Zusammenfassungen der Vorträge

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Zusammenfassungen der Vorträge
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Thema V
Thema V
Was gibt es Neues in der Therapie und Prävention
von Infektionskrankheiten?
Impfungen – neue Trends
Burkhard Schneeweiß
Impfstrategie als Voraussetzung
für die Umsetzung neuer Trends
Welche neuen Impfstoffe sind in
den nächsten Jahren zu erwarten?
Impfungen sind die effektivsten Präventionsmethoden in der Medizin. Eine Impfung bedeutet nicht nur Schutz für den
Impfling, sondern auch Schutz für die Gemeinschaft. Impfungen haben weltweit zu
einer Reduktion impfpräventabler Erkrankungen beigetragen.
Alle Impferfolge müssen durch Überwachung gesichert werden. Deshalb gehört eine
epidemiologische Surveillance mit Erfassung
der Impfraten, der Impfkomplikationen, der
Morbidität und Mortalität der jeweiligen Erkrankung zu jeder vollständigen und Erfolg
versprechenden Impfstrategie. Fallende Impfraten mit steigenden Erkrankungszahlen
machen unverzüglich Anstrengungen nötig,
um die Impfraten zu erhöhen. Selbstverständlich ist die Sicherheit der Impfstoffe
oberstes Gebot, d.h. kein Impfling darf durch
eine Impfung zu Schaden kommen.
Die Einführung neuer Impfstoffe muss
deshalb stets mit einer Surveillance begleitet werden. Nur so ist eine Beurteilung der
epidemiologischen Auswirkung einer Impfung möglich.
Zurzeit wird weltweit an zahlreichen neuen
Impfstoffen gearbeitet. Die folgende Tabelle
gibt eine Übersicht über Impfstoff-Projekte,
die in der nächsten Zeit voraussichtlich zu
neuen Produkten auf dem Markt führen
werden.
Für die Entwicklung eines neuen Impfstoffs – von der Identifizierung des Antigens bis zur Zulassung für die Anwendung
in der Praxis – vergehen erfahrungsgemäß
8 bis 12 Jahre. Der größte Zeit-, Materialund Personalaufwand dient dabei der
Sicherheit des Impfstoffs.
An den folgenden vier Beispielen soll
der aktuelle Trend der Impfungen verdeutlicht werden.
Impfung gegen Zoster
Ein Zoster entsteht durch endogene Reaktivierung eines latenten Varicella-Zoster-Virus.
Das Krankheitsrisiko hängt vom Alter und
Immunstatus ab. Ab dem 6. Lebensjahr-
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Tabelle 1: Laufende oder geplante Impfstoff-Projekte weltweit
kurzfristig < 5 Jahre
mittelfristig < 10 Jahre
langfristig >10 Jahre
MMRV-Kombinationsimpfstoff
Hepatitis C
HSV
Zoster
HIV
N. gonorrhoeae
Rotavirus
RSV
Streptococcus mutans
Humanes Papillomvirus
Tbk
Streptokokken A
Meningokokken-Impfstoff, konjugiert (A, C, Y, W 135)
H. pylori
Moraxella catarrhalis
Influenza-Pandemie-Virus
CMV
Chlamydien
EBV
Toxoplasmen
Meningokokken B
Malaria-Plasmodien
Leishmanien
Trypanosomen
zehnt nimmt die Zosterinzidenz dramatisch
zu. Eine hohe Zosterinzidenz haben auch
Patienten mit AIDS, malignen Lymphomen
sowie nach Knochenmark- und Organtransplantationen. Beispielsweise ist die Zosterinzidenz bei Kindern, die an einer Leukämie
erkrankt sind, 50- bis 100fach höher als bei
gleichaltrigen, gesunden Kindern [Kreth].
Mit zunehmendem Lebensalter steigt
auch das Risiko, an einer postzosterischen
Neuralgie zu erkranken. Etwa 50 % der
über 60-jährigen und etwa 70 % der über
70-jährigen Zosterpatienten leiden unter
einer postzosterischen Neuralgie. Bekanntlich beruhen diese hartnäckigen und therapieresistenten Schmerzen auf irreversiblen
Ganglienzellnekrosen. Sie können zu einer
massiven Einschränkung der Lebensqualität
der Patienten über Monate bis Jahre führen,
obwohl die Zostereffloreszenzen längst
abgeheilt sind.
Seit über drei Jahren läuft in den USA
eine umfangreiche klinische Studie mit
dem Ziel, den Schutzeffekt einer Impfung
gegen Zoster zu prüfen. Erste Ergebnisse
wurden 2005 von Oxman und Mitarbeitern
publiziert. Sie sind der folgenden Tabelle 2
zu entnehmen.
Diese Ergebnisse zeigen eine Reduktion
der Zosterinzidenz und der postzosterischen Neuralgie bei älteren Probanden. Der
hier beschriebene Impfstoff – mit dem mindestens zehnfachen Antigengehalt des
bekannten Varizellenimpfstoffs – befindet
Tabelle 2: Ergebnisse einer Zosterimpfung [nach Oxman et al. 2005]
Primärer Endpunkt:
Sekundärer Endpunkt:
Ereignis
Erkrankungen an Zoster
Postzosterische Neuralgie (PZN)
Placebo
(n = 19.270)
%
Vakzine
(n = 19.276)
%
ARR
NNT
NTN
RRR
%
n
n
%
Zoster
3,3
1,6
1,7
59
58
51,5
PZN
0,42
0,14
0,28
357
356
66,6
ARR
NNT
NTN
RRR
absolute Risikoreduktion (= Ereignisreduktion); errechnet: % Placebo minus % Vakzine
number needed to treat; errechnet: 100 dividiert durch ARR
number treated needlessly; errechnet: NNT minus 1
relative Risikoreduktion; errechnet: ARR multipliziert mit 100 und dividiert durch % Placebo
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Impfungen – neue Trends
sich im Zulassungsverfahren für Europa.
Voraussichtlich wird eine Zosterimpfung
nach der Zulassung des Impfstoffs in
Deutschland älteren Personen als individuelle Gesundheitsleistung (IGEL) angeboten werden. Eine Stellungnahme der Ständigen Impfkommission des Robert-KochInstituts (STIKO) steht noch aus.
Impfung gegen Rotavirusinfektion
Die Mehrzahl aller Durchfallerkrankungen
im Kleinkindesalter wird durch Rotaviren
verursacht. Sie sind vor allem in Kindereinrichtungen und Kinderkliniken ein nosokomiales Problem.
In Entwicklungsländern spielen Durchfallerkrankungen infolge Rotaviren eine
dramatischere Rolle. Hunger, schlechte
hygienische Bedingungen und Mangel an
sauberem Trinkwasser begünstigen Rotavirusinfektionen und die durch sie verursachten schweren, oft tödlichen Durchfallerkrankungen.
Anfängliche Impfungen gegen Rotaviren wurden wegen gehäuften Auftretens
von Invaginationen abgebrochen [Schuster
et al.]. Jetzt (April 2005) wurde ein neu entwickelter, verträglicher oraler Lebendimpfstoff nach erfolgreicher klinischer Phase III
Prüfung zur Zulassung in Europa eingereicht. Der Impfstoff schützt bei ca. 75 %
vor Infektion und bei ca. 95 % vor schwerem Durchfall [Forster].
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6 und 11 als Low-Risk-Typen bezeichnet; sie
verursachen Genitalwarzen und Kondylome. Andere Serotypen, wie 16 und 18, werden als High-Risk-Typen bezeichnet, weil
sie Infektionen verursachen, die zum Zervix-Karzinom führen können.
Das Zervix-Karzinom zählt weltweit zu
den häufigsten Krebsarten der Frau. Eine
Impfung wäre ein sensationeller Fortschritt,
vergleichbar mit der Hepatitis B-Impfung,
die bekanntlich vor einem hepatozellulären
Karzinom schützt.
Der HPV-Impfstoff ist ein Totimpfstoff,
der gentechnologisch gewonnen und mit
Adjuvans verbunden wird. Die umfangreichen klinischen Studien haben eine gute
Verträglichkeit, eine hohe Immunogenität
und eine Protektivität vor Infektionen mit
Genitalwarzen und Kondylomen gezeigt.
Zwei Impfstoffe befinden sich in der
Zulassung, ein bivalenter (gegen die Serotypen 16 + 18) und ein tetravalenter (gegen die
Serotypen 6, 11, 16, 18) [Hillemanns et al.].
Allerdings geht es bei der bisherigen
Beurteilung des Impfstoffs zunächst „nur“
um seine Verträglichkeit, Immunogenität
und Protektivität vor einer HPV-Infektion
mit ihren Frühfolgen. Da das Zervix-Karzinom in aller Regel erst Jahre bis Jahrzehnte
nach einer HPV-Infektion zu erwarten ist,
wird man auf einen impfbedingten Morbiditäts- und Mortalitätsrückgang des ZervixKarzinoms länger warten und Geduld mitbringen müssen.
Impfung gegen einen InfluenzaPandemie-Stamm
Impfung gegen Humanes
Papillomvirus
Das humane Papillomvirus (HPV) ist ein
DNS-Virus mit > 100 Serotypen. Einige
Serotypen sind pathogen, wenige von ihnen
sind onkogen. So werden die Serotypen
Fachkreise und Öffentlichkeit stehen unter
dem Eindruck einer baldigen InfluenzaPandemie. Seit längerer Zeit wird die Ausbreitung einer neuen Antigenvariante des
Influenza A-Virus (H5N1) unter Vögeln verfolgt. Die Vogelgrippe ist bisher nur spora-
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disch auf Menschen übertragen worden,
wies dann aber eine hohe Letalität auf.
Welche Bedingungen können zu einer
Influenza-Pandemie des Menschen führen?
Folgende Voraussetzungen müssen erfüllt sein: Die Influenza A-Viren haben ihre
Oberfläche strukturell durch ein AntigenShift verändert sowie ihre Virulenz und
Kontagiosität zum Menschen gesteigert. In
diesem Fall verfügt die Menschheit über
keine hinreichende Immunität gegen diese
Viren und jedermann kann sich leicht infizieren und schwer erkranken.
Derzeit zeichnen sich die strukturell veränderten Influenza A-Viren vorrangig durch
ihre Pathogenität bei Vögeln und eine geringe Affinität zum Menschen aus. Trotzdem
wird von Experten dringend empfohlen, die
Situation ernst zu nehmen und sich auf
eine Influenza-Pandemie vorzubereiten.
Zu den Nahzielen eines nationalen Influenza-Pandemie-Plans gehören beispielsweise konsequente Impfungen mit dem
aktuellen Influenzaimpfstoff, damit die
Morbidität und Mortalität in der Bevölkerung reduziert und besonders auch Doppelinfektionen vermieden werden. Eine Doppelinfektion mit dem neuen Influenza AVirus H5N1 kann nämlich zum Ausgangspunkt für ein Reassortment, d. h. für die
Entstehung eines virulenten und kontagiösen Pandemievirus, werden.
Das Fernziel einer Influenza-PandemieBekämpfung ist die Entwicklung und ausreichende Produktion eines Impfstoffs mit
dem Pandemie-Stamm. Bemühungen mit
dieser Zielsetzung sind im Gange, ohne
dass allerdings in den nächsten Monaten
mit einem solchen Impfstoff schon zu rechnen sein dürfte.
Schlussfolgerungen
1. Impferfolge sind durch Überwachung
fortlaufender Impfprogramme zu sichern.
2. Neue Impfstoffe werden in den nächsten Jahren zugelassen.
3. Eine Zosterimpfung wird die Zosterinzidenz und die postzosterische Neuralgie
reduzieren.
4. Eine Rotavirusimpfung wird die in den
Tropen oft tödlich verlaufende und in
den Industrieländern verbreitete Durchfallerkrankung im Kleinkindalter verhüten helfen.
5. Eine HPV-Impfung wird die Infektion
durch HPV verhindern und damit das
Risiko eines Zervix-Karzinoms minimieren.
6. An der Entwicklung eines Impfstoffs
gegen den vermuteten Influenza-Pandemie-Stamm wird gearbeitet. Bis zu seinem Einsatz sind nationale PandemiePläne zu befolgen.
Literatur
Forster J. Aktuelle Rotavirusimpfstoffe – Kriterien
zur Beurteilung des Nutzens. Monatsschrift
Kinderheilkd 2005; 153: 831-837
Hillemanns P, Dürst M. Impfungen gegen humanes Papillomvirus bei Jugendlichen. Monatsschrift Kinderheilkd 2005; 153: 824-830
Kreth HW. Zoster. In: Varicella-Zoster-Virus-Infektionen: Aktuelle Prophylaxe und Therapie
(Hrsg A Sauerbrei, P Wutzler). UNI-MED Verlag, Bremen-London-Boston 2004
Oxman MN, Levin MJ, Johnson GR et al. A vaccine
to prevent herpes zoster and postherpetic neuralgia in older adults. N Engl J Med 2005; 352:
2271-2284
Schuster V, Bürk G, Hügle B. Neue Hoffnung auf
Impfstoffe gegen Rotaviren. Kinder- und
Jugendmedizin 2005; 5: 227-230
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Infektionsprophylaxe bei Tumorpatienten
Infektionsprophylaxe bei Tumorpatienten
Georg Maschmeyer
Vorbemerkung
Infektionen zählen zu den häufigsten Komplikationen bei Patienten mit malignen
Erkrankungen. Das Spektrum reicht von
einfachen lokalen Problemen an den Eintrittsstellen venöser Gefäßzugänge bis zu
lebensbedrohlichen invasiven Pilzinfektionen bei Patienten mit schwerer und lang
anhaltender Immunsuppression [Maschmeyer 2004]. Die Gefährdung der betroffenen Patienten ist in der Regel abhängig von
der Ausprägung und Dauer der Neutropenie, definiert als Zahl neutrophiler Granulo-
zyten unter 500 pro µl Blut. Patienten mit
einer Neutropeniedauer über 10 Tagen gelten als Hochrisikogruppe bezüglich des
Auftretens schwerer Infektionen. Daneben
können aber auch Patienten mit einer
(meist Chemotherapie- oder bestrahlungsbedingten) schweren und lang dauernden
Verminderung CD4-positiver T-Lymphozyten von invasiven und vital bedrohlichen
Infektionen betroffen sein. Prinzipien der
Prävention infektiöser Komplikationen sind
im Kontext mit bestimmten Typen von
Immunsuppression bei Tumorpatienten
formuliert worden. Die mit unterschiedli-
Tabelle 1: Typische Infektionserreger bei verschiedenen Formen der Immunabwehrschwäche
Granulozytopenie (Neutropenie):
• Gram-negative Aerobier (Enterobacteriaceen und Glucose-Nonfermenter wie Pseudomonas
aeruginosa oder Stenotrophomonas maltophilia)
• Staphylococcus aureus
• Koagulase-negative Staphylokokken (z. B. S. epidermidis)
• Alpha-hämolysierende Streptokokken (z. B. S. viridans und S. mitis)
• Pilze, v. a. Aspergillus- und Candida-Spezies
T-Zell-Defekt:
•
•
•
•
•
Viren (Zytomegalie, Herpes simplex, Varicella Zoster, HHV-6, RSV, Adenoviren)
Pilze (s. o., sowie Kryptokokken, Pneumocystis jiroveci)
Mykobakterien, vor allem M. tuberculosis
Parasiten (z. B. Toxoplasma gondii oder Kryptosporidien)
Bakterien (s. o.), zudem Listeria monocytogenes und Nocardien
Antikörpermangel:
• Vorwiegend verkapselte Bakterien wie Pneumokokken, Haemophilus influenzae
• Viren (s. o.)
• Seltener: Pilze
Splenektomie/Funktionelle Asplenie:
• Streptococcus pneumoniae
• Haemophilus influenzae
• Neisseria meningitidis
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chen Formen der Immunsuppression typischerweise assoziierten Infektionserreger
sind in Tabelle 1 dargestellt.
Für die klinische Realität ist sowohl zu
beachten, dass bestimmte Erreger bzw.
Arten von Infektionen bei unterschiedlichen Formen von Immunsuppression auftreten können (Tabelle 1), als auch, dass
Patienten mehrere Formen von Immunsuppression gleichzeitig aufweisen können. So
kann ein (meist ambulant behandelter)
Patient mit einer chronischen lymphatischen Leukämie (B-CLL), der in Folge seiner Erkrankung einen B-Zelldefekt (Antikörpermangel) mitbringt, durch Behandlung mit einem Nukleosidanalogon wie Fludarabin oder Cladribin oder nach Gabe des
CD52-Antikörpers Alemtuzumab (Campath) zusätzlich einen protrahierten T-Zelldefekt erwerben und durch Verdrängung
der Granulopoese im Knochenmark oder
Chemotherapie gleichzeitig eine Neutropenie aufweisen. In vielen Fällen ist das Vorgehen nur in enger Abstimmung mit dem
behandelnden Zentrum für Hämatologie
und Onkologie festzulegen.
besteht das Ziel der Infektionsprophylaxe
typischerweise in der Vermeidung infektionsbedingter Morbidität, und damit auch
von Hospitalisierung und Kosten. Ein drittes Ziel der Infektionsprophylaxe kann darin bestehen, durch Verhinderung von Infektionen eine planmäßige Durchführung der
Tumortherapie zu gewährleisten, weil man
als Folge einer Verzögerung eine Verschlechterung der Behandlungsergebnisse
oder zumindest eine Erhöhung der Behandlungskosten befürchtet. Bei der Betrachtung
von Ergebnissen klinischer Studien zum
Wert von Maßnahmen zur Infektionsprävention bei Tumorpatienten sollte deshalb
immer sorgfältig darauf geachtet werden,
welche Zielkriterien verfolgt wurden, und
wie relevant diese bei der jeweiligen Patientenpopulation sind. So ist die rein zahlenmäßige Verminderung von Fiebertagen
oder Verkürzung der Neutropenie ohne
gleichzeitige Reduktion antimikrobieller
Therapie für die betroffenen Patienten
wenig bedeutsam. Auf der anderen Seite
erscheint es auch nicht sinnvoll, ein Verfahren zur Infektionsprophylaxe zu verwerfen,
weil es nicht zu einer signifikanten Verbesserung des Gesamtüberlebens führt.
Ziele der Infektionsprophylaxe
Bei Patienten mit akuten Leukämien oder
nach allogener Knochenmark- bzw. Stammzelltransplantation lässt sich das Ziel der
Infektionsprävention in der Regel klar definieren, denn hier steht die Vermeidung
letaler systemischer Infektionen, etwa
durch gram-negative Aerobier, Zytomegalieviren, Pneumocystis jiroveci oder Fadenpilze (Aspergillosen oder Zygomykosen) im
Mittelpunkt. Bei Patienten mit Antikörpermangel, T-Zelldefekt oder temporärer Neutropenie sowie bei Patienten etwa mit
obstruierenden Tumoren, schwerer Schleimhauttoxizität oder Venenverweilkathetern
Methoden der Infektionsprophylaxe
Obwohl antimikrobielle Substanzen (Antibiotika, Antimykotika, Virustatika) und
rekombinante hämatopoetische Wachstumsfaktoren wie Filgrastim oder Lenograstim (G-CSF) in aller Regel im Mittelpunkt
klinischer Studien zur Infektionsvermeidung bei Tumorpatienten stehen, sollten
andere Prophylaxeverfahren nicht außer
Acht gelassen werden. Tabelle 2 zeigt eine
Zusammenstellung verschiedener Verfahren der Infektionsvermeidung.
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Infektionsprophylaxe bei Tumorpatienten
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Tabelle 2: Ansätze zur Infektionsverhütung
Hygienemaßnahmen
• Vorsicht vor Biotonne, Kompost, Laub u. ä. (Schimmelpilze)
• Vermeidung von Verletzungen (Schnittwunden, Rosendornen etc.)
• Schutz der Hände, im Zweifelsfall auch alkoholische Desinfektion
Einhaltung von Vorsichtsmaßnahmen im Alltag
• Ernährung:
– Normale Kost, keine einseitige Überbetonung
– Vorsicht vor Rezepten „zur Stärkung des Immunsystems“
– Vorsicht vor „besonders gesunden“ Lebensmitteln:
– Produkte aus unbehandeltem Getreide (Schimmelpilze)
– Milchprodukte aus unpasteurisierter Milch (Listerien)
– Vermeidung von unzureichend durchgebratenem Gefrierfleisch, insbesondere Geflügel
• Haustiere:
– Vermeidung von engem Kontakt in den ersten 3 Monaten nach Transplantation (Ausnahmen z.B.
Aquarien oder Schildkröten)
• Kontakte:
– Vorsicht bei offenkundig „erkälteten“ Personen,
– aber auch bei Windpocken, Gürtelrose, Mumps, Masern, Pfeiffer'schem Drüsenfieber oder sonstigen
übertragbaren Erkrankungen
– Meidung von öffentlichen Bädern, Saunen u.ä.
– Enge (auch intime) Kontakte zu gesunden Lebenspartnern sind nicht gefährlich
• Reisen/Beruf:
– in „Reichweite“ bleiben: Nord/Westeuropa (aber Vorsicht vor Zeckenbissen!), Mallorca o.ä.
– im Zweifelsfall Zurückhalten bei unbekannten Speisen
– Schutz der Hände, im Zweifelsfall auch alkoholische Desinfektion
Impfungen
•
•
•
•
•
•
Pneumokokkenschutzimpfung
Grippeschutzimpfung
Tetanus, Diphtherie
(Hepatitis B)
Auf keinen Fall: Impfungen mit Lebendimpfstoffen
Vorsicht auch bei solchen Impfungen bei Familienmitgliedern
Medikamente
• Gabe von Antibiotika, Antimykotika und Virustatika
– z. B. nach Transplantation, nach bestimmten Chemotherapien wie Cladribin, Fludarabin, oder nach
Gabe von Alemtuzumab (Campath)
• Gabe von Antikörpern (Immunglobulinen)
– z. B. bei B-CLL oder Plasmozytom (Myelom) und wiederholten Infektionen
• Verkürzung der Neutropenie durch prophylaktische Gabe von G-CSF (Filgrastim, Pegfilgrastim oder
Lenograstim) nach Chemotherapie
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Prophylaktische Gabe rekombinanter hämatopoetischer Wachstumsfaktoren
Der primäre Einsatz von G-CSF (Filgrastim,
Pegfilgrastim oder Lenograstim) gilt als
gerechtfertigt, wenn bei einem Patienten
die Wahrscheinlichkeit infektiöser Komplikationen nach einer Tumorbehandlung
mehr als 40 % beträgt [Ozer et al. 2000]. In
Einzelfällen kann jedoch mit dem Ziel der
Vermeidung von infektionsbedingter Morbidität oder zur Vermeidung der Verzögerung einer antineoplastischen Behandlung
der primäre Einsatz dieser Substanzen
sinnvoll sein. Häufig ist die Gabe solcher
hämatopoetischer Wachstumsfaktoren bereits durch das Therapieprotokoll zur
Behandlung der Grunderkrankung vorgegeben, vor allem bei Patienten mit aggressiven
hämatologischen Neoplasien. Bei Patienten
mit indolenten Lymphomen, Myelomen
oder soliden Tumoren ist die Gabe von GCSF im Allgemeinen nicht indiziert. Studien, die einen Vorteil durch die primäre
Gabe hämatopoetischer Wachstumsfaktoren
bei Patienten mit soliden Tumoren postulieren, beinhalten in der Regel entweder eine
ungewöhnlich aggressive Chemotherapie
[Papaldo et al. 2003] oder zeigen eine
Reduktion febriler Komplikationen von sehr
niedrigen auf noch niedrigere Inzidenzraten [Vogel et al. 2005]. Allerdings führt der
letztgenannte Effekt bei der Behandlung
von Patienten mit soliden Tumoren oder
malignen Lymphomen zu einer Reduktion
der Morbidität und zu einer weitgehend
komplikationslosen und gut kalkulierbaren
ambulanten Durchführbarkeit der meisten
Chemotherapiemodalitäten, so dass gerade
im ambulanten onkologischen Setting ein
großer Teil der Tumorpatienten G-CSF zur
Prophylaxe jenseits der zitierten ASCO-Kriterien [Ozer et al. 2000] erhält.
Der Einsatz von G-CSF im Sinne einer
sekundären Prophylaxe kommt vor allem
dann in Frage, wenn bei individuellen
Patienten trotz eines als niedrig eingeschätzten Risikos nach einer vorhergehenden
Therapie ohne G-CSF-Prophylaxe eine neutropeniebedingte Infektion aufgetreten ist.
Einsatz antimikrobieller Substanzen zur Infektionsprophylaxe bei
Tumorpatienten
Außerhalb der stationären Behandlung von
Patienten mit malignen Erkrankungen im
Rahmen intensiver Therapieprotokolle oder
allogener Stammzelltransplantation ist die
Gabe antimikrobieller Substanzen zur Infektionsprävention nur selten indiziert. Klassischerweise wird hier im Rahmen standardisierter Protokolle Aciclovir bei Patienten mit
lang anhaltender T-Zellsuppression (etwa
nach Ganzkörperbestrahlung) zur Vermeidung von Herpes-Virusinfektionen und
intermittierend Cotrimoxazol zur Pneumocystis-Prophylaxe verabreicht [Krüger et al.
2005]. Fluorochinolone wie Ciprofloxacin,
Ofloxacin oder Levofloxacin haben bei
Patienten mit schwerer Neutropenie im
Rahmen aggressiver Therapiemaßnahmen
bei akuter Leukämie eine signifikante Verminderung von Fieberepisoden ermöglicht
[Cruciani et al. 1996; Engels et al. 1998], eine
Verbesserung der Gesamtergebnisse im Sinne einer Erhöhung der Therapieerfolgsraten
oder einer Verlängerung der Überlebenszeiten haben sie jedoch nicht bewirkt. Da unter
regelmäßiger Gabe dieser Chinolon-Antibiotika ein deutlicher Anstieg der Resistenzraten gegen Chinolone unter den gramnegativen Aerobiern beobachtet wurde, wurde der
Vorteil der Chinolonprophylaxe vor der Hintergrund des Verlustes der Wirksamkeit dieser Antibiotikagruppe für die ungezielte
antimikrobielle Therapie in Frage gestellt.
Sequenzielle Analysen aus hämatologischonkologischen Zentren, die die Chinolon-
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Infektionsprophylaxe bei Tumorpatienten
prophylaxe nach langjährigem Einsatz beendet und zum Teil wieder aufgenommen
haben, zeigen zum Teil einen signifikanten
Anstieg schwerer und letaler Infektionen
durch gramnegative Aerobier nach dem
Aussetzen der Chinolonprophylaxe [Reuter
et al. 2005], während andere onkologische
Zentren dies nicht bestätigen konnten
[Gomez et al. 2003].
Jüngere Publikation von Ergebnissen
großer klinischer Studien weisen jedoch
wiederum auf die signifikante Verminderung febriler Komplikationen bei Tumorpatienten durch den prophylaktischen Einsatz
von Levofloxacin hin [Cullen et al. 2005;
Bucaneve et al. 2005]. Auch hier wird eine
Verminderung infektionsbedingter Morbidität, teils bereits von einem sehr niedrigen
Niveau in der Placebo-Vergleichgruppe ausgehend, aber kein Einfluss auf die Gesamtprognose der untersuchten Patienten mit
soliden Tumoren oder malignen Lymphomen berichtet. Die Nebenwirkungsraten
waren hier nicht signifikant unterschiedlich, die Abbruchraten wegen unerwünschter Ereignisse vergleichbar.
Schutzimpfungen
Wie in Tabelle 2 aufgeführt, sind Schutzimpfungen ebenfalls als Möglichkeit der Reduktion infektiöser Komplikationen bei Tumorpatienten zu betrachten. Hierbei ist jedoch
strikt darauf zu achten, dass keine Lebendvakzine zum Einsatz kommt. Bei den meisten Patienten kommt es trotz Chemotherapie und Immunsuppression zu einer klinisch effektiven Impfantwort. Zu empfehlen
sind eine jährliche Grippeschutzimpfung,
eine Pneumokokkenschutzimpfung und
eine Aktualisierung der üblichen Schutzimpfungen gegen Diphtherie, Tetanus und
Polio (inaktivierter Impfstoff). Impfungen
gegen Haemophilus influenzae B, Hepatitis
B und Meningokokken sind bei den hier diskutierten Patienten nicht geprüft, könnten
aber ebenfalls sinnvoll sein.
Bei Patienten vor und nach allogener
Stammzelltransplantation existiert in aller
Regel ein Plan zur Impfprophylaxe, der vom
Transplantationszentrum vorgegeben ist.
Dieser enthält häufig auch die Empfehlung
einer Varizellen-Schutzimpfung für Transplantationskandidaten, bei denen keine
VZV-Antikörper (IgG) nachweisbar sind
[Hata et al. 2002].
Fazit für die Praxis
(Zusammenfassung)
Bei Tumorpatienten, die nicht im Rahmen
kontrollierter Studien eine vorgegebene
Infektionsprophylaxe mit antimikrobiellen
Substanzen oder hämatopoetischen Wachstumsfaktoren (Filgrastim, Lenograstim oder
Pegfilgrastim) erhalten, ist die individuelle
Vorgehensweise unter Berücksichtigung der
jeweils vorliegenden Art der Immunsuppression (Neutropenie, Antikörpermangel,
T-Zellsuppression, Asplenie oder Kombination davon) mit dem behandelnden Zentrum abzustimmen. Eine Reduktion infektionsassoziierter Morbidität kann in vielen
Fällen durch antimikrobielle Substanzen
und G-CSF erreicht werden, allerdings ist
die Indikation im Hinblick auf die damit
verbundenen Kosten, das Risiko der Resistenzentwicklung gegen Antibiotika und die
möglichen Nebenwirkungen in jedem Einzelfall kritisch zu prüfen. Prinzipiell gerechtfertigt erscheint der primäre prophylaktische Einsatz von G-CSF nur bei Patienten, bei denen als Folge der geplanten antineoplastischen Therapie Infektionen mit
einer Wahrscheinlichkeit von mehr als 40 %
zu erwarten sind.
Tritt bei Patienten, bei denen zunächst
keine primäre Infektionsprophylaxe durch-
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geführt wurde, wider Erwarten eine ernsthafte infektiöse Komplikation auf, sollte die
Indikation für eine solche Prophylaxe im
Sinne einer Sekundärprävention individuell
entschieden werden.
Auf Überlebensraten und -dauer haben
diese Maßnahmen keinen signifikanten
Einfluss. Dies gilt auch für Patienten, bei
denen durch den Einsatz prophylaktischer
Antibiotika oder hämatopoetischer Wachstumsfaktoren die Einhaltung des Chemotherapieprotokolls signifikant verbessert
werden konnte [Ottmann et al. 1995; Fossa
et al. 1998, Papaldo et al. 2003]
Individuelle Verhaltensregeln oder hygienische Maßnahmen sind in ihrem Effekt auf
Fieber- oder Infektionsraten bei Tumorpatienten leider kaum in kontrollierten Studien untersucht. Empfehlungen zur Vermeidung bestimmter Nahrungsmittel oder
Tätigkeiten sowie zu Hygienemaßnahmen
entsprechen demnach weitgehend Expertenmeinungen oder stellen Schlussfolgerungen
aus epidemiologischen Erkenntnissen und
Einzelfallbeobachtungen dar. Soweit diese
eine normale Lebensführung nicht in unvertretbarer Weise beeinträchtigen, haben sie
auch Eingang in Leitlinien zur Infektionsprävention bei Tumorpatienten gefunden.
Literatur
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MRSA: Eine Problematik in Klinik und Praxis
Ulrich Höffler
Einleitung
Staphylococcus aureus ist oft der erfolgreichste und wendigste aller pathogenen
Keime genannt worden. Er besitzt einerseits
die Fähigkeit, sich als harmloser Kommensale auf Haut und Schleimhaut zu vermehren, wobei er andererseits das Potenzial
behalten hat, invasive, lebensbedrohende
Krankheiten hervorzurufen [1-3]. Seit zwei
Jahrzehnten steigt die Prävalenz aller Staphylokokkeninfektionen insgesamt weltweit
an. Schließlich sind Staphylokokken in der
Lage, rasch multiple Antibiotika-Resistenzen zu entwickeln, und die Verbreitung von
multiresistenten
Staphylococcus-aureusStämmen (MRSA) nimmt dramatisch zu
[2]. Die folgende Übersicht dient einer
Bestandsaufnahme der MRSA-Problematik
unter besonderer Berücksichtigung neuerer
Erkenntnisse zu epidemiologischen Charakteristika und infektionsprophylaktischen
Strategien in Klinik und Praxis.
Habitat und Keimträger-Problematik
Antibiotikasensible wie -resistente S.-aureus-Stämme sind die wichtigsten Erreger
pyo-gener Infektionen beim Menschen. Sie
bilden eine große Zahl von extrazellulären
und zellständigen Virulenzfaktoren, die die
Bakterien befähigen, der Wirtsabwehr zu
entgehen und Infektionen hervorzurufen:
Exoenzyme und Toxine, eine PolysaccharidKapsel, das Protein A, Proteine, die extrazelluläre Matrixproteine binden können u. v. a.
Man unterscheidet lokalisierte Infektionen
wie Abszess, Furunkel, Panaritium, Tonsillitis oder Osteomyelitis, systemische/fortgeleitete Krankheiten wie Sepsis und Endokarditis sowie toxinvermittelte Krankheiten.
Im Gegensatz zu den feuchtigkeitsliebenden gramnegativen Stäbchenbakterien
sind Staphylokokken trocknungsresistent
und überleben monatelang in der Umgebung des Menschen. Keimträger bei Patienten und Personal sind aber die bedeutsamste Infektionsquelle für S.-aureus-Infektionen [3-6]. Es handelt sich um eine Kolonisation bei klinisch gesunden Personen.
Hauptvermehrungsort sind die beiden
Nasenvorhöfe, die etwa 1-2 cm tiefen Vestibula nasi mit den Vibrissae und deren Follikeln und Talgdrüsen (Abbildung 1).
Während einerseits hinter dem Limen
nasi die Schleimhaut beginnt mit ihren vielfältigen, natürlichen, auch gegen Staphylokokken gerichteten Abwehrmechanismen,
und andererseits durch Waschen die S.-aureus-Flora auf der übrigen Epidermis des
menschlichen Körpers immer wieder reduziert wird, stellen die Nasenvorhöfe optimale
mikroökologische Nischen dar: talgdrüsenreiche Epidermis voller Nährstoffe wie Hautoberflächenlipide, Zelldetritus, eiweißreiche
Sekrete, geschützt, warm, feucht, gut belüftet
und, vom Standpunkt des Keimes aus gesehen, „strategisch“ äußerst günstig für die
Weiterverbreitung. Von hier kann S. aureus
aerogen ebenso wie durch Kontakt über den
ganzen Körper und in die Umgebung abgegeben werden. Er hält sich besonders häufig
gleichzeitig in Oropharynx, Perineum,
Mamillen und an der Stirn-Haar-Grenze auf.
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MRSA: Eine Problematik in Klinik und Praxis
Abbildung 1: Staphylococcus aureus beim Menschen: Hauptstandort Vestibulum nasi
Es gibt 3 Keimträgerklassen: Persistierende oder Dauerkeimträger, intermittierende oder transiente Keimträger und Nichtkeimträger. Für die Allgemeinbevölkerung
fanden Kluytmans et al. [3] in einer Übersichtsarbeit über 40 Jahre bei 13 873 untersuchten Personen in verschiedenen Län-
Tabelle 1: Staphylococcus-aureus-Keimträger
dern eine mittlere Keimträgerrate von
37,2 % bei einer Variationsbreite von
19-55 % (Tabelle 1). Bei bestimmten Grundkrankheiten werden häufiger Keimträger
gefunden: Bis 76 % aller Typ I-Diabetiker,
bis 84 % aller Hämodialyse-Patienten und
bis 61 % aller i. v.-Drogenabhängigen sind
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S.-aureus-Keimträger. Wir selbst fanden bei
einem präoperativen Screening von 4 974
herzchirurgischen Patienten in den Jahren
von 1999 bis 2004 eine mittlere Keimträgerrate von 24,7 % antibiotikasensiblen wie resistenten Stämmen. Es gibt Hinweise darauf, dass genetische Wirtsfaktoren, kurzkettige Fettsäuren im Sebum, das HLA-DR3
und Bakteriozine der residenten Schleimhautmikroflora für das Keimträgertum verantwortlich sind.
MRSA-Problematik
Methicillin war das erste penicillinasefeste
Penicillin. Resistenzen von S. aureus gegen
diese Penicilline traten rasch auf und führten im angloamerikanischen Sprachraum
zur Bezeichnung MRSA. Zunehmend werden unter MRSA jedoch heute multiresistente S.-aureus-Stämme verstanden, denn
Methicillinresistenz bedeutet gleichzeitig
Resistenz gegen sämtliche Betalaktamantibiotika einschließlich aller Cephalosporine
und Carbapeneme. Weiterhin ist diese
Resistenz nahezu regelhaft vergesellschaftet
mit wechselnden Resistenzen gegen Makrolide, Chinolone, Aminoglykoside, Tetrazykline und Cotrimoxazol (Tabelle 2). MRSA
haben weltweit dramatisch an Häufigkeit
zugenommen [2]. Wirksame Substanzen
sind letztlich oft nur die Glykopeptid-Antibiotika Vancomycin und Teicoplanin, die
nicht per os gegeben werden können.
1997 wurden erstmals in Japan und
schließlich in fast 20 weiteren Ländern
MRSA isoliert, die auch gegen Vancomycin
nur noch eine intermediäre Sensibilität aufweisen (VISA) oder tatsächlich resistent
sind (VRSA). Somit müssen heute vielfach
Antibiotika mit weiteren Nachteilen benutzt
werden wie Fosfomycin, Rifampicin, Fusidinsäure oder Daptomycin, die sich teilweise nur als Kombinationspartner eignen
und/oder schnell zu Resistenzen führen
oder in Deutschland nicht zugelassen sind.
Das letzte, neu entwickelte Handelspräparat
mit Wirksamkeit gegen MRSA auf dem
deutschen Markt ist Linezolid (Zyvoxid®)
mit Tagestherapiekosten von 364,24 € (!).
Tabelle 2: Epidemische MRSA-Stämme in deutschen Krankenhäusern
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MRSA: Eine Problematik in Klinik und Praxis
Abbildung 2: Ausbrüche von epidemischen MRSA in Deutschland, 2004
Auch gegen diese Substanz sind jedoch
bereits Resistenzen beschrieben worden.
Das nationale Referenzzentrum für Staphylokokken im Robert-Koch-Institut (RKI),
Berlin, hat zuletzt im Epidemiologischen
Bulletin vom 14.10.2005 (Tabelle/Abbildung
2) ausführlich über die MRSA-Situation in
Deutschland berichtet [2]. Je nach Resistenzphänotyp der MRSA-Stämme wird
unterschieden zwischen dem Norddeutschen, dem Süddeutschen, dem Hannoverschen, dem Rhein-Hessen-, dem Wiener,
dem Berliner und dem Barnim-Epidemiestamm.
MRSA-Keimträger
Nach einer Untersuchung in Altenheimen
in Nordrhein Westfalen aus dem Jahre 2003
liegt die MRSA-Träger-Prävalenz dort bei
3 %. Nach einer Studie in Heidelberg und
Ulm aus dem Jahre 2004 sind 0,7 % aller
Patienten bei Hausärzten MRSA-Keimträ-
ger. Nach Ludwigshafener Daten gibt es präoperativ bei herzchirurgischen Patienten
zwischen 1 % und 2,7 % MRSA-Keimträger.
Eine deutlich steigende Tendenz konnten
wir in den letzten Jahren nicht feststellen.
Das Keimträger- bzw. DauerausscheiderProblem ist seit Jahrzehnten bei einer Vielzahl von Bakterien und Viren bekannt, so
z. B. bei Salmonellen, Shigellen, C. diphtheriae, N. meningitidis, Streptococcus pyogenes, Pneumokokken, Picornaviren, Hepatits-B-Viren, Noroviren u. v. a. Eine allgemeine Sanierung aller Keimträger bzw. Ausscheider erscheint völlig illusorisch.
Wichtiges Ziel in Klinik und Praxis muss es
aber sein, lebensbedrohliche MRSA-Infektionen wie Sepsis und Pneumonie zu verhindern. Maßgeblich sind in Deutschland
die Vorgaben und Maßnahmen nach der
RKI-Richtlinie für Krankenhaushygiene
und Infektionsprävention [9]. Sie dienen
letztlich zum Kontaminationsschutz potenzieller Eintrittspforten wie Verweilkanülen,
Gefäßkatheter, Portsysteme, Trachealtuben
etc. bei den besonders infektgefährdeten
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Patienten in Kliniken, Altenheimen und
Praxen. Zu diesem Zweck werden verschiedene Strategien verfolgt.
Präoperatives Patienten-Screening
auf S.-aureus-Keimträger
Um MRSA-Träger in besonders sensible
Bereiche gar nicht erst aufzunehmen, führt
unsere Klinikum z. B. präoperativ ein Screening auf Staphylokokken-Keimträger einschließlich MRSA bei allen herzchirurgischen Patienten durch. Soweit bei elektiven
Operationen klinisch vertretbar, werden die
dabei entdeckten MRSA-Träger zunächst im
häuslichen Bereich saniert und danach erst
aufgenommen.
Schutzmaßnahmen in Kliniken und
Altenheimen
Mit MRSA kolonisierte bzw. infizierte
Patienten müssen räumlich von anderen
Patienten isoliert werden. Eine Kohortenisolierung ist möglich. Bei Betreten des Zimmers ist ein Kittelwechsel vorzunehmen
und der Mund-Nasenschutz anzulegen [diese und weitere Einzelheiten siehe bei 9].
Hände-Desinfektion
Die Kontamination der Hände von Krankenhaus- und Praxispersonal ist von besonderer Wichtigkeit für die Weiterverbreiterung von Mikroben. In einem großen
Review haben Kampf et al. [7] eine MRSAKontaminationsrate der Hände von Krankenhausmitarbeitern von bis zu 17 % in der
Literatur gefunden. Die in Deutschland von
der Fa. Bode entwickelte und seit ca. 1970
zunehmend etablierte Methode der hygienischen Hände-Desinfektion nach dem Einreibeverfahren mit Mischrezepturen von
Alkoholen und Rückfettern gewährleistet
eine Abtötung von 99,9 % aller Staphylokokken innerhalb von 30 Sekunden bei einer
Remanenzwirkung von 99,0 % in den darauf folgenden 3 Stunden. Der präventive
Wert dieser hygienischen Händedesinfektion kann kaum hoch genug eingeschätzt
werden.
Sanierung von MRSA-Trägern
Die Sanierung ist schwierig. In unserem
Klinikum wird in einem 5-tägigen Zyklus
folgendermaßen vorgegangen (Tabelle 3):
Ganzkörperwaschung (einschließlich der
Haare) täglich über 5 Tage mit dem Antiseptikum Octenisept® als 1:1 verdünnter
Lösung, Einwirkzeit 2 Minuten, danach
Abwaschen mit klarem Wasser, täglich frische Bettwäsche, Kleidung, Handtücher
und Waschlappen, Wundbehandlung mit
unverdünnter Octenisept®-Lösung oder
Polyhexanid (Prontosan W®, Fa. Braun,
Melsungen), gleichzeitig Sanierung der
Nase mit dem Antibiotikum Mupirocin als
Turixin®-Nasensalbe 3-mal täglich über
5 Tage und bei Besiedlung des Rachens
3-mal täglich Mundspülung mit unverdünnter Octenisept®-Lösung (bei Ablehnung
alternativ Hexoral®).
Erfolge sind abhängig vom Ort des
Keimnachweises [5]: Nasenkeimträger beim
Personal können allein mit Turixin®-Nasensalbe in 100 % der Fälle vollständig saniert
werden, auch ohne Ganzkörperwaschung.
Bei allen Patienten zusammengenommen
liegen die Sanierungserfolge nach dem
ersten Waschzyklus bei 62 %. Haben die
Patienten jedoch Wundinfektionen mit
MRSA, so liegen die Sanierungserfolge
nach der ersten Waschung bei unserem
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MRSA: Eine Problematik in Klinik und Praxis
Tabelle 3: Sanierung von MRSA-Trägern im Klinikum LU
Vorgehen nur bei 26 %. Auch bei Einsatz
anderer Antiseptika zur Waschung wurden
keine signifikant höheren Sanierungserfolge erzielt. Klotz et al. [6] diskutieren, ob
MRSA im Stuhl zu den schlechten Sanierungserfolgen beitragen.
Dokumentationspflicht nach dem
Infektionsschutzgesetz (IfSG)
Nach § 23 IfSG vom 01.01.2001 [8] sind Leiter von Krankenhäusern und von Einrichtungen für ambulantes Operieren verpflichtet, das Auftreten von Krankheitserregern
mit speziellen Resistenzen fortlaufend in
einer gesonderten Niederschrift aufzuzeichnen und zu bewerten. Dies gilt insbesondere für MRSA und wird seitdem von den örtlichen Gesundheitsämtern bei allen routinemäßigen Begehungen in Kliniken und Praxen erfragt.
Zusammenfassung
MRSA (Multiresistente Staphylococcusaureus-Stämme) breiten sich weltweit dramatisch aus und verursachen in Klinik und
Praxis zunehmend häufiger schwer therapierbare, invasive, lebensbedrohende Infektionen. Alle Strategien zur MRSA-Prävention haben ein Hauptziel: die Non-Infektion
potenzieller Eintrittspforten für Staphylokokkeninfektionen! Zur Erkennung, Verhütung und Bekämpfung sind notwendig:
eine mikrobiologische Diagnostik mit Spezies-Identifizierung und Antibiogramm,
Hygienepläne in Klinik und Praxis nach der
Richtlinie für Krankenhaushygiene und
Infektionsprävention des Robert-Koch-Instituts [RKI-Richtlinie; 9] sowie nach BGR
250/TRBA 250 Biologische Arbeitsstoffe im
Gesundheitswesen [10; auch gültig für Arzt-,
Zahnarzt- und Tierarztpraxen!], die Beschäftigung von bzw. Beratung durch Hygienefachkräfte, Hygienebeauftragte (Ärztinnen/
Ärzte), Krankenhaushygieniker (Fachärzte
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für Hygiene) und eine Resistenzstatistik
nach § 23 Infektionsschutzgesetz in allen
Kliniken und Einrichtungen für ambulantes
Operieren.
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Therapie und Prävention der Hepatitis B
Therapie und Prävention der Hepatitis B
Hermann E. Wasmuth, Frank Tacke, Christian Trautwein
Zusammenfassung
In den letzten Jahren konnten neue Therapiestrategien der chronischen Hepatitis B
Virus (HBV) Infektion entwickelt und in die
klinische Praxis eingeführt werden. Die
unterschiedlichen
Behandlungsoptionen
haben zu einer deutlichen „Individualisierung“ der Therapie geführt. Die Indikationsstellung und Auswahl der geeigneten
antiviralen Therapie richtet sich nach
patientenspezifischen klinischen, biochemischen, virologischen und eventuell histologischen Befunden. Bei Nachweis definierter
positiver Prognosefaktoren (z.B. niedrige
Viruslast, hohe Transaminasen, kurze Infektionsdauer etc.) sollte eine Therapie mit
Interferon-alpha eingeleitet werden, die
heute meistens mit pegyliertem Interferonalpha durchgeführt wird. Unter diesem
Therapieregime kommt es zu relativ hohen
biochemischen und virologischen Ansprechraten. Alternativ können momentan
die oralen Nukleos(t)idanaloga Lamivudin,
Adefovir oder Entecavir eingesetzt werden.
Unter Lamivudin besteht ein erhöhtes Risiko zur Selektion resistenter Virusstämme,
die besonders nach mehrjähriger Therapie
ein großes klinisches Problem darstellen.
Adefovir und Entecavir zeigen insgesamt
ein günstigeres Resistenzprofil, allerdings
kommt es auch hier nach Resistenzentwicklung häufig zu einer Reaktivierung der
Infektion. Weiterhin sind zum jetzigen Zeitpunkt die Kriterien zur Beendigung einer
Therapie mit Nukleos(t)idanaloga noch
nicht ausreichend definiert. Nicht zuletzt
aufgrund der nicht optimierten Therapie-
möglichkeiten, stellt die Prävention der
HBV-Infektion somit ein wichtiges klinisches Ziel dar. Im Gegensatz zur Hepatitis
C, steht bei der Hepatitis B eine effektive
und sichere Vakzinierung zur Verfügung.
Diese sollte nach den aktuellen STIKOEmpfehlungen bei allen Säuglingen und
Kindern in Deutschland durchgeführt werden. Sie verleiht bei immunkompetenten
Personen in über 95 % der Fälle einen
sicheren Infektionsschutz über mindestens
10 Jahre.
Einleitung
Trotz einer allgemeinen Impfempfehlung
für Kinder und Jugendliche erkranken in
Deutschland pro Jahr ca. 3 000-10 000 Patienten neu an einer Hepatitis B Virus
(HBV) Infektion. Die überwiegende Anzahl
aller Infektionen wird hierbei durch Sexualkontakte übertragen. Die Prävalenz der
chronischen Infektion, definiert als eine
Viruspersistenz mit begleitender Leberzellschädigung über einen Zeitraum von mehr
als 6 Monaten, beträgt in Deutschland aktuell ca. 500 000 Patienten [1]. Weiterhin können Risikogruppen identifiziert werden, in
denen noch eine wesentlich höhere Rate an
HBsAG Trägern nachweisbar ist [2].
Der natürliche Verlauf der HBV-Infektion wird durch das Wechselspiel zwischen
Virusreplikation und resultierender Immunantwort bestimmt. Dieses führt im Erwachsenenalter spontan in über 90 % der
Fälle zur Ausheilung der Infektion. Im
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Gegensatz hierzu nimmt die perinatal und
im Kindesalter erworbene HBV-Infektion in
den meisten Fällen einen chronischen Verlauf. Die Ursachen für diese Divergenz sind
noch nicht gut verstanden. Die chronische
Verlaufsform kann in etwa 30 % der Fälle
zu Leberzirrhose mit Komplikationen der
portalen Hypertension, sowie zur Entwicklung eines hepatozellulären Karzinoms (ca.
2 % der Patienten pro Jahr bei Vorliegen
einer Leberzirrhose) führen.
Therapie der akuten Hepatitis B
Virus Infektion
Die akute Hepatitis B, definiert als die erstmals aufgetretene Leberentzündung durch
HBV, verläuft in den meisten Fällen unkompliziert und bedarf in der Regel keiner spezifischen Therapie. Bei wenigen (< 1 %) Patienten ist jedoch mit einem fulminanten
Verlauf und progredientem Leberversagen
zu rechnen [1]. In solchen Fällen hat sich
die Therapie mit Lamivudin, einem antiviral wirkenden oralen Nukleosidanalogon,
positiv auf die Rate an Komplikationen und
die Notwendigkeit einer Lebertransplantation ausgewirkt [3]. Aktuell läuft zudem
eine multizentrische Studie in Kooperation
mit dem Kompetenznetz Hepatitis, welche
die generelle Therapie der akuten Hepatitis
B mit Lamivudin testet (GAHB-Studie). Die
primäre Fragestellung der Studie bezieht
sich auf eine schnellere klinische Besserung
der Infektion durch die Gabe des Nukleosidanalogons und eine hierdurch bedingte
Senkung der direkten und indirekten Kosten.
Natürlicher Verlauf der chronischen
Hepatitis B Virus Infektion
Zur Indikationsstellung einer antiviralen
Therapie bei chronischer HBV-Infektion ist
das Verständnis des natürlichen Verlaufs
der Infektion wichtig. Dieser wird schematisch in drei Phasen unterteilt [4]: die
immuntolerante, die immunaktive und die
niedrig- bzw. nicht-replikative Phase.
Typisch für die Phase immunologischer
Toleranz ist eine hohe Virusreplikation
(nachweisbar durch hohe HBV-DNA Spiegel im Serum) mit Nachweis von HBeAg
bei nur gering erhöhten oder normalen
Transaminasen und nur geringer entzündlicher Aktivität in der Leber. Die Phase der
Immunreaktion ist gekennzeichnet durch
sinkende HBV-DNA Spiegel, aber deutlich
erhöhte Transaminasen bei histologisch
nachweisbarer Entzündungsreaktion in der
Leber. Dies führt bei einigen Patienten zur
Serokonversion von HBeAg zu anti-HBe
und zum Übergang in die niedrig- bzw.
nicht-replikative Phase mit HBV-DNA < 105
Kopien/ml. Diese ist durch normale Transaminasen und eine gute Prognose in Bezug
auf die Entwicklung einer Leberzirrhose
oder eines hepatozellulären Karzinoms gekennzeichnet [4].
Bei 30 % der Patienten mit chronischer
HBV-Infektion findet sich dennoch eine
hohe Virusreplikation, deutlich erhöhte
Transaminasen und entzündliche Veränderungen im Lebergewebe. Diese Patienten
werden in HBeAg positive und HBeAg
negative Verläufe unterschieden.
HBeAg negative Patienten mit hoher
Replikationsrate tragen üblicherweise Mutationen im Precore-Gen oder im basalen
Core-Promoter des Virus, so dass sie kein
HBeAg synthetisieren können [5]. Diese
HBeAg negativen Patienten zeigen nur sehr
selten eine Spontanremission und machen
heutzutage die Mehrzahl der behandlungsbedürftigen Patienten in Deutschland aus.
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Therapie und Prävention der Hepatitis B
Indikation zur Therapie bei chronischer Hepatitis B Virus Infektion
Eine chronische Hepatitis B sollte antiviral
behandelt werden, wenn die Transaminasen
erhöht sind, histologisch zumindest mäßiggradige entzündliche Veränderungen im
Lebergewebe vorliegen und eine relevante
HBV-Replikation (≥ 105 Kopien/ml) besteht. Zudem ist eine Therapie bei Komplikationen der Infektion wie einer deutlichen
Leberfibrose oder -zirrhose indiziert. Da der
klinische Verlauf einer chronischen HBV
Infektion sehr variabel ist, muss die Indikation zur Therapie aber für jeden Patienten
individuell gestellt werden.
Therapeutische Optionen bei
chronischer Hepatitis B
Für die Therapie der chronischen Hepatitis
B sind in Deutschland derzeit Interferonalpha (IFN), Polyethylenglykol-modifiziertes
(„pegyliertes“) Interferon-alpha (PEG-IFN),
Lamivudin (3'-Thiacytidin, ein orales Nukleosidanalogon), Adefovir (orales Nukleotidanalogon von Adenosin-Monophosphat)
Tabelle 1: Zugelassene Medikamente zur
Behandlung der chronischen Hepatitis B und
Substanzen in der Prüfphase
Medikament
Status
Interferon-alpha (Roferon A®,
Intron A®)
zugelassen
Pegyliertes Interferon-alpha
(Pegasys®, Pegintron®)
zugelassen
Lamivudin (Zeffix®)
zugelassen
Adefovir (Hepsera®)
zugelassen
Entecavir
zugelassen
Tenofovir (L-dT)
Phase II/III
Emtricitabine (FTC)
Phase III
Telbuvidine
Phase III
Clevudine (L-FMAU)
Phase II
L-dC, L-dA
Phase II
und ab Mitte 2006 Entecavir (GuanosinAnalogon) zugelassen. Weitere orale Nukleos(t)idanaloga (Emtricitabine oder Tenofovir) befinden sich in fortgeschrittenen Phasen der klinischen Prüfung [4] (Tabelle 1).
Prinzipielles Ziel aller aktuellen Therapiekonzepte ist es, die HBV-Replikation so
weit wie möglich zu reduzieren, um die
Entzündungsreaktion und die Fibroseprogression in der Leber zu hemmen.
Tabelle 2: Prognosekriterien für ein Ansprechen auf eine IFN-Therapie bei chronischer Hepatitis B
Gutes Ansprechen
(positive IFN-Prognosefaktoren)
Vermindertes Ansprechen
(negative IFN-Prognosefaktoren)
• hohe Transaminasen (ALT/GPT > 5X der Norm)
• niedrige Transaminasen
• Niedrige HBV DNA
• hohe HBV-DNA
• Infektion im Erwachsenenalter
• perinatal erworbene Infektion
• kurzer Verlauf seit Infektion
• langer Verlauf
• weibliches Geschlecht
• männliches Geschlecht
• HBV Genotyp A
• HBV Genotyp D
• asiatische Abstammung
• Immunsuppression / HIV
• Koinfektion mit HDV oder HCV
• HBeAg negative Hepatitis B
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Interferone
Die Abschätzung der Effektivität einer
Interferontherapie erfolgt anhand definierter Prognosefaktoren (Tabelle 2). Zu den
positiven Prognosefaktoren gehören ein
kurzer Infektionsverlauf, hohe Transaminasen (> 5fach der Norm) und eine niedrige
HBV-Replikation. In diesen Fällen ist, falls
keine Kontraindikationen vorliegen, eine
Interferontherapie indiziert [6]. In diesem
Fall kann in über 40 % der Fälle eine Remission der Erkrankung erreicht werden. Ähnlich der Hepatitis C Infektion zeigen neuere
Studien auch einen Einfluss des HBV-Genotyps auf den Therapieerfolg. Zur abschließenden Beurteilung sind aber noch weitere
Untersuchungen notwendig, so dass die
HBV Genotyp-Bestimmung noch nicht zur
klinischen Routine gehört.
Liegen keine positiven Prognosefaktoren
vor, sollte primär der Einsatz eines oralen
Nukleos(t)idanalogon erwogen werden. Das
Fehlen von HBeAg ist ebenfalls mit einem
reduzierten Ansprechen auf Interferon
assoziiert [7]. Vor der Behandlung mit IFN
muss unbedingt eine Vielzahl von relativen
und absoluten Kontraindikationen beachtet
werden [1]. Absolute Kontraindikationen
sind beispielsweise die Diagnose einer
Autoimmunerkrankung (z.B. Autoimmunhepatitis, Thyreoiditis), Depressionen,
schwere bakterielle Infektionen oder aber
auch eine bereits dekompensierte Leberzirrhose (Stadium Child B oder C).
Neben den Standardinterferonen sind
zuletzt auch Polyethylen-Glykol-modifizierte Interferone (PEG-IFN) bei Patienten mit
chronischer Hepatitis B evaluiert worden.
In großen Studien konnte die Effektivität
der pegylierten Interferone bei Patienten
mit HBeAg positiver und negativer chronischer Hepatitis B nachgewiesen werden
[8-10]. Die Ansprechraten, die für PEG-IFN
in diesen Zulassungsstudien erzielt worden
sind, liegen in einer retrospektiven Auswer-
tung etwas höher als für Standardinterferone [4]. Die Überlegenheit der PEG-IFN
gegenüber Standardinterferon ist bislang
aber nicht prospektiv nachgewiesen [11].
Auch konnte der potenzielle Nutzen einer
Kombinationstherapie aus PEG-IFN und
Nukleos(t)idanaloga noch nicht abschließend geklärt werden. Zwar ist die gleichzeitige Gabe von PEG-IFN und Lamivudin der
PEG-IFN-Monotherapie sechs Monate nach
Absetzen nicht überlegen, die Kombinationstherapie zeigte nach 48 Wochen Therapie aber eine bessere Hemmung der Virusreplikation [10]. Zudem existieren Hinweise, dass die Kombination aus IFN und
Lamivudin das Auftreten Lamivudin-resistenter Virusstämme verzögert [12]. Außerdem ist möglicherweise im Langzeitverlauf
das dauerhafte Ansprechen auf eine Kombinationstherapie von PEG-IFN und Lamivudin gegenüber Monotherapie(n) erhöht [13].
Lamivudin
Oral applizierbare Nukleos(t)idanaloga blockieren das Umschreiben der viralen prägenomischen RNA in DNA und damit die
HBV-Replikation. Bereits seit 1999 ist Lamivudin in Deutschland zugelassen. Das Präparat ist sehr gut verträglich und hemmt
effektiv die HBV-Replikation, auch bei fortgeschrittenem Leberumbau (Stadium Child
B oder C). Dies führt in den meisten Fällen
auch zu einer wirksamen Reduzierung der
entzündlichen Aktivität (biochemisch und
histologisch) [14; 15]. Bei HBeAg-positiven
Patienten kommt es unter der Therapie mit
Nukleos(t)idanaloga nach einem Jahr Therapie bei 15-20 % zu einer HBeAg/antiHBeSerokonversion [4]. Patienten mit einer
hochreplikativen HBeAg negativen chronischen HBV-Infektion sprechen ebenfalls in
den meisten Fällen sehr gut auf Nukleos(t)idanaloga an, die dauerhaften virolo-
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Therapie und Prävention der Hepatitis B
gischen Ansprechraten nach Absetzen der
Therapie sind allerdings niedrig (≤ 10 %).
Daher ist aktuell davon auszugehen, dass
Patienten mit HBeAg negativer Hepatitis B
langfristig behandelt werden müssen [1; 16].
Ein wesentlicher Nachteil der Lamivudin-Therapie ist die Resistenzentwicklung
des Virus unter Therapie. Hierfür ist eine
Mutation im sogenannten YMDD-Motiv des
Polymerase-Gens verantwortlich [5]. Lamivudin-resistente Stämme treten in 10-20 %
nach einem Jahr und in 50 % der Patienten
nach drei Jahren Therapie auf. Die Resistenzentwicklung ist mit einem Anstieg der
entzündlichen Aktivität verbunden [17].
Problematisch ist das Auftreten Lamivudinresistenter Mutationen besonders in Patienten mit HBeAg negativer chronischer Hepatitis B, da HBV-Stämme mit Kombinationen
aus den Precore- oder Basalen-Core-Promoter-Mutationen und Lamivudin-Resistenz
in vitro eine erhöhte Replikation verglichen
mit HBeAg-sezernierenden Lamivudinresistenten Viren zeigen [18].
[1]. Dies ist jedoch mit deutlich höheren
Kosten (monatliche Therapiekosten ca. 120
Euro für Lamivudin, ca. 630 Euro für Adefovir) verbunden. Zu beachten ist, dass unter
Adefovir (reversible) Nierenfunktionsstörungen auftreten können. Die Nierenfunktion ist daher unter der Therapie regelmäßig zu kontrollieren.
Ähnlich wie für Lamivudin ist noch
nicht abschließend geklärt, wie lange
Patienten mit Adefovir behandelt werden
sollten. In einer großen randomisierten
Studie an HBeAg negativen Patienten zeigte
sich, dass nach Absetzen von Adefovir regelhaft eine Virusreaktivierung erfolgt und die
Therapieerfolge (wie z. B. eine Transaminasennormalisierung) verloren gehen [22].
Dies zeigt, dass zumindest HBeAg negative
Patienten jahrelang (evtl. lebenslang) behandelt werden müssen und dementsprechend einer engmaschigen fachärztlichen
Kontrolle bedürfen [1; 23].
Entecavir
Adefovir
Adefovir ist seit 2003 zur Behandlung der
chronischen HBV-Infektion zugelassen.
Adefovir hemmt sehr effektiv die Virusreplikation bei Patienten mit chronischer HBeAg positiver und negativer Hepatitis B und
reduziert effektiv die entzündliche Aktivität
in der Leber [19; 20].
Ein Vorteil von Adefovir ist das im Vergleich zu Lamivudin deutlich geringere
Risiko der Selektion resistenter HBVMutanten. Das Risiko beträgt nach zwei
Jahren 5 %, nach vier Jahren 20 % [5; 21].
Von besonderem Interesse ist, dass Adefovir auch gegenüber den Lamivudin-resistenten YMDD-Mutanten gut wirksam ist und
daher das Mittel der Wahl beim Auftreten
Lamivudin-resistenter Mutanten darstellt
Entecavir ist in den USA und einigen europäischen Ländern bereits zur Therapie der
chronischen Hepatitis B zugelassen. Für
Deutschland ist die Zulassung für Mitte
2006 geplant. Die bisherigen klinischen Studien zeigen, dass Entecavir im Vergleich zu
Lamivudin effektiver die HBV-Replikation
hemmt und dass es unter der Therapie mit
Entecavir seltener zur Selektion von resistenten Stämmen kommt. Weiterhin weisen
erste Daten darauf hin, dass Lamivudinresistente Stämme gut auf eine Therapie mit
Entecavir ansprechen. Über die Dauer der
Therapie mit Entecavir gibt es naturgemäß
noch keine ausreichenden Erfahrungen.
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Thema V
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Tabelle 3: Zusammenfassung der aktuellen Empfehlungen zur Behandlung der chronischen Hepatitis B
Virologie
Lebererkrankung
Behandlungsoption(en)
HBeAg +/–
ALT normal
Keine Behandlung indiziert. Regelmäßige Kontrollen erforderlich!
HBeAg +
ALT erhöht
IFN/PEG-IFN ist 1. Wahl; bei Nichtansprechen oder Kontraindikationen:
LMV, ETV oder ADV (bei LMV-Resistenz: ADV)
HBeAg HBV DNA +
ALT erhöht
Möglich sind IFN / PEG-IFN über 1 Jahr, LMV, ETV oder ADV.
Langzeittherapie erforderlich. Kontrolle von HBV DNA
(bei LMV-Resistenz: ADV)
HBeAg +/–
Leberzirrhose
Child A: IFN möglich (engmaschige Kontrollen!), LMV, ETV oder ADV (sicher)
Child B, C: LMV, ETV oder ADV, Evaluation für Lebertransplantation!
(bei LMV-Resistenz: ADV)
Neue antivirale Substanzen und
Kombinationstherapien
Weitere Nukleos(t)idanaloga befinden sich
in verschiedenen Phasen der klinischen Prüfung, so dass für die Zukunft mit weiteren
Therapieoptionen zu rechnen ist (Tabelle 1).
Manche Substanzen wie z. B. Telbivudine,
Tenofovir oder Clevudine zeigten in ersten
Studien eine exzellente Wirksamkeit gegen
HBV [4, 24]. Allerdings bestehen bei einem
Teil der untersuchten Wirkstoffe Kreuzresistenzen untereinander und gegenüber Lamivudin- oder Adefovirresistenzen [5].
Weiterhin häufen sich in der aktuellen
Literatur die Hinweise, dass eine WirkstoffKombination zur Therapie der chronischen
Hepatitis B Infektion – analog der HIVInfektion – wahrscheinlich in Zukunft von
größerer Bedeutung sein wird [25]. Zum jetzigen Zeitpunkt ist aber noch unklar welche
Kombinationen sich langfristig durchsetzen
werden. Dies gilt sowohl für die Kombination von PEG-IFN mit Nukleos(t)idanaloga,
als auch für die Kombination verschiedener
Nukleos(t)idanaloga untereinander.
Prävention der Hepatitis B
In Anbetracht der verbesserten, aber weiterhin nicht optimalen Erfolge der antiviralen
Therapie, hat die Prävention der chronischen Hepatitis B Infektion einen weiterhin
hohen medizinischen Stellenwert.
Daher wird seit 1996 auch in Deutschland die Impfung gegen Hepatitis B als
Standardimpfung für alle Kinder und
Jugendliche empfohlen. Dieses Vorgehen
hat neben der Eindämmung der Neuinfektionen in Risikopopulationen auch die völlige Eliminierung des Hepatitis B Virus zum
Ziel. Die Empfehlung einer Impfung im
Säuglingsalter geht hierbei auf die gute
Erreichbarkeit im Rahmen der regulären
Vorsorgeuntersuchungen zurück und hat
keine spezifischen medizinischen Gründe.
Die Impfung erfolgt in diesem Alter meist
als 6-fach-Kombinationsimpfstoff zusammen mit den Impfungen gegen Tetanus,
Diphterie, Pertussis, Hämophilus-Influenza
Typ B und Poliomyelitis. Dieser Kombinationsimpfstoff muss insgesamt viermal
appliziert werden (mit 2, 3, 4 und 12 Monaten), während bei der monovalenten Hepatitis-B-Vakzine eine dreimalige Injektion in
der Regel für den Impferfolg ausreicht [26].
Der Schutz vor einer Infektion ist nach
der Impfung an das Vorhandensein von
anti-HBs, den gegen das im Impfstoff ent-
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Therapie und Prävention der Hepatitis B
haltene HBsAg gerichteten Antikörpern,
gebunden. Anti-HBs Werte in einer Größenordnung von größer 10 IU/l gelten allgemein als protektiv hinsichtlich einer Infektion mit HBV. Nachdem die Antikörperkonzentration kurz nach der Impfung ihr Maximum erreicht, fällt sie im Verlauf der
nächsten Jahre bei allen geimpften Personen
kontinuierlich ab. Bei 20-40 % der Geimpften fällt der Antikörperspiegel hierbei unter
die Grenze von 10 IU/l, was bei diesem Personen eine erneute Impfung zum Schutz
vor einer Infektion notwendig macht. Interessanterweise schützt die Impfung aber
auch nach Unterschreiten der kritischen
anti-HBs Konzentration vor einer manifesten Hepatitis B Erkrankung. Dies ist vermutlich auf das immunologische Gedächtnis
und die rasche Immunantwort nach der Inokulation des Virus zurückzuführen. Bei Personen mit hohem Infektionsrisiko (z. B. Personen aus dem medizinischen Berufsfeld)
sieht die STIKO dennoch aus Sicherheitsgründen eine Wiederimpfung nach 10 Jahren vor. Bei diesem Personenkreis ist auch
eine Kontrolle des Impferfolgs durch quantitative Bestimmung der anti-HBs Titer empfohlen, was ansonsten nicht routinemäßig
durchgeführt wird [27].
Menschen mit Immunsuppression durch
Pharmaka oder im Rahmen einer HIV-Infektion sprechen schlechter auf die Standardimpfung gegen Hepatitis B an. Aber auch ca.
5 % von formal nicht immunsupprimierten
Personen entwickeln nach einer dreimaligen
Impfung keine anti-HBs Titer von mehr als
10 IU/l. Als Ursachen hierfür werden genetische Faktoren, Übergewicht und ein starker
Nikotinkonsum gesehen. Auch das Alter der
Impflinge spielt vermutlich eine wichtige
Rolle. Bei diesen Personen sollten weitere
Impfungen im Abstand von etwa 3 Monaten
erfolgen, auf die bis zu 75 % der initialen
Nonresponder im Verlauf ansprechen. Menschen mit bekannten Immundefekten sollten hingegen primär mit erhöhter Dosis des
Antigens geimpft werden. Auch die zusätzliche Gabe der Standarddosis nach 2 Monaten,
zu den Injektionen zu den Zeitpunkten 0, 1
und 6 Monate, ist erfolgreich getestet worden. Allerdings sind noch weitere Untersuchungen notwendig, um optimale Impfstrategien für diesem „Problemkreis“ zu entwickeln [28].
Literatur
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alone, lamivudine alone, and the two in combination in patients with HBeAg-negative chro-
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Therapie der HIV-Infektion
Thema V
Therapie der HIV-Infektion
Dirk Schürmann
Einleitung
Die HIV-Infektion ist seit Mitte der 90iger
Jahre durch die Einführung der hochaktiven
antiretroviralen Therapie (HAART) zu einer
behandelbaren chronischen Infektion geworden [5, 7, 9]. Morbidität und Mortalität
HIV-Infizierter haben deutlich abgenommen und die Lebenserwartung ist deutlich
gestiegen. Unter günstigen Bedingungen
dürfte die Lebenserwartung HIV-Infizierter
inzwischen die von Menschen ohne HIVInfektion erreichen. Der Kinderwunsch
HIV-infizierter Frauen ist angesichts der
deutlich verbesserten Prognose und der Reduktion des Transmissionsrisikos auf < 1 %
durch Prophylaxemaßnahmen zur Normalität geworden.
Die bisher übliche Zurückhaltung gegenüber Behandlungsoptionen aufgrund
einer HIV-Infektion ist nicht mehr generell
gerechtfertigt. Erste Erfahrungen zeigen,
dass die Prognose HIV-Infizierter nach
Leber- und Nierentransplantationen nicht
schlechter ist als bei HIV-negativen Patienten [7]. Die Behandlung von Tumorerkrankungen (Chemotherapie, Radiatio) sollte
nach den gleichen Richtlinien wie bei HIVnegativen Patienten erfolgen, falls keine
ausgeprägte Immunschwäche vorliegt. Eine
weit fortgeschrittene Immunschwäche allein rechtfertigt keine Einschränkung intensivmedizinischer Maßnahmen, da mit einer
HAART potentiell eine Immunrekonstitution möglich ist.
Dominierende Todesursachen HIV-Infizierter in der HAART-Ära sind nicht mehr
die klassischen AIDS-definierenden Erkrankungen. Durch die deutliche Verlängerung
der Lebenserwartung erleben HIV-Infizierte
nunmehr Endstadien HIV-unabhängiger
chronischer Erkrankungen (z.B. chronische
Hepatitis B- oder C-Infektion). Zunehmend
häufiger treten Erkrankungen mit steigendem Risiko bei höherem Lebensalters auf,
z.B. AIDS-unabhängige Tumorerkrankungen (u. a. Bronchialkarzinome) oder Herzkreislauferkrankungen.
In Deutschland werden klassische AIDSdefinierende Erkrankungen nur noch bei
folgenden Risikosituationen gesehen:
1. Unbekannte HIV-Infektion, so dass die
AIDS-definierende Erkrankung der erste
Hinweis auf eine HIV-Infektion ist,
2. HAART-Versagen durch Resistenzen
gegen antiretrovirale Medikamente oder
Mangel an Compliance,
3. Herkunft aus HIV-Endemiegebieten mit
bisher unbekannter oder nicht behandelter HIV-Infektion.
Der Fortschritt in der HIV-Medizin hat ein
enormes Tempo. Da Therapierichtlinien
ständigen Aktualisierungen unterworfen
sind und häufig komplexe Behandlungssituationen vorliegen, bleibt die Behandlung
der HIV-Infektion letztlich Spezialisten vorbehalten. Aktuelle Daten zur Behandlung
und Epidemiologie sind auf etablierten
Internetadressen abrufbar (Tabelle 1).
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Tabelle 1: Wichtige Internetadressen
• Aegis:
http://www.aegis.ch/neu/index.htm
Tabelle 2: Epidemiologie der HIV-Infektion in
Deutschland (Stand: Ende 2005),
Quelle: Epidemiologisches Bulletin Nr. 47,
Robert Koch-Institut, Berlin
• AIDSinfo:
http://www.aidsinfo.nih.gov/
HIV-Infizierte (lebend)
• Bulletin of Experimental Treatments for AIDS:
http://www.sfaf.org/beta/
• Männer
~ 39.000
• HIV InSite:
http://hivinsite.ucsf.edu/
• Frauen
~ 9.500
• Kinder
~ 300
• International Association of Physicians in AIDS
Care:
http://www.iapac.org/
• Johns Hopkins AIDS Service:
http://www.hopkins-aids.edu/
• The Body:
http://www.thebody.com/
• AIDS.ORG:
http://www.aids.org/index.html
• HIV Clinical Resource, New York State
Department of Health AIDS Institute:
http://www.hivguidelines.org
• HIV.net:
http://www.hiv.net
(deutschsprachige Internetadresse)
• Clinical Care Options:
http://clinicaloptions.com
Epidemiologie
Weltweit ist die Anzahl lebender HIV-Infizierter auf inzwischen 45 Millionen Menschen angestiegen, wobei anders als in
Deutschland Männer wie Frauen bei überwiegend heterosexueller Übertragung gleichermaßen betroffen sind. In Deutschland
ist die Anzahl lebender HIV-infizierter Menschen leicht auf 49 000 angestiegen (Tabelle
2). Im internationalen Vergleich ist die Zahl
der Infizierten aber weiterhin sehr klein.
Ein Grund für den leichten Anstieg in
Deutschland ist der Zuwachs an lebenden
HIV-infizierten Menschen durch die
~ 49.000
Geschlecht
AIDS-Diagnose
~ 8.000
Infektionsrisiko
• homosexuelle Kontakte
~ 31.000
• heterosexuelle Kontakte
~ 5.500
• Herkunft aus Hochprävalenzregionen
~ 5.500
• i.v. Drogengebraucher
~ 6.000
• Hämphilie und Bluttransfusion
~ 600
• Mutter-Kind-Transmissionen
~ 300
Epidemiologische Daten für 2005
Neuinfektionen
~ 2.600
• Männer
~ 2.250
• Frauen
~ 350
• Kinder
~ 20
Infektionswege
• homosexuelle Kontakte
~ 1820 (ca. 70 %)
• heterosexuelle Kontakte
~ 520 (ca. 20 %)
• i.v. Drogengebrauch
~ 234 (ca. 9 %)
• Mutter-Kind-Transmission
~ 20 (ca. 1 %)
Neue AIDS-Erkrankungen
~ 850
Todesfälle
~ 750
Gesamtzahlen seit Beginn der Epidemie
HIV Infizierte
~ 75.000
AIDS-Erkrankungen
~ 31.500
• Männer
~ 2.7000
• Frauen
~ 4.300
• Kinder
~ 200
Todesfälle
~ 26.000
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Therapie der HIV-Infektion
HAART-bedingte Verlängerung der Lebenszeit. Möglichweise spielt in Zukunft auch
eine höhere Neuinfektionsrate eine Rolle.
Während die Zahl der Neuinfektionen in
den letzten Jahren mit ca. 2000 pro Jahr stabil war, ist es im Jahr 2005 erstmals zu
einem Anstieg auf 2600 Neuinfektionen pro
Jahr (30 % höhere Rate) gekommen.
Neuinfektionen in Deutschland betreffen weiterhin überwiegend die bekannten
Risikogruppen. Bei 70 % aller Neuinfektionen handelt es sich um homo- und bisexuelle Männer. Bei der heterosexuellen
Ansteckung findet sich häufig ein Partner
mit Risikogruppenzugehörigkeit. Etwa 20 %
der Neuinfektionen werden bei Migranten
mit Herkunft aus HIV-Hochprävalenzländern diagnostiziert.
Diagnose der HIV-Infektion
Noch immer wird die HIV-Infektion in vielen Fällen zu spät diagnostiziert. Bei frühzeitiger Diagnose kann durch die HAART
eine fortgeschrittene Immunschwäche mit
dem Auftreten von lebensbedrohlichen Immunschwäche-assoziierten Erkrankungen
verhindert werden. Weiterhin kann bei
Kenntnis der HIV-Infektion die Übertragung durch verantwortungsvolle sexuelle
Aktivität vermieden werden (safer sex).
Die akute Infektion unmittelbar nach
Ansteckung führt in 30 bis 70 % aller Fälle
zur selbstlimitierenden unspezifischen akuten HIV-Krankheit, die häufig unerkannt
bleibt. Meistens entwickelt sich ein grippeartiges Mononukleose-ähnliches Syndrom
(häufig Pharyngitis, Lymphknotenschwellung, Fieber, Hautausschlag) [5, 7, 9]. Der
konventionelle HIV-Antikörper-Test fällt initial wegen des „diagnostischen Fensters“
(Zeitspanne bis zur Antikörperbildung)
negativ aus und muss bei Verdacht nach 6
Wochen – auch nach Rückbildung aller Be-
Thema V
schwerden – wiederholt werden. Die PCR
(Polymerasekettenreaktion) zum Genomnachweis erlaubt den Infektionsnachweis
bereits nach wenigen Tagen, ist aber in der
Regel nicht erforderlich, da eine akute HIVInfektion zur Zeit (Mitte 2006) keine gesicherte Therapieindikation darstellt.
Grundsätzlich muss bei allen Erkrankungen, insbesondere bei Infektionskrankheiten, die in Zusammenhang mit einer
eingeschränkten Immunität stehen könnten (ungewöhnliche Manifestationen, verzögerter Heilungsprozess, Rezidivneigung)
die Möglichkeit einer chronischen HIVInfektion bedacht werden. Meistens bestehen im Verlauf unspezifische Symptome
und Befunde wie Abgeschlagenheit und
Gewichtsverlust oder suspekte Krankheitsmanifestationen, z.B. atypischer Herpes
zoster (plurisegmentale Manifestationen),
Mundpilz oder Thrombopenie. Die klassischen HIV-assoziierten ImmunschwächeErkrankungen sind in der weltweit verwendeten Klassifikation der Centers for Disease
Control zusammengefasst [1, 5, 7, 9].
Ein HIV-Test sollte auch Angehörigen
von Risikopopulationen angeboten werden.
Hierzu zählen insbesondere Drogenabhängigkeit, Homo- und Bisexualität, Herkunft
aus HIV-Hochprävalenzgebieten (z.B. Länder Afrikas südlich der Sahara) und sexuelle
Kontakte mit Angehörigen von Risikopopulationen.
Immer wieder werden Patienten mit der
Diagnose einer HIV-Infektion aufgrund
eines falsch-positiven HIV-Antikörper-Testes
konfrontiert. Ein positiver Antikörper-Test
muss durch einen positiven Bestätigungstest (z.B. Western Blot) bestätigt werden,
bevor die Diagnose mitgeteilt werden darf.
Die Übermittlung der HIV-Diagnose
sollte im persönlichen Gespräch und unter
Hinweis auf die relativ guten Behandlungsmöglichkeiten und die deutlich verbesserte
Prognose erfolgen. Ohne aufklärendes Gespräch wird die HIV-Diagnose immer noch
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Thema V
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mit der Vorstellung von drohendem Siechtum und Tod und den AIDS-Krankheitsbildern der Vor-HAART-Ära verbunden. Sinnvoll ist auch die Kontaktherstellung zu
Selbsthilfegruppen.
Pneumokokken, Influenza). Wegen des erhöhten Risikos HPV-assoziierter Tumore
(Analkarzinome, Zervixkarzinome) sollten regelmäßige Kontrolluntersuchungen erfolgen.
Antiretrovirale Therapie (HAART)
Management der HIV-Infektion
Das Management der HIV-Infektion umfasst neben der antiretroviralen Therapie
(HAART) und ihren Komplikationen (Nebenwirkungen, Langzeittoxizität) auch die
Diagnose und Behandlung weiterer Erkrankungen [5, 7, 9]. Dies sind
1. häufige Ko-Infektionen (chronische
Hepatitis B und C, Geschlechtskrankheiten wie Lues, Gonorrhoe und Chlamydien-Infektion),
2. Erkrankungen, die als Folge der verlängerten Lebenszeit auftreten (u.a. Endstadien der chronischen Hepatitis B und C,
HIV-unabhängige Erkrankungen (z.B.
Bronchialkarzinome) und
3. Immunschwäche-Erkrankungen [1], falls
es bereits zur fortgeschrittenen chronischen HIV-Infektion gekommen ist.
Bei fortgeschrittener Immunschwäche
muss weiterhin eine Prophylaxe opportunistischer Infektionen erfolgen (Primär- und
Rezidiv-Prophylaxe). Mehr als 95 % aller
AIDS-definierenden Erkrankungen treten
bei < 200 CD4-Helferzellen/µl auf. Etabliert
sind die Prophylaxe der Pneumocystis jiroveci-Pneumonie bei < 200 CD4-Zellen/µl
und die Prophylaxe der zerebralen Toxoplasmose bei < 100 CD4-Zellen/µl und gleichzeitigem Nachweis von Serum-IgG-Antikörpern gegen Toxoplasmen. Nach einer stabilen HAART-assoziierten Immunrekonstitution auf > 200 CD4-Zellen/µl kann die
Prophylaxe beendet werden.
Eine wichtige Säule des Managements ist
der Impfschutz (u. a. Hepatitis A und B,
Die folgenden Ausführungen zur HAART
beziehen sich auf HIV-infizierte Erwachsene
[5, 6, 7]. Bei Schwangerschaft müssen zusätzliche Faktoren berücksichtigt werden [4,
7]. Bei Kindern gibt es aufgrund von physiologischen Unterschieden (u.a. altersabhängige Labornormwerte und unterschiedlicher
Metabolismus) eigene Empfehlungen [7].
Therapieziele
Primäres Ziel der HAART ist die vollständige und dauerhafte Suppression der Viruslast (nachweisbare Virusmenge im Blut) unter die Nachweisgrenze (zur Zeit 50 RNAKopien/ml), so dass Resistenzentwicklung
dauerhaft vermieden wird [2, 5, 6, 7]. Es hat
sich inzwischen gezeigt, dass eine komplette Suppression der Viruslast und damit eine
Verhinderung von Resistenzbildung für
eine noch nicht absehbare Dauer von Jahren erreicht werden kann (Voraussetzung:
Auswahl einer geeigneten Therapiekombination, Compliance).
Durch die Virussuppression erfolgt in
der Regel ein Anstieg der CD4-Zahl, auch bei
bereits bestehender schwerer Immunschwäche. Bei einer CD4-Zellzahl von > 200/µl
werden die meisten AIDS-definierenden Erkrankungen verhindert, und es kommt zu
einer deutlichen Verbesserung des Wohlbefindens und der Leistungsfähigkeit [5, 6, 7].
Beginn der antiretroviralen Therapie
Die HAART wird in der Regel immer bei
Patienten mit einer symptomatischen chro-
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Therapie der HIV-Infektion
Tabelle 3: Indikationen für eine antiretrovirale Therapie (HAART) bei chronischer HIV-Infektion
Klinik
CD4-Zellzahl pro µl
Plasma HIV RNA
Empfehlung
alle CD4-Werte
alle Werte
Behandlung
Asymptomatisch
< 200
alle Werte
Behandlung
Asymptomatisch
> 200, aber < 350
alle Werte
Behandlung anbieten
(Diskussion der „pros and cons“)
Asymptomatisch
> 350
> 100 000
in der Regel abwarten
Asymptomatisch
> 350
< 100 000
abwarten
Symptomatisch (AIDS oder
AIDS-assoziierte Symptome)
Quelle: Empfohlene Therapiekombinationen bei therapienaiven HIV-infizierten (Department of Health and Human
Services; DHHS, Oktober 2005; http://www.aidsinfo.nih.gov)
nischen HIV-Infektion begonnen (Tabelle
3). Bei asymptomatischen Patienten wird
die HAART immer bei einer CD4-Zahl
< 200/µl begonnen (kritische Risikoschwelle für das Auftreten der meisten schweren
Erkrankungen). Bei Werten zwischen 200
und 350/µl wird die Therapie angeboten,
wobei den Patienten aber noch Zeit bleibt,
sich mit der HAART und dem Therapiebeginn auseinanzusetzen (größere Therapieeinsicht → größere Compliance und Akzeptanz von Nebenwirkungen → Reduktion
von Resistenzentwicklung durch suboptimale Therapie). Bei CD4-Zellen > 350/µl
wird in der Regel nicht behandelt (mögliche
Ausnahme: hohe Viruslast im Blut),
Es hat sich gezeigt, dass ein HAARTBeginn bei einer CD4-Zahl > 350/µl gegenüber einem Beginn zwischen 200-350/µl
keinen Vorteil hinsichtlich der Abwendung
von Morbidität und Mortalität hat. Andererseits können bei späterem Therapiebeginn
unter Umständen jahrelang Nebenwirkungen und Toxizität sowie auch Kosten vermieden werden.
Die akute HIV-Infektion stellt zur Zeit
keine gesicherte Therapie-Indikation dar, da
der Vorteil einer initialen, zeitlich begrenzten Behandlung hinsichtlich der Verlangsamung der Immunschwächeprogression
nicht erwiesen ist [6, 7]. Die Frage des Vorteils der Behandlung einer akuten HIVInfektion hat sich durch die Möglichkeit der
Immunrekonstitution auch bei fortgeschrittener Immunschwäche relativiert.
Medikamente und Therapieregime
Mit den zur Zeit wichtigsten Substanzen,
die drei Substanzklassen angehören, werden zwei Virusreplikationschritte gehemmt
[5, 6, 7]. Die virale Reverse-Transkriptase
kann durch nukleosidale und nicht-nukleosidale Reverse-Transkriptase-Hemmer (NRTI
und NNRTI) gehemmt werden. ProteaseHemmer (PI) hemmen die virale Protease
(Tabelle 4). Mit dem Vertreter der vierten
Substanzklasse, der zur Zeit nur bei vorbehandelten Patienten mit resistenten Viren
eingesetzt wird (Salvage-Therapie), kann
der Eintritt des Virus in die Zelle gehemmt
werden (Tabelle 4).
Die klassischen Dreifach-Kombinationsregime bei therapienaiven HIV-Infizierten
bestehen aus einem „backbone“ mit zwei
nukleosidalen Reverse-Transkriptase-Hemmern (NRTI) plus entweder einem nichtnukleosidalen Reverse-Transkriptase-Hemmer (NNRTI) oder einem geboosteten Protease-Hemmer (Tabelle 5). Kombinationen
aus drei NRTI sind den beiden anderen
Dreifach-Kombinationen unterlegen [6, 7].
Protease-Hemmer werden fast nur noch
„geboostet“ eingesetzt (therapeutischer PI
in Kombination mit einem zweiten, pharmakologisch wirksamen PI in „baby-dose“
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Tabelle 4: Zugelassene antiretrovirale Medikamente in Deutschland (Stand Dezember 2005)
Handelsname
Abkürzung
Substanzname
NRTI = Nukleosidische/nukleotidische Reverse-Transkriptase-Inhibitoren
Combivir®
CBV
AZT + 3TC
Emtriva®
FTC
Emtricitabin
Epivir®
3TC
3TC, Lamivudin
HIVID®
DDC
DDC, Zalzitabin
Kivexa®
3TC + ABC
Retrovir®
AZT
AZT, Zidovudin
Trizivir®
TZV
AZT + 3TC + ABC
Truvada®
FTC + TDF
Videx®
DDI
DDI, Didanosin
Viread®
TDF
Tenofovir
Zerit®
D4T
D4T, Stavudin
Ziagen®
ABC
Abacavir
NNRTI = Nicht-nukleosidische Reverse-Transkriptase-Inhibitoren
Rescriptor®
DLV
Delavirdin
Sustiva®
EFV
Efavirenz
Viramune®
NVP
Nevirapin
Aptivus®
TPV
Tipranavir
Agenerase®
APV
Amprenavir
Crixivan®
IDV
Indinavir
Fortovase®
SQV-FTV
Saquinavir-Softgel
Invirase®
SQV-INV
Saquinavir-Hardgel
Kaletra®
LPV/r
Lopinavir (Ritonavir-geboostet)
Telzir®
FPV
Fosamprenavir
Norvir®
RTV
Ritonavir
Reyataz®
ATV
Atazanvir
Viracept®
NFV
Nelfinavir
T-20
Enfuvirtid
PI = Protease-Inhibitoren
Fusionsinhibitoren
Fuzeon®
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zur Erhöhung des Wirkspiegels). Für einige
PI (Lopinavir, Fosamprenavir) wurde inzwischen nachgewiesen, dass der geboostete
Einsatz das Risiko der Resistenzentwicklung minimiert (hohe pharmakologische
und genetische Resistenzbarriere), sofern
nicht bereits vorbestehende Resistenzmutationen eine Akkumulation weiterer Resistenzmutationen ermöglichen. Das Resistenzrisiko der NRTI und der NNRTI ist
deutlich höher (bei einigen Substanzen
Resistenz durch nur eine Mutation).
Ein erhebliches Problem der PI und
NNRTI sind ihre Arzneimittelinteraktionen.
PI und NRTI werden durch das hepatische
P450-Enzymsystem metabolisiert und agieren als Inhibitoren oder Induktoren. Bei KoMorbidität kann es zu Interaktionen mit
einer Vielzahl von Medikamenten kommen
(Notwendigkeit
eines
therapeutischen
Drug-Monitoring).
Seit wenigen Jahren gibt es hinsichtlich
von Medikamentenkombinationen der
ersten Wahl und der Präferenz einzelner
Substanzen Therapieempfehlungen [6, 7].
Diese beruhen auf Auswertungen verfügbarer Daten aus Therapiestudien und dem
Risiko von Nebenwirkungen. Kombinationen der ersten Wahl sind 2 NRTI plus entweder dem NNRTI Efavirenz oder dem mit
Ritonavir geboosteten PI Lopinavir (Tabelle
5). Daten zu einer guten Wirksamkeit auch
bei weit fortgeschrittener Immunschwäche
(sehr niedrige CD4-Zahl, hohe Viruslast)
sind bisher jedoch nur für PI-haltige Regime verfügbar. Bei der Wahl der Regime
spielen auch Faktoren wie Anzahl der Pillen
und Häufigkeit der Medikamenteneinnahme (Einnahme einmal oder zweimal täglich) eine Rolle [6, 7].
NRTI-sparende Regime (z. B. NNRTI
plus geboosteter PI, geboostete Doppel-PI-
Tabelle 5: Empfohlene Therapiekombinationen bei therapienaiven HIV-Infizierten (Department of
Health and Human Services; DHHS, Oktober 2005; http://www.aidsinfo.nih.gov)
Erste Wahl
NNRTI + 2 NRTI
Efavirenz + (3TC oder FTC) + (AZT oder TDF)
PI + 2 NRTI
Lopinavir (Ritonavir-geboostet) + (3TC oder FTC) + (AZT oder TDF)
Alternativen
NNRTI + 2 NRTI
Efavirenz + (3TC oder FTC) + (ABC oder ddI oder d4T)
Nevirapine + (3TC oder FTC) + (AZT oder d4T oder ddI oder ABC oder TDF)
PI + 2 NRTI
Atazanvir + (3TC oder FTC) + (AZT oder d4T oder ABC oder ddI) + (TDF + ritonavir
100mg/d)
Fosamprenavir + (3TC oder FTC) + (AZT oder d4T oder ABC oder TDF oder ddI)
Fosamprenavir (Ritonavir-geboostet) + (3TC oder FTC) + (AZT oder d4T oder ABC
oder TDF oder ddI)
Indinavir (Ritonavir-geboostet) + (3TC oder FTC) + (AZT oder d4T oder ABC oder TDF
oder ddI)
Lopinavir (Ritonavir-geboostet) + (3TC oder FTC) + (d4T oder ABC oder TDF oder ddI)
Nelfinavir + (3TC oder FTC) + (AZT oder d4T oder ABC oder TDF oder ddI)
Saquinavir (Ritonavir-geboostet) + (3TC oder FTC) + (AZT oder d4T oder ABC oder
TDF oder ddI)
3 NRTI
ABC + 3TC + AZT
Abkürzungen: siehe Tabelle 4
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Kombination, geboosteter PI-Mono) könnten sich in Zukunft wegen der Vermeidung
von Nebenwirkungen (NRTI-assoziierte
mitochondriale Toxizität) als attraktive Alternativen erweisen. Voraussetzung ist aber
der Nachweis, dass kein erhöhtes Risiko
eines Therapieversagens und einer Resistenzbildung vorliegt.
Immunrekonstitutionssyndrom/
Nebenwirkungen/Toxizität
Durch die HAART kann es nicht nur zu der
erwünschten Immunrekonstitution kommen, sondern initial auch zu einem Immunrekonstitutionssyndrom (hyperinflammatorisches Syndrom durch Wiedergewinnung immunologischer Kompetenz) [5, 7,
9]. Nach Ausschluss aktiver Erkrankungen
kann eine anti-inflammatorische Therapie
mit Steroiden und nicht-steroidalen Antiphlogistika notwendig werden.
Neben kurzfristigen und häufig limitierten Nebenwirkungen (u. a. Übelkeit/Erbrechen und Durchfall) besteht ein hohes Risiko
für Langzeit-Toxizität, die Klasse-spezifisch ist
und vor allem die NRTI und PI betrifft [6, 7].
Bei den NRTI kann es zur mitochondrialen
Toxizität (Störung des aeroben Energiestoffwechsels) mit einem breiten Spektrum von
betroffenen Organsystemen kommen (u.a.
Pankreatitis, Hepatitis, Laktatazidose, Myelosuppression, periphere Polyneuropathie).
Durch die PI kann es zum Lipodystrophie-Syndrom kommen. Dieses ist gekennzeichnet durch ein metabolisches Syndrom
mit Insulin-Resistenz und Hyperlipidämie
sowie Fettverteilungsstörungen (u.a. Akkumulation von viszeralem Fett und dorsozervikalem Fett). Der subkutane Fettverlust im
Gesicht und an den Extremitäten (Lipoatrophie), der zunächst ebenfalls als PI-Nebenwirkung angesehen wurde, ist im Wesentlichen NRTI-assoziiert.
Die Langzeitfolgen des PI-assoziierten
metabolischen Syndroms lassen sich zur
Zeit noch nicht entgültig abschätzen (erhöhtes Risiko von kardiovaskulären Komplikationen? Herzinfarkte?). Grundsätzlich
scheint das HAART-assoziierte metabolische Syndrom aber nicht annähernd das
Risiko eines genetisch-familiär bedingten
metabolischen Syndroms zu haben. Bei der
Entscheidung der Behandlung einer Lipidämie bei HAART spielt die Frage, ob zusätzlich ein genetisch-familiäres Risiko vorhanden ist, eine entscheidende Rolle. Das kardiovaskuläre Risiko von HIV-Patienten kann
insgesamt eher durch Diät und vor allem
Nikotinabstinenz gesenkt werden als durch
eine medikamentöse Behandlung des
HAART-assoziierten metabolischen Syndroms.
Die Therapie des Lipodystrophie/Lipoatrohie-Syndroms ist unbefriedigend [7]. Teilweise können Fettverteilungsstörungen
durch Veränderungen des HAART-Regimes
rückgängig gemacht werden. Durch die Einführung neuer Medikamente in den einzelnen Substanzklassen konnte das Risiko der
Nebenwirkungen und Langzeit-Toxizität
insgesamt gesenkt werden.
Dauer der Therapie/Therapiepausen
Eine ununterbrochene lebenslange antiretrovirale Behandlung schien bisher erforderlich, um eine Resistenzentwicklung
möglichst lange verhindern zu können. Bei
Therapie mit neueren Kombinationsregimen sind Therapiepausen nach bisher verfügbaren Erfahrungen jedoch bei nur geringem Risiko einer Resistenzentwicklung
möglich [6, 7]. In der Regel kommt es nach
einer Therapiepause wieder zur Virussupression unter die Nachweisgrenze und
zum konsekutiven Wiederanstieg der Helferzellzahl.
Nach dem Konzept von CD4-Zellzahl-gesteuerten Therapiepausen wird die HAART
bei hoher CD4-Zahl unterbrochen und bei
Abfall der CD4-Zell in den Risikobereich
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Therapie der HIV-Infektion
erhöhter Morbidität wiederaufgenommen.
Die Dauer von CD4-Zellzahl-gesteuerten
Therapiepausen wird somit durch die Geschwindigkeit des CD4-Zellzahl-Abfalls als
Folge des Wiederbeginns der HI-Virusreplikation (nachweisbare Viruslast im Blut) bestimmt. Ziel von CD4-Zellzahl-gesteuerten
Therapiepausen ist die Einsparung von Nebenwirkungen/Toxizität und Kosten, ohne
dass das Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko
ansteigt.
Inzwischen hat sich allerdings gezeigt,
dass ein CD4-Zellzahlabfall auf < 250/µl in
einer HAART-Pause im Vergleich zu einer
ununterbrochenen Therapiefortführung zu
einem signifikant erhöhten Morbiditätsrisiko führt (SMART-Studie). Ob dieses erhöhte
Morbiditätsrisiko umgangen werden kann,
wenn Pausen nur bei sehr hohen CD4-Zellzahlen begonnen werden, z.B. bei > 550/µl,
und der Wiederbeginn bereits bei geringerem CD4-Zellzahlabfall als < 250/µl erfolgt,
z. B. bereits bei < 350/µl, ist zur Zeit unklar.
Therapiepausen dürfen in jedem Falle
nur mit Resistenz-robusten Medikamentenkombinationen durchgeführt werden (besonders geeignet: geboostete Protease-Inhibitoren). Kombination mit resistenzanfälligen Medikamenten mit unterschiedlicher
Halbwertszeit (bei Absetzen funktionelle
Monotherapie) prädisponieren zur Resistenzbildung.
Therapieerfahrene Patienten mit
resistenten HI-Viren
Bei Viren mit Resistenzen sind die Therapieoptionen limitiert [5, 6, 7]. Die Anzahl
noch vorhandener Optionen ist abhängig
von der Präsenz von Resistenzen in den
drei Basis-Medikamentenklassen. NRTI
und NNRTI sind erheblich resistenzanfälliger als Protease-Inhibitoren (PI). Solange
noch keine Resistenzen gegen geboostete PI
vorliegen, kann das primäre Therapieziel
(Suppression der Viruslast im Blut unter die
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Nachweisgrenze) meistens noch erreicht
werden.
Bei „Drei-Klassen-Versagen“ ist das primäre Therapieziel der HAART der Erhalt
einer möglichst hohen CD4-Zahl. Eine vollständige Suppression der Viruslast unter
die Nachweisgrenze ist meistens nicht
mehr möglich. Trotz nachweisbarer Viruslast (Virusreplikation) kann der CD4-Zellzahl-Abfall häufig deutlich verzögert oder
die CD4-Zellzahl sogar lange stabil gehalten
werden, da
1. meistens noch eine partielle Wirksamkeit bleibt,
2. Resistenzmutationen häufig die VirusReplikationsfähigkeit vermindern und
3. Resistenzmutationen durch Interaktionen zu einer Re-Sensibilisierung gegen
einzelne Medikamte führen können.
Durch eine neue PI-Generation mit deutlich
weniger Kreuzresistenzen (nicht-peptidische PI, erster Vertreter: Tipranvir) und Einführung einer neuen Medikamenten-Klasse
(Entry-Inhibitoren = Verhinderung des HIVEintritts in die Zelle, erster Vertreter: Enfuvirtid) haben sich die Behandlungsoptionen
massiv vorbehandelter Patienten verbessert.
Therapiepausen bei therapieerfahrenen
Patienten (Intention: bessere Behandelbarkeit durch Wiederkehr des replikationsfreudigen empfindlichen Wild-Typ-Virus) müssen, auch wenn ein „Drei-Klassen-Versagen“ mit breitem Resistenzmutationsspektrum besteht, vermieden werden. Der durch
eine Pause bedingte CD4-Zahl-Verlust kann
durch den Anstieg bei HAART-Wiederaufnahme nicht kompensiert werden (höhere
Morbidität und Mortalität als bei ununterbrochener Fortführung der HAART).
Ein Therapieregime sollte nur umgestellt werden, wenn mindestens zwei neue
wirksame Substanzen verfügbar sind, da es
bei Zugabe nur einer Substanz schneller
zur Resistenzbildung kommt. Diese zwei
neuen Substanzen sollten in einer Kombi-
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nationstherapie zusammen mit einem optimierten Basisregime nach Maßgabe eines
Resistenstestes gegeben werden, um jede
nur mögliche antiretrovirale Aktivität auszuschöpfen [6, 7].
Vakzination gegen HIV und
immunmodulatorische Therapie
Eine wirksame therapeutische oder präventive Impfung gegen HIV ist in den nächsten
Jahren nicht zu erwarten. Das Ziel immunmodulatorischer Ansätze ist die Verbesserung der Immunität zusätzlich zu der durch
die HAART erreichte Immunrekonstitution. Etablierte und hinsichtlich ihrer Wirksamkeit gesicherte Behandlungssätze sind
noch nicht verfügbar.
HIV-Prophylaxe
Prophylaxe der Mutter-Kind-Transmission
Bei jeder Schwangeren sollte ein HIV-Test
erfolgen, da sich bei Kenntnis einer HIV-Infektion durch Prophylaxe-Maßnahmen das
natürliche Mutter-Kind-Transmissionsrisiko
während Schwangerschaft und Geburt von
ca. 25 % auf < 1 % reduzieren lässt [4, 7].
Die Mutter-Kind-Transmission erfolgt zu
80-90 % erst in den letzten Schwangerschaftswochen oder während der Geburt.
Falls während der Schwangerschaft keine HAART erfolgt ist, sollte bei unkompliziertem Verlauf eine Transmissionsprophylaxe mit Gabe von antiretroviralen Substanzen, einschließlich Zidovudin, ab SSW 32
bis zur Entwicklung des Kindes (elektive
Sectio vor Wehenbeginn ab SSW 37) durchgeführt werden. Das Neugeborene erhält
post partum eine Prophylaxe für ca. 2-4 Wochen. Bei der Wahl der antiretroviralen Substanzen müssen mögliche Resistenzen berücksichtigt werden (Resistenztest des müt-
terlichen Virus). Da auch die Brusternährung ein Transmissionsrisiko hat, dürfen
HIV-infizierte Mütter nicht stillen.
Postexpositionsprophylaxe
Der Begriff Postexpositionsprophylaxe (PEP)
bezieht sich zunächst auf den Schutz medizinischen Personals nach Exposition gegenüber HIV-kontaminiertem Material [3, 7].
Nach Stichverletzungen mit Kanülen, die
mit HIV-haltigem Blut kontaminiert sind,
beträgt das Infektionsrisiko ca. 0,3 %. Diese
Risikokalkulation stammt aus der VorHAART-Ära. Bei HIV-Patienten unter einer
HAART mit Suppression der HI-Virusmenge im Blut unter die Nachweisgrenze
ist das Transmissionsrisiko wahrscheinlich
kleiner.
In der Vor-HAART-Ära konnte eine PEP
mit nur einer antiretroviralen Substanz (Zidovudin) das Infektionsrisiko um ca. 80 %
senken. Nach aktuellem Stand wird die PEP
mit eine Kombination antiretroviraler Medikamente über eine Dauer von 4 Wochen
durchgeführt (Beginn innerhalb der ersten
24 Stunden, am besten aber innerhalb der
ersten 8 Stunden). Bei der Wahl der PEPMedikamente müssen vorhandene Resistenzen des möglicherweise übertragenen
Virus berücksichtigt werden (HAARTAnamnese).
Eine PEP wird generell bei Stichverletzungen empfohlen. Auch bei Schleimhautkontaminationen wird die PEP in der Regel
empfohlen beziehungsweise angeboten. Bei
Kontamination intakter Haut wird keine
PEP empfohlen [3, 7].
Zunehmend häufiger scheint es zu Anfragen bezüglich einer PEP nach ungeschütztem oder wegen eines „geplatzten
Kondoms“ unzureichend geschütztem Geschlechtsverkehr mit Sexualpartnern mit
bekanntem oder unbekanntem HIV-Serostatus zu kommen.
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Therapie der HIV-Infektion
Prävention der HIV-Infektion
Die Zahl der HIV-Neuinfektionen pro Jahr
ist in Deutschland auf 2600 Fälle im Jahr
2005 angestiegen (30 % höhere Neuinfektionsrate als in den Vorjahren). Dieser Anstieg ist die Folge einer nachlassenden Aufklärung und einer nachlassenden Präventionsbereitschaft (safer sex). Das Risiko und
die Konsequenzen einer HIV-Infektion werden angesichts der Behandlungserfolge in
den letzten Jahren unterschätzt:
1. Trotz der deutlich verbesserten Prognose ist unklar, ob durch die HAART eine
zeitlich unbegrenzte Kontrolle der
Virusreplikation erfolgen kann.
2. Die HAART hat erhebliche Nebenwirkungen und eine erhebliche Toxizität
mit teilweise noch nicht abzusehenden
Langzeitfolgen.
3. Es besteht das Risiko der Ansteckung
mit HI-Viren, die durch suboptimale Behandlung der HIV-Infektion beim Sexualpartner bereits Resistenzen gegen antiretrovirale Medikamente erworben haben. Damit ist die Behandelbarkeit der
Infektion bereits primär eingeschränkt.
In Deutschland finden sich bei ca. 10 %
aller Neuinfektionen HI-Viren mit Resistenzen gegen Substanzen aus mindestens einer der drei überwiegend verwendeten Substanzklassen [7].
Die Transmission der HIV-Infektion lässt
sich durch Präventionsmaßnahmen weitgehend vermeiden (safer sex, Kondomgebrauch). Das Risiko der Ansteckung durch
einen infizierten Partner liegt bei ungeschütztem rezeptiven und insertiven analen
Geschlechtsverkehr bei 0,5 und 0,07 %, bei
ungeschütztem rezeptiven und insertiven
vaginalen Geschlechtsverkehr bei 0,1 und
0,05 % [8]. Trotz des deutlich geringeren
Risikos kann es auch beim Oralverkehr zur
Ansteckung kommen. Das Risiko der Übertragung steigt mit der HI-Virusmenge im
Blut. Die Suppression der Viruslast unter
die Nachweisgrenze schließt eine Übertragung jedoch nicht aus.
Bei intravenöser Drogenabhängigkeit
lässt sich durch Vermeidung des Gebrauches von bereits benutzen Nadeln und
Spritzen (kein „needle sharing“) eine Infektionsübertragung vollständig ausschließen
(Risiko des „needle sharing“ bei HIV-Infektion 0,7 %) [8].
Zusammenfassung
Die HIV-Infektion ist seit Mitte der 90iger
Jahre durch die Einführung der hochaktiven
antiretroviralen Therapie (HAART) zu einer
behandelbaren chronischen Infektionskrankheit geworden. Die Morbidität und
Mortalität sind drastisch gesunken. Unter
günstigen Voraussetzungen dürfte die Lebenserwartung HIV-Infizierter die von Menschen ohne HIV-Infektion erreichen.
Eine HIV-Infektion wird inzwischen
zunehmend weniger als Ausschlusskriterium medizinischer Behandlungsoptionen
betrachtet. So zeigen erste Erfahrungen,
dass Nieren- und Lebertransplantationen
bei HIV-Infizierten in der HAART-Ära nicht
weniger erfolgreich verlaufen als bei Menschen ohne HIV-Infektion.
Ziel der HAART ist die Unterdrückung
der Virusreplikation (Virusmenge oder
„Viruslast“ im Blut unter der Nachweisgrenze) und der damit verbundene Anstieg der
CD4-Helferzellzahl im Blut (Immunrekonstitution). Der HAART-Beginn sollte nach
aktuellen Empfehlungen erst bei fortgeschrittener HIV-Infektion erfolgen, d.h. bei
einem Helferzellzahlabfall auf < 350/µl
Blut. Die Risikoschwelle der meisten schweren Immunschwäche-abhängigen Erkrankungen liegt bei < 200/µl. Ein frühzeitigerer
Beginn bietet derzeit keinen Vorteil. Die
akute HIV-Infektion unmittelbar nach Ansteckung ist in der Regel keine Behand-
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lungsindikation.
Therapieempfehlungen
bleiben aufgrund des raschen Fortschrittes
ständigen Modifikationen unterworfen.
Die Standardtherapie besteht derzeit aus
einer Kombination aus Substanzen aus drei
Medikamentenklassen, die zwei Schlüsselschritte im Virusreplikationszyklus hemmen. Inzwischen gibt es Kombinationen,
die sich nach Wirksamkeits- und Verträglichkeitskriterien als überlegen erwiesen
haben. In der Regel werden bei therapienaiven Patienten (keine Vortherapie, keine
Resistenzen) Kombinationen aus zwei
nukleosidalen Reverse-Transkriptase-Hemmern plus entweder einem nicht-nukleosidalen Reverse-Transkriptase-Hemmer oder
einem Protease-Hemmer verwendet. Die
Einführung der „geboosterten“ ProteaseHemmer, die das Resistenzrisiko minimiert
haben, ist ein wichtiger Fortschritt. Einfache
Therapieregime sind inzwischen verfügbar
(u. a. Einnahme einmal pro Tag).
Das Therapieziel bei bisher nicht behandelten Patienten ist die vollständige und
dauerhafte Suppression der Virusreplikation mit Vermeidung von Resistenzentwicklung. Dies kann mit den jetzt verfügbaren
Therapiekombination über eine noch nicht
absehbare Dauer von Jahren erreicht werden. Bei hoher Helferzellzahl scheinen geplante Therapiepausen bei sehr geringem
Risiko von Resistenzentwicklung und hoher
Wahrscheinlichkeit des erneuten Helferzellanstiegs bei Wiederaufnahme der HAART
über Monate bis Jahre möglich. Ein Abfall
der CD4-Zellzahl auf zu niedrige Werte
(inzwischen bewiesen für einen Abfall auf
< 250/µl) vor Wiederbeginn der HAART ist
jedoch im Vergleich zu einer ununterbrochenen Fortführung der Therapie mit
einem höheren Morbitätsrisiko verbunden.
Bei Patienten mit bereits vorhandenen
Resistenzen (therapieerfahrene Patienten),
v.a. als Folge suboptimaler Vorbehandlung,
sind die Therapieoptionen häufig limitiert.
Das Therapieziel ist der Erhalt einer ausrei-
chenden Helferzellzahl solange wie möglich, auch wenn keine vollständige Suppression der Virusreplikation erreicht werden
kann. Resistenzteste sind zur Voraussetzung einer optimalen HAART, insbesondere bei therapieerfahrenen Patienten, geworden.
Limitiert wird die HAART durch teilweise erhebliche Nebenwirkungen. Diese umfassen das Lipodystrophie-/LipoatrophieSyndrom mit Fettstoffwechselstörungen
und Körperfettumverteilung (Risiko vermehrter Herzinfarkte?) sowie Störungen an
diversen Organen durch Blockierung des
natürlichen Ernergiestoffwechsels der Zellen (mitochondriale Toxizität). Nebenwirkungen sind immer noch der häufigste
Grund für eine unregelmäßige Medikamenteneinnahme mit der Folge eines Therapieversagens (Virusreplikation mit Resistenzbildung und Helferzellabfall mit Auftreten
von Erkrankungen).
Immer noch wird die HIV-Infektion
häufig zu spät diagnostiziert. Nur bei
Kenntnis der HIV-Diagnose können durch
rechtzeitigen Beginn einer HAART und
Prophylaxe opportunistischer Infektionen
Immunschwäche-Erkrankungen verhindert
werden. Durch verantwortungsvolles Sexualverhalten (safer sex) können Sexualpartner geschützt werden.
Die selbstlimitierende unspezifische
akute HIV-Krankheit unmittelbar nach Ansteckung wird häufig als grippeartige Erkrankung (Pharyngitis, Fieber, Hautausschlag, Lymphknotenschwellung) verkannt.
Der initiale HIV-Antikörper-Test fällt in den
ersten Wochen nach Ansteckung oft noch
negativ aus („diagnostisches Fenster“). Bei
fortgeschrittener Immunschwäche erfolgt
die Diagnose häufig erst bei Auftreten
schwerer Erkrankungen, obwohl meistens
zuvor verdächtige Krankheitszeichen der
Immunschwäche bestehen oder epidemiologische Hinweise vorliegen (z.B. Risikogruppenzugehörigkeit).
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Therapie der HIV-Infektion
Bei Kenntnis der HIV-Infektion in der
Schwangerschaft kann das natürliche Transmissionsrisiko durch Prophylaxemaßnamen (Behandlung der Schwangeren und
des Neugeborenen, Kaiserschnitt) von ca.
25 % auf < 1 %. gesenkt werden. Der Kinderwunsch HIV-Infizierter Frauen ist in der
HAART-Ära zur Normalität geworden.
Die Postexpositionsprophylaxe (PEP),
v.a. nach Nadelstichverletzungen im Zusammenhang mit der Behandlung HIV-infizierten Patienten, hat für medizinisches
Personal unvermindert große Bedeutung.
Durch die PEP kann das Transmissionsrisiko von 0,3 % um ca. 80 % gesenkt werden.
Bei der Wahl des Prophylaxeregimes muss
die Möglichkeit der Übertragung eines
bereits resistenten Virus bedacht werden.
Bei Kontamination intakter Haut mit HIVinfiziertem Blut ist in der Regel keine PEP
erforderlich. Zunehmend gewinnt die PEP
nach ungeschütztem Geschlechtsverkehr
mit Sexualpartnern mit HIV-positivem oder
unbekanntem Serostatus an Bedeutung.
Die Notwendigkeit von Präventionsmaßnahmen (safer sex), durch die Transmissionen weitgehend vermieden werden können,
müssen konsequent propagiert werden. In
Deutschland ist es 2005 erstmals zu einem
Anstieg von Neuinfektionen gekommen
(2600 im Vergleich zu ca. 2000 Fällen pro
Jahr in den Vorjahren). Die Hauptursache
hierfür dürfte eine größere Sorglosigkeit
beim „safer sex“ sein. Unterschätzt wird
jedoch, dass 1. eine Immunschwäche zwar
partiell behandelbar, eine Viruseradikation
aber nicht möglich ist, 2. die HAART Nebenwirkungen noch nicht absehbare Folgen
haben und 3. Viren mit Resistenzen und
damit eingeschränkter Behandelbarkeit
übertragen werden können (ca. 10 % aller
Neuinfektionen in Deutschland).
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Deutsch-Österreichische Empfehlungen zur
postexpositionellen Prophylaxe der HIV-Infektion. Leitlinien für Diagnostik und Therapie.
HIV-Journal (Sonderausgabe Medizin). Nr.
1/2005. Humanis Verlag für Gesundheit
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