt: in Unterschied zum „intentionellen“ ein Außenseiter von Geburt an. Vgl.
Hans Mayer: Außenseiter. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 975, S. 3, 6, 8.
59
Max Gottschald: Deutsche Namenkunde. Unsere Familiennamen nach ihrer Entstehung und Bedeutung. München: Lehmann 932. S. 362 und 340.
60
Max Gottschald: Deutsche Namenkunde. Mit einer Einführung in die Familiennamenkunde von Rudolf Schützeichel. 5. verbesserte Aufl. Berlin: Walter de Gruyter
982, S. 46.
61
Z.B. die Parallelisierung der Umstände des Todes von Jan Masaryk mit dem historischen ‚Prager Fenstersturz‘.
62
„Ich bin ein Lump, Herr Staatsanwalt!“ (4. Fortsetzung). In: Der Spiegel. Hamburg,
Ausgabe vom 2.2.956, S. 43-5.
63
Johnsons „Jahrestage“. Der Kommentar, a.a.O., S. 98f. – 955 ist auch genau das Jahr,
in dem Johnson bei Hans Mayer ein Referat „Das Leben Franz Kafkas“ schrieb, lange
bevor in der DDR und in der ČSSR das literaturideologische Verdikt gegen Kafka
revidiert wurde.
64
Eine sehr ähnliche Szene, nur im New Yorker Viertel Upper West Side spielend, kann
Johnson bei Lyford gefunden haben: The Airtight Cage, a.a.O., S. 23.
65
Claire Sterling: The Masaryk Case. New York: Harper & Row 969, S. 5ff.
53
Norbert Mecklenburg
66
67
54
Claire Sterling, a.a.O., S. 5: „National Socialists“.
Claire Sterling, a.a.O., S. 53.
Barbara Scheuermann
„Halt dir grade, Mensch!“
Uwe Johnson:
Fremdbilder und Selbstbild
Die Kesten-Affäre und ihre Folgen
Nur knapp zwei Jahre war Uwe Johnson Mitglied der Deutschen Akademie für
Sprache und Dichtung in Darmstadt. Anlass und Gründe für seinen Austritt
hat er in seinen Frankfurter Vorlesungen unter dem Titel „Begleitumstände“
breit dargestellt: Er hält dafür, dass der Umgang mit Wörtern – wie mit Menschen – genau und verlässlich zu sein habe; sein Nachweis, dass bestimmte ihn
betreffende Formulierungen in einem Ausstellungskatalog zum Büchner-Preis
und seinen Trägern ungenau, missverständlich und deshalb wahrheitswidrig
seien, mündet in die Forderung, der Katalog müsse zurückgezogen werden, und
die Ankündigung, er werde die Akademie verlassen, sollte seiner Forderung
nicht entsprochen werden.1
Mit Blick auf die Frage, ob bei diesem ,Begleitumstand‘ Johnsonsche Idiosynkrasien oder aber das Verpflichtetsein eines Akademiemitglieds auf Wahrheit
und Wahrhaftigkeit zu verhandeln sind, wird im Folgenden zunächst die von
Johnson auf der Herbsttagung der Deutschen Akademie 977 gehaltene Antrittsrede unter den Aspekten ,Selbstoffenbarung‘ und ,Selbstverhüllung‘ genauer
untersucht. Die Rede wurde inzwischen mehrfach nachgedruckt, zuletzt in
dem zum 50. Jubiläum der Akademie herausgegebenen Sammelband „Wie
sie sich selber sehen“.2 Anschließend soll vor dem Hintergrund dieser Rede
versucht werden, Johnsons Sicht seines Streits mit Hermann Kesten aus dem
Jahre 96, auf den jener Ausstellungskatalog Bezug nimmt, sowie die öffentliche Wahrnehmung dieses Streits und seine Auswirkungen zu beschreiben,
zu erklären und zu bewerten.
Barbara Scheuermann
„Andere über mich“
Johnsons Antrittsrede abgedruckt im Feuilleton einer großen Wochenzeitung
zu lesen führt zu anderen Leseeindrücken als die Wahrnehmung desselben
Textes in Sammelbänden, die sich ausschließlich Uwe Johnson widmen.3 Noch
anders ist die Wirkung, wenn diese Rede im Verbund mit weiteren aus demselben Anlass gehaltenen Reden gelesen wird, wie es jener Band mit den – seit
962 üblich gewordenen – Vorstellungsreden neuer Mitglieder der Deutschen
Akademie für Sprache und Dichtung gestattet.
Wie manch anderer Redner auch, beginnt Johnson mit dem Topos der Bescheidenheit, des Herausgefordertseins durch die ihm gestellte Aufgabe der
Selbstdarstellung,4 der er im Folgenden auf ungewöhnliche Weise zu genügen
gedenkt. Unter Aufnahme in die Akademie rubriziert er „Pflichten“, nicht
aber Dankbarkeit und Stolz.5 Einer dieser Pflichten kommt er nun mit seiner
Vorstellungsrede nach; er braucht dafür freilich mehr als jene fünf Minuten,
die das Ritual vorsieht.6 Einleitend spricht der Redner, Klimax und Hyperbel
miteinander verbindend, von der „Härte, ja, Grausamkeit der Aufgabe“,7 die
die Aufforderung, sich selbst vorzustellen, für ihn bedeute. Der Hauptteil der
Rede verknüpft das Chronologische mit der Vorstellung von Begriffen und dem
Nachweis von deren Unzulänglichkeit. Die Rede endet mit einem – inzwischen
häufig zitierten – Bekenntnis: „Aber wohin ich in Wahrheit gehöre, das ist die
dicht umwaldete Seenplatte Mecklenburgs von Plau bis Templin, entlang der
Elde und der Havel“.8
„Pommer“ – „Mecklenburger“ – „Flüchtling“ (im Nachkriegsdeutschland)
– „Bürgerlicher“ – „Leipziger“ – „Staatsbürger“ (der DDR) – „Verräter“ – „Flüchtling“ (aus der DDR) – „Kein Flüchtling“ (in Westberlin) – „Trojanisches Pferd“
– „Dichter der beiden Deutschland“ – „Westberliner“ – „Kommunistenschwein“
– „New Yorker“ – „Bürger der Bundesrepublik Deutschland“ – „German“
– „Nachbar“; so lauten die Bezeichnungen, mit denen Johnson sich auseinandersetzt.9 Sie fokussieren bestimmte Lebensabschnitte des Autors und sind gleichwohl nur als – akzeptierte oder zurückgewiesene – Teile eines Gesamtbildes
sinn- und identitätsstiftend. Indem Johnson die Fülle ihm geltender disparater
Zuschreibungen zum Gegenstand seiner Rede macht, kann er Widersprüchliches
kritisch beleuchten, durch Detaillierung und Kontrastierung das oberflächlichklischeehafte gegen das tiefgründend-treffende Urteil abgrenzen.
56
„Halt dir grade, Mensch!“ Johnson: Fremdbilder und Selbstbild
Durch die Variation von Verben, die die Außensicht betonen, geht der Redner
auf Distanz zu geläufigen Zuschreibungen: „Ihr neues Mitglied wird […] ein
,Pommer‘ genannt“, „es gefällt Leuten, mich einen Mecklenburger zu nennen“,
dort „galt ich als einer von den ,Flüchtlingen‘“, später „wurde ich mir bekannt
gemacht als ein ,Bürgerlicher‘“.10 Die Variation in der Einbindung jener aus
der Außensicht stammenden Formulierungen erzeugt zugleich deutliche ironische Effekte. Als den für seine Kindheit und Jugend bestimmenden Faktor
führt Johnson seine Herkunft an, zunächst geographisch (Pommer/Mecklenburger), dann gesellschaftlich (Flüchtling/Bürgerlicher),11 und er leitet seine
Verbundenheit mit Mecklenburg ganz konkret aus der Arbeit ab, die einem
(Flüchtlings-)Kind in der Nachkriegszeit abverlangt wurde: „durch eigene, ausgiebige Beschäftigung mit dem Boden dieses Landes, beim Kartoffelwracken,
Rübenverziehen, Heuwenden, Einbringen von Raps und Roggen, des Umgangs
mit den Tieren auf diesem Boden nicht zu vergessen.“12 Nicht so sehr kompositorisches Element denn Mittel detaillierender Veranschaulichung ist hier die
rhetorische Figur der Häufung, rhythmisiert durch die altertümlich klingende
genitivische Wendung am Schluss und die ihr vorangestellte Alliteration. Die
arbeitend gewonnenen Kenntnisse und Einsichten sind es, die Johnson die
Identität ,Mecklenburger‘ annehmbar erscheinen lassen.13 Weniger annehmbar
indes ist für ihn, was der sozialistische Staat und die herrschende Ideologie
dem Einzelnen abverlangen oder aufzwingen, indem sie selbstherrlich Bildungschancen verteilen. Lapidar listet der Redner Beispiele staatlicher Willkür
auf: Die Bezeichnung „Flüchtling“ gilt als herabsetzend und wird verboten,
an ihre Stelle tritt der ideologisch erwünschte „Umsiedler“; der Sohn der als
bürgerlich geltenden Fahrkartenkontrolleurin in Personenzügen bleibt vom
Studium ausgeschlossen, jenem, der eine als Arbeiterin eingestufte Güterwagenschaffnerin zur Mutter hat, stehen hingegen alle Türen offen.14 Johnson
führt dies als Erziehung zu Unaufrichtigkeit und Lüge vor – als einen Prozess,
der schließlich mit seinem Weggang aus Rostock endet: „Es muß nicht die
Universität sein in Mecklenburg.“15 Die emphatische Ausklammerung verweist
auf ein kompliziertes Verhältnis von Nähe und Distanz zu Mecklenburg,16 zu
dem sich zu bekennen ihm andernorts zur selbstverständlichen Pflicht wird:
„Unverdrossen als ein Mecklenburger bezog ich eine sächsische Universität“.17
Diese ironisch gefärbte Selbstoffenbarung berührt freilich nur sehr beiläufig
Johnsons folgenreiche Auseinandersetzung mit staatlichem Unrecht; statt, wie
von ihm gefordert, die Kampagne gegen die Junge Gemeinde zu rechtfertigen,
distanzierte er sich 953 öffentlich von den Machenschaften der Regierung,
57
Barbara Scheuermann
indem er detailliert deren Verstoß gegen mehrere Verfassungsartikel nachwies.
In seiner Antrittsrede von 977 spricht Johnson fast sybillinisch davon, dass
auch die Universität Rostock sozialistisch habe werden sollen, „und wer die
Auslegung dieser Verwandlung durch die Behörden einmal verfehlt und dabei
des Beistands seiner Kommilitonen entbehrt, geht nach dem zweiten Jahr erst
einmal weg.“18 Diese Äußerung ist Selbstverhüllung, stellt eine Erfahrung als
abgearbeitet dar, die doch, wie seine Frankfurter Vorlesungen von 979 zeigen,
für Johnson und sein Schreiben zentral blieb.
Wahrhaftigkeit und Verlässlichkeit sind die Fixpunkte dieser Rede. Sie betreffen
das Private – Johnsons Umgang mit Freunden in Leipzig – wie sein Verhältnis
zum Staat,19 der ihn schikaniert und von dem er sich dennoch nicht lossagt: „Da
mir aber gerade gelegen war an der Natur dieser öffentlichen Sache, dieser res
publica und Republik, weiterhin an dem Deutschen und dem Demokratischen
dabei, lebte ich weiter im ehemaligen Mecklenburg und im ehemaligen Sachsen“.20 Der Akzent liegt auf dem Epitheton „ehemalig“; es hält die Erinnerung
an ein Unrecht wach, das historisch Gewachsenes zerstörte.
Wer wahrhaftig und verlässlich sein will, dem sind politische Schlagwörter
suspekt. Damit erklärt Johnson seinen Weggang aus der DDR genauso wie
nachfolgend seine Distanz zum westdeutschen Feuilleton, durch das er sich
verkürzt, zum Teil auch gehässig mit Etikettierungen wie „Dichter der beiden
Deutschland“ und „Trojanisches Pferd“ traktiert sieht.21 Die neue Heimat Berlin vorübergehend zu verlassen wird infolgedessen als notwendige Reaktion
vorgeführt,22 dieser Vorgang indes zugleich humoristisch gebrochen durch
das Wortspiel „sich auf den Leib ziehen/verziehen“ und den parataktischen
Anschluss am Ende des Satzes: „Dann zog [trug] mir eine Doppelgeschichte
über eine Berliner Liebschaft […] nochmals den Titel auf den Leib, der mich
zum Fachmann machte bloß für die deutsche Teilung, und ich verzog mich
nach New York.“23
Das letzte Lebensjahrzehnt und damit die Jahre nach dem Aufenthalt in New
York skizziert der Redner nur noch mit wenigen Worten. Der Schluss seiner
Einlassung liefert eine ungewöhnliche Klimax, die Fazit und Programm zugleich ist. Wenn der Redner sich hier als jemanden definiert, „der hat es mit
Flüssen“,24 dann gelangt er endlich im Kern zu jenem „Ich über mich“, das als
Überschrift seit dem Abdruck in der „Zeit“ vom 4..977 die wiederholte Veröffentlichung dieser Rede begleitet hat. An dieser Schlusspassage hat Johnson
besonders gefeilt, wie ein Blick in die Erstfassung der Rede zeigt. Er ändert
58
„Halt dir grade, Mensch!“ Johnson: Fremdbilder und Selbstbild
„dann kam die Nebel von Güstrow“ in memorierendes „durch Güstrow fließt
die Nebel“; auf das unspezifisch klingende „Berlin ist bekannt für Havel und
Spree“ verzichtet er ganz. Er präzisiert „Peene“ zu „Peene von Anklam“, „nach
Rostock“ zu „nach und in Rostock“ und verlebendigt „seit drei Jahren habe
ich vor dem Fenster die Themse“ in „seit drei Jahren bedient mich vor dem
Fenster die Themse“; die wohlklingende und zugleich irritierende Wendung
„ich gedenke auch eines Flusses Hackensack“ fügt er neu hinzu.25 In dem
komprimierten Schlussteil seiner Rede zeigt sich der Autor als wort-, stil- und
faktenkundiger Rhetor.
Auf welches Bild des Autors Uwe Johnson und seines Werdegangs zielt nun
diese Rede als ganze? Dem Zuhörer wie dem Leser wird in einem sehr dichten
Text vermittelt, dass hier jemand weiß, wer er ist, versteht er doch hinlänglich
zu begründen, wer er nicht ist. Was immer Johnson getan hat, im Kontext dieser
Selbstdeutung wirkt sein Handeln folgerichtig und schlüssig. Indem er den
Heimatbegriff als zentrale Kategorie nutzt, setzt er Zuhörer wie Leser auf die
Spur eines ,Menschen von Mecklenburg bis Manhattan‘, der sich zuvörderst
als einen Mecklenburger sieht, der vorübergehend indes auch Leipzig, vor
allem jedoch Westberlin als Heimat angenommen hat.26 Unlösbar verknüpft
mit den Gegenden und Orten, in denen er lebte, ist seine literarische Biographie, auf deren frühe Stationen er sich bezieht, um sein Erzählprogramm zu
verdeutlichen: im Blick auf die DDR als einen „Beitrag zu ihrer Wirklichkeit“,
insgesamt als ein Angebot seiner „verwandelten Erfahrungen […] zur beliebigen Verwendung durch den Leser“.27
Der Redner zeichnet von sich das Bild eines Mannes, der sich stets streitbar, aber
nie streitsüchtig eingemischt hat, wo Wahrheit und Wahrhaftigkeit gefährdet
waren. Licht und Schatten verteilt er so, dass der Gegner borniert, er selber
– als der Verteidiger einer guten Sache – hingegen besonnen und klug erscheint:
„Denn ich war in wissenschaftlichen Instituten belehrt worden über die Bemühungen und die Befugnisse von Dichtern; mir hatte das als eine Warnung
gedient.“28 Durch Selbstironie umgeht Johnson dabei die Gefahr, dass solche
Einlassungen besserwisserisch oder selbstgerecht klingen könnten.
Manche der in dieser Rede gewählten Wendungen mögen den Leser an ähnliche Formulierungen Johnsons in Interviews, Gesprächen oder Vorträgen
erinnern; sie gehören unverkennbar zu seiner öffentlichen Selbststilisierung.29
Ungewöhnlich jedoch sind Zugriff und Verknüpfung: das Ernstnehmen der
Außensicht auf den Autor, das abwägende Vorstellen und Prüfen der ihm
59
Barbara Scheuermann
angetragenen Bezeichnungen als Facetten eines Gesamtbildes. Johnsons
Selbstdarstellung wirkt durch den Gestus der Betroffenheit, der hier und da
durchscheint, glaubwürdig und anrührend, zum Beispiel in seinen Bemerkungen zu Leipzig („Glauben Sie einem Landsmanne der Sachsen.“) und zur
Stadt Westberlin („Nicht nur habe ich sie mir als eine Heimat erworben, ich
versuchte auch ihren anderen Bewohnern gut zuzureden bei dem Gebrauch,
den sie seit der Einmauerung von ihrer Stadtbahn machten“).30
Bereits in den Anfängen seines Schreibens hat die Außensicht auf seine Person
den Autor Uwe Johnson beschäftigt, wie ein früher Text ausweist, in dem er
– über ihn in Zeitungen und im Rundfunk verbreitete – Beschreibungen und
Urteile anderer präsentiert. Unter dem 29. Februar 960 äußert er gegenüber
seinem Verleger, dass ihm die Bitte einer Wochenzeitung, er möge eine Aussage
„Über mich selbst“ abliefern, wenig gefallen habe; da er sich einer solchen Aufgabe nicht wiederholt aussetzen wolle, liefere er anliegend – zur Begutachtung
durch seinen Verleger – eine „Dauerlösung“. Siegfried Unseld antwortet am 3.
März mit dem überschwenglichen Lob „Die physiognomische Zusammenstellung ist brillant.“31 Anders als die Vorstellungsrede vor der Deutschen Akademie
wurde jener Text von 960 „Über mich selbst“ freilich keine „Dauerlösung“,
weil er Blickwinkel und Wahrnehmungsweise der Beobachter allein durch
Auswahl und Kontrast ad absurdum führt, auf eine Auseinandersetzung mit
den Urteilen anderer über Johnson jedoch verzichtet.32
Merk-Würdiges über ,Neues zur neuen deutschen Literatur‘
Zwei Jahre nach jener Zusammenstellung von Auszügen aus Zeitungen und
Rundfunksendungen hätte Johnson, so er denn seinen Text hätte aktualisieren
wollen, über erheblich brisantere Materialien verfügen können. Bis ins Frühjahr
962 hinein war der Johnson-Kesten-Streit mit der sich anschließenden heftigen
öffentlichen Auseinandersetzung ein wichtiges kulturpolitisches Thema der
Medien.33 Zahlreiche Zeitungen und Zeitschriften druckten – mit unterschiedlichen Bewertungen – Äußerungen der Beteiligten und Kommentare von Schriftstellern, Publizisten und Politikern. Johnson hat alle Reaktionen aufmerksam
verfolgt und noch am 3.4.962 in der „Zeit“ mit einem „Offenen Brief über
Offene Briefe. Die Nützlichkeit des Postgeheimnisses“ reagiert.34 Aus einigen
jener Artikel zitiert er später in seinen Frankfurter Poetik-Vorlesungen.
60
„Halt dir grade, Mensch!“ Johnson: Fremdbilder und Selbstbild
Auslöser des Streits war die Rede „Neues zur neuen deutschen Literatur“, die
der Schriftsteller und Literaturkritiker Hermann Kesten 96 zunächst während der traditionellen Herbsttagung der Deutschen Akademie für Sprache
und Dichtung in Darmstadt hielt, also kurz nach dem Bau der Berliner Mauer am 3. August jenes Jahres. Diese Rede, die sich auch heute noch wie ein
Pamphlet liest, wurde bereits im Herbst 96 von der Presse als „Provokation“
eingeschätzt.35 Das Jahrbuch der Akademie vermerkt in seinem Bericht über
die Diskussionen, es habe „an den herausfordernden Thesen Kestens“ gelegen,
„daß ihnen die meisten Erwiderungen galten“.36 Zum Stein des Anstoßes wird
die Rede jedoch erst in Mailand, wo Kesten sie bei der Vorstellung des jungen
Autors Uwe Johnson durch den Verleger Feltrinelli ein weiteres Mal – leicht
verändert – hält.37 Den Autor, um den es hier aus Anlass des Erscheinens der
Übersetzung von „Mutmassungen über Jakob“ in Italien vorrangig gehen sollte,
erwähnt Kesten dabei nur am Rande.38
In seiner Darmstädter Rede liefert Kesten einen Schnelldurchgang durch die
deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts, mit einer eigenwilligen Ausgangsthese
(„diese neueste Berliner Mauer […] hat eine neue Periode in der deutschen
Literatur aufgerichtet“),39 einem Rundumschlag gegen realistische Literatur in
Ost und West, die er als „Scheinrealismus“ und „Superformalismus“ diskreditiert,
und der abstrusen Schlussfolgerung, dass mit der Zäsur des 3. August 96 „die
postfaschistische Periode“ durch „die humanistische Periode“ abgelöst worden
sei.40 Den in der Bundesrepublik angeblich vorherrschenden „unmoralischen
Ästhetizismus“, den er als „transkontinentales Geschmäcklertum“ verortet,41
sieht Kesten durch die Ereignisse des 3. August geschwächt, wodurch das
Ende „der schmerzlichen und peinlichen Epoche der moralischen Indifferenz“
gekommen sei.42
Die wenigen Textproben zeigen einen schlichten Literaturbegriff und ein dichotomisch-manichäisches Verständnis von Literaturgeschichte, sprachliche
Übertreibungen und Unzulänglichkeiten in der Begriffswahl, unbelegte Behauptungen und apodiktische Urteile. Der Bericht im Jahrbuch der Akademie
von 96 über die Diskussion der Kesten-Rede zitiert ausführlich aus einem
Artikel von Karl Korn, der in der FAZ vom 7.0.96 unter der Überschrift
„Die Literatur und die Mauer“ ein genaues Bild von den Diskussionsbeiträgen
zeichnet und mit der Einschätzung schließt: „So schien denn Kesten ziemlich
eingekreist. […] Kesten schien insoweit einzulenken, als er Form, Moral und
Humanität der Literatur schließlich nicht mehr als Gegensätze sah.“43
61
Barbara Scheuermann
Dass Bert Brecht in Kestens Rede als „Prediger und Diener der Diktatur“ apostrophiert wird,44 führt in Mailand zum Eklat. Angesichts des Tenors seiner
Rede konnte Kesten mit der Zustimmung eines literarisch gebildeten Publikums,
zumal bei einer Veranstaltung im Hause Feltrinelli, eigentlich nicht rechnen.
Er scheint gleichwohl davon durchdrungen gewesen zu sein, dass seine Sicht
die allein richtige sei und seine Zuhörer deshalb auch überzeugen werde. Dass
die in Darmstadt während der Herbsttagung der Deutschen Akademie erhobenen Einwände von Autoren wie Walter Höllerer und Dolf Sternberger ihn
nicht veranlassten, seine Rede in einigen Punkten abzuändern, widerlegt die
Vermutung von Karl Korn, Kesten sei in Darmstadt schließlich bis zu einem
gewissen Grade zum Einlenken bereit gewesen.
In Mailand widerspricht Uwe Johnson Kestens Thesen mit Entschiedenheit;
seine Richtigstellung betrifft vor allem den Mauerbau und die Person Bert
Brechts. Wenige Tage später erscheinen in der Münchner „Abendzeitung“ und
in der Hamburger „Welt“ Berichte Hermann Kestens über die Veranstaltung
in Mailand; ihr Verfasser behauptet unter anderem:
„Uwe Johnson erklärte nachdrücklich, seine Romane seien völlig unpolitisch.
Er sprach mit Verachtung von Moral. […] Übrigens sei die Mauer quer durch
Berlin (Ulbrichts Mauer) keineswegs unmoralisch (wie ich behauptet hatte!).
[…] Die Mauer sei notwendig gewesen.“45
Am 7. November – noch vor Kestens erstem Zeitungsartikel – nimmt Johnson
in einem Brief an Siegfried Unseld auf die Vorgänge in Mailand Bezug; ironisch-herablassend geht er auf die Angelegenheit ein und gibt seinem Verleger
einen humoristisch ausgestalteten Bericht:46
„Mich wundert, daß Ihr schon wissen solltet von dem Skandal in Milano, Ihr
könntet mir mal schreiben, woher. […]
Am nächsten Abend kam der Skandal. Herr Kesten hatte eine Rede vorgelegt
im Manuskript, die von uns allen einmütig für Geschwätz gehalten wurde, man
kann eine grundsätzliche Unkenntnis der deutschen Nachkriegsliteratur auf
weniger als 0 Seiten zu verstehen geben. Er wurde um Kürzungen gebeten,
beschäftigte sich aber am Nachmittag mit der Anfertigung neuer Passagen.
[…] Herr Kesten sprach sehr lange in einem Italienisch, das die Einheimischen
an die deutsche Besatzungsmacht erinnerte, für das sich zu entschuldigen er
nicht für nötig hielt. […] Als er ,servitore‘ sagte zu Brecht, erhoben sich Teile
des Publikums und riefen ,buh‘. […] Als er fertig war, stand mein Dolmetscher
mit mir auf und wir gaben die Unterschiede meiner Meinung bekannt. Ich
62
„Halt dir grade, Mensch!“ Johnson: Fremdbilder und Selbstbild
leugnete, daß dieses mangelhafte Bauwerk [die Mauer; B.S.] ein literarisches
Datum sei und äußerte einiges Merkwürdige über die fahrlässige Vermischung
von Geschichte und Moral. Zu Brecht sagte ich, er habe einer Diktatur nicht
gedient, sondern in einer Diktatur gelebt. Erzählte dann von der Ausweisung
aus Amerika, der Verweigerung einer Aufenthaltserlaubnis für die westlichen
Besatzungszonen und von dem geschenkten Theater als einem Instrument, ein
Lebenswerk in Gestalt zu bringen; erzählte auch zwei Keuner-Geschichten von
der Gewalt und vom Überleben und behauptete, Brecht habe uns ein Beispiel
des Überlebens gegeben. Dem Publikum gefiel das, dem Kesten gefiel das nicht,
aber seine Wortmeldung wurde von Feltrinelli nicht zugelassen.“
„Als er fertig war, stand mein Dolmetscher mit mir auf und wir gaben die
Unterschiede meiner Meinung bekannt. […] Dem Publikum gefiel das, dem
Kesten gefiel das nicht“.
Johnson veranschaulicht hier seinem Verleger die Mailänder Vorgänge als
szenisches Geschehen, in welchem ihm selber eine tragende Rolle zufällt, die
er selbstbewusst auszufüllen versteht, der Zustimmung des weiteren Mitspielers ,Publikum‘ von Anfang an gewiss. Seine Einschätzung, er habe „einiges
Merkwürdige über die fahrlässige Vermischung von Geschichte und Moral“
geäußert, nutzt die Doppelbedeutung von ,merkwürdig‘ – im ursprünglichen
Sinne als ,notatione dignus‘ und im heute geläufigen Verständnis als ,auffallend‘,
,verwunderlich‘ –,47 um mit Selbstironie mögliche Kritik abzuwehren. Um
solche Feinheiten geht es freilich nicht mehr, als Johnson sich wenig später
genötigt sieht, mit dem Tonbandmitschnitt der Mailänder Veranstaltung als
Beweismittel gegen Kestens Unterstellungen öffentlich vorzugehen.
Seit Ende November 96 berichtet und kommentiert die Presse den Kasus
ausführlich; für Kesten und seine Sicht der Vorgänge sind zunächst die Münchener „Abendzeitung“, dann die Hamburger „Welt“ ein Forum, das er für
Verunglimpfungen nutzt: „Uwe Johnson will nur als Tonband mit mir sprechen?
Das eben war ja mein Vorwurf, daß er in Milano wie ein Tonband klang, sogar
wie ein manipuliertes Tonband.“48
Am 5. Dezember unterbricht Johnson wegen der ihn schmähenden Artikel
seine Lesereise durch die Bundesrepublik, um auf einer Pressekonferenz des
Suhrkamp Verlages Kestens Darstellung der Vorgänge als Lüge zurückzuweisen:
„Hermann Kesten hat gelogen. Ich nenne Hermann Kesten einen Lügner.“49 Er
begründet und belegt sein Urteil mit dem Tonbandprotokoll der Mailänder
Veranstaltung – einem Bezugspunkt und Beweismittel auch seiner späteren
Frankfurter Poetik-Vorlesungen.50
63
Barbara Scheuermann
Nach dieser Pressekonferenz setzen sich in den folgenden Tagen zahlreiche
Zeitungen mit dem Streit, seinen Ursachen und seinen Folgen auseinander.
„Wir haben einen Literaturskandal“, konstatiert Joachim Kaiser in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 7.2.96.51 Ein Augenzeugenbericht, abgedruckt in der
„Zeit“ vom 8.2., zeichnet ein Bild der Mailänder Veranstaltung, das im Kern
jener Beschreibung entspricht, die Johnson seinem Verleger am 7.. brieflich
übermittelt hatte.52 Die Gegenüberstellung des Wortlauts der Johnsonschen
Äußerungen mit deren entstellender Wiedergabe durch Kesten – gleichfalls
in der „Zeit“ vom 8.2. – erlaubt es dem Leser, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Auch die „Welt“ dokumentiert am folgenden Tag, einem Sonnabend, die
Vorgänge sehr umfassend: mit Texten von Johnson und Kesten sowie eigenen
kritischen Bemerkungen zu Johnsons Stellungnahme vom 5. Dezember.53 Die
drei Frankfurter Zeitungen – „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, „Frankfurter
Neue Presse“ und „Frankfurter Rundschau“ – äußern Verständnis für Johnson;
die „Frankfurter Rundschau“ deutet den Streit als einen Generationenkonflikt.54
In „Christ und Welt“ befasst sich Barbara Klie mit ersten Reaktionen auf die
Auseinandersetzung und kritisiert die dabei zutagetretenden Beurteilungskriterien:
„Ergriffenheit vor dem Elend des Vaterlands – ist das ein Fahrschein, der dem
Kontrolleur vorgelegt werden muß, und wer den richtigen Tarif nicht kennt,
wird aus dem Zug gewiesen?“55
Inzwischen ist es zu Weiterungen auf der politischen Ebene gekommen: In
der Bundestagsdebatte vom 6.2.96 fordert der damalige Außenminister
Heinrich von Brentano, sich auf Kestens Artikel stützend, dass Uwe Johnson
das – ihm bereits zwei Jahre zuvor zuerkannte! – Villa-Massimo-Stipendium
entzogen werden solle:
„Wir haben die Gewissensfreiheit in Deutschland, das ist selbstverständlich,
und Herr Uwe Johnson kann in Deutschland sagen, was er will. Aber er hat
keinen Anspruch darauf, von dieser Bundesrepublik als Stipendiat und Sprecher ins Ausland geschickt zu werden.“56
Am 8..962 geht der zuständige Innenminister Hermann Höcherl in einer
Fragestunde des Deutschen Bundestages auf die Vorwürfe ein und resümiert
als Ergebnis der öffentlichen Diskussion, Johnson habe sich seinerzeit „nicht
auf die Seite Ulbrichts gestellt und die Schandmauer nicht als ,gut, vernünftig
und sittlich‘ bezeichnet“.57 Das Stipendium wird nicht in Frage gestellt; jedoch
bereitet Kestens Berichterstattung Uwe Johnson insofern weiteres Ungemach,
64
„Halt dir grade, Mensch!“ Johnson: Fremdbilder und Selbstbild
als die Kenntnis davon auch ins Ausland dringt. Zum Jahresende 96 erhält
er einen Brief von Henry Kissinger, in dem dieser sich alarmiert zeigt über
das, was er in der „Zeit“ über den Fall gelesen hat:58
„As I understand them, you said the Wall in Berlin was necessary because the
East German regime could not maintain itself without it. For this reason, the
question of morality did not apply, and that it was not in any case the task
of the intellectuals to make moral judgements./If you forgive me, this is like
saying that the gas chambers were morally justified because they were the
most effective means of exterminating Jews.“
Die Forderung Henry Kissingers, der Intellektuelle müsse eine moralische Instanz sein, ist für Johnson inakzeptabel, sieht er sich doch als Schriftsteller, der
lediglich zu beobachten, zu beschreiben, eine Geschichte zu erzählen hat. Auf
den hier deutlich werdenden prinzipiellen Gegensatz „zwischen Politischem
und Unpolitischem, zwischen Beobachtern und Moralisten“ hebt – in seinen
Tagebuchaufzeichnungen zum Fall Johnson-Kesten – auch Peter Härtling ab; als
„Tagebuchblätter aus dem vergangenen Jahr“ erscheinen seine Aufzeichnungen
962 in der Februar-Ausgabe des „Monats“. Darin zeichnet er ein genaues Bild
von der emotionalen Gespanntheit, in der er – im steten Gedankenaustausch
mit Freunden und Bekannten – Berichte in den Zeitungen und Informationen
von Augenzeugen verfolgt, die Ereignisse und mögliche Hintergründe reflektiert
und sich um ein vorsichtig abwägendes Urteil bemüht:59
„Ich lese eine dpa-Meldung aus Lemgo in Lippe; dort hat Johnson aus seinen
Büchern vorgelesen; und er hat gesagt, er besitze ein Tonband von dem Mailänder Abend, mit dem er beweisen könne, daß er nichts von dem gesagt, was
Kesten in der Welt geschrieben hat: ,Wenn ich das sagte, wäre ich nicht hier.
Er muß alles zurücknehmen. Ich werde da bis zum Ende gehen. Ich lasse mir
das nicht nachsagen.‘ Ein Tonband – hält es auch die Mißverständnisse fest
und macht es deutlich, wie Mißverständnisse entstehen können? Ein Tonband
bedürfte eines Kommentars. Ich frage mich, ob Kesten nicht Recht hat mit
der literarischen Selbstbesinnung vor der Mauer […].“
„Johnson habe, sagt B., den Eindruck eines Heiligen gemacht, der von Pfeilen
getroffen worden sei. Er hat das Tonband für sich reden lassen, selber geredet
und unter anderem Hermann Kesten einen Lügner genannt. In Lemgo noch
hatte er sich auf subtile Unterscheidungen verlassen: dort hatte er Kestens
Attacken als ,Akt des Mißverständnisses und des Mißtrauens‘ bezeichnet, und
war, meine ich, dem ohnehin ärgerlichen Grund nahegekommen. Was ist das
für ein Wort: Lügner? Ich bin froh, dennoch dem Nachmittag in Frankfurt
nicht beigewohnt zu haben. Im allgemeinen, vor allem unter den Jungen,
65
Barbara Scheuermann
herrscht Zufriedenheit. Johnson ist im Reinen. Er wohl – wir jedoch, die wir
in Reflexionen daran beteiligt sind?“
Härtling bewertet Johnsons Urteil über Kesten als problematische Etikettierung, die ausblendet, dass sowohl über die eigentlichen Ursachen der Auseinandersetzung als auch über wünschenswerte Formen literarisch-politischen
Streitens erst noch zu reden sei. Dass Johnson einen anderen Schriftsteller
als „Lügner“ apostrophiert, rührt für Härtling an Grundsätzliches: an das
Selbstverständnis der literarischen Zunft. Zugleich deutet er an, dass solche
Etikettierung wirkungsmächtig sein könnte, indem sie dem Gescholtenen die
Rolle des Widersachers, ja Feindes anträgt – die jener zukünftig dann auch
tatsächlich spielt. Fern solcher Differenzierungen hält Wolfdietrich Schnurre
am 2.2.962 im RIAS Berlin einen Vortrag unter dem Titel „Der Schrifsteller
und die Mauer“, in dem er Johnson als „inhuman und einen schlecht getarnten
Marxisten“ diskreditiert.60 Die literarische Zunft wie das Feuilleton ist gespalten;
und als ,Literaturskandal‘ fordert der Streit seinen Tribut. Schadenfroh lässt
sich dazwischen eine Stimme aus Ostberlin hören: „Soll man sich vielleicht
von einem grünen Jungen aus dem roten Osten auf seine schwarz-braune
Weste spucken lassen?“ Im „Neuen Deutschland“ sekundiert Hermann Kant,
Uwe Johnson hämisch in den Blick nehmend: „Er ist enttäuscht, der Gute: er
hat immer gedacht, die ,Welt‘ und der ,Merkur‘ und sicher auch ,Bild‘ seien
moralische Anstalten.“61
Noch Ende 963 referiert ein Artikel des Literaturkritikers Günter Zehm – erschienen in der „Welt“ anlässlich der Rede von H.M. Enzensberger als BüchnerPreisträger – neuerliche Verunglimpfungen Johnsons durch Kesten:
„Hermann Kesten meinte in einem Hamburger Vortrag, die Rede von Enzensberger basiere auf einem überheblichen, unangemessenen ,Chauvinismus‘
und stelle ihren Autor in eine Reihe mit dem ,unbegabten Nationalisten und
Nationalbolschewisten Uwe Johnson‘.“ 62
Solche Schmähungen bestätigen Peter Härtlings Eindruck, dass es in dieser
Auseinandersetzung um mehr gehe als um eine Fehlleistung des Gedächtnisses.
Kestens denunziatorische Zuschreibungen an Johnson zielen darauf, diesen
als lediglich in der Wolle gefärbten DDR-Adepten zu treffen, für dessen Bild
in der Öffentlichkeit literarische Qualitäten völlig ohne Belang seien. Als
„Nationalbolschewist“ diffamiert, läuft Johnson Gefahr, dass sein literarisches
Werk künftig missdeutet und ignoriert wird.
66
„Halt dir grade, Mensch!“ Johnson: Fremdbilder und Selbstbild
Von Beginn des Streits an ist Johnsons Verleger um Schadensbegrenzung bemüht, wie briefliche Anmerkungen Siegfried Unselds über die „Affaire Kesten“
verraten.63 Unter dem 30. Dezember 962 erinnert er – gekränkt darüber, dass
Johnson in verschiedenen Medien den Anteil, den der Verlag und insbesondere
Unseld an seinem literarischen Erfolg hatten, „auf die Kommatafuchserei“ reduziert habe – diesen seinen Autor an die Erfahrung von Mailand, die belege:
„in der Öffentlichkeit kommen eben Nuancen nicht an […], da zählt nicht das
Gemeinte, sondern das einzelne Wort, das auch für andere Zusammenhänge
zu brauchen ist“.64
Indem er „das Gemeinte“, das die Berücksichtigung des jeweiligen Kontextes
voraussetzt, gegen „das einzelne Wort, das auch für andere Zusammenhänge
zu brauchen ist“, abgrenzt, trifft Unseld den entscheidenden Punkt vermutlich
richtig: In der aufgeregten Atmosphäre nach dem Bau der Berliner Mauer
ist Eindeutigkeit erwünscht, sind Nuancierungen gefährlich. Dass Johnson
in Mailand statt eines Bekenntnisses zur Bundesrepublik eine Reihe – leicht
misszuverstehender – Nuancierungen liefert, ist indes wohl weniger der Situation geschuldet, in der er sich extemporierend zu diffizilen Fragen äußern
muss, als vielmehr seinen persönlichen Erfahrungen in den beiden deutschen
Staaten und seinem Geschichtsbild. Kühl hatte Johnson wenige Wochen vor
dem Mauerbau bilanziert:65
„Die Grenze in einer Stadt ist einmalig, der unerhörte Anblick verleitet dazu
ihn hinzunehmen wie etwas bereits Erklärtes. Er zeigt aber lediglich die gegenwärtige Phase eines Zustands, der veränderlich ist und eine Geschichte
von fünfzehn oder zweiundzwanzig Jahren hat; und seine Bezeichnung ist
irreführend. Es gibt nicht Berlin. Es sind zwei Städte Berlin […].“
Wer eine solch nüchtern-rationale Bestandsaufnahme liefert, kann jene etwa
200.000 Flüchtlinge aus der DDR und Ostberlin, die 96 bis zum 3. August als
Antragsteller für das Notaufnahmeverfahren registriert wurden,66 durchaus als
Verlust für die DDR einschätzen („denn sie [die ostdeutschen Behörden; B.S.]
wollten weiterleben“) und deren Begründung für den Bau der Mauer als Teil einer
allseits bekannten Strategie unaufgeregt und sachlich zur Kenntnis nehmen:67
„Die ostdeutschen Kommunisten haben, als sie diese Mauer zogen, nicht die Absicht gehabt, unmoralisch zu handeln, sondern sie befanden sich in der Notwehr.
Ihre Maßnahmen mussten, da sie den Sozialismus gewaltsam und nicht mit der
Zustimmung der Bevölkerung einführen konnten, Unpopularität erwecken.“
67
Barbara Scheuermann
Johnsons Trennung von Geschichte und Moral wirkt auf zeitgenössische
Leser vor allem deshalb so provozierend, weil sie die offizielle Begründung
der DDR für den Mauerbau, die angebliche Bedrohung durch den Militarismus und Revanchismus der Bundesrepublik, völlig übergeht und das in der
DDR begangene systembedingte Unrecht fast ganz außer Betracht lässt.68 In
dem Entwurf zu einem Brief an Johnson formuliert Peter Härtling in seinen
Tagebuchblättern:69
„Sie haben mich aufgebracht. Denn Sie halten etwas auseinander, das zwar auseinandergehalten werden kann, doch eben von der Geschichte ununterbrochen
zusammengedrängt und vermengt wird. […] Wahrscheinlich wollten Sie sagen:
Marx, ja Hegel, auch Lenin, Lukacz und andere haben nichts mit Ulbricht und
Beria zu tun. Ich halte das für einen erstaunlichen Gedankensprung.“
Für kritische Reaktionen in der westdeutschen Öffentlichkeit hat Johnson
wenig Verständnis; er beharrt auf dem Wortlaut des Gesagten („Diese Mauer
ist nur ein Ereignis, ein wirkliches Ereignis, das die Menschenrechte verletzt,
wie sie in einer westlichen Konvention festgelegt sind, die von dem Ostblock
nicht anerkannt wird.“). Er mag auch nicht konzedieren, dass seine Worte
immerhin missverständlich geklungen haben könnten. Vielmehr bleibt er
bei seiner in Mailand getroffenen „Unterscheidung der Begriffe Moral und
Geschichte“,70 obgleich doch auch der von ihm verehrte Ernst Bloch, der sich
im August 96 zufällig zu einer Vortragsreise in Westdeutschland aufhält,
deutliche, klare Worte über die Mauer auch unter moralischem Aspekt findet.
An den Präsidenten der Akademie der Wissenschaften in Berlin schreibt Bloch
– noch am 20.4.96 hatte er im „Neuen Deutschland“ ein Bekenntnis zur DDR
abgelegt („auf deren Boden ich stehe, mit deren humanistischem Anliegen ich
übereinstimme“)! –, dass er die gegen ihn gerichteten Machenschaften des
ostdeutschen Staates, die zu seiner Isolierung und Kaltstellung geführt hätten,
beklage und daraus nun seine Konsequenzen ziehe:71
„Nach den Ereignissen vom 3. August, die erwarten lassen, daß für selbständig
Denkende überhaupt kein Lebens- und Wirkungsraum mehr bleibt, bin ich
nicht mehr gewillt, meine Arbeit und mich selber unwürdigen Verhältnissen
und der Bedrohung, die sie allein aufrechterhalten, auszusetzen. Mit meinen
76 Jahren habe ich mich entschieden, nicht nach Leipzig zurückzukehren.“
Johnson freilich spricht zwar in seiner Erklärung auf der Pressekonferenz von
der „elenden Mauer, die auch ihn einsperrt“, einer „jämmerlichen Pfuscharbeit“,72 seine Mailänder Bemerkung zum Mauerbau relativiert er damit aber
keineswegs. Kestens Anwürfe legen ihn in gewisser Weise auf eine Position fest.73
68
„Halt dir grade, Mensch!“ Johnson: Fremdbilder und Selbstbild
Johnsons Fähigkeit zu Perspektivenwechsel und Empathie korrespondiert einer
Empfindlichkeit, die ihm Verständigung unter den obwaltenden Umständen als
routinierten Relativismus und kleinmütige Scheinlösung verdächtig macht.74
Hellhörig registriert Johnson jede Verlautbarung der anderen Seite; während
seiner vom 4. bis zum 5..963 stattfindenden Lesereise nach England nimmt
er am 9.. den bereits erwähnten Artikel von Günter Zehm in der „Welt“ zur
Kenntnis und wendet sich sofort brieflich an Siegfried Unseld mit der Frage:
„Muss ich noch lange den wohlerzogenen Jüngeren spielen, nur weil Herr
Kesten alt ist und (wie ich vermute) ein Jude?“75 Johnson nimmt den Streit, die
Reaktion der Öffentlichkeit und die aus beiden erwachsenden Konsequenzen
als tiefgreifende Kränkung wahr, wie der von ihm in „Begleitumstände“ gewählte Vergleich mit der Hexenjagd gegen McCarthy in den USA verrät; noch
979 sieht er sich im Rückblick als Opfer von „Senator Mc Kesten“ und dessen
„Kampagne in seinen Leibblättern“.76
Richtigstellungen – Biographie, Geschichte und Moral
Zum Jahr 97, in dem Uwe Johnson Büchner-Preisträger war, führt der vom
Deutschen Literaturarchiv Marbach und der Deutschen Akademie für Sprache
und Dichtung 978 herausgegebene Ausstellungskatalog zum Büchner-Preis
und seinen Trägern als ein wichtiges Ereignis der Johnsonschen Vita für 96
auf: „Gespräche über den Ost-Berliner Mauerbau auf einem Mailänder Diskussionsabend bei dem italienischen Verleger Feltrinelli; Widerspruch Hermann
Kestens; Diskussion bis in den Bundestag – Heinrich von Brentano fordert
die Rücknahme des von der Bundesrepublik 959 gewährten Villa MassimoStipendiums.“77 Knapp zehn Jahre später – drei Jahre nach Johnsons Tod
– wird der Passus „Widerspruch Hermann Kestens“ in der überarbeiteten und
aktualisierten Fassung des Katalogs abgeändert in: „Streit mit Hermann Kesten
über dessen Interpretation der Äußerungen Johnsons zur Teilung Deutschlands.“78 Für 96 vermerkt der Katalog von 978 zum Büchner-Preisträger
von 974, Hermann Kesten, lapidar: „Streit zwischen Kesten und Uwe Johnson
über Johnsons Äußerungen zur deutschen Teilung und über die politische
Einstellung zur DDR.“79 Diese Formulierung wird in die Dokumentation von
987 mit einer geringfügigen Änderung – „dessen Äußerungen“ statt „Johnsons
Äußerungen“ – übernommen.80
69
Barbara Scheuermann
Erst im Jahrbuch 984 reagiert die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung auf Johnsons in seinen „Frankfurter Vorlesungen“ 979 vorgetragene
Darstellung der Vorgänge, die zu seinem Bruch mit der Akademie geführt
hatten. Nach Uwe Johnsons plötzlichem Tod übernimmt das Jahrbuch einen
freundschaftlichen Nachruf von Wolfgang Koeppen, den dieser am 22.3.984
im „Stern“ veröffentlicht hatte;81 die Literaturangabe wird um eine „Anmerkung
in eigener Sache“ ergänzt:82
„Eine Anmerkung in eigener Sache zu Uwe Johnson nach dessen frühem Tod.
Uwe Johnson wurde am 6. Mai 977 zum korrespondierenden Mitglied der
Akademie gewählt, und er blieb es, auch wenn er sich persönlich verunglimpft
glaubte wie im Falle des – noch heute begehrten – Kataloges, der 978 aus
Anlaß der großen Ausstellung ,Der Georg-Büchner-Preis 95-978‘ erschien.
Johnson nahm Anstoß an bestimmten, ihn betreffenden Formulierungen des
Katalogs, für den das Deutsche Literaturarchiv in Marbach, welches auch den
größten Teil der Ausstellung besorgte, die Verantwortung trug. Johnson vermutete – ganz zu Unrecht; aber er wollte es nicht glauben – ,Machenschaften‘
der Deutschen Akademie und sprach in seinen ,Frankfurter Vorlesungen‘ im
Jahr 979 (erschienen 980 unter dem Titel ,Begleitumstände‘) von der Möglichkeit des Austritts. Die Deutsche Akademie hätte einen solchen Austritt
sehr bedauert, und tatsächlich ist er in der gebührenden Form nie erfolgt.
Daran zu erinnern, scheint nötig, seitdem durch die Notate der ,Frankfurter
Vorlesungen‘ bisweilen der Eindruck entstanden ist, Johnson habe seinen
Austritt aus der Deutschen Akademie erklärt. Und Freunde berichten, er sei
am Ende selbst dieser Meinung gewesen.“
In Übereinstimmung mit dieser Version wurde Uwe Johnson bis zu seinem
Tode als Mitglied geführt, erschien sein Name in den Jahrbüchern der Akademie zwischen 977 und 983 sowohl in den Mitgliederverzeichnissen als auch
unter den Rubriken „Mitteilungen“, „Ehrungen und Auszeichnungen“ und
„Bibliographie“.83 Erst die beiden Publikationen von 999 nennen Johnson als
korrespondierendes Mitglied nur für den Zeitraum von 977 bis 979.84
Die sprachlich ungelenke „Anmerkung in eigener Sache“ ist gewiss anfechtbar,
weil jener Ausstellungskatalog sehr wohl den Eindruck erweckt, das Deutsche
Literaturarchiv Marbach und die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung
seien – als Mitglieder des Arbeitskreises selbständiger kultureller Institutionen
e.V. – gemeinsam und gleichrangig für Ausstellung und Katalog verantwortlich gewesen. Die Feststellung, dass Johnson „sich persönlich verunglimpft
glaubte wie im Falle des – noch heute begehrten – Kataloges“, suggeriert, dass
hier etwas zu verallgemeinern sei, und sucht mit einer Abschweifung die
70
„Halt dir grade, Mensch!“ Johnson: Fremdbilder und Selbstbild
Akademie zu entlasten. In ihren Veröffentlichungen von 999 hätte diese die
Gelegenheit nutzen sollen, mit einer neuerlichen „Anmerkung in eigener Sache“
die Darstellung von 984 zu korrigieren – unter ausdrücklicher Bezugnahme
auf den politischen Diskurs von 96/62 über die Mauer und die politische
Verantwortung des Schriftstellers.
Freilich zeigt Johnsons breite Behandlung der „Kesten-Affaire“ im 4. Kapitel
der „Begleitumstände“ unter der Überschrift „Freiberuflich, 2. Teil“ den Autor
eher streitsüchtig denn streitbar. Johnson verbindet hier berechtigten Unmut
mit verletzender Ironie („Vertrauend auf die bewundernswerte Sorgfalt mit
Fakten, die der Präsident Herr de Mendelssohn in seinen Arbeiten an den
Tag legt, hatte ich erwartet, dass die Akademie den unter ihrer Verantwortung
verfälschten Katalog aus dem Verkehr zieht“).85 Weil seinen Erwartungen nicht
entsprochen wird, nimmt er an, dass „eine der Richtlinien für den Umgang mit
der Wahrheit in der Akademie für Sprache und Dichtung zu Darmstadt der
Umstand ist, dass die Herren de Mendelssohn und Kesten einander schon etwas
länger kennen“ – eine Vermutung, die eher den Charakter einer Unterstellung
hat.86 Unfair ist auch Johnsons Kommentar, an der Formulierung des Mailänder
Vorfalls und seiner Folgen in Kestens Vita falle „bescheiden auf, dass dieser
Mensch nach siebzehn Jahren seine Fälschungen feierte als ein biographisches
Datum von Nennenswert“.87 Genauso wenig, wie Johnson für die Formulierung
des das Jahr 96 betreffenden Eintrags in seinem eigenen Lebenslauf verantwortlich ist, ist es Kesten für die von Johnson als Verunglimpfung aufgefasste
Entsprechung. Dass Johnson der Akademie „den unter ihrer Verantwortung
verfälschten Katalog“ als „irreführend“ vorhält und von ihr erwartet, sie möge
ihn „aus dem Verkehr“ ziehen, dass er die pragmatische Lösung, einen Zettel
mit einer von ihm zu formulierenden Korrektur in den Katalog zu stecken, als
völlig ungenügend zurückweist und mit der Allusion auf Kleists berühmten
Selbsthelfer Michael Kohlhaas schließt – „Unter diesen Umständen werde ich
mir selber helfen müssen“ –,88 zeigt das ganze Ausmaß der Kränkung, die ihn
nun über fast zwei Jahrzehnte hinweg erfüllt hat.
Johnsons Verleger Siegfried Unseld sieht kritisch, wie sein Autor in den Frankfurter Vorlesungen mit der Kesten-Affäre umgeht; aus Anlass einer in der F.A.Z.
erschienenen Rezension gibt er Johnson vorsichtig zu verstehen, dass er dem
Kritiker Günter Blöcker in einem seiner Urteile – „Über-Dokumentation des
Falles Hermann Kesten“ – vielleicht zustimmen könne.89 Auf Johnsons mit
der Publikation der „Begleitumstände“ öffentlich gemachte Forderung, dass
71
Barbara Scheuermann
der inkriminierte Katalog hätte zurückgezogen werden sollen, geht Unseld
brieflich nicht ein; eine „Verwandlung des Buches in Altpapier“, 90 wie sie
Johnson vorgeschwebt haben mag, dürfte ihm als Verleger – in Anbetracht
der finanziellen Folgen – absurd erschienen sein.
Knapp zwanzig Jahre trennen Johnson von der durch Kesten erfahrenen Kränkung,91 als er sich an die Aufarbeitung der Affäre macht – eine Aufarbeitung,
die unter dem Anspruch von Wahrheit und Wahrhaftigkeit begonnen wird und
in kleinliche Rechthaberei mündet. Der zeitliche Abstand zum Streitfall ändert
für Johnson nichts an seiner Wahrnehmung und Bewertung der Vorgänge; der
Gedanke, in zeitgeschichtlicher Perspektive relativierten sich möglicherweise
sowohl Kestens Polemik als auch seine eigenen Befunde, ist ihm fremd. Wer wie
Peter de Mendelssohn Verantwortung für ein Ganzes trägt, muss, so erwartet es
Johnson, dieser seiner Verantwortung in jedem Detail gerecht werden. ScheinKompromisse und lediglich prozedurale Problemlösungen lehnt er ab; das für
richtig Erkannte nur halbherzig zu verfolgen wäre unaufrichtig und moralisch
verwerflich. Johnson ist überzeugt davon, selber entsprechend dieser Maxime
zu entscheiden und zu handeln.92
Ausweis dessen ist seine Vorstellungsrede vor der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung von 977, mit der er versucht, falsche Bilder von der eigenen
Biographie fernzuhalten und einer gebildeten Öffentlichkeit jene Maxime als
Mittelpunkt des eigenen Lebens vorzuführen. Dieses neue Mitglied der Akademie ist, in der Selbstverhüllung sich doch zugleich offenbarend, Moralist, unter
keinen Umständen bereit, eine Ungenauigkeit in der Wortwahl durchgehen zu
lassen, weil dies einer Lüge gleichkäme. Die in Johnsons Antrittsrede vollzogene
abwägende Klärung von Zuschreibungen unterschiedlichster Provenienz ist
das distanziert und differenziert ausgearbeitete Pendant zu des Autors scharfen
Reaktionen auf die Beschädigung seines Selbstbildes durch Kesten und deren
Fortschreibung im Ausstellungskatalog zum Büchner-Preis.
Johnsons Briefwechsel sowohl mit Max Frisch als auch mit Siegfried Unseld ist
zu entnehmen, dass es der Kränkungen viele gab, gegen die Johnson glaubte
sich zur Wehr setzen zu müssen. Wenn er Unseld detailliert auflistet, in welchen
Punkten jener Absprachen nicht eingehalten habe und – zum wiederholten Male
– wortbrüchig geworden sei, argumentiert er immer auch prinzipiell.93 Ulrich
Fries vermutet, dass Max Frisch, indem er Uwe und Elisabeth Johnson Mitte
der 70er Jahre einerseits großzügig finanziell unterstützt, sie aber andererseits
zugleich für seine eigenen Probleme über Gebühr beansprucht habe, indirekt
72
„Halt dir grade, Mensch!“ Johnson: Fremdbilder und Selbstbild
Auslöser der Ehekrise der Johnsons und damit auch der Schreibprobleme des
Verfassers der „Jahrestage“ geworden sei.94 Nach allem wird man Johnsons
Verhalten in jener Ehekrise wohl in erster Linie als extreme Reaktion eines extrem Verletzlichen deuten müssen, deren Muster einer bestimmten Disposition
entspringt, die auch in anderen Situationen und gegenüber anderen Menschen
zu weitreichenden Missverständnissen und unüberbrückbarer Entfremdung
geführt hat.95 Auf äußerst schmerzliche Weise ist die Johnsonsche Ehe – in ihrem
Beginn wie in ihrem Scheitern – zudem mit ,der deutschen Frage‘ verknüpft,
ein Umstand, der den gelassenen Umgang mit der eigenen Vergangenheit, sei
diese nun privat oder öffentlich, zusätzlich erschwert haben wird.96
Auf jene niederdeutsche Formel des Vergessens und Vergebens – „Ick vegæt
di dat“ –,97 mit der Johnson seinen Romanfiguren gestattet, Kränkendes und
Belastendes zu verarbeiten, vermag er für sich selber offensichtlich nicht zurückzugreifen. Vielmehr lässt ihn eine einmal erfahrene Kränkung zeitlebens
nicht mehr los.98 Dies zeigt exemplarisch seine Reaktion auf den Hinweis aus
dem Ausstellungskatalog zum Büchner-Preis, in deren Vollzug eine alte, nicht
aufgearbeitete Kränkung Raum gibt für neuerliche Verletzungen, eigene wie
anderen zugefügte. Mit der Allusion auf „Michael Kohlhaas“ überzeichnet
Johnson den zugrunde liegenden Sachverhalt, und er konstruiert einen Begründungszusammenhang, durch den er Gefahr läuft, nun selber einen Dritten,
Peter de Mendelssohn, zu kränken und zu verletzen. Auch wenn Johnson sich
den Anschein gibt, als halte er ein Plädoyer für Wahrheit und Wahrhaftigkeit,
gelingt es ihm hier – anders als in seiner Vorstellungsrede vor der Deutschen
Akademie – kaum, Distanz zu wahren und ein abwägendes, gerechtes Urteil
zu fällen. Wie anders klingt da der Rat, den Johnson unter dem 23. März 974
seinem Verleger Unseld erteilt, dessen Verhältnis zu Max Frisch betreffend:99
„Wenn du ihm einen Zwischenfall nicht vergeben kannst von einer Sorte, wie
du sie Martin [Walser; B.S.] auf das vielfältigste nachgesehen hast am Ende,
so muss ich da eher eine Verkrampfung erkennen als Souveränität. […] ich
denke da vornehmlich an dich und dass als Schmoll-Ecke erscheint, was ich
dir gerne glauben will als echte Verletzung. Halt dir grade, Mensch!“
Die hier angemahnte Souveränität ist es, die man Johnson bei der Aufarbeitung der „Kesten-Affaire“ – einer „echte[n] Verletzung“ für einen Autor, dem
Wahrheit nicht „Schietkråm“ war – gewünscht hätte.100
73
Barbara Scheuermann
Anmerkungen
1
Vgl. Uwe Johnson: Begleitumstände. Frankfurter Vorlesungen, Frankfurt/M.: Suhrkamp 992 (edition surhkamp 820, NF 820), S. 206ff. [= BU]. – Johnson erweckt
darin den Eindruck, er habe seinen Austritt unter dem 28. Mai 979 schriftlich erklärt
(BU 24). Ein entsprechendes Schreiben ist jedoch weder im Uwe-Johnson-Archiv
noch in der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung auffindbar; laut brieflicher Auskunft von Herrn Michael Assmann, Deutsche Akademie, ist Johnson der
Auffassung gewesen, dass mit der Einsendung eines Exemplars seiner Frankfurter
Vorlesungen an die Akademie sein Austritt wirksam geworden sei – was zu durchschauen erst ein späterer Hinweis Siegfried Unselds ermöglichte. – Ich danke Frau
Monika Gerhardt vom Uwe-Johnson-Archiv, Frankfurt/M., für hilfreiche Recherchen.
– Der vorliegende Aufsatz folgt einem Vortrag, den die Verfasserin auf einer von
Jürgen Grambow geleiteten Tagung der Ostsee-Akademie Travemünde über Uwe
Johnson (9.-. März 200) gehalten hat.
2
Mit zwei stattlichen, im Göttinger Wallstein Verlag erschienenen Sammelbänden
erinnerte die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung im Jahr 999 an ihr
fünfzigjähriges Bestehen: Wie sie sich selber sehen. Antrittsreden der Mitglieder vor
dem Kollegium der Deutschen Akademie. Hrsg. v. Michael Assmann. Göttingen:
Wallstein, 999, 495 S.; Zwischen Kritik und Zuversicht. 50 Jahre Deutsche Akademie
für Sprache und Dichtung. Hrsg. v. Michael Assmann und Herbert Heckmann. Göttingen: Wallstein, 999, 477 S. – Die Veröffentlichung der beiden Bände steht unter
dem Anspruch, Leistungen der Akademie und ihrer Mitglieder zu dokumentieren
sowie die bei Jubiläen gebotene Bestandsaufnahme mit einer Selbstvergewisserung
und kritischer Reflexion zukünftiger Aufgaben zu verknüpfen. – Johnsons Antrittsrede wird hier, da sie zu anderen Reden aus jenem Band in Beziehung gesetzt wird,
zitiert nach: „Wie sie sich selber sehen“, S. 63-68.
3
Uwe Johnson: Ich über mich. Vorstellung bei der Aufnahme in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. In: „Die Zeit“, 32. Jg., Nr. 46 vom 4..977, S. 46, mit
zwei Fotos zur Illustration: Johnson vor Regalen mit Büchern sitzend, mit nach vorn
gestreckten Beinen, die Füße in Sandalen (Kommentierung: „Ein Pommer, wie er in
Büchern steht: Uwe Johnson“ – vgl. Die Katze Erinnerung. Uwe Johnson. Eine Chronik in Briefen und Bildern. Zusammengestellt von Eberhard Fahlke. Frankfurt/M.:
Suhrkamp 994, S. 4), und Johnson in Lederjacke mit hochgestelltem Kragen, flacher
Schirmmütze sowie der obligatorischen Pfeife, die Hände am Revers, Brustbild
eines bullig wirkenden Autors (Kommentierung: „Über die Grenze geschickt als
Trojanisches Pferd: Uwe Johnson“ – vgl. ähnlich in: „Die Katze Erinnerung“, S. 208).
– Die Rede sodann in: Jahrbuch der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung
[= Jb. Ak.]. Darmstadt. 977, S. 54-59; ferner Nachdruck in: Uwe Johnson. Hrsg. v.
Rainer Gerlach und Matthias Richter. Frankfurt/M.: Suhrkamp 984, S. 6-2, und
in: Über Uwe Johnson. Hrsg. v. Raimund Fellinger. Frankfurt/M.: Suhrkamp 992, S.
74
„Halt dir grade, Mensch!“ Johnson: Fremdbilder und Selbstbild
372-376, sowie in: Wohin ich in Wahrheit gehöre. Ein Uwe-Johnson-Lesebuch. Hrsg.
v. Siegfried Unseld. Frankfurt/M.: Suhrkamp 994, 39 S.; S. 9-3. – Auf Uwe Johnsons
Antrittsrede und die darin getroffenen Unterscheidungen nimmt – wenngleich nicht
explizit – Bezug Berndt Seite in seiner „Festrede zur Verleihung des Uwe-JohnsonPreises 997 an Marcel Beyer“. In: Internationales Uwe-Johnson-Forum 7 (998),
S. 249-252.
4
Vgl. z.B. Günter Kunert, der seiner Rede den Titel gab „Über die Schwierigkeit der
Selbstrepräsentation“, in: „Wie sie sich selber sehen“ (s. Anm. 2), S. 232-234; ferner
Werner Betz (S. 45), Karl Dedecius (S. 54), Jurek Becker (S. 257), Fritz Stern (S. 35),
Durs Grünbein (S. 424), Peter Gülke (S. 440) und Robert Schindel (S. 443).
5
„Wie sie sich selber sehen“ (s. Anm. 2), S. 63. – Eine ähnliche Sicht auch in Johnsons
Rede aus Anlass der Verleihung des Büchner-Preises 97: Er dankt „dem Präsidium
der Akademie für Sprache und Dichtung: für ihre Absicht, den Verfasser durch den
Namen Georg Büchners zu verpflichten“ (Büchner-Preis-Reden 95-97. Mit einem
Vorwort von Ernst Johann. Stuttgart: Reclam 972, 248 S.; S. 240). – Andere Redner
aus dem Band „Wie sie sich selber sehen“ statten zunächst ihren Dank ab (a.a.O.,
S. 7, 4, 267, 299, 308, 464).
6
Vgl. Pavel Kohout (a.a.O., S. 303), der einleitend darauf abhebt: „Die strenge Regel
dieses Hauses, sich in fünf Minuten vorzustellen, zwingt auch mich, meinen Lebenslauf ein bißchen zu vereinfachen“.
7
A.a.O., S. 64. – Gewiss ist bei diesem Einstieg auch Ironie im Spiel. Johnsons Vorstellungsrede ist der ars bene dicendi im Sinne des genus demonstrativum zuzurechnen;
der Hauptteil liefert eine Verbindung von narratio und refutatio.
8
A.a.O., S. 68. – Eingriff in das Zitat: Falsch abgeschriebenes „Eide“ wurde in „Elde“
korrigiert.
9
„Kein Flüchtling“ war in der Erstfassung der Rede nicht in Anführungsstriche gesetzt
(vgl. Vita-Mappe im Uwe Johnson-Archiv, Frankfurt/M., aus der hier mit freundlicher
Erlaubnis seines Leiters, Herrn Dr. Eberhard Fahlke, zitiert wird; die Mappe enthält
ein handschriftliches Exemplar und eine getippte Version der Rede). – Johnsons
eigentliches Anliegen verrät die zunächst gewählte Formulierung „Besprechung der
Ansichten“, die er in „Vorstellung der Ansichten“ abändert.
10
„Wie sie sich selber sehen“ (s. Anm. 2), S. 64 u. 65.
11
Beides wird historisch unterfüttert durch Hinweise auf die nationalsozialistische
Obrigkeit und auf Auswirkungen von Maßnahmen der Sowjetischen Militär-Administration und später der DDR auf das Land Mecklenburg.
12
„Wie sie sich selber sehen“ (s. Anm. 2), S. 64. – Die Schlusswendung „des Umgangs
mit den Tieren auf diesem Boden nicht zu vergessen“ ist nachträgliche Ergänzung
(vgl. Vita-Mappe). – Ein Vergleich der handschriftlichen Erstfassung mit der getippten
Version zeigt, dass Johnson bei der Überarbeitung verknappt, präzisiert und rheto75
Barbara Scheuermann
risch feilt (so wird „als Kind schlicht vermietet werden […] in landwirtschaftliche
Arbeit drei Wochen auf fremdem Acker“ zu „als Kind schlicht vermietet werden […]
in drei Wochen Arbeit auf fremdem Acker“ verkürzt, ein Satz über die erste Liebe
gestrichen, jedoch für den politischen Werdegang Wichtiges hinzugefügt – „und im
sechzehnten mag ich begriffen haben, wie ich zu antworten wünschte auf die Ansinnen
der Leute und Behörden, mit denen ich befaßt war“ –, durch eine Wortumstellung
– „Viel spricht nun dafür“ zu „Viel nun spricht dafür“, „Meine Mutter hätte siedeln
können“ zu „Siedeln hätte meine Mutter können“ – rhythmischer Wohlklang bzw.
emphatische Betonung erreicht).
13
Dieser Akzentsetzung korrespondiert eine wichtige Änderung im folgenden Absatz
(a.a.O., S. 65): für den neuen Passus über die John-Brinckman-Schule und das
mecklenburgische Platt verzichtet Johnson auf ursprünglich vorgesehene Hinweise
zu Güstrow als „Klein-Paris“ (vgl. Vita-Mappe). – Zu dem angeblich schwedischen
– in Wirklichkeit aber mecklenburgischen – Großvater Uwe Johnsons vgl. die gründliche Recherche von Rainer Paasch-Beeck: Versuch, einen Großvater zu finden. Uwe
Johnsons familiäre Wurzeln in Mecklenburg. In: Risse. Zeitschrift für Literatur in
Mecklenburg und Vorpommern. Sonderheft  (Versuche. Uwe Johnson-Tage 999).
Rostock: Literaturhaus Kuhtor 999, S. 20-38.
14
Die Arbeit seiner Mutter schildert der Redner in einem plastisch ausgeführten
Trikolon („Wie sie sich selber sehen“ (s. Anm. 2), S. 65). Indem er an die Stelle der
zunächst gewählten Berufsbezeichnungen (sie „war Uniformschneiderin für die Rote
Armee, Schneiderin für Volkseigene Kleiderwerke, Schaffnerin in Personenzügen“)
prägnante Tätigkeitsbeschreibungen setzt („Meine Mutter ging Uniformen schneidern für die Rote Armee, sie nahm Arbeit in den Volkseigenen Kleiderwerken der
Stadt, sie kontrollierte Fahrkarten in Personenzügen“), veranschaulicht er Umfang
und Unermüdlichkeit ihres Arbeitseinsatzes (vgl. Vita-Mappe).
15
A.a.O., S. 65.
16
Darauf verweist auch die nachträglich – mit Bezug auf die Anfang 947 erfolgte
Tilgung Vorpommerns aus dem Ländernamen – eingefügte Akzentuierung „und
wir waren endgültig von auswärts“. Die Wendung „wir hatten keine feste Statt in
Mecklenburg“ spielt an auf Lk 2,7 („sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge“),
lässt mithin das Schicksal der Heiligen Familie aufscheinen; die Allusion auf Lk 2,3
(„Und jedermann ging, daß er sich schätzen ließe, ein jeglicher in seine Stadt“) in
Johnsons Hinweis auf eine folgenreiche Entscheidung seiner Mutter – „sie ging in
die Stadt Güstrow“ – verstärkt diese Sicht (a.a.O., S. 65).
17
A.a.O., S. 65.
18
In der handschriftlichen Erstfassung äußert Johnson sich weniger distanziert: „denn
in Mecklenburg hatte ich in einer Überprüfung durch die Behörden, milde gesagt,
etwas Beistand entbehrt.“ (vgl. Vita-Mappe) – Vgl. dazu auch BU 57ff.
76
„Halt dir grade, Mensch!“ Johnson: Fremdbilder und Selbstbild
19
Er könne, so Johnson, von Leipzig sprechen als „,der Stadt, die unsere Jugend war‘“
(„Wie sie sich selber sehen“ (s. Anm. 2), S. 66); das Zitat wird deutlicher in der
Erstfassung: „wie jener Freund Ernst Rowohlts als ,der Stadt, die unsere Jugend war‘“
(vgl. Vita-Mappe).
20
A.a.O., S. 66. – Der Kausalsatz wurde nachträglich eingefügt (vgl. Vita-Mappe).
21
Johnson erklärt dies damit, dass er Personen der DDR auch „in normalen, ja lebenswerten Umständen gezeigt“ habe (a.a.O., S. 67), was damals in Westdeutschland unerwünscht gewesen sei; zunächst hatte er von „normalen, ja angenehmen
Situationen“ gesprochen (vgl. Vita-Mappe). – Zu „Dichter beider Deutschland“ vgl.
Uwe Johnson – Siegfried Unseld. Der Briefwechsel. Hrsg. v. Eberhard Fahlke und
Raimund Fellinger. Frankfurt/M.: Suhrkamp 999, 29 S.; S. 4.
22
Nachdrücklich wird an dieser Stelle die Bedeutung Westberlins hervorgehoben:
Durch die Ergänzung der Erstfassung um das emphatische Bekenntnis „Nicht nur
habe ich sie mir als eine Heimat erworben“ und die von der üblichen Sichtweise
abweichende Wortwahl „seit der Einmauerung“ (vgl. Vita-Mappe).
23
Bei Gerlach/Richter (s. Anm. 3), S. 20, und Raimund Fellinger (s. Anm. 3), S. 376,
heißt es an dieser Stelle „trug“; das Wortpaar „trug“/„verzog“ hat sowohl das getippte Exemplar der Vita-Mappe als auch der Abdruck in der „Zeit“ vom 4..977.
Michael Assmann, Herausgeber von „Wie sie sich selber sehen“, orientiert sich mit
„zog“/„verzog“ an dem „Erstdruck“ im Jb. Ak. 977, S. 58, einer von Johnson vermutlich autorisierten Version.
24
„Wie sie sich selber sehen“ (s. Anm. 2), S. 68. – Bezeichnender Weise korrigiert Uwe
Johnson in seinem Exemplar der „Zeit“ vom 4..977 die Überschrift „Ich über mich“
handschriftlich in „Andere über mich“.
25
A.a.O., S. 68 und Vita-Mappe. – Mit der originell-kapriziösen Wahl des in New Jersey
liegenden Hackensack River, eines westlich parallel zum Hudson River fließenden
kleineren Flusses, der in die Newark Bay mündet, konnte Johnson seine Zuhörer
gewiss verblüffen und irritieren. – Hier ist im übrigen sein Bekenntnis zu New York
als weiterer Heimat versteckt, das er sechs Jahre zuvor in seiner Rede beim Empfang
des Büchner-Preises von 97 sehr deutlich formuliert hatte: „War der Verfasser [bei
seiner jüngsten Reise nach New York; B.S.] nicht in einer ungünstigen Lage gewesen?
in einer Stadt, die ihm Jahre lang Heimat gewesen war, und mußte fremd tun mit ihr?
Er durfte nicht zurück in die Zeit, die er hier mit seinen Personen gemeinsam gehabt
hatte, und in jene Lage nur in der Vorstellung. […] Das Heimweh nach New York, das
ihm wie seinen Personen schon bekannt gewesen war, als ihnen allen die Stadt noch
erlaubter Wohnsitz war, ließ sich diese Empfindung nicht mitsamt ihren Anlässen
verwandeln in Gegenstände für Arbeit?“ [Büchner-Preis-Reden (s. Anm. 5), S. 237f.]
26
983 wäre Uwe Johnson – als Präsident der Akademie der Künste, in einer Funktion,
für die er kurzzeitig im Gespräch war – wohl gern nach Berlin zurückgekehrt (vgl.
77
Barbara Scheuermann
Uwe Johnson – Max Frisch. Der Briefwechsel. Hrsg. v. Eberhard Fahlke. Frankfurt/M.:
Suhrkamp 999, 43 S.; S. 428).
27
„Wie sie sich selber sehen“ (s. Anm. 2), S. 66 u. 67.
28
A.a.O., S. 67. – Diesen ironischen Kommentar zu seinem Werdegang als Schriftsteller
hat Johnson nachträglich hinzugefügt (vgl. Vita-Mappe).
29
Vgl. zur Grenze in Deutschland das Interview mit Arnhelm Neusüß in Gerlach/Richter (s. Anm. 3), S. 44, für die Zurückweisung des Begriffs „Flüchtling“ das Werkstattgespräch mit Horst Bienek sowie ein Gespräch mit W.J. Schwarz und für den Hinweis
des Redners auf den Tag, an dem „in einer westdeutschen Druckerei“ sein Name
„auf das Titelblatt von ,Mutmassungen über Jakob‘ gesetzt wurde“ Johnsons A.L.
Willson gegebenen Auskünfte („Ich überlege mir die Geschichte…“. Uwe Johnson
im Gespräch. Hrsg. v. Eberhard Fahlke. Frankfurt/M.: Suhrkamp 988, 360 S.; S. 206,
245 u. 283). Mit der Bezeichnung „Dichter der beiden Deutschland“ hat Johnson sich
mehrfach auseinandergesetzt: vgl. Gerlach/Richter, S. 220, und Raimund Fellinger,
S. 23 u. 223f. (s. Anm. 3). – Einem Bedürfnis nach Stilisierung entspricht wohl auch
jene Korrektur (vgl. Vita-Mappe), durch die ein geläufiger hypotaktischer Satzbau
in eine Konstruktion mit Parataxe und Ausklammerung verwandelt wird: „Nachdem mir eine Doppelgeschichte über eine durch die Berliner Mauer getrennte und
zerrüttete Liebschaft nochmals den Titel auf den Leib zog, der mich zum Fachmann
bloss für die deutsche Teilung machte, verzog ich mich auf zweieinhalb Jahre nach
New York.“/„Dann trug mir eine Doppelgeschichte über eine Berliner Liebschaft,
getrennt und zerrüttet durch die vollendete Grenze, nochmals den Titel auf den
Leib, der mich zum Fachmann machte bloß für die deutsche Teilung, und ich verzog
mich nach New York.“
30
„Wie sie sich selber sehen“ (s. Anm. 2), S. 66 u. 67. – Das rhetorisch wirkungsvolle
Dativ-e in „Landsmanne“ ist Ergebnis einer Korrektur (vgl. Vita-Mappe).
31
Johnson-Unseld-Briefwechsel (s. Anm. 2), S. 7-73 u. 75.
32
Die Beobachter finden in dem Äußeren des Autors und in seinen Bewegungen wieder,
was sie vorher von ihm wussten: „Er wirkt äusserlich vielleicht etwas schwerfällig:
Kasseler Post. Langschädlig, mit randloser Brille, nervösen Handbewegungen und
einer gedämpften Stimme: Hessische Allgemeine. […] Johnson ist bäuerlicher
Herkunft, man sieht es ihm auf den ersten Blick an: Südwestfunk“ (a.a.O., S. 72).
– Johnson verfährt ähnlich in BU 429-435 (vgl. dazu Anne-Güde Lassen: Poetologische Reflexionen in Uwe Johnsons Frankfurter Vorlesungen. In: Johnson-Jahrbuch.
Göttingen. 7/2000, S. 97-22; hier: S. 06ff.).
33
Zur ersten Orientierung vgl. die umfangreiche Bibliographie der im „literarischpolitische[n] Streitfall Johnson-Kesten (96)“ erschienenen Zeitungsartikel bei
Nicolai Riedel: Uwe Johnson. Bibliographie 959-998. Stuttgart, Weimar: Metzler
999, 600 S.; S. 508-56 (= Personalbibliographien zur neueren deutschen Literatur.
78
„Halt dir grade, Mensch!“ Johnson: Fremdbilder und Selbstbild
Hrsg. v. Michael Knoche u. Reinhard Tgahrt. Bd. 3). – Im übrigen grundlegend
und fundiert – unter anderem Blickwinkel als die hier vorliegende Untersuchung
– Margund Hinz und Roland Berbig: „Ich sehe nicht ein, daß die Mauer in Berlin ein
literarisches Datum gesetzt haben sollte…“. Uwe Johnson im politischen Diskurs
96. In: Roland Berbig und Erdmut Wizisla: „Wo ich her bin…“. Uwe Johnson in
der D.D.R. Berlin: Kontext 993, S. 240-269.
34
Uwe Johnson: Offener Brief über Offene Briefe. Die Nützlichkeit des Postgeheimnisses.
In: Die Zeit. Wochenzeitung für Politik, Wirtschaft, Handel und Kultur. Hamburg.
7. Jg., Nr. 5 vom 3.4.962, S. 3. – Johnson bezieht sich darin auf einen in der Aprilnummer von „Das Schönste“ erschienenen Offenen Brief eines ihrer Herausgeber,
Dr. Kurt Fassmann, in dem dieser Hermann Kesten und Uwe Johnson ins Gewissen
redet (In: Das Schönste. München. 8. Jg., 962, H. 4, S. 4). In seinem Offenen Brief
erwähnt Johnson Hermann Kesten mit keinem Wort; anhand der Geschichte des
Briefes und des Briefverkehrs verdeutlicht er vielmehr Bedingungen für das Schreiben
von Briefen im Allgemeinen und von Offenen Briefen im Besonderen.
35
Jb. Ak. 96, S. 63-69. – Vgl. die im Ausstellungskatalog „Der Georg-Büchner-Preis
95-978“ (Ausstellung und Katalog: Dieter Sulzer, Hildegard Dieke und Ingrid
Kußmaul, Marbach am Neckar: Deutsche Schillergesellschaft 978, 373 S.) für das
Jahr 96 – unter Hinweisen zu dem Preisträger Erich Nossack – abgedruckte, im
„Tagesspiegel“ vom 8.0.96 veröffentlichte Einschätzung von A. Kirchheim: „Ihr
Auftakt war noch eine Provokation: Hermann Kestens brillierende, einseitige, anfechtbare, doch Horizonte eröffnende Rede ,Neues zur neuen deutschen Literatur‘.“
36
Jb. Ak. 96, S. 75.
37
In BU 208ff. berichtet Johnson von einer Veranstaltung am Abend des . November
im „Circulo Turati“, bei der Kesten auftrat als „der vom Verlag eingeladene Vorsteller
Johnsons“ (BU 22) – so Feltrinelli in einem Schreiben vom 27.. 96. – Vgl. zu
ersten Eindrücken auch Anm. 52 dieses Aufsatzes sowie Hinz/Berbig (s. Anm. 33),
S. 256ff.
38
Unter der Überschrift „Mauerschau“ bemerkt Walter Busse ironisch im „Spiegel“
vom 6.2.96: „Festredner Kesten […] machte Johnson das Kompliment, zu einer
Gruppe von Nachwuchs-Schriftstellern zu gehören, die den Anschluß an ältere
,humanistische‘ Autoren gefunden habe.“ (Der Spiegel. Das deutsche Nachrichtenmagazin. Hamburg. 5. Jg., Nr. 50 vom 6.2.96, S. 93-94; hier: S. 94) – Vgl. dazu
auch den Leserbrief von H. Kesten (a.a.O., 6. Jg., Nr. -2 vom 0..962), auf den S.
Unseld drei Wochen später antwortet (a.a.O., 6. Jg., Nr. 5 vom 3..962). – Hätte
Kesten den erst seit Mitte 959 in der Bundesrepublik lebenden Johnson – inzwischen Verfasser nicht nur der „Mutmassungen“, sondern auch des „Dritten Buchs
über Achim“ – wirklich vorstellen wollen, so hätte er wohl eine neue, ganz andere
Rede als jene in Darmstadt gehaltene schreiben müssen.
79
Barbara Scheuermann
39
Jb. Ak. 96, S. 63.
A.a.O., S. 67. – Vgl. dazu die Anmerkungen Peter Härtlings in seinen Tagebuchblättern
unter dem 25..: „Ich begreife die Prämissen nicht. Gab es denn eine postfaschistische
Periode?“ (Peter Härtling: Literatur, Politik, Polemik. Tagebuchblätter aus dem vergangenen Jahr. In: Der Monat. Berlin. 4. Jg., H. 6 vom Febr. 962, S. 45-52; hier: S. 45).
41
Jb. Ak. 96, S. 64.
42
A.a.O., S. 69.
43
A.a.O., S. 75f. – In der Diskussion stellten sich, Korn zufolge, gegen Kestens Thesen
Walter Höllerer (er „wollte von den ausgelaugten alten Formeln des Idealismus,
auch von einem neuen Humanismus wenig wissen“, er wies zudem nach, „daß der
literarische Aufbruch seiner Generation zeitlich beträchtlich vor dem 3. August
96 liege“), Dolf Sternberger und Benno Reifenberg („daß die Form die Moral des
Schriftstellers ist“), Hans Hennecke („ließ Ezra Pound und Ernst Jünger eine Ehrenrettung zuteil werden“) und Fritz Usinger („daß Formalismus als solcher bereits
ein Protest gegen die Diktatur sei“). Die zitierte Passage endet mit dem Urteil Karl
Korns über Kestens Anliegen: „Da Kesten es vermied, politisch konkret zu sprechen,
blieb sein Appell an das Moralische im Allgemeinen, das sich von selbst versteht.“
44
A.a.O., S. 66.
45
Hermann Kesten: Mutmaßungen über Uwe Johnson. Höchst Seltsames über die
Berliner Mauer. In: Die Welt. Unabhängige Tageszeitung für Deutschland. Hamburg.
Nr. 275 vom 25..96, (Beil.) „Die geistige Welt“, [S. I]; Johnson wird als übler „Ästhetizist“ kritisiert: „Indem er ein Potpourri aller Stilexperimente zusammenkocht,
[…] ward er ein hilfloser Supermanierist“. Kesten kleidet seine Unterstellungen in
Fragen: „Also hat Johnson nur Mißbrauch mit einem großen Thema getrieben, mit
dem zerrissenen Deutschland? Also hat er nur einen Bestseller aus dem Leiden des
Volkes machen wollen, nur ästhetische Zwecke verfolgt? Warum sprach er in Mailand,
als wäre er Ulbricht?“/„Sind das die Produkte der Erziehung im Diktaturstaat Ulbrichts?“ Mit der zuletzt zitierten Frage schließt sowohl Kestens Beitrag in der „Welt“
als auch sein wenige Tage zuvor in der Münchener Abendzeitung veröffentlichter
Bericht „Schock in Mailand. Mutmaßungen über Uwe. Streitgespräch mit Johnson
über die Mauer erregt die Gemüter.“ (In: Abendzeitung. München. 4. Jg., Nr. 278
vom 2..96, S. 7). – Zur Berichterstattung der „Welt“ vgl. BU 209f.
46
Johnson-Unseld-Briefwechsel (s. Anm. 2), S. 66ff. – An eben diesem 7.. erschien
in der „Welt“. Nr. 269, S. 7 ein Artikel von Monika von Zitzewitz, der über Johnsons
Auftritt in Mailand berichtet („Italienischer Cocktail mit Uwe Johnson“), ohne Kesten
und seinen Vortrag überhaupt zu erwähnen.
47
Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 2 = Bd. 6. Bearb. von
Moritz Heyne (Nachdruck der Erstausgabe von 885. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 984), Sp. 207f. – Johnsons Mailänder Einlassungen in diesem Punkt
40
80
„Halt dir grade, Mensch!“ Johnson: Fremdbilder und Selbstbild
sind eher apodiktisch als stringent und insofern eher verwunderlich als des Merkens
würdig: „Und hier von Immoralität zu sprechen, heisst Geschichte mit moralischen
Vorwürfen zu vermengen, heisst implicit zu sagen, der Kommunismus wäre immoralisch. Ich meine nicht, dass die Aufgabe der Literatur wäre, die Geschichte mit
Vorwürfen zu bedenken“ (BU 27).
48
Hermann Kesten: Erste Antwort auf ein Tonband. In: Abendzeitung. München. 4. Jg.,
Nr. 286 vom 30..96, S. 7. – Durch einen an Kesten gerichteten Offenen Brief des
italienischen Verlegers Feltrinelli erhalten die Leser der Münchener „Abendzeitung“
am nächsten Tag ein ganz anderes Bild: „Es ist mir sehr peinlich, aber ich muß Sie
erinnern, daß Sie und nicht Johnson ausgepfiffen wurden.“ (Giangiacomo Feltrinelli:
Kesten wurde ausgepfiffen“; a.a.O., Nr. 287 vom .2.96, S. 9).
49
Vgl. die Gegenüberstellung in: Die Zeit. 6. Jg., Nr. 50 vom 8.2.96, S. 6, unter der
Überschrift „Uwe Johnson am Pranger? Oder wie man amoralische Ästhetizisten
macht“, sowie BU 28 u. 209ff. – Zur Rolle des Tonbandes in „Jahrestage“ vgl. Thomas Schmidt: Der Kalender und die Folgen. Uwe Johnsons Roman „Jahrestage“. Ein
Beitrag zum Problem des kollektiven Gedächtnisses. Göttingen: Vandenhoeck &
Ruprecht 2000 (= Johnson-Studien 4), 398 S.; S. 347ff.
50
Zur Rolle der „Zeit“ vgl. BU 2 und Hinz/Berbig (s. Anm. 33), S. 265f. – Vgl. ferner
die vorsichtige Stellungnahme von Rudolf Walter Leonhardt: Zum Stil literarischer
Polemik. Über Uwe Johnson. In: Die Zeit. 6. Jg., Nr. 49 vom .2.96, S. 3; Leonhardt
befürchtet die „Ächtung Johnsons in der BRD“, dass „zum Fallbeil“ wird, „was als
Rute gemeint war“.
51
Joachim Kaiser: Johnson sagt, daß Kesten lügt. Zum vorläufigen Abschluß eines
literarisch-politischen Streits. In: Süddeutsche Zeitung. München, 7. Jg., Nr. 292
vom 7.2.96, S. 2.
52
Erwin Koppen: Johnson und die Mauer. Ein Augenzeugenbericht von dem Diskussionsabend in Mailand. In: Die Zeit. 6. Jg., Nr. 50 vom 8.2.96, S. 5 (Koppen weist
darauf hin, daß Uwe Johnson in jener Rede „nur kurz behandelt wird (so daß nachher Giorgio Zampa die eigentliche Vorstellung übernehmen muß). […] Vor allem
antwortet Johnson selbst. Er bringt es fertig, daß seine Antworten selbst dann klar
erscheinen, wenn er im Grunde den Fragen nur ausweicht, aber das merkt man erst
später./Dazwischen fallen dann, so ganz en passant, die Äußerungen, die, aus dem
Zusammenhang und der leicht unwirklichen Atmosphäre dieses Diskussionsabends
gerissen, in Deutschland Staub aufgewirbelt haben.“). – Giorgio Zampa war Kritiker
des „Corriere della Sera“.
53
Die Welt. Nr. 287 vom 9.2.96, (Beil.) „Die geistige Welt“, [S. VIII]. – Der Spiegel,
a.a.O. (s. Anm. 38), S. 94 merkt freilich kritisch an: „Was das Mailänder Tonband
fixiert, zeigt allerdings, daß Johnson auch als Redner seine Schriftsteller-Eigenart
bewahrt, Einfaches nicht allzu einfach mitzuteilen.“ – Dass mehrere Zeitungen Teile
des Tonbandprotokolls drucken, lässt erkennen, für wie wichtig der gesamte Vorgang
81
Barbara Scheuermann
gehalten wird; dem korrespondiert die Reaktion in Leserbriefen. Ein Leser der „Zeit“
aus Münster, A. Klawon, verweist auf Uwe Johnsons Eintreten für die 953 in der
DDR schikanierte Junge Gemeinde, das er als Beleg für eine unmißverständliche
politische Haltung deutet: „[…] in dieser Situation der Verzweiflung für viele steht
Uwe Johnson auf und stellt sich gegen die Partei! Er spricht mit einer Offenheit,
daß alle im Saal erstarren, sogar die SED-Funktionäre, die vor Verwunderung zu
einer Reaktion unfähig sind. Johnson geht weit über das gesteckte Thema hinaus, er
spricht von Terrorurteilen des Staatsapparates gegen oppositionelle Halbwüchsige
und klagt das Regime […] der Unmenschlichkeit an./Ein Ereignis! Eine humane,
eine mutige Tat!“ (In: Die Zeit. 6. Jg., Nr. 52 vom 22.2.96, S. 7)
54
Bettina Neustadt: Verleumdung oder Mißverständnis. Uwe Johnson contra Hermann
Kesten. In: Frankfurter Rundschau. Unabhängige Tageszeitung. Frankfurt/M., 7. Jg.,
Nr. 284 vom 7.2.96, S. 0; Ruth Tilliger: Ein Tonband und der Literatenstreit. Uwe
Johnson widerlegt die Behauptungen Hermann Kestens. In: Frankfurter Neue Presse.
Frankfurt/M., 6. Jg., Nr. 284 vom 7.2.96, S. 9; Karl Korn: Haut ihn! In: Frankfurter
Allgemeine Zeitung. Zeitung für Deutschland. Frankfurt/M., Nr. 285 vom 8.2.96,
S. 5; Karl Korn kritisiert insbesondere Heinrich von Brentano: „Ist ihm jeder recht,
wenn man die Literaten schlechtmachen kann?“ – Zur Einschätzung der Frankfurter
Rundschau vgl. auch Peter Härtling: „Ich sehe die beiden einander gegenüberstehen, ich sehe die Unvereinbarkeit ihrer Schreibweisen, ihrer Wertungen. Ist das ein
Generationenkonflikt?“ (In: Peter Härtling (s. Anm. 40), S. 46)
55
Barbara Klie: Eine Hexenjagd. Zu den Angriffen auf Uwe Johnson. In: Christ und
Welt. Deutsche Wochenzeitung. Stuttgart, 4. Jg., Nr. 49 vom 8.2.96, S. 2. – Ihre
Kritik gilt Autoren wie Peter Hornung, der wenig später unter der Überschrift „Brecht
als Beispiel des Überlebens“ in der „Deutschen Tagespost“ ausführt: „Rufmord und
Existenzvernichtung heißen die palavernden Wehklagen, seitdem man über den
literarischen Wunderjüngling der Saison, Uwe Johnson, bedenkliche politische
Vermutungen anzustellen gezwungen war.“ (In: Deutsche Tagespost. Unabhängige
Tageszeitung für abendländische Politik und Kultur. Würzburg. 4. Jg., Nr. 48 vom
2.2.96, S. )
56
Zitiert nach: „Die Katze Erinnerung“ (s. Anm. 3), S. 0. – Dass Kesten nicht einfach
als Parteigänger rechter Kreise in der CDU/CSU-Regierung zu gelten hat, betonen
Hinz/Berbig (s. Anm. 33), S. 250ff.; dort auch Näheres zu Kestens Lebenslauf und
zu seinem öffentlichen Auftreten in der Bundesrepublik der 50er und 60er Jahre
als „unbedingter Moralist“ – befördert durch die „Ruhelosigkeit“ des Emigranten
und den „vor und im Exil erworbene[n] Lektorenruhm“.
57
Johnson-Unseld-Briefwechsel (s. Anm. 2), S. 72. – Brentanos Anwürfe sind mit ein
Grund für den Verleger Gerd Bucerius, aus der CDU auszutreten; in seiner in der
„Zeit“ vom 6.2.962 unter dem Titel „Warum ich aus der CDU austrat“ veröffentlichten Erklärung führt er aus: „Kurz zuvor hat mich sein spontaner, unbedachter
82
„Halt dir grade, Mensch!“ Johnson: Fremdbilder und Selbstbild
Angriff von der Rednertribüne des Bundestages auf den Schriftsteller Uwe Johnson
sehr erschreckt. Sofort nach seiner Rede war ich zu Brentano gegangen und hatte
ihn gebeten, sich zu korrigieren; das hatte er abgelehnt. Brentano hielt Johnson eben
für einen Kommunisten, obwohl seine Werke dies widerlegen.“
58
„Die Katze Erinnerung“ (s. Anm. 3), S. . Kissinger und Johnson hatten einander
im Sommer 96 auf dem „International Seminar der Harvard Summer School“
kennengelernt. – Laut Auskunft von Monika Gerhardt, Uwe Johnson-Archiv, schloss
sich an dieses Schreiben Kissingers ein kurzer Briefwechsel an, in dem beide – im
Ton versöhnlich – ihren Standpunkt noch einmal darlegten. – Zur Wahrnehmung
des Streits durch das Ausland vgl. den Aufsatz „,L’affaire‘ Uwe Johnson. Un Chapitre
du drame allemand.“ In: Documents. Revue des questions allemands. Paris, Vol. 7,
962, S. 493-497, sowie „Uwe Johnson’s muur. Rel om gevlucht auteur.“ In: Haagse
Post. Onafhankelijk Weekblad. Den Haag. 48. Jg., Nr. 2454 vom 23.2.96, S. 4-5.
59
Peter Härtling (s. Anm. 40), S. 47f., vorangehendes Zitat: S. 48; Eintragungen unter
dem 27.. und 5.2.96. – Zuvor hatte Klaus Harpprecht in der Januar-Ausgabe des
„Monats“ (4. Jg., H. 60 vom Jan. 962, S. 93-96) unter der Überschrift „Freiwild oder
heilige Kuh?“ gegen Marcel Reich-Ranicki („Brentano, Brecht, Horst Wessel und
Johnson. Freie Schriftsteller dürfen nicht zu Freiwild werden.“ In: Die Zeit. 6. Jg.,
Nr. 5 vom 5.2.96, S. 9) polemisiert und Uwe Johnson böse-listig geraten, das Stipendium abzulehnen und Brentano ,die Markscheine ins Gesicht zu schmeißen‘.
60
Wolfdietrich Schnurre: Der Schriftsteller und die Mauer, Vortrag im RIAS Berlin.
Kulturelles Wort, gesendet am 23.2., 22.00-23.03 Uhr (Zitat in der Manuskriptkopie:
S. 26); schon vorher hatte Schnurre bei einem Vortrag in München Uwe Johnson
mit eben diesem Vorwurf traktiert (vgl. Deutsche Zeitung und Wirtschaftszeitung.
Köln, 7. Jg., vom 3.2.962, statt „Marxist“ heißt es dort „Kommunist“); diese Sicht
behält Schnurre bei in: Schreibtisch unter freiem Himmel. Olten und Freiburg:
Walter, 964, S. 90f. – Uwe Neumann verdanke ich den Hinweis, dass Wolfdietrich
Schnurre knapp zehn Jahre später seine harsche Kritik an Uwe Johnson deutlich
zurückgenommen hat („Heute würde ich Johnson fast recht geben wollen“, bemerkt Schnurre in: Protokoll zur Person. Autoren über sich und ihr Werk. Hrsg. v.
Ekkehart Rudolph. München 97, S. 2f.). – Peter Härtling notiert am Abend des
25. November erste Reaktionen, wohl aus seinem Bekanntenkreis: „Ich habe mich
mit einigen Leuten unterhalten: Fast alle freuen sich über die Abfuhr, die Johnson
bekommen hat – ein Kommunist, der hier alles sagen kann und so weiter. Mir ist
nicht wohl, wenn ich daran denke.“ (In: Peter Härtling (s. Anm. 40), S. 46) – Ulrich
Fries vermutet, daß die „Querelen um das Rom-Stipendium“ ein Grundstein waren
für die im Fall Johnson „bis heute anhaltende Trennung von literarischem Erfolg und
öffentlicher Anerkennung“ (Ulrich Fries: Goin’ Goin’ Gone. Zu: Der Briefwechsel
Max Frisch/Uwe Johnson. In: Johnson-Jahrbuch. Göttingen. 7/2000, S. 237-265; hier:
S. 242).
83
Barbara Scheuermann
61
Hans Weiser: Klein Uwes Renkontre mit der großen Freiheit. In: Neue deutsche
Literatur. Monatsschrift für Schöne Literatur und Kritik. Berlin-Ost. 0. Jg., 962,
H. 3, S. 46-47; hier: S. 47. – Hermann Kant: Der Jüngling im Eiskasten. In: Neues
Deutschland (Ausg. B), Nr. 49 vom 8.2.962, S. 4. – Hermann Kants Bild des „Merkur“
widerlegt ein im April 962 veröffentlichter Aufsatz von Rolf Schroers unter dem
Titel „Aufstand für die Wiedervereinigung“, in dem der Verfasser – unter Verweis
auf den Umgang mit Johnson – „gegenwärtig durchaus auch den Aufstand gegen
eine gewisse bundesrepublikanische Selbstgerechtigkeit“ für erforderlich erklärt (In:
Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken. Stuttgart. 6. Jg., 962, H. 70,
S. 306-320; hier: S. 36).
62
Günter Zehm: Denk’ ich an Deutschland am Rednerpult. Anmerkungen zu Enzensbergers Büchner-Rede. In: Die Welt, Nr. 262 vom 9..963, (Beil.) „Die geistige Welt“.
– Vgl. zu Kestens Zielen auch seinen in der Januar-Ausgabe 962 der Zeitschrift
„Kultur“ veröffentlichten Artikel „Falsche Zitate, irreführende Interpretationen und
ein umstrittenes Tonband. Hermann Kesten berichtigt Uwe Johnson, Giangiacomo
Feltrinelli, Enrico Filippini und deckt die Wahrheit auf.“ (In: Die Kultur. München. 0.
Jg., 962, Nr. 7, S. 6-7), dem ein ,Offener Brief ‘ von Hans-Christian Kirsch an Uwe
Johnson folgt. – Bestürzend in ihrer skrupellosen Direktheit ist Kestens literarische
,Verarbeitung‘ seiner an Johnson gerichteten Vorwürfe in einer 962 veröffentlichten
„Novelle“ mit dem Titel „Nikolaus Stern“, in der Johnson durch makabre Zitatmontage
zu einem Gehilfen Ulbrichts und „Lump“, der den Schießbefehl rechtfertigt, dämonisiert wird (Hermann Kesten: Der Freund im Schrank. Novellen. Frankfurt/M. [u.a.]:
Ullstein. 983, S. 0-45; hier: S. 0f.). – Vgl. dazu auch Hinz/Berbig (vgl. Anm. 33),
S. 268f.; in der Diskussion meines Vortrags in Travemünde schloss Rainer PaaschBeeck nicht aus, dass Uwe Johnson diesen Text gekannt haben könnte, was dann
dessen Jahre später in den „Frankfurter Vorlesungen“ geäußerte Sicht der „Affaire
Kesten“ nachvollziehbar und verständlich gemacht haben würde.
63
Johnson-Unseld-Briefwechsel (s. Anm. 2), S. 74: Brief vom 3. Januar 962. – Unseld
rät darin seinem Autor davon ab, einer Einladung von Hermann Kant zu folgen und
an einem Treffen von ost- und westdeutschen Autoren am Schwielow-See teilzunehmen; Unseld fürchtet die Reaktion der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit
und möchte vermieden sehen, „dass Du abermals in diesem politischen Aspekt in
die Spalten der Zeitungen gerätst, dies nach all dem, was war, wäre unausdenkbar
und würde all die strafen, die sich jetzt in der Affaire Kesten für Dich verwandt
haben.“ – Hier ist u.a. an Hermann Höcherl zu denken (vgl. BU 234ff., und JohnsonUnseld-Briefwechsel (s. Anm. 2), S. 72); vgl. auch den Brief von Heinrich Böll, der
Johnson am 6.2.96 in seiner Haltung bestärkt: „es liegt mir sehr daran, Ihnen zu
schreiben, dass ich ganz auf Ihrer Seite stehe“ („Die Katze Erinnerung“ (s. Anm. 3),
S. ). Vorsichtig für Johnson Partei ergreift auch Hans Bender in: Deutsche Zeitung und Wirtschaftszeitung. Köln. 6. Jg., Nr. 283 vom 7.2.96, S. 4 (unter der
Überschrift „Uwe Johnson und seine Antwort“). – Im Abstand von gut 30 Jahren
84
„Halt dir grade, Mensch!“ Johnson: Fremdbilder und Selbstbild
urteilt Günter Grass: „Ich habe mich damals an diesem Streit nicht oder nur mit
spöttischen Schlenkern beteiligt. Mein Respekt vor Hermann Kesten war zwar sehr
groß, kannte aber Grenzen; und Uwe Johnson bis in den letzten Hintersinn seiner
Wortwahl zu verstehen war oft nur Glückssache. […] weil dieser Zank, immer wieder
neu motiviert, bis in alle Gegenwart anhält, weiß ich inzwischen: Es ging todernst
dabei zu.“ (Günter Grass: Wir sind als Richter nicht tauglich. Rede zur Verleihung
der Hermann Kesten-Medaille in Darmstadt. In: Ders.: Werkausgabe, Bd. 6, Essays
und Reden III. Hrsg. v. Volker Neuhaus und Daniela Hermes. Göttingen: Steidl
997, S. 427-432; als ganze eine gerade auch im Blick auf den Johnson-Kesten-Streit
lesenswerte Rede von 995)
64
Johnson-Unseld-Briefwechsel (s. Anm. 2), S. 256. – Am 7. März 962 schreibt Johnson
seinem Verleger mit Bezug auf die in Paris geplante Vorstellung der französischen
Übersetzung der „Mutmassungen“, daß ein „zweites milanesisches Zwischenspiel“
nicht stattfinden werde, „weil es einen Hermann Kesten nur einmal gibt und zu
dieser Zeit nur in den Vereinigten Staaten“ (a.a.O., S. 79). – Darauf repliziert Unseld
übermütig-ironisch: „Ich bin überzeugt, Du wirst Dir genau vornehmen, was Du da
sagen möchtest. Wie bringen wir Kesten dorthin?“ (a.a.O., S. 8)
65
Berliner Stadtbahn. In: Uwe Johnson: Berliner Sachen. Frankfurt/M.: Suhrkamp
975. S. 9.
66
Die Zahlen differieren: Thilo Vogelsang: Das geteilte Deutschland. München: Deutscher Taschenbuch Verlag,966 (= dtv-Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, Bd. ),
S. 208 nennt für 96 bis zum 3. August die Zahl von 8 33 Flüchtlingen; nach den
„Informationen zur politischen Bildung“ 8 („Berlin“), 983, S. 23 war die Zahl höher:
207.026 Flüchtlinge.
67
Aus Johnsons Mailänder Redebeitrag. In: Die Zeit. 6. Jg., Nr. 50 vom 8.2.96, S. 6
(s. Anm. 50).
68
Vgl. Beschluss des Ministerrats der DDR zur Sperrung der Berliner Sektorengrenze
vom 2.8.96. In: DDR. Geschichte und Bestandsaufnahme. Hrsg. v. Ernst Deuerlein.
München: Deutscher Taschenbuch Verlag 966 (= dtv dokumente 347), S. 234: „Zur
Unterbindung der feindlichen Tätigkeit der revanchistischen und militaristischen
Kräfte Westdeutschlands und Westberlins wird eine solche Kontrolle an den Grenzen der Deutschen Demokratischen Republik einschließlich der Grenzen zu den
Westsektoren von Groß-Berlin eingeführt, wie sie an den Grenzen jedes souveränen
Staates üblich ist.“ – Vgl. im übrigen mehrere Leserbriefe in der „Zeit“, 6. Jg., Nr. 52
vom 22.2.96, S. 7 und jene in der „Welt“ vom 6.2.96 (Hachfeld: „Amadeus
geht durchs Land“) und im „Simplicissimus“ (München) am 6..962 erschienenen
Verse über das „Mauer-Blümchen Uwe Johnson“ (Wiederabdruck in „Die Katze
Erinnerung“ (s. Anm. 3), S. 0 und in BU 232).
69
Peter Härtling (s. Anm. 40), S. 48. – Reserviert äußert sich im März 962 der Literaturkritiker Joachim Kaiser, wie die Schwäbische Donau-Zeitung (Ulm) am 24.3.962
85
Barbara Scheuermann
unter der Überschrift „Ein symptomatischer Fall“ zu berichten weiß: „Das Tonband
widerlegte die Berichte Kestens zwar bis zu einem gewissen Grad, jedoch – so betonte
Kaiser – nicht eindeutig und mit letzter Sicherheit.“
70
BU 28.
71
Ernst Deuerlein (s. Anm. 68), S. 206 und 236f.
72
BU 29. – So entstehen laut Hinz/Berbig (s. Anm. 33), S. 268, „Wunden, die nicht zum
geringsten dem Kalten Krieg zuzuschlagen sind, zu dessen Gefechten das zwischen
Johnson und Kesten gehörte“.
73
Vgl. dazu auch Peter Härtlings Schlussbetrachtung in seinen Tagebuchaufzeichnungen: „Das Feldgeschrei ,Seht, ein Kommunist‘ hat schon manchen überfallen,
der aus Zorn über solche Unvernunft und Unkenntnis am liebsten einer geworden
wäre.“ (Peter Härtling (s. Anm. 40), S. 52)
74
Vgl. z.B. Johnsons Eintreten für Fritz Rudolf Fries in Briefen an seinen Verleger
Unseld: Johnson-Unseld-Briefwechsel (s. Anm. 2), insbes. S. 530-532. Ferner bezeugen zahlreiche nicht veröffentlichte Antwortschreiben an Leser (oder Besucher)
Johnsons großes Einfühlungsvermögen – aber auch die Grenzen seiner Bereitschaft
zu Empathie (so sein Briefwechsel mit Ulrich Fries).
75
Johnson-Unseld-Briefwechsel (s. Anm. 2), S. 3: Brief vom 0..963 aus London
Kensington; Johnson fährt fort: „Offenbar versteht er nicht Fairness: nach dem
Dementi seiner Erfindungen, nenn es wer wolle, habe ich jede Äusserung über
ihn abgelehnt; in Florenz bekam er sichtbar genug meine Stimme als Sprecher der
deutschen Delegation; Herrn Fassmanns ,Offenen Brief ‘ umging ich höflich; denkt
der Mensch nun ein Recht auszuüben? Da diese Anschwärzung weit über Methoden
der Christdemokraten hinausgeht, könnte man ihn doch ersuchen seine Meinung
zu beweisen. Was meinst du dazu?“ – Zu Fassmann vgl. Anm. 34 in diesem Aufsatz.
– Wenig erfreuliche Konnotationen transportiert Johnsons als Vermutung ausgegebener Hinweis, Kesten sei wohl ein Jude – möglicherweise ein Reflex auf die in BU
237 zitierte infame Bemerkung Kestens, nach der „ein grosser blonder Arier“ dem
„niedrig gewachsenen, unansehnlichen Juden“ den Rang streitig machen wolle.
76
BU 23. – Mit dem – später so nicht realisierten – Vorschlag, Uwe Johnsons Erklärung auf der Pressekonferenz vom 5.2.96 in ein Taschenbuch unter dem Titel
„Beschreibungen“ aufzunehmen (vgl. Johnson-Unseld-Briefwechsel (s. Anm. 2), S.
649f.), mag Siegfried Unseld, ohne dass dies seine Absicht gewesen wäre, Johnson
in seiner Einschätzung der Bedeutung der „Affaire Kesten“ bestärkt haben.
77
Ausstellungskatalog 978 (s. Anm. 35), S. 260.
78
Der Georg-Büchner-Preis: 95-987, eine Dokumentation (von Dieter Sulzer, aktualisiert von Michael Assmann), München [u.a.]: Piper,987, 473 S.; S. 260.
79
Ausstellungskatalog 978 (s. Anm. 35), S. 294.
86
„Halt dir grade, Mensch!“ Johnson: Fremdbilder und Selbstbild
80
Ausstellungskatalog 987 (s. Anm. 78), S. 293.
Wolfgang Koeppen: Ein Bruder der Massen war er nicht. Zum Tode von Uwe Johnson.
In: Jb. Ak. 984, S. 58-6; Johnsons „Jahrestage“ gehören für Koeppen „in die Klasse
der Gipfel, der Romane von Balzac und Zola, die Dichtung und Zeitgeschichte sind
und im Handel ihrer vielen Personen im Umkreis einer Familie von Band zu Band
ihr Jahrhundert vor Gericht bringen“ (a.a.O., S. 6).
82
a.a.O., S. 207f.
83
Jb. Ak. 977, S. 54-59, 93f., 206; 978 (), S. 43; 978 (2), S. 33, 38, 44; 979 (), S. 25;
979 (2), S. 44; 980 (), S. 23; 980 (2), S. 3, 38; 98 (2), S. 34; 982 (2), S. 33; 983
(2), S. 39, 54.
84
„Wie sie sich selber sehen“ (s. Anm. 2), S. 68; „Zwischen Kritik und Zuversicht“
(s. Anm. 2), S. 407.
85
BU 240.
86
BU 24. – Nach Johnsons eigenen außerordentlich strengen Maßstäben, wie sie in
den „Vorschlägen zur Prüfung eines Romans“ (in: Gerlach/Richter (s. Anm. 3), S. 3036; hier: S. 33) formuliert sind, sollte eigentlich mit „Beschwerde“ und „Protest“ auf
„jede lügenhafte Spekulation“ (wohl nicht nur im Roman, sondern auch in anderen
Texten) reagiert werden. – Vgl. auch Johnson-Unseld-Briefwechsel (s. Anm. 2), S. 3,
und Anm. 75 dieses Aufsatzes.
87
BU 238. – Dabei hatte er in seiner Stellungnahme am 5.2.96 betont, dass es ihm um
Fairness gehe: „Mir ist gelegen an Fairness. Ich protestiere gegen die üblen Manieren
einer beliebigen Person“ (BU 22).
88
BU 240f. – Vgl. auch Hinz/Berbig (s. Anm. 33), S. 264ff. – Zu einem ,intertextuellen
Dialog‘ zwischen Johnson und Kleist vgl. die aufschlussreiche Studie von Uwe Neumann: Uwe Johnson und Heinrich von Kleist. Neuigkeiten aus dem Schlußkapitel
der Jahrestage. In: Johnson-Jahrbuch. Göttingen. 7/2000, S. 97-225.
89
Johnson-Unseld-Briefwechsel (s. Anm. 2), S. 992: Brief vom 29.7.980. – Im Übrigen wird Unseld daran gelegen gewesen sein, Hermann Kesten als möglichen
Autor seines Hauses nicht zu verprellen, und gewiss wird der Verleger bei allem die
Außenwirkung für den Suhrkamp Verlag im Blick gehabt haben. Wie auch sonst
bei der Herstellung von – dem Miteinander gegensätzlicher Autoren förderlichen
– Arbeitsbedingungen wurde ihm hier eine Gratwanderung abverlangt.
90
VR (s. Anm. 86), S. 33.
91
Am 2.0.978 wird die Ausstellung zum Büchner-Preis in Bonn eröffnet; Johnson
ist dazu (und zu einem anschließenden Essen mit dem Bundeskanzler) gemeinsam
mit anderen Büchner-Preisträgern eingeladen und nimmt an den Veranstaltungen
auch teil (vgl. Johnson-Unseld-Briefwechsel (s. Anm. 2), S. 929f.); gut fünf Wochen
später wendet er sich das erste Mal schriftlich an den Präsidenten der Akademie
81
87
Barbara Scheuermann
(vgl. BU 238f.). Während dieser Zeit beschäftigt den Autor die Abfassung der PoetikVorlesungen, auf die er sich Unseld zuliebe eingelassen hat (vgl. Johnson-UnseldBriefwechsel (s. Anm. 2), S. 923, 937 u. 950).
92
So abwegig manche Annahmen und Schlussfolgerungen Johnsons indessen auch
klingen mögen, in einem anderen Licht erscheinen sie angesichts seines eigenen
Verhaltens als Mitglied und vorübergehend Vizepräsident einer anderen – der Berliner – Akademie (der Künste). Briefe Johnsons an Siegfried Unseld zeigen, dass er
sich niemals zeitaufwendigen, für das Erscheinungsbild der Akademie wichtigen
Verpflichtungen und Aufgaben entzieht, nicht einmal dann, wenn sein Verleger ihm
signalisiert, er sehe ihn lieber am Schreibtisch sitzen: vgl. Johnson-Unseld-Briefwechsel (s. Anm. 2), S. 746f., 022 u. 039f.
93
A.a.O., S. 240-259: Briefe vom 30..962 bis zum ..963 über wechselseitige
Enttäuschungen und Unstimmigkeiten in Zusammenhang mit dem Projekt einer
Internationalen Zeitschrift; S. 374-389: Briefwechsel vom 7.5.965 bis zum 2.7.965 zu
„Zwei Ansichten“, er beginnt mit einem Paukenschlag: „Lieber Siegfried Desinteresse
kann man praktischer ausdruecken Uwe Johnson“, so telegraphiert Johnson am 7.5.
seinem Verleger; ferner S. 596-68: Johnson setzt sich zunächst mit dem Umschlagentwurf für die „Jahrestage“ auseinander und befindet am Ende (S. 604) unter dem
26.3.970 verärgert: „Wenn ihr nicht gedenkt, meine Antworten zu berücksichtigen,
so erspart mir doch eure Fragen. / Ich hab auch die Zeit nicht für solche Spiele.“ Seine
briefliche Beschwerde über den Umgang des Verlags mit seinem Manuskript und
über offensichtliche Versäumnisse bei der Organisation des Korrekturlesens (S. 6)
mündet in Grundsätzliches (das Unseld freilich unter „Nörgeln“ (S. 63) abbucht):
„Es ist das erste Mal, dass ich besorgt bin, was ihr mit dem Buch machen werdet. /
Insgesamt werde ich durch solche Vorgänge nicht an den Verlag erinnert, in den
ich einmal als einzigen wollte, sondern an die, von denen du nichts hältst.“ – In der
unter starkem Zeitdruck stattfindenden Auseinandersetzung über Inhalt und Form
des zunächst als „Frisch-Brevier“ gehandelten Suhrkamp-Jubiläum-Bandes „Stichworte“ (S. 855-872) lehnt Johnson – beeinträchtigt durch den eben erlittenen Infarkt
– es unter dem 9. Juli 975 schließlich ab, einzustehen für Veränderungen, denen er
nicht zustimmen mag: „Ersetzt meinen Namen auf dem Titelblatt und beim Vorwort
durch Siegfried Unseld.“ (S. 872) – Vgl. dazu auch die Darstellung von Max Frisch
in: Frisch-Johnson-Briefwechsel (s. Anm. 26), S. 26-30, und Johnsons akribische
Antwort in einem unter dem 20. August beigelegten Brief vom 3. August (S. 36-40),
an dem er „fünf Wochen lang gesessen“ hat und der, wie Eberhard Fahlke in seinem
Nachwort (S. 42) darlegt, wohl „als Selbstrechtfertigung für die Nachwelt“ gedacht
ist.
94
Ulrich Fries (s. Anm. 60), S. 253ff.; er verweist auf des Schweizer Autors Beschäftigung
mit den Themen ,Ehebruch‘ und vor allem ,Eifersucht‘, wie sie in „Montauk“, das
die Johnsons lektorieren, literarisch verarbeitet sind.
88
„Halt dir grade, Mensch!“ Johnson: Fremdbilder und Selbstbild
95
Vgl. insbesondere die Umstände von Johnsons Bruch mit seinem langjährigen Freund
Manfred Bierwisch, zu denen dieser sich äußert in: Raimund Fellinger (s. Anm. 3),
S. 286-295, unter der Überschrift „Erinnerungen Uwe Johnson betreffend“. Es spielt
wohl auch Selbstüberschätzung mit hinein, wenn Johnson, der in dieser Angelegenheit Siegfried Unseld um sein Urteil bittet, dessen Meinung dann doch vollständig
ignoriert; Unseld antwortet ihm unter dem 6. April 98: „Du bist und bleibst wie der
Endunterfertigte ein naiver Mensch. (Mein Satz: nur naive Menschen bewegen die
Welt!) Wer auch immer es ist, der in der DDR lebt und mit einer Festschrift bedacht
werden soll, ein Vorwort von Dir für diese Festschrift wäre für den Bedachten ruinös.
Ich weiß wirklich nicht, wie man sich so etwas überhaupt denken kann. Reisen kannst
Du ja gewiß überall in der DDR, aber als Ein-Leitender für irgend etwas in der DDR
kommst Du nach Lage der Dinge nicht in Frage“ (Johnson-Unseld-Briefwechsel
(s. Anm. 2), S. 008; weitere Literaturhinweise a.a.O., S. 007, Anm. 3). – Vgl. auch
Johnson-Frisch-Briefwechsel (s. Anm. 26), S. 230ff.; trotz der Mäßigung anratenden
Stellungnahme Unselds schreibt Johnson am 6. Juni einen bitter-ironischen Brief
an Frisch über diese „Geschichte“; auf Unseld nimmt er indirekt Bezug, indem er
einen Satz aus dessen Antwortbrief zitiert, ohne jedoch auf die Herkunft des Zitats
einzugehen: „Nur naive Menschen bewegen die Welt“ (a.a.O., S. 232).
96
Diesen Aspekt übernehme ich von Rainer Paasch-Beeck, der in der Diskussion meines
Vortrags in Travemünde darauf abhob, dass Kestens Vorwurf, Johnson habe die Mauer
gerechtfertigt, besonders infam gewesen sei, weil Johnson durch den Mauerbau vor
allem auch von seiner späteren Frau getrennt wurde – ein biographischer Aspekt,
der während der Abfassung der Frankfurter Poetik-Vorlesungen virulent wird und
sich mit dem Kesten-Trauma verbindet.
97
Barbara Scheuermann: Zur Funktion des Niederdeutschen im Werk Uwe Johnsons.
„in all de annin Saokn büssu hie nich me-i to Hus“. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 998 (= Johnson-Studien 2), S. 60ff.
98
So anrührend Johnsons – handschriftliches! – Bekenntnis vom . April 979 gegenüber Siegfried Unseld – dass „von allen Freundschaften, die ich seit 959 gefunden
habe, die mit dir als einzige sich erwiesen hat als in allen Stücken zuverlässig und
haltbar“ – auch wirkt, so ist es doch auch ein Dokument eingestandener Einsamkeit:
„so bist du für mich der menschliche Ort geworden, ohne den das einsamste Leben
unmöglich ist“ (Johnson-Unseld-Briefwechsel (s. Anm. 2), S. 952f.). Brieflich die
Hintergründe jener Einsamkeit zu reflektieren war Johnson weder Unseld noch
Frisch gegenüber möglich.
99
A.a.O., S. 82. – Zu dieser Zeit waren Max Frisch und Uwe Johnson, zusammen mit
Burgel Zeeh, Unselds persönlicher Sekretärin, mit geheimen, aufwändigen Vorbereitungen für die Feier des 50. Geburtstags ihres Verlegers am 28.9.974 beschäftigt
(vgl. a.a.O., S. 828, und Johnson-Frisch-Briefwechsel (s. Anm. 26), S. 7ff.). – Unselds
Verärgerung über Max Frisch rührte aus dessen Haltung im Streit über das in der
89
Barbara Scheuermann
– Ende 973 gegründeten – Suhrkamp Verlags AG Zürich vorgesehene Verlagsprogramm her (vgl. Johnson-Unseld-Briefwechsel (s. Anm. 2), S. 842-845).
100
vgl. JT 980 und Barbara Scheuermann (s. Anm. 97), S. 66f. – Jürgen Grambow: Uwe
Johnson. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 997 (= rm 50445), S. 2 spricht im Blick
auf Johnsons Wahrnehmung seiner Ehekrise von „Verstiegenheit“ und beschreibt
damit nicht den Einzelfall, sondern ein Wahrnehmungsmuster, das sich auch in
Johnsons Reaktion auf das Verhalten der Deutschen Akademie zeigt.
90
Rainer Paasch-Beeck
„In Anklam aber empfängt mich die Hölle“ 1 –
139 versiegelte Todesfälle in den „Jahrestagen“
„Die Anfänge der Person Uwe Johnsons liegen mehr im dunkeln als die Anfänge seines Geschlechts.“2 Dieser Satz Bernd Neumanns, mit dem er das zweite
Kapitel seiner großen Johnson-Biographie einleitet, gilt besonders für die zehn
Jahre, die Johnson mit seinen Eltern und seiner Schwester bis 945 in Anklam
verbracht hat. Und nicht nur Johnson – „Das hat er selbst so gewollt.“3 – hat
später wenig zur Erhellung dieser Zeit beigetragen. Auch der Teil der JohnsonForschung, der sich intensiver mit biographischen Aspekten bei Uwe Johnson
beschäftigt hat, konnte bis heute nicht viel Licht in das von Neumann konstatierte Dunkel bringen. Zwar hat Neumann der Zeit bis zur Flucht der Johnsons
aus Anklam nach Mecklenburg in seiner Biographie fast 30 Seiten eingeräumt.
Unglücklicherweise aber hat er für diese ‚Anklamer Jahre‘ viel Spekulation
und nur wenig Fakten zu bieten. Der negative Höhepunkt ist dabei fraglos
errreicht mit Neumanns Fabulieren über die Gründe, die zur Verhaftung von
Erich Johnson, Uwes Vater, im Frühsommer 945 durch die Rote Armee in
Anklam geführt haben (sollen).4 Zu Recht hat sich daher Johnsons Schwester
in einem Beitrag für „Die Zeit“ gegen Neumanns Passagen, die hochspekulativ und wenig seriös erscheinen, verwahrt.5 Ihre Titulierung vom „Anklamer
Uniform-Märchen“6 für diese Stelle schmeichelt Neumann dabei fast noch; das
hätte man auch ganz anders benennen können. Umso ärgerlicher ist es, dass
Neumann in späteren Auflagen nicht die Möglichkeit zur Korrektur dieser z.T.
abwegig anmutenden ‚Thesen‘ genutzt hat.7 Wie wichtig eine Revision aber ist,
wird deutlich, wenn man die Forschungsliteratur betrachtet, die sich bei ihren
biographischen Passagen vor allem auf die Aussagen Neumanns über Johnsons
Kindheit verlässt. So referiert Michael Hofmann in seiner über weite Strecken
ausgezeichneten Einführung in das Werk Uwe Johnsons8 in der vorangestellten
‚biographischen Skizze‘ in einem hohen Maße Neumanns Aussagen. Mit kaum
noch wahrnehmbarer Distanz beteiligt er sich so auch an den von Neumann
ausgelösten Spekulationen über die „Ereignisse des Kriegsendes“, die zur Verhaftung Erich Johnsons geführt haben (sollen). Neumanns ‚Hypothese‘ vom
‚Verratsvorwurf ‘ Johnsons gegenüber seiner Mutter – und allen sich daraus
Rainer Paasch-Beeck
ergebenden Schlussfolgerungen für das „Verständnis der literarischen Texte“
– erscheint Hofmann dabei „plausibel“.9 Mir nicht!
Auch Jürgen Grambow hat in seiner Monographie zu Johnson zum ‚Kapitel
Anklam‘ nur wenig anzubieten, was über das von Neumann präsentierte
‚Material‘ hinausgeht.10 Johnson selbst schwieg zu Anklam; Lebensläufe und
autobiographische Mitteilungen beginnen zum Teil erst mit dem Jahr 945, dem
Jahr seiner Flucht und Ansiedelung in Mecklenburg.11 Und diesem Mecklenburg
hat er in seinen Texten später mehr als eines der sprichwörtlichen „literarischen
Denkmäler“ gesetzt. Natürlich denkt man dabei zuerst an Gesines Ausspruch
über das Fischland, „das schönste Land in der Welt“ (JT 495) und zweifellos an
eines der letzten Tageskapitel der „Jahrestage“. Beschrieben wird hier Gesines
Blick vom Güstrower Heidberg, „welch Anblick mir möge gegenwärtig sein in
der Stunde meines … Sterbens“(JT 822). Hier wird endgültig die Freundschaft
zwischen Gesine Cresspahl und Anita Gantlik besiegelt. Hier werden mögliche
Einwände des „Genossen Schriftstellers“ kurzerhand beiseite gewischt, hier
vertrauten sie „einander etwas an über die Unentbehrlichkeit der Landschaft,
in der Kinder aufwachsen und das Leben erlernen“ (JT 822). Eine literarische
Liebeserklärung an eine Stätte der Kindheit, die diese erst sehr spät und bis
heute zaudernd erwidert hat.
Uwe Johnson hat den Großteil seiner Kindheit in Anklam verbracht. Es ist
mehr als Erbsenzählerei, wenn man einmal überprüft, wie oft der Name von
Anklam vom Erzähler Johnson in seinen Texten verwendet wurde und sich
vergegenwärtigt, auf welche Weise die vorpommersche Kreisstadt Anklam
Eingang insbesondere in den Erzählkosmos der „Jahrestage“ gefunden hat.12
Während der „Jahrestage“-Kommentar etwa für Krakow und vor allem für
Güstrow, zwei andere wichtige Orte seiner Jugend- und Schülerzeit, jeweils
zahlreiche Einträge verzeichnet, sind es für Anklam ganze zwei. Beide werden
erzählt in den Passagen, die von Wilhelm Abs, Jakobs Vater, handeln. Ohne
einer biographischen Lesart Vorschub zu leisten, muss man an dieser Stelle
doch registrieren, dass die knappen biographischen Annäherungen an Gesines
‚Schwiegervater‘ bzw. Maries zweiten Großvater vom Autor mit einer Reihe
von Details aus dem Leben seines eigenen Vaters, Erich Johnson, ausgestattet
sind: das Studium in Neukloster, der Versuch, in Brasilien eine neue Existenz
zu finden und natürlich der angegebene Beruf Inspektor in Mecklenburg
und Pommern (JT 24) und schließlich „Prüfer des Milchkontrollverbandes“
(JT 93). Nicht zu vergessen, dass der (Um-)Weg Wilhelm Abs an die ostpreu-
92
„In Anklam aber empfängt mich die Hölle“
ßische Front, wo sich seine Lebensspur verläuft, über einen Bauernhof an der
Dievenow führt. In Darsewitz an der Dievenow hatte auch die Familie von
Johnsons Mutter ihren Hof. Zugleich verhindert der Text aber eine zu weit
gehende biographische Lesart. Denn Anklam wird nicht – wie von Johnsons
eigener Biographie intendiert – als Arbeitsfeld des Milchprüfers, sondern in
einem ganz anderen Kontext erwähnt. In zwei weit auseinanderliegenden
Erzählanlässen – zum einen Marie Abs’ Erinnerung an das Kriegsende und
den Abschied von ihrem Mann, zum anderen der Versuch Gesines und ihrer
Tochter Marie, sich in einem Gespräch der unbekannten Figur Wilhelm Abs zu
nähern – erfährt der Leser, dass Wilhelm Abs „aus dem Wehrmachtsgefängnis
Anklam entlassen“ (JT 92) und von dort an die ‚Ostfront“ geschickt wurde.
Die zweite ‚Anklam-Stelle‘ nur wenige Seiten weiter greift diese Information
erneut auf. „In einem Soldatengefängnis war er, in Anklam“ (JT 24). Doch
viel mehr erfährt man weder aus der Erinnerung Marie Abs’ noch aus dem
Gespräch Gesines mit ihrer Tochter. Auf Maries Frage, ob sie nun „zwei vorbestrafte Großväter hätte“ (JT 24), kann oder will Gesine nur ausweichend
antworten: „Jakobs Vater hat vor keinem Gericht gestanden.“ Und auch ihre
weitergehende Spekulation, „ob er wenigstens den Kriegsdienst verweigert“ hat,
muss Gesine offen lassen: „Es war vielleicht keine Handlung, wie sie dir gefiele.
Und ich weiß sie nicht“ (JT 24). Nicht nur diese Frage bleibt offen.13
Vorerst offen bleibt auch, warum Johnson an zwei autobiographisch so außerordentlich ‚belasteten‘ Stellen ein Wehrmachtsgefängnis in Anklam ins
Erzählen gebracht hat und darüber hinaus, ob er mehr über dieses Gefängnis
gewusst hat als die Person Gesine Cresspahl. Ein Blick in Johnsons Bibliothek
hilft auch hier zumindest ein kleines Stück weiter. Zwar enthält diese keinen
eigenständigen Titel über ein solches Gefängnis, in einem für die Geschichte
Mecklenburgs und Pommerns einschlägigen Titel findet man aber einen ersten
Hinweis. Eine im wahrsten Sinne parteiische Darstellung des antifaschistischen
Widerstandskampfes in Mecklenburg bis 94514 enthält auf zwei Seiten auch
Angaben über ein Wehrmachtsgefängnis in Anklam, in dem hauptsächlich
Deserteure gefangengehalten und in großer Zahl auch hingerichtet worden
sind. Als Belegquelle wird ein Text von Ulrich Schulz mit dem Titel „Wehrmachtsgefängnis Anklam“15 genannt. Es ist nicht mehr zu klären, ob Johnson
auch diese, nur sehr schwer zugängliche Quelle hat lesen können, oder ob
er bei seiner Bearbeitung auf die eher spärlichen Angaben in der genannten
Darstellung angewiesen war. Vielleicht ist es besonders eine Zahl gewesen, die
den Anlass für die Aufnahme eines ‚Wehrmachtsgefängnis Anklam‘ in die
93
Rainer Paasch-Beeck
„Jahrestage“ geboten hat: „39 Hingerichtete“16 nennt der Bericht über Anklam.
Auch diesen 39 Opfern hat Uwe Johnson einen „Ort des Gedenkens eingerichtet“, wie es Norbert Mecklenburg an anderer Stelle einmal genannt hat.17 Die
dargestellte schmale erzählerische Unterfütterung der Anklam-Episode lässt
es eher unwahrscheinlich erscheinen, dass Johnson den Bericht von Ulrich
Schulz gekannt hat. Um so bemerkenswerter erscheint in diesem Licht eine
bedrückende Parallele zwischen beiden so unterschiedlichen Texten. Ausgebreitet über acht Seiten enthält der Bericht von Ulrich Schulz in langen Listen
die Namen, den Dienstgrad, den Todes- bzw. Hinrichtungstag und – soweit
bekannt – die Anklage bzw. den Grund der Verurteilung der in Anklam hingerichteten deutschen Soldaten.18 Da es für die meisten der Hingerichteten schon
lange keine Gräber und somit auch keinen Ort der Erinnerung in Anklam
mehr gibt, ist es auch diese Liste, die ihre Namen und ihre Schicksale davor
bewahrt, endgültig vergessen zu werden. Die von Johnson in den „Jahrestagen“
aufgestellte Liste mit den Namen zahlreicher Opfer der „Justiz in Mecklenburg
während der Nazizeit“ (JT 945ff.) erinnert nicht nur formal sehr an die von
Schulz recherchierte Liste. Auch Johnsons Liste setzt vielen anderen zumeist
unbekannt gebliebenen Opfern des Nationalsozialismus einen Ort des Gedenkens. Ähnliches gilt ohne Frage auch für Lockenvitz’ „vorläufige Liste zur
Justiz in Mecklenburg seit 945“ (JT 790ff.).
Im Gespräch zwischen Gesine und Marie bleibt offen, warum und wie lange
Wilhelm Abs im Anklamer Wehrmachtsgefängnis gefangengehalten war. Durch
Maries Bemerkung – „Hat er wenigstens den Kriegsdienst verweigert?“ (JT 24)
– wird aber auf den Grund für die meisten Todesurteile gegen Soldaten der
Wehrmacht, und zwar nicht nur in Anklam, aufmerksam gemacht: Verweigerung des Kriegsdienstes mit der Waffe oder auch Desertion oder Fahnenflucht,
wie es bis heute abschätzig heißt. Ob Johnson auf diese sehr verdeckte Weise
auch an das Schicksal von schätzungsweise 20.000 zwischen 939 und 945
hingerichteten deutschen Soldaten, in der Mehrzahl so genannte „Deserteure“19,
erinnern wollte, muss offen bleiben. Festzuhalten ist, dass Johnson mit der
Erwähnung des Anklamer Wehrmachtsgefängnisses an eine der wichtigsten
Einrichtungen des Systems des unmenschlichen Wehrmachtstrafvollzugs bereits 973 erinnert hat, lange bevor sich die Öffentlichkeit und die Wissenschaft
diesem verdrängten Thema gestellt haben.20 Gemerkt haben wir alle es nicht.
Und noch eine andere Aussage Gesines gibt Rätsel auf „Jakobs Vater hat vor
keinem Gericht gestanden, Marie“ (JT 24). Soll das bedeuten, dass die für die
Verurteilung von Soldaten zuständigen Kriegsgerichte in den Augen Gesines
94
„In Anklam aber empfängt mich die Hölle“
– und damit vielleicht auch des ‚Genossen Schriftstellers‘ – keine Einrichtungen
waren, die ihren Vorstellungen von einem ‚ordentlichen Gericht‘ entsprachen?
Aber dieses Urteil träfe doch auf – fast – alle im nationalsozialistischen Deutschen Reich tätigen Gerichte zu. Tatsächlich sind wohl annähernd 5.000
deutsche Soldaten Insassen des Anklamer Wehrmachtsgefängnisses gewesen.
Abgesehen von den dort untergebrachten Untersuchungshäftlingen sind alle von
ihnen dorthin im Anschluss an die Urteile der Militärgerichte gebracht worden.
Viele, um dort ihre Strafen abzusitzen, andere um in andere Militärgefängnisse
weitergeleitet zu werden. Tausende von ihnen kamen von hier in so genannte
Straf- oder Bewährungseinheiten; Einheiten also, die zu besonders gefährlichen
Kriegseinsätzen herangezogen wurden und eine extrem hohe Verlustquote
hatten.21 Und schließlich die mindestens 39 Soldaten, die in einem eigenen
Todeszellentrakt auf ihre Hinrichtung warteten, bevor sie dann in der Regel
im Hof des Anklamer Wehrmachtsgefängnisses erschossen wurden.
Ulrich Schulz und seine Mitstreiter waren die ersten, die sich um die vergessene und verdrängte Geschichte des Anklamer Gefängnisses bemüht haben.
Ihnen ist es zu verdanken, dass dieser dunkle Abschnitt deutscher Geschichte
im Allgemeinen und der Geschichte der deutschen Wehrmacht in der Zeit von
939 bis 945 im Besonderen nicht in Vergessenheit geraten ist. Da die meisten
Unterlagen und Dokumente kurz vor dem Einmarsch der sowjetischen Armee
in Anklam vernichtet worden sind, mussten die Rechercheure an den unterschiedlichsten Orte verstreute Dokumente und Erinnerungen von Zeitzeugen
ausfindig machen und sichern. Mit dem Bau des Gefängnisgebäudes wurde
Ende 939 begonnen, die ersten ‚Belegungen‘ fanden ein Jahr später statt. Der
Standort am südlichen Stadtrand befand sich nicht in unmittelbarer Nähe des
Hauses von Johnsons Familie. Die relativ große Anlage war für etwa 600 Häftlinge ausgerichtet, teilweise war das Gefängnis aber mit einer mehr als doppelt
so hohen Anzahl von Häftlingen völlig überbelegt. Die Schätzungen anhand der
aufgefundenen Dokumente gehen davon aus, dass insgesamt mehr als 5.000
Häftlinge in den knapp viereinhalb Jahren der Existenz des Gefängnisses dort
eingesessen haben. Die ersten Hinrichtungen in Anklam fanden im November 94 statt. Als gesichert gilt die Zahl von 39 hingerichteten Soldaten des
Anklamer Wehrmachtsgefängnisses. Die überwiegende Zahl der ermordeten
Soldaten war noch sehr jung; so entstammten 45 Männer den Jahrgängen 9
bis 920 und 42 den Jahrgängen ab 92.22 Mehrere der Erschossenen waren
noch nicht einmal 8 Jahre alt, als sie verurteilt bzw. hingerichtet wurden. Die
vermutliche Zahl der Getöteten dürfte aber noch um einiges höher liegen, da
95
Rainer Paasch-Beeck
insbesondere in den letzten Kriegswochen auch in Anklam eine Vielzahl so
genannter ‚Deserteure‘ durch Schnellgerichte zum Tode verurteilt wurden.
Viele der so zu Tode gekommenen fanden keinen Eingang mehr in die doch
sonst so sorgfältige deutsche Bürokratie. In Anklam sind noch am 26. April 945,
zwei Tage bevor das Gefängnis vor der anrückenden ‚Roten Armee‘ geräumt
wurde und wenige Tage vor der Kapitulation Deutschlands, zwei zum Tode
verurteilte Soldaten erschossen worden. Genau wie an die vielen anderen in
Anklam ermordeten Soldaten erinnert an sie kein Grabstein mehr. Lediglich
von zwei 944 erschossenen Offizieren existieren noch die Gräber.
Uwe Johnson hat mit der zweimaligen Erwähnung des Anklamer Wehrmachtsgefängnisses in seinem „opus magnum der Epochenerinnerung“23 der
Stadt, in der er die ersten zehn Jahre seines Lebens verbracht hat, ein merk-,
ja ein denkwürdiges literarisches Mahnmal gesetzt. Nicht nur, dass er darauf
verzichtet hat, im Zusammenhang mit dieser Stadt einen sentimentalen Rückblick auf eine ‚glückliche Kindheit‘ zu gestalten,24 sondern er hat stattdessen
an einen der dunkelsten Punkte in der Geschichte dieser Stadt erinnert.25
Geographisch näher lag seinem Elternhaus in der Anklamer Siedlung „Min
Hüsung“ vor allem der jüdische Friedhof in unmittelbarer Nähe, aber auch die
938 zerstörte Synagoge in der Mauerstraße.26 Johnson aber hat einen Ort ins
Erzählen seiner „Jahrestage“ gebracht, an dem mindestens 39 zumeist junge
Männer erst ermordet und danach regelrecht verscharrt worden sind. So wie
er vor den meisten anderen an das Sterben im Lager „Fünfeichen“ erinnert
hat, hat er im dritten Band seines großen Romans auf eine zwar subtile, aber
doch mit einem deutlichen Signal – Anklam! – versehene Weise auf ein Kapitel
deutscher (Unrechts-)Geschichte aufmerksam gemacht, das in der Forschung
und der Öffentlichkeit erst mit zwanzigjähriger Verspätung angemessen ‚aufgearbeitet‘ werden sollte.
In der Stadt Anklam bemüht man sich seit einiger Zeit mit Ausstellungen und
Vorträgen, die Beschäftigung mit der Person und dem Werk Uwe Johnsons etwas
stärker in die Öffentlichkeit zu transportieren. Zugleich stellt Andreas Wagner
die beschämende Tatsache fest, „dass in der Stadt Anklam gegenwärtig für die …
Opfer der NS-Militärjustiz kein Erinnerungszeichen existiert“.27 Johnson hat in
seinem Werk solch ein Erinnerungszeichen gesetzt. Eine Auseinandersetzung
mit den „Jahrestagen“ ist immer auch eine schmerzhafte Beschäftigung mit
der deutschen Geschichte – nicht nur für Anklam.
96
„In Anklam aber empfängt mich die Hölle“
Anmerkungen
1
Andreas Wagner: „In Anklam aber empfängt mich die Hölle…“ Dokumentation
zur Geschichte des Wehrmachtgefängnisses Anklam 940-945. Schwerin 2000
(Politische Memoriale), S. 52.
2
Bernd Neumann: Uwe Johnson. Mit zwölf Porträts von Diether Ritzert. – Studienausgabe – Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 996, S. 3.
3
A.a.O.
4
A.a.O., S. 5-59.
5
Elke an Huef: Wer war Uwe? Wer ist Johnson? In: Die Zeit. Hamburg. 49. Jg., Nr. 32
vom 5.8.994, S. 42.
6
A.a.O.
7
Vgl. Bernd Neumann: Uwe Johnson. Mit zwölf Porträts von Diether Ritzert. Berlin:
Ullstein, aktualisierte, überarbeitete Ausgabe 2000, S. 7-75.
8
Michael Hofmann: Uwe Johnson. Stuttgart: Reclam 200.
9
A.a.O., S. 9.
10
Jürgen Grambow: Uwe Johnson. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag,
997 (= rowohlts monographien. 50455), S. 26-30.
11
Vgl. Eberhard Fahlke: „Erinnerung umgesetzt in Wissen“. Spurensuche im UweJohnson-Archiv. In: Uwe Johnson: „Für wenn ich tot bin“. Siegfried Unseld und
Eberhard Fahlke. Frankfurt/M.: Suhrkamp 99 (= Schriften des Uwe Johnson-Archivs. l), S. 73-43, hier S. 80ff.
12
Bernd Neumann (a.a.O., s. Anm. 2, S. 24) weist zu Recht auf die „ebenso mimetisch
genau erinnerte wie frei konzipierte Skizze“ der Anklamer Siedlung „Min Hüsung“
in den Familienszenen in „Das dritte Buch über Achim“ hin. Dass dort Anklam
nicht genannt wird, ist evident.
13
Die vage angedeutete Möglichkeit, der Figur Wilhelm Abs, versehen mit biographischen Details von Johnsons eigenem Vater, oppositionelle oder gar widerstandsspezifische Züge zuzuschreiben, korreliert – bei aller Vorsicht einer solchen Deutung
– mit Bernd Neumanns Beobachtungen zu der Anlage des Vaters im „Achim“-Roman.
Dieser ist zumindest partiell als Antifaschist gestaltet. Ob dieser „Wunschvater“ des
Autors tatsächlich als eine Hommage an Hans Mayer zu verstehen ist, bleibt dahingestellt. Vgl. Neumann, a.a.O.(s. Anm. 2), S. 26.
14
Der antifaschistische Widerstandskampf unter Führung der KPD in Mecklenburg
933 bis 945. Hrsg. v. den Bezirkskommissionen zur Erforschung der Geschichte
der örtlichen Arbeiterbewegung bei den Bezirksleitungen Rostock, Schwerin und
Neubrandenburg der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Rostock, 970,
S. 286f.
97
Rainer Paasch-Beeck
15
Ulrich Schulz: Wehrmachtsgefängnis Anklam. Bericht einer Forschungsgruppe der
Ortsgruppe des Deutschen Kulturbundes Anklam. Anklam 962 (Mskpt. Masch.,
45 S.). Die o.a. Darstellung (,antifaschistischer Widerstandskampf ‘, Anm. 4, S. 287)
nennt irrtümlich 964 als ‚Erscheinungsjahr‘. Ich habe Herrn Ulrich Schulz für die
großzügige Überlassung seiner Studie und anderer Materialien zu danken.
16
Antifaschistischer Widerstandskampf, a.a.0. (s. Anm. 4), S. 286.
17
Norbert Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsans. Jahrestage und andere Prosa.
Frankfurt/M.: Suhrkamp 997, S. 400.
18
Schulz, a.a.O. (s. Anm. 5); S. 24-3.
19
Vgl. Wagner, a.a.O. (s. Anm. ), S. 3.
20
Vgl. Wagner, a.a.O., S. 3ff. Auch die von Wagner zusammengestellte Auswahlbibliographie.
21
Andreas Wagner, a.a.O., S.37. – Ulrich Schulz (a.a.O., s. Anm. 5, S. 5f.) hat darüber
hinaus darauf aufmerksam gemacht, dass viele Gefangene zu Arbeitskommandos
zusammengestellt wurden und vor allem in Anklamer Zivil- und Rüstungsbetrieben
arbeiten mussten. Dazu zählten die Arado-Flugzeugwerke sowie die Raketenversuchsanstalt in Peenemünde.
22
Vgl. Andreas Wagner, a.a.O. (s. Anm. ), S. 40f. und Ulrich Schulz, a.a.O. (s. Anm. 5),
S. 23.
23
Klaus Briegleb: Vergangenheit in der Gegenwart. In: Hansers Sozialgeschichte der
deutschen Literatur. Band 2: Gegenwartsliteratur seit 968. Herausgegeben von
Klaus Briegleb und Sigrid Weigel. München: Carl Hanser Verlag 992, S. 7-6, hier
S. 93.
24
Auch in seiner vielzitierten Hommage an die Flüsse, die in seinem Leben eine Rolle
gespielt haben (die berühmten „Orte des Aufwachsens“ in einem Brief an Rolf Italiaander), nennt Johnson – im Gegensatz zu Güstrow und Rostock – Anklam, die Stadt
an der Peene, ausdrücklich nicht. Stattdessen schreibt er über „die Peene, die bei
Karnin weissen Sand auswäscht, fein wie für Sanduhren“ (zitiert nach: Uwe Johnson
– Die Katze Erinnerung. Eine Chronik in Briefen und Bildern. Zusammengestellt
von Eberhard Fahlke. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 994, S. ).
25
Auch wenn mit dem Stichwort ‚Anklamer Wehrmachtsgefängnis‘ eine der wenigen
Leerstellen, die der „Jahrestage“-Kommentar überhaupt nachgelassen hat, nun positivistisch gefüllt ist, bleibt vom Kapitel ‚Uwe Johnson in Anklam‘ nach wie vor vieles
im Dunkeln. Und das wird wohl so lange so bleiben, wie die wichtigsten Zeuginnen
schweigen.
26
Vgl. Heinz Bemowsky: Anklam. In: Wegweiser durch das jüdische MecklenburgVorpommern. Herausgegeben von Irene Dieckmann. Potsdam: Verlag für BerlinBrandenburg 998, S. 67-82. (= Beiträge zur Geschichte und Kultur der Juden in Bran-
98
„In Anklam aber empfängt mich die Hölle“
denburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen. 2).
– Rainer Paasch-Beeck: Zwischen „Boykott“ und „Pogrom“. Die Verdrängung und
Ermordung der jüdischen Bevölkerung Mecklenburgs im Spiegel der „Jahrestage“.
In: TEXT + KRITIK. Zeitschrift für Literatur. München. 200. Heft 65/66 (Uwe
Johnson. Neufassung), S. 9-34.
27
Andreas Wagner, a.a.O. (s. Anm. ), S. 42. – Ulrich Schulz (a.a.O., s. Anm. 5, S. 65-68)
weist darauf hin, dass nach 962 lediglich aufgrund von privater und in bescheidenem
Maße kommunaler Initiative eine „kleine Mahn- und Erinnerungsstätte“ innnerhalb
des ehemaligen Gefängnisses errichtet werden konnte. Zum heutigen Zeitpunkt
scheint das Gebäude einschließlich der Todeszellen der Zerstörung preisgegeben
zu sein.
99
Jurij Sacharov
Uwe Johnson in der ehemaligen Sowjetunion:
Eine kritische Bilanz einer Rezeptionsgeschichte
969, also genau zehn Jahre nach seinem Start in die literarische Szene, wurde
Uwe Johnson gefragt, ob einige seiner Werke in den Ostblockstaaten erschienen seien1. Es folgte die nicht gerade erfreuliche Antwort des Autors: „Es gibt
lediglich eine serbische2 Ausgabe meiner Bücher. Die Herausgabe in der DDR
würden schon die ostdeutschen Schriftsteller zu verhindern wissen“. Seitdem
hat sich die Situation tief greifend verändert, allerdings nur insofern, als es
einen Ostblock nicht mehr gibt, die früheren ostdeutschen Leser freien Zugang
zu Johnsons Werken haben und in dem Autor einen großen Landsmann und
einen „gemäßigten“ Befürworter der DDR wiederentdecken können. In der
anderen Hinsicht, nämlich der auf das Vorhandensein von Übersetzungen
in den Sprachen der ehemaligen sozialistischen Länder, bleibt Johnsons
Nachlass nach wie vor eine terra incognita und ein mare tenebrosum: der
999 erschienenen „Uwe-Johnson-Bibliographie“3 zufolge wurde die karge
Vertretung von Johnsons Werk im Osten und Südosten Europas nur um
zwei Ausgaben erweitert, die wiederum auf dem Terrain von Ex-Jugoslawien
herausgebracht wurden4.
Desto interessanter liest sich in „Begleitumstände“ folgendes Zeugnis des
Autors, in dem er auf einen Beitrag in der ‚Literaturnaja Gazeta‘5 verweist:
„Hochgestellter Besuch aus Moskau gab zu verstehen, wie man zumindest
bei der ‚Literaturnaja Gaseta‘ denke über die Möglichkeit, ein Buch des
Verfassers in der Sowjetunion herauszubringen: er müsse es eigens schreiben, und zwar mit einem Bewusstsein, das ein Land in Europa (nördlich
von Bayern, östlich der Bundesrepublik, südlich der Ostsee, westlich der
Volksrepublik Polen) weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart
anerkenne als vorhanden.“6
Diese in typisch Johnsonscher allegorisch-anspielender Manier abgefasste
Passage lässt auf Folgendes schließen: In der Sowjetunion erkannte man
die Bedeutsamkeit des Autors Uwe Johnson, so dass man dort trotz allen
politischen Bedenken bereit war, dem Autor eine Ausgabe zu bescheren.
Andererseits hing die Tauglichkeit eines Buches von Uwe Johnson für die
Jurij Sacharov
Publikation in der Sowjetunion ganz von dem Faktor mit dem Namen DDR
ab. Dem Autor wurde zur Bedingung gemacht, dass er ganz seinen Jerichower
Mikrokosmos würde aufgeben und über die Tatsache hinwegsehen müssen,
dass es im Deutschland der fünfziger, sechziger, siebziger, achtziger Jahre, um
in Anlehnung an Johnson zu sprechen7, eine Staatsgrenze gab. Die Gefälligkeit
der sowjetischen Seite blieb bekanntlich unerwidert.
In Anbetracht der aufgezeigten miserablen Übersetzungssituation können
wir nur sehr bedingt und vorsichtig über eine Rezeption von Johnsons Werk
östlich des „Eisernen Vorhangs“, insbesondere in der einstigen Sowjetunion
sprechen. Nur eine geringe Anzahl von Interessenten, vor allem Literaturwissenschaftlern, dürften über Kenntnisse von Johnsons Werk verfügen.
Diesen Sachverhalt spiegelt die „Johnson-Bibliographie“ wider, wo nur fünf
in der Ex-Sowjetunion erschienene literaturwissenschaftliche Publikationen
entdeckt werden konnten. Die selbständigen Recherchen in den Bibliotheksbeständen der Ukraine, eines der Nachfolgestaaten der UdSSR, konnten dieses
Ergebnis nur bestätigen, es sei denn, als sechste Veröffentlichung wäre die
russischsprachige Übersetzung einer in der DDR erschienenen Geschichte
der deutschen Literatur8 zu betrachten, wo Johnson knapp eine halbe Seite
zugestanden wird.
Symptomatisch erscheint auch jenes Faktum, dass die dreißigbändige „Große sowjetische Enzyklopädie“ Johnson kein selbständiges Lemma widmet,
während solche seiner Zeitgenossen wie Böll, Enzensberger, Frisch, Grass,
Koeppen, Richter, Walser „vollberechtigt“ präsent sind. Johnson wird im
Stichwort Bundesrepublik Deutschland (dort siehe Kapitel Literatur) als modernistischer Schriftsteller und Autor der „Jahrestage“ unter jenen Literaten
erwähnt, deren Werke zunehmende realistische Tendenzen aufwiesen.9 Nicht
aufgenommen wurde Johnson auch in die modernere fünfbändige „Ukrainische Literaturenzyklopädie“,10 obwohl Böll, Enzensberger, Koeppen, Walser,
Lenz wiederum aufgeführt sind. Im letzten Fall war weniger politisches Bedenken im Spiel, vielmehr liegt es am Fehlen von Übersetzungen der Bücher
Johnsons ins Ukrainische oder ins Russische.
In Bezug auf insgesamt ca. 3.500 Titel von Publikationen über Uwe Johnson
machen die fünf bzw. sechs in der Sowjetunion herausgekommenen Aufsätze
einen unproportioniert kleinen Anteil aus. Sämtlich mitten im Kalten Krieg
entstanden (die Erste ist mit 966, die Letzte mit 982 bzw. 986 datiert), können
sie a priori als ideologisch geprägt und nicht objektiv beurteilt werden.
102
Uwe Johnson in der ehemaligen Sowjetunion: Bilanz einer Rezeptionsgeschichte
Eine Anmerkung ist der Darstellung dieser Abhandlungen vorauszuschicken.
Die UdSSR war ja eine Diktatur, und man hat in der Diktatur gelebt und
geschrieben, wie es Johnson über Bertolt Brecht sagte.11 Heute würden deren
Verfasserinnen und Verfasser ihre Stellung zu Johnson und seinem Werk
wahrscheinlich revidieren. Darüber hinaus enthalten die Veröffentlichungen
kuriose faktologische Errata, was aber ebenfalls seine Gründe hat (u.a. Mangel
an Primär- und Sekundärliteratur). Aber selbst von einigen Forschern in der
BRD wurde Jakobs Elbestadt irrtümlich als Dresden geortet!12
Der Leser dieser sowjetischen Veröffentlichungen muss sich mit einer sehr
dürftigen Darstellung von Johnsons Vita begnügen. Außer den Erscheinungsjahren seiner Bücher ist lediglich zu erfahren, dass der Autor 934 in
Kammin (Pommern) in einer Bauernfamilie geboren wurde, nach dem Germanistikstudium aus der DDR nach West-Berlin zog, 966-68 in den USA
lebte und Träger mehrerer Literaturpreise, darunter des Fontane- (960) und
des Büchner-Preises (97) ist.
Zwei Tendenzen bei der Interpretation von Johnsons Romanen lassen sich
feststellen. Einerseits wird dem Autor eine eindeutig antikommunistische,
gegen die DDR gerichtete Position unterstellt, dementsprechend wird er auch
behandelt, be- und verurteilt. Andererseits versucht man, ähnlich dem Plan
von Herrn Rohlfs hinsichtlich Gesine, Johnson für „die Sache des Sozialismus
zu gewinnen“13 : man akzentuiert in den Werken jene Episoden, die sich dazu
eignen, Johnsons kritische Einstellung zum Kapitalismus bzw. zur westdeutschen Wirklichkeit zu belegen, und man vertuscht zugleich jene Textstellen,
die die kommunistischen Zustände in ungünstigem Licht zeigen.
Beinahe-Revanchist
Uwe Johnson hatte vollkommen Recht, als er im Brief an Siegfried Unseld
vom 27.8.965 die Vermutung äußerte, das damals gerade erscheinende Buch
„Zwei Ansichten“ setze den Autor „noch kräftiger in die Ehren eines objektiven
Feindes [des Sozialismus]“.14 Denn neben einem erneuten Einreiseverbot für
die DDR15 sowie einer negativen Rezension in einer österreichischen prokommunistischen Zeitung16 musste Johnson noch einen Angriff der sowjetischen
Literaturkritik hinnehmen, deren Aufmerksamkeit das Erscheinen von Johnsons ersten drei Büchern anscheinend entgangen war:
103
Jurij Sacharov
„Uwe Johnson denkt wohl, daß er mit den Revanchisten nicht unter einer
Decke steckt. Aber mit seinem Roman ist er auf seine eigene Art und Weise
beim Schüren der Feindlichkeit zwischen den Deutschen beiderseits der
Grenze mit von der Partie. Der Autor wollte die Unparteilichkeit bewahren – er versteckte sich hinter seinen Personen und betitelte das Buch ‚Zwei
Ansichten‘. Aber das Buch drückt konsequent nur eine Ansicht aus. Die
nicht gute Ansicht“17
schrieb Tamara Motylova in ihrem Artikel „Eine Ansicht“, erschienen in
der Zeitschrift „Ausländische Literatur“, dem Organ des UdSSR-Schriftstellerverbandes (die Publikation ist in der „Johnson-Bibliographie“ unter den
„Rezensionen zu den großen erzählerischen Werken“ aufgeführt).
Die Einwände der sowjetischen Rezensentin stehen in einem „dialektischen“
Gegensatz zu den kritischen Bemerkungen jener westdeutschen Kritiker, die
auch nicht ganz begeistert von Johnsons neuem Buch waren. In ihrem Beitrag
polemisiert die sowjetische Kritikerin mit diesen Kritikern und nutzt ihre
Befunde als Anhaltspunkte, um zu diametral entgegensetzten Schlüssen zu
kommen. Ein Vergleich der sowjetischen Publikation mit den betreffenden
westlichen Rezensionen erscheint sehr aufschlussreich.
Der Buchtitel, der Motylovas Missfallen erregt, ist bei den westdeutschen
Literaturkritikern Horst Krüger und Marcel Reich-Ranicki ebenso ein Stein
des Anstosses und der Ausgangspunkt für „kritische Waffengänge“.
Ganz wie Motylova erblickt Krüger nur eine Ansicht im Roman („Zwei Ansichten? Nein. Ich sehe beim besten Willen nur eine.“18), rügt aber den Autor
Johnson, weil er für die DDR eben eine Vorliebe zeige. Johnson
„wollte Mauerbau und Flucht in der Doppelperspektive von Ost und West
spiegeln – vielleicht sogar gegeneinander neutralisieren? Dieses Vorhaben ist
ihm nicht gelungen. Gemessen an dem vielschichtigen, realitätsgesättigten
Bild der ostdeutschen Seite, wirkt die westdeutsche Dependance merkwürdig
blaß und flächig.“
Johnson sei „ein meisterhafter Darsteller der DDR-Wirklichkeit: sein Auge,
sein Herz, seine Erinnerung […] sind krankhaft vor Heimweh nach dem
Osten gerichtet […] Im Westen ist er ein Fremdling geblieben.“19
Und auch Marcel Reich-Ranicki fällt ein ähnliches Urteil: Johnsons Buch
„sollte auf zwei Beinen stehen – und es steht, bestenfalls, auf einem. Nicht zwei
Möglichkeiten zeigt es […] sondern nur eine. […] Wie in ‚Mutmassungen‘und
104
Uwe Johnson in der ehemaligen Sowjetunion: Bilanz einer Rezeptionsgeschichte
in ‚Achim‘ erweist er sich auch in diesem neuen Buch als ein Dichter einer
der beiden deutschen Welten – jener zwischen Elbe und Oder.“20
In ihrem Aufsatz beruft sich die sowjetische Kritikerin auf diese beiden westdeutschen Publikationen, zitiert sie, verschweigt aber deren Schlussbefunde
über „eine Ansicht“ bzw. „ein Bein“. Der Sinn der Zitate wird dabei manipuliert. Bei Krüger steht:
„B. soll […] als Typus des bundesrepublikanischen Konsumbürgers gezeichnet
werden: repräsentationssüchtig, hochgestochen, labil. […] Ist er nicht ein
wenig eine DDR-Vorstellung? Ist er nicht viel zu unterentwickelt in seinem
Bewußtsein, um die spezifischen Antagonismen unserer westlichen Gesellschaft sichtbar zu machen? Bundesrepublik, ist das nicht ein verwirrender
Pluralismus […] Von dieser sprengenden Vielgestaltigkeit unserer Gesellschaft lässt unser Herr B. nichts ahnen“.
Der sowjetische Artikel enthält als Zitat nur einen Teil von Krügers Gedankens,
denn der Satz „Ist es nicht ein wenig eine DDR-Vorstellung?“ wird weggelassen, wodurch die Tatsache vertuscht wird, dass Krüger nicht so konkret die
Johnsonsche Position, sondern vielmehr die Vorurteile eines Ostdeutschen
gegen die westdeutschen Bürger ins Visier nimmt. Durch solche „Technik“ des
ausgewählten Zitierens wird der Eindruck erweckt, als habe Johnson auch bei
den westdeutschen Kritikern ausschließlich Misserfolge verbucht. Dass ein
größerer Teil von Krügers Artikel eine Hommage an Johnson als politischen
Erzähler ist, davon lässt die sowjetische Kritikerin fast nichts verlauten. Nur
flüchtig bemerkt sie, dass nach Krügers Ansicht die DDR-Teile des Romans
besser geraten seien als die BRD-Kapitel.
Ebenso unvollständig werden Reich-Ranickis Äußerungen wiedergegeben.
Im deutschen Urtext heißt es:
„Offenbar sollte die Welt der sauberen Arbeit und des sinnvollen Lebens gegen
die des verächtlichen Konsums [… ] ausgespielt werden, wobei die Bürger
der einen Welt die Freiheit entbehren müssen, die der anderen jedoch nicht
viel mit ihr anzufangen wissen. Mit einer derartigen Verteilung der Akzente
[…] nähert sich Johnson […] [einem] Propagandisten“.21
Die sowjetische Kritikerin erklärt sich lediglich damit nicht einverstanden,
dass in Johnsons Roman die DDR angeblich als „die Welt der sauberen Arbeit
und des sinnvollen Lebens“ erscheine. Reich-Ranickis Bemerkungen über die
unfreie ostdeutsche Welt sowie sein Vorwurf, Johnson ähnele einem kommunistischen Propagandisten, erwähnt sie aus naheliegenden Gründen nicht.
105
Jurij Sacharov
„Ja, die Krankenschwester D. und ihre Kollegen arbeiten, aber irgendwie
sehr trist, ohne Freude. […] Bei Johnson ist das ganze Lebensbild der DDR
eingeengt auf die jämmerliche Existenz der Krankenschwester D., einer sehr
beschränkten Frau, die von nicht nachvollziehbarer pathologischer Angst,
von Minderwertigkeitskomplex (der Vater war ein Kriegsverbrecher, der
Bruder ging in den Westen…), peinlicher Unsicherheit besessen ist“22
schreibt Motylova. Die Darstellung der DDR bei Johnson erinnere stark an
einige in der kapitalistischen Welt beliebte antisozialistische „negative Utopien“; tendenziöse Anlage, Voreingenommenheit des Autors seien überall
präsent. „Johnsons Roman […] lässt sich überhaupt nicht mit der wahren
DDR-Wirklichkeit vergleichen“23 beteuert die Kritikerin nachdrücklich.
Die Rezensentin räumt ein, dass der dem Roman zugrunde liegende Lebenskonflikt wirklich akut sei. Dem Autor wird jedoch vorgeworfen, dass er im
Unterschied zu Anna Seghers („Die Entscheidung“) und Christa Wolf („Der
geteilte Himmel“) nicht Farbe bekenne. „Uwe Johnson weigert sich demonstrativ, Stellung zu beziehen […] nicht umsonst ist das Buch ‚Zwei Ansichten‘
betitelt.“24 In Johnsons Buch seien alle Zusammenhänge zwischen der gegenwärtigen deutschen Wirklichkeit und der jüngsten Geschichte des Landes wie
vorsätzlich abgebrochen. „Nur beiläufig erfahren wir die Tatsache, dass der
Vater der D. ein hochrangiger Nazi-Offizier war und dass dieser Umstand die
Karriere der D. beeinträchtigt.“25 Im Roman gebe es keinen Platz zum Nachdenken über historische Schicksale der Nation. Alles werde auf das isolierte
„Hier“ und Jetzt“ reduziert. Das getrennte Bestehen der beiden deutschen
Staaten sei sowohl für den Autor wie für seine Personen bloß ein unfassbares
Missverständnis, das sich durch die Schuld unbekannter geheimnisvoller
Missetäter in die Länge gezogen habe.
„Man darf nicht die Vergangenheit vergessen – sonst verschließt sich die
Gegenwart dem Verständnis […] In dem Roman von Uwe Johnson ist das
Vergangene ganz und gar vergessen, durchgestrichen. Infolgedessen wird
das Gegenwartsbild verzerrt.“26
Der Gedanke der Kritikerin lässt sich weiterführend so interpretieren: Johnson verstehe nicht oder wolle nicht einsehen, dass all die in seinem Roman
beschriebenen „Ansichten [von] der Sperre, Hohlblockwänden, geschichteten
Betonplatten, verstrebten Stacheldrahtlinien, zugemauerten Fenstern in Grenzhäusern, Posten auf dreistöckigen Hochständen, mit Hunden im Schußfeld,“
sowie „Drahtnetze auf Hausfirsten, […] Sichtblenden, […] Schießscharten“27
wie auch Bulldozer und Pioniere, die Gartenlauben und Wohnhäuser aus
106
Uwe Johnson in der ehemaligen Sowjetunion: Bilanz einer Rezeptionsgeschichte
dem Schußfeld räumen, zwangsläufige Folgen des Krieges sind. Und diese
Beschreibung der Grenze stimme gar nicht, weil sie ein Phantombild der
verzerrten Vorstellung Johnsons sei.
Die Ausführungen der Kritikerin über die „Vergesslichkeit“ Johnsons entbehren – bei Licht besehen – jedoch jeder Grundlage:
„man kann in der Welt eigentlich nicht über Deutschland reden. Eigentlich
hätten wir nach 945 alle still sein müssen. […] Das ist ein Land mit einer
Schande, die nicht vergeben werden kann. Das Einzige, was ein Reden
oder Schreiben über Berlin rechtfertigen könnte, das ist eben die Teilung,
die Grenze, die Entfernung. […] Das könnte die Welt interessieren, und
das gibt uns ein Recht zu sagen: wir sind da, wir sind beachtenswert. Aber
sonst nichts!“
nimmt Johnson in einem Gespräch Stellung.28
Unumstrittenes Talent
und tiefe Widersprüche des Weltbildes
Neun Jahre dauerte es, ehe man Johnsons Werk erneut beleuchtete. 975
erschien in dem Buch „Die Literatur und die „Konsumgesellschaft“. Der
westdeutsche Roman der 60er – Anfang der 70er Jahre“ der Aufsatz von Irina
Mlečina „Wirklichkeit und ‚Poetik der Mutmaßungen‘. Romane von Uwe
Johnson“. Mlečina ist zugleich Verfasserin des Kapitels über Uwe Johnson in
der maßgebenden „Geschichte der Literatur der BRD“ (980). Diese zweite
Abhandlung ist die größte und informativste Publikation über Johnson, die
je in der Sowjetunion erschienen ist. In der „Johnson-Bibliographie“ werden
diese Publikationen den „Allgemeinen Betrachtungen zum Werk und Biographica, Porträts in Literatur-Lexika“ zugeordnet.29 Da Mlečinas Beiträge
inhaltlich eng zusammenhängen, erfolgt deren anschließende Darstellung
vor allem aufgrund der letzten Fassung aus dem Jahre 980.
Die Grundeinstellung dieser Veröffentlichungen zum Autor und seinem Werk
ist als ungünstig und missbilligend zu charakterisieren. Zwar sei Johnsons
Talent unbestritten und seine Rolle in der Literaturentwicklung der BRD
bedeutend, aber sein Werk kennzeichne eine tiefe Widersprüchlichkeit seines
Weltbildes.30
Mlečinas Diskurs setzt mehrere Akzente, die sich zusammenfassend wie folgt
wiedergeben lassen:
107
Jurij Sacharov
Johnson missverstehe die Hintergründe und Ursachen der Teilung
Deutschlands.
Als Hauptthema von Johnsons ersten drei Romanen bestimmt Mlečina die
Darstellung der menschlichen Schicksale unter den Bedingungen von zwei
deutschen Staaten. Die Romane seien ein Versuch, die Auswirkungen dieses
Faktors auf Persönlichkeit, menschliche Psychologie und zwischenmenschliche Beziehungen zu analysieren. Johnson betrachte das Problem der zwei
Deutschland „von der privaten Position eines kleinen Menschen her, dem
die Grenze einen unersetzlichen Schaden zugefügt hat“.31 Das Wort privat ist
hier negativ konnotiert und bedeutet „allem Öffentlichen und Gemeinsamen
entgegengesetzt“.32
Ähnlich wie Motylova bemerkt Mlečina, in Johnsons Büchern werde die
deutsche Spaltung nicht als Ergebnis eines bestimmten historischen Prozesses
gedeutet, der durch Krieg und Zerschlagung des Faschismus eingeleitet und
durch Aktivitäten der Reaktionskräfte in den Westzonen besiegelt worden
sei, sondern als Folgen von offenem und geheimem Getue sowie von Intrigen
der beiden einander bekämpfenden Lager.
Johnsons voreingenommene Einstellung zum Sozialismus
falle viel schärfer aus als seine Kritik am Kapitalismus.
Johnsons Helden würden sich beiderseits der Grenze unbehaglich fühlen. Sie
würfen sich hin und her zwischen den Machtapparaten, die die Persönlichkeitsfreiheit gleichermaßen bedrohen würden.
„Nach Johnson sind dem Menschen […] jedes staatliche und soziale System
– ‚West‘ und ‚Ost‘, Kapitalismus und Sozialismus gleichermaßen fremd […]
Die sozialistische Gesellschaftsordnung wird als unverträglich mit den
Persönlichkeitsinteressen dargestellt“.
Den Roman „Das dritte Buch über Achim“ fülle der Autor mit einer Menge von
geringfügigen, tendenziös zusammengestellten Tatsachen aus dem DDR-Leben.
In „Zwei Ansichten“ werde die Wirklichkeit des sozialistischen Deutschland
äußerst abschätzig geschildert. Die D. habe keinen Anlass, aus der DDR zu
fliehen, sie werde weder verfolgt noch sei sie einer Bedrohung oder Gefahr
ausgesetzt. Doch sie fühle, dass sie dort nicht länger bleiben könne. Der ganze
gut durchdachte Hintersinn lasse den Leser die Unvereinbarkeit der Heldin
mit der Wirklichkeit des sozialistischen Staates nachvollziehen.
108
Uwe Johnson in der ehemaligen Sowjetunion: Bilanz einer Rezeptionsgeschichte
Negativ geschildert sei in Johnsons Romanen auch die BRD-Realität, die
der Autor wie auch die handelnden Personen seiner Romane zweifelsohne
missbilligen würden. Aber Johnsons Kritik an den westdeutschen Zuständen falle träge und wenig wirksam aus im Vergleich zu der von Böll, Grass,
Koeppen, Walser.
Johnsons Pessimismus
Nach Mlečina sei für Johnson eine tief pessimistische Wahrnehmung der Geschichte bezeichnend. Der Mensch sei nach Johnsons Auffassung dem Chaos
der Ereignisse gegenüber machtlos. Die Zukunft erscheine seinen Helden noch
düsterer als der heutige Tag. Das Gefühl der Aussichtslosigkeit, die sich durch
die Enttäuschung von der Wirklichkeit der beiden Deutschland einstelle, bestimme ihre Lebensempfindung: das sei die Lebensempfindung der Opfer, der
Menschen, die aufgehört hätten, souveräne Persönlichkeiten zu sein und die
ihre Identität eingebüßt hätten. Johnsons Jakob werde als guter, gerechter und
gewissenhafter Mensch charakterisiert. Aber eben wegen seiner Güte falle er
dem Bösen zum Opfer. Jakob sei der Held des ewigen Gleichnisses über den
guten Menschen, den das Schicksal für seine Tugenden bestraft.
„Aber diese Johnsonsche Parabel entbehrt der Dialektik, des optimistischen,
aktivierenden Ansatzes, die der Brechtschen Variante der Parabel über den
guten Menschen eigen sind: bei Johnson ist das Scheitern des Guten unausweichlich, da jedes gesellschaftliche System der Menschlichkeit entgegenstehe. So wird der Konflikt zwischen hoher moralischer Persönlichkeit und
Amoralität der gesellschaftlichen Institute verabsolutiert.“33
Mittelmäßigkeit und Prinzipienlosigkeit von Johnsons Personen.
Mlečina lehnt sich an Hans Mayers These über die Durchschnittlichkeit von
Johnsons Romanfiguren an. In der Ästhetik des sozialistischen Realismus
sind „Durchschnittlichkeit, Mittelmäßigkeit“ eher negative Begriffe. Mlečina
pflichtet der Meinung Mayers darüber bei, dass Johnson zu den Autoren
gehöre, in deren Werken „Durchschnittlichkeit als werthaft, sogar als einzig
beachtenswert“34 vorgestellt werde. Welche Autoren außer Johnson bei Mayer
gemeint sind, wird in der sowjetischen Publikation umgangen, denn es würde
ja nicht in deren Konzept passen, dass Mayer zu den die Mittelmäßigkeit „besingenden“ Autoren auch die DDR-Autorin Christa Wolf zählt! Verschwiegen
wird ebenfalls, dass Mayer seinen Gedanken weiterführt und befindet: „Allein
109
Jurij Sacharov
Charakterstärke ist kein literarisches Kriterium“.35 Die geheime, sogar tragische
Pathetik solcher Werke bestehe, so Mayer, darin, „den Zusammenprall einer
solchen Durchschnittlichkeit mit extremen Zuständen, […] Grenzsituationen“36
zu zeigen. In solchen Werken gehe es „um den Kontrast des Mitläufers mit
der extremen, aller Mittelmäßigkeit widersprechenden Lebenslage“. Im Fall
Johnsons wären diese „Grenzsituationen, extreme Zustände und Lebenslage“
durch die deutsche Teilung determiniert.
Mayer stellt zwei Charakteristika von Johnsons ersten Romanen auf: das
Hauptthema der deutschen Teilung stehe neben „einem zweiten Leitmotiv“,
nämlich dass auf Johnsons Menschen „kein Verlass“ sei. Johnsons Personen seien
„Durchschnittsmenschen aus Deutschland“. Aber alles ist mit ihnen und durch
sie möglich, im Guten wie im Schlimmen: „je nach Augenblick und Konstellation.“37 Dieses zweite Leitmotiv der „Unverlässlichkeit“ findet sich bei Mlečina
zur „Haupteigenschaft“ von Johnsons Helden gesteigert und modifiziert:
„Diese Menschen sind „ambivalent“, unbeständig, ohne feste Überzeugungen und Prinzipien, aber die menschliche Mittelmäßigkeit lässt sich, wie es
die Geschichte lehrt, allem Möglichen anpassen, darunter den äußersten
Formen des Bösen.“38
Unter dem „Bösen“ sind wohl Faschismus, Imperialismus, Revanchismus zu
verstehen.
„Tatsächlich ermöglicht der Mangel an festen Ansichten beliebigen Umschwung
in ihrem (Johnsons Personen, J.S.) Betragen. Gesine, Jakobs Freundin, wird
zur NATO-Agentin und schädigt objektiv den Menschen, den sie liebt“,39
so Mlečina.
Hauptsächlich auf dem Befund über die Durchschnittlichkeit von Johnsons
Helden baut Mlečina ihre Interpretation der Hintergründe der „Mutmassungsprosa“ und seiner nichtallwissenden Position auf.
In den „Mutmassungen“ sei Jakob zwar ein gewissenhafter Mensch und Arbeiter, aber von ihm könne man nichts Bestimmtes sagen, wie es auch Jonas
Blach gemeint habe: „dieser [Jakob] schien keine [Eigenschaften] zu haben.“40
Wie könne man solchen unfassbaren, mittelmäßigen, homogenen Menschen
ohne spezifische Eigenschaften doch beikommen? Über sie könne man nur
mutmaßen, und eben aus diesem Umstand ergebe sich Johnsons eigenartige
„Poetik der Mutmaßungen“.
110
Uwe Johnson in der ehemaligen Sowjetunion: Bilanz einer Rezeptionsgeschichte
Somit führt Mlečinas Interpretation der Johnsonschen „Mutmassungstechnik“
auf die Mittelmäßigkeit seiner Menschen zurück. Anders gesagt: Johnson
schafft undurchschaubare, mittelmäßige Persönlichkeiten mit undurchdringlicher Psychologie und Beziehungen zueinander, um sie anschließend
zu „entschlüsseln“ zu versuchen.
Solche Deutung unterscheidet sich von den Ausführungen jener westlichen
Kritiker, die Johnsons mutmaßliche Verfahrensweise als eine durch die
politisch-gesellschaftliche Situation verursachte Erzähltechnik betrachten.
So meint Horst Bienek, dass das „heiße Thema“ der deutschen Teilung nicht
mit herkömmlichen Erzählmittel zu erfassen gewesen sei und dass es erst
Johnson gelungen sei, es zu bewältigen, indem er neue „unterkühlte Mittel
[…] in der Fabel, in der Sprache, in der Form“41 eingesetzt habe. Bei Günter
Blöcker wird Johnsons umsichtig mutmaßende Vorgehensweise folgendermaßen gerechtfertigt:
„Jedes Mehr an Deutlichkeit, […] würde die eigentlich unerzählbare Geschichte Jakobs, des Manns zwischen Ost und West, zerstören. Denn diese
wechselseitige, furchtbare Entfremdung der beiden Deutschland […] – wie
soll man sie mit groben Worten aussprechen und benennen, ohne weitere
Verwüstungen anzurichten…“42
Und auch Mayer ist derselben Auffassung:
„Die Unschärfe hat […] mit dem gesellschaftlichen […] Untergrund des
Romans zu tun. Dem geteilten Deutschland und der Notwendigkeit heutiger
Deutscher, in diese Konstellation hineinzuleben.“43
Doch gewisse Überschneidungspunkte mit der westdeutschen Kritik weist
Mlečinas weiterer Deutungsansatz auf, wo sie den gesellschaftlichen Faktor als
möglichen Hintergrund für Johnsons Mutmaßungsstil in Erwägung zieht:
„Nach Meinung des Autors wird in der modernen Gesellschaft (unabhängig
davon, von welcher gesellschaftlichen Struktur die Rede ist) auf die Persönlichkeit politischer, ideologischer Druck ausgeübt. Dieser Druck lässt die Person ihr wahres Gesicht verstecken, sich unter ‚Konformismus‘ tarnen.“44
Auch bei Reich-Ranicki ist zu lesen: „Die Gestalten müssen verschwommen
bleiben“, denn Johnson
„vergegenwärtigt die Infiltration der Politik in das Leben eines jeden Individuums im totalitären Staat von heute und zeigt das Resultat: der Mensch
tarnt sich; nicht nur für die Machthaber, auch für seine Umgebung wird
111
Jurij Sacharov
er undurchschaubar. Daher ist er für den Romanautor ebenfalls nicht
durchschaubar – nur die Art der Beziehungen zu den Mitmenschen kann
angedeutet werden…“45
Der westliche Kritiker spricht jedoch ausdrücklich vom totalitären Staat,
nicht zweideutig ist darunter die DDR zu verstehen. Hingegen bei Mlečina
ist verschleiernd lediglich von der modernen Gesellschaft die Rede.
Es drängt sich eine Schlussfolgerung auf: während die westdeutschen Kritiker
Johnsons mutmaßende Technik politisieren und als Folge der deutschen Teilung akzentuieren, lässt Mlečina solche Deutung unbeachtet und „verharmlost“
Johnsons Technik, indem sie jegliche Bezugnahme auf die deutsche Spaltung
vermeidet.
Zwar sträubte sich auch Johnson gegen eine Politisierung seiner Person: mit der
Formel „der Dichter der beiden Deutschland“ habe man ihn ja jagen können46
und seine Bücher seien „kein politisches Unterfangen [gewesen], sondern Geschichten, deren Personal auf beiden Seiten lebte“.47 Aber in „Berliner Stadtbahn“
äußert er sich unmissverständlich, dass nichts Anderes als eben die wie „eine
literarische Kategorie“ wirkende Grenze verlange, „die epische Technik und
die Sprache zu verändern, bis sie der unerhörten Situation gerecht werden“.48
Johnsons Nichtallwissenheit sei eine jener literarischen Konsequenzen, die aus
den Bedingungen des Themas „Deutschland nach dem Krieg“ hervorgegangen
seien. Die Manieren der Allwissenheit seien „verdächtig“ geworden deswegen,
weil „die Lage“, d.h. die verwirrende Situation der beiden Deutschland über
die herkömmlichen Erzählmittel à la Balzac hinausgewachsen sei.49 Mithin
seien Nebelhaftigkeit und Schwierigkeit der Form kein Eigensinn des Autors,
sondern sie würden zwangsläufig resultieren aus den „Verhältnissen, wie sie
in Deutschland sind“.50
Kapitulation vor der undurchdringlichen Realität
Zwar sei unverkennbar, so Mlečina, dass sich Johnson doch um die Erkundung
der wahren Wirklichkeit bemühe und dass er ständig auf der schwierigen, den
Leser aktivierenden Wahrheitssuche sei: Der Blickwinkel auf ein bestimmtes
Faktum wie auch die Erzähldistanz verschöben sich unablässig, um denselben
Sachverhalt aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten. Aber diese Technik
diene bei Johnson nicht einer Präzisierung, Klärung der Wahrheit, vielmehr
führe sie eine noch dichtere Vernebelung des Geschilderten herbei. Hiermit
bezwecke der Autor, die Gestalt bis auf eine totale Verschwommenheit ihrer
112
Uwe Johnson in der ehemaligen Sowjetunion: Bilanz einer Rezeptionsgeschichte
Grenzen zu relativieren. Die ganze Erzählstrategie Johnsons laufe, so Mlečina,
auf die Kapitulation vor der undurchdringlichen Realität hinaus.
Je mehr sich Karsch mit der Erkundung von Achims Leben befasse, desto
verwirrender, nebelhafter, komplizierter werde Achims Porträt. Es sei ja nicht
ausgeschlossen, dass er „den konterrevolutionären Putsch am 7. Juni 953“51
mitgemacht habe. Die verworrene Vergangenheit Achims stärke Karschs Zweifel an der Möglichkeit, die Wirklichkeit zu schildern und den menschlichen
Charakter zu decodieren. Die Metamorphosen mit Achim würden jegliche
genauen Schlüsse verhindern.
Auch wenn Johnson auf die „formale Extravaganz“ verzichte und einen klaren
Text schreibe, verlasse er nicht das geheimnisvolle Labyrinth und bleibe der
„Poetik der Mutmaßungen“ treu. Zwar weise „Zwei Ansichten“ eine gespannte,
dynamische Handlung, eine nahezu mathematisch durchrechnete Komposition auf. Die Sprache verliere hier ihre scharfen Kanten, die Schwerfälligkeit
von Johnsons Prosa werde weniger spürbar. Aber auch dieses Buch sei von
derselben Verworrenheit und Verschwommenheit gekennzeichnet.
„Amorphe Welt der Empfindungen der Helden, ihre nicht angemessenen,
psychologisch unvorbereiteten Handlungen und Entscheidungen, Unmotiviertheit, Fragmentarität bei der Wiedergabe von momentanen Wahrnehmungen – dies alles entspricht im Großen und Ganzen der Konzeption und
Manier Johnsons aus der Zeit seines ersten Romans“. 52
Diskrepanz zwischen detaillierten Beschreibungen
und der Verschwommenheit des Ganzen.
Mangel an gesellschaftskritischer Funktion der Beschreibungen
Nach Mlečina seien genaue Beschreibungen von Gegenständen, Inventarisierung von Details für das moderne Erzählen charakteristisch, aber ihre
Anwendungsbereiche seien variabel. Bei Walser erfülle die Inventarisierung
eine parodierende Funktion und trage zur satirischen Darstellung der Reklametechniken und zur Bloßlegung der Merkmale der „Konsumgesellschaft“
mit ihrem Sachen-Fetischismus bei. Eine solche gesellschaftskritische Aufgabe
hätten Johnsons detaillierte Beschreibungen nicht: sie stünden bloß in krassem
Widerspruch zu der vom Autor intendierten Verschwommenheit des Ganzen. Und auch das erfundene Dokumentarelement, das Johnson weitgehend
verwende, sei kein Mittel der historischen Bestätigung, sondern eine Technik,
die erlaube, sich hinter der scheinbaren Objektivität zu verbergen.
113
Jurij Sacharov
Sprachliche Eigentümlichkeiten als Ausdruck der Ungeordnetheit
der Welt und als Ablehnung von Klischees.
Die strukturellen und sprachlichen Besonderheiten von Johnsons Romanen
würden darauf abzielen, das Nicht-genau-Wissen auszudrücken und die
Verschwommenheit der Wirklichkeit zu zeigen. Gebrochene, elliptische Sätze,
häufiger Konjunktivgebrauch, nicht identifizierte Sprecher lassen den Leser
jegliche Schlüsse bezweifeln. Mlečina verweist auf die Vorliebe des Autors für
die Parataxe, unendliche Aufzählungen und asyndetische Satzverbindungen.
Syntaktische Zerrissenheit, Verselbständigung einzelner Phrasenelemente
wirke sich nachteilig auf das sprachliche Ganze aus. Somit demonstriere
der Autor das Fehlen logischer Verbindungen in der chaotischen Außenwelt.
Demselben Ziel diene Johnsons eigenartige Lexik und seine eigensinnige
Interpunktion.
„Es leuchtet ein, dass hinter den sprachlichen Neuerungen Johnsons die
Abneigung gegen Sprachklischees und Schablonen, abgenutzte Wörter steht.
Pessimistische Einstellung zur Sprache teilen heute sehr viele westdeutsche
Autoren. Die jüngste Vergangenheit Deutschlands, zwölfjährige Schandherrschaft Hitlers beraubte die Wörter ihres wirklichen Sinnes. Die Epoche des
‚Wirtschaftswunders‘ ‚Ära des Konsums‘, intensive Entwicklung der Massenmedien und besonders der Werbung entfärbten und entwerteten die Sprache,
machten sie erneut verdächtig, geschmacklos und ordinär […] Einer solchen
Sprache schenkt der Schriftsteller keinen Glauben, er sucht nach einer neuen.“53
„Jahrestage“: ungenügende Vergangenheitsbewältigung
und undifferenzierte Gesellschaftskritik
In „Jahrestage“ würden sich Johnsons neuen ideelle, bildliche, strukturelle
Entscheidunge erkennbar machen. Aber auch hier überblicke der Autor nicht
das Ganze, er fixiere lediglich Details: Gesines New Yorker Leben werde in
Skizzen, Augenblicksaufnahmen dargestellt, bald deutlich, bald verschwommen,
absichtlich verdunkelt. Es entstehe kein verallgemeinertes Bild der USA.
Die Einstellung der Heldin (wie des Autors) zu den USA sei zwiespältig. Zum
einen solle Amerika ihr neues Zuhause werden. Zum anderen spüre und
sehe Gesine auch negative Seiten des amerikanischen Daseins, die ziemlich
überzeugend im Roman dargestellt seien.
Den moralischen Ansatz des Romans verkörpere Gesines Tochter Marie. In
den früheren Romanen Johnsons habe es nicht eine solche Figur gegeben,
114
Uwe Johnson in der ehemaligen Sowjetunion: Bilanz einer Rezeptionsgeschichte
die die moralische Substanz des Werkes so betont auf sich konzentriert hätte.
Zudem sei Marie die lebendigste aller Figuren der „Jahrestage“. Hingegen
bleibe die Gestalt Gesines eigentlich genauso neblig wie das ganze epische
Personal des frühen Johnson.
Die USA von heute würden im Roman deutlich mit dem Deutschland der
jüngeren Vergangenheit verglichen; diese Konfrontation sei eines der ideellen
und kompositorischen Zentren der Erzählens. Demnach wende sich Johnson
dem Thema der Vergangenheitsbewältigung zu.
In „Jahrestage“ verletze Johnson sichtlich sein objektivistisches Prinzip, die
Geschichte nicht mit Vorwürfen zu belegen, indem er die Taten der Menschen
eben beurteile. Dennoch habe seine programmatische Enthaltsamkeit zur
Folge, dass die nach ihrem Charakter und Inhalt entgegengesetzten Phänomene nicht differenziert würden und verschiedene Gesellschaftsstrukturen
weiterhin eine Gleichgewichtung erführen: Neben der negativen Einstellung
des Autors zur kapitalistischen Wirklichkeit, zum heutigen Amerika sei ebenfalls seine feindliche Gesinnung zur Welt des Sozialismus, insbesondere seine
Voreingenommenheit gegen die DDR nicht zu verkennen. Mit aufrichtiger
Anteilnahme kommentiere Johnson Fälschungen der „New York Times“ über
den „Prager Frühling“, das „tschechoslowakische Experiment“.
Johnsons Perspektive der Nichteinmischung führe dazu, dass die Vergangenheit in seiner Darstellung viel harmloser aussehe als bei Böll, Grass, Schallück,
Lenz. Zwar seien auch die Johnsonschen Romane voller innerer Tragödien
(z.B. der Selbstmord von Lisbeth Cresspahl). Aber immerhin bleibe dem Leser
das Gefühl einer gewissen Harmlosigkeit des Geschehenden, besonders was
das Vergangenheit betreffe, erhalten.
Vieles im Roman lasse an die „Poetik der Mutmaßungen“ erinnern. In dem
kompositorischen Aufbau, der Ideenstruktur und der Personenkonstellation
der „Jahrestage“ sei die Überzeugung des Autors gegenwärtig, dass das Wirklichkeitsbild nicht in seiner Kausalität eingefangen werden könne. Johnsons
deformierte, manieristisch altmodische, mit vielen Dialektismen und formalistischen Neuerungen übersäte Sprache verzerre auch hier die Darstellung
erheblich und beeinträchtige somit die soziale Kritik.
Dennoch würden sich „Jahrestage“ bei aller ihrer Widersprüchlichkeit von den
vorigen Büchern Johnsons abzeichnen. Unverkennbar sei Johnsons Bemühen,
den Rahmen der „Poetik der Mutmassungen“ zu sprengen und die aktuellen
gesellschaftlichen und moralischen Zeitprobleme aufzuwerfen.
115
Jurij Sacharov
„Die Taube auf dem Dach“54
Die dritte große Publikation erschien 978 im Buch „Literarischer Kampf in
der BRD“ und wurde betitelt „Von der Bekenntnisprosa zum neuen Psychologismus“ (der Autor Vladimir SteŽenskij). In der „Johnson-Bibliographie“ ist
dieser Aufsatz unter „Darstellungen zu Werkkomplexen“ zu finden.55
Die einhellige Verherrlichung Uwe Johnsons von der westdeutschen Kritik
sei, so SteŽenskij, auf das Grundthema seiner Werke, die deutsche Teilung,
zurückzuführen: die Kritiker, selbst der fast allen jungen Literaten gegenüber
„mürrische“ Günter Blöcker, hätten in Johnson nicht nur ein überdurchschnittliches Talent, sondern auch den „politischen“, antikommunistischen Autor
erblickt, dessen sie damals bedurft hätten.
Zwar würden Johnsons erste Bücher den Eindruck machen, dass es sich bei
ihrem Autor tatsächlich um einen Antikommunisten handele. In den „Mutmassungen“ verkörpere die in die Handlung eingreifende Tätigkeit Rohlfs’
eine bestimmte Sorte der Politik und verursache (indirekt oder direkt) eine
unheilvolle Atmosphäre (Jakobs Tod, Jonas’ Inhaftierung). Die Bücher würden zudem direkte Ausfälle gegen die sozialistischen Länder enthalten. So
werde beispielsweise im ersten Roman die wahre Deutung des Personenkultus
verzerrt. Ebenso antisozialistisch sei der Umstand, dass sowohl Jonas Blach
als auch sein Professor vom Sozialismus enttäuscht und zurückgetreten seien. Und auch in Johnsons zweitem Roman scheine Achim T. aus schlechten
Propaganda-Büchern entliehen zu sein: ein aus Eisenbeton bestehender mitleid- und geistloser Roboter von Sport und Politik.
Aber trotz aller dieser markanten Merkmale der antikommunistischen Literatur sei es nicht richtig, und das habe sogar die westdeutsche Kritik (z.B.
Erhart Kästner) einräumen müssen, diese Bücher als eines der Muster von
antisowjetischer und antidemokratischer Lektüre zu betrachten. „Tja, es wäre
zu simpel, Uwe Johnson zu jenen Kerlen anzurechnen, die den Antikommunismus zu ihrem Geschäft gemacht haben!“56 so SteŽenskij. Einerseits werde
in „Mutmassungen“ jeder Ausfall gegen die DDR durch einen Angriff gegen
die kapitalistischen Zustände ausgeglichen. Gesine sei ganz unglücklich im
Lande des „Wirtschaftswunders“, geschweige denn Jakobs Mutter, die im
Westen ein äußerst elendes Dasein im Lager für Überläufer friste. Andererseits
integriere der Autor in „Mutmassungen“ eine „ausführliche und spannende“
Schilderung der Arbeit, was noch „vor der westdeutschen Literatur der Arbeitswelt“57 unternommen worden sei. In der sowjetischen Publikation wird
116
Uwe Johnson in der ehemaligen Sowjetunion: Bilanz einer Rezeptionsgeschichte
Jakobs entwickeltes „Kollektivismusgefühl“ hervorgehoben. Jakobs Freunde
seien gerade jene Werktätigen, die ohne große Worte den Sozialismus aufbauen
und mit denen Jakob vollkommen solidarisch sei. Im Westen werde er vor
allem von der Einsamkeit und Entfremdung der Menschen deprimiert. Es
bleibe aber ein Rätsel, warum er ausgerechnet in seiner Heimat ums Leben
komme. Der sowjetische Kritiker macht die Weltanschauung Johnsons für
diesen Ausgang verantwortlich. Nach Auffassung des westdeutschen58 Autors,
so Steženskij, handele der moderne Mensch unlogisch. Genauso unlogisch
sei die Welt, in der er lebe, wie auch immer diese Welt sei: kapitalistisch oder
demokratisch-sozialistisch. Dabei übersieht oder verschweigt der Kritiker die
Tatsache, dass „Mutmassungen“ noch während der DDR-Zeit Uwe Johnsons
entstanden sind.
Auch „Das dritte Buch über Achim“ weise gar nicht jene üblen Eigenschaften („Entlarvung“ der Sozialordnung in der DDR) auf, wie es auf den ersten
Blick vorkommen möge. Je deutlicher sich der biografische Faden Achims
für das geplante Buch abzeichne, desto mehr überzeuge sich Karsch, dass
der berühmte Sportler gar nicht jener harte, geistlose Karrierist sei, wie er
dem westdeutschen Journalisten anfangs erschienen war. Karin, die sich von
Achim trenne, sei nicht zum Westen geflohen, wie früher die junge Gesine,
sondern bleibe in der DDR. Karsch sehe ein, dass sowohl Karin als auch
Achim mit der sozialistischen Ordnung der DDR innerlich verbunden seien.
Mit solchem Gefühl reise der Journalist aus dem von ihm nicht verstandenen
Lande zurück nach Hamburg.
Für nicht zufällig hält Steženskij jenes Moment, dass im Unterschied zu den
„Mutmassungen“ im „Dritten Buch über Achim“ alle Ereignisse westlich der
Elbe quasi ausgeklammert seien. In den „Mutmassungen“ habe Johnson die
beiden Lebensweisen der zwei Deutschland noch vergleichen müssen, um
dem Leser und sich selbst zu beweisen, dass nicht nur in der sozialen und
politischen Struktur der Gesellschaft, sondern auch in der Psychologie der
DDR-Bürger unumkehrbare Veränderungen eingetreten seien. In seinem
zweiten Roman betrachte der Autor diesen Umstand bereits als eine unbestreitbare Tatsache.
„Zweifelsohne enthält der Roman eine implizite Polemik mit übereiltem
antisozialistischem Geschreibsel von Karschs Kollegen, den westdeutschen
Journalisten, die die tief greifenden Prozesse übersahen, die sich im Bewusstsein der DDR-Bürger nach elf Jahren des Bestehens des ersten sozialistischen
Staates auf deutschem Boden vollzogen.“59
117
Jurij Sacharov
Johnsons Psychologismus. Unlogik der Taten seiner Personen.
Die Zentralthese in Steženskijs Aufsatz ist seine Konzeption des Psychologischen in Johnsons Romanen. Bei all den politischen Momenten sei es nicht
berechtigt, Uwe Johnson als politischen Schriftsteller zu betrachten. Vielmehr
interessiere sich Johnson für eine besondere Art der Psychologie. Er scheine
sich zum Ziel gesetzt zu haben, unbewusste, tiefe Prozesse in Geistern und
Gemütern des modernen Menschen zu zeigen, ohne diese Vorgänge jedoch
zu erklären. Im Unterschied zu den Autoren des 9. Jahrhunderts, deren handelnde Personen sich bestimmten logischen, kausal begründeten Impulsen
untergeordnet hätten, handelten Johnsons Helden unlogisch und spontan.
„Unvermittelt taucht Gesine, die nicht einmal ihren Pass legalisiert hat, in der
Elbestadt auf und rennt mit Jakob, Hals über Kopf, nach Jerichow, obwohl sie
nicht von Rohlfs ‚verfolgt‘ wird!“60 Für den sowjetischen Kritiker ist es ebenso
nicht einleuchtend, weswegen Jonas nach Jerichow habe kommen sollen. Seltsam seien auch die Handlungen von Frau Abs, die nur wegen eines Gesprächs
mit Rohlfs in den Westen fliehe und den Sohn zurücklasse.
Das Sujet von „Achim“ sei ebenfalls nach den Gesetzen der Antilogik aufgebaut. Warum werde Karsch von Karin aufgefordert, unverzüglich zu ihr
zu kommen, warum leiste Karsch dieser Einladung sogleich Folge, obwohl
die Liebesbeziehung längst abgebrochen sei? Absolut unmotiviert sei auch
Karschs Entscheidung, ein Buch über Achim zu verfassen.
Als mögliche Ursache solcher unlogischen Taten nennt Steženskij eine Art
Fluch, der auf Johnsons Helden zu liegen scheine. Das sei der Fluch der Vergangenheit, der sinnlosen Jahre des Hitler-Regimes, des sinnlosen, von den
Nazis angerichteten Gemetzels. Die Unlogik der Vergangenheit projiziere
sich auf die Nachkriegszeit.
Zwar mag der „Fluch der Vergangenheit“ als eine Hypothese angenommen
werden, auch wenn sie übertrieben ausgetüftelt vorkommt. Aber das Belegmaterial des sowjetischen Kritikers zur Unlogik ist, mit Verlaub zu sagen,
meistens nicht haltbar und kann leicht verworfen werden. Gesine wird von
Herrn Rohlfs doch verfolgt, und eben angesichts der Gefahr von seiten Rohlfs
initiiert Jakob die Nachtfahrt nach Jerichow, denn „wo hätt er sie denn lassen
sollen“61 . Was Jonas angeht, so ist das Haus von Gesines Vater offensichtlich
die einzige Stätte, wo Jonas die ihm in Berlin abhanden gekommene „Ruhe
und Klarköpfigkeit“62 noch gewinnen konnte, um an seinem Manuskript zu
schreiben. Das Verhältnis von Frau Abs zu Gesine ist mütterlich,63 so dass es für
118
Uwe Johnson in der ehemaligen Sowjetunion: Bilanz einer Rezeptionsgeschichte
sie nicht denkbar ist, ihre Fast-Tochter zu gefährden. Karsch wird von Karin
eingeladen, weil Achim das wünscht.64 Karschs Entschluss, dieser Einladung
zu folgen, beruht auf seiner beruflichen, gesundheitlichen und familiären
Krise und wird in „Eine Reise wegwohin“, 960 explizit erklärt.65 Und auch
sein Plan, ein Buch über den Rennradfahrer zu schreiben, ist eine motivierte
Entwicklung aus dem Auftrag von Herrn Fleisg, einen Artikel über Karschs
Begegnung mit Achim für die städtische Zeitung zu verfassen.66
Angesichts der aufgezeigten Unstimmigkeiten ist es berechtigt zu fragen, ob
„die Zusammenhanglosigkeit der Handlung und die Unmotiviertheit […] der
Taten“67 wirklich Johnsons schöpferischer Methode zugrunde liegen, wie es
Steženskij behauptet. Noch krasser ist aber folgendes Erratum: Zur Bekräftigung seiner Theorie zitiert der Kritiker (in russischsprachlicher Übersetzung)
eine Stelle, wo angeblich Jakobs Gedanken wiedergegeben werden:
„Denn Cresspahl in der Ferne und seine verschwundene Mutter und Gesines
wahnwitziger Besuch, das alles half gar nichts, das waren wieder alles Leute
mit ihren Handlungen für sich allein, die einander nicht erklärten.“68
Wenn schon diese Überlegungen zur „Theorie der Unlogik“ gut passen mögen,
steckt hier ein gravierender Irrtum. Zwar kennt der Autor ausnahmsweise
an einigen Stellen auch Jakobs Gedanken, aber nicht in diesem Fall, denn
die zitierten Überlegungen gehören in Wirklichkeit nicht Jakob, sondern
seinem Gesprächspartner Jonas Blach! Im Urtext steht: „[…] und wiederum
fragte Jonas sich wie Jakob denn dem Verständnis erreichbar sein könne.
Denn Cresspahl in der Ferne“ usw.69 Unbegreiflich ist auch, warum „seine“
(verschwundene Mutter) als russisches moja „meine“ übersetzt wurde.
Sehr angetan zeigt sich der Kritiker vom Erzählungsband „Karsch, und andere
Prosa“. Dabei legen die Art und Weise, auf die die Präsentation im Aufsatz erfolgt,
ein aussagekräftiges, stellvertretendes Zeugnis für die allgegenwärtige Zensur ab.
Während die ideologisch unanstößige Geschichte „Osterwasser“ ausführlich
nacherzählt wird, ist über den Inhalt von „Beihilfe zum Umzug“ und „Geschenksendung, keine Handelsware“ lediglich Folgendes zu erfahren:
„Die beiden Geschichten beziehen sich auf jene Zeit, als Gesine bereits […]
in Frankfurt mit einem unehelichen Kind […] wohnt. Sie denkt oft daran
zurück, wie sie Sendungen von […] Frau Abs aus Jerichow bekam. Und auf
jedem Päckchen stand vermerkt: ‚Geschenksendung, keine Handelsware‘.
In den beiden Erzählungen versucht Gesine, ihrer Verwandtschaft und
Bekanntschaft in Jerichow zu helfen. Doch der Leser spürt: Jerichow ist für
119
Jurij Sacharov
sie unerreichbar entfernt […] Alle drei Geschichten klären sehr viel im Werk
des Autors. Sie sind sehr lyrisch, der feine Johnsonsche Psychologismus tritt
darin noch deutlicher zu Tage als in den Romanen“.70
Es ist fraglich, ob eine solche dürftige Darstellung überhaupt etwas „klären“
kann bei einem Leser, der keine Johnson-Texte vorliegen hat. Unerwähnt
bleibt, welcher „Umzug“ gemeint ist, warum Jerichow für Gesine unerreichbar
entfernt war. Ebenso gibt es keinen Hinweis auf die mit bürokratischen Schikanen verbundene Abschiebung der Rentner aus der DDR, auf den Mangel
an notwendigsten Waren im Osten, womit „die Ostdeutschen [… ] den Krieg
bezahlten immer noch, nachdem die Westdeutschen wieder lebten“.71 Kein
Wort steht in dem Aufsatz über die Mengenvorschriften für die Sendungen,
die man obendrein so zu verpacken versuchte, damit sie den ostdeutschen
Röntgenapparaten und Sonden nicht auffielen etc.
Von der „Technik“ des ausgewählten Nacherzählens ist ebenso „Eine Reise
wegwohin“, 960 stark betroffen. In Einzelheiten wiedergegeben wird nur
der Teil nach Karschs Rückkehr in die BRD. Es wird betont, dass Karsch ein
progressiver Journalist sei, der Kritik an der Reaktion und der Regierung der
BRD übe, jedoch von der Wirksamkeit dieser Kritik enttäuscht sei.
Nach Recherchen in den Bibliotheken werde ihm immer deutlicher, wie idiotisch
die berüchtigte Politik der Nichtanerkennung der DDR sei. Aber die Tatsachen,
die Wahrheit würden nichts für die Machthaber der BRD bedeuten. Da Karsch
in seiner Wahrheitssuche nicht nachgebe, werde er „schweren Repressalien“72
ausgesetzt. Dass aber einer in der DDR drei Jahre Haftarbeitslager hätte bekommen können lediglich für eine witzige Anspielung auf den Staatsratsvorsitzenden, wird in der sowjetischen Publikationen außer Acht gelassen. Keine
Beachtung schenkt der Kritiker auch anderen DDR-Erfahrungen Karschs, z.B.
den Gründen für die Flucht der Ostdeutschen (ca. 3 Millionen) in den Westen,
dem mangelhaften Hotelservice oder den Schikanen der ostdeutschen Polizeimonteure. Unbequeme Stellen werden einfach weggelassen, damit sie das
positive Bild Johnsons nicht verderben und damit der Autor, „die Taube auf
dem Dach“, für die Sache des Sozialismus behalten werden konnte.
In „Jahrestage“ werde, so Steženskij, die Johnsonsche Erzählhaltung mehr traditionell, ungeachtet der Collagetechnik, die jedoch eine bestimmte kritische
Funktion erfülle, mit deren Hilfe Johnson seine Position zur modernen Welt
und insbesondere zu Amerika zum Ausdruck bringe. Der Kritiker, ähnlich
wie Mlečina, unterstreicht das Motiv der Erinnerung, das in diesem Roman
120
Uwe Johnson in der ehemaligen Sowjetunion: Bilanz einer Rezeptionsgeschichte
erstmals bei Johnson dermaßen deutlich auftauche. Bezeichnend sei, dass
Gesines Taten nicht motiviert und ihr Denken mitunter chaotisch wirken
würden, während ihre Tochter Marie voller vernünftiger Gewalt sei. Gesine
wisse offenkundig nicht einmal, worin ihr Glück bestehe, zumal sie nicht
darum kämpfe. Ganz anders Marie, die Anzeichen dafür zeige, ein Mensch
von einem ganz anderen Schlag zu werden.
Am Schluss seines Beitrags diskutiert Steženskij mit der „völlig grundlosen“
Meinung „eines der Kritiker in der Zeitschrift ‚Monat‘“73, Johnson laufe Gefahr, wegen der detailgetreuen Beschreibungen (z.B. des Eisenbahn- oder des
Radfahrwesens) zu einem „Sklaven der Dinge“ zu werden.
„Der deutsche Kritiker hat wahrscheinlich missverstanden: gerade die
Beschreibung von Sachen hilft den Charakter der Personen vollständig
darzutun. […] Einen Sachenkult gibt es in Johnsons Romanen nicht; die
Sachen als Symbole der Macht, Wohlfahrt, Mode fehlen. Die Einstellung von
Johnsons Personen zu den sie umgebenden Gegenständen unterscheidet sich
von der Position westdeutscher in den Umständen des ‚Wirtschaftswunders‘
aufgewachsener Philister. Im Gegensatz zu der Einstellung der heutigen
‚Götzendiener‘ des Komforts, zu Waschmaschinen, Gefrierschränken und
Klimaanlagen geht das Interesse von Johnsons Personen an den Sachen nicht
über das Interesse eines Robinson Crusoe hinaus, d.h. werthaft sind allein
ihre Rationalität und Nützlichkeit für ein bescheidenes Arbeitsleben.“74
Steženskij führt Johnsons „sehr ungewöhnliche Techniken“ der psychologischen Beschreibungen auf den klassischen Roman der vorigen Jahrhunderte
zurück. Dort seien die Seelenzustände der Personen nicht durch ihre „Selbstäußerungen“, sondern durch ihre Taten sowie Situationen und die „Sachen“,
mit welchen sie umgegangen sind, zum Ausdruck gekommen. Das Äußere
seiner Helden ziemlich ausführlich beschreibend, erzähle Johnson nie direkt
über ihre Gefühle, geschweige denn über unbewusste Empfindungen.
„Johnsons Helden lieben, aber sie machen keine Liebesgeständnisse. Bewusstseinsstrom, innere Monologe – alle diese Modetechniken der modernen
Autoren werden bei Johnson umgewandelt.“75
Johnsons literarischen Techniken könne man nicht verstehen, ohne die Erscheinung „Krise der selbstentblößenden ‚Bekenntnisprosa‘“ im Auge zu behalten.
Alle die Techniken der (Selbst)analyse, des Bewusstseinsstroms, bereits von
Joyce in die Literatur mit voller Deutlichkeit eingeführt, hätten sich in den
60er und 70er Jahren in die sogenannte Antiliteratur verwandelt, die in den
USA eingesetzt und dann nach Westeuropa übergegriffen habe. Diese Literatur
121
Jurij Sacharov
sei eine Art von masochistisch-unanständigem Geschwätz, das nichts mit der
Psyche eines normalen Menschen zu tun habe. Die äußerste Aufrichtigkeit
eines Dädalus sei in obszöne Selbstbekenntnisse entartet. In Westdeutschland
habe solche Literatur mit der autobiografischen Prosa Peter Weiss’ begonnen
und Ende der 60er Jahre in den frühen Werken von Peter O. Chotjewitz und
in den Romanen Hubert Fichtes ihren Höhepunkt erreicht.
„Die Inflation der Selbstbekenntnisse und Selbsterforschung ließ die klassisch
strenge Prosa von Uwe Johnson aufkommen, deren Helden karg an Worten
sind und ihr inneres Wesen nur in ihren Taten offenbaren.“76
Abrundung des Porträts
Die fünfte und letzte Veröffentlichung aus der Feder eines sowjetischen Kritikers erschien 982 und ist, abweichend von den vorangehenden russischsprachigen, in deutscher Sprache abgefasst. Sie ist eine skizzenhafte Darstellung
in der dreibändigen „Geschichte der deutschen Literatur“ (Autor Aleksandr
Bukajev), die nach ihrem Inhalt eine knappe Synthese der Abhandlungen
von Mlečina und Steženskij (u.a. ihrer Thesen über Johnsons äußerst widersprüchliches und verschwommenes Weltbild, Unlogik des Menschen und der
Umwelt in seinen Werken, ideelle Verschiebung der Jahrestage zugunsten der
sozialkritischen Funktion) bildet.77 In der „Johnson-Bibliographie“ ist diese
Publikation unter den „Porträts in Literaturlexika“ verzeichnet.
Nach Bukajev schreibe Johnson wie viele andere bürgerlich-humanistische
Autoren von den Positionen eines „dritten Weges“ aus. „Gerade damit lassen
sich seine gelegentlich antikommunistischen Ausfälle gegen die DDR und
die Sowjetunion erklären.“ Dem Autor wird aber zugute gehalten, dass er
„in seinen Werken oft die imperialistische bundesdeutsche Realität, die Einsamkeit und Vereinzelung des westdeutschen Bürgers kritisch darstellt“.78
Johnson habe eine agnostizistische Weltanschauung, die vielfach auch die
Erzähltechnik seiner Romane bedinge.
Johnsons „Jahrestage“ nähmen eine hervorragende Stellung in der literarischen Landschaft der 70er Jahre ein, die Gestalt der Marie sei eine bedeutende
künstlerische Leistung des Autors, die das Verantwortungsgefühl und den
Gerechtigkeitssinn der heranwachsenden Generation verkörpere.
Auch diese knappe Darstellung blieb nicht von Kuriositäten verschont: Karsch
figuriert dort als ein Westberliner Sportjournalist.
122
Uwe Johnson in der ehemaligen Sowjetunion: Bilanz einer Rezeptionsgeschichte
Das Tüpfelchen auf dem i
Im ersten Jahr der Perestroika, 986, wurde eine russische Übersetzung der in
der DDR erschienen „Kurzen Geschichte der deutschen Literatur“ veröffentlicht.79 Dort ist immer noch kein Hauch eines neuen Denkens zu verspüren.
Missbilligend wird bemerkt, in den „Mutmassungen“ habe der Autor die
Perspektive eines unschlüssigen zwischen den Fronten des Klassenkampfes
herumirrenden Mannes gewählt, der an seiner umfassenden Irritation scheitere. „Dem Autor gelingt es weder hier noch im Roman „Das dritte Buch über
Achim“, die revolutionären Veränderungen in der DDR zu erfassen.“80 In der
Tetralogie „Jahrestage“ beziehe Johnson zwar einen weiten zeitgeschichtlichen
Umkreis ein und übe treffende Kritik an den USA-Zuständen, aber seine
antikommunistische Grundhaltung werde dort deutlicher als bisher.
Schlussbetrachtung
Johnson hielt seine Bücher für „Anlässe für viele und mehr differenzierte
positive Äußerungen“81 über die DDR und zeigte sich daher verwundert und
befremdet, wenn sie alle, von Siegfried Unseld beharrlich dem Ostberliner
„Aufbau Verlag“ für eine Veröffentlichung in der DDR angeboten, jedesmal
auf hartnäckige Ablehnung stießen.
In einem Interview sagte er: „Der Gedanke der Wiedervereinigung scheint mir
zu verlangen, dass wir uns gründlich und geduldig, d.h. also durch den Versuch
eines Verständnisses und der Kenntnisnahme, darauf vorbereiten.“82
Folgerichtig ließ er sich von dieser Maxime leiten und betätigte sich z.B. im
Westberliner „Tagesspiegel“ als Kritiker des Ostdeutschen Fernsehens, denn
er hoffte, den Westberlinern „die ostdeutschen Verhältnisse bekannter zu
machen“. Und mögen die Westdeutschen
„die Kenntnis des ostdeutschen Bewusstseins- und Informationsstandes noch
lange nicht brauchen für eine Gelegenheit von Wiedervereinigung, vielleicht
stimmen sie Massnahmen der Entspannung einsichtiger zu.“83
An einer „differenzierten“ Darstellung, an „Kenntnisnahme“ und „Verständnis“,
für die Johnson plädierte, mangelte es im Osten vielleicht noch entschiedener
als im Westen. Auffällig ist, dass in den sowjetischen Publikationen keine
Selbstzeugnisse des Autors, keine seiner aufschlussreichen Antworten während der zahlreichen Interviews mit ihm zitiert werden, die aber erlauben
123
Jurij Sacharov
würden, den Autor und sein Werk objektiver und eben „differenzierter“ zu
beleuchten. Beispielsweise sind die dem Autor vorgehaltene „Vergesslichkeit“
und die fehlende Einsicht in die wirklichen Ursachen der deutschen Teilung
bloß grundlose Unterstellungen: Zwar war zu der Zeit der meisten sowjetischen Publikationen „Begleitumstände“ (980)84 noch nicht erschienen, wo
sich Johnson ausgiebig und eingehend mit den Hintergründen der deutschen
Teilung auseinandersetzt und eben die westdeutsche Politik brandmarkt. Aber
zumindest „Eine Reise wegwohin, 960“ mit dieser Problematik war bereits
seit 964 da!
Johnsons „schwierige Wahrheitssuche“, eine Fortsetzung der von Bertolt
Brecht, wurde berühmt. In einem Interview zählte er mehrere Arten der
Wahrheit auf:
„Es gibt subjektive oder die Erlebniswahrheit. […] Dann gibt es auch objektive Wahrheiten, etwa der Geschichtsschreibung oder der Statistik […]
und auch noch die parteiische Wahrheit: die Wahrheit des Sachwalters
oder die Wahrheit des Kanzlers: all diese Teilwahrheiten: sie mögen sich
manchmal überdecken, mitunter bestätigen sie sich, aber sie alle greifen
von ganz verschiedenen Aspekten her den Gegenstand […] an, und sehr
oft widersprechen sie sich.“
Daraus resultiert auch Johnsons nicht eindeutig zu beantwortende Frage:
„Was ist denn da die Wahrheit?“85
Johnsons Lebensposition lässt sich mit dem alten Rechtsgrundsatz treffend
formulieren: Audiatur et altera pars – es möge auch die andere Seite angehört
werden. Von diesem Grundsatz ausgehend, muss auch jede negative Rezeption
akzeptiert werden. Und bei all den ideologischen Verzerrungen ist es den
sowjetischen Kritikerinnen und Kritikern anzurechnen, dass sie immerhin
partiell zur Popularisierung des Autors beisteuerten.
124
Uwe Johnson in der ehemaligen Sowjetunion: Bilanz einer Rezeptionsgeschichte
Anmerkungen
1
Wilhelm J. Schwarz: Gespräch mit Uwe Johnson (am 0.7.969 in West-Berlin). In:
„Ich überlege mir die Geschichte…“. Uwe Johnson im Gespräch. Hrsg. v. Eberhard
Fahlke. Frankfurt/M.: Suhrkamp 988. S. 239. (= edition suhrkamp 440).
2
Uwe Johnson: Dva schvatanja (Zwei Ansichten). Prevela Marija Dordević. Beograd:
Isdavaćko Preduzeće, 967. – Die Anmerkung im Anschluss an den Text des Interviews, wonach es sich bei den Johnsonschen Worten um die Übersetzung von
„Das dritte Buch über Achim“ handle, ist irrtümlich. Siehe dazu Anm. 4.
3
Nicolai Riedel: Uwe-Johnson-Bibliographie 959-998. Stuttgart [u.a.]: Metzler 999.
(= Personalbiographien zur neueren deutschen Literatur; Bd. 3).
4
Das sind folgende slowenischsprachige Übersetzungen: Uwe Johnson: „Tretja kniga
o Achimu“. Prevedel (übersetzt von) Darko Dolinar. Ljubljana: Cankarjeva Založba
970 und „Potovanje w Celovec“ [Auszug aus „Eine Reise nach Klagenfurt“]. In: Naži
Razgledi. Ljubljana. 25. Jg., Nr. 20 (595) vom 22.0.976, S. 548. – Fortsetzungen in Nr.
2 (596) vom 5..976, S. 580 und Nr. 22 (597) vom 26..976, S. 603-605.
5
Bei der ‚Literaturnaja Gazeta‘ handelt es sich um das älteste russische Priodicum;
es erscheint wöchentlich mit Beiträgen zu Literatur, Kultur und Politik.
6
Uwe Johnson: Begleitumstände. Frankfurter Vorlesungen. Frankfurt/M.: Suhrkamp
986. (= edition suhrkamp 3322), S. 444f.
7
8
9
10
11
„Kleinmütig […] kann ich nicht anders als ergänzen daß es im Deutschland der
fünfziger Jahre eine Staatsgrenze gab“ ist der Wortlaut des Zitats aus: Uwe Johnson: „Das dritte Buch über Achim“. Frankfurt/M.: Suhrkamp 992, S. 7. (= edition
suhrkamp 89).
Kurze Geschichte der deutschen Literatur. Leitung und Gesamtbearbeitung von
Kurt Böttcher und Hans Jürgen Geerdts. Berlin: Volk und Wissen, 98, S. 660.
Istorija nemezkoj literatury v trëch tomach. [Geschichte der deutschen Literatur in
drei Bänden]. Tom [Band] III (895-985). Moskwa: Raduga 986, S. 227.
Bolšaja sovetskaja enciklopedija (Hauptredakteur A.M. Prochorow). 3. Auflage.
Moskwa: Sovetskaja enziklopedija, 973-978. Siehe Bd. 27, Sp. 740 (Stichwort:
Federativnaja Respublika Germanii [Bundesrepublik Deutschland]).
Ukrajins’ka literaturna enzyklopedija w p’jaty tomach. (Verantw. Redakteur I. O.
Dsewerin). Kyjiw: Ukrajinaska enzyklpedija, 988.
Während des Streits mit Hermann Kesten in Mailand am ..96 entgegnete
Uwe Johnson auf Kestens Unterstellung, Bertolt Brecht sei ein Diener der Diktatur,
folgendermaßen: „Ich möchte dem entgegenhalten, dass Brecht in einer Diktatur
lebte“. Siehe Uwe Johnson: Begleitumstände, a.a.O., S. 220.
125
Jurij Sacharov
12
Vgl. Angabe in: Kindlers Literatur Lexikon, Bd. 5. München: R. Oldenbourg 969,
Sp. 78: Jakob wird „auf dem Gelände des Dresdner Bahnhofs von einer Lokomotive
überfahren“. Dazu siehe Erläuterung in: Hansjürgen Popp: Lektürehilfen Uwe
Johnson: „Mutmassungen über Jakob“. . Aufl. Stuttgart: Klett 988, S. 4f.
13
Herr Rohlfs bekommt folgenden Auftrag: „Gewinnen Sie diese Person [Gesine] dlja
weschtschi sozialisma [für die Sache des Sozialismus]“. Siehe Uwe Johnson: Mutmassungen über Jakob. Frankfurt/M.: Suhrkamp 992. S. 4. (= edition suhrkamp 88).
14
Uwe Johnson – Siegfried Unseld. Der Briefwechsel. Hrsg. v. Eberhard Fahlke und
Raimund Fellinger. Frankfurt/M.: Suhrkamp 999, S. 40.
15
„[…] mir ist an der Grenze mitgeteilt worden, dass ich in Ostberlin „nicht mehr
erwünscht“ sei“ schreibt Johnson im Brief an Unseld vom 3..966. Siehe Uwe
Johnson – Siegfried Unseld. Der Briefwechsel, a.a.O., S. 42.
16
S.M.: Eine verlorene Generation? In: Volksstimme. Zentralorgan der Kommunistischen Partei Österreichs. Wien. Nr. 279 vom .2.965, S. 7.
17
Tamara L. Motylova: Odin vzgljad. In: Inostrannaja literatura. LiteraturnochudoŽestvennyj i obŝestvenno-polititčeskij žurnal. Organ sojusa pisatelej SSSR. Moskwa,
966, Heft  (Januar), S. 270-272. Für das Zitat siehe S. 272.
18
Horst Krüger: Das verletzte Rechtsbewusstsein. In: Über Uwe Johnson. Hrsg. v. Reinhard Baumgart. Frankfurt/M.: Suhrkamp 970. S. 49. (= edition suhrkamp 405).
19
Ebenda, S. 47f.
20
Marcel Reich-Ranicki: Uwe Johnson: „Zwei Ansichten“. In: Ders.: Literatur der
kleinen Schritte. Deutsche Schriftsteller heute. München: R. Piper 967, S. 65.
21
Ebenda, S. 64.
22
Tamara L. Motylova, a.a.O., S. 272.
23
Ebenda.
24
Ebenda, S.27
25
Ebenda.
26
Ebenda.
27
Uwe Johnson: Zwei Ansichten. Frankfurt/M.: Suhrkamp 965, S. 40f.
28
Arnhelm Neusüss: Über die Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit. Gespräch mit Uwe Johnson am 0.9.96 in West-Berlin. In: „Ich überlege mir die
Geschichte…“, a.a.O., S. 89.
29
Irina V. Mlečina: Realnost i „poetika dogadok“. Romany Uwe Johnsona. In: Dies.:
Literatura i „obŝestvo potreblenija“. Sapadnogermanskij roman 60ch-načala 70ch
godov. Moskva: Chudožestvennaja literatura 975, S. 63-77.
Irina V. Mlečina: Uwe Johnson. In: Istorija literatury FRG. Akademija Nauk SSSR.
Redaktion: Ilja M. Fradkin, Nina Pavlova, Dmytro W. Satonskij. Moskva: Nauka
980, S. 386-398.
126
Uwe Johnson in der ehemaligen Sowjetunion: Bilanz einer Rezeptionsgeschichte
30
Irina V. Mlečina: (975), a.a.O., S. 63.
Irina V. Mlečina: (980), a.a.O., S. 386.
32
Die Bedeutungsnuancen von privat finden sich ausgeführt in: Siegfried Unseld:
Uwe Johnson. „Für wenn ich tot bin“. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 997 (= suhrkamp
taschenbuch 2676), S. 62f.
33
Irina V. Mlečina: (980), a.a.O., S. 388.
34
Hans Mayer: Zur deutschen Literatur der Zeit. Zusammenhänge, Schriftsteller,
Bücher. Reinbeck bei Hamburg: Rohwolt 967, S. 339.
35
Ebenda, S. 338.
36
Ebenda, S. 339.
37
Ebenda, S. 338.
38
Irina V. Mlečina (980), a.a.O., S. 389.
39
Ebenda.
40
Mutmassungen…, a.a.O., S. 74.
41
Horst Bienek: Werkstattgespräch mit Uwe Johnson (am 3.-5..962 in West-Berlin).
In: „Ich überlege mir die Geschichte…“, a.a.O., S. 97.
42
Günter Blöcker: Roman der beiden Deutschland. In: Über Uwe Johnson. Hrsg. v.
Raimund Fellinger. Frankfurt: Suhrkamp 992. S. 49. (= edition suhrkamp 82).
43
Hans Mayer: „Mutmassungen über Jakob“. In: Über Uwe Johnson, a.a.O.
44
Irina V. Mlečina: (980), a.a.O., S. 390.
45
Reich-Marcel Ranicki: Registrator Johnson. In: Über Uwe Johnson, a.a.O., S. 08f.
46
Vgl. Reinhard Baumgart: Uwe Johnson im Gespräch (am 2.8.967 in München).
In: „Ich überlege mir die Geschichte…“, a.a.O., S. 223.
47
Armin Halstenberg: „Dichter sollte man nicht stören“. Heute am Telefon: Uwe Johnson (9.7.969 in West-Berlin). In: „Ich überlege mir die Geschichte…“, a.a.O., S. 232.
48
Uwe Johnson: Berliner Stadtbahn (veraltet). In: Ders.: Berliner Sachen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 975. S. 0. (= suhrkamp taschenbuch 249).
49
Vgl. Ebenda, S. 20f.
50
Arnhelm Neusüss, a.a.O., S. 84.
51
Irina V. Mlečina (980), a.a.O., S. 392. 2
52
Ebenda, S. 393.
53
Ebenda, S. 39f.
54
Vgl. Mutmassungen…, a.a.O., S.4., „Taube auf dem Dach“ heißt Rohlfs Plan zur
Gewinnung Gesines für die Sache des Sozialismus.
55
Wladimir I. Steženskij: Ot ispovedalnoi prosy k nowomu psichologismu. In: Ders.:
Ljudmila B. Tschornaja: Literaturnaja borba w FRG. Poiski, protiworetschija, problemy. Moskva: Sowjetski pisatjel, 978, S. 29-43.
31
127
Jurij Sacharov
56
Wladimir I. Steženskij, a.a.O., S. 3.
Vgl. Ebenda, S. 33.
58
Sperrdruck von J.S.
59
Wladimir I. Steženskij, a.a.O., S. 35.
60
Ebenda, S. 32.
61
Mutmassungen…, a.a.O., S. 60.
62
Ebenda, S. 83.
63
Vgl. Ebenda, S. 8f.
64
Vgl. Das dritte Buch…, a.a.O., S. 2.
65
Uwe Johnson: Karsch, und andere Prosa. Frankfurt/M.: Suhrkamp 990. S. 29ff.
(besonders S. 32). (= suhrkamp taschenbuch 753).
66
Vgl. Das dritte Buch…, a.a.O., S. 40f.
67
Wladimir I. Steženskij, a.a.O., S. 32.
68
Mutmassungen…, a.a.O., S. 25f.
69
Ebenda, S. 25.
70
Wladimir I. Steženskij, a.a.O., S. 37.
71
Karsch…, a.a.O., S. 27. Dazu auch siehe: Norbert Mecklenburg: Vorschläge für
Johnson-Leser der 90er Jahre. In: Karsch…, a.a.O., S. 38.
72
Wladimir I. Steženskij, a.a.O., S. 38.
73
Ebenda, S. 4.
74
Ebenda.
75
Ebenda, S. 42.
76
Ebenda, S. 43.
77
I. Bukajew Aleksandr: Uwe Johnson. In: Ders.: Istorija njemezkoj litjeratury, Tshcast 3. [Geschichte der deutschen Literatur, Bd. 3]. Minsk: Wyschejschaja Schkola
982, S. 90-92.
78
Ebenda, S. 90.
79
Siehe Anm. 8.
80
Istorija njemezkoij litjeratury (986), a.a.O., S. 227 und Kurze Geschichte der deutschen Literatur, a.a.O., S. 660.
81
Uwe Johnson – Siegfried Unseld. Der Briefwechsel, a.a.O., S. 40.
82
„Ich überlege mir die Geschichte…“ a.a.O., S. 207.
83
Uwe Johnson – Siegfried Unseld. Der Briefwechsel, a.a.O., S. 340.
84
Uwe Johnson: Begleitumstände, a.a.O., S. 336-38.
85
„Ich überlege mir die Geschichte…“ a.a.O., S. 9f.
57
128
Carsten Gansel
Von Kindheit, Pop und Faserland –
Junge deutsche Autoren und Uwe Johnson
zwischen Nähe und Distanz1
Wovon Uwe Johnson in „Ingrid Babendererde“ erzählt, ist bekannt, es geht
um junge Leute, die in einer mecklenburgischen Kleinstadt im Mai des Jahres
953 kurz vor dem Abitur stehen, es geht um erste Liebe, Sonne, Segeln, Schule
und Freizeit. Ingrid Babendererde, Klaus Niebuhr und Jürgen Petersen sind
Schüler der Klasse 2 A der Gustav-Adolf-Oberschule, und sie geraten in den
staatlicherseits provozierten Konflikt um die christliche Junge Gemeinde. Aus
moralischen wie politischen Gründen halten sie das Vorgehen des Staates gegen
einzelne Mitschüler schlichtweg für einen Verfassungsbruch. Ingrid und Klaus,
die mehr als Freundschaft verbindet, ziehen die Konsequenz und verlassen die
DDR. Jürgen wird für seine Ideale eines demokratischen Sozialismus weiter
einstehen und in der Jonas-Figur der „Mutmassungen über Jakob“ eine Fortsetzung finden. So die dürre Wiedergabe der Fabel. Als ein Thema sah Johnson
später „all die Knoten und Knicke und Brüche in Lebensläufen“ und wie sie
sich ergeben bei Personen „seit dem verfassungswidrigen Kirchenkampf von
953“.2 Der Autor gestaltete damals also einen Stoff, der ihn selbst anging, der
Abstand zum Selbsterlebten war bei dem Zwanzigjährigen gering, kurzum bei
„Ingrid Babendererde“ handelte es sich um ein zeitdiagnostisches Buch, das dann
nicht erschien.3 Erst 985 – ein Jahr nach dem Tod des Autors – wurde der Text
aus dem Nachlaß herausgegeben und viel diskutiert. Als „Arbeit eines Zwanzigjährigen“ – so ein Johnson-Kenner – sei dies „eine ganz unwahrscheinliche
künstlerische Leistung“.4 In diesem Frühwerk würden sich bereits „viele Eigentümlichkeiten“ Johnsons zeigen, „Verzögerung“ und „Zeitlupentechnik“5, seine
„eigenwillige Syntax“, „pointenreiche Lakonismen“,6 „sprachliche Originalität“7,
eine „dialektische Diktion“8. Kurzum, an Johnsons Text lasse sich bereits das
entdecken, was den Autor der „Mutmassungen“ und der „Jahrestage“ auszeichne: die Verbindung von „Alltag und Weltgeschichte, Natur und Gesellschaft,
Lebenspraxis und politischer Ideologie“.9 Auch Johnsons Erzähltalent wurde
herausgestellt, seine Fähigkeit, eine bzw. die Geschichte zu erzählen, „denn da
wird handfest erzählt, und zugleich wird Zeit-Geschichte, die auch in diesem
Carsten Gansel
geographischen Winkel Welt-Geschichte war, ins Bewußtsein gerückt“10. Ein
knappes Resümee lautete: „dieser Erstling war erstklassig“.11
Mehr als vierzig Jahre später, Ende der 90er Jahre, ist eine ‚neue Erzählergeneration‘ angetreten, von der es heißt, sie würde „literarische Theorien und
Dogmen“ mißachten und „so saftig, unterhaltsam und unbekümmert“ erzählen,
„wie einst der junge Grass“. Gefeiert wurde die „neue Lust am Erzählen“ und
das „vitale Interesse am Erzählen, an guten Geschichten und wacher Weltwahrnehmung“ herausgestellt12, ja überhaupt eine „Rückkehr des Epischen“
diagnostiziert.13 Wenn von „wacher Weltwahrnehmung“ die Rede ist oder vom
„Erzählen von Geschichten“ so sind die Gemeinsamkeiten mit Johnsons Erstling
„Ingrid Babendererde“ offensichtlich. Darüber hinaus: Johnson damals – wie
die heutigen jungen Autoren heute – erzählen über eine Phase, die sie selbst
gerade erlebt haben, sie erzählen über ihre Jugend bzw. Adoleszenz und dies
als Betroffene. Genau das wird von einem Teil der Kritiker gegenwärtig als das
eigentlich Faszinierende beschrieben: Endlich schreibe mal jemand darüber,
„was uns interessiert. Übers Jungsein, diesen privilegierten Zustand des Nichtmehr-und-noch-nicht. Sie haben es erreicht, daß wir uns endlich mal wieder
unterhalten, verstanden und manchmal sogar vertreten fühlen.“14
Eine der vielen Fragen nun ist, worüber und auf welche Weise und mit welchen
literarischen Mitteln erzählen diese Jungen, finden sich Generationsmerkmale,
durch welche kulturellen Kontexte sind ihre Texte geprägt, wie ist ihr Verhältnis zur Welt, und gibt es möglicherweise Verbindungen zu einem Autor wie
Uwe Johnson. Da Gemeinsamkeiten der jüngsten Autorengeneration nicht
zuletzt im neuen Verhältnis zu Pop gesehen und ihre Texte mit dem Etikett
‚Popliteratur‘ versehen wurden, steht auch die Frage, ob sich bei Uwe Johnson
Pop-Bezüge finden lassen. Die Suche nach Spuren einer Johnson-Rezeption in
der deutschsprachigen Literatur ist also durchaus angeraten und zeigt – wie
ein neuerer Beitrag unterstreicht15 – einen durchaus beträchtlichen Einfluß. Bei
Generationsgefährten wie Jürgen Becker, Günter Grass, Hans Werner Richter,
Fritz Rudolf Fries oder Christa Wolf finden sich ebenso Hinweise auf den Autor
wie bei den jüngeren Schriftstellern. Jürgen Becker stellt in seinem mit dem
Uwe Johnson-Preis 2002 ausgezeichneten Roman „Aus der Geschichte der Trennungen“ Bezüge zum Werk von Uwe Johnson her, nicht nur was den Umgang
mit dem ‚Gedächtnis‘ und der ‚Erinnerung‘ betrifft.16 In der Dankesrede von
Jürgen Becker sowie einem Gespräch17 finden sich weitere Hinweise auf Nähe
wie Distanz zu Uwe Johnson. Jürgen Becker ist nach anfänglicher Faszination
130
Von Kindheit, Pop und Faserland – Junge deutsche Autoren und Uwe Johnson
und notwendigem Abstand dem Werk von Uwe Johnson in dem Maße näher
gekommen, wie er für sich den Roman (wieder) entdeckte und ihm dabei die
Koordinate der ‚Erinnerung‘ immer wichtiger wurde. Marcel Beyer als ‚Vertreter‘ der jüngeren Autorengeneration hat in seiner Rede zur Verleihung des
Uwe-Johnson-Preises die poetologische Verwandtschaft zu Johnson betont und
herausgestellt, wie wichtig ihm Johnsons Konzept einer Verbindung von Individuellem und Gesellschaftlichem, von Persönlichem und Politischem ist:
„‚Schweigen ist unmöglich.‘ – ‚Die guten Leute sollen das Maul halten.‘ Diese
beiden Sätze markieren eine Spannung, der ich mich heute ausgesetzt sehe. – Als
Nachkomme von Schweigegeneration und Antwortgeneration, dazu als jemand,
der weder einen Stern noch einen farbigen Winkel sich an die Kleidung hätte
heften müssen, der nicht zur Ermordung vorgesehen wäre, weiter als jemand,
der mit Worten umgeht, aus Neigung, zudem vor der Öffentlichkeit, und der
aus seiner Neigung notwendigerweise eine Befragung, eine unabschließbare
Prüfung seines Materials, der Sprache ableitet. Eine Spannung, die nicht auflösbar ist. Sie ist eine Voraussetzung meines Sprechens und Hörens.“18
Nun handelt es sich bei Marcel Beyer allerdings um einen Autor der jüngeren Generation, der durch eine Reihe von herausragenden Texten als bereits
‚etabliert‘ und anerkannt gelten kann, was auch für Thomas Brussig und Ingo
Schulze gilt. Mit Blick auf die aktuellen Entwicklungen stellt sich die Frage, ob
sich Spuren der Rezeption von Uwe Johnson explizit oder implizit auch bei
Autoren finden lassen, die in den 70er Jahren geboren wurden und als Exempel
für eine ‚neue Erzählergeneration‘ gelten. Die Vermutung, daß dies so sein könnte,
hatte Jana Hensel genährt, die eine Sammelrezension mit dem Titel „Alle Orte
sind gleich fremd. Junge Literatur erinnert sich an den europäischen Osten“
überschrieb und mit einem Johnson-Zitat begann. „‚Man hat kein anderes
Material als seine Erinnerungen‘“, diese ‚Erkenntnis‘ von Uwe Johnson bildete
den Ausgangspunkt für die Besprechung ausgewählter Neuerscheinungen des
Bücherherbstes 999 und das Herausstellen einer Gemeinsamkeit der Jungen,
bei denen es nämlich – wie bei Uwe Johnson – um die Frage „nach der Gestalt
der Erinnerungen“ geht.19
Nachfolgend werden ausgewählte Aspekte eines direkten oder indirekten
Johnson-Bezugs bei der jüngeren Autorengeneration angedeutet. Die Aussagen
verstehen sich als vorläufig, selektiv und sollen einer Eröffnung des Gesprächs
im Rahmen des Kolloquiums dienen, das auf Uwe Johnson und Gegenwartsliteratur bezogen ist.
131
Carsten Gansel
Von „Ingrid Babendererde“
über „Wasserfarben“ bis zu „Helden wir wir“
Fragt man nach Themen bzw. Sujets, die bei Autoren unterschiedlicher Generationen eine Rolle spielen, so muß man konstatieren, daß es insbesondere
Erzählungen und Romane über Kindheit und Jugend bzw. Adoleszenz sind, die
einen regelrechten Boom erleben und zum vielleicht meistgeliebten Sujet der
90er Jahre avancierten. Der Trend begann schon Anfang der 90er Jahre mit
Texten wie Martin Ahrends „Der Märkische Radfahrer“ (992) und „Mann
mit Grübchen (995). In weiteren Romanen wurde jeweils über Kindheiten
in Ost und West erzählt. Dazu gehörten Friedrich Christian Delius‘ „Der
Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde“ (994), Christoph Brummes „Nichts
als das“ (994), Peter Wawerzineks „Das Kind das ich war“ (994), Stephan
Krawzyks „Der irdische Kind“ (996), Birgit Vanderbekes „Friedliche Zeiten“
(996), Christoph Heins „Von allem Anfang an“ (997), Hans-Ulrich Treichels
„Der Verlorene“ (998), Ralf Rothmanns Romane („Flieh mein Freund“, „Stier“,
„Wäldernacht“, „Milch und Kohle“), natürlich Jürgen Beckers „Aus der Geschichte der Trennungen“ (999). Bevorzugt über Kindheit wie Adoleszenz
erzählen nun auch gerade jene jungen Autoren, von deren „Aufbruch“ die
Rede war: Thomas Brussig, Christian Kracht, Benjamin von Stuckrad-Barre,
Alexa Henning von Lange, Benjamin Lebert, Judith Hermann, Zoe Jenny.
Insofern ist es legitim die Reihe mit Johnsons Schul- bzw. Adoleszenzroman
„Ingrid Babendererde“ und beispielsweise der Frage zu beginnen, was der
Text über das Verhältnis der Jungen zu Staat und Gesellschaft aussagt, wie die
Konfliktlösung aussieht und wodurch Jugend bzw. Adoleszenz gekennzeichnet
sind.20 Zwei Aspekte sind dabei für Johnsons Text maßgeblich. Erstens: Uwe
Johnson zeigt am Konflikt um die junge Gemeinde, wie es um die staatliche
Verfaßtheit der DDR bestellt ist. Offensichtlich wird, auf welche Weise der
Staat, hier vertreten durch Schuldirektor Pius Siebmann, einzelne FDJ-Funktionäre oder die Staatssicherheit in das Leben der jungen Leute eingreift. Die
„Babendererde“ führt die Konsequenzen dieses Eingriffs für den einzelnen
in einer Gesellschaft vor, die nach dem Primat der Politik funktioniert, die
also vom Individuum – egal in welchem Bereich es sich befindet – eine Unterordnung unter die politischen Postulate verlangt. Weil die Jugendfiguren
die politischen Forderungen des Staates nicht mit ihrem Gewissen und ihrer
Auffassung von Sozialismus vereinbaren können, müssen sie wie Ingrid und
Klaus die DDR verlassen. Ihnen bleibt zur Wahrung ihrer moralischen Inte-
132
Von Kindheit, Pop und Faserland – Junge deutsche Autoren und Uwe Johnson
grität keine andere Wahl. Zweitens: Uwe Johnsons „Babendererde“ macht
bereits für die 50er Jahre anschaulich, daß in der DDR als einer – sagen wir
ruhig – „staatssozialistischen Diktatur“ zu unterscheiden ist zwischen der
DDR als „Staat“, also seinen Institutionen (Schule, Armee, FDJ, Gerichte,
Staatssicherheit), den Gesetzen, den Regeln einerseits, und dem, was man
als „Gesellschaft“ andererseits bezeichnen kann, den Beziehungen zwischen
Menschen, dem Leben in der Familie, im Freundeskreis, im Betrieb. Mit
„Gesellschaft“ ist jener „soziale Nahbereich“ gemeint, der es dem einzelnen
ermöglicht, eigene Entscheidungen unabhängig von der Politik zu treffen.
Es läßt sich sagen, daß auf dieser „untersten Ebene“, im sozialen Nahbereich
also, im kleinen Raum, dort, wo Überschaubarkeit gegeben ist, der einzelne
durchaus Macht- wie Regelungskompetenzen besitzt. Das erklärt, warum
Volkspolizist Heini Holtz, eigentlich ein Vertreter des Staates, Ingrid gegen
ihren Stasi-Verfolger in Schutz nehmen und ihn als „kleine(n) Spitzel“ (IB 2)
abkanzeln kann. Johnsons „Babendererde“ zeigt insofern die Besonderheit von
DDR, in der relativ freie Entscheidungen lediglich auf den „privaten“ Bereich
bezogen blieben, also die Möglichkeit bestand, Segeln zu gehen oder nicht.
„Die Grenze nach oben“, notiert Thomas Lindenberger, „bereits zur Kreis- oder
Betriebsebene, war weitgehend undurchlässig; von dort kamen aber auch die
Gefahren für diesen Raum des bedingt Eigenmächtigen.“21 Johnson nun erfaßt
bereits als Zwanzigjähriger, wie dieses Mit- und Gegeneinander von „Staat“
und „Gesellschaft“ funktioniert und wie der Bewegungsspielraum von Jugend
politisch eingeschnürt wird. Damit erfaßt der Text ein Phänomen, an dem
sich von den frühen 50er Jahren bis in die Endachtziger Zeit nichts geändert
hat. Ein Blick auf Thomas Brussigs „Wasserfarben“ macht dies deutlich: es
handelt sich wie bei Johnson um einen Schul- bzw. Adoleszenzroman, und
der Autor war erst um die Zwanzig, als er ihn schrieb.22 Brussigs Text liest sich
wie eine Verlängerung von Johnsons „Babendererde“. Offensichtlich werden
mit Blick auf den Status von Jugend Kontinuitäten wie Veränderungen.23 Als
dem Protagonisten Anton von seinem Direktor die Schule als eine Institution
suggeriert wird, auf der die „Elite der Nation“ und die Führungsgarde von
morgen herangezogen“ werde, kommentiert dieser das mit „und blablabla“
(WF 9). Anton kommt vielmehr zu dem Ergebnis: „Alles nur fauler Zauber.
Die ganze Schule war ein einziger fauler Zauber.“ (ebd.) Das ist durchaus
symbolisch gemeint. Geblieben ist – wie seit Uwe Johnsons „Ingrid Babendererde“ – die Politisierung des Privaten: Jemand, der wie Anton noch keinen
Studienwunsch hat, kann in den Augen des Schuldirektors – der wie Siebmann
133
Carsten Gansel
als Repräsentant des Staates funktioniert – nur als „Luftikus“ gelten. Was unter
modernen Verhältnissen allgemein anerkannte Voraussetzung und legitimer
Ausdruck der Suche nach dem eigenen Ich ist, wird unter real-sozialistischen
Bedingungen als „nicht normal“ (WF 9) eingestuft. Einem solchen „jungen
Menschen“ werden „wir kein Reifezeugnis aushändigen“ (WF 7). In „Wasserfarben“ – also Ende der 80er Jahre – ist es alltägliche Erfahrung, vom Staat
ohne Grund in etwas Politisches hineingezogen zu werden. Anton leitet daraus
Vorsicht im Umgang mit den staatlichen Machtträgern ab, und dazu gehören
insbesondere die Lehrer. Weil Direktor Schneider ihm andauernd „politisch“
kommt, wägt er jedes Wort ab:
„Ich habe nichts gesagt, was er gegen mich verwenden kann. Das ist es nämlich.
Erst machen sie auf vertraulichen Gesprächspartner, und dann drehen sie
einem daraus ’nen Strick.“ (WF 20)
Das Paradoxe an der Situation ist, daß Anton nicht weiß, woran er ist und nicht
abschätzen kann „wie heiß es überhaupt war“ (ebd.). Kleinste Nuancen können
politisch ausgelegt werden. Das Verhalten der Machtträger ist unberechenbar.
Anton zieht aus dieser Erfahrung den Schluß:
„Man muß immer vorsichtig sein, damit man gar nicht erst in was verwickelt
wird. Besonders politisch. Man muß sich höllisch vorsehen, daß sie einen
nicht politisch drankriegen.“ (ebd.)
Anton reagiert auf diese Politisierung individueller wie gesellschaftlicher
Handlungsfelder – anders als Johnsons Figuren – mit einer unpolitischen
Gegenbewegung. Er geht auf den politischen Code nicht mehr ein, er hat mit
dem, was ich als Staat bezeichnet habe, abgeschlossen. Anton protestiert nicht
mehr öffentlich wie Ingrid Babendererde, er opponiert nicht wie Edgar Wibeau
(„Die neuen Leiden des jungen W.“), und er wehrt sich auch nicht wie Karin
(„Unvollendete Geschichte“). Da Anton das Wissen um seine Machtlosigkeit
bereits als gegeben hinnimmt und weiß, wie hilflos er dem ausgeliefert ist
(„Sie haben uns eben in der Hand“; WF 55), verzichtet er auf Gegenbewegung
und Konfrontation. Es erscheint ihm nützlicher, sich in die Nische, also den
gesellschaftlichen Nahbereich zurückzuziehen. Klaus und Ingrid bei Johnson
verlassen die DDR, Edgar Wibeau ist diese Möglichkeit verbaut, er flieht statt
dessen in eine Gartenlaube mitten in der Metropole Berlin. Anton dagegen
prüft Vor- und Nachteile, wägt sie ab und entscheidet cool, erst einmal zu
bleiben und das Abitur zu Ende zu machen. Jugendlicher Idealismus ist seine
Sache nicht, weil er nüchtern die Chancen oppositioneller Gegenbewegung
134
Von Kindheit, Pop und Faserland – Junge deutsche Autoren und Uwe Johnson
analysiert. Daß für Thomas Brussig der Autor Uwe Johnson sehr wohl eine
bekannte Größe ist, unterstreicht ein Gespräch, in dem es wiederholt um Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Schreibansätzen geht. Angesprochen
auf Johnsons Hinweis darauf, daß die zu erzählende „Geschichte sucht“, sie
sich gewissermaßen „ihre Form“ selbst macht, notiert Thomas Brussig:
„Ja schon, aber die Form zu finden, das ist ein langer Prozeß. Es hat für ‚Helden
wie wir‘ ein Jahr gedauert, bis ich die Erzählerstimme hatte. Insofern ist das
Finden der Form ein mit vielen Unsicherheiten behafteter Prozeß. […] Aber
wenn dann der Punkt erreicht ist, wo man die Form für seine Geschichte
gefunden hat oder eben die Geschichte diese Form gefunden hat – wie
Johnson sagt – dann ist es ein schönes Arbeiten. Da bewegt man sich dann
in eben dieser Form.“24
Es stellt sich die Frage, was ist in dem Fall ist, da sich für die jugendlichen
Protagonisten die staatliche Repression bis in den familiären Nahbereich, das
was ich Gesellschaft genannt habe, fortsetzt, wo also Eltern, vielleicht sogar
Freunde gleichsam eine Verlängerung des Staatswesens darstellen, ein Freiraum
also gar nicht mehr existiert? Texte, die diese Frage stellen, sind in der DDR
nur in Ausnahmen erschienen: Dazu gehört Volker Brauns „Unvollendete
Geschichte“. Nach 989 und dem Ende der DDR haben Christoph Brumme
und Thomas Brussig eine solche Konstellation durchgespielt. In seinem Debütroman „Nichts als das“ entwirft Brumme eine Eltern-Kind-Beziehung, in
der „Staat“ wie gesellschaftlicher „Nahbereich“ dem Kind bzw. Jugendlichen
keinen eigenen Raum lassen. Es ist kein Zufall, wenn sein Held den Namen
„No“ trägt und vom Erzähler als „falscher Hund“ bezeichnet wird, als „falscher
Fuffziger“, der „jederzeit das Gegenteil von dem sagen konnte, was er gerade
gesagt hatte“.25 Anders aber als in Thomas Brussigs „Helden wie wir“ stehen die
Eltern des Protagonisten in Distanz zu den politischen Vorgaben des Staates.
Für das Kind macht dies insofern keinen Unterschied, als insbesondere die
Vater-Figur autoritär agiert und dem Protagonisten keine Spielräume läßt.26
Thomas Brussig baut in „Helden wie wir“ – wenngleich in der Form der Groteske – eine Familienstruktur, in der die Eltern des Protagonisten Klaus Uhltzscht
auch zu Hause den Staat repräsentieren. Klaus Uhltzscht besitzt daher keine
Freiräume, denn als Kind eines Stasi-Offiziers und einer Hygieneinspekteuse
wird er auch im familiären Nahbereich staatlich sozialisiert. Entsprechend
erinnert er: „Ich habe immer getan, was andere wollten! Ich habe nie getan,
was ich wollte“.27 Eine solche Figur kann nur ein ‚Flachschwimmer‘ bleiben.
135
Carsten Gansel
Wenn denn der Vater nicht vorher das Zeitliche segnen würde, lägen frühexpressionistische Vatermordgedanken nahe, so muß er ‚nur‘ die Befreiung von
der Mutter-Instanz vollziehen. Das wird Klaus auf jener Großdemonstration
bewußt, die am 4. November 989 Hunderttausende in Berlin zusammenbringt.
Thomas Brussig läßt seinen Protagonisten die Rednerinnen verwechseln, nicht
Christa Wolf nimmt er als solche wahr, sondern die Eiskunstlauftrainerin
Jutta Müller:
„Was mich zusätzlich alarmierte, war […] daß sich Jutta auf Mutter reimte und
durch einen winzigen Federstrich in Müller die l zu t werden. Jutta Müller,
die Mutter aller Mütter. […] Na prost Mahlzeit! Der Sohn meiner Mutter ist
pervers geworden – was wird aus dem Land, wenn die Eiskunstlaufrainerinnen
und Hygieneinstpekteusen-Revolution siegt […] Daß unsere Mütter so gnadenlos un-ta-de-lig waren! Was sie alles für sich verbuchen können. Sie haben
Olympiasiege gemacht. Verfassungsentwürfe präambelt! Sie haben das Land
aus den Trümmern geholt oder schauten zumindest aus dem Kinderwagen
zu … Versuchen Sie mal sich bei einer Frau, die mit Lebensmittelkarten aufgewachsen ist, […] zu beschweren […]. Und sie können sich nicht vorstellen,
wie dreckig es uns geht! […] Wie soll man umgeben von olympischen Müttern,
darüber sprechen können.“28
Daß die staatlichen Übermütter mit der eigenen und dann der literarischen
gleichgesetzt und alle in einem entsorgt werden, mag manchen – weil Christa Wolf die Zielscheibe der Kritik ist – provokant wie ungerecht erscheinen.
Unbestritten aber ist, daß schärfer eine politische wie literarische Absetzung
von der älteren Autorengeneration, der Wolf-Generation, nicht aussehen kann.
Derartige poetische Befreiungsakte haben junge Autoren der 975er Jahrgänge
aus dem Osten nicht mehr nötig, weil ihre Kindheit und Jugend nicht mehr
in dem Maße von der DDR und Teilen ihrer Literatur geprägt war. Dort, wo
der Abschied von der Kindheit mit dem Abschied von der DDR zusammenfiel,
bedarf es nicht einer vergleichbaren Absetzung von maßgeblichen Autoren der
vorangegangenen Generationen.
Die Erfahrung mit der DDR oder Bundesrepublik wirkt sich in der Gegenwart
auf das „Was“ und „Wie“ sowie auf das „Erinnern und Erzählen“ der neuen
Texte aus. Für diese These gibt es hinreichend Belege. „Ich behaupte“, so der
in der DDR aufgewachsene Ingo Schulze,
136
Von Kindheit, Pop und Faserland – Junge deutsche Autoren und Uwe Johnson
„daß man nicht ungestraft denselben Stil für die Zeit vor und nach 989/90
anwenden kann. Die Bedeutung einer Sprache, die Menschen in einem System
benutzen, das vorrangig auf ideologischen Postulaten beruht, ist eine andere
als die in einem System, das sich in erster Linie über die Ware, das Geld zu
regulieren sucht. Eine Binsenweisheit, aber eine kaum berücksichtigte.“29
Versuchen wir die Konsequenzen für heutiges Erinnern wie Erzählen durchzuspielen und nehmen einen einfachen Satz: „Der junge Herr B. konnte die
Hand auf großes Geld legen und kaufte einen Sportwagen.“30 Solch ein Satz,
es ist der Beginn von Uwe Johnsons „Zwei Ansichten“, taugt für die Zeit vor
989, also für die DDR nicht, es gab weder „großes Geld“ zu verdienen und
noch unmöglicher war es, schnell mal einen Sportwagen zu erwerben, denn
schon die Wartezeiten für einen Trabant lagen bei zehn Jahren. Der gleiche
Satz 990/9 geschrieben, könnte der Beginn einer Geschichte sein, die nicht
unbedingt mit der russischen Mafia enden müßte. Daß ein und derselbe Satz
in „verschiedenen Gesellschaften unterschiedliche Assoziationen“ hervorruft,
macht das Erzählen schwer, mindestens dann, wenn es um das Erinnern und
das Erzählen geht. Uwe Johnson hat daher die Grenze als eine „literarische
Kategorie“ bezeichnet, die verlangt, die epische Technik und die Sprache zu
verändern, bis sie der unerhörten Situation gerecht werden.“31 Ingo Schulze
bezieht sich auf eben diese Erfahrung Johnsons, insofern besteht eine poetologische Beziehung und die „Simple(n) Stories“ bedeuten ihre Anwendung.
Nur in einem System nämlich, das auf der Ware-Geld-Beziehung basiert,
nimmt man es also einem jungen B. ab, daß er sich mal schnell einen Sportwagen kauft. In einer „arbeiterlichen Gesellschaft“ erscheint es schwerlich
möglich, daß die literarischen Figuren mit Anfang Zwanzig ein „Problem
mit armen Leuten“ haben32, „Ferien für immer“ machen wollen33, mehrere
Seiten lang die Problematik nicht haftenden Nagellacks bedenken, über den
Vorteil handgenähter Schuhe sinnieren, Prada, Joop oder Dolce & Gabana
lieben, ja überhaupt den „Kauf bestimmter Kleidungsstücke (als) … eine
Form der Weltanschauung“ ansehen.34 Solche Figuren- wie Konfliktanlagen
stehen in Distanz zu Uwe Johnsons Schreibansatz, seinen Texten wie seinen
Lebensmaximen, denn unbestritten dürfte sein, daß der Autor auf nahezu alle
„Fragen an das Leben“ (JT 523) – wie Norbert Mecklenburg wiederholt und
trefflich herausstellt – „klassisch marxistische“ Antworten gibt.35 Gleichwohl
sei danach gefragt, ob und wo sich Bezugspunkte zwischen Johnson und den
Jungen ergeben. Zu diesen Zweck seien ansatzweise Entwicklungen in der
jungen Gegenwartsliteratur markiert.
137
Carsten Gansel
Vom ‚Relaxen‘, Pop und dem Erinnern
„‚Wolln wir die Pillen gleich nehm, oder was?‘ ‚Klar‘. Ich hole Wasser. Im Flur
stolpere ich erst mal über den Anrufberantworter. Mann. Ich bin komplett
fickrig. Auf Pille kannst du einfach nicht rattern. Das führt zu nichts.“36
Derartige Textausschnitte sind von Kritikern bevorzugt ausgewählt worden,
wenn es um den Nachweis ging, daß in Alexa Henning von Langes Debüttext
„Relax“ mit dem vermeintlichen Loblied auf die „Comic-Brüste“ von Vampirella sich nichts anderes spiegele als der „Trend zur Konditionierung auch
weiblicher Teenies auf die Reize marketing-getunter Turbo-Mentalität“.37 Bei
der Kritik an Benjamin von Stuckrad-Barre, der seit „Soloalbum“ als Anführer
der männlich-deutschen Popliteraten gilt, stößt neben Textkritik vor allem
dessen mediale Inszenierung wie Vermarktung auf Widerspruch.38
Zunächst machte die Provokation, die etwa „Relax“ oder in anderer Weise Stuckrad-Barre bei manchen Kritikern wie Lesern auslöste, sich an der vermeintlich
tabulosen Präsentation von Sexualität oder Drogenexzessen fest, auch die
Selbstinszenierung in einer trendigen Spaßgesellschaft erbrachte Irritationen.
Damit rieb die Kritik sich an der Oberflächenstruktur von „Relax“. Doch die
eigentliche Aufstörung durch Texte dieses Typs geht von der ‚semantischen
Tiefenstruktur‘ aus, nämlich der Tatsache, daß es keinerlei erzählerische
Kommentierung gibt, jegliche moralisierende Außenperspektive fehlt, damit
traditionelle Vorstellungen von Identitätsfindung, Sinnsuche, Autonomie der
Persönlichkeit in Frage gestellt, somit Fundamente der Literatur der Moderne
destruiert werden. Die Autoren treten gänzlich hinter ihre Figuren zurück, es
wird auf Kommentierung oder versteckte moralische Wertungen verzichtet.
Darin findet sich eine gewisse Nähe zu Uwe Johnson, denn der hat die „Lieferung einer Quintessenz oder einer Moral“ als „Bruch des Vertrages“ zwischen
Autor und Leser angesehen und gerade auf einen mündigen, einen aktiven
Leser gesetzt.39 Distanz ergäbe sich beim Blick auf das zur Verfügung gestellte
‚Material‘, obwohl auch hier Zurückhaltung geboten ist, denn für Johnson, war
ein Roman neu, „der zu tun hat mit der Zeit, in der der Leser lebt“.40 Dies wird
man mit einigem Recht Alexa Hennig von Langes „Relax“ durchaus zugestehen
müssen. Erzählt wird über ein Wochenende, in dem das Feiern im Zentrum
steht. Der Text besteht aus zwei Teilen, bei denen es sich um eine Mischung
aus inneren Monologen bzw. einem Bewußtseinsstrom sowie Figurenrede
handelt. Erzählt wird also über den gleichen Zeitraum einmal aus der Sicht des
138
Von Kindheit, Pop und Faserland – Junge deutsche Autoren und Uwe Johnson
männlichen Protagonisten, Chris, und zum anderen aus der Perspektive der
weiblichen Heldin, die keinen Namen hat, sondern nur als „die Kleine“ auftritt.
Beide Ich-Erzähler sind um die zwanzig. Eine Handlung im herkömmlichen
Sinne existiert nicht, vielmehr entstehen durch den beständigen Wechsel zwischen innerem Monolog und Figurenrede schnelle Schnitte, die einer Film- und
Clip-Ästhetik vergleichbar sind und den Leser vor die Notwendigkeit stellen,
beständig die Perspektive zu wechseln. „Mann. Ich bin ein Rockstar“, so setzt
Chris’ Monolog ein, und auch beim Abfeiern fühlt der männliche Protagonist
sich nach dem Einschmeißen von Pillen immer wieder wie eine Popgröße.
„[…] Ich bin ein Rockstar und gehe jetzt tanzen.
‚Jungs, ich geh jetzt tanzen!‘
‚Biste sicher?‘
‚Warum nicht?‘
‚Du bist doch komplett zu!‘
‚Kann doch trotzdem tanzen, oder nich?‘
‚Wenn de meinst!‘
Klar. Tanzen geht immer. Ich gehe jetzt tanzen. Im Nebel tanzen, ich tanze jetzt
im Nebel. Ist doch nett. Ich tanze jetzt. Mit 000 Leuten tanzen. Heute wird
gefeiert und getanzt. Tanzen, tanzen, tanzen. Schwitzen, schwitzen, schwitzen.
Man ist mir heiß. Ich ziehe mal meine Jacke aus. Zahnpasta auf der Jacke.
Ich schenke meiner Kleinen eine Zahnpastatube. Ist alles das gleiche Zeug.
Zahnpasta ist Zahnpasta und ich tanze jetzt …“ 41
Offensichtlich wird: Ein rationaler Diskurs findet nicht statt, die Protagonisten
reflektieren zwar durchgängig, aber ihre Gedanken kreisen in beständigen
Wiederholungen und Schleifen ausschließlich um Banalitäten des Alltags, sie
stehen in keinem direkten Zusammenhang und stellen das Gegenteil dar von
der Suche nach der eigenen Identität. Über die Welt, wie sie sich lokal außerhalb
der Wohnung und dem Party-Ort darstellt und zeitlich zwischen den Wochentagen Montag bis Freitag abläuft, erfährt der Leser nichts. Arbeit, Beruf, Politik
spielen keine Rolle, Generationskonflikte existieren nicht, das Verhältnis etwa
zu den Eltern wird nicht explizit thematisiert, die Notwendigkeit zur Rebellion
fällt weg.42 Statt dessen steht das Ausleben von Hedonismus im Zentrum, es
geht um Sex, Drogen, ‚Abhängen‘, Kiffen. Ganz in diesem Sinne notiert Chris:
„Ich finde das klasse. Das Leben ist zum Feiern da“, und er formuliert seine
Maxime so: „Du mußt doch ein bißchen Spaß haben im Leben. Sonst hat das
alles gar keinen Wert. Ich meine, solange du niemandem wehtust, ist alles erlaubt. Was soll das? Diese ganzen blöden Gesetze. Wenn du die alle beachten
wolltest, müßtest du dein ganzes Leben damit verbringen, Gesetze zu beachten.
139
Carsten Gansel
So ein Quatsch.“43 Daß Chris permanent etwa der „Kleinen“ ‚wehtut‘, ja sie das
Wochenende geradezu fürchtet, vermag er nicht zu erkennen. Die Feier des
Augenblicks wird von Chris begründet durch eine Hoffnung auf Gemeinschaft.
„Ist doch schön, wenn alle zusammen tanzen“, findet er.44
Die Spannung bei Hennig von Lange und anderen Jungautoren entsteht
gerade nicht – wie man vermuten könnte – aus „dramaturgisch profihaften
Handlungsverläufen“, sondern, eher „aus dem Hineinstellen der Helden in
Versuchsräume, in denen die Dinge der Welt auf sie treffen und aus der Frage,
wie sie darauf reagieren.“45 Zu diesem Zweck wird – so könnte man mit Boris
Groys sagen – der ‚Raum des Profanen‘ ausgeschritten und auf diese Weise
‚Neues‘ produziert.46 Die Mythen bzw. Helden der „Kleinen“ in Hennig von
Langes „Relax“ entsteigen im Sinne von Leslie Fiedler den Welten der Filme,
der Comics und des obszönen Zeichenstifts. Wenn – wie hier – eine Außenund Innenwelt literarisch erfasst wird, die einzig aus einer (An)Sammlung von
Tätigkeiten wie Warten, Abhängen, Trinken, Kiffen, Wichsen usw. besteht, wird
man diese wohl mit einigem Recht als banal oder profan bezeichnen können.
Nur wäre es verfehlt, dies schlechthin als Vorwurf an die Autorin und Text
zu formulieren. Im Gegenteil: Man mag im „Inventarisieren“ ein auffälliges
Merkmal der Literatur der jüngsten Autorengeneration sehen: Aufwachsen im
Westen Deutschlands war eben nur vermeintlich „konfliktfrei und behütet“,
weswegen sich bei der literarischen Verarbeitung „Abgründe“ auftun und sich
ein „frappierender Mangel an Werten und Orientierungspunkten“ zeigt.47 Eine
moderne Suche nach Identität erfolgt daher bei Hennig von Lange nicht bzw.
nur verdeckt, statt dessen gibt es ein lockeres Spiel mit jenen Angeboten, die
eine Erlebnisgesellschaft zur Selbstinszenierung des Ichs zur Verfügung stellt.
So erscheint das Leben als Endlosparty, mal spaßig, mal frustrierend. Es geht
um Lifestyle, um die Suche nach dem coolsten outfit.48 Wie in den Medien, der
Werbung, der Musik, den Clips spielen in Texten dieser Art Oberflächen eine
entscheidende Rolle. Die Folge sind schnelle Schnitte, die Erzählperspektiven
wechseln, die Identitäten wandeln sich. Aus den kurzzeitig aufblitzenden Stimmungen, Launen, Affekten, Beobachtungen, Absurditäten wird ein Bild von
jungen Leuten entworfen, die zwar keinen festen Wesenskern im Sinne eines
ausgeprägten und stabilen Sinn-Mittelpunktes besitzen und die gerade darum
– wie in Enrico Remmert „Loove Never Dies“ – von ihrem „unaufhörlichen
Versuch“ erzählen, „der Welt einen Sinn zu geben und uns zu erklären, was
geschieht“.49 Es geht in Texten dieser Art nicht darum, durch das „Was“ und
„Wie“ des Erzählens eine Verbindung von Persönlichem und Politischem, In140
Von Kindheit, Pop und Faserland – Junge deutsche Autoren und Uwe Johnson
dividuellem und Gesellschaftlichen herzustellen, wie dies in „Ingrid Babendererde“, bei Brussig, Brumme, Kerstin Hensel („Im Schlauch“, „Tanz am Kanal“),
Kathrin Schmidt („Die Gunnar-Lennefson-Expedition“), Peter Wawerzinek
(„Das Kind das ich war“) der Fall ist. Statt dessen werden bewußt Oberflächen
einer Erlebnisgesellschaft präsentiert. Eine Begründung, warum dies so ist,
hat Enrico Remmert seinem Roman als Leitmotiv vorangestellt: „Erst wenn
man die Oberfläche der Dinge kennengelernt hat, kann man sich aufmachen,
um herauszufinden, was darunter sein mag. Doch die Oberfläche der Dinge
ist unerschöpflich“, ein Zitat aus einem als postmodern geltenden Text Italo
Calvinos mit dem Titel „Herr Palomar“. Hennig von Lange mit „Relax“ oder
Christian Kracht mit „Faserland“ schreiben ein Erzählmuster nach, das Breat
Easton Ellis (Jahrgang 964) auch mit Anfang Zwanzig in „Unter Null“ (986)
und „Einfach unwiderstehlich“ (987) entworfen hat.50 Die Protagonisten in
Ellis Romanen sind nur noch Zeichen und Oberfläche. Sie kennen keine Erinnerung und Geschichte, was zählt ist die Gegenwart. Und die ist ohne Ränder
in andere Zeitstufen. Für Autoren, Kritiker, Leser, die an zentralen Kategorien
der Moderne wie Subjekt – Geschichte – Sinn festhalten, muß die Darstellung
von Sex, Kiffen, Verwahrlosung, Bindungslosigkeit ein Grund zur Ablehnung
sein. Insofern wird ein Gegensatz zu Johnsons Erzählkonzept offenbar, dem
es ja gerade darum ging, „hinter die äußere Kruste des Gewesenen“ zu kommen und der aus diesem Grunde Erinnern und Erzählen zusammenband.
Die postmoderne Inszenierung von Orientierungsverlust und Ich-Auflösung
hat Johnson nicht mitgemacht. Als Romancier ist er von den „Entwürfen der
klassischen Moderne nicht in Richtung Postmoderne gegangen, sondern hin
zu einem modernen, problemorientierten und zugleich differenzierten Realismus“.51 In dieser Hinsicht zeigt sich Distanz zu den Jungen, auch zu einem
Autor, der sich wiederholt auf Uwe Johnson bezogen hat: Rainald Götz.52
Alexa Hennig von Lange auf der einen und Rainald Götz auf der anderen Seite
gelten altersmäßig als Markierungen für das, was man inzwischen Popliteratur nennt. Aber wie werden die Begriffe Pop und Popliteratur bestimmt. Für
Christian Höller meint Pop „diejenige Form von kultureller Artikulation, in
der ein umfassendes Set von Widersprüchen mit größtmöglicher affektiver
Intensität und vergleichsweise hohem Publikumsbezug ausgetragen wird“
Insofern handelt es sich bei Pop um:
„eine ‚kulturelle Formation‘, die ein labiles Konglomerat aus Musik, Kleidung,
Filmen, Medien, Konzernen, Ideologien, Politiken, Szenebildungen usw. darstellt. Und die so diffuse Inhalte wie Jungsein, Marginalisiertsein, alltägliche
141
Carsten Gansel
Machtkämpfe, politische Auseinandersetzungen, sexuelle Konflikte, schließlich
die ganze Palette von Pubertäts-, Jugend- und Lebensbewältigungen bearbeitet. Ökonomisch kanalisiert wird diese Formation über eine massenmediale
Vermarktung, durch die all diese Widersprüche und disparaten Momente für
eine relativ große, nicht elitäre Menge abrufbar und erfahrbar werden.“53
Ausgehend von der knappen Bestimmung von Pop kann Popliteratur erstens
Popularität meinen, Verkaufserfolg, massenmediale Inszenierung, Jugend der
Autoren und einen subkulturellen Szenebezug. Von Popliteratur kann zweitens die Rede sein, wenn es um das „Was“ der Texte geht, also ihren Inhalt.
Hier reicht das Spektrum von Darstellungen der Pop-Welt (Disco, Musikstile,
Glamour, Medien, Drogen, Sexualität, Ekstase) über das Erzählen von JungSein (Adoleszenz, erste Liebe, Peer-Group, jugendlichen Subkulturen), das
kritische Hinterfragen von Welt mit dem Betonen des Widerständigen bis zum
‚Unterwegssein‘ im Stile der amerikanischen Beat-Generation der 50er Jahre.
Popliteratur läßt sich drittens festmachen am „Wie“ der literarischen Darstellung, also an der Abkehr vom traditionellen Erzählen, der Fragmentarisierung,
der Vielstimmigkeit oder umgekehrt dem Erzählen und Erinnern mit einem
Rückgriff auf die Muster von Roman, Krimi, Horror, Science Fiction oder den
Gebrauch von Szenesprache oder Slang.54
Nimmt man nur einmal Schreibansatz wie Texte von Thomas Brussig, dann
zeigt sich wie maßgeblich Pop für die Generation jener jungen Autoren ist,
die ab Mitte der 60er Jahre geboren wurden. Mit Blick auf die DDR-Literatur
betont Brussig:
„Die Texte hatte irgendwann nichts mehr mit mir zu tun. Die spielten bei Hofe,
es ging um vergangene Autoren wie Kleist oder Emigrantenschicksale. Es ging
nicht um meine Probleme, Armee kam nicht vor, oder auch nicht die Frage,
wie einen die Schule zurück läßt. Ich fand nicht dieses Gefühl, wie einem die
Zeit wegläuft, nichts passiert und man als Junger die lebenslange Langweile
vor sich hat. Das habe ich nicht mehr ausgehalten, das konnte ich nicht mehr
lesen. Dagegen war das, was in der Rockmusik abging viel interessanter und
nahe an meinen Erfahrungen.“55
Es kann nicht verwundern und wäre ein eigenes Thema den Popspuren in
den Texten von Thomas Brussig nachzugehen. Dabei würde sich zeigen, wie
unterschiedlich die Funktion der Musik- bzw. Popbezüge ist. In „Helden wie
wir“ ist angesichts der Figurenanlage und dessen, was erzählt wird Pop für den
Text nicht maßgeblich, es sind vielmehr Agitprop- und Pionier-Lieder, die eine
142
Von Kindheit, Pop und Faserland – Junge deutsche Autoren und Uwe Johnson
symbolische Funktion übernehmen. Klaus’ Erinnerung an ein Pionierferienlager
hat einmal mehr symbolische Bedeutung:
„Im Ferienlager […] lernte ich das Lied vom Kleinen Trompeter. Ein herzerweichend trauriges Lied von einem kleinen lustigen Freund, der, als man in
einer friedlichen Nacht so fröhlich beisammensaß von einer feindlichen Kugel
getroffen wurde, die sein Herz durchbohrte. Der Kleine Trompeter war – ich
sage das zur Vermeidung von Kitsch in heutigen Worten – ein Leibwächter
Ernst Thälmanns, der sich bei einer Saalschlacht vor Thälmann stellte, als
jemand mit der Pistole auf Thälmann zielte. Der Schuß fiel, der Kleine Trompeter wurde getötet, Thälmann passierte nichts. Danach wurde das Lied vom
Kleinen Trompeter geschrieben, der ein lustiges Rotgardistenblut war.“56
Daß in dieser (vermeintlich) humorvollen Episode gleichsam eine Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus geführt wird, sei nur angemerkt. Anders
als Klaus in „Helden wir wir“ sind Micha Kuppisch und seine Freunde im
Ostberlin der 70er Jahre popsozialisiert. Entsprechend notiert der Erzähler:
„Dann hörten sie Musik, am liebsten das, was gerade verboten war. Meistens
war es Micha, der neue Songs mitbrachte – kaum hatte er sie in SFBeat aufgenommen, spielte er sie am Platz. Allerdings waren sie da noch zu neu, um schon
verboten zu sein. Ein Song wurde ungeheuer aufgewertet, wenn es hieß, daß er
verboten war. Hiroshima war verboten, ebenso wie Je t’aime oder die Rolling
Stones, die von vorne bis hinten verboten waren. Am verbotensten von allen
war Moscow, Moscow von ‚Wonderland‘. Keiner wußte, wer die Songs verbietet,
und erst recht nicht, aus welchem Grund. Moscow, Moscow wurde immer in
einer Art autistischer Blues-Ekstase gehört – also in wiegenden Bewegungen
und mit zusammengekniffenen Augen die Zähne in die Unterlippe gekrallt.
Es ging darum, das ultimative Bluesfeeling zu ergründen und auch nicht zu
verbergen, wie weit man es darin schon gebracht hat.“57
Die Pop-Songs haben für die Gruppe eine besondere Bedeutung: Die Musik trägt
zur Gruppenbildung bei, es entsteht eine Art Zusammengehörigkeitsgefühl. Sie
dient zudem der Abgrenzung von den Erwachsenen und vom Staat. Darüber
hinaus wirkt das Hören der ‚verbotenen‘ Lieder wie ein stummer Protest gegen
die Bevormundung durch den ostdeutschen Staat. Der Erzähler selbst gibt einen
Hinweis darauf, welche Rolle für Micha und seine Clique die Musik spielt:
„er (Micha – C.G.) fühlte, daß es was zu bedeuten hatte, wenn alle aus der
gleichen Q3a-Enge kamen, sich jeden Tag trafen, in den gleichen Klamotten
zeigten, dieselbe Musik hörten, dieselbe Sehnsucht spürten und sich mit jedem
Tat deutlicher erstarken fühlten – um, wenn sie endlich erwachsen sind, alles,
alles anders zu machen.“58
143
Carsten Gansel
Mit den Kommentaren von Thomas Brussigs Erzähler sind entscheidende
Hinweise auf die Rolle von Pop auch in literarischen Texten gegeben. Kurzum:
Pop hängt zusammen mit der entstehenden Jugend- bzw. Subkultur seit den
50er Jahren und wird von daher in jedem Fall bedeutsam für Protagonisten,
die über ihre Jugend erzählen oder sich an sie erinnern. Dabei wird mit dem
Einsatz von Popbezügen auf eine Abgrenzung von den Normen und Werten
der Erwachsenen, ja der etablierten Gesellschaft insgesamt gezielt. Pop gibt
den jungen Leuten die Chance, ein eigenes Terrain zu finden, zu dem die
Erwachsenen keinen Zugang haben.
POP, die Beatles und Uwe Johnson
Es steht nunmehr die Frage, was Pop oder Popliteratur mit Uwe Johnson zu
tun haben, von dem bekannt ist, daß er eher unmusikalisch war und wenn,
dann eher Volksliedhaftes intonierte. In den „Jahrestagen“ spielt Pop denn
auch keine Rolle, wenigstens nicht auf den ersten Blick. Doch bei genauer
Suche wird man auch diesbezüglich Spuren finden. Daß die ‚New York Times‘,
ja Medien wie Fotographie, Tonband, TV für das Erzählen in den „Jahrestagen“ eine besondere Funktion besitzen, ist bekannt. Gesine spricht für ihre
Tochter Marie auch Zeitungsmeldungen auf Band. Am 29. November 967,
einem Mittwoch beginnt sie damit. „Heute versuche ich zum ersten Mal, dir
etwas auf das Tonband zu sagen ‚für wen ich tot bin‘“ (JT S. 385). Diese erste
Mitteilung bezieht sich auch auf die Zeitung. „I read the Times today:/Oh boy.“
(ebd.). Dabei handelt es um ein Zitat aus einem Beatles-Song59, nämlich um „A
Day in the Life“, der mit der Zeile beginnt: I read the news today oh boy“. Der
Song selbst basiert wiederum auf einem Zeitungsbericht in der ‚Daily Mail‘
vom 7. Juni 967 über den Unfalltod eines jungen Freundes der Beatles, des
Millionärssohns Tara Browne. Der war – möglicherweise unter dem Einfluß
von Drogen – bei Rot über eine Kreuzung gerast und auf einen geparkten
Kleinbus aufgefahren. In dem Zeitungsbericht wird – für Medien üblich – die
‚Berühmtheit‘ von Browne genutzt, um eine sensationelle Meldung zu produzieren und das Interesse an Klatsch und Tratsch zu bedienen. Die Beatles nun
stellen in ihrem Lied einerseits die Wirklichkeitskonstruktionen durch Medien
und ihre entfremdenden Wirkungen bloß und spielen andererseits auf den
anarchischen Impetus der 68er Bewegung an, wenn es nach der Präsentation
der traurigen Geschichte heißt: „I’d love to turn you on“ – „Ich würde euch
144
Von Kindheit, Pop und Faserland – Junge deutsche Autoren und Uwe Johnson
gern anmachen“. Mit eben diesem Wunsch endet dann auch der Song. Es ist
also keineswegs Zufall, wenn Uwe Johnson gerade diesen Beatles-Song zitiert
und genau kalkulierend die gegenkulturelle und subversive Funktion von Pop
nutzt, um – indirekt freilich – ein Urteil über Facetten einer (kapitalistischen)
Mediengesellschaft abzugeben.
Dafür, daß Johnson Songs wie Texte der Beatles mit Gespür wahrgenommen
hat und Entwicklungen im Umfeld der Popkultur durchaus aufgeschlossen
gegenüberstand, gibt es einen weiteren Hinweis: Es ist Mittwoch, der 27. Dezember 967, ein Tag zwischen Weihnachten und Neujahr. Die zehnjährige Marie
– Tochter von Gesine Cresspahl, der Hauptfigur in Johnsons „Jahrestage“ – hat
schulfrei, sie schlendert durch Warenhäuser, fährt mit der U-Bahn, kurzum,
sie macht von ihrem „Recht auf Vergnügen“ Gebrauch. Und sie findet es im
Kauf eines Geschenks für Gesine, ihre Mutter. Allein das sagt viel über Maries
Selbständigkeit wie das Verhältnis von Mutter und Tochter aus. Der Leser
erfährt am Beginn des Tagebucheintrags nicht, was für ein Geschenk Marie
ausgesucht hat. Johnson läßt seine Gesine, die hier erzählt, statt dessen daran
denken, wie anders es vor einem Jahr war. Nicht naß und kalt, sondern das
Ufer von New Jersey war „weiß, hoch aufgepackt hinter eisigem Flußhellblau“,
was wiederum einen winterlichen „Vormittag am Bodensee“ in Erinnerung
bringt. Die Gegenwartsebene von New York wird auf diese Weise mit der
Vergangenheit in Deutschland verbunden. Ohne Übergang erfolgt sodann ein
Schnitt zur ‚New York Times‘, deren begeisterte Leserin Gesine bekanntlich
ist. Am heutigen Tag präsentiert die Zeitung den „Erfinder des Napalm“, einen
emeritierten Professor der Universität Harvard, „Louis Frederick Fieser, deutsch
auszusprechen. Im Jahr 94 bekam er den Vertrag vom Nationalkomitee für
Verteidigungsforschung, Mitte 942 war er fertig“. In knappster Weise ist über
das Kriegsmittel „Napalm“ eine Verbindung hergestellt zwischen Gegenwart
(Vietnamkrieg) und Vergangenheit (Zweiter Weltkrieg). Der aufmerksame Leser
weiß nämlich um das Datum des Eintritts der USA in den Zweiten Weltkrieg.
Der Professor argumentiert nun, daß Leute nicht dafür haftbar zu machen
sind, wenn andere ihre Erfindungen mißbrauchten, von Vietnam wisse er nicht
genug und überhaupt sei er „kein Jota mehr zuständig“ für die „moralischen
Aspekte“ von Napalm. Erzähler wie Figuren moralisieren nicht, die Aussagen
des Professors bleiben unkommentiert, statt dessen fragt Gesine „Gibt es
antifaschistisches Napalm“, womit auf den Diskurs um die Konfliktsituation
des modernen Naturwissenschaftlers verwiesen ist, der sich nicht sicher sein
kann, ob seine Forschungsergebnisse nicht zu militärischen Zwecken genutzt
145
Carsten Gansel
werden.60Angespielt wird mit dem Hinweis auf Dürenmatts „Die Physiker“
(962) und Heinar Kipphardts „In der Sache J. Robert Oppenheimer“ (964).
Für Uwe Johnsons Erzählen Typisches bestätigt sich mit dem Beginn des
Eintrags einmal mehr: schon mit den ersten Zeilen wird eine Verbindung von
Individuellem und Gesellschaftlichem, von Persönlichem und Politischem
hergestellt. In einer zunächst unscheinbaren Episode realisiert der Autor das
Prinzip des Gedenkens und der „Trauerarbeit“, denn die Unheilsgeschichte
Deutschlands ist mit der erlebten Gegenwart verbunden. Mit Blick auf das
Formale zeigt sich einmal mehr ein parataktisches Erzählen, das „harte Schnitte und scharfe Kontrastierungen“ (Norbert Mecklenburg) nutzt. Schließlich
fallen jene „Techniken von Verknüpfung, Verdichtung und Verrätselung“ auf,
die Johnsons Prosa – simpel gesprochen – so vieldeutig machen. Genau dies
zeigt sich nämlich, wenn man danach fragt, was es mit dem Geschenk auf
sich hat. Erst zu Ende des Eintrags erfährt der Leser nämlich um was für ein
Geschenk es sich handelt: Marie gibt es Gesine nicht, sie verläßt sogar verärgert
die Wohnung, „weil die ungehorsame Mutter bis Dienstschluß in der Bank blieb,
statt nach Hause zu kommen“. Das Geschenk hat sie „höflich auf dem Tisch
hinterlassen, eine Schallplatte von Leuten aus Liverpool mit Fragen an das
Leben“ (JT 523). Gesine, die hier erzählt, weiß – auf den bloßen Augenschein
hin – wovon die Männer aus Liverpool singen. Die zehnjährige Marie muß
also jene Platte mit Bedacht gekauft haben, denn warum sonst sollte sie sie
der Mutter zum Geschenk machen. Dabei handelt sich nicht um die neueste
Veröffentlichung jener ‚Männer aus Liverpool‘, der Beatles, denn die „Fragen
an das Leben“ finden sich auf der LP „Revolver“ von 966, und sie werden
gestellt in der Ballade „Eleanor Rigby“, jenem Song, der der Nummer -Hit der
Platte war.61 Gesine ist eine moralische Person, der zerrüttete Zustand dieser
Welt läßt sie nicht glücklich sein, und sie versucht, ihre Lebensprinzipien an
ihre Tochter Marie weiter zu geben. Dazu nutzt sie die Populärkultur in dem
Fall, da ihre eigenen Positionen bestätigt werden. Mit anderen Worten: Gesine
verfährt nach dem Prinzip der ‚kognitiven Dissonanz‘. Ihre von Biographie,
Lebenssituation, Weltanschauung geprägte ‚Wirklichkeitssicht‘ nutzt jene
Medieninhalte und ‚Geschichten‘ zur ‚Weltdeutung‘, denen sie bereits vor der
Rezeption inhaltlich zustimmt. Erneut ist es mit „Eleanor Rigby“ eine traurige
und im marxistischen Sinne die Klassenschranken offenbarende Geschichte,
die Johnson hier versteckt zitiert:
146
Von Kindheit, Pop und Faserland – Junge deutsche Autoren und Uwe Johnson
Ah, look at all the lonely people./ Ah, look at all the lonely people./
Eleanor Rigby picks up the rice in the church/
where a wedding has been,/
Lives in a dream./
Waits at the window, wearing the face/
that she keeps in a jar by the door./
Who is it for?/
All the lonely people, where do they all come from?/
All the lonely people, where do they all belong?//
Father McKenzie, writing the words of a sermon/
that no-one will hear,/
No-one comes near./
Look at him working, darning his socks/
in the night when there´s nobody there,/
What does he care?/
All the lonely people, where do they all come from?/
All the lonely people, where do they/ all belong?
Ah, look at all the lonely people./ Ah, look at all the lonely people.//
Eleanor Rigby died in the church/
and was buried along with her name./
Nobody came./
Father McKenzie, wiping the dirt from his hands/
as he walks from the grave./
No-one was saved./
All the lonely people, where do they all come from?/
All the lonely people, where do they all belong?//62
Daß in der Popmusik das ‚Thema Tod‘ eher vermieden wird, ist bekannt.
Entsprechend aufstörend wirkte der Beatles-Song, als er am 5. August 966
erschien, auf die Zuhörer.63 Erzählt wird vom trostlosen Leben einer alten
Frau, deren Lebenssituation sie zwingt, nach der Hochzeit den Reis von den
Stufen der Kirche zu sammeln. Armut und Alleinsein ist das Thema dieses
traurigen Liedes, denn Eleanor Rigby stirbt einsam in der Kirche und wird
einsam begraben, und mit ihr wird ihr Name begraben und stirbt („was buried along with her name“), wodurch das Ausmaß der Einsamkeit noch eine
poetische Steigerung erfährt. Auf der anderen Seite steht der Priester ‚Father
McKenzie‘, der sich kalt und unberührt „den Staub von den Händen wischt,
als er vom Grab weggeht“ („wiping the dirt from his hands as he walks from
147
Carsten Gansel
the grave“). Eleanor Rigby ist ob ihrer Einsamkeit verzweifelt, aber die Regeln
der englischen Mittelstandsgesellschaft machen es ihr unmöglich, davon zu
sprechen. Die Beatles finden für diesen Vorgang ein Bild, das auch Johnson
in besonderem Maße für trefflich gefunden haben muß. Eleanor Rigby bleibt
nichts anderes übrig, als ihr Gesicht in einem Gefäß neben der Tür aufzubewahren („wearing the face that she keeps in a jar by the door“). Insofern stirbt
Eleanor im wirklichen Sinne allein, weil sie keinem sagen kann, wie sie sich
fühlt. Und auch die Predigt wird keiner hören, weil keiner kommt („Nobody
came“). Entsprechend endet der Song mit einer Frage, die Johnsons ‚Person‘
gewissermaßen aus dem Herzen spricht: „All the lonely people, where do they
all belong?/All the lonely people, where do they all belong?“ – „Alle diese
einsamen Menschen, woher mögen sie nur kommen?/All diese einsamen
Menschen, mag die keiner mehr?“
Die Aufnahme Beatles-Zitates zeigt einmal mehr, wie genau Johnson seinen
‚Riesentext‘ bis in kleinste Details durchkomponiert hat und wie mit der
‚Entdeckung‘ des Pop-Bezugs neue ‚Spiegelungen‘, ‚correspondences‘ sowie
Vielstimmigkeit erzeugt werden. Dabei verzichtet Johnsons „kritischer Realismus“ auf die „Lieferung einer Quintessenz oder einer Moral“: „Was dazu
gesagt wird, sagen Sie“ – also der Leser! Johnson spielt zudem nicht auf einen
beliebigen Beatles-Titel an, sondern auf einen Song, von dem es heißt, daß er
die „minimalistische Perfektion einer Beckett-Story“ (A.S. Byatt) hat. Das mag
ein Grund dafür sein, daß gerade dieser Beatles-Song auch in nachfolgenden
Generationen durchaus bekannt zu sein scheint und zum Ausgangspunkt für
einen Streit in Enrico Remmerts Poproman „Looove Never Dies“ wird.64
Hinsichtlich der Bezugnahme auf Pop-Phänomene betont Johnson vor allem
die ‚jugendliche‘, ‚rebellische‘ ,kritische, widerständige Seite. Diese widerständige Seite spielt allerdings – abgesehen von Ausnahmen wie etwa Andreas
Neumeister oder Thomas Meinecke – im Rahmen der neuen Popliteratur keine
herausgehobene Rolle.65 Mit dem Hinweis auf ‚Jugend‘ und ‚Generation‘ sind
wir beim Ausgangspunkt angelangt, der Tatsache nämlich, daß Johnson wie
die heutigen Jung-Autoren schon früh mit ersten Texten an die Öffentlichkeit
treten und dabei Autobiographisches ebenso eine Rolle spielt, wie unmittelbare Jugenderfahrungen, die in geringem zeitlichen Abstand erinnert werden.
Wenn in der Gegenwart die Abwehr der Texte junger Autoren sich nicht zuletzt
auch am Alter festmacht, dann muß darauf hingewiesen werden, daß dieser
Einwand wie das daran gekoppelte Verdikt von fehlender Erfahrung weder
148
Von Kindheit, Pop und Faserland – Junge deutsche Autoren und Uwe Johnson
historisch noch literaturgeschichtlich neu ist. Jugend allerdings ist modern
im modernen Sinne erst dann, wenn sie sich selbst zum Thema (der Literatur)
macht – in Distanz zu den Einredungen der Erwachsenen.
Nun ist die Rede von der ‚einen jungen Generation‘ problematisch, das beweist
schon Uwe Johnson, denn als er „Ingrid Babendererde“ und „Mutmassungen
über Jakob“ in der DDR schrieb, gab es gegenteilige Konzepte bei Generationsgefährten wie Christa Wolf („Moskauer Novelle“, „Der geteilte Himmel“)
oder Brigitte Reimann („Ankunft im Alltag“). Gleichwohl gab es durchaus
generationenübergreifende Merkmale im Sinne von Karl Mannheim, also
identische Grunderfahrungen, Erlebnisse, eine spezifische Art des Erlebens,
eine besondere Art des Eingreifens in die Gesellschaft.66 In der Gegenwart
mag dies insbesondere für junge ostdeutsche wie osteuropäische Autoren
zutreffen, die die Erfahrung des Bruchs von 989 teilen und die nunmehr
beginnen, die Jahre des ‚davor‘ über den Vorgang der Erinnerung und
(Re)Konstruktion erzählerisch zu entdecken. Für jene jungen Autoren, die
im Westen Deutschlands groß wurden, gilt dies nur eingeschränkt, denn es
gibt keine einschneidenden Grunderfahrungen.67 Für sie könnten statt dessen
die frühen Erfahrungen einer Mediengesellschaft prägend geworden sein
und die Erinnerung an die Welt der Kindheit bestimmen. Bei Tobias Hülswitt, der auch dem Pop-Raster zugeschlagen wird, sind es daher wohl nicht
zufällig Markenartikel wie Peugot, Fiat, Kaloderma oder Figuren wie Litti,
Jim Knopf, Astrid Lindgren, Heinrich Böll, die das Erinnern motivieren. In
seinem Roman „Saga“ kommt der Anlaß des Erzählens von Außen. „Erzähl
mal was“ sagt seine „erste große Liebe“. Die wiederholte Aufforderung führt
zum Erzählen von Kindheitserlebnissen, „an die ich unentwegt denken mußte,
ohne etwas zu sagen“.68 Der Erzähler muß an diese „blinden Stellen“ denken,
weil er Schuld gegenüber seinem (Adoptiv)Bruder empfindet. Der Impuls
„Erzähl mal was“ holt das Verdrängte hervor, gar nicht unähnlich dem Motiv,
das Uwe Johnsons Gesine bewegt.
Johnsons „Jahrestage“ wurden bei Ihrem Erscheinen von manchen Kritikern
deshalb abgelehnt, weil der Autor vermeintlich überholte realistische Formen
kultiviert habe und Geschichten erzähle. Derartige Anwürfe waren schon
damals wenig stichhaltig, weil sie von einer Eigenbewegung des Ästhetischen
ausgehen und Autoren immer dann loben, wenn sie vermeintlich innovative
Erzählverfahren suchen. Und sie zeigen sich in der Gegenwart erneut, wenn
nicht hinreichend beachtet wird, daß die jungen Autoren, nach den adäquaten
149
Carsten Gansel
Mitteln suchen, um ihre Geschichten zu erzählen. Ingo Schulze, der sich explizit
auf Johnson bezieht, hat diesen Anspruch beim Lesen eines Autors betont, der
wiederum für Johnson wichtig war: Alfred Döblin. Bei dem findet Schulze den
Satz „ich ließ vorsichtig den Stil aus dem Stoff kommen“. Für Schulze bedeutet
dies, nach jenen Formen zu suchen, mit denen „ich näher an die Wirklichkeit
heran (komme)“.69 Das ist genau jener Ansatz, den Uwe Johnson nicht müde
wurde zu betonen: „Die Geschichte muß sich die Form auf den Leib gezogen
haben. Die Form hat lediglich die Aufgabe, die Geschichte unbeschädigt zur
Welt zu bringen. Sie darf vom Inhalt nicht mehr ablösbar sein.“70 Die Geburtsmetapher verweist auf die Schwierigkeit der Suche nach der Form für die
Geschichten. Es ist dies ein Ansatz, der in vergleichbarer Weise auch für die
neuen Geschichten der jungen Autoren gilt.
Anzunehmen ist: Uwe Johnson wäre mit Sicherheit ein kritischer Beobachter
der jungen Autorengeneration gewesen. Abgelehnt hätte er mit hoher Wahrscheinlichkeit Denkmuster einer „Generation Golf “, die an den bestehenden
gesellschaftlichen Antagonismen kein Interesse zeigt, ja sich gegenüber sozialen
Fragen ‚blind‘ verhält. Gleichwohl wäre Johnson bei aller Distanz „einfachen
Wahrheiten“ nicht gefolgt. Der Hinweis, hier würde es sich eine Autorengeneration in der „kapitalistischen Warenwelt intellektuell bequem“ machen, weil
sie gut geschnittene Anzüge liebt oder ihre literarischen Gegenstände, mithin
die Stoffe, die Themen zu klein geraten seien oder sich gesellschaftliche Kritik
im Text nicht explizit finden lasse, hätte ihm nicht gereicht. Johnson könnte
den Kritikern harsch geantwortet haben:
„Die guten Leute wollen einen guten Kapitalismus. […] Die guten Leute stehen
auf dem Markt und weisen auf sich hin als die besseren. […] Die guten Leute
sollen das Maul halten. Sollen sie gut sein zu ihren Kindern, auch fremden, zu
ihren Katzen, auch fremden; sollen sie aufhören zu reden von einem Gutsein,
zu dessen Unmöglichkeit sie beitragen.“71
150
Von Kindheit, Pop und Faserland – Junge deutsche Autoren und Uwe Johnson
Anmerkungen
1
Der Beitrag bildete den Ausgangspunkt für ein Kolloquium zum Thema „Uwe Johnson und die junge Autorengeneration“ bei den Uwe-Johnson-Tagen im September
200 in Neubrandenburg. In diesem Sinne sollte eine Art Rahmen für die nachfolgende Diskussion gegeben werden.
2
Uwe Johnson: Begleitumstände. Frankfurter Vorlesungen. Frankfurt/M.: Suhrkamp
980, S. 95; vgl. auch Uwe Johnson: Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 953 Frankfurt/M.: Suhrkamp 985 (suhrkamp TB 987), S. 23.
3
Siehe dazu ausführlich Carsten Gansel: „es sei EINFACH NICHT GUT SO“. Uwe
Johnsons „Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 953“. In: TEXT + KRITIK. Zeitschrift
für Literatur. Herausgegeben von Heinz Ludwig Arnold. Heft 65/66: Uwe Johnson.
Zweite Auflage. Neufassung, S. 50-68.
4
Norbert Mecklenburg: Kleine lustige Wolke. Zu Uwe Johnsons nachgelassenem
Jugendwerk „Ingrid Babendererde“. In: Nicolai Riedel: Uwe Johnsons Frühwerk. Im
Spiegel der deutschsprachigen Literaturkritik. Bonn: Bouvier 987, S. 23.
5
Reinhard Baumgart: Sonne, See und Sozialismus. Uwe Johnsons erster Roman
„Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 953“. In: Ebenda, S. 92.
6
Norbert Mecklenburg: Kleine lustige Wolke … In: Ebenda, S. 24.
7
Joachim Kaiser: … so eine jungenhafte, genaue Art. Uwe Johnsons Erstling, der die
literarische Welt verändert hätte. In: Ebenda, S. 204.
8
Edwin Hartl: Mit allen Begleitumständen. Uwe Johnsons Erstling postum. In: Ebenda,
S. 200.
9
Reinhard Baumgart: Sonne, See und Sozialismus … In: Ebenda, S. 94.
10
Ulrich Schacht: Wie Ingrid Babendererde drüben ihr Abitur machte. Ein unveröffentlichter Jugendroman von Uwe Johnson. In: Ebenda, S. 97.
11
Joachim Kaiser: … so eine jungenhafte, genaue Art … Ebenda, S. 204. Bei Raimund
Kargerer heißt es: „Ansatzlos, gleichsam mit dem allerersten Schritt auf der Höhe
seiner Zeit wie seines Schreibens, hat Uwe Johnson die literarische Welt betreten.“
(Ders.: Frühe Meisterschaft. Uwe Johnsons Erstlingswerk „Ingrid Babendererde“. In:
Ebenda, S. 225).
12
Volker Hage: Die Enkel kommen. In: Der Spiegel, Nr. 4, .0.999, S. 244-254.
13
Martin Hielscher: Aus dem Regen zurück. Die neue Lebendigkeit der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. In: Kunst & Literatur, 8/999, S. 3-33.
14
Susanne Messmer: Helden wie wir. In: taz, ./2.August 200, S. 5.
15
Uwe Neumann: Spurensuche. Zur produktiven Rezeption von Uwe Johnson in der
deutschsprachigen Literatur. In: TEXT + KRITIK. Zeitschrift für Literatur. Herausgegeben von Heinz Ludwig Arnold. Heft 65/66: Uwe Johnson. Zweite Auflage.
Neufassung 200, S. 20-49.
151
Carsten Gansel
16
Siehe Jürgen Becker: Aus der Geschichte der Trennungen. Frankfurt/M.: Suhrkamp
999. Es sei an dieser Stelle lediglich auf die Reflexionen des Erzählers zum Prozeß
des Erinnerns verwiesen (S. 7ff.).
17
Siehe die Dankesrede von Jürgen Becker sowie das Gespräch in diesem Band.
18
Marcel Beyer: Dankesrede. In: Internationales Uwe-Johnson-Forum. Band 7. Hrsg.
v. Carsten Gansel und Nicolai Riedel. Frankfurt/M.; Berlin; New York; Paris; Wien:
Lang 998, S. 268.
19
Jana Hensel: Alle Orte sind gleich fremd. Junge Literatur erinnert sich an den europäischen Osten. In: EDIT. PAPIER FÜR NEUE TEXTE. Nr. 2, 999, S. 62-63. Siehe
den Beitrag von Jana Hensel in diesem Band.
20
Siehe dazu meine Darstellung: „es sei EINFACH NICHT GUT SO“ – Uwe Johnsons
„Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 953“, a.a.O., S. 50-68.
21
Ebenda, S. 3f.
22
Siehe Carsten Gansel/Thomas Brussig: Ich schreibe nur, was ich selbst gern lesen
würde. Ein Gespräch. In: Nordkurier, 22. September 200.
23
Cordt Berneburger (d.i.Thomas Brussig): Wasserfarben. Berlin und Weimar: Aufbau
Verlag 99. Seitenangaben fortlaufend im Text.
24
Carsten Gansel/Thomas Brussig: Ich schreibe nur, was ich selbst gern lesen würde.
Ein Gespräch. In: Nordkurier, 22. September 200.
25
Christoph Brumme: Nichts als das. Frankfurt/M.: Fischer TB 996 (994), S. 35.
26
Falko Hennig (Jahrgang 969) liefert mit seinem Debüt „Alles nur geklaut“ eine Art
Eulenspiegelroman, in dem der Held die staatlichen Instanzen so recht ernst nicht
(mehr) nimmt, die Symbole der Macht persifliert. Obwohl die Elternfiguren als Lehrer
eigentlich Vertreter des Systems sind, stehen sie in Distanz zum Machtapparat.
27
Thomas Brussig: Helden wie wir. Berlin: Volk und Welt 996, S. 282.
28
Ebenda, S. 3.
29
Ingo Schulze: Stil als Befund. In: Schraffur der Welt. Junge Schriftsteller über das
Schreiben. Hrsg. v. Perikles Monioudis. München: Quadriga 2000, S. 2.
30
Uwe Johnson: Zwei Ansichten. Frankfurt/M.: Suhrkamp 965 (suhrkamp TB 976),
S. 7. Seitenangaben fortlaufend im Text.
31
Uwe Johnson: Berliner Stadtbahn (veraltet). In: Ders.: Berliner Sachen. Aufsätze.
Frankfurt/M.: Suhrkamp 975 (suhrkamp taschenbuch 249), S. 0.
32
Alexa Hennig von Lange, Till Müller-Klug, Daniel Haaksmann: Mai 3 D. Ein Tagebuchroman. München: List 200, S. 24.
33
Christian Kracht, Eckhart Nickel: Ferien für immer. Die angenehmsten Orte der
Welt. Köln: Kiepenheuer & Witsch 999.
34
Florian Illies: Generation Golf. Eine Inspektion. Frankfurt/M.: Fischer TB 2000,
S. 45.
152
Von Kindheit, Pop und Faserland – Junge deutsche Autoren und Uwe Johnson
35
Siehe auch den Beitrag von Norbert Mecklenburg in diesem Band.
Alexa Hennig von Lange: Relax. Hamburg: Rogner & Bernhard 997, S. 3.
37
Vgl. den profunden Band von Johannes Ullmeier: Von ACID nach ADLON und
zurück. Eine Reise durch die deutschsprachige Popliteratur. Mainz: Ventil Verlag
200, S. 26.
38
Siehe dazu ausführlich meinen Beitrag: Adoleszenz, Ritual und Inszenierung in der
Popliteratur. In: TEXT + KRITIK. Sonderband: Popliteratur. Herausgegeben von
Heinz-Ludwig-Arnold und Jörgen Schäfer. München 2003 (Im Erscheinen).
39
Uwe Johnson: Vorschläge zur Prüfung eines Romans. In: Uwe Johnson. Herausgegeben von Rainer Gerlach und Matthias Richter. Frankfurt/M.: Suhrkamp 984
(suhrkamp taschenbuch 206), S. 35.
40
Ebenda, S. 3.
41
Alexa Hennig von Lange: Relax, a.a.O., S. 9, 25.
42
Gleichwohl erfährt der Leser, daß Chris eigentlich unter der Scheidung seiner Eltern
leidet: „Meine Eltern haben sich auch scheiden lassen. Komplett blöde Geschichte.
Denke ich nicht gerne dran. Ich meine, Scheiße. Deine Eltern kommen nicht miteinander zurecht, und du schleppst die Sache bis an dein Lebensende mit dir rum.
Das ist doch komplett ungerecht. Ich denke da nicht gerne dran. Das tut weh, und
Scheiße, am besten du fickst einfach nur.“ (Ebenda, S. 2).
43
Ebenda, S. 23, 39.
44
Ebenda, S. 29.
45
Tobias Hülswitt: Das alte Rom in seinen Provinzen. Die junge deutsche Literatur
kam aus dem Westen, im Osten herrschte verschüchterte Stille. In diesem Band,
S. 203-208, hier: S. 203.
46
Boris Groys: Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie. Frankfurt/M.: Fischer
999, S. 55f.
47
Tobias Hülswitt: Das alte Rom in seinen Provinzen, a.a.O. (Anmerkung 45).
48
Dies ist in etwa die Summe von Kritiken zu Hennig von Lange. Siehe dazu Carsten
Gansel: Adoleszenz, Ritual und Inszenierung in der Popliteratur, a.a.O. (Anmerkung 28).
49
Enrico Remmert: Loove Never Dies. Müncher: Kunstmann Verlag 99, S. 7.
50
Bei Ellis werden – wie dann in „Relax“ – verschiedene Ich-Perspektiven nebeneinandergereiht, „separat“, „wahllos“, zufällig“, ohne daß eine Geschichte erzählt würde.
Das Zusammenspiel der fragmentarischen Redeteile ergibt einzig den Sinn, daß
es keinen Sinn gibt. Hinter der von den Jugendlichen auf der Darstellungsebene
beständig beschworenen Action steckt in Wahrheit Bewegungslosigkeit.
51
Norbert Mecklenburg: Norbert Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsons.
Frankfurt/M.: Suhrkamp 997, S. 334.
36
153
Carsten Gansel
52
Siehe die Hinweise Uwe Neumann: Spurensuche …, a.a.O. (Anmerkung 4).
Christian Höller: Widerstandsrituale und Pop-Plateaus. In: Tom Holert/Mark Terkessidis (Hrsg.): Mainstream der Minderheiten. Pop in der Kontrollgesellschaft. Berlin,
Amsterdam: Edition ID-Archiv 996, S. 57.
54
Siehe dazu Carsten Gansel: Adoleszenz, Ritual und Inszenierung in der Popliteratur…,
a.a.O. (Anmerkung 28).
55
Carsten Gansel/Thomas Brussig: Ich schreibe nur, was ich selbst gern lesen würde.
Ein Gespräch. In: Nordkurier, 22. September 200.
56
Thomas Brussig: Helden wie wir, a.a.O., S. 97f. (Anmerkung 23).
57
Thomas Brussig: Am kürzeren Ende der Sonnenallee. Berlin: Volk & Welt 999, S. f.
58
Ebenda, S. 0. An anderer Stelle heißt es: „Dann saßen sie zusammen, um ein, zwei,
drei oder noch mehr LPs zu überspielen. Man musste sich gar nicht groß kennen,
es reichte ja, daß die Leute dieselbe Musik gut fanden. Sie konnten reden oder der
Musik zuhören und hatten alle Zeit der Welt. Sie fühlten, wie es ist, ein Mann zu
werden, und die Musik, die dazu lief, war immer stark.“ (Ebenda, S. 58)
59
Vgl. den Hinweis bei Ulrich Fries: Uwe Johnsons „Jahrestage“. Erzählstruktur und
politische Subjektivität. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht: Göttingen 990,
S. 94.
60
Siehe dazu Ralf Schnell: Die Literatur der Bundesrepublik. Autoren, Geschichte,
Literaturbetrieb. Stuttgart: Metzler 986, S. 84.
61
Den Hinweis verdanke ich dem Beitrag von Thomas Steinfeld: Die Melodie – Uwe
Johnson findet eine Schallplatte. In: Ders.: Riff. Tonspuren des Lebens. Köln: DuMont Buchverlag 2000, S. 26-34. Die Platte fand sich in Johnsons Nachlaß, sie war
dem Autor, seiner Frau und Tochter also wichtig genug, sie von New York bis in das
einsame Sherness on Sea mitzunehmen.
62
Der Text folgt Alan Aldridge (Hrsg.): The Beatles Songbook. München: dtv 2000,
S. 39.
63
Vgl. Ian MacDonald: The Beatles Song-Lexikon. Kassel, Basel, London, New York,
Prag: Bärenreiter 2000, S. 220.
64
Einer der Protagonisten, Tommaso, berichtet, er hätte am Kiosk eine Zeitschrift
gekauft, der eine Live-CD der Beatles mit „Eleonor (sic) Rigby“ als Geschenk beigelegt
war. Die Antwort kommt promt: „Gaia regt sich auf: ‚Das gibt’s überhaupt nicht!
Das letzte Live-Konzert der Beatles war im Candlestick Park in San Francisco, und
zwar am 29. August 966.‘ ‚Ja und?‘ fragt Thommaso ungerührt. ‚Und Eleonor (sic)
Rigby ist erst später herausgekommen, in Revolver Ende 966, und es kann vorher
gar nicht live aufgeführt worden sein.“ (S. 33). Hier irrt die Popspezialistin, denn
in der Tat erschien der Titel bereits am 5. August 966. Der Streit wird nachfolgend
nicht aufgelöst, sondern dient dem Erzähler lediglich zur Charakterisierung eines
Figurentyps, in deren ‚Weltwissen‘ Pop-Phänomene eine besondere Bedeutung
53
154
Von Kindheit, Pop und Faserland – Junge deutsche Autoren und Uwe Johnson
besitzen, die aber zu politischen oder kulturellen Dimensionen von Vergangenheit
und Gegenwart kein Interesse hat. Entsprechend heißt es: „Du kennst viele Leute,
die so sind wie diese Gaia: Sie wissen, was Bono morgens zum Frühstück ist und
wie viel Plomben Sting im Mund hat, glauben aber womöglich, Pakistan liege in
Südamerika.“ (Ebenda)
65
Siehe Carsten Gansel/Andreas Neumeister: POP bleibt subversiv. Ein Gespräch. In:
TEXT + KRITIK. Sonderband: Popliteratur. Hrsg. v. Heinz-Ludwig-Arnold und
Jörgen Schäfer. München 2003 (S. 83-96).
66
Hier stellt sich – auch im Ost-Westvergleich – die Frage nach der Mentalität, nämlich
danach, ob es eine „Struktur der durch Sozialisation aufgeprägten bzw. verinnerlichten Denk und Verhaltensmodi“ gibt.
67
Für die Gegenwart wird es gänzlich unübersichtlich: Sie wird mit Stichworten wie
Entdramatisierung des Generationenkonflikts, Früherwachsenheit, Pluralisierung
der Lebensformen, Verwischen der Trennlinien zwischen Kindheit/Jugend bzw.
Jugend/Erwachsenheit, Medialisierung zu fassen gesucht. Schon im Schulalter
findet eine Ausdifferenzierung statt: in HipHopper, Techno-Freaks, Gothics, Skater,
Comic-Leser, Stephen King-Freaks.
68
Tobias Hülswitt: Saga. Köln: Kiepenheuer und Witsch 2000, S. 20.
69
Ingo Schulze: Stil als Befund. In: Schraffur der Welt. Junge Schriftsteller über das
Schreiben., a.a.O., S. 22f. (Anmerkung 25).
70
Uwe Johnson: Vorschläge zur Prüfung eines Romans, a.a.O., S. 34 (Anmerkung 38).
71
Uwe Johnson: Über eine Haltung des Protestierens. In: Ders.: Berliner Sachen. Aufsätze. Frankfurt/M.: Suhrkamp 975 (suhrkamp taschenbuch 249), S. 96.
155
Birgit Dahlke
Die beteiligte Chronistin –
Annett Gröschners Wahlverwandtschaft
mit Uwe Johnson
Worin könnte eine sogenannte Wahlverwandtschaft zwischen Uwe Johnson
und der genau dreißig Jahre jüngeren ostdeutschen Autorin Annett Gröschner
begründet sein?
Gröschner, Jahrgang 964, hat erst Ende der 80er Jahre zu schreiben begonnen.
Die von mir vermutete Wahlverwandtschaft bezieht sich auf Texte, die nach
dem Ende der DDR entstanden sind. Welche Gründe könnten eine jüngere
Autorin nach dem Ende der DDR auf Johnsons Texte, ja vielleicht sogar auf
dessen Poetologie zurückgreifen lassen? Antwort : Um etwas über die unbekannte eigene Geschichte zu erfahren. Antwort 2: Um über eine Art historischen
Reiseführer durch Mecklenburg zu verfügen. Antwort 3: Um nach 989 einen
„authentischen“ Chronisten der DDR-Geschichte unter den AutorInnen aus der
DDR zu befragen, schließlich hatte Johnson seine Heimat im Unterschied zu
Christa Wolf, Heiner Müller oder Volker Braun ja früh genug verlassen (wobei
uns wohl allen klar ist, dass diese Heimat für ihn zuallererst Mecklenburg hieß
und erst dann DDR).
Die Rezeption Uwe Johnsons nach 989, von welcher Seite auch immer, trägt
den Stempel des widersprüchlichen und komplizierten deutschen Vereinigungsprozesses. Gerade im Zuge der Umbewertung aller Literatur aus der
DDR wurde Johnson ein weiteres Mal simplifizierend als „Dichter des geteilten
Deutschland“ kanonisiert, der er nie hatte sein wollen.1
Das Verbindungsglied zwischen der Autorin, die um die Wendezeit noch nicht
30 Jahre alt war, und dem in der DDR lange ungedruckt gebliebenen Erzähler
Mecklenburgs ist – so meine These – das Problem des Erinnerns, des Umgangs
mit der eigenen und der jüngeren deutschen Geschichte. Mit dem Zusammenbruch der DDR sahen sich alle Generationen nicht nur einem sozialen, sondern
auch einem symbolischen Kollaps ausgesetzt: Vom Ende her gesehen schien
keine frühere Sichtweise auf die eigene Gesellschaft, auf das eigene kleine Leben
mehr haltbar. Gerade was man für selbstverständlich gehalten hatte, wurde
Birgit Dahlke
nun einem umfassenden Verdacht ausgesetzt. Verschiedene Generationen
mit unterschiedlichen Erfahrungen und teilweise gegensätzlichen politischen
Überzeugungen teilten plötzlich ein und dasselbe Erlebnis: sich der eigenen
Geschichte enteignet zu fühlen – egal ob diese vier oder zwei Jahrzehnte in der
DDR umfasst hatte. Eben dieses Enteignungsgefühl löste – wie jeder gewaltsame
historische Einschnitt – eine Welle von Literatur des Erinnerns aus. Eigene
Varianten der Inventur wurden den wirkungsmächtigen aktuellen Deutungen
der jüngsten Geschichte entgegengesetzt. Innerhalb des heterogenen Gebildes,
das nur unzureichend als „DDR-Literatur“ bezeichnet wird, sehe ich drei große Erzähltraditionen des Erinnerns, auf die man unter solchen Bedingungen
zurückkommen konnte: Christa Wolf hatte eine Erinnerungspoetologie des
Subjektiven, das Konzept der „subjektiven Authentizität“ entwickelt. Christoph
Hein schuf sich die Erzählinstanz des „Chronisten“. Uwe Johnson schließlich
ließe sich mit dem paradoxen Erzählverfahren des „beteiligten Chronisten“
zwischen diesen beiden Polen einordnen.
Annett Gröschner greift nach 989 nicht auf die als „weiblich“ beschriebene
Tradition eines bewusst und explizit subjektiven Erzählens zurück, sondern
auf Johnson. Aus welchen Gründen?
Sowohl Christa Wolf als auch Johnson hatten eine Art Poetik der Schuld und
Scham entwickelt, wie viele deutsche DichterInnen des 20. Jahrhunderts. Beider
Kindheit war vom faschistischen Alltag geprägt, beider Jugend vom Erlebnis
eines übereilten und gewaltsam erzwungenen Umwertungsprozesses (945 war
Wolf 6, Johnson 2 Jahre alt). Beide experimentieren mit Erzählperspektiven,
die sich eben dieser existenziellen Verunsicherung ihrer Autoren nicht mittels
vorgegaukelter Allwissenheit (des auktorialen Erzählers) entziehen. Man sollte
Wolfs Essay „Lesen und Schreiben“ auf Spuren der impliziten Auseinandersetzung mit Johnsons Überlegungen zum „Platz des Erzählers“ hin analysieren,
wie von Carsten Gansel und Oliver Fritsch vorgeschlagen.2 Christa Wolf treibt
in den Vorarbeiten für ihren autobiographischen Roman „Kindheitsmuster“
(976) von einer Manuskriptfassung zur nächsten dem Text die Ich-Perspektive
aus3 und ersetzt sie durch drei Erzählperspektiven („sie“/Nelly, „du“ und nur
am Schluss „ich“). Ihren Roman durchziehen Reflexionen über Verdrängungsmechanismen auf allen möglichen Zeit- und Handlungsebenen: der erinnerten,
der erinnernden und der schreibenden. Wolf ist auf Ich-Erkundung aus, auf
Trauerarbeit von Autorin und LeserInnen.
158
Die beteiligte Chronistin – Annett Gröschners Wahlverwandtschaft mit Johnson
Johnson nicht. Er baut ungefähr zeitgleich im ersten Band der „Jahrestage“
bewusst eine Distanz zwischen der Erinnerungsarbeit des realen Autors und
derjenigen der zweistimmigen Erzählinstanz auf. Wolfs „Du“ ist innerpsychisch,
Johnsons nicht. Johnson stattet auch seine Erzählinstanz nicht mit Authentizität
aus, er stellt stattdessen eben deren Zeugenschaft zur Disposition, nicht nur
diejenige seiner Figuren. Johnsons ideale Leser sind die ungläubigen.
Julia Hell4 hat darauf aufmerksam gemacht, dass der für „Jahrestage“ so charakteristische Erzählpakt zwischen männlichem Erzähler und weiblicher Hauptfigur seinen Ausgangspunkt in einer fast dokumentarischen Szene nimmt, in
welcher der Autor sogar unter seinem eigenen Namen berichtet, wie ihm von
New Yorker Juden die Autorität entzogen wird, über das Nachkriegs-Deutschland zu reden und sei es kritisch:
„Ihm war nicht zuzutrauen, daß er selber das Land verstand, geschweige denn
erklären konnte, für dessen Erklärung er sich hatte haftbar machen lassen; er
hatte noch nicht begriffen, daß Zeit und Adresse ihm die Schuldlosigkeit des
Fremdenführers aus den Händen genommen hatten und ihm jedes analytische
Wort im Munde umdrehten zu einem defensiven.“5
Genau im Anschluss an die Episode, die den deutschen Autor als verwundet, als
im Strick von Schuldzuschreibungen und -abweisungen verfangen zeigt, wird
der Pakt geschlossen und für die LeserInnen mit Namen versehen: „Wer erzählt
hier eigentlich, Gesine. Wir beide. Das hörst du doch, Johnson.“ (256)
Hell erkennt und analysiert hinter dieser spezifischen Erzählkonstruktion die
zentrale Schwierigkeit Johnsons, als nichtjüdischer deutscher Autor seiner Generation nach 945 von der deutschen Vergangenheit und Schuld zu sprechen.
Sie geht noch weiter und schließt auf eine Krise männlicher Autorschaft:
„My contention is, that this scene narrates the de-stabilization, indeed the
breakdown of masculin authorship in the wake of the shoa […].“
„I propose to use Joan Riviere’s concept of femininity as masquerade for this
particular narrative construction of a male writer and female speaker, and
Norbert Mecklenburg’s term hybridity for the peculiar narrative voice that
this constellation produces“.6
Sowohl Wolf als auch Johnson schreiben gegen Erzählkonventionen an, welche
die Linearität eines historischen Kontinuums unterstellen. Johnson setzt nicht
etwa zwei Erzählinstanzen ein (oder wie Wolf in „Kindheitsmuster“ drei), die
nebeneinander erzählen und deren Erinnerungsvarianten einander in Frage
159
Birgit Dahlke
stellen. Johnson erzählt stattdessen zweistimmig. Gänzlich anders als Wolf
weicht er dem Dilemma des omnipotenten Erzählers, den „Manieren der Allwissenheit“, wie er dies in seinen Frankfurter Vorlesungen nennt, aus:
„Aber er hatte sich jeden Anspruches auf Allwissenheit begeben [so heißt es
dort über den „Erzähler“]; er meldete sich bloss, wenn die anderen [die Figuren] schwiegen, auffordernd, wenn sie an ein Stück der Erzählung geraten
waren, das hatten sie verpasst, da luden sie ihn ein zur Mithilfe. Er mochte
der Urheber sein; hier war er bloss jemand, der machte mit. Er arbeitete mit
ihnen zusammen.“7
Johnson will „das hohe Ross eines allwissenden Autors“ vermeiden, denn „seine
Leute“ – wie er seine Figuren bezeichnet – verweigern so einen Umgang.8 Das
ist nicht nur ein Spiel mit Erzählidentitäten oder moderner Autorschaft, es ist
vor allem auch eine Methode moralischer Legitimation.
Annett Gröschner nun scheint es in ihrer Prosa und Essayistik der 90er Jahre
nicht um Christa Wolfs Trauerarbeit zu gehen. Sie nimmt jedoch auch nicht
das komplexe Erzählmuster Johnsons auf. Worauf greift sie zurück, wenn sie
sich in einem Essay von 993 ganz explizit auf „Jahrestage“ bezieht? „Reise nach
Jerichow“ lautet ihr Titel. Natürlich kann eine solche Reise nur im übertragenen
Sinne nach Jerichow führen, das ist auch der nach Klütz (bei Boltenhagen) reisenden Autorin und studierten Germanistin bewusst. Und so wird der Weg für
ihren Reisebericht wichtiger als das Ziel, führt er doch im August 993 über den
Bahnhof Bad Kleinen, wo gerade erst die westdeutsche Geschichte gewaltsam und
ganz konkret in die ostdeutsche eingebrochen ist, in Gestalt der RAF-Mitglieder
Birgit Hogefeld und Wolfgang Grams am 27. Juni 993. Bei näherer Betrachtung
dieses essayistischen Reiseberichts muss ich meine Ausgangsvermutung von
einer poetologischen Wahlverwandtschaft allerdings korrigieren: Es scheint, als
wollte die Autorin weniger Uwe Johnsons Spuren folgen, als vielmehr denjenigen
seiner literarischen Figur, der Gesine aus den „Jahrestagen“. Grund dafür könnte
die mentale Nähe zwischen der realen jüngeren Autorin um die dreißig und der
Mittdreißigerin namens Gesine sein, die Johnson Ende der 60er Jahre auf die
Suche nach dem Ort ihrer Kindheit gehen ließ. „Wo ich her bin das gibt es nicht
mehr“ – der vielzitierte Satz Gesines (JT 386), gleichzeitig zu sich selbst und für
die Tochter Marie aufs Tonband gesprochen „für wenn ich tot bin“, dieser Satz
ist es, der die eigentliche Verbindung bildet und folgerichtig im Untertitel des
Reiseberichts von 993 zu stehen kommt.9 Ein weiteres Verbindungsglied ließe
sich vermuten: „Jene frühe Erziehung im Sozialismus sitzt fest in ihr [Gesine],
sie hat ja auch das Schwimmen nicht verlernt“10. – Anders als in den vielen
160
Die beteiligte Chronistin – Annett Gröschners Wahlverwandtschaft mit Johnson
Kindheitstexten etwas älterer KollegInnen wie Nadja Klinger, Barbara Köhler,
Peter Wawerzinek, Andreas Koziol oder Uwe Kolbe sind es jedoch nicht diese
Prägungen, die sie vorrangig interessieren. Mit der Figur der Gesine teilt Annett Gröschner die befremdende Erfahrung, Bürgerin verschiedener Staaten11
zu sein, zweier Staaten, deren proklamiertes Selbstverständnis gegensätzlicher
nicht sein könnte. Wie für Johnsons Hauptfigur existiert der eine der beiden
Staaten nur noch im Gedächtnis der sich Erinnernden. Gröschner reist nach
Klütz, nicht in das Jerichow Johnsons.
„Ginge es mir um die Biographie, würde ich diese Reise nicht machen. Die
Person, die hinter der ‚Person‘ Gesine an der Schreibmaschine sitzt, ist mir
nicht sonderlich sympathisch.“12
Den Namen Johnson kennt die spätere Germanistin Gröschner nach eigener
Auskunft seit 983. Im selben Jahr war Johnson zum letzten Mal in seinem
Leben in Mecklenburg. Geschützt, getarnt, distanziert durch die selbstgewählte
Rolle des Touristen, als Mitglied einer englischen Reisegruppe und bewusst
nur englisch sprechend! Von dieser letzten Reise brachte er eine Holzschindel
nach Sheerness-on-Sea in England mit, auf die der fiktive Ort und ein reales
Datum gezeichnet wurden „Jerichow 9.8.983“.13
Mit Gesine teilt Gröschner, in der Essayistik vom Ende der 90er Jahre noch
mehr als in diesem Jerichow-Text, die Absicht, erzählend eine Wirklichkeit
wiederherzustellen, die vergangen ist. Will Gröschner eine souveräne Autorinstanz schaffen, so darf sie nicht in all zu großer Nähe zur Figur der Gesine
verharren, der nämlich gerät alles zum Gleichnis. Aber Gesine ist eben nicht
Johnson, und ihr Mecklenburg ist nicht Johnsons Mecklenburg, wie dieser nicht
müde wurde zu betonen. Johnsons artifizielle Erzählkonstruktion konterkarierte ja selbst Gesines Kindheitserinnerungen noch mit der Erkundungsfigur
der Anita, die in der Erzählzeit vor Ort recherchiert. Gröschners Wahlverwandtschaft ist, ich wiederhole es, nicht wirklich als eine poetologische zu
bezeichnen, wie ich dies im Titel behauptet habe. Auf der virtuosen Ebene des
Erzählverfahrens versucht sie gar nicht, ihm zu folgen. Wo sie ein Ich einsetzt,
fällt es ganz traditionell mit der Autorin des Essays zusammen: „Ich suche die
Ziegelei nicht. Ich bin nicht gekommen, um in der Realität vorzufinden, was
ich gelesen habe.“ (65) Gröschner nimmt das Gedankenspiel von Johnsons
zweistimmiger Erzählinstanz, „wenn Jerichow zum Westen gekommen wäre“
auf14. Drei Jahrzehnte später versteht sie es gänzlich unpathetisch und gar nicht
prophetisch. Sie kommentiert trocken: „Jerichow ist zum Westen gekommen,
aber es sieht noch nicht so aus.“ Auf die erzählreflexive Dimension eines
161
Birgit Dahlke
weiteren von ihr zitierten Satzes „Manchmal, und öfter, benähmen sich die
Jerichower als wären sie Klützer“, geht sie nicht ein. Was bedeutet dies innerhalb der Erzählkonstruktion der „Jahrestage“, wenn (im Konjunktiv!) gesagt
wird, die fiktionalen Mecklenburger würden sich benehmen wie die realen?
Immerhin ist es gerade dieser ironische Verweis im überlieferten Text, der sie
in einen realen Ort, eben Klütz, geführt hat. Was hat sie dort gesucht, wenn
eben nicht „die Realität“ hinter der Literatur? Vielleicht die Methode, große
Geschichte mit der kleinen zu vermitteln. Die eine nicht auf die andere zu
reduzieren. Die Eigenart ihrer Texte, vergessene Konkreta des DDR-Alltags
mit Namen und auch gleich noch mit ironisch historisierenden Fußnoten zu
versehen (ihr Spiel mit „Wofasept“, „Ketwurst“ und „Messe der Meister von
Morgen“) könnte hier seine Wurzeln haben.
Gröschner übernimmt in ihren Essays, aber auch in ihrer Kurzprosa (die frühe
Lyrik lasse ich an dieser Stelle außerhalb der Betrachtung) die Rolle einer Forscherin, die ihre LeserInnen mit Material statt mit Wertungen versorgt. Wie Johnson
betreibt sie intensive Quellenstudien zur jüngsten deutschen Geschichte. Der
Band, in dem ihre Essayistik der 90er Jahre versammelt ist, hat den skurrilen Titel
„ybbotaprag. heute. geschenke. schupo. schimpfen. hetze. sprüche. demonstrativ.
sex. DDRbürg. gthierkatt. ausgewählte essays, fließ- & endnotentexte 989-98“.
Dahinter verbirgt sich nicht nur eine missglückte Textkonvertierung, sondern ein
ungewöhnliches Archiv deutsch-deutscher Zeitgeschichte. Der kleine Berliner
Kontextverlag wagt, was für Suhrkamp unmöglich wäre: Das Buchinnere nach
außen zu kehren und Provisorisches herauszustellen. So erhält, wer das Buch
in Händen hält, nebenbei gleich noch eine kleine Einführung in den Prozess
des Büchermachens: Schmutztitel, Vakatseite, Impressum werden erklärt und
sozusagen im Vorstadium abgedruckt. Die avantgardistische Geste lässt sich
durchaus als gegenkulturelles Statement lesen: Der herrschenden Dominanz
der Bilder und des Häppchenjournalismus wird Widerstand entgegengesetzt.
Die Lektüre wird statt erleichtert zusätzlich erschwert, die „Fließtexte“ sind
sperrig und verweigern sich dem schnellen Überfliegen. In einer Zeit ideologischer Abrechnungen versucht Gröschner Geschichte von unten zu erkunden.
Sie sichert Spuren, gräbt in Archiven und Kellern, bohrt und schichtet um. Ob
eine Eisherstellerin porträtiert wird oder die Kleinstadt Jerichow, ob der Abzug
der Roten Armee kommentiert oder die Geschichte des Prenzlauer Berger Wasserturms, der Gleimstraße oder der Veteranenstraße erzählt wird, die Autorin
legt Schichten frei, von denen man gar nicht ahnte, dass sie existieren. Dabei
artet die Recherche (trotz der vielen Fußnoten) nie in Bildungshuberei aus, wie
162
Die beteiligte Chronistin – Annett Gröschners Wahlverwandtschaft mit Johnson
nebenbei wird eine Vielfalt an historischen Quellen eingeflochten, mit beeindruckender Leichtigkeit verschränken sich aktuelle zeitgenössische Vorgänge
mit unterschiedlichen geschichtlichen Ebenen. Die überraschende Leichtigkeit
der dokumentarischen Prosa ergibt sich aus dem Humor der Autorin, die einen
Blick für Skurriles und Banales hat, Schäbiges und Schwäche nicht denunziert
und Stärke nicht glorifiziert. Die Abwesenheit von Pathos ermöglicht, auch über
bewegende Momente zu schreiben wie z.B. den letzten Arbeitstag der Margot
Siedow nach dreißig Jahren in ein und demselben DDR-Betrieb. Die literarische
„Archäologin“ guckt immer genau da hin, wo der erste schnelle Blick abgleiten
würde: auf das überklebte Ortsschild, die geflickte Jacke, die Lücke im Adressbuch. Wenn sie auf den Dolmetscher zu sprechen kommt, der russische und
deutsche Soldaten 995 bei medienwirksam-gemeinsamen Ausgrabungen im
Oderbruch begleiten soll, so heißt es:
„Er ist hier für die Kommunikation zuständig. Aber es sind nicht nur die
fehlenden Sprachkenntnisse, die kein Gespräch aufkommen lassen.“
„Hier soll ein Schlussstrich unter die Geschichte gezogen werden. Die Summe
unter dem Strich ist unbekannt. Weil hier der Rest liegt.“15
Ein Satz Heiner Müllers kommt ihr in den Sinn und rückt seltsam konkret ins
Realgeschehen ein: „Die Befreiung der Toten findet in der Zeitlupe statt.“
Wo die Banalität des Alltags zu zynischen oder sarkastischen Sätzen verleiten
könnte, lässt die Autorin Dokumente und Archivmaterialien sprechen: Grenzakten, Spruchbänder, Betriebsanweisungen, Schreibtischkalender, Merkblätter
für Arbeitslose, Speisekarten, Adress-, Grund- und Totenbücher. Die literarische
Historikerin hütet sich vor Verklärung und Moralisieren, stattdessen ruft sie
unliebsame Erinnerungen auf: Den Lärmkrieg zwischen dem Westberliner
„Studio am Stacheldraht“ und dem Ostberliner „Studio 3. August“ im September
96, den Zweiklassen-Abzug der Alliierten 994, das Verschwinden sowjetischer
Kulturoffiziere in Stalins Lagern, die vergessene Autorin Christa Reinig.
Die scheinbar zufällige assoziative Reihung von Beobachtungen, Erinnerungen
und recherchierten Fakten hat Methode. Personen, Häuser, Straßen bekommen
ein Gesicht.
„Die Häuser allein erzählen Geschichten. Es sind Klopfzeichen aus einer vergangenen Zeit, die nur aufmerksame Betrachter zu deuten wissen.“16
Gröschner stellt die sowjetische Kulturoffizierin und spätere Literaturkritikerin
Kazewa vor, lässt BewohnerInnen der Berliner Gleimstraße zu Wort kommen,
163
Birgit Dahlke
befragt Frauen in Trebbin und Magdeburg oder den Bauleiter eines zum Hotel
gewordenen Schlosses in Thüringen.
Die essayistischen Reportagen und literarischen Porträts taugen selbst als
Dokumente der Zeitgeschichte, manche waren zwischen 990 und 993 in
aufregenden Nachwendepublikationen wie „die andere, Ypsilon“ oder später
„Sklaven“ zu lesen. (Alles Zeitschriften, die inzwischen auch schon Fußnoten
zu ihrer Erklärung brauchen). So ist die Beobachterin bei aller Zurückhaltung
doch stets präsent und in ihren Texten aufzufinden. Selbstbewusst, neugierig,
sachlich, verspielt, selbstironisch und das eine oder andere Mal auch auf angenehme Weise sentimental: „und die Wehmut hat ihre Gründe“.17
Solche archäologische Spurensuche arbeitet einem diskursiven/verfestigten
Wissen entgegen.
Gemäß Adornos Satz: „Aufgabe der Kunst ist es, Chaos in die Ordnung zu bringen“
lässt sich das mimetische Verfahren Johnsons, erinnerte Geschichte, Geschichten
von Personen zu erzählen, auch nach 989 der Übermacht des „Wissens“ (darüber, was die DDR war) entgegensetzen.18 Eben das versucht Gröschner. Auch ihr
erster Roman weist ein ähnliches Herangehen auf.„Moskauer Eis“19 funktioniert
weniger nach den Gesetzen eines Romans als nach denjenigen der Detektivgeschichte: Während ein Roman seine Spannung daraus gewinnen würde, dass
offene Entwicklungen von ihren Gründen, Herkünften, Voraussetzungen her
geschildert werden, nutzt die Detektivgeschichte eine entgegengesetzte Regung:
die Neugier, zu gegebenen, abgeschlossenen Tatsachen die Ursachen kennen
zu lernen. (In „Moskauer Eis“ wäre dies der tote Vater in der Tiefkühltruhe, in
den Essays das definitive Ende des DDR-Alltags). Entgegen der vor allem unter
westdeutschen Literaturkritikern verbreiteten Lesart des Romans, die Eismetaphorik gleich für ein Bild der gesamten DDR-Gesellschaft zu nehmen, macht
für mich der Weg der Recherche, die (ergebnislose) Suche nach Erklärungen
für das, was geschehen sein könnte, das Zentrum des Romans aus.
Eine andere Textart, die Gröschner nutzt, das literarische Porträt, entwickelte
sich aus einer Art ABM-Stelle als Sozialarbeiterin: 992 sollte sie im Auftrag
der Neuen Gesellschaft für Literatur Lesungen für Rentner organisieren.
„In einem Altenheim sagten mir die Bewohner, Lesungen interessieren sie nicht,
aber ich sollte doch mal kommen und mit ihnen Kaffee trinken, da würden sie
mir Geschichten erzählen, einer könnte sich sogar noch an den Kapp-Putsch
erinnern. Eine neunzigjährige Frau turnte mir die Übungen vor, die sie im
Fichte-Sportverein immer gemacht hatten, und eine andere beschrieb mir ihr
zerstörtes Haus in der Choriner Straße in allen Einzelheiten.“20
164
Die beteiligte Chronistin – Annett Gröschners Wahlverwandtschaft mit Johnson
Annett Gröschner gründete ein „Erzählcafé“ in der Kollwitzstraße, wo die
Alten einmal im Monat hinkamen:
„Angelockt durch den Titel der ersten Veranstaltung, ‚Auf der Schönhauser
Allee lagen die toten Pferde‘, kamen dreißig alte Leute, und es begann eine
Diskussion über den Krieg, die in unterschiedlichsten Formen drei Jahre
währte. Viele, vor allem Frauen, hatten ihre persönliche Geschichte noch nie
erzählt, ihre Kinder wollten sie nicht hören.“
Die Autorin war von der Kraft der Erzählungen der Alten fasziniert, und sie
konnte zuhören.
Erstaunlich ist die Vielfalt dessen, was sie mit dem ihr so „zugewachsenen“
Material anstellte: eine Aufsehen erregende Ausstellung „Kriegspfad Berlin“,
eine Sammlung von Schulaufsätzen aus dem Jahr 94621, und nicht zuletzt die
literarisch bearbeiteten Porträts, die sie auf der Grundlage von Gesprächsprotokollen mit den Alten erarbeitete. Sie erschienen zunächst unter der Rubrik
„Menschen an unserer Rückseite“ in der kleinen Berliner Zeitschrift „Sklaven“.
Die Porträts fanden eine vielfach größere Öffentlichkeit, als der Rowohlt Verlag
sie 998 gesammelt als Taschenbuch herausgab. Der Originaltitel, der auf den
Roman von Eduard Claudius anspielte, erschien dem Verlag allerdings offensichtlich als geschäftsschädigend, so dass er ihn in das berlintümelnde „Jeder
hat sein Stück Berlin gekriegt. Geschichten vom Prenzlauer Berg“ umwandelte.
Gröschner tritt in den Porträts bewusst hinter ihre ZeitzeugInnen zurück und
macht zugleich die Fragilität und Konstruiertheit von Erinnerung zu einem
Aspekt der Darstellung. Sie versucht, die Differenz zwischen Fiktionalem und
Dokumentarischem im Text kenntlich zu machen. Sie sammelt nicht einfach
Lebensgeschichten, sondern bringt diese in neue narrative Strukturen, ordnet
sie in den von ihr aufgesuchten Kontext. Sie bewegt sich damit zunächst in der
Nähe zu Methoden der oral history, um sich dann wieder davon zu entfernen.
Erst durch ihr genaues Zuhören und ihre Auswahl kristallisieren sich Sätze
heraus, die literarischen Mehrwert enthalten. Zwei Beispiele aus der sogenannten Nummernrevue „0 mal x mal 49 Frauen“:
„frau 4 +++ an den kreuzungen regelten die russinnen in abendkleidern
den verkehr. Meins war auch dabei. Vor jahrhunderten hatte ich es im hotel
esplanade beim ball getragen +++
frau 5 +++ ich bin per kaiserschnitt auf dem küchentisch zur welt gekommen.
meine mutter ist lange tot, den tisch habe ich heute noch +++“22.
Gröschner experimentiert mit verschiedenen Textformen: dem Porträt, Essay, Bericht, Dialog, Interview, der Kolumne oder auch der dramatisierenden
165
Birgit Dahlke
Montage wie in dem eben zitierten Beispiel. Schriftliche, landschaftliche, städtebauliche Zeichen der Gegenwart liest sie wie in ihrem preisgekrönten Essay
„Esplanade“23 als Palimpsest, als Fragment vielfacher Überschreibungen, dessen
Subtext noch freizulegen ist, nicht zuletzt um Gegenwärtiges zu verstehen. Dazu
sind Spuren zu sichern und Strukturen zu rekonstruieren, fehlende Glieder
manchmal auch durch Spekulationen über mögliche Zusammenhänge zu
ersetzen. Nie behauptet sie, etwas wäre genau so geschehen wie sie es erzählt,
aber: so hätte es sein können…
Johnson hatte in „Jahrestage“ einen neuen Typ des modernen Erzählers als
„Führer des Protokolls“24 geschaffen, eben jenen Erzählstandort des beteiligten
Chronisten, an den Gröschner unter gänzlich anderen historischen Umständen
anknüpft. Eine Wahlverwandtschaft im weitesten Sinne also. Natürlich ist der
beteiligte Chronist ein Widerspruch in sich: ein Chronist sollte ja eigentlich
eben nicht parteilich sein, er sollte sich um sogenannte Objektivität beim Protokollieren bemühen. Johnson wie Gröschner wissen um die Unmöglichkeit
solcher „Objektivität“. Der „beteiligte Chronist“ übernimmt im Unterschied
zum Chronisten Verantwortung, er bezieht bewusst Haltung, ohne diese als
„subjektiv“ zu verkleinern. Ein Gestus selbstbewusster zeitgenössischer Autorschaft.
„Dies ist alles was ich anbieten kann als Erfahrung im Prozess des Erfindens:
er ist vergleichbar dem Vorgang der Erinnerung, die eine längst vergessene,
in diesem Fall noch unbekannte, Geschichte wieder zusammensetzt, bis alle
ihre Leute, ihre Handlungen, ihre Lebensorte, ihre Geschwindigkeiten, ihre
Wetterlagen unauflöslich mit einander zu tun bekommen.“25
166
Die beteiligte Chronistin – Annett Gröschners Wahlverwandtschaft mit Johnson
Anmerkungen
1
„Peinlich setzt in solcher Berufsbeschreibung der gute Wille sich durch, der damit
ja jemanden loben will und ehren für seine Beschäftigung mit dem ‚gespaltenen‘
Deutschland, als wäre das ein Verdienst. Tatsächlich ist es bloss das Ergebnis einer
Biographie, die einem Schriftsteller für seinen Fall gerade zwei verschiedene deutsche
Erfahrungen zugewiesen hat, als sein Material.“ Uwe Johnson: Begleitumstände.
Frankfurter Vorlesungen, Frankfurt/M.: Suhrkamp 980, S. 337.
2
Carsten Gansel, Oliver Fritsch: „Klischeebildung statt Wahrheitsfindung“? oder
vom „Platz des Erzählers“. Zum Konstruktionsprinzip von Uwe Johnsons „Zwei Ansichten“. In: Internationales Uwe-Johnson-Forum. Beiträge zum Werkverständnis
und Materialien zur Rezeptionsgeschichte. Hrsg. v. Carsten Gansel und Nicolai Riedel,
Bd. 7, Frankfurt/M. u.a. 998, S. 04. Die Autoren weisen auf den Bezug zwischen
„Lesen und Schreiben“ (968) und Johnsons Essay „Berliner Stadtbahn (veraltet)“
[erschienen in: Ders.: Berliner Sachen, Frankfurt/M.: Suhrkamp 975] hin.
3
Catherine Viollet: Nachdenken über Pronomina. Zur Entstehung von Christa Wolfs
„Kindheitsmuster“. In: Christa Wolf. Ein Arbeitsbuch. Studien – Dokumente – Bibliographie. Hrsg. v. Angela Drescher. Berlin, Weimar: Aufbau 989, S. 0-3.
4
Julia Hell: The Melodrama of Illegal Identifications, or, Post-Holocaust Authorship
in Uwe Johnson’s Jahrestage. In: Monatshefte für deutschsprachige Literatur und
Kultur. Madison. 94. Jg., 2002, H. 2, S 209-229.
5
Uwe Johnson: Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl, Bd. , Frankfurt/M.:
Suhrkamp 973, S. 255.
6
Julia Hell, a.a.O. (zitiert nach dem Manuskript) S. 5 und S. 4.
7
Uwe Johnson: Begleitumstände, a.a.O., S. 39.
8
Ebenda, S. 32.
9
Annett Gröschner: Eine Reise nach Jerichow. In: Dies.: ybbotaprag… ausgewählte
essays, fließ- und endnotentexte 989-98, Berlin 999, S. 46-65. Geschrieben 995,
zuerst veröffentlicht in: Moosbrand. Neue Texte 5/997, S. 69-77.
10
Johnson 973 in einem Brief an Siegfried Unseld. In: Johnsons „Jahrestage“. Hrsg. v.
Michael Bengel. Frankfurt/M.: Suhrkamp 985. S. 94.
11
Die Gesine-Figur hat – wie ihr Autor – vier Gesellschaftsordnungen erfahren.
12
Annett Gröschner: Eine Reise nach Jerichow, a.a.O., S. 53.
13
Uwe Johnson im Gespräch. Hrsg. v. Eberhard Fahlke, Frankfurt/M. 988, S. 39. Zitiert
nach Roland Berbig: „Eine Bürgerin der D.D.R.“ namens Gesine Cresspahl erzählt
Beobachtungen zu der DDR in Uwe Johnsons „Jahrestage“. In: Wo ich her bin. Uwe
Johnson in der D.D.R. Hrsg. v. Roland Berbig, Erdmut Wizisla, Berlin: Kontext 993,
S. 320-352, hier 325 und Anmerkung 5, S. 43.
14
Annett Gröschner: Reise nach Jerichow, a.a.O., S. 63. G. zitiert hier Johnson, „Jahrestage“, S. 243, wie sie in einer Fußnote auch angibt.
167
Birgit Dahlke
15
Annett Gröschner: Den Großonkel ausgraben. Eine Reise ins Oderbruch (995). In:
ybbotaprag…, a.a.O., S. 38-52, hier S. 48 und 40.
16
Annett Gröschner: Das Gedächtnis der Häuser (994). In: ybbotaprag…, a.a.O., S.
304-30, hier S. 307.
17
Annett Gröschner: ybbotaprag…, S.  [Schmutztitel].
18
Ich folge hier der Argumentation von Inge Münz-Koenen: Spurensuche 992. Uwe
Johnsons „Jahrestage“ und Monika Marons „Stille Zeile“. In: Wer sind wir? Europäische Phänotypen im Roman des zwanzigsten Jahrhunderts. Hrsg. v. Eberhard
Lämmert und Barbara Naumann, München 996, S. 253.
19
Annett Gröschner: Moskauer Eis. Roman, Leipzig 2000.
20
Annett Gröschner: Jeder hat sein Stück Berlin gekriegt. Geschichten vom Prenzlauer
Berg, Hamburg 998, S. 6.
21
Ich schlug meiner Mutter die brennenden Funken ab. Berliner Schulaufsätze aus dem
Jahr 946, ausgewählt und eingeleitet von Annett Gröschner. Hrsg. vom PrenzlauerBerg-Museum, Berlin, 996.
22
Annett Gröschner: 0 mal x mal 49 Frauen. Eine Nummernrevue. In: Sklaven 8/9/ 995,
S. 2.
23
In: Freitag 44/995, S. 5. Unter dem Titel „Verschiebbarer Mythos?“ auch im Essayband, S. 24-37, abgedruckt.
24
Uwe Johnson: Begleitumstände, a.a.O., S. 35.
25
Ebenda, S. 27.
168
Oliver Fritsch
Von der Gewilltheit des Zuhörers
Zur Rolle des Lesers in Thorsten Krämers „Neue Musik
aus Japan“ und Uwe Johnsons „Zwei Ansichten“.
Ein Vergleich
Vorbemerkungen
Dem Leser kommt im literarischen Produktionsprozess eine herausragende
Bedeutung zu. Auf welche Weise? Zwar unterscheiden sich auf der einen Seite
Rezeptionsmuster, Erwartungshorizont und ästhetisches Urteil von Individuum zu Individuum. Doch ist auf der anderen Seite in jedem fiktiven Prosatext
dem Leser eine zumeist implizite Rolle eingeschrieben. Eine Analyse der
Leserrolle reicht an die Schnittstelle heran zwischen literarischer Produktion
und dem Wirkungsgrad eines Textes; damit an eine essenzielle Fragestellung
von Literatur. Zwangsläufig berücksichtigt ein Autor die vorweggenommene
Rezeption, indem er erlebte oder vermutete Reaktionen und Verhaltensmuster
der Leserschaft – auch eigene Leseerfahrung – in den Schreibprozess integriert.
Dabei steht ihm frei, ob er vermeintliche Lesegewohnheiten bedienen oder
dagegen verstoßen möchte. Entscheidend ist der rezeptive Kontext. Literatur
soll gelesen werden, das bedeutet: Reaktionen – in erster Linie in Form von
mentalen Prozessen – sollen initiiert werden.
Um mit der Leserschaft in einen virtuellen Dialog zu treten, muss der Autor
jedoch derlei Kenntnisse über ihre Gewohnheiten besitzen. Dieses Wissen
rekrutiert er einerseits aus direkten Reaktionen seitens Lesern und Kritikern:
Buchkauf; jedwede Form von mündlicher oder schriftlicher Äußerung an
primäre Instanzen wie z.B. Autor/Verlag/Lektor sowie an sekundäre Instanzen wie z.B. Medien. Andererseits ist der Blick eines Literaten in besonderem
Maße sensibilisiert für soziale Konstellationen, spezifische Leseerwartungen
bestimmter gesellschaftlicher Segmente und diesbezügliche Einstellungen
moralischer sowie politischer Art. Daraus resultiert in seiner Vorstellung ein
typisiertes Gesamtbild eines Lesers bzw. ein Spektrum an Lesertypen. Daher ist
es angebracht, der Gemeinschaft aller Leser die Macht zuzusprechen, Schreib-
Oliver Fritsch
prozesse indirekt zu beeinflussen; auch wenn direkte Rückkanalfunktionen – wie
z.B. digitale Medien dies ermöglichen – nicht existieren. Pointiert formuliert:
Literatur besitzt eine Vorform von Interaktivität.
Die Beziehung zwischen dem Leser und der Erzählstimme hat viele Dimensionen. Verfügt der Erzähler über die relevanten Informationen? Gibt er sie preis?
Sind seine Ausführungen verlässlich? Gibt er zu, dass er bloß Vermutungen
anstellt? Ist sein Urteil aufrichtig, vorschnell, besserwisserisch? Diese Fragen sind
dem Kenner des Werks von Uwe Johnson spätestens seit der Veröffentlichung
von „Berliner Stadtbahn (veraltet)“ explizit bekannt, doch beschäftigt sich der
Leser eines jeden Erzähltextes zwangsläufig mit diesen. Der Autor wiederum
weiß um diesen die Wirkung seines Romans beeinflussenden Faktor. Er trifft
ein „Abkommen zur Arbeitsteilung“ mit seiner Leserschaft, indem er seinen
Erzähler gezielt mit für die Rezeption relevanten verschiedenen Attributen
sowie einem speziellen Handlungs- und Erzählrepertoire ausstattet. In diesem
Sinne ist der Erzähler zunächst eine Romanfigur, deren Eigenschaften jedoch
speziell auf die Rezeption und die Leserrolle einzuwirken vermögen.
Es wird im Folgenden erstens darum gehen, die Leserrolle in Thorsten Krämers
„Neue Musik aus Japan“ (999) in ausgewählten Aspekten zu untersuchen und
zweitens einen diesbezüglichen Vergleich1 mit Uwe Johnson anzustreben. Dazu
wird exemplarisch „Zwei Ansichten“ herangezogen, da in diesem Text dem
Leser sowohl eine besonders aktive als auch eine ganz spezielle Rolle zukommt
(vgl. Gansel/Fritsch 998). Drittens geht es darum, aus diesen Erkenntnissen
für beide Autoren poetologische Schlussfolgerungen abzuleiten. An dieser
Stelle werden deren den eigenen Schreibprozess reflektierende Aussagen Berücksichtigung finden, die im Falle Krämers aus einer Email-Korrespondenz
hervorgingen. Was rechtfertigt einen Vergleich eines jungen deutschen Autors
der Jahrtausendwende mit Uwe Johnson?
Krämers Roman ist von den Feuilletons im Allgemeinen positiv aufgenommen
worden. Man begrüßte eine „große Zurücknahme des Autors zugunsten der
Geschichten, die er schreibt, und der Personen, die er beschreibt“ (Wiedermann
999: 3). Insbesondere im Vergleich mit anderen (Pop-)Autoren seiner Generation schätzt man das leise Urteil, das dem Leser den vorschnellen Kommentar
zum Geschehen erspart. Vielmehr scheint es dezidiert dessen Aufgabe zu sein,
Einschätzungen und Bewertungen zu übernehmen. Genau hierin könnte eine
geistige Verwandtschaft mit Uwe Johnson bestehen. Schließlich legte dieser
„stets größten Wert auf das unabhängige Urteil seiner Leser“ (Neumann 995: 6).
170
Von der Gewilltheit des Zuhörers
Immer wieder hat er seiner Leserschaft Respekt gezollt und mit Formulierungen
wie der folgenden eine Art idealen Leser seiner Texte gezeichnet:
„Ich würde es vorziehen, daß der Leser, also der Adressat der Geschichte,
sich zu ihr selbst verhält, sie selbst überdenkt und dann zu seinen eigenen
Schlüssen kommt“ (G 204).
Eine Poetik hat Johnson zwar zeitlebens von sich gewiesen (dargestellt in
Neumann: 995)2. Vermutlich befürchtete er, auf ein bestimmtes literarisches
Programm festgelegt und reduziert zu werden. In der Tat unterscheiden sich
seine Romane auf der formalen Ebene der Erzähltechnik3 beträchtlich. „Mutmassungen über Jakob“ stellt andere Aufgaben und Ansprüche an den Leser
als „Jahrestage“, diese wiederum andere als „Das dritte Buch über Achim“.
Dennoch lässt sich die Werkkonstante feststellen, „daß es Uwe Johnson sich
und seinen Lesern nie leicht gemacht hat“ (Neumann 995: 55). Er hatte immer
den mündigen Leser vor Augen.
I
Intermediale Verwandtschaften
In den zwanzig chronologisch ungeordneten Episoden in „Neue Musik aus
Japan“ passiert selten etwas Dramatisches, zumindest wird auf einen dramatischen Tonfall verzichtet. Der Leser erfährt von zumeist alltäglichem
Geschehen, das ihm aus zwischenmenschlichem Bereich bekannt ist: Liebe,
Ehe, Freundschaft, Begegnung, Trauer, Eifersucht etc. Katastrophe und Glück
lauern zwar in den meisten Fällen, doch bricht das Geschehen an Stellen ab,
an denen der Leser Kritisches oder Spannendes4 erwartet. „Eine Geschichte
nach der anderen weist lustvoll darauf hin, dass sie längst nicht alles preisgibt“
(Oehlen 999:9).
Zudem gibt es keine konventionelle Figurenkonstellation, denn Protagonisten
sucht der Leser vergebens. Stattdessen tauchen Figuren unter und später in
anderen Lebenskontexten und Kontinenten unerwartet wieder auf. Da der
Erzähler zudem auf Psychologisierungen und Kommentierungen weitgehend
verzichtet, entstehen Deutungslücken. Diese zu füllen, sind dem Leser zunächst
die nicht weiter erläuterten Querverbindungen einzelner Episoden behilflich.
Da erkennt er den Japaner Haruki, der einmal als kleiner Junge aufgeregt und
am heimischen Bildschirm das Endspiel der Fußballweltmeisterschaft 974
verfolgt, nunmehr als erwachsenen Menschen wieder. In der ersten Situation
171
Oliver Fritsch
wurde seine Verehrung für die deutsche Fußballnationalmannschaft um Beckenbauer, Müller und Maier dargestellt, während er in der zweiten mittlerweile in Deutschland und mit einer Deutschen zusammen lebt. Ob zwischen
der Vorliebe für den deutschen Fußball und dem späteren Wohnortwechsel
eine Kausalität besteht, wird nicht einmal angedeutet. Der aufmerksame Leser
hingegen erkennt diese Textklammer und wird zu eigenen Schlüssen kommen
und sich Kontexte erschließen.
Krämers Erzähler lässt ihm dabei freie Hand. Nicht einmal die von ihm gewählte
chronologische Struktur muss dabei eingehalten werden. Die Episoden lassen
sich in beliebiger Reihenfolge lesen, was nebenbei bei Johnson undenkbar wäre.
Das literarische Programm ist im Text formuliert:
„Das erste, was Anne an Haruki gefallen hatte, waren seine Ausführungen über die
CD gewesen. Er hatte behauptet, mit der CD sei das Konzept der Seite, welches
früher zum Beispiel für die sogenannten Konzeptalben ganz eminent wichtig
gewesen sei, entfallen, und außerdem die Linearität insgesamt zerbrochen worden,
da nun jeder Hörer selbst über die Reihenfolge der Stücke entscheiden oder
sogar einer Shuffle-Funktion die Verantwortung überlassen könne“ (NMaJ 09).
Dieser Aufbau lässt sich auf den Text übertragen, den man folglich verstehen
kann, ohne auf Reihenfolge und Chronologie Rücksicht zu nehmen. Den intermedialen Aspekt kann man ausdehnen. Der Roman verfügt nämlich nicht
nur über den Rezeptionscharakter einer CD, sondern man kann ihn zudem
als Vorstufe eines Hypertexts betrachten. Insbesondere die „Scharnierwörter“
(Krämer) – Namen, Orte, Requisiten etc. – kann man als Links verstehen, da
sie eine quer verweisende Funktion innehaben. Zwar macht Krämer darauf
aufmerksam, dass
„diese Verbindungen ganz anders gelagert [sind] als bei einer Website. Links
sind ja immer noch physisch, wenn man so will, d.h. es gibt auf einer Seite
ein Wort oder eine Textstelle, die als Link hervorgehoben ist“.
Jedoch entstehen solche Links in „Neue Musik aus Japan“ idealiter im „Kopf
des Lesers“ (Krämer) und eröffnen somit dort einen imaginären Hyperraum5.
Dadurch
„ist er [der Text, O.F.] aber vielleicht sogar noch hypertextiger […] Und das ist
auch der Vorteil des Buches gegenüber dem Internet: Zwischen zwei Buchdeckeln ist ein Text bereits als Entität organisiert, während im Internet solche
Einheiten erst konstruiert werden müssen – was ja gerade das Problem ist,
das viele User am Anfang damit haben. Das Buch also als eine Art Internet
für Anfänger“.
172
Von der Gewilltheit des Zuhörers
II
Alter ego des Lesers
Die Geschichte Bernhards verteilt sich folgerichtig ebenso auf mehrere von
einander entfernte Episoden. Eine schildert seinen geradezu manisch eifersüchtigen Racheakt, als er – sich verschmäht wähnend – seiner Verehrten nachts
die Autoreifen zersticht. Jedoch hält sich der Erzähler mit Kommentaren über
diese unbesonnene Tat zurück. Statt dessen wird diese Figur aus der Innensicht
eingeführt. Mit einer sentenzenhaften Fragestellung beginnt das Kapitel:
„Wie oft denkt man wirklich an die anderen? Natürlich weiß man theoretisch,
wie viel Menschen außer einem selbst auf der Welt leben, aber wann ist einem
dieser Sachverhalt schon einmal wirklich bewusst?“ (NMaJ 60)
Dieser Frage folgt eine Darstellung der Innenwelt des zu diesem Zeitpunkt
noch kindlichen Bernhards, in der er sich lebensfremde Vorstellungen macht.
Diese der eigentlichen Episode vorgeschalteten Bemerkungen enden mit dem
Erzählerkommentar:
„Wir erwähnen dies alles, um bestimmte Verhaltensweisen Bernhards, wie
sie im weiteren erzählt werden, etwas weniger dunkel erscheinen zu lassen“
(NMaJ 60).
Diese sanfte Einführung einer Figur, die sich im weiteren Verlauf als Sonderling
erweist, zeugt einerseits von Nachsicht des Erzählers. Andererseits ist nunmehr
der Leser gefordert, sich ein Urteil über das Verhalten Bernhards zu bilden.
Ist seine Straftat (Sachbeschädigung von Autoreifen) nachzuvollziehen, gar zu
rechtfertigen? Liegt sein merkwürdiges Verhalten im Anschluss daran, als er
in der U-Bahn laut Selbstgespräche führt, und seine offensichtliche Außenseiterrolle in gesellschaftlichen Bedingungen oder biografischen Einflüssen
begründet oder ist er schlicht der Eigenbrötler, für den man ihn auf den ersten
Blick hält? Das sind Fragen, die der Text insgesamt gar nicht beantworten will,
vermutlich weil sie von einer einzelnen Person (dem Erzähler) alleine gar nicht
zu beantworten sind. Der Leser mag sich an dieser Stelle noch auf der Seite
von Bernhard wähnen. In einer späteren Episode jedoch wird der Vorgang aus
anderer Perspektive betrachtet. Dort berichtet eine namenlose Freundin der
Journalistin Anne schlicht, dass ein „krankhaft eifersüchtiger Freund alle vier
Reifen ihres Autos aufgeschlitzt hatte“ (NMaJ 09) und sie deswegen nicht wie
geplant nach Hamburg fahren könne. Der Erzähler stellt durch diese zusätzliche
Stimme seine eigene, vorsichtige Einschätzung in Frage, wodurch er Glaubwürdigkeit erreicht. Der Leser kann demnach an dieser Textstelle erkennen, dass
173
Oliver Fritsch
er es mit jemandem zu tun hat, der ausgewogen zu urteilen vermag. In einer
späteren Episode erleben wir Bernhard in einer selbstreflexiven Phase:
„Ich habe vor ein paar Jahren einen, na ja, so eine Art Nervenzusammenbruch
gehabt, weil ich mich in diese fixe Idee verrannt hatte, daß man irgendwie
verstehen müßte, was alles gleichzeitig geschieht, die verschiedenen Lebensläufe von Menschen, die zufällig gerade in einem Bus sitzen und so weiter, er
machte eine wegwerfende Handbewegung“ (NMaJ 30).
Selbst als er von dieser Wahnvorstellung und seinem „Denkzwang“ durch eine
Therapie befreit wird, interessieren ihn solche Fragestellungen noch immer. Als
ihn seine Freundin Idil nach einem Unfall im Krankenhaus besucht, erlöst diese
den Bettnachbarn Sven aus einer Art Amnesie, was wiederum Bernhard zu
euphorischen Theoretisierungen über die Weltzusammenhänge provoziert:
„Welch eine Überraschung! rief er aus, was für ein Zufall! Er richtete sich
im Bett auf. Ich habe nämlich ein Faible für solche Zusammenhänge … Tatsächlich nämlich, fuhr Bernhard fort, ereignen sich solche Zufälle weitaus
häufiger, als man selbst annehmen könnte. Im Grunde kennt jeder selber so
eine Geschichte, oder sogar mehrere, wo man auf einmal feststellt, daß der
Freund eines Freundes einen Bekannten hat, der eben die Person ist, die man
gerade kennengelernt hat“ (NMaJ 29f.).
Nach Krämers Aussagen wird gerade in der Figur Bernhard ein alter ego des
Lesers wahrnehmbar. In den Augen beider haben nicht alle Begebenheiten
eine konkrete Bedeutung, weder im Text noch im Leben.
„Bernhard verhält sich zur Welt so wie der Leser zu einer Erzählung: Er sucht
in allem nach Bedeutung“.
Hierin unterscheiden sich Krämer und Johnson. Bei Johnson ist der Leser
aufgefordert, eigene Ursachenzuschreibungen zu tätigen, der Geschichte damit
eine Kohärenz zu verleihen. Krämers Leser soll hingegen erkennen, dass er
Opfer seiner eigenen vorschnellen Bereitschaft werden kann, Deutungslücken
zu schließen. Bei Krämer ist der Mangel an Kausalität literarisches Programm,
es regiert der Zufall.
174
Von der Gewilltheit des Zuhörers
III
Zufall
Die einzelnen Episoden in Krämers Roman sind nahezu ausnahmslos durch
Zufälle oder zufällige Begegnungen miteinander verbunden. Im Subtext
ergeben sich jedoch flüchtige Verbindungen und Kontexte, die vom Leser
geschlossen bzw. offen gelassen werden können. An der Oberfläche existiert
ein inkohärenter Text, der sich bei genauerem Hinsehen als Netzwerk der
Figuren und Situationen entpuppt. Auf diese Weise erreicht Krämer in seinem Roman Lebensechtheit. Wiedermann (999) verweist auf eine Affinität
zur soziologischen Theorie der „six degrees of separation“. Danach ist jeder
Mensch mit jedem anderen beliebigen Menschen auf der Welt höchstens sechs
Verbindungspersonen getrennt.
„Mit dieser [Theorie] wird ein Kontingenzrahmen erstellt, der zwar objektivwissenschaftlich die Wahrscheinlichkeit bestimmter Zufälle erklärt, aber Raum
lässt für ‚tatsächliche‘ Zufälle“ (Krämer).
Bei Krämer soll der Leser erkennen, dass Zusammenhänge und Kausalitäten
vom Erzähler oder einer anderen Figur oft unbedacht hergeleitet werden. Dem
Faktor Zufall kommt dabei eine tragende Bedeutung zu, wobei im Roman selbst
verschiedene Aspekte diesem Thema abgerungen werden.
„Bernhard zum Beispiel ist jemand, der aus den Zufällen ein System herauszulesen versucht […] Er scheitert daran, daß ihm dies in der richtigen Welt
nicht gelingt“ (Krämer).
Der Erzähler belässt es bei dem Zufall und verweist implizit auf den substanziellen Unterschied zwischen Kausalität und Korrelation. Diese programmatische
Auffassung erinnert wiederum an Johnsons Ausführungen über die möglichen
literarischen Fehlerquellen:
„Er [der Verfasser, O.F.] kann für allgemein halten, was einzeln ist. Er kann
typisch nennen, was privat ist. Er kann ein Gesetz erkennen wollen, wo nur
eine statistische Häufung erscheint“ (BS 4).
Der menschlichen Neigung, manche Ereignisse den bestimmenden Fügungen
des Schicksals zuzuschreiben, ist sich auch Krämer bzw. sein Erzähler bewusst.
Als Jürgens Vater an dem Tag starb, an dem sein Sohn einen Plattenladen
eröffnete, ist die Mutter fast dazu geneigt, Jürgen den Tod ihres Mannes vorzuwerfen.
175
Oliver Fritsch
„Es gibt immer zwei Arten von Zufällen, solche, die wir auch tatsächlich für
Zufall halten, und solche, mit deren angeblicher Zufälligkeit wir uns nicht
abfinden können, oder wollen“ (NMaJ 93).
Die vom Schicksal getroffene Mutter sieht Zusammenhänge, die es offensichtlich
nicht geben kann. Hingegen ist der Erzähler davor gefeit, die Kausalitätszuschreibung seiner Figuren mitzutragen. Allerdings gesteht er diesen Raum für
ihre Deutungsbereitschaft und damit eine gleichberechtigte Haltung zu. Von
dieser Art Kooperation war auch Johnson überzeugt:
„Der Verfasser weiß die Geschichte von außen, und man könnte sagen, daß der
Verfasser mit den Personen zusammen arbeitet, wo Gelegenheiten auftreten,
in denen sie es eigentlich besser wissen müßten, weil sie zu dem fraglichen
Gegenstand ein intimeres Verhältnis haben, oder: wenn sie dabei waren, dann
sollen sie es eben sagen. Das ist eine Verteilung der Kompetenzen“ (G 9).
IV
Doing Damage
Wie Forschung und Kritik mit Vorliebe betonen, zeugen Uwe Johnsons Texte
von „epischer Gerechtigkeit“. Beispielsweise relativierte die Vielstimmigkeit in
„Mutmassungen über Jakob“ jeglichen im Text aufkommenden Kommentar über
den Tod des Protagonisten Jakob. Selbst dem Stasi-Spitzel Rohlfs widerfuhr
Fairness im Umgang, obwohl man in ihm mühelos einen Schuldigen hätte
ausmachen können.
„Zwei Ansichten“ behandelt vordergründig die Liebesgeschichte zwischen
einem westdeutschen Fotojournalisten – genannt B. – und der Ostberliner
Krankenschwester D. Ihre ohnehin flüchtige Beziehung wird durch den Bau
der Berliner Mauer nahezu verunmöglicht. Dennoch entschließt sich B., D. zur
Flucht zu verhelfen. Als sie sich im Westen wiedersehen, erkennen sie beide,
dass ihre Liebe verschwunden ist, sofern sie jemals vorhanden war.
Für die vorliegende Analyse jedoch ist die Erzählweise des Textes relevant.
Hier agiert nämlich ein Erzähler, der bezüglich westdeutschem Leben und
Personen Klischees produziert, welche er auf die Hauptfigur überträgt. Vom
ersten Moment an6 desavouiert sich die erzählende Stimme durch geradezu
unsachliche Äußerungen über die Hauptfigur B. Die diesbezüglichen Kommentare sind von Antipathie und Abneigung geprägt. Der aufmerksame Leser
ist daher sofort misstrauisch gegenüber dem unseriösen Erzähler, zumal dieser
176
Von der Gewilltheit des Zuhörers
mit der Protagonistin D. völlig konträr widerfährt. Ihre Lebensverhältnisse und
Handlungen werden neutral bis affirmativ geschildert. Der Leser hat demnach
eine aktive Rolle einzunehmen und die Gänsefüßchen des Gesagten bzw. des
Folgenden zu erkennen.
Der Erzähler der „Zwei Ansichten“ verhält sich, gemessen an Johnsons poetologischem Anspruch, derart widersprüchlich, dass man von einer gewollten
Irritation seitens des Autors auszugehen hat. Es scheint ein Spiel mit den Erwartungen des Lesers zu sein, welches gewohnte Rezeptionsmuster aufbrechen
sowie Hellhörigkeit und Skepsis provozieren soll. Dazu war es Johnson Recht,
„Fehler“ in seinen Text einzubauen, wobei freilich immer die Gefahr besteht,
dass diese Strategie nicht durchschaut wird und dem Text Mängel nachgesagt
werden (dargestellt in Gansel/Fritsch 998).
Auch Thorsten Krämer hat in Bezug auf seine Schreibweise von so genannten
Fehlern gesprochen, die er in seinen Text integriert hat:
„Ich [versuche], eine einzige Ebene zu schaffen, die in sich selbst so viele
‚Fehler‘ hat, dass auch ein ‚naiver‘ Leser merkt, dass da etwas nicht stimmt.
Der Regisseur Hal Hartley hat für seine Art, Filme zu machen, den Ausdruck
‚Doing Damage‘ verwendet. Das scheint mir ein sehr gutes Bild. In „Neue
Musik aus Japan“ halten die einzelnen Kapitel eine Spannung. Sie sind nicht
wirklich Kurzgeschichten, aber auch keine „richtigen“ Romankapitel. Die
Aktivität des Lesers liegt daher nicht darin, Chiffren zu entziffern und mit
einer bestimmten Bildung in Beziehung zu setzen, sondern aus dem Text
heraus die Besonderheiten des Textes zu erkennen. Diese Besonderheiten
sollen wie kleine Widerhaken wirken, die einen dazu bringen, den Text
vielleicht noch einmal zu lesen oder sich zu fragen, was man überhaupt von
einem Text erwartet“.
Gefragt ist der kritische Leser, der sein Rezeptionsverhalten reflektiert und in
die Lektüre integriert, der zudem erkennt, dass er jemandem vor sich hat, der
sich selbst und seinen Erzählvorgang nicht allzu ernst und wichtig nimmt.
Zunächst noch scheinen Krämers Titelgebung sowie die Praktik, jeder Episode einen Songtitel aktueller japanischer Elektronikmusik vorzuschalten,
entscheidende Sinngebung des Erzählers zu sein. Diese vermeintliche Hilfestellung bricht jedoch im Laufe der Lektüre zusammen. Im Anfangskapitel
bietet Arnd der offenbar verehrten Anne an, ihr seine Expertenkenntnisse
in Sachen asiatischer Kultur unter Beweis zu stellen, indem er ihr ein Tape
mit japanischer Musik zusammenstellen will. In Kapitel 3 kommt dieses mit
177
Oliver Fritsch
der Post bei ihr an, und Annes japanischer Freund Haruki entlarvt den selbst
ernannten Experten Arnd als Dilettanten, der von japanischer Musik nichts
versteht. Daraufhin landet die Kassette im Mülleimer. Der Titel „Neue Musik
aus Japan“ ist folglich Ausdruck erzählerischer Selbstironie. Spätestens an
dieser Textstelle erkennt der Leser den doppelten Boden des Romans, dessen
vordergründige Sinngebung sich selbst untergräbt.
Auch in „Zwei Ansichten“ verrät der Erzähler die Ursachen seines zulasten
der männlichen Hauptfigur parteiischen Standpunkts erst am Ende der Erzählung, als der junge Herr B. von einem Bus gerammt und verletzt wird; für
den Erzähler kein Anlass zu Mitleid.
„An der Straßenkreuzung oberhalb der Kneipe lief er bei rotem Licht gegen ein
langes übermächtiges Tier von Autobus, und hatte es um die Kurve schwenken
sehen. Im Fallen war er ganz zufrieden. Der großgewachsene junge Mann in
dem schwarzen Anzug, dem der Hemdkragen hing wie aufgerissen, taumelte
so haltlos, schlug mit dem Kopf in den Rinnstein, als habe er sich fallen lassen.
Ich habe ihn aufheben helfen und bin mit dem heulenden Krankenwagen zur
Unfallstation gefahren“ (ZA 239).
Hierbei handelt es sich nicht zuletzt wegen des Wechsels in die Ich-Form
zweifellos um eine Schlüsselstelle des Textes7, die Leserrolle betreffend. Der
von Anfang an misstrauische Leser sieht sich in seinem Urteil bestätigt, während der „naive“ Leser die Wertung des Geschehens und der Figuren (im
Speziellen: B.) überdenken muss. Der Protagonist sieht sich nämlich einer
Art Diffamierung ausgesetzt, die vom Leser nicht übernommen werden soll,
sondern hinterfragt und durchschaut. Der Prozess der Klischeebildung und
der vorschnellen Verurteilung eines Menschen in der öffentlichen Meinung
wird somit transparent gemacht.
In diesem Verfahren ist eine eindeutige Parallele zu Krämer zu erkennen. Der
Leser wird irritiert:
– in den „Zwei Ansichten“ nahezu durch den ganzen Text, überdeutlich am
Textende, insgesamt eher laut,
– in „Neue Musik aus Japan“ allmählich und gelegentlich, insgesamt eher leise.
178
Von der Gewilltheit des Zuhörers
Fazit
Was vereint nun die beiden zunächst so unterschiedlich anmutenden Autoren,
was trennt sie?
Die Gemeinsamkeiten: zunächst die Anerkennung des Lesers als autonomes
Wesen. Diese findet ihren Niederschlag nicht nur in poetologischen Aussagen,
sondern speziell in der Erzählweise ihrer Texte. Es ist eine Erzählinstanz am
Werk, die sich ihrer Fehlbarkeit bewusst ist und daraus auch kein Hehl macht.
Zudem erreichen beide Autoren – sei es durch gelegentliche Selbstironie, sei
es durch Verdeutlichung im Sprachgebrauch – Transparenz im Erzählvorgang. Der mündige Leser ist deswegen bereit, mit ihnen eine „Arbeitsteilung“
einzugehen.
Des weiteren sind in beiden behandelten Texten bewusst „Fehler“ eingebaut.
Ein Leser, der diese erkennt und als gewollte Irritationen identifiziert, wird
jede Deutung des Geschehens bezweifeln. Demnach soll durch diese Methode
eine kritische Lesehaltung initiiert werden, die Revisionen des Geschriebenen
oder des Gedeuteten ermöglicht. Daher ist es auf der einen Seite die Aufgabe
des Lesers, Deutungslücken selbstständig zu schließen sowie vorschnelle
Urteile als solche zu erfassen. Auf der anderen Seite – und damit wird der
zentrale Unterschied zwischen Krämer und Johnson angesprochen – soll er
zugleich seine eigene Les- und Denkart in Frage stellen. Die kritische Haltung
gegenüber vorschnellen Wahrheiten und Wahrheitsdeutungen bezieht sich bei
Krämer – und in dieser Betonung liegt eine deutliche Differenz zu Johnson
– nicht zuletzt auf den Leser selbst. Dieser soll Distanz nicht nur zu Erzähler
und Figuren bzw. deren Wahrheiten aufbauen. Vielmehr sollen seine eigene
Deutungswilligkeit und -fähigkeit auf den Prüfstand.
Wenn der Verfasser einen mündigen Leser fordert, muss er zwangsläufig mit
den Konsequenzen leben. Hat dieser sich mit seiner Rolle angefreundet, können
ihm nicht ohne weiteres Urteile aufgedrängt werden. Auf rezeptive Vorgaben
sensibilisiert, lässt er sich nicht mehr täuschen. Aber nun besteht für den Autor
offenbar die Gefahr, dass die Kommunikation zwischen ihm und dem Leser
erschwert wird. Folgende Textstelle in Krämers Roman macht das deutlich:
„Ein Beispiel ist eine schwierige Angelegenheit. Benutzt man es als Beleg für
eine allgemeine Behauptung, mag ein Zuhörer einwenden, es sei aber nicht
immer so wie in diesem einen speziellen Fall. Hebt man andererseits gerade
auf seine Besonderheit ab, wird der Zuhörer behaupten, es sei gerade keine
[kursiv im Original, O.F.] Ausnahme, im Gegenteil, so etwas passiere ständig.
179
Oliver Fritsch
Am Ende hängt vielleicht tatsächlich alles von der Gewilltheit des Zuhörers
ab, dem Anlaß des Gesprächs“ (NMaJ 25).
Hier registriert der Leser zwar anerkennend, dass er und sein Wille ernst genommen und seine Einwände und Bedenken durch den Erzähler eingeschätzt
und in den Erzählvorgang integriert werden. Gleichzeitig wird er jedoch an
seine eigene Störrigkeit erinnert. Dieses Zitat relativiert wiederum Krämers
Wunschvorstellung vom kritischen Leser. Sein Erzähler geht an dieser Stelle einen
Schritt weiter. Den kritischen – ja, überkritischen – Leser vor Augen, scheint er
diesem zuzurufen, er möge es mit seiner aktiven Rolle nicht übertreiben.
Abschluss
Der neuen deutschen Erzählergeneration – wenn man denn bereits von einer
Generation reden möchte – wird meist vorgehalten, ihre Texte seien oberflächlich, ihre Stimmen marktschreierisch sowie ihr Gesichtsfeld egozentrisch.
Wenn dem so sein sollte, ist Thorsten Krämers Roman „Neue Musik aus Japan“
als Gegengewicht anzusehen. Unter der Oberfläche eines zunächst aussageschwachen seichten Textes verbirgt sich erstens eine Geschichte der sozialen
Beziehungen zwischen Menschen, die erst bei näherem Hinsehen erkennbar
wird. Zweitens versteckt sich darin ein Idealbild von einem Leser, welcher
alle Stimmen – auch seine eigene – hinterfragt. Damit liegt Thorsten Krämer
ebenfalls außerhalb des allgemein ausgemachten Trends. Statt dessen scheint
es bei ihm durchaus angebracht, von einer Verwandtschaft mit Uwe Johnson
zu sprechen. Seine zukünftigen Texte werden es zeigen.
180
Von der Gewilltheit des Zuhörers
Literatur
NMaJ – Thorsten Krämer (999). Neue Musik aus Japan. Köln: Kiepenheuer &
Witsch.
BS
– Uwe Johnson (975). Berliner Stadtbahn (veraltet). In: ders.: Berliner Sachen.
Frankfurt/M.: Suhrkamp: 7-2.
BU
– Uwe Johnson (980). Begleitumstände. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
G
– Uwe Johnson (988). „Ich überlege mir die Geschichte…“ Uwe Johnson im
Gespräch. Hrsg. v. Eberhard Fahlke. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
ZA
– Uwe Johnson (965). Zwei Ansichten. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Carsten Gansel & Oliver Fritsch (998): „Klischeebildung oder Wahrheitsfindung“?
oder vom „Platz des Erzählers“. Zum Konstruktionsprinzip von Uwe Johnsons Zwei
Ansichten. In: Internationales Uwe-Johnson-Forum 7. Hrsg. v. Carsten Gansel u. Nicolai
Riedel. Peter Lang: Frankfurt/M. u.a.: S. 63-06.
Katja Leuchtenberger (2000): Ein Erzähler beginnt zu erzählen. Die Exposition von
„Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 953“. In: Internationales Uwe-Johnson-Forum 8.
Hrsg. v. Carsten Gansel u. Nicolai Riedel. Peter Lang: Frankfurt/M. u.a.: S. 59-82.
Uwe Neumann (995): „Er stellt seine Fallen öffentlich aus“. Zu Uwe Johnsons poetologischen Äußerungen. In: Uwe Johnson zwischen Vormoderne und Postmoderne.
Internationales Uwe-Johnson-Symposium. Hrsg. v. Carsten Gansel u. Nicolai Riedel.
Berlin; New York: de Gruyter: 55-80.
Roberto Simanowski (2002): Interfictions. Vom Schreiben im Netz. Frankfurt/M.:
Suhrkamp.
Volker Wiedermann (999): Literatur der Uneitelkeit. taz v. 2.8.: 3.
Anmerkungen
1
2
Figurenzeichnung, politisches Engagement oder Stoffauswahl beider unterschiedlich renommierter Autoren differieren beträchtlich und werden in diesem Beitrag
vernachlässigt.
Neumann verweist allerdings darauf, dass Johnson über eine aus literaturwissenschaftlicher Sichtweise verengte Vorstellung von Poetik verfügt habe, worunter
dieser ein „Inventar narrativer Gestaltungsmittel“ (58) verstanden habe. Von einer
impliziten Poetik könne man bei Johnson sehr wohl sprechen. Außerdem finde sich
in seinem Erzählwerk eine breite Palette an diesbezüglichen Aussagemodi „von offenen Absichtserklärungen bis hin zu versteckten, teils kryptischen verschlüsselten
Anspielungen“ (59).
181
Oliver Fritsch
3
4
5
6
7
182
Daraus resultierte nicht selten Kritik und Desinteresse. Vermutlich ist der Vorwurf
mangelnder Formqualitäten der Grund, warum „Zwei Ansichten“ bis heute ein
Schattendasein in der Johnson-Forschung führt (dargestellt in Gansel & Fritsch
998).
Des Autors selbstreflexive Retrospektive spielt auf die vermeintliche Langeweile seines
Romans an. „Im Nachhinein ist mir an „Neue Musik aus Japan“ etwas aufgefallen,
was mich an einen Satz Marcel Beyers erinnert hat: Es gebe Bücher, die man die
ganze Lektüre hindurch eigentlich langweilig finde, die aber als Ganzes plötzlich
eine ganz andere Wirkung erzeugen. Das habe ich mir lange nicht vorstellen können,
bis mir irgendwann der Gedanke kam, dass „Neue Musik aus Japan“ vielleicht sogar
in diese Kategorie gehört.“
Mit Simanowski (2002) lässt sich die „Hypertextualität“ von „Neue Musik aus Japan“
als „medienuntypisches Merkmal experimenteller Grenzüberschreitungen des einen
Mediums in Richtung des anderen beschreiben“ (8).
Zur Bedeutung von Romananfängen siehe u.a. Leuchtenberger (2000).
Die Schlüsselstellentheorie bestätigt Uwe Johnson (vgl. BU 324f.).
Sieglinde Geisel
„Fremd in der Fremde“,
Uwe Johnson und Christoph D. Brumme
Zwei Autoren, die vieles trennt und die vieles verbindet
Uwe Johnsons Roman „Mutmassungen über Jakob“ spielt in der DDR der fünfziger Jahre. Er wurde auch in dieser Zeit in der DDR geschrieben von einem,
der dann wegen dieses Romans in den anderen Teil Deutschlands „umzog“,
wie er es nannte. Jakob habe sich nach dem Krieg eingelassen „mit dem was
wir also nennen wollen Hoffnung des Neuanfangs“, sagt Gesine über Jakob.
Eine der vielen Mutmaßungen, aus denen dieser Roman besteht. In seinem
Zentrum steht einer, der stumm bleiben muss, denn er ist bereits tot. Wie bei
einem Krimi erfährt man dies gleich im ersten Satz des Romans: „Aber Jakob
ist immer quer über die Gleise gegangen.“ In einer Montage aus Gesprächsfetzen und Monologen bietet der Roman ein Kaleidoskop aus Erinnerungen
an einen Menschen, der allen fremd geblieben ist: Die Jugendfreundin Gesine,
deren Vater Heinrich Cresspahl, Gesines späterer Freund Jonas Blach und
schliesslich Herr Rohlfs, der mit Jakob Abs geheimdienstlich zu tun hat. „Jedem sein eigener Blutkreislauf “, war eine Maxime von Jakob. Er wusste, „dass
die Lebensumstände nichts zu tun haben mit einer Person“. Er lebte aus sich
selbst heraus, und er ruhte in sich. Bedächtig, wohlwollend, reglos, verlässlich
– so haben ihn die Anderen in Erinnerung.
Als Uwe Johnson den Roman „Mutmassungen über Jakob“ schrieb, war Christoph Brumme noch nicht geboren. Zwischen den Entstehungsjahren der beiden
Romane liegen nicht zufällig fast vierzig Jahre, denn die beiden Bücher künden
je vom Anfang und vom Ende der DDR. Uwe Johnson hatte vom westlichen
Literaturbetrieb sehr schnell sein Etikett erhalten: „Schriftsteller der beiden
Deutschland“. Wenn ich Christoph Brumme ein Etikett verleihen dürfte, dann
wäre es dieses: „DDR-Autor nach dem Ende der DDR“. Erst nach dem Ende der
DDR habe er den Roman „Nichts als das“ schreiben können, sagt Brumme. Das
Verschwinden der DDR machte es ihm möglich, diese eigenartige Lebenswelt
als literarischen Stoff zu behandeln, sie auf ihre ethnologische Substanz hin
Sieglinde Geisel
zu untersuchen, sie zu erzählen als etwas, was war. Das verschwundene Land
wird zu einem Raum des Allgemeingültigen.
„Nichts als das“ ist die Geschichte einer Kindheit. No ist eines von fünf Geschwistern. Die Familie lebt in einem Dorf namens Elend, im Grenzgebiet am
Brocken. Das Kind sieht im Bücherschrank der Eltern ein Buch stehen mit dem
Titel „Die Elenden“, und lange hatte No geglaubt, bei dem Roman von Victor
Hugo handle sich um die Dorfchronik. Viel später erst lernt er, dass das Wort
vom mittelhochdeutschen ellende (enellende) kommt und „im Ausland, in der
Fremde“ heisst. „Ein Elender war ein Fremdling und ein Fremdling war ein
Elender“, so will es Brummes sprachliche Logik.
Die Zeit, in der No aufwächst, hat mit der politischen Lebenswelt des Jakob
Abs nichts mehr zu tun. Es gibt in Brummes Roman keine Zeitangabe, aber die
fünfziger Jahre sind längst vergangen. Niemand mehr denkt an die „Hoffnung
des Neuanfangs“. Niemand mehr reibt sich auf für diesen Staat, niemand reibt
sich ernstlich am Staat. Die Konflikte haben sich aus der Sphäre des Politischen
ins Private verlagert: Die Familie ist der Ort, an dem eine Kontrolle herrscht,
wo erzogen wird und wo man sich Fluchten ausdenkt. Die Familie ist ein Ort,
an dem eine andere Art der Fremdheit entsteht, als wir es beim frühen Johnson
beschrieben finden.
Mutmassungen über Jakob
„Wenn er seine Antworten nur nicht so verschwiegen hätte. Wenn wir ihm
nur die richtigen Fragen gestellt hätten.“ Dies sagt Gesine, der Mensch, der
ihn am besten gekannt hat oder der ihm zumindest am nächsten war, früher
einmal. Aber eigentlich war Jakob schon immer ein Fremder, denn er ist mit
seiner Mutter als Kriegsflüchtling aus Pommern nach Jerichow gekommen,
„allerdings war er immer nur besuchsweise angekommen“, meint Cresspahl,
in dessen Haus die beiden unterkommen und bleiben. Jakob ist im Ausland
– im Elend – ein Fremdling geblieben.
Er ist denen, die ihn kannten, so fremd, dass sie nur über ihn mutmaßen
können – eine besonders ungesicherte Form der Erzählung. Bedächtig, wohlwollend, reglos, verlässlich – darüberhinaus scheint es nichts zu geben, was
ihn charakterisieren könnte. Herr Rohlfs, der Geheimdienstoffizier, erinnert
sich, wie er Jakob in einem Speisewagen zum ersten Mal beobachtete. „Wenn
184
Johnson und Brumme – zwei Autoren, die vieles trennt, und die vieles verbindet
ich mich recht erinnere, begann ich sogleich nach Worten zu suchen. Das
Nächste war dass ich ein Wort nach dem anderen wegwarf, sie meinten sämtlich Eigenschaften, dieser schien keine zu haben.“ Jakob ist einer der vielen
Männer ohne Eigenschaften, die sich in der Literaturgeschichte finden. Dafür
gibt es Gründe. „Und dass einer sich immer aussuchen kann was er will und
verantworten mag: das nennst du Freiheit?“, fragte Jakob einmal. Die Freiheit
des Individualismus ist eine Freiheit, die ihm nichts bedeutet.
Jakob ist ein Mann ohne Eigenschaften, denn er ist eingebunden in eine
Gesellschaft. Der Gedanke, der Anspruch, dass einer sein Leben selbst
bestimmen könnte, ist ihm fremd, – „denn die Zeit („die Sseitn“) war und
waren so gefügt dass einer wenig Gewalt hatte über sein eigenes Leben und
aufkommen musste für was er nicht angefangen hatte.“ Dies nun ist das
Gegenteil von der Freiheit des Einzelnen. Jakob hatte als Flüchtling erfahren,
wie wenig Gewalt einer über sein eigenes Leben hat, und diese Einsicht prägt
auch sein Verhältnis gegenüber der Deutschen Demokratischen Republik,
deren Namen er immer vollständig ausspricht. Er ist kein politischer Mensch,
aber er teilt die „Hoffnung des Neuanfangs“, fühlt sich verantwortlich für
das größere Ganze.
Sein Beruf ist eine Metapher für seine Einsamkeit und seine Vernetzung. Jakob
arbeitet als Dispatcher bei der Eisenbahn, „hinter verschlossener Tür im Turm“.
Er ist verantwortlich dafür, dass die Züge fahren, dass sie ankommen, dass
ein System funktioniert. Dispatcher ist ein Beruf, in dem „jede Entscheidung
eine Frage des staatlichen Gewissens war“. Jakob tastet sich an der Schnittlinie
entlang zwischen dem, was er selbst für gut befindet und dem, was von ihm
erwartet wird. Der Aufstand in Ungarn 956 ist eine Prüfung seiner Haltung.
Ein anderer Dispatcher hat den Zug mit den sowjetischen Truppen blockiert.
Für Jakob jedoch wäre dies undenkbar. Er diskutiert darüber mit Jonas Blach,
dem Freund von Gesine, einem politischen Menschen. Es ist das einzige Mal
im Roman, dass wir Jakob erregt sehen (oder genauer: dass sich jemand daran
erinnert, ihn erregt gesehen zu haben).
„Morgen früh wären sie doch da gewesen. Ich red nicht davon dass wir alle
drei – Ehrenpussel sagt er, er ist ja wohl rein beleidigt! und du und ich verhaftet wären. Ich mein: es wär als hätten wir verrückt gespielt aus lauter Lust
und Drolligkeit.“
Jonas darauf: „Und ihr hättet euch benommen nach eurer Meinung.“ „Das
mein ich mit Verrücktspielen“ sagte Jakob lächelnd.
185
Sieglinde Geisel
Damit erklärt Jakob indirekt seine Haltung gegenüber dem Staat und gegenüber
sich selbst. Jakob ist pflichtbewusst – und sein Staat nimmt ihn in die Pflicht.
Die Staatsmacht ist nicht anonym, sondern sie heisst Herr Rohlfs. Herr Rohlfs
diskutiert, erklärt die Vorzüge des Sozialismus; er möchte Jakob nahe kommen,
denn er will ihn für sich gewinnen. Die Staatsmacht hatte „ein persönliches
Verhältnis zu Jakob und wollte bestehen vor ihm in der Achtung und mochte
freundlich gegrüsst werden von ihm“. Die Autorität will geliebt werden, aber sie
lässt dem Umworbenen keine Freiheit. Das Auto, in dem der Geheimdienstagent
sitzt, ist eine ständige Drohung. „Also jedes Mal, wenn Jakob einen dunkelroten
schmutzigen bespritzten Pobjeda über die Strasse kriechen sah … erinnerte er
Herrn Rohlfs und wusste dass seine Hand über ihm war zu allen Zeiten.“
Nichts als das
Diese Spannung zwischen dem Staat und dem Individuum, zwischen Herrn
Rohlfs und Jakob, wird im Roman von Christoph Brumme in die Familie
verlegt, zwischen Vater und Sohn.
„Wenn No wo hinguckte, hatte er das Gefühl, woanders hinzugucken.“ So
beginnt der Roman „Nichts als das“. No ist sich selber fremd – bereits in diesem ersten Satz. Er hört Stimmen, ein Sprechen, das er nicht versteht. „Etwas
sprach in ihm, ohne dass er sprach. Bemerkte er das Sprechen, hörte es auf
zu sprechen (…). Vergaß er, darauf zu achten, was in ihm gesprochen wurde,
sprach es wieder.“ Eine Spaltung, die das Ergebnis der Art und Weise ist, in
welcher sich der Vater des Sohns bemächtigt.
Nos Vater ist Lehrer und also nicht nur privat ein Erzieher, sondern auch von
Beruf. Es hat mich bei der Lektüre erstaunt, wie sehr sich die Vorträge von
Herrn Rohlfs und die Predigten von Nos Vater ähneln. Beiden geht es nicht
um blinden Zwang, sondern um etwas Raffinierteres, um eine wirksamere
Form der Repression – „sein Vater half ihm, vernünftig zu sein“, heisst es bei
Brumme, und No bleibt nichts übrig, als die fremde Vernunft anzunehmen.
Der Vater überwacht ihn, spioniert ihm nach, und er diskutiert mit ihm. Er
will ihn überzeugen, denn er will geachtet, geliebt werden von dem, der ihm
ausgeliefert ist. Der Sohn soll selbst einsehen, warum die Tracht Prügel nötig
ist. Der Vater kennt die Gesetze der verinnerlichten Strafe: Je härter die kleinen
Vergehen bestraft werden, desto größer sind die Schuldgefühle, wenn auf die
großen Vergehen keine Strafe folgt.
186
Johnson und Brumme – zwei Autoren, die vieles trennt, und die vieles verbindet
Das Spiel von Macht und Ohnmacht hat sich in die Familie verlagert, weil die
politische Macht des Staatsapparats ihre Wirkung verloren hat. Von der „Hoffnung des Neuanfangs“ ist in dieser DDR, die im Roman übrigens nie genannt
wird, längst keine Rede mehr. „Politik verdirbt den Charakter, das war schon
immer so und das wird auch immer so sein“, sagt Nos Vater, der „einen Rochus
auf die Kommunisten“ hat. Der Staat ist ihm fremd geworden. Er glaubt die
Parolen nicht mehr. Aber gleichzeitig ist ihm der Staat noch nicht fern genug,
als dass es ihn kalt ließe. Für No dagegen ist der Staat nur noch als Staffage
existent. Durch geschicktes Fragen bringt er etwa den Lehrer Kappel dazu,
den Staat zu loben, damit dieser darüber das Unterrichten vergisst. Glauben
oder nicht glauben, lügen oder nicht lügen – diese Kategorien greifen in Nos
Generation schon längst nicht mehr. Und nicht nur, weil No ein Kind ist: Es
gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass sich daran etwas ändern wird, wenn er
erwachsen ist.
In welche Ferne das Politische in der Romanwelt von Brumme gerückt ist,
zeigt sich am Verhältnis zur Teilung Deutschlands. Jakobs Freundin Gesine
war schon lange in den Westen geflüchtet, seine Mutter seit kurzem, und Jakob
besucht sie beide kurz vor seinem Tod. Er entzieht sich auch im Westen und
entscheidet sich fürs Fremdsein. Gesine berichtet, dass er sich das westliche
Hotelpersonal vom Leibe hielt, „indem er sich einfach auf nichts einliess, indem er sich nämlich nicht «benahm» (…) Wirklich war sein Kopfschütteln
so verlegen um Verständnis (…), dass er einem doch ganz fremd vorkommen
konnte: befremdet.“ Jakob tut etwas, was keiner versteht: Er fährt zurück in
den Staat, der ihn sich an die Brust nehmen will.
No erlebt die Grenze nicht als eine politische Tatsache, sondern als eine
aufregende Gefahrenzone, einen Tabubereich, den man nicht betreten darf.
No wächst im Grenzgebiet auf, und er weiss wie alle Kinder, dass man einen
Grenzverletzer anzeigen muss, und einmal geschieht es, dass Vater und Sohn
auf einer Wanderung verhaftet werden. Nachts träumt No oft davon, wie er die
Grenze zu überwinden versucht, es gelingt ihm aber nicht. Auch hier haben wir
es mit einer Übersetzung des Politischen ins Private zu tun: Die Welt, die No
im Traum verlassen möchte, ist nicht der Staat DDR, sondern das Gefängnis
seiner Familie.
„Jedem sein eigener Blutkreislauf“, konnte Jakob sagen. Er war fremd, aber er war
sich nicht selber fremd, so dürfen wir mutmaßen. Nach allen Berichten ruhte
er in sich selbst, bis zur Eigenschaftslosigkeit. Er entzog sich jedem, der ihm zu
187
Sieglinde Geisel
nahe trat, und wir erfahren bereits auf der ersten Seite, dass er sich endgültig
allen Zumutungen entzogen hatte – ob sein Tod auf den Gleisen nun ein Unfall oder Selbstmord war. Nos Seele dagegen hat keinen eigenen Blutkreislauf,
er ist seinem Vater auf eine andere, viel intimere Art ausgeliefert. No hat ein
ambivalentes Verhältnis zu seinem Vater: Er fürchtet ihn, und er bewundert ihn.
Je tiefer die Ambivalenz, desto stärker die Bindung, so lautet eine Erkenntnis
der Psychologie. In der Familie gibt es für ein Kind keinen Rückzug, es kann
sich nicht abgrenzen. Die Fremdheit richtet sich deshalb auch nach innen. Wie
sein Name es andeutet, ist er ein Kind ohne Eigenschaften – das heisst, die
Eigenschaften, die er hat, sind eine Reaktion auf seine Lebensumstände: No ist
verschlagen, verlegen und verträumt. No ruht nicht in sich selbst, er ist nervös,
und er ist stolz darauf, nervös zu sein. „Als Nervöser würde er vielleicht an den
Südpol mitgenommen werden, da wollte er schon lange hin.“
No kann sich nicht in sich selbst zurückziehen wie der unnahbare, breite Jakob
mit dem schweren Kopf. Er erprobt kleine Fluchten: In Phantasiewelten, in
Bücher, ins Schachspiel, wenn er sich vorstellt, er sei ein Springer. Am Ende
des Romans tut No das, was Jakob nie eingefallen wäre: „Verrücktspielen“. No
entzieht sich durch scheinheiligen Übergehorsam, durch Ironie. Der Schluss
des Romans ist, so ein Hinweis des Autors selbst, wie ein Scherzo in der Oper:
Die Konflikte werden noch einmal durchgespielt, aber im Scherz. No tut naiv,
„als wär er neu hier“, wie sein Vater es formuliert.
Ästhetik
Wie erzählen die beiden Autoren ihre Geschichte? Wie setzen sie die Fremdheit
ihrer Hauptfigur um?
Beide Romane haben nichts von dem, was man als Handlung bezeichnen
könnte. Vorkommnisse werden geschildert, Zustände, kleine Geschichten,
Erinnerungen, man „hört“ Gespräche (und Selbstgespräche). Der Zeitraum
von „Mutmassungen über Jakob“ umfasst die letzten Wochen in Jakobs Leben,
allerdings im Rückblick und durchsetzt mit Erinnerungen an frühere Zeiten.
Der Roman „Nichts als das“ beginnt, als No lesen lernt und endet, als No alt
genug ist, das Beil gegen seinen Vater zu erheben. Gleichzeitig erkennt No auch
die eigentliche Bedeutung des Worts Elend – er ist fähig, über die Sprache und
damit über seine eigene Lage zu reflektieren.
188
Johnson und Brumme – zwei Autoren, die vieles trennt, und die vieles verbindet
In beiden Romanen bleibt der Leser als Beobachter außerhalb der Geschichte.
Es sind „kalte“ Erzählungen, allerdings entsteht die Kälte jeweils durch sehr
verschiedene Mittel.
Bei Johnson verhindert die komplizierte Struktur, dass man sich beim Lesen
gehen lässt. Man muss sozusagen „Buch führen“ über die einzelnen Ebenen,
nicht immer weiss man zweifelsfrei, wer spricht. Auch die Sprache ist kompliziert,
manchmal scheint es, als sollten die Worte den Leser auf Distanz halten. Bei
Brumme ist es genau das Gegenteil. Man kann das Buch in einem Zug lesen
und dem Text ohne Schwierigkeiten folgen, auch die Sprache ist einfach, bis
hin zu elementarsten Stilmitteln (wie etwa der Wiederholung). Hier sind es
die fehlenden Worte, die Distanz schaffen, wie etwa in der Küchenszene:
„Sein Vater klopfte gegen die Scheibe, und da wusste No, dass sein Vater in die
Küche guckte, und meist wusste er auch, was er gerade falsch gemacht hatte. Er
stellte das ab, was er gerade falsch gemacht hatte, so hieß das: Stell das ab!
Das tat er ganz von allein, da brauchte sein Vater nichts zu sagen.
Manchmal klopfte sein Vater nicht gegen die Scheibe, sondern riss die Küchentür auf, stand plötzlich in der Küche, und dann setzte es was. Dann war
es zu spät, was abzustellen.
Danach war Ruhe.“
Hier tut sich ein Abgrund auf, weil der Autor die Katastrophe zu verschweigen
weiß. Auf den ersten Blick kommt der Text so zutraulich daher – und dann diese
Abgründe des Nicht-Gesagten. Sie sind es, die dem Text seine Bedrohlichkeit
verleihen. Auch der Roman „Mutmassungen über Jakob“ ist von Bedrohung
durchdrungen. Johnson jedoch schafft die Atmosphäre der Unbehaustheit und
des Unheils mit Worten, mit der Beschreibung von Dunkelheit und Kälte: „an
der Haltestelle der Strassenbahn standen Menschen unbehaglich in der windigen Feuchte vor den berussten öden Mauern in der Dämmerung“ – derartige
Beschreibungen durchziehen den Roman, selbst dann wenn doch einmal die
Sonne scheint: „Als am frühen Vormittag der Himmel sich senkte unter dem
Weiss und die stille Feuchte den kälter strahlenden Spalt Sonnenschein stetig
auffrass“.
Das Wichtigste jedoch: Sowohl Jakob Abs als auch No sind Figuren, die keine
Einfühlung zulassen. Sie bleiben uns beim Lesen fremd. Die Erzählperspektive
ist dafür ganz entscheidend – aber jeweils auf eine andere Art. Über Jakob
Abs erfahren wir nur aus der wechselnden Perspektive der Erinnerungen, aus
189
Sieglinde Geisel
Gesprächsfetzen. Wir erfahren, was andere über ihn denken oder genauer, was
sie mutmaßen, denn schon sie, unsere Gewährsleute, waren ihm fremd, sie
können sich nicht in ihn hinein versetzen, sie sehen ihn in ihrer Erinnerung
nur von außen. Von No erfahren wir viel mehr als von Jakob (zum Beispiel
die Träume – es würde der Perspektive bei Johnson widersprechen, uns an
Jakobs Träumen teilhaben zu lassen). Nos Geschichte wird nicht in der IchForm erzählt, und doch ist es, als sei No selbst der Erzähler. Er spricht von sich
selbst in der dritten Person – die gespenstische Erzählperspektive von einem,
der sich selber fremd ist.
Die Geschichte von No – also der private Konflikt – erscheint uns auf den
ersten Blick brutaler, verhängnisvoller. Und doch stimmt das vielleicht nicht,
denn sie endet nicht mit dem Tod, wie die politische Version bei Jakob. No
kann der Autorität seines Vaters entkommen, schlicht indem er älter wird. Die
Hand des Vaters ist nicht „über ihm zu allen Zeiten“, wie bei Jakob die Hand
des Staats, der von seinem Bürger geliebt werden wollte.
190
Jana Hensel
Das Land, in dem ich war.
Zur Konstruktion von Kindheit
in Texten junger ostdeutscher Autoren nach 19891
Für Denis Scheck
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich hoffe, Sie erlauben mir bitte, Ihnen gleich zu Anfang eine Frage zu stellen,
ohne mich für indiskret zu halten: Haben Sie sich während der Lektüre der
„Jahrestage“ eigentlich gefragt, auf welcher Seite Sie stehen?
Haben Sie dieser Gesine Cresspahl aus Jerichow bei ihren endlosen Monologen
über ein Land, in dem sie schon lange nicht mehr war und über Menschen, die
schon lange nicht mehr lebten, nicht auch mit einer Mischung aus Faszination
und Neid, aber insgeheim doch misstrauisch von der Seite zugesehen? Und haben
Sie dieser altklugen Marie unbeschwertere Kindertage ohne ständige Diskussionen über amerikanische Waffenlieferungen und den Vietnamkrieg gewünscht
und die strenge Erziehung für eine ziemliche Übertreibung gehalten?
Eine Übertreibung vor allem dann, wenn so ein Mann wie Professor Erichson,
mit in Dokumenten einsehbarer und damit verbuchter Herkunft aus Wendisch-Burg, in den besten Jahren, mit einem Einkommen, das ausreicht für
drei und einem gefestigten Standing in der New Yorker Gesellschaft, wenn
so ein Mann also um ihre Hand anhielte, Sie aber wie Gesine verneinen und
auf einen Toten verweisen müßten: „Wenn ich mich auf einen Menschen
einlasse, könnte sein Tod mich schmerzen. Ich will diesen Schmerz nicht
noch einmal.“
Oder halten Sie es eher mit D.E.? Bewundern Sie ihn für seine kühle Unterspanntheit, die selbst diesen mißglückten Heiratsantrag noch zu einer schönen
Frage werden läßt: „Wenn wir einander eines Tages träfen, vielleicht sollten
wir dann zusammen sein.“ Die Sache mit der Hochzeit ist eine der wenigen,
die offen bleiben wird für ihn, denn die kann er nicht allein entscheiden. Al-
Jana Hensel
les andere hat er geklärt für sich, und es stört ihn nicht, daß er, vor vierzehn
Jahren nun schon, sein Heimatland verlassen hat. Die Sache Sozialismus
hält er für eine, über die sich diskutieren läßt, „eine theoretische Übung, das
Spiel mit einer nicht verfügbaren Alternative, davon die Wurzeln sind nicht
biographisch“ Seine Erinnerungen liegen in einem Archiv, Personen sind
dort wie Städte geführt. „Er hat sie umgesetzt in Wissen“ und zu Todesfällen
gemacht. Mit denen lebt man nicht mehr.
Die Ereignisse gleichen sich: In diesem Herbst nun ist es zwölf Jahre her, daß
wir die DDR verlassen haben, und auch wenn wir nicht in New York leben,
sondern noch immer auf demselben Boden stehen, müssen wir uns erinnernd
einen Weg zu den Orten bahnen, an denen wir gelebt und zu den Menschen,
die wir gekannt haben, denn die wenigsten von ihnen leben noch.
Zwölf Jahre sind eine lange Zeit. Vor allem dann, wenn man damals erst
fünfzehn, sechzehn oder achtzehn war und etwas verschwand, von dem man
noch gar nicht wußte, ob man für oder gegen es sein sollte und dass es das
Land war, das man als seine Heimat anzunehmen nie bezweifelt hätte. Wie
Gesine und D.E. müssen wir uns wieder entscheiden, ob wir die DDR zu einem
Wendisch-Burg werden lassen, das wir nur dem Namen nach kennen und das
wir allenfalls noch auf der Landkarte finden würden. Oder ob wir ein Jerichow wollen, da kennen wir die Menschen, da sind wir oft durch die Straßen
gelaufen und da wissen wir, wer die braunen, weißen und roten Fahnen aus
den Fenstern gehängt hat.
Und plötzlich, nach diesen zwölf Jahren, nimmt man mit Erstaunen zur
Kenntnis, dass die DDR-Literatur, die man kurz nach dem Ende des kleineren deutschen Staates flugs zu Grabe getragen hat, so etwas wie eine kleine
Stiefschwester – vielleicht mit derselben Mutter und einem anderen Vater?
– bekommen hat.
Julia Schoch, Antje Strubel, Falko Hennig und Jochen Schmidt sind dabei
nicht die Enkel von Christa Wolf und Hermann Kant. In die Schule des
sozialistischen Realismus haben sie nur kurz hineingeschaut und sich dafür
länger in den Universitäten von Paris und Moskau, New York und Bukarest
herumgetrieben. Sie haben Vladimir Sorokin, Michel Houellebecq, Bret Easton
Ellis und Durs Grünbein mehr gelesen als Elke Erb oder Uwe Kolbe.
In den letzten beiden Jahren nun sind ihre Bücher erschienen, und sie erzählen
überraschenderweise alle von der DDR. Überraschend wenn man bedenkt,
192
Das Land, in dem ich war. Zur Konstruktion von Kindheit …
dass diese Autoren im Schnitt zehn Jahre jünger sind als Grünbein oder
Ingo Schulze, und während sich zumindest der erst Genannte längst neuen
Themen zuwendet, diese Autoren über etwas schreiben, über das sie, als die
Wende sie einholte, als literarisches Material ebenso wenig sicher verfügten
wie über eine kenntnisreiche kulturelle Identität.
Sie sind vielmehr alle in einem Land aufgewachsen, das für sie frühzeitig
aufhörte zu existieren und dessen Verschwinden eine Zäsur in ihrem Leben
markierte, die das Ende der Kindheit oder der Jugend bedeutete und über
das sie nicht selbst entschieden haben. Die Unfreiwilligkeit dieses Bruches
hat nicht nur individuelle Entwicklungsprozesse unterbrochen oder abrupt
beendet, sondern sie hat auch, nicht von heute auf morgen, aber doch schneller als irgend etwas sonst, die vertraute Welt zerschlagen und alle Dinge,
Alltagsgegenstände, ideologische Sinnstrategien und private Konstellationen verschwinden oder empfindlich zu einer Veränderung drängen lassen.
Jochen Schmidt beschreibt das, wenn er seinen Held sagen läßt, dass man
„keine Chance hat, es richtig zu machen, weil das eigene Leben nur noch ein
Aufguß des wirklichen Lebens ist, das man früher einmal zu leben vorgehabt
hatte.“ Oder Antje Strubel, die in ihrem zweiten Roman „Unter Schnee“ der
ostdeutschen Protagonistin in den Mund legt:
„Die einzige Verantwortung, die nicht illusorisch ist, ist die für sich selbst. Was
sollte es sonst bedeuten, dass man vor ein paar Jahren verantwortlich war für
Dinge, die es heute nicht mehr gibt?“
Diese Autoren begeben sich nun, zehn Jahre danach und in der Mitte ihrer
Jugend angekommen, auf die Suche nach dem, was ihre Geschichte hätte
sein können und bemerken, je näher sie sich an die Vitrinen ihrer Kindheit
beugen, desto weiter entfernen sich die Dinge, die unter dem Glas wie Tote
liegen, von ihnen und entschwinden ihrem Blick.
Die junge ostdeutsche Literatur ist eine Herkunftsliteratur, die sich nicht
lange der naiven Hoffnung hingegeben hat, eine verlorene oder beschädigte
Identität wieder zu einem neuen Ganzen zusammenzusetzen, sondern die,
wie aller Realismus, erzählen will, wie es gewesen sein könnte. Es ist eine
Literatur der Mutmaßungen, Rekonstruktionen, Projektionen und Inszenierungen. Und so verwundert es wenig, dass Antje Strubel in ihrem dritten,
noch unfertigen Roman mit dem Arbeitstitel „Tupolew 34“ gleich zu Beginn
klar macht: „Glauben Sie nicht, dass ich mir das ausgedacht habe. Glauben
sie noch weniger, dass es so passiert ist.“
193
Jana Hensel
Und dass die ebenfalls 974 geborene Julia Schoch, die soeben mit dem Band
„Der Körper des Salamanders“ debütierte, in der ersten Zeile der Erzählung
„Der Exot“ gesteht: „Lassen sie mich ehrlich sein: Ich bin unaufrichtig.“ Sie
schildert die Reise einer jungen Journalistin an den Ort ihrer Kindheit:
„Wie das Photo im Hauseingang hatte ich auch diese Fahrt geplant … Ich
hatte auch für die nötige Atmosphäre sorgen wollen, wie sie sich für solch
eine Fahrt in meinen Augen gehörte. Aber nun kam ich zurück und mußte
feststellen, daß Romantik sich nicht recht einstellen wollte, obwohl ich sie
doch inszeniert hatte. Denn ich hatte extra den Weg über die Dörfer genommen, die Dörfer mit dem Katzenkopfpflaster, um mich einzustimmen, über
Liepgarten, Ferdinandshof und Torgelow Holl war ich gekommen, da, wo
früher die Wiesen trockengelegt worden waren, freiwillig und ohne Lohn, als
achtes Weltwunder, damit es vorwärtsging, und wo jetzt Schilder blinkten von
kleinen Handwerksbetrieben, Tankstellen und Reiterhöfen. Die Huckelsteine
waren noch da, auch die schöne Alleenkurve, durch die ich zurückkam wie
in eine Heimat…“
Diese Mutmaßungen und Inszenierungen kann man nun für altbekannte
Fiktionalisierungssignale eines Erzähler-Ichs halten, die eine Handlung vom
realen Autor distanzieren sollen, und das sind sie sicherlich auch. Möglich
schiene es mir hier aber auch, an Roland Barthes und an seinen Begriff der
vraisemblance zu erinnern. Da die Historie in den Vitrinen verschwunden ist,
rekonstruieren diese Autoren ihre Geschichte als das Wahrscheinliche, als
das wahr Scheinende, die dann als einzig anzunehmende Wirklichkeit eine
tatsächlich passierte Biographie ersetzt und somit den Begriff der Fiktion
vollständig auflöst. Barthes schafft damit einen Begriff des Authentischen,
der wahrhaftig ist und dennoch falsch schillert und den Jochen Schmidt in
einem Interview mit den Worten bestätigt: „Seltsamerweise entgleitet einem
das Thema. Ich weiß gar nicht mehr genau, was damals war, obwohl ich es
achtzehn Jahre erlebt habe.“
Aber weil hier das Leben auf die Kunst trifft und diese Autoren eine ganz
reale Verlusterfahrung ästhetisch auszubeuten versuchen, ringt die junge
ostdeutsche Literatur um einen Begriff von Authentizität, der wieder wahrhaftig genommen werden darf und der im Kleid eines sich ernst nehmenden
Realismus auftritt. Ihre literarischen Suchgänge in das letzte Jahrzehnt des
verschollenen Staates setzen sich dabei einerseits zusammen aus den individuellen Rekonstruktionsversuchen der Autoren und werden andererseits
determiniert von den Realitätserwartungen eines Publikums, das sich in
194
Das Land, in dem ich war. Zur Konstruktion von Kindheit …
zehn Jahren eines wiedervereinigten Deutschlands sein eigenes Bild von der
DDR gemacht hat.
Authentizität und Herkunft werden dabei zu zwei Dingen, die sich nur scheinbar berühren. Wie sehr das Authentische als farbig schillernde Wahrheit
angestrebt wird, zeigt Julia Schoch in der bereits erwähnten Erzählung „Der
Exot“. Noch auf der Reise in das Dorf, aus dem die junge Frau stammt, hallen
in ihr die Worte des Chefs nach:
„‚Schreiben Sie‘ hatte der Redakteur gesagt. ‚Aufrichtige Geschichten brauchen
wir. Authentizität. Sie mit dem Bruch im Leben, Sie werden ja wohl kein
Problem damit haben‘.“
Je mehr die Journalistin jedoch diese Authentizität anstrebt, um so mehr muß
sie ihre Herkunft als Biographie neu aufbauen und fiktionalisieren, um sie
wieder erzählbar zu machen:
„Über allem lag also mein eigener Fingerzeig; die Dinge schon herausgesucht
und eingeplant, wie schwer sie wiegen, wie sie mir erscheinen würden, längst
gesagt, notiert. Es gab keinen Unterschied zwischen Leben und Plan.“
Unter dieser Maske der Fiktionalisierung soll Herkunft nicht nur neu aufgebaut werden, sondern sie soll gleichsam produziert werden. Es soll ein sozialer
Raum für die Generation geschaffen werden, die zwitterhaft lebt mit so etwas
wie einer DDR-Identität im westdeutschen Sozialisationsgewand. Es ist dabei
keine unwichtige Fußnote, daß alle hier genannten Autoren ihre Bücher in
westdeutschen Verlagshäusern publizieren, was Jochen Schmidt mit der Angst
begründet, ansonsten „vermutlich gar nicht wahrgenommen“ zu werden. Er
bestätigt damit, was längst klar ist: Die neue ostdeutsche Herkunftssuche der
heute 25- bis 30jährigen Autoren braucht den westdeutschen Resonanzraum
wie die Luft zum Atmen.
Die genannte Autorengeneration produziert Herkunft nun auf verschiedene
Weise. Falko Hennig und Jochen Schmidt setzen Kindheitsbeschreibungen in
das Zentrum ihrer Texte und siedeln ihre Geschichten damit stärker als Julia
Schoch und Antje Strubel vor 989 an. Beide betreten ihre Kinderwelt wie ein
fremdes Terrarium, sie gehen darin umher wie in einem Museum, nehmen
entschwundene Dinge wieder in die Hand und betrachten sie Stück für Stück
unverstellt neu. So auch der jugendliche Ich-Erzähler in Falko Hennigs vor
zwei Jahren erschienenem Romandebüt „Alles nur geklaut“, der alles einsteckt,
was nicht niet- und nagelfest ist. Im Kindergarten ‚Clara Zetkin‘ ist es die Spielzeugeisenbahn, die mitgeht, in der Schule wird das Chemie- und Biovorberei195
Jana Hensel
tungszimmer geplündert oder die Delikatabteilung der Kaufhalle wird um ihre
Bestände an Nordhäuser Doppelkorn und anderen Genußmitteln gebracht. Das
geht so weiter, bis die Kindheit schließlich vorbei ist und die Mauer fällt.
Mit einer solchen, im Diebischen höchst affirmativen Gedächtnisfeier des
Faktischen fängt Falko Hennig ganz natürlich und wie unter der Hand Leben ein, und ihm ist völlig egal, ob er dabei ideologisch korrekt spricht oder
nicht. Die Dinge haben ihren Wert sowieso längst verloren und können nun,
erzählerisch als Fetische eines kindlich Klaustrophoben, zu Reliquien einer
anderen Welt, einer Kinderwelt, werden.
In dieser Kinderwelt existiert kein Unrechtsstaat, es stören keine Menschenrechtsverletzungen, und es liegt keine ideologische Folie über den Ereignissen.
Der private Parlandoton dieses Textes, der den Gegenständen und Reliquien
geruchsintensiv und sprachlich naiv dicht auf den Fersen ist, baut die alltäglichen Dinge wieder auf, entschlackt sie ideologisch und gibt ihnen ihr
Geheimnis wieder. Die treuesten Helfer sind Falko Hennig dabei, wie sollte
es anders sein, die Worte. Nur sind es tote Worte wie Milchdienst, Barkas,
Mätschis, Gruppenrat oder Trainingslager, Trabant oder Deli, die Funkfeuern
gleich den Piloten die Einflugschneise erkennen lassen.
Ähnlich verfährt Jochen Schmidt in seinem in den Berliner Seiten der FAZ
erschienenen Text „Im Lager der Spezialisten“. Die Fabel der Kurzerzählung
– ein Junge muß als Mitglied eines Mathematikerzirkels in ein Ferienlager
fahren und wird dort ein französischen Mädchen küssen – gerät zum Teppich
einer ebensolchen Erinnerungszelebration wie in Hennigs Roman:
„Ich hatte keine Lust, mit dem Russen, dem Zahnlosen und mit noch begabteren als diesen beiden in ein Bungalowlager zu fahren. Aber dann hörte ich,
dass im zentralen Pionierlager ‚Kalinin‘, in dem die MSG im Sommer ihr
Bezirksspezialistenlager durchführte, auch Franzosen gesehen worden seien.
Das war natürlich ein unschlagbarer Anreiz, dem ich mit 4 nicht widerstehen konnte. Auf einer vorbereitenden Elternversammlung wurden die Eltern
aufgefordert, den Kindern Materialien für eine im Lager anzufertigende
Wandzeitung zum Thema ‚UdSSR-DDR-Raumfahrt‘ mitzugeben. Natürlich
begann meine Mutter zu Hause gleich zu wühlen und förderte haufenweise
Fanartikel von Sigmund Jähn und Waleri Bykowski zutage. Meine Eltern waren
immer Feuer und Flamme, wenn ich etwas basteln sollte. Die meisten meiner
jährlichen Exponate in der ‚Galerie der Freundschaft‘ und bei der ‚Messe der
Meister von Morgen‘ hatte in Wirklichkeit mein Vater zusammengeklebt.“
196
Das Land, in dem ich war. Zur Konstruktion von Kindheit …
Was daherkommt wie eine postrealsozialistische Alltagssatire, ist ein eng
geknüpfter Teppich aus verschwundenen Namen, Institutionen, Kinderhelden und Alltagsgegenständen, der einem Gebet gleich, kollektives Erinnern
evozieren will und dafür alle möglich erscheinenden, realsozialistischen
Erfahrungen auf die Haut eines als Abgesandter der Generation sprechenden
Protagonisten bannt. Hier vollführt Jochen Schmidt den Schulterschluß mit
der gleichaltrigen westdeutschen Autorengeneration des Pop.
Dieses affirmative Oberflächenparlando darf nun auch für den Osten in
seinem besten Sinne populär sein, weil es die Unterkomplexität individueller
Erlebnisebenen für ein literarisches Sprechen zumindest legitimiert. Es soll
ein warmes, kuscheliges Wir-Gefühl erzeugen, in dem die Erinnerungen des
Autors die Erinnerungen des Lesers stimulieren. Und vielleicht mehr noch als
in der alten BRD könnten die Erinnerungen des Autors zu den tatsächlichen
Erinnerungen des Lesers werden, da wir die Phase des Bekanntmachens mit
westdeutscher Wirklichkeit nach zehn Jahren langsam beginnen abzuschließen und nun in eine Phase des Wiedererinnerns an die DDR eintreten und in
dieser letzten Dekade viele Erinnerungen verloren gingen. Dieser ideologiefreie
Sprechgestus hat dabei nach Jochen Schmidt den Vorteil,
„daß man im Osten jetzt bestimmte Themen, die man vorher nicht beachtete,
als literaturwürdig erkannt hat. Man war immer nach Westen orientiert, über
einen Pioniernachmittag hätte man nicht geschrieben, denn das war graue
Wirklichkeit und wird jetzt erst interessant.“
Auch wenn weiterhin natürlich zu fragen bleibt, ob damit die ostdeutsche
Vorwenderealität eine ihr adäquate Sprache tatsächlich gefunden hat und ob
fürs erste, wie gewöhnlich, der Westen imitiert wird.
Erinnerung zelebriert auch Antje Strubel in ihrem in Klagenfurt ausgezeichneten Kapitel aus „Tupolew 34“, wenn sie den bundesdeutschen Geliebten von
Katja Siems, genannt Perkoff, wie folgt vorstellt:
„Perkoff trägt diesmal einen hellen Anzug und einen Schlips, der ihm nicht
steht. Er gehört zu einer vierköpfigen Delegation aus Dortmund, mit der
bewiesen ist, daß das kapitalistische Ausland die heimische Produktion
keineswegs ignoriert, sondern die internationalen Wirtschaftsbeziehungen
entgegen feindlicher Propaganda glänzend florieren. Für die Delegation endet
die Führung durch den sozialistischen Produktionsbetrieb mit holländischer
Butter, belgischem Käse und einheimischen Export-Sekt.“
197
Jana Hensel
Auch wenn das ein ebenso reich mit toten Worten ornamentiertes Sprechen ist,
Pop ist es nicht. Antje Strubel legt diesen DDR-Sound als einen Erinnerungsteppich unter die Geschichte, die sie eigentlich erzählen will, und die will mehr
sein als das reine Erinnern. Ihre Protagonistin Katja Siems wird im Laufe des
Romans, genauer gesagt am 30. August 978, eine polnische Linienmaschine
mithilfe einer Spielzeugpistole zur Landung in Berlin Tempelhof zwingen und
sich selbst und einen Kollegen auf den deutschen Boden bringen, der unter
amerikanischem Recht steht. Dieses verlangt bekanntermaßen Geschworene,
doch die waren nicht erwünscht und so agierte das über Nacht gegründete
„United States Judge for Berlin“ in einem rechtsfreien Raum und überhaupt
nur für diesen einen Fall.
Die Heldin Katja Siems, von der Antje Strubel sagt, sie läge dem Alter nach
irgendwo zwischen ihr und ihrer Mutter, wird begleitet von einem allwissenden
Erzähler, der einer Stimme aus dem Off ähnlich, die Fäden dieses Romans
führt. Es sind Sätze wie „Die Geschichte ist es möglicherweise nicht. Sie läßt
sich nicht wahrheitsgetreu erzählen“ oder „Ein verschwundenes Land, wie das,
in dem Katja geboren wurde, liegt sehr weit zurück“ die ein um das andere
Mal die Anwesenheit einer Gegenwart bescheinigen. Diese Erzählstimme
kommt aus dem Heute, aus der Realität des wiedervereinigten Deutschland
und stellt ein Verbindungsglied zur DDR her. So wie Gesine in den Gesprächen mit Marie setzt diese die zu erzählende Geschichte zusammen, verleiht
den Personen Identitäten und läßt dabei den Autor nicht in den Verdacht
geraten, hier Erfahrungen zu benutzen, die als lediglich autobiographische
ausgelegt werden könnten, sondern bereitet im Gegenteil alles vor, daß die
Fiktionalisierung beginnen kann, Herkunft zu produzieren.
Antje Strubel duckt sich dabei unter keinem gesellschaftlichen Diskurs hindurch, wenn sie Sätze schreibt wie: „In den sonnigsten Tagen des Juni 953
schien das Ende einer Welt angebrochen zu sein, die gerade erst begonnen hatte.
Aber Siems [der Vater Katjas] sah die Wand über seiner Wohnzimmercouch“
holt sie nicht nur ein medial verbranntes, weil historisches Ereignis unschuldig in den Text, sondern thematisiert ebenso Fragen nach gesellschaftlichem
Opportunismus und historischer Schuld. Was dieses auf unterschiedlichen
Zeitebenen angelegte Sprechen möglich macht, zeigen die folgenden Sätze:
„Ich erinnere mich daran, was mein Vater einmal gesagt hat, wird Katja in
der Vorverhandlung sagen. Er sagte, wie schwierig es ist, wenn das eigene
Kind plötzlich politisch was in der Hand hat, mit dem es die eigenen Eltern
198
Das Land, in dem ich war. Zur Konstruktion von Kindheit …
verurteilen darf “ in denen Ereignisse wie 989 und ein daraus resultierender
Generationskonflikt bereits als Hallraum funktionieren, obwohl sie selbst
noch gar nicht statthatten.
Am 29. November 967 bespricht Gesine zum ersten Mal ein Tonband für
Marie, „für wenn ich tot bin“, und sagt: „… ich trau dem nicht was ich weiß,
weil es sich nicht immer in meinem Gedächtnis gezeigt hat, dann unverhofft
als Einfall auftritt. Vielleicht macht das Gedächtnis aus sich so einen Satz,
den Jakob gesagt hat oder vielleicht gesagt hat, gesagt haben kann“ und das
Kind wird nicht wissen, wovon die Mutter spricht.
Für Marie ist noch unklar, wie viele Biographien sie haben und welche erlebten
oder gehörten Geschichten sich für sie vermischen werden zu einem Leben.
Ich weiß nicht, ob ich ihr wünschen soll, es möge nur eine sein, dann müßte
sie nicht immer fremd sein und könnte alles aus erster Hand erleben. So wie
Gesine jedenfalls wird diese hier beschriebene Generation nie erzählen können
und so wie D.E. wird sie sich nicht dagegen entscheiden, denn dazu weiß sie
zu wenig. Sie wird sich immer zu erinnern versuchen, um so mehr, je stärker
sie merkt, daß sie sich nicht mehr erinnern kann.
Anmerkungen
1
Bei dem Text handelt es sich um einen Beitrag, der auf dem Kolloquium “Uwe
Johnson und die junge Autorengeneration” im Rahmen der Uwe-Johnson-Tage 200
im September 200 in Neubrandenburg gehalten wurde. Die Form des öffentlichen
Vortrags wurde beibehalten und auf Anmerkungen verzichtet.
199
Tobias Hülswitt
Das alte Rom in seinen Provinzen
Die junge deutsche Literatur kam aus dem Westen,
im Osten herrschte verschüchterte Stille.
Man darf sich nicht verwirren lassen. Zwar existiert in Ostdeutschland, in
Leipzig, das Deutsche Literaturinstitut als die avancierteste der ganz wenigen
universitären deutschen Ausbildungsstätten für Schriftsteller. Zwar geht von
ihm durchaus auch im westlichen Teil Deutschlands wahrgenommene junge
Literatur aus. Doch dies bedeutet nicht, daß es eine Literatur junger ostdeutscher
Schriftsteller gäbe, die in ihrer Präsenz ein Pendant zum Phänomen junger
westdeutscher Literatur bildete. Was kennzeichnet diese junge westdeutsche
Literatur? Wieso sind junge ostdeutsche Autorinnen und Autoren so still? Und
wie kann eine spezifisch ostdeutsche, junge Literatur aussehen?
Die junge Westliteratur ist Jugendliteratur im doppelten Sinne. Auf der einen
Seite wird sie von Jugendlichen geschrieben, zu denen ich im Literaturbereich
alle Autoren unter 35 zählen möchte, ein Alter, dessen Erreichen lange gleichsam
als Passierschein in die Welt der ernstzunehmenden Schriftsteller galt. Auf der
anderen Seite handelt sie von jungen Menschen und spiegelt deren oft mühsames
und gefährdetes Zurechtkommen in einer komplexen und undurchsichtigen
Welt. Dabei entsteht Spannung häufig nicht mehr aus dramaturgisch profihaft
gebauten Handlungsverläufen, sondern aus dem Hineinstellen der Helden in
Versuchsräume, in denen die Dinge der Welt auf sie treffen, und aus der Frage,
wie sie darauf reagieren. Diese Texte erfüllen auf anderem Niveau eine Funktion,
die im Bereich des Films für breite Schichten die Daily Soaps ausüben: Sie dienen dem Abgleichen der eigenen Verhaltensweisen an denen der Protagonisten,
einem hoch konzentrierten Abhaken, einem Bestätigen oder Durchstreichen.
Im Ernst, was haben wir in den letzten fünf Jahren nicht alles gelernt über
Ehrmannjoghurt, H&M, Schuhe mit genagelten Sohlen, Hippies in Goa oder
den VW Golf? Und ganz gleich, wie ich mich zum neuen Kodex der Dinge und
Stile verhalte, ob ich ihn annehme oder ablehne, es ändert nichts daran, daß er
in Büchern transportiert wurde, die von hoher künstlerischer Sensibilität und
literarischem Potential der Autoren und, in den besten und traurigsten Fällen,
Tobias Hülswitt
von der Verletztheit junger Leben zeugte. Daß dabei fast durchgehend in der
ersten Person erzählt wird, liegt nicht daran, dass die jungen Autoren besonders egozentrisch wären, sondern bedeutet ein begründetes poetologisches
Mißtrauen gegenüber dem Größenwahn des auktorialen Erzählers.
Die jungen Autoren enthalten sich weitgehend dem ernsthaften literarischen
und gesellschaftlichen Diskurs. Sie ducken sich unter ihm hindurch, auf der
Suche nach einem unmittelbaren Verhältnis ihrer Texte zum Leben. Wie sehr
dabei auch die immer gegebene Medialität von Schrift ignoriert wird und man
sich weigert, das Verhältnis von Schrift und Sprache zur Welt theoretisch oder
narrativ zu reflektieren – junge Leser danken es den Autoren, sich das Leben und
die eigene Jugend endlich nicht mehr ausschließlich von ihren schreibenden
Vätern und Müttern erklären lassen zu müssen. Und das Fehlen von Theorie
schmerzt sie vermutlich gar nicht.
Die eigene westdeutsche oder westberliner Vergangenheit zu beschwören und
zu inventarisieren, gehört zu den auffälligsten Merkmalen der neuen Jugendliteratur. Das wirkt harmlos, und vermeintlich war Jungsein im Westdeutschland der Achtziger Jahre konfliktfrei und behütet. Bei seiner literarischen Verarbeitung jedoch tun sich Abgründe auf, ein frappierender Mangel an Werten
und Orientierungspunkten tritt zutage. Angesichts der Ernsthaftigkeit dieser
Abgründe hat das Argument, mit fünfundzwanzig Jahren könnte niemand
etwas Lesenswertes schreiben, da er ja noch nicht erlebt habe, ausgedient. Zumal ein Leben im heutigen Deutschland vermutlich auch nach 70 Jahren nicht
die abenteuerliche Biographie hervorbrächte, die eine solche Argumentation
fordert. Selbstverständlich wird zurecht über nichts geschrieben, denn was
massiv vorhanden war, war eben dies: nichts. Den subtilen Brutalitäten der
Wohlstandsgesellschaft ist mit literarischen Actiontheorien wie denen eines
Maxim Biller nicht beizukommen. Denn Texte, die literarisch dramatisierten,
was nach keinerlei Maßstäben Stoff für Dramatik bietet, würden nicht die
Realität abbilden, die wir erlebt haben.
Nicht nur die Leser danken es den Autoren, daß sie das Sprechen über die Jugend zu ihrer Sache machen. Auch die Medien haben sie entdeckt. Das bringt
Spaß und eine Gefühl der Bestätigung, löst aber auch moralisches Unbehagen
aus, selbst unter manchen Lesern gleichen Alters. Paradoxerweise, denn den
Reflex der Gleichsetzung von Medien und Bösem haben sie von Schriftstellergenerationen gelernt, deren berühmtesten Vertreter wie Martin Walser, Günter
202
Das alte Rom in seinen Provinzen
Grass oder Hans Magnus Enzensberger mit sämtlichen Massenmedien schon
lange auf du und du sind. Auf deren Unterstützung bei der Klärung der Frage,
inwieweit Medien und Böses nun tatsächlich verwachsen sind, ist also nicht
mehr zu bauen, der erlernte Reflex ist unbrauchbar.
Daneben läßt die Medienpräsenz der jungen Autoren etliche Literaturinteressierte glauben, sie zu kennen und beurteilen zu können – ohne je eine Zeile
von ihnen gelesen zu haben. Worauf sich ihr Urteil gründet, sind Auftritte
dieser Autoren in Talkshows (von denen sie gehört haben), Live-Übertragungen von Lesungen (wovon sie gelesen haben), und die Bewerbung dieser
Lesungen durch bunte Plakate, deren Sponsoren-Signets sie im literarischen
Umfeld unsittlich fanden.
Wenn ich nachdenke, fallen mir nur zwei Autorinnen und zwei Autoren ein, die
aus Ostdeutschland stammen, jünger als 35 sind und literarische Arbeiten zum
Thema Jugend veröffentlicht haben. Da ist zunächst Robby Dannenberg, 974 in
Leipzig geboren. In seinem Roman „Gisela“, den er zusammen mit Anke Stelling
(97 in Ulm geboren) schrieb, werden zwar weder ostdeutsche Vergangenheit
noch Gegenwart explizit geschildert, aber doch eine Stimmung und eine Färbung
der Bilder erzeugt, die diese äußerst klug und eindringlich erzählte Liebesgeschichte ohne Zweifel im östlichen Teil Deutschlands verorten lässt.
Katrin Askan, geboren 966 in Ostberlin, erzählt in ihrem Roman „Aus dem
Schneider“ die letzten Stunden, die eine junge Frau vor ihrer Flucht in den
Westen im Haus ihrer Kindheit verbringt. Die Erinnerungen der Heldin reichen
dabei mit fiktionalem Zugriff bis in die Zeit ihrer Großeltern zurück. Es ist die
deutliche und gekonnt umgesetzte Absicht des Buches, anhand eines Familienschicksals ostdeutsche Zeitgeschichte zu erzählen. Seine Intensität verdankt
das Buch unter anderem der Tatsache, daß die Autorin die Lebensumstände in
der DDR aus eigener Erfahrung kennt, und es ist kaum vorstellbar, diese von
einem westdeutschen Autor ebenso glaubwürdig erzählt zu bekommen.
Jenny Erpenbeck, 967 in Ostberlin geboren, schreibt in ihrer „Geschichte vom
alten Kind“ nicht im eigentlichen Sinne über Jugend. Vielmehr verwendet sie
Jugend als Synonym für Naivität, Unwissenheit und Ausgeliefertsein:
„Eben daß es (das alte Kind) unzulänglich ist, und seine Unzulänglichkeit
deutlich zu spüren bekommt, ohne jedoch verstehen zu können, was diese
Unzulänglichkeit ausmacht, daß es schuld ist, und diese Schuld anerkennt,
203
Tobias Hülswitt
ohne jedoch zu erkennen, worin sie besteht, daß es zu spät kommt, und sich
dafür entschuldigt, jedoch nie erfährt, wozu es zu spät gekommen ist, all dies
macht sein Verhältnis zu ihnen (seinen Klassenkameraden) aus.“
Durch diesen und viele andere Sätze kann die Erzählung als Parabel auf das
Ankommen Ostdeutschlands im Westen gelesen werden. Und mit der Parabel,
deren Stoßrichtung nicht nachweisbar ist, weil erst der Leser sie stillschweigend ins richtige Verhältnis zur Gegenwart setzt, wird hier eine Form der
kritischen Literatur und des kritischen Theaters wiederbelebt, die in der DDR
zum Überleben gehörte.
Falko Hennig, 969 in Ostberlin geboren, schickt den Helden seines Romans
„Alles nur geklaut“ auf einen grandiosen Diebeszug durch die DDR der 70er und
80er Jahre, die Wende- und die Nachwendezeit. Unaufdringlich passiert dabei
alles Revue, was diese Zeiten ausgemacht hat, und trotz des großen Witzes, mit
dem Falko Hennig hier arbeitet, ist die Ernsthaftigkeit jeder erzählten Situation
bedrückend spürbar. Mit seiner Schelmenschläue kommt der Held nach seiner
Flucht über die ungarische Grenze auch im Westen bestens zurecht. Aber er
ist unentschieden, er vermißt etwas, „und schließlich“, so seine frühe Einsicht,
„waren die Leute in der DDR einfach netter als im Westen.“ Und er fragt:
„Warum also sollte sich da nicht ein Land machen lassen, das die Vorzüge
aller Länder miteinander vereinigte? So frei wie Amerika, so guter Wodka
wie in Russland, Autos wie von Mercedes, die Freundlichkeit Asiens, mit der
Effizienz Westdeutschlands und das gute Bier der Tschechei, warum sollte es
nicht möglich sein, ein solches Land aufzubauen?“
Das Geschehen nach ’89 hat die Frage schnell beantwortet: Weil die Effizienz
Westdeutschlands und die Autos wie von Mercedes für alle – bis auf eine verschwindende politische Minderheit – alles waren, was zählte.
Die Frage jedoch, weshalb es eine von breiter Öffentlichkeit wahrgenommene
junge Literatur aus dem Teil Deutschlands, der ein solches Land hätte werden
können, nicht gibt, und ob sie nicht entstehen könnte, ist noch offen. Oder
anders gefragt: Warum wurden die genannten Autoren und ihre vielversprechenden Ansätze einer ganz speziellen und spannenden jungen Literatur aus
dem Osten nicht mit ähnlicher Aufmerksamkeit aufgenommen wie ihre jungen
Westkollegen? Im kommenden Bücherherbst versprechen Namen wie Jochen
Schmidt oder Wladimir Kaminer eine Fortsetzung der neuen ostdeutschen
Literatur. Und nun werden die großen Feuilletons und Kultursender, deren
einflußreichsten immer noch und auf unabsehbare Zeit westdeutsch sind,
204
Das alte Rom in seinen Provinzen
beweisen müssen, daß sie diese Literatur im Vergleich zur jungen Westliteratur
nicht notorisch minderbeachten.
Die bekannten ostdeutschen Autoren Ingo Schulze und Thomas Brussig lasse
ich nicht nur deshalb außen vor, weil sie älter als 35 sind, sondern auch, weil die
Wende sie einholte, als sie ihre ostdeutsche Biographie, eine bestimmte kulturelle
Identität und die intime Kenntnis eines heute verschwundenen Landes als literarisches Material bereits sicher besaßen. Wer, dem mit 25 und jünger die Struktur
einer Heimat so absolut abhanden kam, kann das von sich behaupten?
Die bisherige relative Stille junger ostdeutscher Autoren im Vergleich zu ihren
Westkollegen hat ihren Grund in der gewaltigen Umwälzung, die vor zehn
Jahren stattfand. Die jungen Autoren im Osten hatten und haben noch immer
alle Hände voll damit zu tun, mit den übergestülpten Wert- oder Antiwertmaßstäben des Westens zurechtzukommen und damit kaum Kräfte frei, sich
dem Gewesenen, den Spuren des Verschwundenen oder der ostdeutschen
Gegenwart zuzuwenden. Wer sich im Osten über junge deutsche Literatur
unterhält, unterhält sich über westdeutsche Literatur: junge Ostdeutsche sind
gezwungenermaßen voll und ganz damit beschäftigt, sich westdeutsche Kultur
und damit auch ihre Literatur anzueignen. Zum Sprechen über die eigene junge
Biographie fehlte lange Zeit ein bestimmter Tonfall, ein Sound oder Code, da
die Zeit, in der er hätte entwickelt werden können, gleichsam abgebrochen
wurde und er sich erst nun, um einige Jahre verzögert, unter anderem in den
Ostberliner Leseshows wie der „Chaussee der Enthusiasten“, der „Reformbühne
Heim und Welt“ oder bei den „Surfpoeten“ bildet.
Zudem verlangt das Schreiben über sich selbst den jungen ostdeutschen Autoren nicht nur einen Akt einfachen Erinnerns innerhalb eines biographischen
Kontinuums ab, wie es bei ihren jungen westdeutschen Kollegen der Fall ist,
sondern die Rekonstruktion einer verlorenen Identität – ein schwieriger und
aufreibender Prozeß. Wenn er, wie bei Falko Hennig, gelingt, dann oft mit Hilfe
eines bestimmten, irgendwo zwischen Schabernack und schwarzem Humor
angesiedelten Witzes, der jene Stelle einnimmt, die in der jungen Westliteratur
Melancholie und Ironie besetzen. Eine schwer zu nehmende Hürde scheint
für viele potentielle Jungautoren des Ostens ein unausgesprochenes Verbot zu
sein: ein Verbot, von ihrer Vergangenheit in einem offensichtlich schlechten
System zu erzählen oder darüber zu sprechen, wie verdeckt aggressiv und
schonungslos ihr Land mit dem schlechten Image von seinem Nachbarland
verschluckt worden ist.
205
Tobias Hülswitt
Nicht nur erstaunlich, sondern geradezu erschreckend ist dabei, mit welcher
Vehemenz die Angleichung an den Westen im Osten selbst betrieben wird,
obwohl alle wissen, daß der Westen eine Gesellschaft bildet, die viel dringender
als die Reproduktion ihrer von Leistungsdruck und Konkurrenz geprägten
Verhältnisse neue soziale Impulse benötigt. Innerhalb dieses Angleichungs- oder
auch Auslöschungsprozesses im Osten bildet das bisher weitgehende Fehlen
junger genuin ostdeutscher Literatur nur eine kleine, aber aussagekräftige
Leerstelle. Aussagekräftig darüber, was hier wie auch im Ganzen fehlt, nämlich
ein Bewußtsein von der Art dieser scheinbar friedlichen Okkupation durch
den Westen, das selbstbewußte Dagegenhalten des Eigenen und vielleicht sogar
eine Art Empörung gegen diesen Westen, der sich im Osten eingerichtet hat
wie das alte Rom in seinen Provinzen.
206
Dokumentation
zum
Uwe-Johnson-Preis 200
Peter Kauffold
Von der Pflicht, wieder neu zu entdecken.
Festrede des Ministers für Bildung, Wissenschaft
und Kultur des Landes Mecklenburg-Vorpommern
Im reichen Bestand kleiner und großer Literaturpreise ist es vielleicht selten,
ist es eher ungewöhnlich, dass der Preisträger zugleich auch mit dem Menschen, dessen Namen der Preis trägt, bekannt – gar befreundet – war. Es gibt
Ausnahmen.
„Johnson äußerte Zweifel an der Funktion“ von „Tagungen“; Freundschaften
indes können bei solcher Gelegenheit sehr gut entstehen. In Aschaffenburg
beispielsweise begann, was lange währen sollte: Johnsons freundschaftliche
Verbundenheit mit dem Schriftsteller und Rundfunkautor Jürgen Becker.
Jürgen Becker hatte eine Besprechung der „Mutmassungen“ geschrieben, die
am 6. September 960 von der Deutschen Welle ausgestrahlt worden war und
in der man hören konnte, dieser Roman sei „das Dokument, (…) auf welches
man hierzulande die fünfziger Jahre hindurch gewartet hat“. So liest sich die
Beschreibung des Beginns der Bekanntschaft und späteren Freundschaft von
Jürgen Becker und Uwe Johnson in Bernd Neumanns Johnson-Biographie.
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
verehrter Herr Becker,
Sie werden heute mit dem „Uwe-Johnson-Preis“ ausgezeichnet. Ich gratuliere
Ihnen dazu herzlich. Sie gingen von West nach Ost, von Ost nach West; und
sind angekommen in einem wiedervereinigten Deutschland.
Die entscheidende Voraussetzung für Johnsons Werk war die Teilung Deutschlands. Die entscheidende Voraussetzung für Ihren Roman „Aus der Geschichte
der Trennungen“ war die deutsche Wiedervereinigung. Der Suhrkamp Verlag
kündigte dieses Buch 999 damit an, dass die Wende dem Kölner Schriftsteller
Becker den Weg zu diesem Werk geebnet habe. Der Held Ihres Romans macht
Peter Kauffold
sich auf die Suche nach der verlorenen Zeit. Dadurch wird für ihn, für sie, für
den Leser, Vergangenheit erlebbar und Gegenwart erklärbar.
Der geteilte Himmel hat sich geschlossen. Für Autoren wie Johnson oder Sie,
verehrter Herr Becker, war dieser nicht wirklich oder nicht mehr „geteilte
Himmel“ Grunderlebnis, um Texte zur Geschichte der Teilung und deutschen
Wiedervereinigung zu schreiben. „Aus der Geschichte der Trennungen“ ist ein
Roman, von dem man nunmehr meinen könnte, die neunziger Jahre hindurch
haben wir gewartet auf ein solches Buch oder Bücher wie dieses Buch der
Wiedervereinigung. In den großen Feuilletons wurde lange „hingearbeitet“ auf
„das“ Buch der Einheit. Nun liegt Ihr Roman vor, das preiswürdige Zeugnis
einer ost-westlichen Existenz.
Vierzig Jahre Zweistaatlichkeit, das sind „geteilte Erinnerungen“ mehrerer
Generationen in einer gemeinsamen Epoche deutscher Geschichte.
In einem Interview haben Sie einmal gesagt, Herr Becker:
„Der einzige Autor, der mich von meinen Generationsgenossen interessierte,
war Uwe Johnson … Beim Schreiben von ‚Aus der Geschichte der Trennungen‘
kam mir oft Johnson in den Sinn. Ich merkte, wie er ostdeutsche Wirklichkeit
beschrieben hat.“
Eine Wirklichkeit, die in der „Geschichte der Trennungen“ aus der Gegenwart
reflektiert wird. Und ich in meiner Verantwortung, in meinem Amt empfinde
das jeden Tag, wenn ich im Bereich von Bildung zu tun habe.
Martin Walser hat Lesungen aus seinem Roman „Die Verteidigung der Kindheit“
mit der Bemerkung begonnen die Ereignisse der Jahre 989/90 hätten dieses
Buch „unter der Hand aus einem Gegenwartsroman zu einem historischen
Roman gemacht“, denn seit es die Mauer und die DDR nicht mehr gebe, sei
das Leben im geteilten Deutschland ein historischer Stoff geworden.
Ich finde das stimmt und das stimmt auch wieder nicht. Denn diese Vergangenheit hat Heutiges geprägt und reicht weit bis in unsere Gegenwart hinein,
wie in Ihrem Buch, Herr Becker.
210
Festrede
Sehr geehrter Herr Becker,
ich habe Ihren Roman nicht erst vor allzu langer Zeit gelesen. Die Eindrücke
sind noch recht frisch. Betrachten Sie mich selber als einen Teil Ihres geschätzten Publikums. Als solchem steht es mir auch zu, Ihre Jury zu beglückwünschen.
Sie sind ein guter Schriftsteller, und Sie sind auch ein wahrhaftiger Autor. Ihre
Erzählung begegnet dem Leser als ein lebendiges Kunstwerk.
In den verwobenen Kindheitserinnerungen aus Krieg und Nachkrieg findet
sich derjenige, wie ich zum Beispiel, der dem etwas näher steht als viele andere
und der aufmerksam, ja sensibel, zur Kritik geneigte Hiergebliebene bemerkt,
was Sie als Literat wiederentdecken wollten und darin, wie dies geschieht,
nicht, was darin befremdet.
Sehr verehrte Damen und Herren,
der „Uwe-Johnson-Literaturpreis“ wird heute zum fünften Mal verliehen.
Zum ersten Mal jedoch verleiht die Mecklenburgische Literaturgesellschaft
einen Sonderpreis. Diesen erhalten Christoph Busch und Peter Steinbach für
ihr Drehbuch zur Verfilmung von Uwe-Johnsons „Jahrestage“ für die ARD
in einer Koproduktion von Eikon Film, WDR und NDR; unterstützt von den
Filmförderungen Niedersachsens und Nordrhein-Westfalens.
In der Begründung der Jury heißt es unter anderem:
„In den entworfenen Filmszenen, Bildern, Dialogen wird mit spezifischen Mitteln sensibel gezeigt, in welcher Weise die Lebensgeschichte eingebunden ist,
wie eng letztlich Persönliches und Politisches, Individuelles und Gesellschaftliches zusammenhängen und wie die ‚große Geschichte‘ immer wieder eingreift
in das Leben des Einzelnen. Mit dem Drehbuch und der darauf aufbauenden
Verfilmung ist es gelungen, Uwe Johnsons Werk und die darin enthaltenen
Fragen einem großen Publikum sehr überzeugend nahe zu bringen und zu
zeigen, auf welche Weise im Medium Film Stoffe von historischem Format
eine eindrucksvolle Gestaltung finden.“
Um letztendlich solch ehrende Worte über diesen Film sagen zu können, hat
es großer Anstrengungen bedurft und viel Kraft gekostet, die Finanzierung
zu sichern und die richtigen Drehorte zu finden und gerade bei diesem Film
spielten Originalschauplätze keine unwesentliche Rolle, wenn man bedenkt,
wie akribisch genau gerade dieser Autor auf die richtige Beschreibung von
Details in seinen Texten achtete.
211
Peter Kauffold
Dass gerade bei diesem Film im Bereich der Außendrehorte für Mecklenburg-Vorpommern nicht alle Wünsche in Erfüllung gingen, ist einmal mehr
Ansporn für die Landesregierung, Rahmenbedingungen zu schaffen, die auch
im Filmbereich das Land Mecklenburg-Vorpommern zu einem ebenbürtigen
Partner machen.
Meine Damen und Herren,
in meiner Amtszeit als Minister für Bildung, Wissenschaft und Kultur habe ich
dazu beitragen können, dass die Ressourcen für Kunst und Kultur im Landeshaushalt stabilisiert wurden. Dass in den vergangenen Jahren Entwicklungen
zu verzeichnen sind, die immer wieder den Ruf nach mehr Geld ertönen lassen,
ist ganz normal. Dass aber auch ein Denkprozess in Gang gekommen ist, der
nach anderen Finanzierungsmodellen von Kunst und Kultur Ausschau hält,
erfüllt mich mit Freude.
Die Mecklenburgische Literaturgesellschaft im Verein mit dem Nordkurier ist
meines Erachtens eine außerordentlich gelungene Symbiose von Kultur und
Wirtschaft in Mecklenburg-Vorpommern bezüglich der Förderung herausragender künstlerischer Leistungen. Und dafür möchte ich auch Ihnen meinen
herzlichen Dank aussprechen.
Mecklenburg-Vorpommern ist reich an kulturellem Erbe. Größen wie Caspar
David Friedrich, Hans Fallada, Ernst Barlach, Gerhart Hauptmann oder eben
Uwe Johnson sind im breiten öffentlichen Bewußtsein. Spätestens seit der
Oscar-Verleihung 994 für den besten Kurzfilm „Schwarzfahrer“, gefördert
von der Kulturellen Filmförderung Mecklenburg-Vorpommern, ist bekannt,
dass Mecklenburg-Vorpommern auch in diesem Bereich keine Nebenrolle
mehr spielen möchte.
Neben dem schon erwähnten Engagement der Wirtschaft für die Kultur möchte
ich die seit drei Jahren verstärkte Bundeskulturförderung für unser Land ergänzt durch Mittel aus dem Lande nicht unerwähnt lassen. Sichtbare Zeichen
dafür sind gerade hier in Neubrandenburg der Umbau der Marienkirche, die
Erweiterung des Kinos „Latücht“ oder die Sanierung des Fallada-Hauses in
Carwitz.
212
Festrede
Meine Damen und Herren,
Uwe Johnson hat seine Erzählweise als Versuch beschrieben, eine Wirklichkeit,
die vergangen ist, wieder herzustellen. Vier Monate vor seinem Tod hat er in
einem Interview im WDR im Oktober 983 über den Roman „Jahrestage“ gesagt,
er ist erzählt für jedermann der zuhören will mit der Bereitschaft zu erwägen,
ob es so gewesen sein könnte in der Vergangenheit.
Ich komme noch einmal auf Sie zurück, sehr geehrter Herr Becker:
Die Biographien deutscher Menschen sind ebenso unterschiedlich wie die
Stationen ihres Lebens und Wirkens. Ihnen wurde es möglich, Landschaften,
Orte und Schicksale wieder zu entdecken und im Strom des Lebens zu verknüpfen, zusammenzuführen.
Die Mehrzahl der Deutschen, die jetzt leben, kann nicht wiederentdecken, sie
hat aber die Möglichkeit, die Pflicht, wieder neu zu entdecken.
Möge Ihr Roman dabei viele als Reisebegleiter begleiten und mögen die
Uwe-Johnson-Tage für die Literaten selber und ihr Publikum dasselbe auch
in Zukunft leisten.
Ich danke Ihnen.
213
Walter Hinck
Erinnerungen haften an den Landschaften.
Laudatio auf Jürgen Becker
Wer um 970 gefragt worden wäre, was den Schriftstellern Jürgen Becker und
Uwe Johnson gemeinsam ist, wäre wohl in Erklärungsnot geraten. Autoren zwar
desselben Verlags, aber im breiten Suhrkamp-Spektrum doch eher Antipoden.
Jürgen Becker ist im Jahre 200 Träger des Uwe-Johnson-Preises – da muss in
den Zwischenjahrzehnten einiges geschehen sein.
Beim Berliner Kritiker-Colloquium 963 wendet sich der einunddreißigjährige
Kölner Autor „Gegen die Erhaltung des literarischen Status quo“, nennt das
„Geschichtenerzählen“ anachronistisch, erkennt den überlieferten Roman nicht
mehr als repräsentative literarische Gattung für die derzeitige Gesellschaft und
Wirklichkeit an: „Erst jenseits des Romans findet das Schreiben den Sinn des
Authentischen.“ Zu den Werken, in denen das Versagen der erzählerischen
Muster zum Thema wird, rechnet er auch „Das dritte Buch über Achim“. Jürgen
Becker beruft sich also bei seiner Attacke gegen den Roman auf den Romanautor
Uwe Johnson. Das lässt auf Gemeinsamkeit schließen, hat aber zunächst keine
fassbaren Folgen. In seinen Büchern „Felder“ (964) und „Ränder“ (968) geht
Becker mit Sprach- und Formexperimenten in Klausur, nimmt zwar ein paar
Lektionen bei Helmut Heissenbüttel, findet aber rasch zu eigenen Formen der
sprachlichen Wiedergabe von Wahrnehmungen und Bewusstseinsvorgängen.
Bei seinen weiteren Prosatexten vermeidet er die Gattungsbezeichnung. Erst
den Band „Der fehlende Rest“ von 997 bezeichnet er als „Erzählung“, und
schließlich beim preisgekrönten Buch von 999 „Aus der Geschichte der Trennungen“ fällt das jahrzehntelange Tabu. Der Erzähler Becker fasst das heiße
Eisen an, das heikle Wort „Roman“. Es gibt in Brechts „Geschichten vom Herrn
Keuner“ eine, die fast sprichwörtlich geworden ist. „Ein Mann, der Herrn K.
lange nicht gesehen hatte, begrüßte ihn mit den Worten: ,Sie haben sich gar
nicht verändert.‘ ,Oh!‘ sagte Herr K. und erbleichte.“ Jürgen Becker braucht
nicht zu erbleichen.
Walter Hinck
Die Entwicklung vom Romanverächter des Jahres 963 zum Romanautor des
Jahres 999 war möglich, weil sich Becker nie an Dogmen klammerte und
immer für neue Wirklichkeitserfahrungen und neue künstlerische Ausdrucksformen offen hielt. Man könnte, der heutigen Ehrung zu Gefallen, von Jürgen
Beckers Weg zu Uwe Johnson sprechen. Doch würde solche Vereinfachung
dem eigengesetzlichen Gang der Veränderungen in Beckers Werk nicht gerecht.
Wohl aber kommt eine Annäherung zustande, weil das Verständnis Beckers
für Johnsons Romankunst wächst. Erst beim Schreiben des eigenen Romans
habe er, so Becker, Johnsons „Mutmassungen über Jakob“ richtig erfasst.
Wer oder was aber vermittelt diese neue Art der Begegnung? Es ist das Gebanntsein von der Geschichte, der Antrieb, die erlebte Geschichte im Deutschland
der Kindheit und im getrennten Deutschland zu erinnern und erzählerisch
in die Gegenwart zu holen.
Entscheidendes ereignet sich im zwei Jahre nach den „Rändern“ erschienenen
Prosaband „Umgebungen“ (970). Erzählerische Ansätze früherer Arbeiten
verdichten sich. Die Wahrnehmung und Beobachtung der Lebensumwelt,
eben der „Umgebungen“, verfestigt sich zu kleinen Skizzen, zu Ausflügen in
die Landschaft und ins „Reich der Gewohnheiten“; Becker wendet sich den
„Erinnerungsobjekten“, der „erzählbaren Welt von Gestern“ zu. Eine dieser Skizzen ist „Wahner Heide“ überschrieben. Vom Flughafenkreuz geht der Blick ins
Historische, zu den blutigen Zwisten um das Gebiet seit dem 5. Jahrhundert,
zur preußischen Annexion und zur Gründung des Truppenübungsplatzes
„Wahner Heide“ im Jahre 87. Mit der Landung des Zeppelins im Jahre 930
und mit der Eröffnung des Feldflughafens gewinnt der historische Bericht
wieder Anschluss ans Heute, an die Wirklichkeit des internationalen Airports.
Was hier in „Umgebungen“ noch ein wenig dem Geschichtsunterricht gleicht,
befreit sich zur epischen Poesie in einem Buch von 98. Jetzt auch gibt der
Titel schon ein deutliches Signal: „Erzählen bis Ostende“.
Vorausgegangen ist allerdings ein Scheideprozess. Von der offenen, gattungsneutralen Schreibweise ist Becker zu geschlosseneren Formen übergegangen,
die wieder den Stempel literarischer Gattungstrennung tragen. Er selbst kennzeichnet diesen Vorgang als „Entflechtung“. Und es sind vor allem die lyrischen
Elemente, die zu Anfang der siebziger Jahre zur Verselbstständigung drängen.
Spätestens mit dem Gedichtband „Das Ende der Landschaftsmalerei“ (974)
ist Becker zu einem der sprachmächtigsten deutschen Lyriker der Gegenwart
geworden. Melancholisch wird die Zerstörung der Natur wahrgenommen,
216
Laudatio
doch halten sich die Gedichte von wohlfeilen Kassandrarufen fern: Die Zeit
der „heilen“ Natur ist vorbei, doch kann Besonnenheit auch die Silhouetten
der Technik ins Bild der Landschaft einbetten.
Gedichtbände wie „Erzähl mir nichts vom Krieg“ (977) und „In der verbleibenden Zeit“ (979) bringen Beckers Annäherung an die Geschichte, und
wenn man so will, an Uwe Johnson voran. Die gerade in der Lyrik mögliche
subjektive Bestimmtheit von Wahrnehmungen, Erinnerungen und Reflexionen wird konkret in einer Selbsterkundung, die natürlicherweise in die Vergangenheit und damit auch in die Tiefe der Geschichte führt. Denn auch das
Ich-Bewusstsein hat bei Becker seinen Ort nicht jenseits, sondern innerhalb
des Sozialen und Historischen.
Signalwirkung kommt dem Titel des Gedichtbandes von 993 zu: „Foxtrott im
Erfurter Stadion“. Schon in früheren Texten blitzten Erinnerungsreflexe aus
einer bestimmten Lebensperiode auf. Im Jahr 939 übersiedelte der Siebenjährige mit seinen Eltern von Köln nach Erfurt, und erst 947 kehrte er nach
Westdeutschland zurück. Wichtige Kindheits- und Jugendjahre verbrachte
er also in Thüringen. Die Gedichte des Bandes von 993 führen nicht nur in
die Thüringer Zeit zurück; der Film im Kopf sammelt Momentbilder aus der
gesamten Lebenszeit, blendet sie ineinander. Aber gerade die Sequenzen aus
den Thüringer Tagen lassen den Zurückschauenden nicht los. Eine besonders:
„Schlagbäume/ über den Dorfweg; Schneisen durch Harz und Thüringer/ Wald
mit Hochständen, Feldstechern, Fahrradpatrouillen;/ bald fielen die ersten
Schüsse; die beiden Särge/ holten wir auf dem offenen Lastwagen heim. Eine
nie// erzählte Geschichte“ In seinem Roman von 999 wird Becker diese Geschichte genauer erzählen, die Geschichte eines tödlichen Versuchs, über die
Zonengrenze zu entkommen.
Doch hatte Becker schon 988 die Leser mit einem Buchtitel verblüfft: „Das
Gedicht von der wiedervereinigten Landschaft“. Er wählte den Titel zu einer
Zeit, da das Wort „Wiedervereinigung“ zwar zu den Parolen westdeutscher
Festansprachen gehörte, aber mit keiner ehrlichen Erwartung mehr verbunden
war. Auch Becker gedachte sich hier nicht als politischer Prophet zu gebärden.
Das Gedicht ist über weite Teile Landschaftselegie mit melancholischem Blick
auf jene Zeit, „als der Himmel/ sich teilte“ eine Anspielung auf Christa Wolfs
bekannte, auch verfilmte Erzählung „Der geteilte Himmel“. Aber es protestiert
zugleich gegen diesen historischen Willkürakt: „Wie vorläufig,/ oder endgültig,
ist die Trennung der Regionen, die/ von toten Männern vollzogen ist und die
217
Walter Hinck
eine Kindheit/ zerschnitten hat“. Es ist ein Protest im Namen des Ich, eines
Ich allerdings, das für viele andere steht. „Es kommt auf die Nähe zu unseren
Landschaften an, die so wichtig für die Arbeiten im Gedächtnis sind.“ Die
Erinnerungen haften an den Landschaften, sie verknüpfen Landschaften, und
insofern vereinigen sie Landschaften (wieder). In dieser poetischen Wiedervereinigung der Landschaften zeigte sich tatsächlich etwas vom „Vorschein“ dessen
– „Vorschein“ im Sinne von Ernst Bloch –, was die Geschichte einlösen sollte.
„Das Gedicht von der wiedervereinigten Landschaft“ ist ein Langgedicht, es
nimmt den ganzen Raum des Buches ein und stößt an jene Grenze, wo Lyrik
schon in Epik übergeht. So bildet es eine Brücke zu dem 997 erschienenen
Buch „Der fehlende Rest“, das nun so ausdrücklich als Erzählung deklariert
wird. Damit betritt Becker das Terrain des Erzählers Uwe Johnson. Und man
möchte nicht an Zufall glauben, wenn ausgerechnet hier Beckers Erinnerungen
Fuß fassen in der mecklenburgisch-pommerschen Heimatlandschaft Johnsons,
genauer auf der Insel Rügen.
Zum ersten Mal tritt hier die Instanz eines Erzählers hervor, und zwar in
doppelter Gestalt: als zuhörender, Erzähltes mitteilender Nacherzähler und als
erzählender Erzähler. In diesem, dem Fotografen Jörn, erkennt der Kenner der
Texte Beckers rasch die Konturen von Beckers autobiografischem Ich wieder.
Da ist ein Fachwerkhaus im bergischen Dorf bei Köln, wie es Becker mit seiner
Frau, der Malerin Rango Bohne, bewohnt; da tauchen wieder die Stationen der
Kindheit auf, der Umzug von Köln nach Erfurt, die Schulzeit und der Dienst
im „Jungvolk“ des „Dritten Reiches“, die Scheidung der Eltern usw. Das neue
geschichtliche Fundstück der Erinnerungen sind die Eindrücke des Jungen
bei einer Sommerferienreise nach Rügen während des Krieges.
Hier ist der Punkt für den unmittelbaren Übergang zum Roman „Aus der
Geschichte der Trennungen“, wo der Ferienbesuch im Rückblick sein genaueres historisches Umfeld erhält. Wieder erzählt das autobiografische Ich unter
dem Tarnnamen Jörn.
Jörn und seine Frau Lena begleiten in einem Sommer der neunziger Jahre einige
Architekten von der Berliner Akademie der Künste durch Mecklenburg und zu
den Inseln Rügen und Hiddensee. Vor allem die Begegnung mit der Geisterstadt Prora wird zu einem Schlüsselerlebnis. Als KDF-Seebad der „Deutschen
Arbeitsfront“ Dr. Leys in die Dünen gesetzt, aber durch den Kriegsausbruch
seiner Bestimmung entzogen, nach Sprengversuchen der Russen teilweise
wiederaufgebaut, von Kasernierter Volkspolizei und Nationaler Volksarmee als
218
Laudatio
Stützpunkt im „Kampf gegen den Imperialismus“ benutzt, nach der „Wende“
fast ganz wieder leer stehend – an dieser architektonischen Ruine offenbart
sich zeichenhaft die ruinöse deutsche Geschichte eines halben Jahrhunderts.
Beckers Roman begnügt sich nicht mehr mit einem Gewebe von Assoziationen, sondern schafft Kontinuität in Gestalten und Lebensläufen. Eine Detailgenauigkeit, manchmal sogar Behaglichkeit lässt eine ganz neue Plastik
der Landschaften, Figuren, Handlungen und historischen Zusammenhänge
entstehen. Die Erinnerung flirrt nicht mehr durch die Zeit, sie „erwandert“
sich die Vergangenheit.
Nicht dass sich Becker nun zu einer chronologischen Erzählweise unter dem
Szepter des epischen Imperfekts bekehrt hätte. Immer wieder pendelt der
Bericht aus der Gegenwart eines Aufenthalts in der Nähe von Schloss Wiepersdorf in der Mark (wo der Schriftsteller eine Zeit lang als Stipendiat zu Gast
war) in die Kindheit und Jugend in Köln und Erfurt oder in die Zeit nach der
Wiedervereinigung zurück, aber auch in frühere Situationen des Erzählens, so
dass die verschiedenen Zeitschichten bloßliegen. Doch ordnet sich alles einer
„Geschichte der Trennungen“ unter, die sich im Privaten in der Trennung der
Eltern kristallisiert. Am bewegendsten sind die Sequenzen der Erinnerung an
die Mutter, die fröhliche und tüchtige und am Ende in den Freitod gehende
Mutter. Zu einem Gutteil ist der Roman auch eine Suche nach der verlorenen
Mutter. So verschränken sich Zeitgeschichte und Ich-Geschichte.
Wie verhält sich solches Erzählen zur epischen Schreibweise Uwe Johnsons?
Die Bemerkung zu Johnsons „Das dritte Buch über Achim“ verriet Übereinstimmung in einem Punkt. Becker teilte von vornherein den Zweifel Johnsons
am selbstherrlichen „auktorialen“ Erzähler, der Wirklichkeit eindeutig glaubte
fixieren zu können. „Das dritte Buch über Achim“ (96) zeigt Johnson auf der
„Suche nach Erzählmöglichkeiten“; die Umstände der Nachforschungen nach
einem Sportidol der DDR werden miterzählt, so dass ein Geflecht aus erzählerischen und dokumentierenden oder zitierenden Partien entsteht. „In zwei
Ansichten“ (965) schränkt Johnson den Gebrauch experimenteller Erzählmittel
wieder ein, zugunsten eines konkreteren Handlungs- und Figurenaufbaus. In
der vierbändigen Romanchronik „Jahrestage“ (970-983) unternimmt Johnson
den großartigsten Versuch, Vergangenheit von der Gegenwart her auszuleuchten.
Zwei Zeitschichten und zwei historische Linien werden ineinander verzahnt:
die Gegenwart Gesine Cresspahls und ihrer Tochter in New York des Jahres
zwischen August 967 und August 968 und die im Bewusstsein Gesines asso219
Walter Hinck
ziativ herbeigerufenen Bildfolgen aus der Geschichte der mecklenburgischen
Familie, zumal der Lebensgeschichte des Vaters, des Kunsttischlers Heinrich
Cresspahl. Die Lektüre der „New York Times“ vermittelt eine Chronik der
zeitgeschichtlichen Ereignisse (beispielsweise des Vietnam-Krieges, später der
Besetzung der Tschechoslowakei durch die Armeen des Warschauer Pakts). Mit
chronistischer Sorgfalt, mit erzählerischer Umsicht und Gelassenheit aber wird
überhaupt erzählt. So versucht Uwe Johnson, obwohl er die epische Instanz in
die Hauptfigur verlegt, doch wieder den Anschein der Objektivität, epischer
Totalität, verlässlicher Weltdarstellung zu erneuern.
Diesen Schritt geht Becker im Roman „Aus der Geschichte der Trennungen“
nicht mit. Wo Johnson die deutsche Geschichte eines halben Jahrhunderts durch
erfundene Personen und Handlungen einkreist, bleibt bei Becker der Bürge
für Glaubwürdigkeit das Bewusstsein des Ich. Nicht die erzählerische Fiktion
dominiert, sondern das autobiografische Ich. Die Erinnerungsschübe kommen
in Sprüngen. Oft ist die Erzählung schon an einem Punkt, den sie erst viel später
wieder einholt. Der Leser wird zum Teilnehmer einer Springprozession, bei der
er nach ein paar Erkundungsschritten vorwärts wieder einen rückwärts macht.
Das Bewusstsein bietet die Vergangenheit und die Geschichte oft wie eine
Collage, und hier ist auch der Berührungspunkt mit den Collagen von Rango
Bohne, mit der zusammen Becker ein paar Bild-Text-Bände herausgegeben hat.
Die Bewusstseinsstruktur bestimmt die Romanstruktur.
Aber gerade darin bestätigt sich wieder das Wechselverhältnis von Bruch und
Folgerichtigkeit in der Entwicklung des Beckerschen Werks. Kein literarischer Text ist die strukturelle Wiederholung des vorhergehenden, und doch
antwortet jeder auf die früheren. Im Roman von 999 sind die Experimente
der sechziger Jahre, auch die im Hörspiel, nicht vergessen. Kein deutscher
Gegenwartsautor beweist im ständigen Wechsel der literarischen Formen
zugleich so viel Kontinuität.
Am Anfang beruft sich Jürgen Becker auf Uwe Johnsons Bezweiflung des traditionellen Romans. Mit dem Roman „Aus der Geschichte der Trennungen“
antwortet er in seiner, in produktiver Weise auf die Romankunst Johnsons.
Der Uwe-Johnson-Preis geht in würdige Hände, die Wahl des Preisträgers
ehrt die Jury.
220
Jürgen Becker
Das Vergangene wieder vergegenwärtigen.
Dankesrede
Während ich darüber nachdachte, was in dieser Rede zu sagen sei, traf der
Terror in New York und Washington ein. Er traf im Bewusstsein aller ein, die
das Geschehen am Bildschirm miterlebten, dem Schriftsteller, gedanklich
mit dem heutigen Abend beschäftigt, kam jeder Gedanke daran abhanden; er
fragte sich nur, würde dieser Abend heute überhaupt stattfinden? Vielleicht
doch eine marginale Veranstaltung angesichts der Opfer, des Schreckens, der
erwartbaren Konsequenzen.
Seit dem . September bereiten wir uns auf einen Kriegszustand vor, wie wir
ihn noch nicht kennen. Unsere Angst sagt, es könnte die Vorbereitung für
den Dritten Weltkrieg sein Auch meine Angst, obschon sie noch nicht so tief
sitzt wie in den Jahrzehnten nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Dass in
den Phasen des Kalten Krieges der heiße, der finale ausbrechen könnte, dazu
hatten wir oft genug die Anlässe zu befürchten, und es schaudert mich in der
Erinnerung an Korea und die Kubakrise, den 7. Juni und den Mauerbau, den
Ungarn-Aufstand und die Suez-Krise, an Vietnam und den Einmarsch in die
Tschechoslowakei. Die Lunte am Pulverfass, mehr als einmal fürchteten wir,
dass sie glimmt.
Inzwischen erscheint der Kalte Krieg ferngerückt wie die Eiszeit. Der Zusammenbruch des realen Sozialismus hat die Konfrontation der ideologisch
verfeindeten Systeme historischer Betrachtung überlassen. Seit Wende und
Vereinigung kommt es mir vor, als sei das Gespenst eines letzten, alles verheerenden Krieges verschwunden; seitdem beschäftigen uns Deutsche die
Mühen der wiedervereinigten Ebenen; angesichts der Dimensionen, die uns
die Globalisierung auch des Terrors verheißt, ein eher regionales Problem.
Vor Augen die aktuellen Fernsehbilder aus New York, kamen mir auch die
„Jahrestage“ in den Sinn mit ihren Aufzeichnungen des täglichen Schreckens,
wie Uwe Johnson ihn sich von der alten Tante „New York Times“ berichten
ließ. Wer diese vier Bücher kennt, hat eine Ansicht von New York, das es so
Jürgen Becker
nicht mehr gibt. Freilich waren, als Gesine Cresspahl im südlichen Manhattan nahe dem Finanz-Distrikt als Bankangestellte zugegen war, die beiden
Türme des World Trade Center noch nicht hochgezogen; die inzwischen
achtundsechzigjährige Rentnerin könnte aber nun um die Tochter fürchten,
falls der Berufsweg der vierundvierzig Jahre alten Marie zu einem Büroplatz
in einem der beiden Türme geführt hätte. Uwe Johnson lässt die „Jahrestage“
968 enden; aber mitunter habe ich mich gefragt, was aus Gesine und Tochter
Marie wohl geworden ist. Mit dem Ende dieses Romans erlaubt es unsere Imagination noch lange nicht, dass auch das Leben aller seiner Personen zu Ende
sei; sie existieren in der Vorstellung weiter in der Weise, wie sie der Verfasser
realisiert hat: als Personen, die aus der Fiktion des Romans sich entfernt und
verselbstständigt haben.
Auf der Suche nach der Adresse des Bankhauses, in dem sich Gesine Cresspahl
jeden Morgen einfand, geriet ich beim Blättern in den Sommer 942. Da war
das neunjährige Mädchen vom Vater Heinrich Cresspahl nach Ahrenshoop
geschickt worden, aufs Fischland zwischen Ostsee und Saaler Bodden. Und mir
fiel ein, dass im gleichen Kriegssommer meine Patentante aus dem Rheinland
nach Thüringen kam und mich dort abholte für eine Fahrt nach Berlin, und
nach ein paar Tagen Aufenthalt weiter dann für meine erste Reise quer durch
Mecklenburg hoch zur Ostsee, nach Greifswald zu den Verwandten, nach
Lubmin, auf die Insel Rügen. Dass diese Reise, diese endlos erscheinenden
Ferienwochen, einmal literarische Motive hervorbringen würden, von meinem ersten Buch 964 bis zum letzten Hörspiel in diesem Jahr, davon ahnte
der zehnjährige Junge damals nichts. In seinem Gedächtnis blieben endlose
Kiefernwälder zurück am Rand eines Kiefernwaldes, hinter dem der Strand,
das Meer begann, stand eine grün gestrichene Bretterbude, ein Milchausschank,
und mit dem Geschmack der Buttermilch, die der Junge an einem jeden Morgen dort trank, holte die Erinnerung jahrzehntelang die Bilder von Sandwegen
und Kiefern, den Geruch der Ostsee zurück.
Und dazu fiel mir eine andere Reise ein, die am Ende durch lauter Kiefernwälder
zu führen schien, die Fahrt von Thüringen durch Sachsen und Brandenburg
in die Lausitz nach Cottbus im August 946. Es war die Reise zur Beerdigung
der Mutter, die nach dem Erfurter Abschied von ihrem Sohn in der Lausitzer
Landschaft ums Leben gekommen war. Ein Erfahrungsschock, von dem der
vierzehnjährige Junge auch nicht ahnte, dass er als literarisches Motiv ihn
einmal heimsuchen und nicht mehr loslassen würde, bis zu seinem letzten
Buch vor zwei Jahren „Aus der Geschichte der Trennungen“.
222
Dankesrede
Von beiden Reisen wußte Uwe Johnson. Sie waren in den Geschichten aufgetaucht, die wir einander aus unseren Kindheiten erzählten, gelegentlich,
wenn wir mit Elisabeth Johnson zu dritt in der Stierstraße in Berlin-Friedenau
zusammensaßen, Anfang der siebziger Jahre vor dem Umzug der Johnsons
nach Sheerness-on-sea. Überrascht, dass der rheinische Kollege einen Ort
wie Anklam zu kennen vorgab, wollte der Mecklenburger – vier Jahre sei er
doch in Anklam zur Volksschule gegangen – wissen, was sein Gedächtnis
davon behalten habe; aber so viel war da nicht übrig geblieben, näher stand
und mehr gab zum Erzählen her die Kriegs- und Nachkriegszeit in Erfurt mit
Vergleichen auch der ersten Erfahrungen in der Sowjetischen Besatzungszone
bis 947; aber im Herbst dieses Jahres kehrte der Fünfzehnjährige schon ins
Rheinland zurück, in einen Garten voller Kirschbäume Meine Kirschbäume
sind mir verloren: unvergessen der Satz, den der Flüchtling aus Pommern, der
Mecklenburger in Westberlin, auf eine Art sagte, dass der Rheinländer darin
einen Vorwurf gegen sich hörte.
Beharrlich blieb Uwe Johnsons Interesse an der Cottbus-Geschichte. Sie war
aufgekommen beim Studium des riesig vergrößerten Meßtischblattes, das hinterm Sofa an der Wand der Berliner Wohnung hing. Beide Autoren verstanden
sich als Landkartenleser, und so demonstrierte der Berliner seinem rheinischen
Kollegen die Topographie der Gegend, in der Peter Huchel, der soeben die DDR
endlich hatte verlassen dürfen, gefangen und zu Hause gewesen war: südlich
Potsdam, mitten in den Wäldern, Wilhelmshorst. Dabei fuhr sein ausgestreckter
Finger über Caputh am Ufer des Schwielow-Sees entlang, dessen Entdeckung
und Namen im Kopf des Rheinländers einen Assoziationssprung verursachte,
die plötzliche Vergegenwärtigung eines Sees, der nördlich von Cottbus liegt
und fast den gleichen Namen hat: der Schwieloch-See. Uwe Johnson wollte
dann wissen, welche Beziehung seinen Kollegen mit der Lausitzer Landschaft
verbinde nun, ein paar Gläser Wodka waren schon getrunken, und so erzählte
der Rheinländer, wovon er lange Zeit geschwiegen hatte, nämlich die Geschichte
vom Tod seiner Mutter im Schwieloch-See, von der Beerdigung in Cottbus,
von seinem Schuldgefühl, das Grab nicht einmal besucht zu haben, von seiner
Aversion aber auch gegen die DDR, die er nach der Flucht aus seiner zweiten,
der thüringischen Heimat nicht mehr zu betreten gedenke.
Damit war Uwe Johnson nun gar nicht einverstanden. Zunächst dachte ich, es
sei der Wodka, der ihn zu der Idee inspirierte, gemeinsam zu dritt nach Cottbus
zu fahren und dort auf dem Südfriedhof nach dem Grab zu sehen. Aber an
einem der folgenden Abende wurde mir klar, dass er es ernst meinte; er hatte
223
Jürgen Becker
sich einen Reiseplan ausgedacht und redete mir auf eine nahezu drohende
Weise ins Gewissen. Mit allerlei Ausreden versuchte ich dagegenzuhalten und
zu erklären, warum ich vor einer Reise in die DDR zurück in die Landschaften
der Kindheit zurückscheute; ich zweifelte auch die Möglichkeit an, ob man ihm
und seiner Frau, DDR-Exilanten, überhaupt die Einreise gestatten werde. Das
solle meine Sorge nicht sein, er werde das schon riskieren, und was er riskiere,
das könne sich ein Rheinländer schon lange erlauben. Und im Übrigen: Es
stehe mir frei, die Reise nach Cottbus auch allein zu unternehmen.
Kurzzeitig kam es zu einem Zerwürfnis. Dann lud mich Uwe Johnson noch
einmal in die Stierstraße ein, zum letzten Mal vor dem Umzug nach England.
Wieder ein Drohen in der Stimme: Ob es bei meiner Weigerung bleibe. Ja, dabei
bleibe es. Aber zur Kenntnis nehmen müsse ich dann dieses hier. Uwe Johnsons
rechter Arm kam hinter seinem Rücken hervor, und seine Hand hielt dem
Kollegen ein Blatt Papier vor die Augen, ein Schriftstück, ein Dokument, das
mit Linien, Buchstaben, Zahlen versehen war. Was sei denn das? Das sei eine
Lagebezeichnung, die bezeichne die Lage des Grabes seiner Mutter auf dem
Südfriedhof von Cottbus. Der Kollege verstand nicht. Es gebe auch nichts zu
verstehen, zu fragen auch nichts, denn er, Uwe Johnson, könne keine Auskunft
über seine geheimen Ermittlungen geben, ich dürfe lediglich zur Kenntnis
nehmen, dass der Tod der Mutter und das Vorhandensein ihres Grabes in
Cottbus, DDR, nach wie vor aktenkundig sei. Und dabei ist es dann geblieben:
Uwe Johnson hat seinem Kollegen nie verraten, über welchen Weg er sich das
Dokument aus Cottbus nach Westberlin hat kommen lassen.
Wer den Roman „Aus der Geschichte der Trennungen“ gelesen hat, weiß,
wie er anfängt und was die ersten sieben Seiten erzählen: nämlich, dass die
Hauptperson des Buches, Jörn Winter, ein Mann in den Sechzigern, aus dem
Rheinland in die Mark Brandenburg fährt, durch den Fläming in die Lausitz
ans Südufer des Schwieloch-Sees. Es ist ein Sonntag im August 996; es ist der
fünfzigste Todestag seiner Mutter. Den Ort ihres Todes sieht er zum ersten
Mal; er versucht herauszufinden, wo genau sie ins Wasser gegangen ist.
Ein entscheidender Impuls für das Schreiben dieses Buches. Während der
Verfasser an den ersten sieben Seiten saß, ging ihm auch die Sache mit Uwe
Johnson durch den Kopf, vor allem die jahrelang quälende Frage, warum er
damals die Reise in die Lausitz hatte versäumen wollen. Der wahre Grund
eines Versäumnisses wird einem selten klar; er mag in Unterbewusstes reichen,
dorthin, wo die Ängste sich verstecken, das Verdrängte, das insgeheim Erhoffte.
224
Dankesrede
Der Verfasser geht nicht so weit zu sagen, er habe damals geahnt, dass er mit
seinem Versäumnis sich nur eine Erfahrung aufspare, die ohnehin Jahrzehnte später ihn erwarte. Aber obschon er für das geteilte Deutschland, mithin
für die Existenz der DDR, eine unendlich längere Zukunft, als sie dann hatte,
voraussah, aber er hatte einen Rest Hoffnung behalten, jenseits von nie und
nirgendwann einmal zurückkehren zu können, und das würde dann heißen:
die abgeschnittenen Teile der Kindheit seinem Leben wieder anzufügen, das
Vergangene wieder zu vergegenwärtigen und dabei mit den Orten und Landschaften die Motive zu entdecken, die zwischen Ostsee und Thüringer Wald
auf ihn warteten.
Die Motive meines Schreibens seit zwölf Jahren für Gedichte und Hörspiele; die
Motive für den Roman, den Sie heute Abend mit Ihrer Auszeichnung versehen.
Motive stellen sich in der Regel unerwartet ein, vor allem diese, die mit dem
Unerwarteten selber kamen: dem Ende der Teilung, der Trennung der Deutschen. Von da an kam es mir vor, als schreibe eine neue Wirklichkeit mit.
Gelegentlich wird ein Autor gefragt, wie er auf Dieses oder Jenes gekommen
sei, warum er so und nicht anders schreibe. Im Besonderen ein Autor, der eine
Zeit lang als Verfasser experimenteller Texte, der länger noch allein als Lyriker
gegolten hat, und der jetzt, im Alter, seinen ersten Roman schreibt.
Nun ist diesem Roman zwei Jahre zuvor ein Buch vorangegangen, eine Erzählung mit dem Titel „Der fehlende Rest“. Ein Buch, das die Arbeit des Erinnerns
beschreibt, und was die Erinnerung dabei entdeckt, ist die Gegenwart dessen,
was die Hauptperson der Erzählung, derselbe Jörn Winter, von dem die „Geschichte der Trennungen“ handelt, für seine Vergangenheit hält. Sie hat, mit
den Erfahrungen der Kindheit, seinem Erwachsenwerden, das Entstehen seiner
Ansichten und Gewohnheiten, seine Ticks, seine Verhaltensweisen, Reaktionen
und Ängste, sein Bewusstsein auf eine Weise mitbestimmt, das ihm kenntlich
wird der Zusammenhang seiner individuellen Geschichte mit der Geschichte
seiner Zeit, mit den kollektiven Erfahrungen, mit dem Gang der Historie. Man
kann die Erzählung vom „fehlenden Rest“ als Präludium zur „Geschichte der
Trennungen“ lesen; sie kommt mit Personen, Schauplätzen, Geschehnissen,
die sich dann ausdehnen in den Dimensionen des folgenden Romans. Als der
Autor den „fehlenden Rest“ beendete, wußte er: Dieses Buch ist zwar fertig,
aber die Geschichten darin fangen jetzt erst an; die Spuren liegen offen, die
Hintergründe einer Biografie werden sichtbar. Als hätte ein Archäologe, der
noch nicht recht weiß, wonach er eigentlich sucht, den wahren Gegenstand
225
Jürgen Becker
seiner Forschungen entdeckt, so sah der Autor nun ein Territorium vor sich,
das wahrzunehmen und zu beschreiben nach weitgreifenden erzählerischen
Verfahren verlangte.
Ein reales Territorium, das sich aus Träumen und Erinnerungen zurückverwandelt hatte in konkret erfahrbare Wirklichkeit. Es war lange Zeit verdrängte
Sehnsucht, die den Autor nach Mauerfall und Einheit in die Landschaften
zwischen Elbe und Oder hineinzog; Sehnsucht nach dem in der Kindheit
Vertrauten, dem scheinbar Verlorenen, aber auch nach dem Unbekannten,
dem Noch-nicht-Gesehenen. Da hatte er in seinen jungen Jahren noch ein
ungeteiltes, ein Vaterland gekannt, das ihm und seiner Generation dann beigebracht hatte, dass es das Vaterland der Verbrechen gewesen war. Da hatte er
die Konsequenzen von Schuld und verlorenem Krieg erfahren und den Anfang einer Geschichte, die sein Land in Besatzungszonen und alsbald in zwei
Staatsgebilde teilte, in denen wir, die Deutschen, Identitäten annahmen, die,
nach neutralen Himmelsrichtungen benannt, sich doch als ideologisch feindliche verstanden. Dabei hätte die politische Landkarte auch anders aussehen
können: Der Russe hätte Berlin behalten, die Briten und Amerikaner wären im
Mecklenburgischen, im Sächsischen, in Thüringen geblieben. Wenn, wie Uwe
Johnson es imaginierte, Klütz zum Westen gekommen wäre, eine Hälfte von
ostdeutschen Biografien hätte den westdeutschen Verlauf genommen. Bittere
Konjunktive; die Wirklichkeit hat Jahrzehnte gewartet, bis sie die Grenzlinie
auf den Landkarten löschte.
Der Autor aus dem Westen, der einen langen erzählerischen Weg durch den
Osten geht, um die Spuren seines früheren Lebens, um das Gemeinsame von
Kinderzeit-Erfahrungen zu finden, er kommt mit Ansichten und Gewohnheiten,
die sich von denen der Einheimischen unterscheiden. Er hört deutsche Wörter,
die etwas bedeuten, wovon er keine Ahnung hat; er gebraucht deutsche Wörter,
an denen man gleich seine Herkunft erkennt. Er meint ein vertrautes Zuhause zu betreten, und wenn auch die alten Klingelknöpfe noch an der Haustür
hängen, die Vergangenheit steht nicht da und sagt: Na endlich, da bist du ja
wieder. Eher trifft er auf eine Gegenwart, die durch ihre eigene Geschichte
geprägt ist und die ihm zu sagen scheint: Deine Kindheit wohnt hier nicht
mehr, hier haben ganz eigene Lebensläufe angefangen.
Beim Schreiben seines Buches hat sich der Autor mitunter gefragt: Wer wäre
ich, wenn damals 947 sein Vater gesagt hätte, wir bleiben hier in Erfurt, da
gibt es genug zu tun. Vielleicht ähnelte seine Biografie der seiner Kollegin im
226
Dankesrede
Rundfunk der DDR, die auf Tag und Jahr gleichaltrig und aufgewachsen in
Thüringen, später in der Berliner Nalepastraße das Hörspiel leitete, und zwar zur
selben Zeit, als unser Autor im Deutschlandfunk in Köln sich in der gleichen
Funktion befand. Also doch FDJ, also sicher Genosse. Oder er hätte notorisch
Rias gehört und das Gehörte weitergesagt, und er wäre dafür, wie der Müller in
Kossin, zwei Jahre nach Bautzen gekommen. Oder er hätte sich von der Staatssicherheit anwerben lassen. Oder man hätte ihn aus dem Schriftstellerverband
ausgeschlossen. Oder er hätte die Sommermonate vielleicht in Wiepersdorf,
vielleicht in seinem Haus auf dem Hohen Ufer in Ahrenshoop verbracht. Oder
man hätte ihm dann doch die Ausreise genehmigt in einen Westen, aus dem er
zwar stammte, aber in dem er sich als Fremder vorgekommen wäre.
Die Möglichkeiten einer Identität, und wie sie jeweils abhängt vom Sein, das
unser Bewusstsein bestimmt. Beim Schreiben seines Buches, dessen Schauplätze
sich auf dem Territorium der ehemaligen DDR befinden, hat sich der Autor
einmal gefragt, ob er das Recht habe, das Land mit den Erinnerungen ans
Früher zu überziehen. Er tat es mit der Empfindung, dass die Geschichte der
Ostdeutschen auch Teil der eigenen Geschichte sei, und indem er es tat, nahm
er sich das Recht der Literatur, die Wirklichkeit zu untergraben und nach etwas
zu suchen, das die Wirklichkeit verschüttet hat. Erst die Genauigkeit und die
Beharrlichkeit des Erinnerns stellt die wahren Dimensionen der Wirklichkeit
wieder her; sie macht kenntlich die Widersprüche, die Zusammenhänge zwischen dem Einst und dem Jetzt; sie sagt uns, dass Verlorenes nicht verloren
geht, solange das Gedächtnis es festhält.
Aber kenntlich werden dabei auch die Defizite, das hat der Autor beim Schreiben gemerkt. Aufgewachsen und weitergekommen im westeuropäischen
Erfahrungsbereich, weiß er wenig Bescheid über das Leben seiner Landsleute
in der DDR. Er hat seine Vorurteile, und er hat sie sich korrigieren lassen. Er
hat sich Erfahrungen und Lebensläufe erzählen lassen, aber das ersetzt das
authentische Erleben nicht. Die Geschichte der Trennungen erzählt auch
vom Getrenntsein der Erinnerungen und Erlebnisse. Der Autor würde keinen
Roman versuchen, der einzig auf die Fiktion setzte und Biografien erfinden
würde, deren reale Bestandteile er nicht kennt. Es ist, so sagt es Uwe Johnson,
„unzweifelhaft misslich, dass einer bloß wahrscheinliche Leute hinstellt, wo sie
nicht gestanden haben, und sie reden lässt, was sie nicht sagen würden“ Er hat,
unser Autor, mit seinem Roman eher versucht, den Defiziten seiner Erfahrung
eine Art Hoffnung entgegenzusetzen, dass in seinem Buch die Geschichte der
227
Jürgen Becker
Trennungen ihr allerletztes Kapitel begonnen hat. Diese Hoffnung reicht über
den Roman hinaus; sie richtet sich auf unsere Wirklichkeit, darauf, dass die
Wirklichkeit selber mit diesem letzten Kapitel zurande kommt. Ein Impuls in
die Zukunft hinein, die auch der Autor vor Augen hat, indem er so viel vom
Gang, von den Wirkungen der Geschichte erzählt. Vielleicht, dass hier in Neubrandenburg sein Buch so angenommen worden ist. In jedem Fall berührt es
mich, macht es mich glücklich, dass die Auszeichnung dafür aus Mecklenburg
gekommen ist, aus einem Land, in das mich, bevor ich es kennen gelernt habe,
Uwe Johnson eingewiesen hat. Mein Dank hat Dauer für alle Zeit.
228
Martin Wiebel
Annäherung durch Entfernung.
Laudatio auf Christoph Busch und Peter Steinbach
anlässlich der Verleihung des Sonderpreises
der Mecklenburgischen Literaturgesellschaft
Meine Damen und Herren, lieber Busch, lieber Steinbach!
Ihr habt über Millionen von Wörtern gesessen. Ihr habt Euch den Menschen
von Jerichow und ihren Geschichten mit eigener Phantasie und Erinnerung
genähert. Ihr habt durch diese vorsichtige Annäherung die innere Geschichte
des literarisch riesigen zeitgeschichtlichen Werkes Johnsons in Filmbildern
zu erzählen gewagt. Ihr habt die innere Wahrheit dieses überreichen Werkes
freischneiden müssen, wie Rosenschneider.
Das braucht Zeit, Geduld, Hartnäckigkeit und vor allem Liebe, Liebe vor allem,
die Respekt und Zuneigung, Ehrfurcht und Distanz braucht, um ihre wahre
Tiefe zu entfalten.
Diese Arbeit ging nicht ohne Vereinfachung ab in der Transformation der
facettenreich-raffinierten Vielschichtigkeit des Romans zu einer erzählbaren
Fabel, einer Filmerzählung, die ihre eigenen Regeln hat. Zuschauer und Leser
haben nun einmal eine radikal unterschiedliche Wahrnehmungsweise, die
nicht straflos zu ignorieren ist.
Ihr habt Euch den erwartbar betonierten Vorurteilen der literarischen Beckmesser und der berufskranken TV-Zyniker gestellt, die schon vorher wußten,
dass Uwe Johnsons „Jahrestage“ ohnehin nicht verfilmbar seien und sowieso
„wieder keine Sau hinschauen“ würde.
Ihr seid nicht allein gewesen, eher allseitig beaufsichtigt und unter vielseitigem Druck, wie er in einer Allianz der Kreativität mit dem Dramaturgen, der
Produktionsfirma und der Regisseurin entsteht. Eure Drehbücher hatten aber
die Kraft, bei jedermann den möglichen Fernsehfilm heraufzubeschwören,
und darauf kam es an.
Martin Wiebel
Meine Damen und Herren,
Drehbücher werden ja nicht geschrieben um gelesen, sondern um verfilmt zu
werden. Ein Drehbuch ist noch kein Film, sondern ein Drehbuch für einen
Film ist keine eigene Kunstform, sondern die Sehnsucht nach einer Kunstform,
die durch die Verfilmung entsteht.
Ein Drehbuch ist also auch die Sehnsucht nach einem anderen Fernsehfilm, von
dem die Autoren träumen. Deshalb sind sie bereit, immer wieder Kompromisse
zu machen. Deshalb sind sie bereit, diese „Lebenszeitverkürzungstreffen“, die
man Drehbuchbesprechung nennt, zu ertragen. Ich weiß, wovon ich rede. Es
gibt viel zu entschuldigen.
Dass hier und heute mit Busch und Steinbach zwei Drehbuchautoren eine
eigene Wertschätzung erfahren, ist für mich doppelt bedeutsam: einerseits
als Ritterschlag der literarischen Welt für die Filmbilderwelt, aber auch als
Brückenschlag zwischen Drehbuchautoren und Regie. Margarete von Trotta
hat Eure aufgeschriebene Vision der „Jahrestage“ aufgenommen und sie durch
ihre Regiekunst darüberhinausgeführt. Gemeinsam haben wir ihr viel zu verdanken, besonders für die vielen Blicke zwischen den Zeilen.
Lieber Busch, lieber Steinbach,
wenn ich im Weiteren von eurem Film spreche, dann eben weil ihr aus dem
grandiosen Gefüge Johnsons liebevoll und behutsam mit distanzierter Bewunderung und kritischem Respekt einen Strang von Geschichten herausgelöst
habt, der sich zu einer Filmerzählung fügt, die die Zuschauer am Zuschauen
hielt und darüber hinaus für die Lektüre des Romans erwärmte.
Euer Film mag vieles vom Autor genommen haben, ihr habt dem Autor aber
auch vieles gegeben, Leser vor allem, 40.000 neue. Ein Grund zum Gratulieren.
Euch ging es darum, Gewalt gegen das Buch bei der filmerzählerischen Analogiebildung zum literarischen Werk zu vermeiden. Wir mussten uns gegenseitig
immer wieder ermutigen, unsere Liebe zu Johnson in angemessene Distanz,
gespeist aus präziser Kenntnis seines Werkes, zu verwandeln. Annäherung
durch Entfernung nannten wir das. Aber dann habt ihr vor allem noch Herz
und Seele dazugegeben. Dafür ist euch zu danken.
230
Laudatio
Ihr habt den „Jahrestagen“ ihre Wahrheit erhalten und den Geist des Buches
bewahrt. Nicht durch eine seminaristische und wahrscheinlich ohnehin
lächerliche Texttreue, sondern durch filmerzählerische Phantasie und deren
Verteidigung. Ihr seid Analogie-Künstler, und wie Johnson obsessiv von der
anarchischen Subjektivität der Erinnerung geprägt.
Das alles geschah nicht ohne Besorgnis. In einer solchen besorgten Nacht
notierte Steinbach: „Dein Kind Johnson hat Ansprüche gelernt. Schau, diese
Werkstattfenster, von Mühsal bestäubt. Ach, was, alter Schwede, wir haben
doch eine andere Wahrheit!“
Die andere Wahrheit, das ist die Macht der Kunst der Geschichtenerzähler, die
Anteilnahme und Aneignung beim lesenden und beim sehenden Publikum
hervorbringen können, das ist die Erinnerungsbefähigung und Nachsichtigkeit, die es zu stärken gilt, das ist die Kraft, „Ausbrüche aus dem versiegelten
Gedächtnis“ zu registrieren, wie Durs Grünbein nach der Terror-Erfahrung
des .09.200 in New York.
Die Erinnerung an die Menschen sind deren Geschichten auch und gerade
in politischen Unzeiten. Die haben Drehbuchautoren vor allem zu erzählen.
Anderenfalls würden die Menschen an narrativer Atrophie sterben und blieben
ohne Gedächtnis.
Die andere Wahrheit hat aber auch eine bedrohte Seite. Wir registrieren einen
Verlust an nationaler Erzähl- und Filmkultur, mindestens eine kommerzielle
Schwäche des Deutschen Films und der Deutschen Literatur. Die scheinen
eine gemeinsame Wurzel in der interesselosen Abgewandtheit vom wahren
gesellschaftlichen Leben zu haben. Eigentlich betrifft nichts niemanden mehr,
und alles scheint gleich und gültig.
Es braucht einen trotzigen Mut von Produzenten, Dramaturgen und Autoren,
gegen die formatierte Tristesse des auf den Boulevard drängenden Fernsehens,
literarisches Fernsehen zu machen, das heißt Fernsehfilm nach literarischen
Vorlagen, auf den die Zuschauer einen Anspruch haben.
Dieser Anspruch, auf intelligente Weise unterhalten zu werden, ist in größter
Gefahr, von den Format-Bulldozern mit Günter Jauch im Sulky niedergewalzt
zu werden. Busch und Steinbachs Qualitätswille und ihre Robustheit helfen
gegen den wuchernden Quoten-Opportunismus und die resignative Verbeugung vor dem niedrigsten gemeinsamen Nenner des Geschmacks. In diesem
231
Martin Wiebel
Sinne sind sie preiswürdig als Unzeitgemäße, die sich weniger für die vorübergehenden Erzählmoden interessieren und nicht den Kategorien des derzeitig
Interessanten folgen, die zunehmend den Warenwert der Kunst bestimmen.
Wer sich wie Busch und Steinbach jahrelang an ein vom Zeitgeist gefährdetes
Fernsehfilmprojekt hängt, der interessiert sich für eine emanzipierte Öffentlichkeit, für ihre Verhältnisse, für das Gedächtnis von uns allen.
Meine Damen und Herren,
es bleibt eine Binsenweisheit. Ein Roman ist ein Roman, und ein Film ist
ein Film, nebeneinander und autonom und so auch wahrgenommen. Jede
Literaturverfilmung bildet natürlich nur einen Teil des verfilmten Werkes ab.
An Literatur ist nur Literatur das, was nicht zu verfilmen ist. Wenn aber eine
Verfilmung die empfindlichste Stelle der Literatur, die erzählerische Phantasie,
nicht verletzt, dann wird die Verfilmung zu einer Art Rezension des literarischen Werkes. Und wichtig ist dabei, wie und wann und wer einen Roman in
eine filmerzählerische Analogie bringt, denn das sagt viel, über den Roman
und die Zeit und die Künstler, die es versuchen.
So gesehen war mein Traum, meine Version, mein tiefstes Leseerlebnis zu
einem kollektiven Fernseherlebnis zu machen, auch im Scheitern vor den
Hochrichtern der Literatur ein Erfolg: sechs Stunden Filmerlebnis haben
andere Erinnerungsarbeit als 892 Seiten Romanlektüre hervorgerufen. Dem
Roman in seiner Eigenständigkeit ist durch den Film nichts genommen, aber
er gab ihm etwas: Aufmerksamkeit und Neugier.
Unter den bemerkenswert vielen 3,5 Millionen Fernsehzuschauern pro Folge
waren die 00.000 bisherigen Johnson-Leser voraussichtlich in der Minderheit,
wenn sie sich überhaupt diesem Film nach Uwe Johnsons Roman aussetzen
wollten.
Deren literarischer Himmel, den ihre Lektüre aufgebaut hat, mag irritiert worden sein, weil Busch und Steinbach eingreifen mussten in die Erzählstruktur, ja
sogar in die Sprache. Aber 40.000 neue Leser werden nach dem Film ein ganz
eigenes Leseerlebnis haben, und es mag ihnen gehen wie dem Kritik-Teiresias
Joachim Kaiser, der eines immerhin bemerkt hat, dass kein Leser nach dem
Film sich den Heinrich Cresspahl anders als in Matthias Habichs Verkörperung
mehr vorstellen kann.
232
Laudatio
Für mich sind Literatur und Film nicht in einer Notgemeinschaft und auch
nicht zwingend feindliche Geliebte. Aber ich frage mich schon, wo eigentlich die
deutsche Literatur unserer Tage ist, die potenzielle Stoffe für ernstzunehmende
Fernsehfilmprojekte bietet. Das Medium ertrinkt im schamlos gleichförmigen
Unsinn, hangelt sich zur Zeit verzweifelt an Biopics über den Abgrund, aber
Verlage und Autoren von erzählerischem Gewicht scheinen interesselos an
Film und Fernsehen. Es beruhigt nicht, dass Alfred Andersch das schon vor
30 Jahren beklagte.
Noch heute nennen Autoren von Büchern, die sich selbst auf Film und Fernsehen einlassen, diese Tätigkeit Broterwerb, Geldmaloche oder auch nur
Gelegenheitsjob, und wahrscheinlich verachten sie sich dafür und finden wie
ihre Kritiker das Medium verächtlich, für das sie schreiben.
Aber die Autoren, die Agenten und Verlage täten gut daran, sich kritisch in
die Film- und Fernsehwelt einzusehen, um dann mit Stoffen aufzuwarten,
die betreffen. Solange die Literaten und die Literaturkritiker das Fernsehen
bloß als „Glotze“ sehen, in dem lediglich Banalisierung und Trivialisierung
jedweden Textes zu erwarten sind, wird die Diskrepanz zwischen Literatur
und Gesellschaft immer größer. Dass unser Fernsehen so elfjährig wirkt, hat
ja auch damit zu tun, dass die Autoren sich verweigern, sich dem Wetter nicht
aussetzen, sondern sich lieber unterstellen. Nichts ist gegen die Liebe zum
linksbündigen Schreiben zu sagen, und ich verstehe auch die Abneigung gegen
den lobotomischen Vorgang des Drehbuchschreibens, aber sich der enormen
gesellschaftlichen Chance zu ergeben, die populärste und beliebteste Kunstform
unserer Zeit zu nutzen, statt sich sprachverliebt oder nach innen gewandt zu
verweigern, spricht nicht gerade für ein gesellschaftliches Selbstverständnis.
Schreiben ist ein einsames Geschäft und Drehbuch-Schreiben erst recht. Die
Unsichtbarkeit von Drehbuchautoren hat einen doppelten Grund: Drehbücher
erleben und erdulden nach den Marktgesetzen der Filmproduktion einen Wandel vom Kulturgut zum Wirtschaftsgut, weil im Entwicklungsprozess von der
Entstehungsgeschichte zur Verwertungsgeschichte ein veritabler Warentausch
stattfindet. Aus dem Traum der Autoren wird ein Produkt der Traumfabrik,
die sich mit dem Regisseur dann einen neuen omnipotenten Künstler erschafft,
um das Produkt wieder vom Waren-Charakter zu befreien.
Großmächtige Literaturkritiker, die auf Befragen stolz mitteilen, nie fernzusehen, rezensieren dann ohnmächtig das TV-Angebot und schaffen es, viele
lange Spalten in einer großen Tageszeitung die Drehbuchautoren Busch und
233
Martin Wiebel
Steinbach gar nicht wahrzunehmen, nicht einmal kritisch, sie einfach unerwähnt zu lassen.
Das macht Autoren unsichtbar.
In der Ökonomie der Aufmerksamkeit, besonders in Zeiten des zum bloßen
Zeitvertreib tendierenden Fernsehens ist eine Preisauszeichnung für die
Drehbuchautoren Busch und Steinbach deshalb ein signalhaftes Geschenk,
nicht bloß materiell, eher politisch. Den Sonderpreis der Mecklenburgischen
Literaturgesellschaft für meine Freunde Busch und Steinbach empfinde ich als
Signal, dass anderen aufgefallen ist, welche Mühe sie sich gegeben haben.
Ich gratuliere Euch zu dieser Ehrung und Auszeichnung und den Preisstiftern
zu ihrem Mut, Euch diesen Preis zuzusprechen.
Ihnen, meine Damen und Herren, danke ich für Ihre Geduld.
234
Christoph Busch
Auf der Suche nach einer menschlichen Welt.
Dankesrede
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich freue mich von Herzen über diesen Preis und danke Ihnen. Und darf das
gleich doppelt: Für meinen Freund Peter Steinbach gleich mit.
Wer hätte mit diesem Lob gerechnet? Peter und ich jedenfalls nicht. Im Gegenteil: Der Respekt vor Johnsons Kunst hat uns immer wieder am Vorhaben
der Adaption zweifeln lassen, immer wieder beim Schreiben der Bücher. Und
was würden die Johnson-Fans mit uns machen? Uns mit seinen Werken nebst
Sekundärliteratur auf der Ostsee aussetzen? (Mit einem Schlauchboot wäre
es da allerdings nicht getan). Sie haben uns leben lassen. Manche lieben sogar
die Filmfassung: Jetzt haben sie eben zwei ganz verschiedene „Jahrestage“, und
damit doppelt Freude. Und nun sogar Lob aus literarischer Runde für uns!
Dieses Lob tut auch Redakteurinnen und Redakteuren in den Sendern gut: Die
Einschaltquote ist ein Lob für guten Umsatz, ist das Lob für die Fischstäbchen.
Womit ich nichts gegen Fischstäbchen sagen will. Aber Fernsehen ist kein
Fischstäbchen, zumindest nicht nur, sondern wie Presse, Theater, Radio und
Literatur Spiegel und Anregung unseres gesellschaftlichen Lebens. Weshalb
Fernsehen nicht allein nach ökonomischen Regeln gespielt werden darf. Weil
zum Beispiel eine dieser Regeln der Trend zur Vereinheitlichung und Konzentration ist: Fischstäbchen für alle und immer wieder.
Wer Ungewohntes zubereiten will, nouvelle cuisine im Fernehen quasi, riskiert
es, vom Markt nicht mehr geliebt zu werden, statt drei Sternen einen auf die
Mütze zu kriegen. Darum brauchen Redakteurinnen und Redakteure die nicht
kommerzielle Ermutigung zum Beispiel durch diesen Preis.
Das wiederum macht den Drehbuchautor hoffen, dass er so arbeiten kann,
wie er es am liebsten tut: Ohne die Quote im Nacken! Was wiederum die
Zuschauerinnen und Zuschauer hoffnungsvoll stimmen sollte: Überraschung,
Christoph Busch
Veränderung, Neues, vielleicht sogar Besseres steht in Aussicht. Eine Hoffnung,
wie sie auch in den „Jahrestagen“ lebt!
Das mag Sie im ersten Moment verblüffen: Wo, bitte, findet sich in den „Jahrestagen“ Hoffnung? Heinrich Cresspahl bewahrt die Jerichower vorm Verhungern und wird zum Dank in Fünfeichen gequält. Jakob will etwas für den
Sozialismus tun und wird von einer Lok überfahren. Tochter Marie tut etwas
gegen die Rassendiskriminierung. Aber das schwarze Mädchen Francine muss
in den Slum zurück. Alle Mühen um mehr Menschlichkeit scheinen für die
Katz. Höchstens Futter für die Katze Erinnerung. Alles scheint immer nur eine
Variation des schon Erlebten und Erlittenen.
Trotzdem ist Hoffnung ein roter Faden der „Jahrestage“: Uwe Johnson erzählt
nicht genüßlich vom Scheitern, sondern stellt ohne Häme fest, dass es wieder
mal nicht geklappt hat. Kein „Siehste-wohl“ klingt an, und kein „Das-mußteja-so-kommen“. Uwe Johnson läßt seine Menschen nicht vernünftig werden,
sich nicht die Hörner abstoßen, und wie die Formulierungen für Anpassung
und Aufgabe sonst noch lauten mögen.
Johnsons Menschen lassen sich durch Niederlagen nicht die Hoffnung nehmen.
Selbst nach der Tortur in Fünfeichen ist Heinrich Cresspahl kein pauschaler
Russenhasser, kann immer noch differenzieren. Er mag müde sein, aber er hat
seinen eigenen Willen, sein eigenes Bild von der Welt.
Anita hegt trotz Vergewaltigung durch eine Gruppe russischer Soldaten Sympathien für andere Fraktionen der Roten Armee und glaubt als Fluchthelferin
das Richtige für ihre Vorstellung von einer besseren Welt tun zu können. Marie
läßt sich ihre Idee von einem glücklichen Zusammenleben dreier Menschen
auch nicht durch die geballte Liebesangst ihrer Mutter austreiben.
Gesine engagiert sich trotz böser Erfahrung mit Russen und Parteien für den
„Prager Frühling“. Und die „Jahrestage“ enden nicht etwa mit der Feststellung,
dass ihr Versuch dämlich war, sondern mit einer Marie, die ihrer Mutter helfen
wird, auch dieses Scheitern zu überstehen.
Aber warum lassen Johnsons Menschen die Hoffnung nicht fahren? Was
ist ihr geheimes Rezept? Eine Utopie ist sicherlich hilfreich. Etwa eine freiheitliche-sozialistische, wie Gesine sie auf Seite 690 der „Jahrestage“ notiert.
Grundsätzliches Nachdenken über gesellschaftliche Alternativen ist gerade
auch in den heutigen Zeiten verschärften Konsensdrucks sogar schon ein
erster Schritt zur Veränderung.
236
Dankesrede
Hoffnung braucht aber nicht das perfekte gesellschaftliche Gegenmodell oder
gar seine unmögliche Umsetzung, um aktiv werden zu können. Das wäre „eine
Haltung, die längst auf den individuellen Protest verzichtet hat und damit auf
eine grundlegende Veränderung der Verhältnisse; sie kann von ihren Beweisen
prächtig leben und ähnelt doch dem, was früher kleinbürgerliches Denken
hieß“. Was über D.E. in den „Jahrestagen“ (340-34) gesagt wird.
Denn eine Utopie dient nicht der Abwertung kleiner, konkreter Erfolge, nicht
der automatischen Enttäuschung, sondern der Motivation.
Darum bevorzugen Johnsons Menschen eine praktikable Utopie: Ihre Hoffnung
ist getragen von dem Bedürfnis nach einem selbstbestimmten Zusammenleben
freier und gleicher Individuen. Und ein faires Zusammenleben der Menschen,
wenn es kein Geschwätz sein soll, muss heute und jetzt beginnen. Im Kleinen.
Ist nach Johnson vielleicht auch nur im Kleinen zu erreichen.
Wenn Cresspahl mit anderen über Nacht eine HJ-Hütte verschwinden läßt,
stoppt das nicht Hitler. Aber es macht allen, die mittun, Mut. Vom „eroberten“
Bauholz ganz abgesehen. Wer die kleinen Erfolge trotz weitergehender Wünsche zu schätzen weiß, kann kaum enttäuscht werden. Im Plattdeutschen gibt
es die Weisheit: „Houpen is en staw, de de Mensk ut’t Paradiese metnoumen
had“. „Hoffen ist ein Stab, den der Mensch aus dem Paradies mitgenommen
hat“. Um ihn hier zu nutzen.
Entsprechend vielfältig sind die Wege, sich der Erfüllung der Hoffnung zu
nähern: Sei es Cresspahls gefährliche Spionage. Sei es Maries Spende für den
Bettler mit den blauen Haaren in New York. Gesine versucht zwar, Marie das
Geben an Bettler zu untersagen, aber vergebens.
Denn es gibt keinen allein seligmachenden Weg, es gilt kein Effektivitätsmaßstab. Die Ursachen von Unrecht zu bekämpfen, ist so richtig wie das Lindern
der „Symptome“, die den einzelnen Menschen treffen. Jeder Weg, Unrecht und
Leid zu mildern, ist besser, als wegzusehen.
Verständnis für fremde Wege auf der Suche nach einer menschlichen Welt ist
deshalb auch Teil der Hoffnung. Cresspahl kann den Sozialisten Jakob ebenso
verstehen wie den Pastor Brüshaver. Nur wer sich unbedingt einsam oder elitär
fühlen will in seinem Bemühen, verachtet die Wege des anderen.
Johnson behält allerdings nicht für sich, welchen Wegen er den Vorzug gibt:
Seine Hoffenden sind nicht blind, sind nicht Gläubige auf der Suche nach dem
Märtyrertod. Johnsons Hoffende sind listig, Cresspahl ebenso wie seine Enkelin
237
Christoph Busch
Marie. Johnsons Hoffende haben Gespür für das ihnen individuell Mögliche.
Johnsons Hoffende wollen möglichst viel ändern und möglichst viel leben.
Doch trotz Augenmaß für sich, für die eigenen Fähigkeiten, die eigene Rolle in
der Gesellschaft geht jeder aktiv Hoffende, auch der hoffende Fernsehredakteur
ein Risiko ein. Zumindest das Risiko, aufzufallen, anzuecken, nicht akzeptiert,
nicht geliebt zu werden für das, was sie oder er tut. Und damit eventuell nicht
einmal viel zu erreichen. Was treibt dann die Hoffenden? Sind sie verrückt,
besessene Weltverbesserer?
Die Hoffenden ahnen, dass die Welt ohne sie, ohne ihre „Traumtänzerei“ anders
aussähe. Brutaler wahrscheinlich, ein wenig mieser bestimmt. Wie zum Beispiel
wäre der Krieg ohne Cresspahls Spionage für die Engländer verlaufen? Die
Rettung der KZ-Häftlinge hat Cresspahl nicht erreicht. Aber wenn durch sein
Tun der Krieg zehn Minuten früher aufgehört hat, nur zehn Menschen weniger
gestorben sind, ist das nichts? Warum soll der Einspruch gegen die Ohrfeige
für ein kleines Kind im Supermarkt nicht der Beginn eines menschlicheren
Zusammenlebens sein?
Auf jeden Fall haben die Hoffenden selbst etwas davon. Sie müssen Ärger über
die Verhältnisse nicht herunterschlucken. Sie müssen Gespür für Unrecht
und Wissen um Missstände nicht verdrängen. Sie müssen die veröffentlichte
Meinung nicht hilflos über sich ergehen lassen. Sie können sich eine eigene
Meinung, andere Ansichten vom Lauf der Dinge erlauben. Und etwas tun. Und
sei´s nur, mit einem Nachbarn reden. Wer hofft, spürt sich höchstpersönlich.
Hat ein Selbst. Ein Bewusstsein. Johnsons Menschen können nicht ohne: „Du
kommst nicht an einem Pferd vorbei, ohne ihm in die Augen zu sehen.“ Heißt
es über Gesine auf Seite 87 der „Jahrestage“.
Hoffnung ist deshalb ein Mittel gegen die Angst. Angst ist verbreitet: Angst vor
Arbeitslosigkeit, vor Armut, vor Krieg, vor Terror, Kriminalität. Verängstigte
Menschen sind leichter zu manipulieren. Hoffnung auf Veränderung ist, so
wenig aussichtsreich sie scheinen mag, ein vernünftiges Mittel gegen irrationale
Ängste. Lieber sich von der Hoffnung umtreiben lassen, als von der Angst.
Mit anderen Worten: Hoffnung auf Veränderung ist egoistisch. Und das ist gut
so. Hoffnung auf Veränderung hat und pflegt der Mensch, weil sie oder er es
braucht, um sich zu fühlen, um zu leben. Wer sagt, er hoffe nur für andere, dem
ist heftigst zu misstrauen. Nur wer es selbst ohne Hoffnung in dieser Welt nicht
aushält, wie Jakob, Cresspahl, Gesine, Anita und Marie, meint es ehrlich.
238
Dankesrede
Johnsons leise Sympathie für die Hoffenden hat uns bei der Drehbucharbeit
in große Schwierigkeiten gebracht. Johnson hatte viele hundert Seiten und vor
allem seine bei aller Trockenheit ins Herz gehende Worte, um trotz momen-tanen Scheiterns seiner Menschen die Hoffnung durchschimmern zu lassen. Wir
mussten einen Film schreiben, dessen letzter Teil in einer Versammlung von
Katastrophen endet: In der 68er Roman-Gegenwart stirbt D.E., den zu lieben
sich Gesine gerade getraut hat. Gesines wiedergefundene politische Liebe zu
einem menschlichen Sozialismus wird von den Sowjet-Truppen überrollt. In
der Roman-Vergangenheit stirbt Jakob.
Wir wollten trotzdem Johnsons stille Erklärung, dass Hoffnung und Eintreten
für dieselbe den Menschen zum Menschen macht, zum Ausdruck bringen. Wir
haben uns entschieden, die Toten den Lebendigen Mut machen zu lassen.
Ich hoffe, es hat Sie nicht aus der scharfen Kurve getragen: vom Preis zur
Hoffnung bei Johnson. Mir war danach, die Kurve zu kriegen, gerade in
diesen Zeiten, Johnson hatte, wie gesagt, bei aller Skepsis, ein Herz für die
Waghalsigen. Vielleicht hat er ja auch Verständnis für die scharfen Kurven
von Drehbuchautoren.
Danke noch einmal, dass Sie Peter Steinbach und mir Hoffnung machen. Danke
an Margarete von Trotta, Martin Wiebel und alle anderen, ohne deren Arbeit
die Drehbücher ein Berg Papier mit einem Dutzend Leserinnen und Leser
geblieben wären. Und Dank an Uwe Johnson, dessen Kunst unsere Arbeit erst
möglich gemacht hat.
Danke, dass Sie meinem Wort zum Sonntag Ihre Aufmerksamkeit geschenkt
haben.
239
„Aber der einzelne kommt aus seinen
historischen Zusammenhängen nicht heraus“.
Carsten Gansel im Gespräch mit Jürgen Becker
G: Sie haben in den 60er Jahren mit Ihren Bänden „Felder“, „Ränder“ und
„Umgebungen“ Prosaskizzen geliefert, dabei aber ‚Wirklichkeit‘ in ‚disparate
Einzelheiten‘ aufgelöst. Mithin, es ging ihnen nicht um ein traditionelles
Erzählen, vielmehr wurde mit der epischen Form gespielt und experimentiert. In den 970er Jahren stand dann die Lyrik im Zentrum, wobei dem
Autor auch hier das Experimentelle wichtig war.. Nun sind Sie in den 80er
bzw. 90er Jahren zunehmend zum Epischen gekommen. Hängt dies möglicherweise mit dem ‚Prinzip Erinnerung‘ zusammen, das für Sie eigentlich
schon früh eine Rolle gespielt hat, so mein Eindruck. Um die Erinnerungen
zu ‚verarbeiten‘ bzw. darzustellen, war die epische Form notwendig.
B: Ja, damit hat das sicher zu tun. Schon als ich noch jung war, habe ich bereits
mit „Erinnerung“ gearbeitet. Die „Felder“ sind bereits ein Erinnerungstext
sogar mit Motiven, die in dem Roman „Aus der Geschichte der Trennungen“ jetzt wiederkehren. Meine ersten drei Bücher „Felder“, „Ränder“,
„Umgebung“, die sogenannte experimentelle Phase, waren der Versuch,
die Gattungen zu verschmelzen. Es ging mir darum, den lyrischen Impuls
und das Erzählerische in eine Textform zu bringen. Diese Textform geht
zunächst von der Sprache aus, ohne danach zu fragen: „Bin ich Gedicht,
bin ich Prosastück“? Nicht die Frage der Gattung ist also zentral, sondern
die Tatsache, daß hier ein „Stück Sprache“ existiert, das bestimmte Dinge
reflektiert, Wahrnehmungen aufzeichnet.
G.: Es war dies allerdings nur eine Phase, sie ging dann zu Ende.
B: Nun gut, die Phase ging zu Ende, und weiterhin experimentell zu schreiben
– da wäre ich wieder in einer Konvention geendet, die ich damit eigentlich
widerlegen wollte. Danach – in aller Kürze gesagt –, habe ich versucht,
die einzelnen Impulse wieder zu verselbstständigen, also einmal den lyrischen Impuls, ich schrieb dann Gedichte. Es ging mir ferner darum, das
Akustische in meinen Büchern freizusetzen, ich schrieb Hörspiele. Und
dann wollte ich eben auch Prosa schreiben, das begann mit „Erzählen bis
Ostende“. Der Text war schon fast ein Romanansatz. In den 70er und 80er
Carsten Gansel im Gespräch mit Jürgen Becker
Jahren konzentrierte ich mich auf die Lyrik, wobei die Lyrik ja zunehmend
erzählerischer wurde. Diese langen, langen Gedichte sind ja eigentlich alle
Erzählungen. Die Texte versuchen alle, Gleichzeitigkeit zu formulieren, es
geht um den Moment, um den Hintergrund des Moments, also letztlich
um das Vergangene.
G: Die Konzentration auf die Lyrik hatte möglicherweise auch etwas mit Ihrem Beruf zu tun. Denn Sie waren ja über viele Jahre fest beim Rundfunk
angestellt.
B: Ja, ich war fast zwanzig Jahre im Deutschlandfunk, und das war ein FulltimeJob, der zwar Zeit ließ, am Wochenende oder in den Ferien oder abends
noch Gedichte zu schreiben, aber ich merkte zunehmend, daß das starke
berufliche Engagement keine Zeit und keine Energie ließ für Prosa, die
ich fortwährend in meinem Kopf hatte. Und erst nach meiner frühzeitigen
Pensionierung 993, da wußte ich, jetzt schreibe ich eigentlich das Prosabuch, das ich immer schreiben wollte. Das war der Ansatz des „Fehlenden
Restes“, ich wußte aber nicht, wohin es geht. Ich hatte keinen Stoff, keinen
Inhalt, nur diesen Impuls. Und der führte dann eben zu einem Punkt, an
dem ich merkte, hier öffnet sich etwas.
G: Inzwischen waren auch einschneidende gesellschaftliche Veränderungen
eingetreten. Mit dem Jahr 989 eröffneten sich ganz neue und andere
Perspektiven.
B: Genau, die Wende und die Wiedervereinigung. Das hat mich sehr stark
beschäftigt und das wurde auch in den Gedichten spürbar. Es gab Reisen
in die Landschaften der Kindheit, und das waren eben auch Reisen in
deutsch-deutsche Vergangenheiten. Es ging also nicht nur um Privatkindheit,
sondern eben auch um unsere deutsche Herkunft, unsere Geschichte. Es
gab zwei getrennte Länder, die aber eine gemeinsame Vergangenheit hatten
und die nun plötzlich wieder eins sind. „Der fehlende Rest“ – das Buch war
beendet, aber ich wußte, das ist eigentlich der Anfang eines neuen Buches,
nämlich des Romans „Aus der Geschichte der Trennungen“. Da tauchte nun
der Jörn Winter auf, diese Figur, die sich mit ihrer Kindheit beschäftigte,
aber das war in dem ersten Buch nicht mehr unterzubringen. Als ich das
Buch beendete, wußte ich, das nächste Buch wird doch eine größere erzählerische Dimension annehmen, die ich dann natürlich eigentlich auch
„Roman“ nennen könnte – gegen alle Skrupel und Widerstände.
242
„Aber der einzelne kommt aus seinen historischen Zusammenhängen nicht heraus“
G: Kann man sagen, daß Ihnen die Gattung „Roman“ über viele Jahre nicht so
lieb war, ja Ihnen das ‚Erzählen‘ im traditionellen Sinne gegen den Strich
ging?
B: Ich hatte zunächst immer theoretisch ‚etwas‘ gegen den Roman. Aber im
Fall der „Geschichte der Trennungen“ war es ja nicht nur ein authentisches
Erzählen, also ein authentischer Bericht über die eigene Biographie, sondern es kam die Entdeckung der erzählerischen Imagination hinzu, eben
das, was der Germanist Fiktion nennt.
G: Sie entdeckten also gewissermaßen die Möglichkeiten einer ‚epischen
Fiktion‘ für sich neu?
B: Ja, das war die Entdeckung von etwas ganz Konventionellem, aber für
mich doch Neuem. Ich merkte, daß in dem Fall, da man nicht völlig autobiographisch schreiben will, es die Möglichkeit gibt, in der Fiktion sich
eine Person entwickeln und leben zu lassen, ohne daß man dabei an eine
:-Übersetzung von Erlebtem und Dargestelltem denken muß. Es war also
gar nicht die Entscheidung, einen Roman zu schreiben, sondern eine ganz
natürliche Entwicklung. Es hatte sich nämlich soviel Stoff angesammelt,
und dieser Stoff konnte eben nur in dieser großen Dimension seinen Platz
finden.
G: Von Uwe Johnson gibt es den vielzitierten Satz, der möglicherweise auf
den Vorgang zutrifft, den Sie soeben beschrieben haben: „Die Geschichte
sucht, sie macht sich ihre Formen selber.“
B. Vielleicht. Ich merkte, daß diese Geschichte von Jörn Winter von mir Besitz
ergriff. Von mir als Autor, der ich ja eigentlich die Geschichte zu erzählen
habe. Der aber zugleich die Geschichte als einen selbständigen Vorgang
in der Weise begreift, daß der Autor der Geschichte folgen muß, daß er
sie für sich quasi entdeckt. Irgendwie ist die Geschichte da, jetzt muß sie
aber erzählt werden. Das führte dann zu der Entdeckung dieses zweiten
Ichs, von dem Proust einmal gesprochen hat. In uns steckt ein zweites Ich,
das erzählt, denn der Autor ist es nicht alleine. Dadurch entsteht eine Art
Doppelkonstruktion, beim „Fehlenden Rest“ und bei den „Trennungen“, da
sind zwei Personen, es gibt den Erzähler und den Jörn, wobei im Grunde
beide fast identisch sind. Das ist der kleine Kunstgriff.
G: Warum bleibt der Erzähler im Roman von der „Geschichte der Trennungen“
eigentlich namenlos?
243
Carsten Gansel im Gespräch mit Jürgen Becker
B: Es ist ein Schatten oder der Zuhörer, den man hat, wenn man Selbstgespräche führt, der sich dann einmischt und Fragen stellt und es genauer
wissen will. Ich glaube, es wird vielleicht erkennbar, daß diese Figur die
Funktion des Erzählers hat, der auch schon mal den Jörn was fragt, ihm
weiterhilft oder mit ihm spricht. Das ist einfach nur ein Erzählgriff, um
die Erzählung überhaupt in Gang zu halten. Die Form nach dem Prinzip
„Ich erzähle meine Geschichte“ war mir zu direkt. Mit den zwei Figuren
waren die Brechungen und Distanzen möglich.
G: Ich fühlte mich dabei an Uwe Johnson erinnert, aber auf eine ganz andere
Weise. Johnsons Ich-Erzählerin Gesine hat ja auch eine Art Helferin beim
Erinnern, nämlich ihre Tochter Marie. Diese Konstruktion, die Johnson
entwickelt, ist mitunter kritisiert worden. Die Marie wurde als eine Art
Stichwortgeberin bezeichnet, als eine ‚Figur‘ also, die dazu da ist, den
Vorgang der Erinnerung bei Johnsons maßgeblicher ‚Person‘ Gesine auszulösen. Die erinnert sich, erzählt und Marie löst dann in Form einer Frage
einen neuen Erinnerungsstrom aus. Auch bei Ihnen gibt es mit dem Paar
‚Erzähler-Jörn‘ eine Konstruktion. Im Vergleich zu Johnson gibt es natürlich
deutliche Unterschiede, mindestens jenen, daß es bei Ihnen kein Kind ist,
das die Stichworte gibt, als Partner im Prozeß des Erzählens auftritt und
dadurch mitunter etwas überfordert wirken kann.
B: Ja, das wirkt manchmal ein wenig altklug, aber trotzdem hat mich Johnsons
Ansatz überzeugt. Und auch Johnsons Verhältnis zu seiner ‚Figur Gesine‘.
Wir hatten mal ein Gespräch darüber, wo er schon fast tickhaft erklärte
„Ich schreibe im Auftrag von Gesine Cresspahl“. Ich habe da bei meinem
‚Jörn‘ dran denken müssen. Nicht, daß ich mich jetzt mit Johnson vergleichen möchte. Aber ich denke, es ist wirklich so in der Art. Man schreibt
einen Roman und hat da eine ‚Person‘, von der man sich quasi beauftragt
fühlt. Das war für mich eine neue Erfahrung. Die ‚Person‘ schaut einen
an, sie will wissen „wie geht es weiter mit mir, was habe ich erlebt“. Daß
diese ‚Person‘ halbwegs identisch mit dem Autor ist, der sich dann selbst
wieder fragt, „was war da“, das ist ein spannender Vorgang. Und den hat
Johnson erlebt. Das ist dann auch ein sehr reizvolles Spiel in einem rein
imaginären Bereich.
G: Insofern kann man durchaus sagen, daß der Roman „Aus der Geschichte
der Trennungen“ eine verdeckte Autobiographie ist? Verdeckt meine ich
völlig wertneutral.
244
„Aber der einzelne kommt aus seinen historischen Zusammenhängen nicht heraus“
B: Ja. Ich habe das Buch auch deshalb Roman genannt, um die Tatsache zu
kaschieren, daß es sich um eine Autobiographie handelt, um eine nicht im
ganzen strengen Sinne :-Autobiographie. Aber ohne die autobiographischen Erfahrungen des Autors wäre die Geschichte von Jörn nicht zustande
gekommen.
G: Ich glaube, es spielt auch noch ein zweiter Aspekt eine Rolle, der aus
ihrem ‚Herkommen‘ rührt, also aus den 60er Jahren. Schon für Lyrik ist
die Erinnerung wichtig, und im Roman sagt der Erzähler es dann auch
ganz direkt: „Das Gedächtnis lebt erst auf, wenn es Wörter und Sätze gibt.
Die müssen wir uns aus dem Schlaf holen.“ An anderer Stelle heißt zum
Problem der Erinnerung: „Es ist oft so, daß ich nicht mehr weiß, wie es
wirklich gewesen ist und ist das, was ich jetzt erzähle, eigentlich das, was
ich wirklich erlebt habe oder ist es das, was ich von anderen gehört habe
und meine erlebt zu haben?“ Damit wird die Problematik des Erinnerns
thematisiert und auf die Beschaffenheit Gedächtnisses angespielt.
B: Ja, ja, das ist hier ganz deutlich geworden, wo es zum Teil um sehr konkrete
Erinnerungen geht, die man hat, so als ob man in einem Fotoalbum blättert
und dann ein altes Foto sieht. Und jetzt weiß ich auch vielleicht noch, das
Kind auf dem Foto, das bin ich, und ich kann mich vielleicht sogar noch
daran erinnern, wie das Foto zustande gekommen ist, wo das war und wann.
Aber das große Umfeld, der Film, der vorher läuft und weitergeht – den
kenne ich entweder nur ungenau oder gar nicht. Und bei manchen Fotos
weiß man vielleicht noch, was die Eltern oder jemand anders einem dazu
erzählt haben, und hier beginnt schon die Vermittlung – die vorproduzierten
Erinnerungen, die man sich zu eigenen macht. Doch die Erinnerung kann
sehr ungenau sein. Und trotzdem, man weiß genau, diesen Geruch, dieses
Zimmer, diesen Blick aus dem Fenster, das gab es alles. Allerdings immer
in Verbindung mit der ganzen Geschichte. Das aufzuschreiben, das geht
oft nur über die Imagination. Man stellt sich vor, wie es hätte sein können,
oder vermischt es mit dem, was man erzählt bekommen hat. Für einen alten
Romancier ist dies eine ständige Erfahrung, für mich war es neu. Denn
selbst beim Gedichteschreiben, bei der Lyrik – auch dort, wo man schon
ins Erzählen kommt –, ist das nicht der Fall. Da geht es um ganz andere
Fragen. Da schreibt man zwar auch hochbewußt, aber zugleich spielt das
Unbewußte mehr eine Rolle. Und wenn es mir jetzt nur darum ging, genau
die Straße zu beschreiben, wo der Autor gewohnt hat und wo der Jörn jetzt
aus dem Auto steigt – Sie werden es gemerkt haben – da ist zum Teil eine
245
Carsten Gansel im Gespräch mit Jürgen Becker
völlig übertriebene Detailbesessenheit, bei der es mir nur darum ging, das,
was in der Erinnerung noch als Bild da ist, zu einer Wirklichkeit, zu einer
sehr präzisen Wirklichkeit zu formen. Das war immer das Problem, das
war aber auch immer der Reiz beim Schreiben.
G: Uwe Johnsons Figur Gesine spricht in den „Jahrestagen“ von den sogenannten „Tricks der Erinnerung“, daß man sich einen Tag vorstellt, eine
Person, daß dies aber schon zwanzig oder dreißig Jahre her ist. Auf diese
Weise kann es zu einem Umschreiben der Vergangenheit kommen. Heraus
kommen kann ein Tag, „der so nicht war“, gefertigt wird eine Vergangenheit,
„die ich nicht gelebt habe“. Ein „falscher Mensch“ ist vielleicht das Ergebnis,
einer, „der von sich getrennt ist durch die Tricks der Erinnerung“, wie es bei
Johnson heißt. Wie ist es dem Jörn bzw. dem Autor Jürgen Becker gegangen mit diesen „Tricks der Erinnerung“? Denn: Es ist ja ein menschliches
Bedürfnis, ja es gehört zum Wesen des Autobiographischen, rückblickend
Handlungen, Ereignisse, Vorgänge in einem besseren Licht aufscheinen zu
lassen, als sie in Wirklichkeit waren. Hatten Sie beim Schreiben auch mit
diesem Problem zu tun, gab es Stellen, an denen Sie sich vielleicht sogar
revidieren mußten?
B: Ja, es passierte öfter, daß ich mich revidieren mußte, oder da, wo es vermeintlich authentisch ist, stimmt es dann doch nicht. Das merkte ich anläßlich
eines Klassentreffens 2000 in Erfurt. Meine letzte Klasse in Erfurt, die ich
947 zuletzt gesehen hatte, die hatten mich durch das Buch irgendwie entdeckt und luden mich ein. Sie kannten alle das Buch, und da ging es dann
los: Der erste sagte „Nein, so war das im Osten nicht“, der zweite sagte „Ja
genau, und jetzt ist sogar meine eigene Erinnerung plötzlich wieder da und
ich weiß, wie es war.“ Direkte Fehler habe ich beim Erzählen nicht gemacht,
aber wenn man meine Erinnerungen mit denen von anderen vergleicht,
die im selben Umfeld gelebt haben, da gibt es schon riesige Unterschiede,
die das Objektive von Erinnerung nicht sofort in Frage stellen, aber doch
modifzieren.
G: Was war, wenn Sie sich nicht mehr erinnern konnten?
B: Wenn es beim Schreiben nicht weiterging, bin ich immer sofort zurück in
die Gegenwart gegangen. Der eigentliche Schauplatz ist ja Wiepersdorf, wo
die Personen sitzen und wo das gegenwärtige Leben auch eine maßgebliche
Rolle spielt. Die vielen Spaziergänge, das Beschreiben des Flughafens, die
Landschaft, das kam ja immer noch hinzu. Ich hatte zwei Monate ein Sti246
„Aber der einzelne kommt aus seinen historischen Zusammenhängen nicht heraus“
pendium in Wiepersdorf, und die Landschaft hat mich so stark beeinflußt,
daß ich dachte „die möchte ich darstellen, die möchte ich beschreiben“, ohne
dabei an den Roman zu denken. Das spielte aber dann bei dem Roman
eine Rolle – ich suchte einen Schauplatz, überlegte mir „wo bringe ich den
Jörn unter“. Also gut – ich schickte ihn nach Wiepersdorf – da kennt er
sich ein bisschen aus, da hat er sich wohlgefühlt, da sind Menschen, dieser
Dorfschmied, der in seinem Alter ist. Die zwei kann man an einen Tisch
bringen, die unterhalten sich, sind Generationsgenossen. So entstand dann
diese Gleichzeitigkeit, diese ständige Gegenwart von Wiepersdorf. Und
dann kam dort irgendein Impuls, der dann plötzlich wieder zurückführte
in die Kindheit, und wo ich dann merkte „hier geht es nicht weiter, hier
ist irgendetwas abgeschlossen“. Dann ging es erneut wieder zurück nach
Wiepersdorf, dann war es die neue Gegenwart und von dort kam wieder
ein Impuls, der zurückführte.
G: Man kann sagen, der Wechsel der Ebenen war für das Schreiben des Romans wichtig. Mit dem Wechsel ging es gewissermaßen beständig ‚voran‘.
B: Dieser Wechsel der Schauplätze hat die Sache in Gang gehalten. Anders
wäre es gewesen, wenn ich den Jörn nur nach Erfurt geschickt hätte und ihn
dort herumlaufen ließe – nur dort. Das wäre nur Vergangenheit gewesen,
und das hätte mich nicht so gereizt, weil das, was jetzt ist, ja auch immer
seine Vorgeschichte hat. Und ich frage mich: wie wirkt das zusammen und
wie sind die Zusammenhänge? Der Jörn sitzt auf einem kleinen Flugplatz,
das war früher mal ein Feldflugplatz der Luftwaffe, dann war der Russe da,
die NVA, und jetzt er, der als Junge fasziniert war von der Fliegerei und
von der deutschen Luftwaffe. Da war plötzlich der Impuls da. Ich hatte gar
nicht vor, über diese Fliegerbegeisterung von Jörn zu schreiben, daß er als
kleiner Junge die Ritterkreuzträger der Luftwaffe aus der Zeitung schnitt
– der Impuls kam auch durch Gespräche auf dem Flugplatz zustande – ein
NVA-Flieger leitete den Flugplatz und erzählte mir von seinen Flugschülern.
Der Vater eines Schülers hat hier gelegen und noch eine JU 88 geflogen,
ein anderer erzählte mir, er sei früher in der Flieger-HJ gewesen, und er
fängt jetzt wieder an zu fliegen. Da waren auf einmal Zusammenhänge
da zwischen ‚Jetztzeit‘ und Vergangenheit – Görings Piloten sind in dieser
technischen Lehranstalt ausgebildet worden. Man erlebt jetzt etwas und sieht
auf einmal, wie die Dinge zurückführen. Und da sind natürlich auch Jörns
Erinnerungen an seine eigene Zeit, wie er als kleiner Junge „war-minded“
war, wie der Engländer sagt: kriegsbegeistert. Speziell die Fliegerei – er
247
Carsten Gansel im Gespräch mit Jürgen Becker
wollte ja auch selber Jagdflieger werden. Und das fällt ihm eben alles auf
diesem kleinen Flughafen ein, wo er diesen kleinen Privatmaschinchen
zuschaut, wo er selber einmal mitfliegt, und auf einmal diese Erlebnisse
hat, die ihm sagen „was hatte ich als Kind für Träume, für Illusionen im
Kopf “.
G: Man kann also annehmen, daß die Erinnerungsarbeit des Jörn bzw. des
Autors Jürgen Becker ganz stark gebunden ist an Orte und Landschaften?
Jörn ist ein visueller Mensch, der mit Natur viel verbindet und über die
Natur wird ein Erinnerungsprozeß in Gang gesetzt?
B: Ja, das ist richtig. Am Anfang steht die sinnliche Erfahrung von Landschaft
– ich bin ein sehr sinnlich erfahrender Mensch, wenn ich Maler wäre, wäre
ich Landschaftsmaler. Aber Landschaft ist ja nicht nur der ästhetische
Vorgang alleine, ist nichts Neutrales, nichts Unschuldiges. Landschaft hat
Geschichte und verbindet sich mit allen möglichen politischen, historischen
Vorgängen. Und da ist es dann, wie Sie es sagen: Landschaft oder Orte stellen
Zusammenhänge bzw. Beziehungen zu Vorgängen her; zu Vorgängen aus
der eigenen Geschichte oder zu Vorgängen unserer Geschichte. Ich bin
kein politischer Schriftsteller, aber für mich ist Landschaft auch immer
wieder das Muster, die Kulisse oder der Ort, wo etwas passiert ist, das auf
uns alle eingewirkt hat.
G: Im Roman meint Jörn, daß die Geschichte gespalten, „verblockt“ sei. Woran
liegt es, daß Jörn, der ja nun kein junger Mann im klassischen Sinne mehr
ist, sehr spät an seine Wurzeln zurückkehrt. Es ist ja eigentlich ‚normal‘,
wenn man sich mit 50 oder 60 Jahren seiner Kindheit erinnert. Man tut
dies sicher ganz anders, als dies in jüngeren Jahren der Fall gewesen wäre.
Heute gibt es Autoren, die mit Mitte zwanzig ‚Kindheitsgeschichten‘ erzählen.
Woran liegt es, daß Jörn sich erst jetzt an diese verlorenen, „verblockten“
Schauplätze und Vorgänge erinnert?
B: Das hat mit der Geschichte zu tun und den für mich sehr entscheidenden
geschichtlichen Veränderungen von Wende und Wiedervereinigung, mit
der Möglichkeit, die Jörn nun sehr exzessiv wahrnimmt, daß er nämlich
durch die sogenannten „Neuen Länder“ fährt, sich also zwischen Thüringer
Wald und Ostseeküste aufhält. Jörn hat nie die DDR kennen gelernt. 947,
als er aus Thüringen weggeht, und das stimmt mit dem Lebenslauf des
Autors überein, hat er – aus welchen Gründen auch immer – diese DDR,
die damals so noch nicht existierte, aber als sowjetische Besatzungszone
248
„Aber der einzelne kommt aus seinen historischen Zusammenhängen nicht heraus“
schon alles anzeigte, was in der DDR sich dann alles realisieren sollte, nicht
zur Kenntnis nehmen wollen. Irgendwo sagt er: „Ich habe immer mit dem
Rücken zur DDR gelebt“.
G: Das hängt mit der „Geschichte der Trennungen“ zusammen. Es gibt viele
Gründe, die Jörn mit dem ‚Rücken zur DDR‘ leben lassen.
B: Dafür gibt es in der Tat eine ganze Menge von Gründen. Das Ergebnis ist,
daß diese Zeit dem Jörn als eine abgeschlossene vorkommt, als eine abgeschnittene Kindheit, die zwar jetzt den Gang seiner Erinnerungen auslöst,
aber es ist nichts, wohin er glaubt, je zurückkehren und es vergegenwärtigen zu können. Er hat ja vorher auch eine Kindheit gehabt. Viele Reisen
und ein paar Jahre sind vergangen – und schon hat man eine Erinnerung
daran. Dahin kann man zurückkehren und es lebendig halten. Aber im
Falle des Staatsgebietes der DDR, da funktionierte das nicht mehr. Und
er hatte ja auch nicht die Hoffnung, daß sich das mal ändern könnte. Für
ihn war das ein Fakt der Geschichte, er hatte angenommen, daß er dies
niemals würde wiedersehen – Rügen oder Thüringen oder eine Stadt wie
Erfurt. Und das führte eben zu einer Blockade, unter der er nicht gelitten
hat; es war ein Abschluß, es war vorbei, es war eine Kindheitserinnerung,
das lebte nicht mehr, das hatte keine Zukunft. Doch das ändert sich in dem
Moment, da er plötzlich unverhofft wieder in diese Orte gehen kann, und
das keineswegs nur besuchsweise, sondern er könnte da leben, er könnte
sogar umziehen. Dieses ganze Deutschland ist wieder jener Bereich, den
er als Kind kannte; man kann dorthin fahren und überall zuhause sein.
Das hat die Sache ausgelöst und zugleich noch einmal verdeutlicht, wie
‚verblockt‘ er eigentlich gewesen ist, wie isoliert oder in welcher Distanz
er gelebt hat zu seiner Kindheit.
G: Aus dem Text lese ich noch einen zweiten Grund heraus, warum Jörn sich
seiner Kindheit erst sehr spät erinnert. Und der liegt in der Geschichte des
Jörn selbst. Es gab für ihn ein traumatisches Ereignis, nämlich den Tod der
Mutter.
B: Ja, das spielt natürlich auch eine Rolle. Der Jörn hat, und auch das ist identisch mit dem Autor, als Kind die Erfahrung gemacht, die Kinder heute
öfter machen, daß sich die Eltern haben scheiden lassen. Und im Jahr 943
war eine Ehescheidung ein Ereignis, das unvorstellbar war. Da hatten die
Ehepaare andere Sorgen – der Mann an der Front, die Frau zu Hause. Und
so eine Ehescheidung war etwas ganz Seltenes und eben auch sehr Gravie249
Carsten Gansel im Gespräch mit Jürgen Becker
rendes, auch durch die Folgen bis hin zum Tod der Mutter. Und als Kind,
da nimmt man das einfach so zur Kenntnis. Aber was da übrigbleibt und
was sich mit der Zeit daraus entwickelt, hat wahrscheinlich wirklich eine
traumatische Wirkung gehabt. Und es war für den Jörn sehr entscheidend.
Seine Mutter liegt in der Mark Brandenburg begraben. Und das Grab, so
denkt er, wird er nie wieder sehen. Dadurch entstanden dann auch gewisse
Schuldgefühle, etwa die, daß er sich nicht um das Grab kümmern konnte.
Das hat der Vater eine Weile lang getan, aber dann auch nicht mehr. Da
waren wohl sehr starke Schuldgefühle, die sich so einfach auch nicht auflösen lassen. Aber diese Privatgeschichte hat mit dazu geführt, daß in Jörn
eine Mischung aus Gleichgültigkeit, gespielter oder erfundener Gleichgültigkeit, Trauma, Schuldgefühl das Verhältnis zum ganzen Land mitbestimmt
hat. Das löst sich nun nach der Wiedervereinigung auf einmal auf – auf
einmal kann man überall hin. Jetzt kann er zum Schwieloch-See fahren,
dorthin, wo die Mutter ums Leben gekommen ist. Also alles ein Grund,
warum plötzlich ein Roman entsteht, warum sich solche Dinge auf einmal
in eine Erzählung verwandeln.
G: Der Roman heißt „Aus der Geschichte der Trennungen“. Und das meint
natürlich auch – so lese ich den Text –, die unterschiedliche Geschichte in
Ost und West. Sie wird im Roman durch unterschiedliche Protagonisten
gewissermaßen repräsentiert. Da sind zum einen jene, die im Westen großgeworden sind und zum anderen jene, die im Osten lebten. An einer Stelle
– relativ früh im Roman – sagt Jörn: „Zwischen uns liegt so etwas wie ein
Nebel, der alles unscharf macht. Das Trennende sind die unterschiedlichen
Erfahrungen.“ Nun verfügt der Jörn über die West-Erfahrung. Aber wie
kommt er an die Ost-Erfahrung?
B: Das ist ja sein Problem, und es bleibt auch noch sein Problem, denn er
kommt an die Ost-Erfahrung nicht herran. Er weiß nur, daß er überhaupt
nicht zuständig ist für irgendwelche Kommentare über das Leben im
Osten. Er hält sich da sehr zurück. Er wird Lebensläufe nicht beurteilen
oder kommentieren können – gleich welcher Art. Ein Mensch, der in Polen
aufgewachsen ist oder in Ungarn oder in Belgien oder in Spanien – das
sind auch völlig unterschiedliche Lebensläufe. Aber hier ist es der deutschdeutsche Lebenslauf; das ist das Problem. Es ist zwar noch die gleiche Sprache, und in seiner Generation ist es die gleiche Kindheit; die Kriegs- und
Nachkriegskindheit, deshalb ist für ihn ja der Demuth so interessant, da
es da durch die Kindheit noch einen gemeinsamen Hintergrund gibt, aber
250
„Aber der einzelne kommt aus seinen historischen Zusammenhängen nicht heraus“
dann spaltet sich das auf. Dann beginnen 40 Jahre hier und 40 Jahre dort.
Natürlich weiß der Jörn, weiß der Autor, ein bißchen etwas über den Osten,
denn man hat ja viele Menschen gekannt und vieles gehört und gesehen
und gelesen. Aber trotzdem – ich werde in der Hinsicht eigentlich immer
sprachloser und stummer. Leben in der DDR – und ich meine jetzt nicht
das Offizielle –, sondern den Alltag, also Fragen danach „wie verbringe ich
meine Tage“, „wie arbeite ich“, „wie komme ich zu einem Studium oder zu
einem Beruf“. Daraus ergibt sich die Frage „was wäre aus mir geworden,
wenn ich in der DDR geblieben wäre, wenn mein Vater sich damals anders
entschieden hätte. Wenn er gesagt hätte ‚gut, wir bleiben hier‘? Was wäre
aus mir geworden?“
G: Deshalb gibt es die Figur der Vera Binz?
B: Genau, die Vera Binz taucht nicht zufällig auf, für sie gibt es ein reales
Vorbild, eine Dramaturgin beim Rundfunk der DDR, die genau am selben
Tag wie Jörn Geburtstag hat und die genau das beruflich geworden ist,
was er am Ende auch wurde: Hörspielchef. Sie bei der Hörspielabteilung
beim Rundfunk der DDR und der andere bei der Hörspielredaktion im
Deutschlandfunk – ein fast magischer Zusammenhang. Beide sind gewissermaßen Antipoden, Kontrahenten, ideologische Gegner. Aber über eine
Antwort auf die Frage, „was wäre, wenn ich an ihrer Stelle gewesen wäre“,
bin ein bißchen ratlos, und ich kann dazu nicht viel sagen. Ich weiß nur,
daß ich nicht autorisiert bin, DDR-Biographien zu bewerten, ich bin nicht
kompetent, dazu etwas zu sagen. Nun bin ich aber auch nicht der Reporter,
der übers Land zieht und ständig Interviews führt und alles wissen will.
Soweit geht es nicht, daß ich jetzt ostdeutsche Lebensläufe nacherzählen
möchte, wie sie einem Westdeutschen erzählt werden. Das wird ja mitunter
gemacht. Da gibt es so viele Rundfunksendungen und inzwischen auch
Biographien. Das interessiert mich auch sehr, aber ich weiß ganz genau,
da fehlt mir etwas.
G: Aber trotzdem kann man erkennen, daß Jörn Abstand zu Vera Binz herstellt.
Es heißt hier: „Vom Krieg schienen sie nur behalten zu haben, daß sie ihren
Staat …“ Das ist ja dann schon ein Hinweis darauf, daß er bestimmte
Positionen der Vera Binz so nicht teilen kann.
B: Es ist merkwürdig. Mir stehen da noch ein paar Gespräche bevor mit Vera
Binz. Denn wenn wir zusammengesessen und geredet haben, das war dann
meistens im italienischen Ausland, war es für mich rührend, mit Kollegen
251
Carsten Gansel im Gespräch mit Jürgen Becker
zusammenzusitzen, die aus Thüringen kommen, die bestimmte Dinge in
Thüringen zur gleichen Zeit erlebt haben und jetzt darüber sprechen. Ich
geriet ins Reden und merkte nicht, daß ich auf der anderen Seite diese Art
von Erinnerung eigentlich gar nicht hervorrufen kann – die ist irgendwie durch etwas anderes überdeckt. Das lag auch daran, daß West- und
Ostdeutsche in den 80er Jahren nicht so reden konnten, wie sie vielleicht
eigentlich wollten. Und möglicherweise war man auch gehemmt. Das
ist jetzt erst möglich. Ich hatte immer das Gefühl, da liegt irgendwie ein
‚Tabu‘ darüber. Ich werde versuchen, es mit einem Klischee zu erklären:
Menschen, die in der DDR leben, haben zu dieser NS-Vergangenheit ein
völlig anderes Verhältnis. Ich hatte den Eindruck, daß sie für sie erledigt
ist, man lebte in einem antifaschistischen Staat und da spielte alles andere
eigentlich keine Rolle mehr. Das genügt nicht, da bin ich noch dahinter
gekommen. Denn es gibt doch natürlich Erinnerungen. Ich denke an die
Tage, als der Ami aus Thüringen abzog und der Russe kam. Das war 945
ein traumatisches Erlebnis, darüber kann ich stundenlang reden. Aber
erstaunlicherweise nicht mit den Gesprächspartnern aus der DDR. Da
war entweder das Gedächtnis weg oder man wollte nicht darüber reden.
Man meinte, deren Biographie schien eigentlich erst anzufangen mit der
Gründung der DDR. So war zumindest die offizielle Version – ob es so
stimmt, das kann ich so genau nicht sagen.
G: Ende der 80er Jahre hat Stefan Hermlin darauf verwiesen, daß auch in
der dann entstandenen DDR nur ein sehr geringer Teil der Bevölkerung
wirklich etwas gegen die Nazis getan hat. Aber mit dem Hinweis auf den
Westen und die dort wieder in hohen Positionen agierenden Vertreter des
Dritten Reiches konnten Mitläufer in der DDR ihr Gewissen entlasten, sie
wurden gewissermaßen entschuldet.
B: Das fing ja damals 945 schon an. Ich war zwar ein Kind, aber ich habe
sehr genau wahrgenommen, wie in diesen zwei Jahren SBZ Veränderungen
stattfanden bei Leuten, die man kannte. Für mich war der erste Schock: da
laufen plötzlich die alten Fähnleinführer im blauen Hemd der FDJ herum.
Ich dachte, das kann nicht wahr sein. Ich war ich gerne Pimpf, aber da war
auch nach 945 die Desillusionierung so stark. Auf jeden Fall: gegen eine
Uniform oder eine Jugendbewegung – da war ich immunisiert. Auch wenn
man einen Gesinnungswandel voraussetzt und davon ausgeht, daß man
neu aufbauen mußte, ich hatte das Gefühl, von der einen Diktatur geht es
jetzt in die andere über – das war eine sehr spürbare Tendenz.
252
„Aber der einzelne kommt aus seinen historischen Zusammenhängen nicht heraus“
G: Wenn ich einmal unterbrechen darf, das ist eine Tendenz, die Sie wahrgenommen haben. Ein Autor wie Johnson hat das zunächst nicht so gesehen. Für ihn standen zunächst der Aufbau, die neue Gesellschaft, das
gesellschaftliche Engagement im Vordergrund. Und dafür nennt Johnson
zunächst auch gute Gründe.
B: Ich will das nicht bestreiten. Johnson ist zunächst in die FDJ gegangen und
hat sich engagiert. Er ist ja nur zwei Jahre jünger als ich, hat im Grunde
aber vergleichbare Erfahrungen. Und natürlich will ich nicht die Redlichkeit von Menschen anzweifeln, die einen Neuanfang versuchen. Aber ich
hatte in Thüringen andere Erfahrungen. Da hat man zwei Jahre darauf
gewartet und gehofft, daß der Ami zurückkommt. Da gingen wirklich
die absurdesten Gerüchte um, die kommen wieder. Man wußte ja offiziell
nichts vom Potsdamer Abkommen, also davon, daß die Aufteilung nunmehr
besiegelte Geschichte ist. Man hatte immer noch die Illusion, der Ami
kommt zurück. Er ist aber nie gekommen. Die, die geblieben sind, haben
sich sicher gesagt: „Gut, wenn der Ami nicht kommt, dann bauen wir eben
unseren Staat“. Man hat eben auf diese neue Karte gesetzt und sich gar
keinen Illusionen mehr hingegeben, sondern sich sehr schnell auf die neue
Realität eingestellt, nicht nur passiv, sondern auch aktiv. Das war jedenfalls
so bei Leuten, die ich in Thüringen kenne, die eben geblieben sind. Denn
es wären wahrscheinlich noch mehr gegangen, wenn sie im Westen eine
Möglichkeit gesehen hätten, wenn sie da Verwandte gehabt hätten. Viele
blieben ja nur, weil sie sich sagten: „Wohin denn in den Westen? Hier ist
mein Haus, mein Garten, meine Heimat.“
G: Im Text wird – kursiv hervorgehoben – das bekannte Adorno-Diktum
zitiert: „Es gibt kein richtiges Leben im Falschen.“ Das spielt bei Johnson
auch eine Rolle, das hat er der Gesine in den Mund gelegt. Sie revidieren
das in gewisser Weise, denn der Jörn mahnt an, daß man etwas differenzierter umgehen solle mit diesem harten Diktum.
B: Ja sicher, dies ist einer dieser Zaubersätze von Adorno. Ich habe eine zeitlang sehr intensiv Adorno gelesen, so in den 60er Jahren, und konnte mich
dann auf die Dauer mit Adorno nicht weiter beschäftigen, denn dieser
Einfluß war so stark, daß es bis in die Schreibweise und bis ins Denken
hineinging und das Weltbild prägte. Man mußte das Gefühl haben, in
diesem einerseits doch sehr wunderbar freien Westen lebt man in einer
falschen Welt, die eigentlich doch nur eine verkappte faschistische Welt ist.
253
Carsten Gansel im Gespräch mit Jürgen Becker
Das ist bei Adorno alles sehr stimmig, aber verglichen mit der Wirklichkeit
stimmt es eben nicht. Und davon habe ich mich gelöst, vollkommen. Das
hat jetzt mit dem Roman nichts zu tun, aber da die Erfahrung „Adorno“,
die Beurteilung von Leben, eine sehr eindeutige ist, aber die Erfahrung der
Wirklichkeit dann doch immer wieder eine andere wurde, konnte das für
mich nicht in der Weise maßgebend bleiben. Und wenn man sich in diesem Zusammenhang Biographien anschaut, wie etwa die des Architekten
Klotz, mit der ich mich jetzt eine ganze Zeit beschäftigt habe, von dem man
sehr wenig weiß, der im Dritten Reich seine Karriere gemacht hat, aber
vorher schon ein erfolgreicher Architekt war, und der wahrscheinlich nie
richtig begriffen hat, was er macht, und der sich nach dem Krieg immer
beschwert hat: „Warum bekomme ich keine Aufträge mehr, ich war doch
völlig unpolitisch“ – das war er auch. Damit war er aber auch willfährig
nach allen Seiten hin, wie es Architekten oft sind, die nehmen Aufträge
von allen Seiten an. Ich fragte mich dies beispielhaft „Wie kann ich eine
solche Biographie richtig kennen lernen und beurteilen?“
G: Nach dem Diktum Adornos hätte der Mann völlig falsch gelebt.
B: Ja, aber wie hat er denn nun wirklich gelebt, wie war seine Herkunft? Er ist
ja nicht als Nazi auf die Welt gekommen. Er ist wahrscheinlich auch nie
einer geworden, er hat sich nur sehr weit angepaßt und hat damit auch
Erfolg gehabt, als Architekt und Baumeister. Aber schauen wir alle unsere
Biographien an, die nach außen hin so eindeutig sind: Was steckt da noch
an Möglichkeiten, an Unsicherheiten, an verdeckten Dingen in uns? Die
Fragen und Rätsel, die jede Biographie so in sich trägt, die lassen, selbst
wenn sie eindeutig erscheinen, ein solches Diktum nicht zu, das „richtige“
oder das „falsche“ Leben.
G: Deswegen erscheint mir der Hinweis Ihrer Figur, man würde mit diesem
Diktum eine ganze Existenz im Nachhinein erledigen, ganz richtig. Die
Biographie, das deutet er an, besteht aus mehr. Die Varianten eines Lebenslaufes sind sehr vielfältig und lassen sich nur schwer auf einen Punkt
bringen, da ist in einer Person viel Widersprüchliches, Anpassung und
Widerstand schließen einander nicht aus, im Gegenteil.
B: Der Möglichkeiten gibt es viele, es hängt mit von den Umständen ab, welches Ich sich durchsetzt.
G: Das gilt aber für jede Gesellschaft, nicht nur für die DDR.
254
„Aber der einzelne kommt aus seinen historischen Zusammenhängen nicht heraus“
B: Das ist richtig, ich will das jetzt keineswegs auf die NS-Zeit oder DDR-Zeit
beschränken. In jeder beruflichen Konstellation, auch in jeder Ehe spielt
es eine Rolle; überall, wo Gesellschaftliches passiert. Egal, ob wir als Lehrer
vor der Schulklasse stehen oder als Polizist den Verkehr regeln. Aber was
ist darüber hinaus der Hintergrund unserer Existenz?
G: Der Mensch ist eben nicht nur ein politisches Wesen, und Lebensläufe
lassen sich nicht auf Eingriffe der Politik reduzieren. Denn es gibt freilich
auch Bereiche, in die der Staat nur indirekt eingreifen kann: Die Beziehungen in der Familie, das Verhältnis zwischen Ehwpartnern, zwischen
Eltern und Kindern, die Kontakte zu Freunden. Auf der einen Seite kann
man eine moralisch abzulehnende Person vor sich haben, die gleichzeitig
sensibel Natur beobachtet und Kunst liebt. Adorno notiert sein Diktum,
es gäbe „kein richtiges Leben im falschen“ in den „Minima Moralia“ unter der Überschrift „Asyl für Obdachlose“! Aber unabhängig davon: Die
Konsequenz des Satzes wäre fatal: Sie würde bedeuten, nimmt man nur
einmal die DDR-Jahre, die Leute hier hätten kein ‚richtiges Leben‘ gehabt.
Eine solche These verkennt das ‚kleine Leben‘, das eben mit der ‚großen
Politik‘ nicht viel zu tun haben muß. Ganz abgesehen davon, wäre die
Wende des Jahres 989 schwerlich gekommen, wenn nicht engagierte Leute,
ihr ‚richtiges Leben‘ im sogenannten ‚falschen‘ geführt hätten.
B: Damit ist das Problem der Kollektivschuld angesprochen, das im Westen
sehr lange diskutiert wurde. Man kann es sich einfach machen; irgendwie
stehen wir alle in diesem Schuldzusammenhang. Das ist auch für meinen
Roman wichtig. Man sollte daher nicht so tun, als seien die Kinder damals
im Krieg nur harmlos spielende Kinder gewesen. In den Kindern hat alles
dringesteckt. Was wäre aus den Kindern geworden, wenn wir den Krieg
gewonnen hätten? Was wäre aus mir geworden? Ich wäre sicher kein überzeugter Nazi, weil ich keine solche ideologische Veranlagung in mir habe,
aber ob ich in bestimmten gesellschaftlichen Funktionen nicht funktioniert
hätte, da bin ich mir nicht sicher. Der Jörn wollte immerhin Offizier werden,
Flieger – also da traue ich mir selber nicht über den Weg. Deshalb sollte
man nicht aus dem Blick verlieren, in welchem Maße alle, die wir in der
Gesellschaft leben, an ihr beteiligt sind und unsere Verantwortung haben
und möglicherweise auch schuldhaft verstrickt sind, selbst da, wo man
vielleicht subjektiv nichts getan hat. Aber der einzelne kommt aus seinen
historischen Zusammenhängen nicht heraus.
255
Carsten Gansel im Gespräch mit Jürgen Becker
G: Der Jörn sagt, er könne sich an die Zeit der 40er Jahre erinnern und
Stichwörter wie „Gelber Stern“ oder an das sogenannte „Konzertlager“.
Erst nach 945 schien das Wort „Konzentrationslager“ auf einmal „aus
seinem Schweigen befreit“. Da redet man plötzlich über Konzentrationslager,
und da wußten plötzlich alle, daß es die wirklich gegeben hat, während
vorher dieses Wort nicht da war – es war verniedlichend ein „Konzertlager“ geworden. Erst später also wurde die Erinnerung wieder frei und die
Verdrängung offenbar.
B: Das ist aber die Erfahrung des Kindes. Ich weiß nicht, wie damals Erwachsene
damit umgingen. Dem Kind fällt auf, daß ein bestimmtes Wort, von dem
man eher etwas ahnte als wußte, zu einer bestimmten Zeit da war. Man muß
natürlich differenzieren: Konzentrationslager, das war dann ein Arbeitslager,
da wurde gearbeitet – von da bis nach Auschwitz, das ist ein Riesensprung.
Da kann ich Helmut Schmidt folgen, der auf die Frage „Wann haben sie zum
ersten Mal von Auschwitz gehört“ als Oberleutnant der Luftwaffe antwortete: „Nach dem Krieg.“ Der hat das Wort Auschwitz nicht gekannt und auch
nicht gewußt, was da geschieht. Aber da ist natürlich auch viel vergessen und
verdrängt worden, da ist immer wieder neuer Nebel entstanden. Ich habe
nie Erwachsene erlebt, die ganz knallhart gesagt hätten, daß sie wußten, was
da passiert. Aber wie wir Menschen so sind – wir wissen, da ist etwas hinter
der Tür, also machen wir sie gar nicht erst auf.
G: Insofern spielt also auch ‚Schuld‘ in Ihrem Text eine ganz entscheidende
Rolle, eben im Kontext mit dem Erinnern. Die Aussage von Ex-Bundeskanzler Helmut Kohl von der „Gnade der späten Geburt“ wird aber nun
durch das Erzählen eigentlich revidiert.
B. Das kann man so nicht sagen, man kann es aber auch nicht völlig dementieren. Es ist nicht so, daß der Satz falsch wäre, nur weil Kohl ihn gesagt
hat. „Späte Geburt“, ich weiß nicht, ob „Gnade“ das richtige Wort ist, aber
auf jeden Fall ist es ein Faktum, daß eine späte Geburt den Spätgeborenen
nicht freispricht, aber doch aus dem unmittelbarem Schuldzusammenhang wieder herausholt. Das kann man meinetwegen „Gnade“ nennen,
Schicksalszusammenhänge. Aber man ist nicht damit freigesprochen,
das ist ganz klar. So einen Satz, der zwei Seiten hat, ständig im Munde zu
führen, wäre fahrlässig.
G: Ich stelle die Frage auch deshalb, um nochmals den Bezug zu Johnson
und zu den „Jahrestagen“ herzustellen. Johnsons Figur Gesine, mit der
256
„Aber der einzelne kommt aus seinen historischen Zusammenhängen nicht heraus“
der Autor „Kontakt“ hat, wie er sagt, geht aus der DDR weg, weil sie den
Umgang dieses vermeintlichen neuen Staates mit dem Dritten Reich, mit
dem Holocaust, nicht akzeptieren kann und sie geht aus der BRD in die
USA, weil sie wiederum nicht akzeptieren kann, wie in der BRD mit der
Vergangenheit, also auch mit dem Holocaust, umgegangen wird. Mit anderen Worten: sie kann nicht akzeptieren, wie beide deutsche Staaten mit
ihrer ‚Schuld‘ umgehen. Ist dies eine Haltung bzw. Motivation, die dem
Autor Jürgen Becker oder seiner Figur Jörn nahe stände?
B: Da wäre ich mit Johnson nicht einer Meinung, also in der Beurteilung der
westdeutschen Gegenwart, an der vieles auszusetzen ist, das ist ganz klar.
Aber mir ist die BRD nie als ein Land erschienen, das ich verlassen muß.
Man hat oft kokettiert, „es ist furchtbar in diesem Land, ich muß weg“, aber
letzten Endes war es dann für mich doch eine Alternative zur DDR. Denn
was immer an der BRD zu kritisieren gewesen ist – es war ein intaktes
demokratisches Gebilde, und das war keineswegs selbstverständlich. Denn
die nach 945 in die Freiheit entlassenen Deutschen mußten ja lernen;
institutionell, politisch und ökonomisch. Und im Grunde ist das der BRD
auch gelungen. Das heißt nicht, daß sich nicht einiges an Menschen und
Strukturen gehalten hat, was zu dem Unheil führte. Aber es hatte dies nicht
zur Folge, daß zu irgendeinem Zeitpunkt die demokratische Substanz
bedroht gewesen wäre. Das kann man dem Westen nicht nachsagen. Und
wenn ich das mit unserem Leben vergleiche – man hat doch in der Bundesrepublik machen können, was man wollte. Das einzige Risiko war, daß
in dem Fall, da man – wie in meinem Fall – keinen richtigen Beruf gelernt
hat und sich mit 2 Jahren dennoch dafür entscheidet, freier Schriftsteller zu
werden, man möglicherweise Abstriche machen muß und sich mit wenig
Geld so „durchzuwurschteln“ hat. Autoren konnten doch schreiben, was
sie wollten. Ich habe keine Schwierigkeiten gehabt, weil mein Schreiben
nicht politischer Natur war. Aber selbst Kollegen, die sich dezidiert politisch
äußerten, hatten doch nicht wirklich Probleme. Das ganze Geschrei, das
da losging, weil irgendein Bundeskanzler wie der Erhardt, mal von „Pinschern“ gesprochen hatte, das war doch die Ausnahme. Oder die Ausfälle
von Franz Josef Strauß. Man kann die Vorfälle wirklich an einer Hand
abzählen, da führende westdeutsche Politiker sich zur Literatur oder zu
Intellektuellen geäußert haben, ich denke an Brentano oder die Anwürfe
gegenüber der Gruppe 47. Das war doch alles harmlos, das war lächerlich.
Und wenn das von vielen Intellektuellen als Bedrohung der Demokratie
257
Carsten Gansel im Gespräch mit Jürgen Becker
empfunden wurde, da kann ich dem nicht folgen. Dabei betone ich, was
von Strauß und Konsorten ausging, hat mir nicht gefallen, das waren alles
nicht meine Freunde, ich habe die alle nicht gemocht. Aber im Nachhinein
kann man sagen, es war letztlich harmlos. Das sind normale Reibereien
gewesen. In der Opposition sitzt einer, der geht polemisch vor, es wird
zurückgeschlagen und so kommt es zu einem Vorgang. Insofern teile ich
auch das Weltbild von Böll nicht, den ich an sich sehr schätze. Aber Böll
hatte oft solche Verschwörungstheorien in Bezug auf den Staat im Kopf,
vor allem in der Zeit nach 968, als es mit den Terroristen losging, und das
Klima in Westdeutschland wirklich nicht sehr schön war. Aber es war ja nie
so, daß man hätte um Freiheiten und um demokratische Rechte fürchten
müssen.
G. Und bei Johnsons Gesine, diese Figur kann nicht anders, sie muß gehen.
B: Für Gesine Cresspahl, die eine strenge Moralistin ist, mag das konsequent
gewesen sein, aber warum New York. Vielleicht weil er selbst in New York
gelebt hat, das kannte er. Und dann England, warum ist er dorthin gezogen.
Bei Johnson war es – glaube ich – ein ganzes Gemisch von Gründen. Man
kann aber nicht sagen, ein Schriftsteller wie Johnson wäre in Westdeutschland genötigt gewesen, das Land zu verlassen. Das stimmt so nicht.
G: Jörn in Ihrem Roman sagt, er habe „mit dem Rücken zur DDR gelebt“.
Das trifft nach allem was Sie jetzt betont haben, zu einem gewissen Teil
auch auf Sie zu. Dies bringt mich auf eine Frage, die nicht mit Ihnen, wohl
aber mit anderen Autoren zu tun hat, die – im Westen lebend –, den Osten
fasziniert betrachteten und ihn als eine Art Alternative zum Westen bzw.
zum Kapitalismus ansahen.
B: Das war bei mir nie der Fall, nie. Auch als ich Adorno las und seine Kritik
am Kapitalismus – der Gedanke, die DDR wäre eine gerechte Gesellschaft,
eine Alternative, ist mir nicht gekommen.
G: Ihre Position ist – wenn ich das so sagen darf – konsequent, aber wie sehen
Sie die Haltungen anderer Autoren.
B: Das war die Diskussion, die ich mit westdeutschen Kollegen und sogar
Freunden hatte. Wenn sie nicht für die DDR waren, dann doch für eine
sozialistische Gesellschaft. Dieser Gedanke einer gerechten Gesellschaft
war natürlich faszinierend. Aber beim Wort „Sozialismus“, da sah ich sofort den real existierenden Sozialismus in den osteuropäischen Ländern,
258
„Aber der einzelne kommt aus seinen historischen Zusammenhängen nicht heraus“
angefangen mit der Russischen Revolution und Sowjet-Rußland. Vieles
der Utopien der westdeutschen Intellektuellen ging weit zurück in die
sowjetische Vergangenheit. Und da war es für mich ganz eindeutig: Das
ist nicht der Weg. Damals, 968 in der Tschechoslowakei, war es eine
Hoffnung, da schien es, als ob dort eine demokratische sozialistische Gesellschaft entstehen könnte. Das war die Hoffnung von allen westdeutschen
Linksintellektuellen. Aber es war dann doch eher eine Illusion. Das fand
ich ja auch überaus sympathisch. Auch als Gedankenspiel, als Vorstellung
von einer menschlichen Gesellschaft.
G: Also fanden Sie, der Sozialismus könnte eine Chance haben?
B: Ich war manchmal ein historischer Fatalist, und ich dachte, der Weg in die
Zukunft ist wahrscheinlich ein sozialistischer, der Kapitalismus kracht an
seinen Widersprüchen zusammen, wenn es nicht sogar einen großen Krieg
gibt. Bei dieser finalen Auseinandersetzung zwischen den beiden Systemen,
so mein Gedanke, würde der Sozialismus wohl gewinnen, und dann wird
die Zukunft vielleicht so wie in der DDR aussehen. So stellte ich es mir in
meinen schwärzesten Momenten vor. Wir leben im Westen, so meinte ich,
so auf Zeit, und der Zug in die Zukunft, der kommt von Osten. Ich billigte
das nicht, und ich wollte es nicht, aber mir schien, wenn man sich in der
Geschichte die historischen Gesetzmäßigkeiten ansieht, dann würde dies
wohl der Weg sein. Also, es hätte mich nicht überrascht, wenn der Westen
zusammenkracht wäre und die BRD der DDR beitritt.
G: Das wäre ja eine spannende literarische Fiktion. Was wäre, wenn – nehmen
wir an – Hamburg usw. – zum Osten gekommen wäre. Bei Johnson gibt es
bekanntlich in den „Jahrestagen“ jene Passage, auf die auch Sie angespielt
haben, nämlich „Wenn Jerichow zum Westen gekommen wäre“.
B: Sicher, aber daß es nun real anders gekommen ist, darüber sind wir ja nun
alle froh.
G: Was haben Sie im Gedächtnis behalten vom Menschen oder Autor Uwe
Johnson? Oder wie erinnern Sie ihn? Es ist ja nun viel Zeit vergangen, und
Sie und Ihre Frau kennen Johnson ja beide.
B: Ich habe ihn ja nicht fortwährend gesehen. Man sah sich lange Zeit nicht,
dann sah man sich öfter, in Berlin. Ich hatte manchmal Angst vor ihm, das
Bedrohende, das von ihm ausging, wenn er saß und schwieg. Es war wohl
Unsicherheit dem Geheimnis gegenüber, das ihn umgab. Johnson schien
259
Carsten Gansel im Gespräch mit Jürgen Becker
ein Geheimnis zu umgeben. Wo kommt er her, wo geht er hin? Selbst als
er schon England lebte, aber immer mal wieder nach West-Berlin an die
Akademie kam, fragte ich mich: „Wo ist er denn nun eigentlich?“ Ich sah ihn
immer nur im U-Bahn-Schacht verschwinden, und er fuhr wahrscheinlich
Richtung Bundesallee. Vielleicht zu einer Pension. Aber Johnson, der im
U-Bahn-Schacht verschwindet, und gewissermaßen jetzt in ein Geheimnis
geht. Es war auch etwas an ihm, das einem den Zugang schwer machte.
Manchmal konnte er ungeheuer spontan und sehr direkt sein – und dann
wieder dieses Unnahbare um sich, daß man sich sehr überlegte, „was sage
ich jetzt?“. Das waren manchmal unangenehme Momente, wo ich jedes Wort
genau auf die Goldwaage legte. Denn man dachte, „wehe, wenn ich jetzt das
falsche Wort sage“, dann wird er sehr kritisch fragen oder sehr bedrohlich
aufschauen. Und wenn man dann etwas getrunken hatte, dann konnte sehr
schnell ein Streit mit ihm entstehen. Aber da bin ich nicht der Einzige, der
diese Erfahrung machte. Dieser große Mensch war manchmal auch wie
ein verletztes Tier. Da waren Verletzungen, die ihn wohl so „zumachten“.
Er saß ja auch in der letzten Zeit nur noch mit hochgezogenem Kopf und
seiner Pfeife da, sehr „abgeblockt“, sehr „zugemacht“. Vielleicht wollte er
etwas Inneres, etwas, was da sehr weh tut, damit zurückdrängen. Ich weiß
es nicht. Es war auf jeden Fall nie ein freier, ganz normaler Umgang mit
ihm möglich, so wie mit anderen Personen, wo man Banales daherredete
und daherreden konnte. Bei Johnson mußte man immer genau überlegen,
was man sagte. Das Schönste war immer, wenn man bei ihm zuhause saß
und Elisabeth (Johnson) hatte gekocht, und dann vergingen so halbe
Nächte – aber je mehr getrunken wurde, desto problematischer konnte es
dann werden.
G: Und wenn Sie an ihn als Autor denken? Sie sprachen darüber, daß Sie die
„Mutmassungen“ gleich 959 lasen und Johnson einer der wenigen ProsaAutoren war, der Sie – anders als Günter Grass – faszinierte.
B: Johnson war für mich in der Tat die Ausnahme. Johnson mit seiner Art
des Erzählens. Als Romancier widersprach er meinen recht dogmatischen
Ansichten über Roman und Erzählen, er widerlegte mich ständig. Johnsons
Art des Recherchierens, des Nachdenkens und eben auch des Schreibens,
das widerlegte alles, was ich an Aversionen und Einwänden aufgebaut hatte.
Und im nachhinein habe ich auch gesehen, daß meine Positionen damals
etwas einfach waren. Die Diktion, die Sprache, die Johnson findet, es ist so,
260
„Aber der einzelne kommt aus seinen historischen Zusammenhängen nicht heraus“
daß mich ein Johnson-Satz sofort umwerfen kann. Das merkte ich beim
Lesen der „Mutmassungen“. Aber das war natürlich eine große Gefahr für
mich; in Uwe Johnsons Sprechweise zu verfallen.
G: Es ist vielleicht auch ‚Notwehr‘ eines Autors, zu sagen „Ich lese den gar
nicht“.
B: Es hat Zeiten gegeben, da konnte ich Johnson nicht lesen, da war mir
das auch alles viel zu manieriert. Mit den „Jahrestagen“ habe ich große
Schwierigkeiten gehabt, ich habe sie angefangen und dann liegengelassen
und dann doch weitergelesen. Vom vierten Teil fehlt mir auch noch ein
Teil. Es ist aber nicht so, daß ich Johnson völlig verfallen wäre. Nein, das
war ein Hin und Her, ich konnte oft Johnson gar nicht lesen, da ging er
mir auf den Nerv. Etwa diese Details und diese Besessenheit. Oder in den
„Jahrestagen“ die ganzen Familiengeschichten, die so genau recherchiert
sind bis in alle Einzelheiten hinein. Da sage ich: „Eigentlich interessiert es
mich dann auch wieder nicht.“
G: Es gibt auch Unterschiede beim Umgang mit der Erinnerung.
B: Ja, wenn man vergleicht, wie wir beide mit der „Erinnerung“ umgehen,
das ist ganz verschieden. Da ist der eine Autor, also ich, der es vorzieht,
alles seinen Erinnerungen, seinen Assoziationen, seiner Imagination zu
überlassen. Der würde nicht darauf kommen, an ein Archiv zu schreiben
und zu fragen „Gibt es jetzt noch eine genaue Liste der jüdischen Gäste in
diesem Seebad?“ Das sind auch ganz deutliche Mentalitäts- und Temperamentsunterschiede. Ich wäre zu ungeduldig, auf eine Antwort zu warten.
Entweder ich weiß es sofort und ich finde das Material, aber ich käme nie
auf die Idee, jetzt lange zu recherchieren, da hätte ich schlichtweg keine
Geduld. Das wäre mir zu aufwendig. Ich bin einfach anders – ich reagiere
spontaner, sauge alles auf, was ich an Material finde und verwende es auch,
wenn es gegeben ist, sammle es, lege es hin, weiß, es kann noch mal was
kommen.
G: Aber es gibt vielleicht eine Gemeinsamkeit, die sich bei näherer Betrachtung doch wieder als ein Unterschied herausstellt. Ich denke daran, daß
Johnson und seine Frau, Elisabeth Johnson wohl ein sehr enges partnerschaftliches Verhältnis gepflegt haben, ja vieles in Johnsons Texten mit
einiger Wahrscheinlichkeit Geschichten von Elisabeth Johnson sind, die
gewissermaßen gemeinsam ‚bedacht‘ wurden. Auch Sie und Ihre Frau, die
261
Carsten Gansel im Gespräch mit Jürgen Becker
Bildende Künstlerin ist, arbeiten gemeinsam. Ich kenne von Ihnen Texte
mit Collagen Ihrer Frau.
B: Was Sie zu Johnson und Elisabeth sagen, das mag stimmen. Aber bei uns
ist es doch etwas anders. Wir machen gerade ein neues Buch. Im nächsten
Jahr werden wir beide 70, und dann gibt es ein Buch mit 35 Bildern und 35
Texten – das ergibt dann die Zahl 70 (lacht). Wir werden ja manchmal in
der Öffentlichkeit so als „Künstlerpaar“ hingestellt. Da muß ich sagen, das
stimmt leider nicht. Wir sind kein Künstlerpaar, das ständig im Austausch
steht und sich gegenseitig inspiriert. Diese Bücher zum Beispiel sind zustande gekommen, weil ich als Mensch, der sich für Malerei interessiert,
und glücklich ist, mit einer Malerin verheiratet zu sein, das Privileg habe,
die Bilder entstehen zu sehen.
262
Rainer Paasch-Beeck
„Nachbarschaft als Fremde“
Eine Johnson-Tagung in Iserlohn
Ibbenbüren, Innsbruck, Itzehoe nennt das Ortsregister von Bernd Neumanns
Johnson-Biographie, um Insterburg ergänzt der „Jahrestage“-Kommentar die
Liste der Städte mit „I“. Und auch die akribische Übersicht der Stationen sämtlicher Lesetourneen Uwe Johnsons in Nicolai Riedels Bibliographie bringt uns an
dieser Stelle nicht weiter: sie verzeichnet keinen Aufenthalt des Autors in Iserlohn. Trotzdem wird man sich den Namen Iserlohn in der Johnson-Forschung
merken müssen. Nachdem schon im November 2000 namhafte Referenten
und fast 90 Teilnehmer einer Einladung der Evangelischen Akademie Iserlohn
zu der wissenschaftlichen Tagung („Zwischen Jerichow und New York“) im
Jahr der Ausstrahlung der Jahrestage-Verfilmung gefolgt waren – von denen
wohl niemand sein Kommen bereut hat –, lud die Akademie im letzten Jahr
(23.-25. Nov. 200) erneut zu einer Tagung über Uwe Johnson nach Iserlohn.
„Nachbarschaft als Fremde. Uwe Johnsons ‚Jahrestage‘ in der Rezeption nach
989 und nach dem . September 200“. Und erneut bot die Tagungsstätte in
Iserlohn einer großen Zahl von Johnsonkennern und -liebhabern ein ideales
Forum. Nicht nur um die Vorträge zu hören und an vier Workshops teilzunehmen, sondern auch um in den Pausen und an den Abenden die Gelegenheit
zu nutzen, in kollegialer, ja freundschaftlicher Atmosphäre Leseerfahrungen
auszutauschen und sich mit den neuesten Informationen aus der weitgefächerten „Johnson-Szene“ zu versorgen.
Wie schon im ‚Film-Jahr 2000‘ hielt auch dieses Mal Norbert Mecklenburg
den Eröffnungsvortrag. In enger Anlehnung an das Tagungsthema widmete er
sich vor allem dem „paradoxen Stichwort“ „Nachbarn als Fremde“ und betonte
in der Folge auch eine „interkulturelle Komponente“ bei der Beschäftigung
vor allem mit den „Jahrestagen“. Erfreulicherweise grenzte er sich dabei von
einem inflationären Gebrauch der zugehörigen und noch kaum differenzierten
Schlagworte ab. Wie wichtig gerade bei Johnson die Differenzierung ist, wurde
bei seinem Vortrag, der Johnsons Erzählprogramm einer „Differenzierung der
Differenzen“ in den unterschiedlichsten Facetten ausleuchtete, immer wieder
Rainer Paasch-Beeck
deutlich. Zu Recht wies er darauf hin, dass Johnsons „Leitthema Nachbarschaft
– Fremde“ bereits auf den ersten Seiten des Romans exponiert wird, wobei
stets die Dialektik der beiden Pole hervorgehoben wird. Seine Beispiele (etwa
Johnsons Versuch über die Farbe Gelb in New York oder Gesines zumindest
partielle Wahrnehmung des multiethnischen und multikulturellen New
York) zeigten dies. Auch wenn er dabei stets Johnsons Blick auf die sozialen
Verhältnisse als Erklärungsmuster hervorhob, zeigte er doch zugleich deren
Begrenztheit. So sei auch seine Beschreibung der Slums nicht frei von pauschalisierenden Tendenzen, die etwa deren Bewohner unzulässigerweise als
homogene Masse betrachten.
Zwei Beispiele von Nachbarschaft erläuterten Johnsons „Differenzierung
der Differenzen“ eindrucksvoll. Ausgerechnet mit der ersten Nachbarschaft,
die Gesine und Marie in New York angeboten wird (und die bis zum Ende
hält), wird zugleich die unwahrscheinlichste gestaltet. Indem Mrs. Ferwalter
der Deutschen Cresspahl ihre Nachbarschaft anbietet, muss ein doppeltes
Fremdheitsmoment überwunden werden. Nicht nur der zu überspringende
Graben, der Mrs. Ferwalter als Überlebende der Shoah von einer Angehörigen
der Täternation trennt, sondern auch ihre Zugehörigkeit zum orthodoxen
Judentum steht den ‚ungläubigen‘ Cresspahls gegenüber. Dass Letzteres für
Mrs. Ferwalter der entscheidende Unterschied ist, steht dabei quer zu Gesines
traumatischer Täter-Opfer-Differenzierung. An dieser Stelle machte Mecklenburg erneut auf die großen Schwierigkeiten Gesines mit Ferwalters Deutung
der Shoah aufmerksam. Deren Hinweis auf einen ‚göttlichen Ratschluss‘, der
Religiöses und Irdisches in unakzeptabler Weise vermengt, wird von Gesine
in polemischem Ton verworfen.1
Und erneut ließ Mecklenburg seine Zuhörerinnen und Zuhörer an seinen Leseerfahrungen mit den „Jahrestagen“ teilhaben. Zu den vielen Stellen, die sich
sogar ihm lange verschlossen haben, gehörte eine knappe Bemerkung aus Mrs.
Ferwalters Bericht über ihren Leidensweg durch die Konzentrationslager der
Nazis im vierten Band. Sie, die in Ungarn verhaftet wurde, fragt Gesine: „Die
Ungarn und die Deutschen, die waren einander wert. Es waren alles Soldaten.
Bitte, was sind Schwaben?“ Und weiter: „Sind Schwaben mehr für Hitler gewesen als andere?“ (JT 786). Natürlich geht es hier nicht um die „Bewohner
einer süddeutschen Provinz“, wie von Gesine gemutmaßt. Indem Mecklenburg
sich mit den auch in Ungarn angesiedelten sog. ‚Donauschwaben‘ einmal etwas
genauer beschäftigt hat, scheint er die Lösung gefunden zu haben. Diese Volks-
264
Nachbarschaft als Fremde
deutschen waren nämlich überproportional in der Waffen-SS vertreten und über
ein Drittel der Wachmannschaften der Vernichtungslager rekrutierte sich aus
dieser Gruppe. Es waren demnach wohl ‚Donauschwaben‘, die Mrs. Ferwalter
verhaftet haben. Bewerkenswert ist ein weiterer Aspekt, den er an dieser Stelle
in die Diskussion einbrachte. Nach bisherigen Erkenntnissen der Forschung
stand Johnson bei der Gestaltung des Leidensweges von Mrs. Ferwalter keine
schriftliche Quelle zur Verfügung – eine mündliche Zeugenschaft kann daher
an dieser Stelle angenommen werden. Für Mecklenburg ergab sich daraus die
Frage, ob Johnson selbst die von ihm intendierte Zuspitzung der ‚Schwabenfrage‘
überhaupt bewusst gewesen ist. Oder gar das Paradox, dass die Figur hier mehr
weiß als ihr Autor? Vom Autor wurde hier offensichtlich der Authentizität der
Zeugen vertraut, auch wenn sie dem Autor (und den Lesern) Rätsel aufgibt.
Auch an dieser Stelle scheint der „Jahrestage“-Kommentar ergänzungsbedürftig
– doch befindet er sich dieses Mal in bester Gesellschaft mit Gesine.
Auch Arthur Semig ist ein Nachbar. Zumindest vordergründig, denn durch
den alltäglichen Antisemitismus in Deutschland vor und nach 933 wird er
zum Fremden gemacht. Mecklenburg verwies ausdrücklich auf die Perspektive Pastor Brüshavers, die seiner Meinung nach deutlich von einem christlich
verklärten Antisemitismus geprägt ist.
Norbert Mecklenburg nutzte seine intensive Beschäftigung mit der Person
Arthur Semig zu einer kritischen Auseinandersetzung mit einem 200 erschienenen Forschungsbeitrag zur ‚jüdischen Thematik‘ in den „Jahrestagen“.2 Ich
habe dort mehreren Interpreten einen „Lesefehler“ vorgeworfen, weil sie in
unterschiedlicher Weise Arthur Semig zu einem (typischen) Vertreter eines
assimilierten Judentums erklärt und wichtige Textsignale außer Acht gelassen
haben, die für die nach meiner Einschätzung zulässige Aussage stehen: „Arthur
Semig ist kein Jude.“3 Mecklenburg bestritt einen solchen „Lesefehler“. Neben
sehr bedenkenswerten Ausführungen zu Johnsons ‚Erzähl- und Aufklärungsabsicht‘, die auch für die Modellierung der ‚Figur‘ Semig verantwortlich ist, ist es in
erster Linie seine Einschätzung, dass es ihm bei der Charakterisierung Semigs
kaum möglich erscheint, „sprachlich hinter die Shoah einfach zurückzugehen“,
die seinem Einspruch Gewicht verleiht. Er begründet dies plausibel aus dem
Text heraus, wenn er die Haltung von Semigs Frau Dora bestimmt. Sie identifiziert sich freiwillig mit der Rolle, in die ihr Mann von den Nazis gezwungen
wurde. Für sie wird er dadurch zum Juden, dass er als Jude vertrieben, verfolgt
und mit hoher Wahrscheinlichkeit später auch ermordet wird. So teilt er das
265
Rainer Paasch-Beeck
Los von Millionen europäischer Juden. Indem Dora Semig das Schicksal ihres
Mannes mit ihm teilen will, fühlt sie sich auch als ‘Jüdin’. Wichtige Zeugen wie
Cresspahl und Gesine pochen darauf, dass Arthur Semig evangelischer Christ
ist – die deutschen Rassefanatiker verfolgen ihn als Juden. Mecklenburg schließt
mit dem Satz: „Er ist beides.“ Womöglich hat er Recht.
Legenden ranken sich schon um das CD-ROM-Projekt des Frankfurter Johnson-Archivs unter der Regie von Eberhard Fahlke. Die Teilnehmer in Iserlohn
erhielten in dem medienunterstützten Vortrag Fahlkes einen faszinierenden
Einblick, was sie bei der sehnlich erwarteten Fertigstellung der „JahrestageCD“ alles erwartet. Und mit Erstaunen nahmen sie zur Kenntnis, dass der
Suhrkamp Verlag sich mit einer Unterstützung für dieses bedeutende Projekt
offensichtlich sehr zurückhält. Warum eigentlich?
Fahlke stellte seinen Vortrag unter das den „Jahrestagen“ entnommene Kryptozitat „Dieser Krieg ist nicht zu gewinnen“ (JT 697, 9. Februar 968). Gemeint
ist natürlich der von Gesine in New York äußerst kritisch beobachtete VietnamKrieg. Die ersten Tage im Februar 968, die für den Meinungsumschwung in der
amerikanischen Öffentlichkeit von entscheidender Bedeutung werden sollten,
nutzte er dabei zur Veranschaulichung der Arbeit an und mit der CD-ROM.
In den Mittelpunkt stellte er einen ausführlichen Bericht des „Time Magazins“
vom 9.2.968 über den Angriff eines 9-köpfigen ‚Selbstmordkommandos‘ des
Vietcong auf die als uneinnehmbar geltende US-Botschaft in Saigon. „–Hast du
die Zeit, Mrs. Williams, Amanda? – Hier haben Sie Time, Dschi-sain!“ (JT 695).
Natürlich lesen auch Gesine und ihre Kolleginnen und Kollegen in der Bank
diesen Bericht. Vor allem aber sehen sie die schockierenden Bilder der Folgen
dieses Angriffs und der Rückeroberung der Botschaft durch US-Soldaten. Und
Eberhard Fahlke zeigte diese Fotos, die Bestandteil der CD-ROM sind, in
Iserlohn. Man ist so in der Lage zu sehen, wie genau die Fotos – im Übrigen
einer der ganz seltenen Fälle, dass Johnson Farb-Fotos ins Erzählen bringt – in
den Gesprächen Gesines mit diversen Partnern betrachtet und anschließend
beschrieben und damit folglich auch ‚erzählt‘ werden. Allein die von Johnson
aus dem Amerikanischen übernommene Formulierung von dem „Botschafter
Bunker vor seinem Bunker“ boten dem Referenten Anlass für so viele weitergehende Informationen, dass zu hoffen ist, dass der ‚Vietnam-Teil‘ seines
Vortrages schnellstmöglich publiziert wird. Anhand dieser zwei „Time“-Seiten
aus Uwe Johnsons Archiv lässt sich die Gültigkeit einer Fahlke-Formulierung
– „Prosatexte müssen auch ohne die Bilder funktionieren; aber Bilder helfen“
266
Nachbarschaft als Fremde
– exemplarisch belegen. Nicht zuletzt diese Bilder von einer der spektakulärsten
Aktionen zu Beginn der nordvietnamesischen ‚Tet-Offensive‘ Ende Januar 968
haben für einen dramatischen Stimmungswandel gegen eine Fortsetzung des
Vietnam-Krieges in der US-Bevölkerung gesorgt. Ausgedrückt hat dies kein
Geringerer als Robert Kennedy einen Tag vor der Veröffentlichung der Bilder im
„Time“-Magazin. Dieses Mal berichtet eine alte Bekannte: „– New York Times,
erste Seite. Text Seite 2“ (JT 697). Erneut ein überzeugendes Beispiel dafür, wie
Dokumente, wie Zeitungstexte von Johnson in die personenbezogene Erzählung
gebracht werden. Fahlkes hochinteressante Entdeckungen zum Umgang mit
Robert McNamara,4 von Johnson in brechtscher Konsequenz natürlich immer
‚Kriegsminister‘ genannt, vor allem aber seine Interpretation des Tageskapitels
vom „2. Februar, 968 Freitag Groundhog Day“5 haben zwei Dinge klargemacht.
Zum einen, welch enormer Interpretationsbedarf in Bezug auf den ‚VietnamKomplex‘ in den „Jahrestagen“ noch besteht und auf Abarbeitung wartet. Zum
anderen aber, dass Johnson nicht nur eine ‚Chronik der frühen DDR‘, sondern
auch eine minutiöse und die Medien kritisch-aufmerksam begleitende Darstellung des ‚Traumas Vietnam‘ gelungen ist. An solchen Stellen ist Johnson
tatsächlich aktueller denn je und könnte so manchen der „guten Leute“ unter
seinen Kollegen, die sich zum Teil halsbrecherisch über den . September 200
und seine Folgen auch in und für Afghanistan geäußert haben, zum Vorbild
dienen. So wie Eberhard Fahlke mögliche Vergleichbarkeiten historischer Augenblicke und den Umgang mit ihnen aufgezeigt hat, so macht es Sinn – und
Spaß, wenn man davon in einem solchen Kontext sprechen darf.
„Verhinderte Innovation als Ausdruck des Umgangs mit dem Fremden. Die
in der DDR ungedruckten Bücher Johnsons“. Theo Buck konnte in seinem
Vortrag nicht wirklich Neues aufzeigen, machte aber detailliert den Prozess
deutlich, durch den Johnson in seiner Heimat zum Fremden geworden bzw.
gemacht worden ist. Den „Fall Johnson“ (Buck), beleuchtete er noch einmal
in aller Breite mit Hilfe der zur Verfügung stehenden Dokumente. Dass dabei
auch die inzwischen berühmt-berüchtigte „Gehirnwäsche“-Empfehlung aus
dem Gutachten des Aufbaulektors Max Schroeder noch einmal vorgelesen
wurde, konnte nicht überraschen. Das sich schon hier abzeichnende lebenslange Publikationsverbot für Johnson zeugt nun, so Buck, „für immer gegen
die, die daran mitgewirkt haben“. Und für den Referenten schien es beinahe
eine Genugtuung zu sein, dass die erste Buchpublikation der Werke Johnsons
in der DDR zeitgleich mit dem Ende der DDR zusammengefallen ist.
267
Rainer Paasch-Beeck
Einen stärker textorientierten Beitrag lieferte Ingeborg Gerlach (Braunschweig)
mit ihrem Vortrag „Er hatte Angst, sie zu verlieren. Das Scheitern der englischen Alternative“.
Bis zum für die Lisbeth-Handlung vorentscheidenden Jahr 935 hat Johnson
nach ihrer Auffassung „noch mehrere Fenster der Gelegenheit eingerichtet“,
die eine Alternative zum Scheitern, zum Tod offen gelassen haben. Gerade dies
Aufzeigen von Alternativen betont die dialektische Schreibweise, die utopische
Momente noch beinhaltet. Ähnlichkeiten bei der Beschreibung des Scheiterns
der Ehe von Heinrich und Lisbeth Cresspahl und damit des ‚Scheiterns der
englischen Alternative‘ mit Sartres „Les jeux sont faits“ und Frischs „Biografie:
Ein Spiel“, die Gerlach ansprach, sollten einmal näher untersucht werden.
Zwei Haupthindernisse für ein Gelingen der Ehe nannte die Referentin. Zum
einen ein sehr früh zu beobachtender, im Text mit den Händen zu greifender
Mangel an verbaler Kommunikation zwischen den Eheleuten. Cresspahl
‚versteht‘ nicht, dass seine Frau in England leidet; sie ist zu stolz, um ihre Gefühle einzugestehen. Ihre Hoffnung auf ‚sprachlose‘ Kommunikation kann
sie nicht retten. An diesem Punkt wurde deutlich, wie eng für Johnson Sprache und Mündigkeit miteinander verknüpft sind. Zum anderen die zu stark
voneinander abweichenden Vorstellungen von der Rollenverteilung in ihrer
Ehe. Während Cresspahl eine symmetrische Ehebeziehung zweier autonom
handelnder Partner erwartet, braucht Lisbeth offensichtlich eine asymmetrische. Cresspahls Wunsch nach Gleichberechtigung überfordert sie, da sie sich
im hohen Maße als eine von Autoritäten (ihre Kirche, ihr Vater und nun ihr
Mann) abhängige Frau darstellt, die auf Befehle wartet: „Es soll aber der Mann
entscheiden“ (JT 5).
Das Scheitern ihrer Ehe wird zusätzlich forciert durch die Einbettung in den
dichten historischen Kontext. Gerade die immer tiefer werdende Verstrickung
der Cresspahls in die Schuld der Deutschen ist für das Scheitern mitverantwortlich. 935 ist dabei das entscheidende Jahr. Fortan überwiegt ‚die Schuld‘ alles
andere – ab diesem Zeitpunkt ist Lisbeth vor allem wieder die Tochter ihrer
Mutter Louise Papenbrock und hat offensichtlich keine Alternativen mehr.
Wer befürchtet hatte, dass Greg Bond in seinem Schlussvortrag („Distanz
und Nähe, und nochmals Distanz – die Rezeption von Uwe Johnsons Werk,
insbesondere nach 989/990“) hauptsächlich an seinen Forschungsüberblick
in der Neuauflage des TEXT + KRITIK-Heftes zu Johnson6 anknüpfen würde,
sah sich angenehm überrascht. Nachdem er seinen glänzenden Beitrag mit der
268
Nachbarschaft als Fremde
Feststellung eingeleitet hatte, dass es sich bei der Johnson-Forschung bis 989
– von wenigen Ausnahmen abgesehen – um „das Libanon der Literaturwissenschaft“ gehandelt hat, legte er seinen Schwerpunkt auf die populäre JohnsonRezeption. Als intelligenter Schachzug erwies sich dabei die Unterstützung
seines Vorhabens durch einen Text von Johnson, der bisher in der Forschung
nicht näher untersucht worden ist: „Vergebliche Verabredung mit V.K.“ Das
Stichwort, die Variante einer ‚Vergeblichen Verabredung‘ könnte auch das Motto
des Bondschen Resümees sein, der die Beschäftigung mit Johnson in Deutschland bis zum heutigen Tage als unbefriedigend erachtet. Der Grundstein für
dieses Defizit ist sicher schon in der Auseinandersetzung mit Werk und Person
Johnsons in der westdeutschen Öffentlichkeit vor 989 gelegt worden. So ist
laut Bond nie hinreichend anerkannt worden, dass Johnson die westdeutsche
Öffentlichkeit, die westdeutsche Gesellschaft immer kritisch gesehen und die
BRD im Wesentlichen nicht angenommen hat. Insbesondere sucht man bei
ihm eine offensive Verteidigung der westlichen Demokratien vergeblich, ein
‚Verfassungspatriot‘ sei Johnson nie gewesen. Norbert Mecklenburg ergänzte
diese Aussagen später mit der Feststellung, dass er Johnsons heftige Kritik
an der westdeutschen Sozialdemokratie in dieser Zeit als ausgesprochen
unglücklich ansieht.
Den Höhepunkt des Missverständnisses sah Bond dadurch erreicht, dass dem
verdutzten Dichter sehr schnell das Etikett des ‚Dichters der deutschen Teilung‘
umgehängt wurde. Anstatt die durch Johnsons Texte betonte Differenzierung
wahrzunehmen, verwischte das Feuilleton diese Differenzierung zugunsten
einer gewünschten Eindeutigkeit der Zuordnung. Das völlig neue Ausmaß
der populären und wissenschaftlichen Rezeption (Bond: „Industriesparte
Sekundärliteratur“) nach der ‚Wende‘ nannte Bond sicher zu Recht einen
„Quantensprung“. Nach einigen kritischen Bemerkungen zu dem Versuch,
Johnson zu dem ‚wahren Autor der DDR‘ zu erklären und dabei insbesondere
den Fehler zu machen, ausgerechnet mit dem politisch und materialistisch
denkenden Johnson die DDR als Landschaft, als Heimat retten zu wollen,
nannte er beispielhaft einige der Auswüchse der Rezeption. Zu diesen gehört
sicherlich der reißerische „Spiegel“-Artikel über Johnson und die Stasi, an dem
sich die Tendenz festmachen ließ, dass viel zu häufig mehr über das Scheitern
als über die Erfolge des Autors zu lesen ist. Das andere Beispiel ist der verunglückte siebte Band der „Schriftenreihe des Uwe-Johnson-Archivs“.7 Stimmen
in der anschließenden Diskussion, die dieses Buch vor allem als Werbeschrift
für den Anwalt bezeichneten, als den Versuch, sich auf eine solche Weise als
269
Rainer Paasch-Beeck
Spezialist für Fragen des Erbrechts zu profilieren, fanden keinen Widerspruch.
Es ist traurig, dass diese so imposant gestartete Reihe nunmehr seit vier Jahren
ihren (vorläufigen?) Abschluss ausgerechnet mit diesem Band gefunden hat.
Und bezeichnend Bonds Feststellung, dass die Auseinandersetzungen über
Johnsons Testament in der Presse wesentlich größere Beachtung fanden als die
zur selben Zeit herausgegebenen Texte aus dem Nachlass. Zur scharfen Kritik
Bonds an der Verfilmung der Jahrestage sei auf den schon genannten Beitrag
im Johnson-Heft in der Reihe TEXT + KRITIK verwiesen.
Abschließend zeigte Bond zwei Komplexe auf, die im Mittelpunkt einer künftigen fruchtbaren und (werk-)adäquaten Auseinandersetzung mit Johnson
stehen könnten. Zum einen ist das die durch Johnson immer wieder aufgeworfene Frage nach einer deutschen Identität. Warum kann Johnson gerade
mit dieser Frage vielleicht über eine Zeit des ‚Booms‘ hinaus aktuell bleiben?
Wie kann sein Werk überhaupt als Identifikationsobjekt angenommen werden
– insbesondere wenn man anerkennt, dass seine Figuren eine deutsche Nationalität für sich ablehnen? Zum anderen ist es die Frage nach der deutschen
Schuld, „Uwe Johnsons Thema schlechthin“, so Bond. Bei der vor allem in
den „Jahrestagen“ aufgeworfenen Frage, wie man persönlich mit der Schuld
einer Nation umgehen kann, ist Johnson selbst sicher einer ehrlichsten und
auch unbequemsten Ratgeber. Und Greg Bond ist einer der verdienstvollen
Autoren, die sich gerade dieser ‚deutschen‘ Frage im Werk Johnsons immer
wieder gestellt haben.
Bleibt zu ergänzen, dass die Teilnehmer die Gelegenheit hatten, in einer Gesprächsrunde mit Weggefährten und Freunden Johnsons (Heinz Lehmbäcker
sowie Käthe und Axel Walter) einiges über den ‚Menschen Johnson‘ zu erfahren.
Und schließlich informierte Delia Angiolini, die italienische Übersetzerin der
„Jahrestage“, über den Stand ihres Projektes.
Vielleicht gab es bei einigen Teilnehmern angesichts der Beifügung des Datums
des . Septembers 200 zum Tagungsthema Befürchtungen hinsichtlich einer
möglichen pseudoaktuellen Überfrachtung der Tagung. Die Disziplin der
Tagungsteilnehmer, aber auch die souveräne Tagungsleitung und angenehme
Gesprächsführung durch Rüdiger Sareika haben eine solche falsche Akzentsetzung verhindert. Auch die Abschlussdiskussion verlief erfreulicherweise
nicht zu sehr in abwegigen Parallelisierungen und Spekulationen. Festzuhalten
bleibt auch hier die übereinstimmende Charakterisierung von Johnson als
eines unbedingten Aufklärers.
270
Nachbarschaft als Fremde
Wir haben mit Rüdiger Sareika verabredet, dass von Seiten der Johnson-Philologinnen und -Philologen in den nächsten Jahren soviel Neues und Wichtiges
zum Werk Uwe Johnsons veröffentlicht werden wird, dass er und die Evangelische Akademie gar nicht umhin kommen werden, spätestens 2004 erneut
zu einer Johnson-Tagung nach Iserlohn einzuladen.
Also: schreiben und nach Iserlohn fahren!
Anmerkungen
1
Vgl. dazu Norbert Mecklenburg: Ungeziefer und selektiertes Volk. Zwei Aspekte
von New York in Uwe Johnsons Jahrestagen. In: The Germanic Review. New York.
76. Jg., 200, H. 3, S. 254-266, v.a. S. 262f.
2
Rainer Paasch-Beeck: Zwischen „Boykott“ und „Pogrom“. Die Verdrängung und
Ermordung der jüdischen Bevölkerung Mecklenburgs im Spiegel der „Jahrestage“.
In: TEXT + KRITIK. Zeitschrift für Literatur. Hrsg. v. Heinz Ludwig Arnold. Heft
65/66: Uwe Johnson, Zweite Auflage: Neufassung, München 200, S. 9-34.
3
Ebenda, S. 26.
4
Daneben verdient sicher Fahlkes Hinweis Beachtung, dass McNamara nicht in das
„Kleine[s] Adreßbuch für Jerichow und New York“ aufgenommen worden ist. Die
Lektüre der von ihm mehrfach zitierten Erinnerungen Robert McNamaras (ders.:
In Retrospect. The Tragedy and Lessons of Vietnam. New York: Random House,
995, deutsch: Vietnam. Das Trauma einer Weltmacht. Hamburg: Spiegel-Buchverlag. Hofmann und Campe 996) könnte für das Verständnis der einschlägigen
Passagen der „Jahrestage“ sehr hilfreich sein.
5
Im Mittelpunkt stand hier seine Analyse von Johnsons erzählerischer Anverwandlung der durch die Weltpresse gegangenen drei Fotos von der Erschießung
(„– Die Erschießung. – Die Ermordung. Ich will gar keinen Streit.“ JT 672) eines
gefangenen Vietcong-Angehörigen durch den südvietnamesischen General Nguyen
Ngoc Loan. In Kenntnis der von Fahlke vorgetragenen Aspekte zur Biographie
Loans (der im Übrigen noch an mehreren anderen Tagen im Roman in anderen
Kontexten genannt wird) aus einem Text der italienischen Journalistin Oriana
Fallaci (Dies.: Nichts und Amen. Köln: Kiepenheuer und Witsch 99) scheint
eine Revision, mindestens aber eine Ergänzung der zu Loan einschlägigen Stelle
im „Jahrestage“-Kommentar angezeigt zu sein.
271
Rainer Paasch-Beeck
6
7
272
Greg Bond: Veraltet? Die Beschäftigung mit Uwe Johnson heute. In: TEXT + KRITIK,
Heft 65/66: Uwe Johnson, a.a.O., S. 3-9.
Heinrich Lübbert: Der Streit um das Erbe des Schriftstellers Uwe Johnson. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 998 (= Schriften des Uwe-Johnson-Archivs. 7).