LaMaga Eine Geschichte aus den Schattenherz - Alice

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LaMaga Eine Geschichte aus den Schattenherz - Alice
LaMaga
Eine Geschichte aus den Schattenherz-Chroniken
LaMaga: Kajidas Träume. Eine Geschichte aus den Schattenherz-Chroniken
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LaMaga: Kajidas Träume. Eine Geschichte aus den Schattenherz-Chroniken
Vorbemerkung
„Kajidas Träume“ ist eine Geschichte, deren Entstehung unter keinem guten Stern
stand. Während ich daran arbeitete, habe ich privat und gesundheitlich eine sehr
schwierige Phase durchlebt, die auch einige längere und sehr deprimierende
Schreibblockaden beinhaltete. Ich habe mich derweil mit Speckstein und Acrylfarben
kreativ zu halten versucht, weil ich mich nicht dazu aufraffen konnte, längere Zeit am
Bildschirm zu verbringen. Und so kommt es, dass ich an diesem knapp 40 Seiten langen
Text länger als ein halbes Jahr gearbeitet habe.
Aber ich habe es geschafft und bin damit meinem Motto, nie eine Geschichte
unvollendet zu lassen, treu geblieben. Und wenn es in „Kajidas Träumen“ auch um nicht
viel mehr geht als um ein bisschen Geschichtskunde, einige königliche Launen und das
gespaltene Verhältnis der Protagonistin zum Thema Bücher – der Text ist sehr persönlich
geworden. Kajidas Träume in dieser Geschichte fußen auf Träumen, die ich tatsächlich
selbst hatte und die mich so beeindruckt hatten, dass ich mir noch im Bett Notizen
gemacht hatte – ich habe die Szenarios lediglich an Kajidas Lebenswelt angepasst (denn
Dinge wie z.B. eine U-Bahn-Station gibt es in der Chroniken-Welt einfach nicht).
Kajida ist eine Figur, die mir sehr am Herzen liegt. Wenn ich auch schon von Lesern
gehört habe, dass ihre zuweilen etwas egozentrische und impulsive Art sie zu einem
anstrengenden Charakter macht, halte ich die Prinzessin für eine der ausgereiftesten
Persönlichkeiten innerhalb der Schattenherz-Chroniken. Und ich hoffe, der eine oder
andere Leser lässt sich auf diese kleine Schriftübung ein.
Ich wünsche gute Unterhaltung!
Yal gha’tanai.
LaMaga
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LaMaga: Kajidas Träume. Eine Geschichte aus den Schattenherz-Chroniken
ie stellte sich vor, wie es wäre, auf dem Rücken ihres Rosses im Galopp über
den weißen Sand zu preschen, immer weiter, immer weiter fort, mit den
schaumgekrönten Wellen um die Wette, den Wind in ihren Haaren und die
kreischenden Möwenschwärme über sich. Sie konnte die salzige Luft förmlich
riechen und die Wärme der Sonne auf der Haut spüren, sie hörte das Tosen der
Brandung und spürte Gischt auf ihrem Gesicht. Sie lächelte versonnen und ließ die Gedanken fließen, trieb in ihren Tagträumen dahin und kam abrupt zu sich, als die Stille zu ihr
hin drang und die Wellen, die Möwen und das Trommeln der Hufe zum Schweigen brachte.
Sie schreckte so sehr in die Höhe, dass sie fast das Tintenfass umstieß.
„Ah“, sagte der hagere Mann ihr gegenüber am Pult. „Da seid Ihr ja wieder. Ich habe
mich schon gefragt, wie lange es dauert, bis Ihr bemerkt, dass ich nicht mehr zu Euch
rede.“
Sie seufzte, ein klein wenig schuldbewusst, und nahm eine aufrechte Haltung ein. Eine
königliche Haltung.
„Ich hatte ein paar wichtige Dinge im Kopf“, sagte sie gelassen.
„Offenbar nichts, was unmittelbar mit Euren Lektionen zu tun hat.“ Er wandte sich dem
Buch zu, das aufgeschlagen vor ihm lag, warf ihr aber über den Rand seiner Brille einen
tadelnden Blick zu.
„Woher willst du das wissen?“, fragte sie trotzig.
„Eure Miene will nicht so recht zum Thema meines Vortrags passen.“ Er blätterte eine
Seite um und schien auf eine Antwort zu warten.
Kajida, die Tochter der Großkönigin Manjev, Prinzessin vom Meer und der Ebene
schwieg, ein klein wenig schuldbewusst, denn sie hatte in der Tat keine Ahnung, worüber
ihr Magister in der vergangenen halben Stunde geredet hatte. Sie empfand es als
Zumutung, bei diesem herrlichen Frühlingswetter, das nur dazu aufforderte, wilde Ausritte
am Strand zu unternehmen, hier im Schulzimmer festzusitzen und sich Vorträge über Dinge
anhören zu müssen, die entweder seit vielen Jahren vorüber waren oder so kompliziert und
spekulativ, dass sie sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte, welchen Nutzen sie im
Leben einmal davon haben würde.
„Ich referierte“, sagte der Gelehrte, dessen Aufgabe es war, all das langweilige Wissen
in ihren Verstand zu bringen, „gerade über den Untergang des Hauses Valfrontìr während
der Endphase der Magischen Kriege. Bestimmt könnt Ihr mir sagen, wer zu dieser Zeit
Herrscher über das Lebendige Tal war?“
„Weißt du es denn nicht, Osse?“
„Natürlich weiß ich es. Aber das ist belanglos. Wichtig ist, dass Ihr es wisst.“
„Aber wenn ich weiß, dass du es weißt, kann ich dich doch fragen, wenn ich es mich
eines Tages einmal interessiert.“ Sie lehnte sich zurück und fügte hinzu: „Dafür sind
Minister doch da, oder etwa nicht?“
Graf Osse Emberbey schloss die Augen und seufzte. „Wäre ich ein einfältiger Mann“,
sagte er dann, „der sich sicher wäre, unbelauscht zu sein und darüber hinaus nicht den
Verstand hätte, die Folgen seiner Worte einzuschätzen, ich würde mich fragen, Majestät,
aus welchem Grund es den Mächten nötig erscheint, mich solchermaßen mit einer Schülerin
wie Euch zu strafen.“
Kajida runzelte die Stirn und versuchte, seine Worte zu entwirren.
„Fanwer“, rief sie dann in Richtung der halb geöffneten Tür, und mit raschen Schritten
eilte ein junger Mann herbei, der auf dem Korridor den Wachdienst innehatte.
„Gemach, Majestät“, sagte Osse ruhig und hob die Hand. „Das war nur ein
Gedankenspiel. Es besteht kein Grund, nicht Geschehenes zu ahnden.“
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Fanwer wartete. Kajida wandte sich dem Wachsoldaten zu. „Bleib in der Nähe. Ich habe
das Gefühl, dass Herr Osse es heute doch noch darauf anlegt, im Kerker zu übernachten.“
Der junge Mann verneigte sich tief, konnte sein amüsiertes Grinsen damit aber kaum vor
seiner Herrin verbergen. Graf Emberbey räusperte sich, und Fanwer errötete und entfernte
sich rasch. Einen Moment lang schwieg die Prinzessin. Graf Emberbey erwiderte ihren Blick
mit unbewegter Miene. Dann lächelte sie.
„Du bist mit den Worten fast so geschickt wie Herr Merrit mit dem Schwert“, sagte sie.
„Danke. Ich gebe mir Mühe, meine Makel mit Fertigkeit auf anderen Gebieten
auszugleichen. Ich befürchte nur, dass ich mit meiner Rede nicht halb so sehr Euer
Interesse gewinne wie Herr Merrit mit... praktischeren Dingen. Mit Verlaub gesagt,
Majestät, Euer Fleiß ist ein wenig ungleichmäßig verteilt.“
Das konnte die Prinzessin nicht leugnen. Wenn Graf Merrit Althopian, der Erste Ritter
ihrer Mutter, ihr Lektionen im Fechten, Reiten und anderen Disziplinen des Ritterhandwerks
erteilte, war sie stets mit Feuer und Flamme dabei – ganz egal, für wie undamenhaft und
exzentrisch so mancher bei Hofe das halten mochte.
Aber Merrit Althopian war nicht auf der Strand-Burg, wo sie im Studierzimmer saß und
den Vorträgen des Ministers, des zweiten Edelmannes an der Seite der Mutter, hätte
lauschen sollen. Merrit Althopian und die Mutter waren auf Reisen, hatten die Großeltern
auf der Königsburg im Inland, im Reich der Ebene, besucht um dort nach dem Rechten zu
sehen. Die Königin und ihr Gefolge befanden sich zwar schon wieder auf dem Rückweg,
aber bis sie wieder in der kleineren Küstenburg anlangten, würden noch zwei oder drei
Tage vergehen. Der königliche Tross hatte es nicht eilig.
Kajida hatte wenig Lust verspürt, mitzukommen wenn die Mutter Hof hielt. Von
höfischen Pflichten hielt das junge Mädchen nichts. Wenn sie in der Strand-Burg reiste,
bestellte die Mutter fast immer Osse Emberbey ab, um ein Auge auf sie zu halten. Und mit
dem hatte die Prinzessin leichtes Spiel.
„Um zum Thema zurück zu kommen“, sagte der Graf, „ich würde mich sehr glücklich
schätzen, wenn Eure Aufmerksamkeit...“
„Benasrù.“
Osse unterbrach sich. „Wie bitte?“
„König Benasrù der Kühne. Hattest du nicht gerade danach gefragt?“
Der Minister nickte verwirrt. „Ja, aber..“
„Ist es etwa falsch?“
„Nein. Ich war nur etwas zu träge, der Sprunghaftigkeit Eurer Gedanken zu folgen.“
Kajida lehnte sich überlegen in ihrem Sessel zurück. „Benasrù der Kühne war ein
mächtiger Kriegsherr, der einige bedeutende Siege im Kampf gegen seine feindlichen
Nachbarn jenseits der Himmelsberge erringen konnte.“
„Ich vermute, Ihr könnt mir auch sagen, mit welchen Waffen er eigenhändig kämpfte?“
„Er soll einen kostbaren Bidenhänder besessen haben, gefertigt aus reinstem Stahl aus
den Minen der Eisigen Berge, verziert mit Rubinen und Turmalinen und so präzise
ausbalanciert, dass man überall von einem Wunder der Schmiedekunst sprach.“
Der Minister seufzte. „Wie könnte ich annehmen, dass Ihr über diese Dinge nicht
Bescheid wüsstet?“
Kajida versuchte, aus seinem Blick schlau zu werden. Sie hatte das Gefühl, ihm eine
falsche Antwort gegeben zu haben, obwohl sie wirklich gut über jedes bemerkenswerte
Schwert Bescheid wusste, welches die Chronisten in ihren Schriften erwähnt hatten.
„Ich nehme an“, sagte sie vorsichtig, „er hat auch gelehrte Bücher geschrieben?“
Graf Emberbey schüttelte den Kopf. „Nein. Er hat das Schreiben nie erlernt. Aber er
hatte einige bemerkenswerte Gedanken, die er seinen Beamten diktiert hat.“ Er ging zu
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dem Büchergestell in der Ecke hinüber und zog einen großen Folianten heraus. „Dies hier
solltet ihr lesen.“
Kajida stöhnte. „Warum soll ich mir den Kopf mit den Gedanken eines längst
verschwundenen Königs beschweren?“
Der Minister legte das Buch sorgsam vor ihr auf den Tisch. „Weil er eben nicht
verschwunden ist, gerade durch seine Gedanken. Die Menschen erinnern sich an ihn.“
Die Prinzessin rümpfte die Nase. „Leute wie du erinnern sich an ihn, weil sie in alten
Büchern stöbern. Für mich ist das nichts. Für mich ist das wichtig, was morgen passiert.“
„Nun, da Ihr Euch zur Königin des morgigen Tages berufen fühlt, werde ich Euch wohl
nicht dreinreden können.“ Er legte die Hand auf das Buch und schwieg.
Kajida schaute, als er reglos verharrte und offensichtlich auf etwas wartete, ratlos von
seinem unbewegten Gesicht auf seine magere Hand. Der Amtssiegelring wirkte fast zu
schwer für seine Finger. Dann sah sie ihm wieder in die Augen, die hinter den geschliffenen
Gläsern seiner Brille grau, ruhig und eindringlich in ihrem Gesicht zu lesen versuchten.
„Ich werde darüber nachdenken“, sagte sie. „Über die Gedanken eines Königs, der nicht
schreiben konnte. Und wenn ich einmal bemerkenswerte Gedanken haben sollte, dann
werde ich sie von dir aufschreiben lassen.“
„Zu gütig Majestät, angesichts dessen, dass es mich Jahre meines Lebens gekostet hat,
Euch in das Geheimnis der Buchstaben einzuweihen. Diese Gedanken könnten von Euch
höchstselbst der Nachwelt erhalten werden.“
Die Prinzessin seufzte. „Osse, das ist alles einfach nichts für mich. Ich werde niemals so
kluge Gedanken haben, dass sie es wert sind, dass man auch nur einen Tropfen Tinte daran
verschwendet.“
„Dessen seid Ihr Euch in Eurem jugendlichen Alter schon so sicher?“
Was sollte sie ihm darauf antworten?
Der Minister schob das Buch zu ihr hin. „Lest, Majestät. Lest, worüber der glorreiche
Kämpfer mit dem Rubinschwert nachdachte. Und bedenkt: Nie würde ich Euch etwas
empfehlen, was nicht zu Eurem Nutzen ist.“
Kajida zuckte die Achseln und nickte gehorsam. Dies war wohl die Methode, um das
Gespräch am raschesten zu beenden. Sie nahm das Buch und legte es sorgsam beiseite.
Graf Emberbey, der mit Widerworten gerechnet haben mochte, bedachte
seine
königliche Schülerin mit einem misstrauischen Blick. Dann entschloss er sich, den
Unterricht fortzusetzen, breitete eine große Landkarte auf dem Tisch aus und erklärte dem
jungen Mädchen alles, was seiner Meinung nach am Gebiet der ehemaligen Grafschaft
Valfrontìr am Fuße der Himmelsberge wissenswert war.
Kajida bemühte sich, ihre Langeweile zu verbergen. So oft schon hatte sie diese Gegend
aus der Luft gesehen. Das war spannender als die alten, vergilbten Karten.
Und außerdem interessierte sie viel mehr, was hinter dem Horizont verborgen lag.
ei aller Liebe, Kaj, dafür habe ich wirklich keine Zeit. Ich muss selbst
lernen!“
„Und wenn ich es dir befehle?“
„Warum solltest du mir etwas befehlen, was du selbst ebenso gut
kannst?“
„Ich habe aber keine Lust dazu.“
„Das ist natürlich eine Begründung.“ Svegar, der junge Seemann, lachte. „Ich habe auch
so manches Mal keine Lust zu arbeiten.“
„Ja, aber ich bin die Prinzessin, und das ist der Unterschied zwischen uns.“ Kajida
lächelte überlegen. Sie saß im Beiboot der Silbergischt, das augenblicklich am Strand lag
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und zog die Beine zum Schneidersitz an. „Wenn ich etwas nicht mag, können es andere für
mich tun.“
„Sicher. Ich stelle es mir sehr bequem vor, so eine Prinzessin zu sein. Und es ist auch
ganz bestimmt nicht so, dass ich dir keinen Gefallen tun würde, Kaj. Aber ich habe...
Eigenes zu erledigen.“
„Was immer es ist“, schmollte die Prinzessin, „kannst du das auch im Kerker erledigen?“
Svegar zögerte. Nun hieß es vorsichtig sein. Die Prinzessin war berüchtigt dafür,
unliebsame Diskussionen für sich zu entscheiden, indem sie den Gegner kurzerhand
einsperren ließ. Selbst vor Graf Emberbey machte sie dabei nicht Halt.
„Nein“, sagte er. „Ich brauche freien Blick auf den Sternenhimmel.“
Sie seufzte. „Kann ich dich denn gar nicht locken? Ich brauche jemanden, der mir dieses
dumme Buch vorliest. Du könntest in der Burg wohnen und bekommst feine Mahlzeiten und
ein richtiges eigenes Bett, und...“
Svegar schüttelte den Kopf. „Nein, Kaj. Das geht nicht. Ich kann nicht jeden Tag von der
Burg zum Dorf und zum Schiff laufen. Das ist zu anstrengend.“
Sie schwieg. Svegar griff nach den Krücken, die am Boot lehnten und versuchte,
aufzustehen. Das war nicht einfach im Sand. Die Prinzessin wandte taktvoll den Blick ab
und schaute auf das Meer, hinüber zur Silbergischt, dem Piratenschiff, auf dem Svegar
seinen Dienst versah. Sie erinnerte sich an die Kindertage, in denen sie gemeinsam mit dem
ein wenig älteren Svegar über den Strand gerannt war, an ausgelassene Spiele mit Bällen
und später auch hölzernen Schwertern. Damals waren Svegars Beine noch gesund und
gerade gewesen. Dann war er vom Rücken eines fliegenden Einhorns in die Tiefe gestürzt
und alles war anders geworden. Es war das Ende seiner und auch ihrer unschuldigen
Kindheit gewesen.
„Ich muss mich anstrengen“, sagte Svegar. „Drabèk ist so gut zu mir, und ich will ihn
nicht enttäuschen. Wenn wir auf große Fahrt gehen, muss ich die Sterne lesen können,
damit wir Kurs halten können.“
Die Silbergischt war nur ein kleines Schiff mit einem Mast, das gerade einem Dutzend
Matrosen Platz bot. Für Svegars Bedürfnisse war das ideal, denn an Bord des Seglers ließ es
sich gar nicht weit laufen. Und mit Drabèk hatte das Schiff einen ganz besonderen Kapitän,
von dem der junge Mann viel lernen konnte.
„Wo ist Drabèk überhaupt?“, fragte Kajida.
„Er ist unterwegs zum Reepschläger. Segeltaue kaufen.“ Svegar humpelte hinüber zu den
Kisten und Fässern, die in der Nähe abgestellt waren und darauf warteten, ins Boot
verladen zu werden. „Die Mächte mögen wissen, was er mit all dem Seil vorhat. Wir haben
genug davon, um die Silbergischt dreimal aufzutakeln.“
Kajida beobachtete einen Moment, wie Svegar an einigen der kleineren Kisten herum
rückte und den Inhalt sortierte. Es waren Kleinigkeiten, für Drabèks Alltag an Bord
bestimmt, denn der Kapitän wohnte an Bord seines kleinen Segelschiffes. Lebensmittel,
Werkzeug, Kleinkram. Die Prinzessin interessierte sich nicht für Details.
Seufzend schlug sie das Buch auf und starrte gelangweilt auf uralte Worte in einer
schnörkeligen Sprache, die umständlich erläuterten, welcher der Könige in längst
vergangenen Zeiten mit wem verwandt gewesen war und auf welchen Wegen sich der
Herrschaftsanspruch des Verfassers begründete.
Eine Weile waren sie so beide beschäftigt und bemerkten Drabèk erst, als er das Boot
fast erreicht hatte. Der Pirat hatte sich ein aufgerolltes Seil um die Schulter gehängt, pfiff
gut gelaunt vor sich hin und schlenderte ohne Eile näher.
„Majestät“, begrüßte er Kajida munter, „welche Ehre! Was führt Euch an den Strand?“
Kajidas Blick erhellte sich. „Ich benötige Hilfe!“, antwortete sie. „Und wenn ich dich so
sehe, Drabèk, bist du der richtige Mann dafür.“
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„Vorsicht, Kapitän“, warnte Svegar, ohne aufzublicken. „Macht keine vorschnelle
Zusage.“
Drabèk warf sein Seil ins Boot und schaute der Prinzessin fragend in die Augen. Kajida
kam nicht umhin zu bemerken, dass ein paar Hanffasern in seinen Haaren hingen und er
verdächtig guter Laune war.
„Womit kann ich Euch dienen?“, fragte er.
Kajida klappte das Buch zu und warf es schwungvoll zu ihm hin. „Ich benötige deine
Meinung. Was sagst du dazu?“
Drabèk zuckte zusammen und hätte das Buch beinahe erschrocken von sich gestoßen,
konnte sich aber gerade noch beherrschen. Er räusperte sich und schüttelte tadelnd den
Kopf. „Macht das bitte nie wieder, Majestät.“
„Was?“
„Mir so einfach ohne Warnung ein... ein Buch zuzuwerfen. Das... schickt sich nicht.“
Kajida hob die Brauen. „Das schickt sich nicht?“
„Das ist jemandes Geschichte“, sagte Drabèk und betrachtete den alten Folianten nun
mit einer gewissen Neugier. „Damit geht man respektvoll um. Es könnte eine vornehme
Dame sein, oder...“
„Es sind langweilige Gedanken eines uralten Königs“, sagte Kajida unwillig. „Der
Uhumann will, dass ich das lese.“
„Sie meint Graf Emberbey“, merkte Svegar an. Dass Kajida sich den Spitznamen, den sie
als Kind für den geplagten Minister ausgedacht hatte, immer noch verwendete, war ihm vor
dem Piraten etwas peinlich.
„Interessant.“ Drabèk schlug das Buch fasziniert auf. „Sind da auch Gedanken über
Kaperfahrten und Seeschlachten dabei?“
„Ich glaube nicht. Sein Königreich lag im Binnenland, nahe den Bergen. Ich glaube nicht,
dass er auch nur ein einziges Schiff besaß.“
Drabèk lächelte mit spöttischem Mitleid auf den Lippen. Einen König, der keine eigene
Flotte befehligte, konnte kein librischer Pirat wirklich ernst nehmen.
„Jedenfalls“, fuhr Kajida fort, „meint der Uhu... meint Graf Emberbey, dass es mir
nützen könnte zu verstehen, worüber jener König sich seine Gedanken gemacht hat.“
„Nun, wenn Graf Emberbey dieser Meinung ist, dann solltet Ihr seinem Rat folgen.“
„Aber es ist langweilig!“, begehrte Kajida auf. „Ich habe keine Lust, meine Zeit mit
nutzlosem, ödem Zeug zu verschwenden?“
„Und was, Majestät, denkt Ihr Euch, was meine Aufgabe dabei sein könnte?“
„Du könntest es lesen und mir dann erzählen, was drin steht. Zumindest die wichtigen
Dinge.“ Sie zögerte, als sie Drabèks mangelnde Begeisterung bemerkte. „Du kommst doch
viel besser mit Büchern zurecht als ich!“
Svegar konnte sich nicht mehr beherrschen und begann, zu lachen. Die Prinzessin und
der Kapitän wandten sich ihm fragend zu.
„Entschuldige, Kaj, “ kicherte Svegar schließlich, „aber ich muss mir gerade vorstellen,
wie Drabèk aus den Lehren von König Benasrù ein Piratenabenteuer macht.“
„Also, ich fände das kurzweilig.“
Drabèk grinste und gab ihr das Buch zurück. „Majestät, es würde Euch nichts nützen,
diese weisen Herrscherworte von der Zunge eines Piraten zu hören. Das ist eine Sache, die
unter den Königen bleiben sollte. Und ich denke, Herr Osse sieht das genauso.“
„Dann hilfst du mir nicht?“
„Nein.“
„Du verweigerst deiner Prinzessin einen direkten Befehl? Das ist… Meuterei!“
„Meuterei? Ihr seid es, die in meinem Boot sitzt!“
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Darauf fiel Kajida auf die Schnelle keine Antwort ein. Drabèk begann ungerührt, seine
Kisten und Kartons an Bord zu verstauen. Kajida runzelte die Stirn und schaute zu. Obwohl
sie ihm im Weg saß, dachte sie nicht daran, den Platz zu räumen.
Eine Weile war außer der Brandung und den Seevögeln nichts zu hören. Die Prinzessin
war verärgert. Aber ihr Unmut wurde ihr schnell langweilig. Sie schaute hinüber auf das
smaragdfarbene Meer und die feinen weißen Schaumkronen, die davon kündeten, dass die
Flut langsam nahte. Bis dahin musste das Gepäck verladen sein.
„Wann wird es so weit sein, Drabèk“, fragte sie abwesend.
Der Pirat wusste sofort, wovon sie sprach. Er stellte ein kleines Fässchen zu ihren Füßen
ab und folgte ihrem Blick, der sehnsüchtig auf der Silbergischt ruhte.
„Wann immer man Euch auf die Reise schickt, Majestät.“
„Worauf muss ich warten?“
„Vielleicht gibt es noch Dinge, die Ihr lernen müsst, bevor Ihr Euch auf die gefährliche
Fahrt begebt?“
Sie wandte sich ihm zu, aber er schaute aufs Meer, nicht zum Schiff, sondern daran
vorbei. Zum Horizont. „Aber wie lange kann er noch warten? Wie lange dauert es noch
bis... bis ich ihn befreien darf?“
„Es dauert genau so lange, wie seine Geschichte es vorsieht, Majestät. Er ist in Librien.
Er ist in der Geschichte.“
„Und ich bin hier. In der Wirklichkeit. Warum muss die Wirklichkeit so mühsam und
langweilig sein?“
„Es ist Eure Geschichte, Majestät. Und im Gegensatz zu dem, was in Librien geschieht,
liegt es in Eurer eigenen Macht, Eure Geschichte zu leben. Ihr schreibt Euer eigenes Buch,
Majestät. Euer eigenes Leben. Das ist mehr, als je einem Librier zugestanden wurde.“
Sie seufzte ungeduldig. Der Pirat nickte ihr aufmunternd zu. „Vielleicht findet Ihr in den
Königsworten eine passende Anregung, Majestät. Stichworte für ein neues Kapitel. Das ist
etwas, das niemand Euch abnehmen kann. Ich nicht, Svegar nicht, und ganz gewiss auch
nicht Herr Osse.“ Er richtete sich auf und bedeutete ihr, das Boot zu verlassen. „Und jetzt
lasst uns hier allein bei der Arbeit, Prinzessin. Sucht Euch einen anderen Ort für Eure
herrschaftlichen Launen.“
Kajida erhob sich würdevoll und stieg aus dem Boot. Im Vorbeigehen zupfte sie eine
Hanffluse aus seinem Haar. „Wie geht es der Tochter des Seilers, Drabèk? Ein hübsches
junges Ding, wenn ich mich recht entsinne, und ihr Vater ein leicht reizbarer Bär von einem
Mann?“
Sie schenkte ihm ein maliziöses Lächeln und verschwand majestätischen Schrittes über
den Strand, ging hinüber zu den Dünen, ohne sich noch einmal umzusehen.
Svegar schaute ihr überrascht nach. Drabèk ließ den Blick über die Ladung schweifen.
„Ich denke“, sagte er dann, „das reicht aus, um einen Viertelmond auf See zu bleiben.
Und ich denke, das tun wir auch.“
ls Kajida in ihr Gemach zurückkehrte, wartete dort schon jemand auf sie.
„Cùya!“, rief die Prinzessin freudig aus und ignorierte die Überreste einer
Maus, die mitten auf den blank polierten Bodenfliesen lagen. Wahrscheinlich
hatte das Tier zur Unzeit versucht, das Zimmer zu durchqueren, ohne damit
zu rechnen, dass hier Greife lauerten.
Cùya blickte auf und bemühte sich dann, die Spuren seiner Untat zu verbergen, indem er
sich umwandte und die Flügel ausbreitete. Kajida warf das Buch auf ihr Bett und ließ sich
dann selbst in die Kissen fallen. Geduldig wartete sie, bis der Falke seine Mahlzeit beendet
hatte und dann auf den Rand des Baldachins flatterte, von wo aus er auf das Mädchen hinab
spähte.
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„Bist du vorausgeflogen? Sind Mutter und ihr Gefolge schon in der Nähe der Burg?“
Cùya krächzte und schüttelte sein rotbraunes Gefieder. Morgen, ließ er sie wissen.
Morgen Morgen zurück in Menschenhorst.
„Und was machst du schon hier? Hat Oheim Merrit dich geärgert?“
Ich bin gekommen, weil ich glaube, dass du einen Rat brauchst.
Kajida richtete sich so heftig auf, als habe ein Blitz sie durchzuckt. Überrascht und mit
zaghafter Freude schaute sie den Falken an.
„Vater?“
Der Falke glitt zu ihr hinab, auf ihren Schoß und schaute mit seinen starren
schimmernden Augen in ihr Gesicht. Zärtlich strich die Prinzessin ihm über das weiche
Gefieder. Seine Krallen spürte sie durch ihre ledernen Reithosen kaum.
„Vater“, wisperte Kajida.
Ich grüße dich, Kajida. Habe ich richtig gespürt? Ist dir nach einem Gespräch mit... der
Vogel zögerte, deinesgleichen?
„Ja“, antwortete sie. „Oh ja.“
Der Vogel gab ein belustigtes Gurren von sich.
Meist war Cùya das, wonach er aussah: Ein sehr großer, prächtiger Jagdfalke. Niemand
wusste, wo das Tier einst hergekommen war; Graf Emberbey hatte der Prinzessin erzählt,
es sei eines Tages einfach da gewesen, habe an ihrer, Prinzessin Kajidas Wiege gesessen
und sei einfach geblieben. Cùya war kein zahmer Falke, ganz im Gegenteil. Der Vogel flog
ein und aus, wie es ihm beliebte und suchte von sich aus die Nähe der Königin und ihrer
Tochter. Wenn er gut gelaunt war, begleitete er die Damen auf der Jagd, verschreckte
ansonsten die Hühner und Tauben im Hof und verstörte Uneingeweihte mit seiner
Anwesenheit.
Manchmal jedoch war Cùya jedoch etwas anderes als ein Falke, und das war ein
Geheimnis, von dem nur Kajida etwas wusste. Manchmal war Cùya ein Seelentier.
Manchmal lieh ein Geist sich den Falkenkörper aus, um zu ihr zu sprechen. Der Geist ihres
Vaters.
Du bist ungeduldig, sprach Meister Galeon durch den Falken.
„Osse will, dass ich die Memoiren von König Benasrù lese“, klagte sie. „Und Drabèk sagt,
ich wäre noch nicht so weit, nach Librien zu fahren und Véljioz zu befreien.“
Beide haben Recht, versetzte der Falke. Du musst noch lernen, um für das Abenteuer
gewappnet zu sein.
„Sobald Oheim Merrit wieder da ist“, sagte Kajida entschlossen, „soll er mir zeigen, wie
man mit dem Schwert...“
Mit dem Schwert bist du gut genug für das Abenteuer, meine Tochter. Von Merrit
Althopian solltest du dich gelegentlich in anderen Dingen unterweisen lassen.
Die Prinzessin zögerte. Graf Merrit Althopian, ihr heiß geliebter Nennonkel und der Erste
Ritter der Königin war der unübertroffene Kämpfer weit und breit. Der Falke bemerkte ihre
Verwirrung.
Frag ihn nach dem Widerwesen, empfahl der Vogel.
„Das hab ich schon gemacht. Er redet nicht gern darüber. Ich weiß so gut wie gar nichts
über das, was damals geschehen ist.“
Dann fragst du auf die falsche Weise, Kind. Es ist wichtig, dass du erfährst, worauf du
dich einlässt, wenn du Véljioz Veree in Librien suchst.
„Und was ist die richtige Weise, eine Frage zu stellen?“
Worte. Richtig zu fragen erlernst du durch einen Meister der Rede.
„Osse“, sagte Kajida müde. „Hat Osse mir deshalb dieses Buch gegeben?“
Lies es, und du wirst verstehen.
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Sie seufzte ergeben. Wenn der eigene Vater, jener, der einer der mächtigsten Magier
aller Zeiten gewesen war, ihr die Lektüre anriet, dann gab es keinen Weg mehr, sich
dagegen zu sperren.
„Wieso sagt mir nicht einfach jemand, was ich tun soll?“, klagte sie trotzdem. „Wieso
muss ich den Umweg über Bücher gehen?“
Menschen Worte verstehen geben Rat, schnatterte Cùya und putzte sich. Menschenküken
lesen lernen wissen.
Kajida seufzte. Der Geist von Meister Galeon hatte den Falken wieder verlassen.
Vielleicht gab er aber auch nur vor, fort zu sein. Müde und lustlos schlug Kajida das Buch
auf und begann, zu lesen.
ie träumte. In ihren Träumen war sie oft allein unterwegs, in bizarren
Gegenden oder Gebäuden, an Orten, die vollkommen verlassen schienen.
Allerdings in einer Weise verlassen, nicht als ob ihre Bewohner sich entfernt
hätten. Sondern so, als ob sie noch nicht eingetroffen wären.
Die Prinzessin streifte durch die Einsamkeit und ließ dabei ihre Gedanken
treiben, denn es gab wenig, woran sie hätten verweilen können, nichts, was ihre
Aufmerksamkeit lange halten konnte. Es war ein dämmriger, nicht unangenehmer Zustand,
eine Schläfrigkeit inmitten des Traumes, und wie eine Schlafwandlerin spazierte die
Prinzessin durch das Szenario, in das sie in dieser Nacht geraten war. Es war ein großes
Gebäude, das der großen Burg der Ebene, der Burg ihrer Großmutter, nicht unähnlich war,
sich aber doch mit anderen Örtlichkeiten vermischte, die ihr vertraut waren; der StrandBurg, der Burg der Herren von Althopian, die Fischerkate, in der Svegar mit seiner Familie
wohnte. Kajida stieg Treppen hinauf und hinab, durchschritt menschenleere Räume und
Korridore und hatte sich gerade mit dem Gedanken abgefunden, dass in diesem Traum
nichts Außergewöhnliches geschehen würde, als plötzlich etwas anders war.
Die Treppe, die sie gerade hinab stieg – es war die Kellertreppe, die in der Burg der
Ebene hinab zu den Verliesen führte, aber sie war es doch wieder nicht, denn sie war breit
und die Stufen flach wie die der prächtigen Freitreppe in König Benjus’ Weißer Burg im
Lebendigen Tal – veränderte sich unter ihren Füßen. Kajida bemerkte es, als ihre gerade
noch so leichtfüßigen Schritte außer Takt gerieten und sie beinahe ins Straucheln
gekommen wäre. Die Stufen wurden plötzlich mit jedem Schritt steiler und tiefer. Was
gerade noch nicht höher gewesen war als ein Schritt von einem Bordstein führte plötzlich
fesseltief abwärts, mit dem nächsten Schritt spürte Kajida die Kante der Stufe an ihrer
Wade.
Die Prinzessin stutzte und reckte den Kopf vorsichtig vor. Die sonderbare Kellerstiege
wurde nicht durch Lampen oder Fackeln beleuchtet, aber es herrschte ein diffuses
Dämmerlicht, in dem sie erkennen konnte, dass die kommenden Stufen schließlich so steil
wurden, dass sie hätte hinabklettern müssen. Aber das tat sie nicht, denn auf halber Höhe
hörte die Treppe einfach im Nichts auf und schwebte über einem Abgrund.
Kajida stutzte, schaute hinauf und wünschte sich im selben Augenblick, es nicht getan zu
haben, denn über ihr war nicht mehr die niedrige Decke des Kellerzugangs, sondern ein
gewaltiges Höhlengewölbe, das außerhalb des Lichtes nur zu erahnen war. Diese riesige
Leere spannte sich über Kajidas Haupt, und die Überraschung, das Erschrecken über diese
Weite machten sie einen Moment lang schwindelig. Die Prinzessin tastete sinnlos nach
einem Handlauf oder einer Wand, um sich zu stützen und nicht das Gleichgewicht zu
verlieren, aber mitten auf der breiten Treppe gab es nichts dergleichen.
Vorsichtig ging Kajida in die Hocke und ließ sich auf der Treppe nieder. So war es für den
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Moment besser. Verwirrt schaute sie in den Abgrund und lauschte. Rauschte da Wasser,
weit, weit unter ihr?
Nicht, dass sie Angst verspürt hätte. Sie war sich darüber im Klaren, dass sie träumte und
selbst wenn sie aus Ungeschick in diese gewaltige Schwärze stürzen sollte, würde sie
vermutlich auf dem Fellteppich neben ihrem Bett aufwachen. Aber die Wucht, mit der sich
das Szenario ihres Traumes verändert hatte, bestürzte sie und erweckte zugleich ihr
Interesse. Das war kein gedankenloser, gelangweilter Prinzessinnentraum mehr. Diese
Finsternis, diese Leere, dieses Abseits-von-Raum-und-Zeit war magisch. Ein magischer Ort,
der sich in ihrem Schlaf aufgetan hatte. Jemand wollte sie hier treffen.
Also würde sie warten.
Eine ganze Weile saß sie da, winzig auf dieser von Riesenhänden gebauten Treppe in den
Abgrund, und lauschte auf das wispernde Geräusch, das zu ihr hinaufgetragen wurde?
Wasser? Vielleicht Wind, ein Luftzug? Was war da unten in der Tiefe, und was hatte sie
damit zu schaffen?
„Ist irgendjemand hier?“, fragte sie schließlich ins Leere.
Aber niemand antwortete ihr.
Kajida runzelte die Stirn. Was hatte das zu bedeuten?
„Ich habe Besseres zu tun, als hier zu warten. Wer immer zu mir sprechen will, der tue
das jetzt!“
Schweigen. Nur das Wispern und Flüstern in der Tiefe.
Kajida zögerte noch einen Moment. Dann erhob sie sich und schickte sich an, die Treppe
wieder empor zu steigen. Wer immer sie in diesen Traum gerufen hatte, er hatte sie
versetzt. Und das war ein ungehöriges Benehmen einer Prinzessin gegenüber.
Sie stapfte unwillig die Treppe hinauf. An deren oberen Ende, weit entfernt unter der
riesigen Gewölbekuppel, sah sie einen schwachen Lichtschimmer, Tageslicht vielleicht, eine
Tür, die sie wieder ins Freie bringen würde. Entschlossen stieg Kajida diesem milden Licht
entgegen.
Und stellte zu ihrem größten Erstaunen fest, dass die Stufen unter ihren Füßen sich
verändert hatten. Mit jedem Schritt wurden sie flacher und flacher, dabei aber nicht
breiter. Die Treppe verwandelte sich und wurde allmählich zu einer Art Rampe. Eine sehr
steile Rampe.
Unbehagen ergriff Kajida, als sie feststellte, dass die nächsten Schritte ihr kaum noch
Halt boten. Die Prinzessin neigte sich vor und versuchte, zu klettern indem sie sich auf
allen Vieren vorwärts bewegte. Doch auch das war bald nicht mehr möglich, zu schräg, zu
rutschig wurde die steinerne Rampe. Und das Licht war noch sehr weit fort.
Kajida erschrak, als ihr klar wurde, dass sie sich nicht mehr vor noch zurück bewegen
konnte und sich auch nicht lange würde dort halten können, wo sie gerade war.
„Bei den Mächten“, murmelte sie gerade noch tonlos, bevor ihre Knie abglitten und sie,
erschreckt kreischend und sinnlos mit Händen und Fingernägeln Halt auf der glatten
Oberfläche heischend, begann dem Abgrund entgegen zu rutschen wie auf einer vereisten
Schlinderbahn.
m nächsten Morgen hatte die Prinzessin ihren sonderbaren Traum fast schon
wieder vergessen. Sie entsann sich dunkel, dass sie in den frühen
Morgenstunden – der Hahn hatte noch nicht gekräht, aber der Himmel war
schon grau – irritiert erwacht zu sein. Aber das seltsame Abenteuer war ihren
Gedanken beinahe augenblicklich entwichen, und nun erinnerte sie sich nur
noch an ihre Wanderung durch die Fragmente der Burgen, aber nicht mehr an die
monströse Treppe und das Wispern im Dunklen.
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LaMaga: Kajidas Träume. Eine Geschichte aus den Schattenherz-Chroniken
Der Tag war schön, nicht zu kühl, und die Sonne kam immer wieder zwischen den hohen
Wolken hervor. Es würde wohl in absehbarer Zeit nicht regnen, so dass es eine Schande
gewesen wäre, sich in der Burg, womöglich noch im Schulzimmer aufzuhalten.
Kajida spielte mit Cùya. Sie hatte aus der Küche eine Kaninchenkeule stibitzt und
benutzte sie als Luder, das sie an einer Leine um sich schwang und ihre helle Freude daran
hatte, wenn der Falke in atemberaubenden Sturzflug auf den köstlichen Köder hinab stieß
und versuchte, einen Happen Fleisch zu ergattern. Das Burggesinde, das in der Nähe zu tun
hatte, beobachtete die junge Herrscherin und ihren Jagdgefährten in sicherem Abstand.
Der große rotbraune Falke fand diesen Zeitvertreib eine Zeit lang wohl ebenfalls
kurzweilig, so lange, bis es ihm gelang, mit beiden Fängen das Fleisch zu ergreifen.
„Cùya, auf, du bist zu schwer!“, lachte die Prinzessin und riss an der Schnur, woraufhin
der Vogel samt der Keule über den gepflasterten Burghof hüpfte.
Meins meins meins!, konterte der Falke. Hergeben!
„Wirst du wohl loslassen?“, schimpfte die Prinzessin belustigt.
Der Terzel flatterte empört und verbiss sich nachdrücklich auch noch mit dem Schnabel
in seine Beute, kugelte damit durch Stroh und Staub.
Meins!
Einen Augenblick zerrten die Prinzessin und der Falke an verschiedenen Enden der Leine,
bis es dem Mädchen letztlich doch gelang, dem Vogel das Fleisch aus den Fängen zu reißen.
Dabei geriet ihr die Schnur mit dem Fleischbatzen außer Kontrolle, schleuderte herum und
traf jäh auf Widerstand.
Das Burggesinde, eben noch voller Interesse, beeilte sich, seinen Geschäften
nachzugehen. Graf Emberbey pflückte mit spitzen Fingern blutige Fetzen, die sich aus der
reichlich zerfleischten Keule gelöst hatten, von seinem Mantel. Der Knochen lag zu seinen
Füßen, und die Schnur daran ließ keinen Zweifel daran, wer ihm dieses Malheur bereitet
hatte.
Kajida versuchte gar nicht, zu leugnen. Cùya zog es vor, mit raschelndem Flügelschlag
auf einen Dachvorsprung zu flüchten.
„Majestät“, fragte Osse beiläufig, „bestimmt habt Ihr eine Erklärung für diesen Vorfall?“
„Ja“, sagte Kajida rasch. „Cùya ist schuld.“
„Das ist keine Erklärung, sondern eine Denunziation“, erwiderte der Minister höflich.
Kajida zuckte die Achseln. „Ich konnte ja nicht ahnen, dass du so plötzlich zur Tür
heraus kommst, Osse...“
„Wieso tummelt Ihr Euch mit Eurem Getier nicht draußen vor der Burg auf der Planwiese
oder am Strand, wie es der Falkner auch tut?“
Kajida lächelte unbewegt und streckte ihren Arm zu dem Vogel empor. „Eine gute Idee.
Komm, Cùya, wir gehen vors Tor.“
Der Minister hob die Hand. Obwohl seine Miene immer noch regungslos blieb, duldeten
die grauen Augen hinter den Brillengläsern nun keinen Widerspruch.
„Auf ein Wort, meine großmütige Herrin. Ich habe mit Euch zu reden!“
Kajida schaute sich hilfesuchend um, aber ihre Untertanen, Knechte, Mägde und sogar
die Burgwachen gaben sich große Mühe, nicht gerade jetzt in ihre Richtung zu schauen.
„Aber...“
„Lasst dem Vogel seine wohlverdiente Beute und begleitet mich in die Burg. Ich habe
etwas Dringliches mit Euch zu besprechen und bin froh, Euch so schnell gefunden zu
haben.“
Kajida seufzte und angelte dann das Luder zu sich heran. Cùya tänzelte aufgeregt auf
dem Dach hin und her und krächzte triumphierend. Dann flog er zu Boden, hieb seinen
Schnabel ins Fleisch und begann, es über den Hof an einen Ort zu zerren, wo er es in Ruhe
verspeisen konnte.
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LaMaga: Kajidas Träume. Eine Geschichte aus den Schattenherz-Chroniken
„Mögen die Katzen es dir streitig machen, du wankelmütiges Federvieh“, zischte die
Prinzessin und schritt würdevoll voran, an dem Minister vorbei in die Burg.
Sie schickte sich gerade an, die Treppe zu betreten, die zum Schulzimmer hinauf führte,
doch Graf Emberbey hielt sie zurück. „Hier entlang, Majestät.“
Sie wandte sich zu ihm um, und er bedeutete ihr mit einer einladenden Geste, ihm in die
andere Richtung, in den Wohntrakt der Burg zu folgen, wo die höher gestellten Mitglieder
des königlichen Haushaltes ihre Stuben hatten. Kajida wunderte sich, als sie bemerkte, dass
er sie zu seinem privaten Gemach führte.
„Wolltest du mich nicht zum Unterricht holen?“, fragte die Prinzessin.
„Tretet ein. Und nein, der Unterricht kann warten. Es geht um Dringlicheres. Setzt
Euch.“
„Dringlicher als die Lektionen über die längst vergangenen Zeiten?“ Nun war die
Prinzessin ernsthaft erstaunt. Und ihre Neugier war geweckt. Sie sah sich nach einem Sessel
um, fand in der bescheiden eingerichteten Kammer des Ministers aber nur zwei schlichte
Stühle vor, die an einem Tisch standen, auf dem eine Reihe von Büchern akkurat
aufgeschichtete Stapel bildeten; alte Folianten ebenso wie frisch gedruckte Bände. Ein
Regal mit Osses privater Bibliothek beherrschte den Raum, in dem sich neben Bettstatt und
Kleidertruhe sonst keine Möbel fanden. Da der Minister sich praktisch nur zum Schlafen in
seine Kammer zurückzog und die Tage abwechselnd in seiner Kanzlei, dem Thronsaal und
dem Schulzimmer aufhielt, schien ihm der prunklose Raum zu genügen.
Graf Emberbey blieb geduldig in der Tür stehen, bis Kajida einen Stuhl mit einem Kissen
von seinem Bett gepolstert hatte und sich betont königlich hinein lümmelte. Dann warf er
einen prüfenden Blick in den Korridor, bevor er die Tür hinter sich zu zog.
„Du machst es aber geheimnisvoll“, sagte Kajida und versuchte zu entziffern, was Osse
in seiner knappen Freizeit an Lektüre bevorzugte.
„Ein Bote brachte eine Nachricht von Eurer Mutter der Königin“, sagte der Minister. „Es
scheint so, als würde sich ihre Rückkehr ein wenig... verzögern.“
Kajida richtete sich alarmiert auf. „Ist etwas passiert? Ist ihnen etwas zugestoßen?“
„Aber nein. Beruhigt Euch. Es ist alles in bester Ordnung. Es scheint nur so, als sei es
Eurer Mutter auf dem Rückweg von Euren Großeltern in den Sinn gekommen, dem Altgrafen
Wayreth Althopian einen Besuch abzustatten, nachdem sie ohnehin bereits mit dem Tross
unterwegs war.“
„Dem Vater von Oheim Merrit? Aber Cùya sagte doch...“
Osse hob fragend den Blick.
„Ach... nichts“, murmelte Kajida.
„Jedenfalls ist mit einigen Tagen weiterer Abwesenheit der Königin zu rechnen. Das
bringt wiederum mich in einige Verlegenheit, Majestät, denn es gibt Dinge, die einer
Entscheidung bedürfen und keinen Aufschub dulden.“
Die Prinzessin wartete, und der Minister sah ihr aufmerksam in die ungeduldigen grünen
Augen.
„Ja – und?“, fragte das junge Mädchen schließlich.
Graf Emberbey seufzte.
„Majestät, ich bemühe mich, die Staatsgeschäfte im Sinne Eurer Mutter zu deren vollster
Zufriedenheit zu lenken, wenn mir das Amt übertragen ist, und ich glaube annehmen zu
dürfen, dass mir das bisher, ohne Tadel daran zu lassen, gelungen ist. Aber es geht hier um
eine Angelegenheit, in der meine Entscheidungsbefugnis nicht greift.“
Kajida ließ die Schultern sinken. Sie begann zu ahnen, worauf er hinaus wollen mochte.
„Hat das nicht Zeit, bis Mutter wieder da ist? Ich bin selbst doch viel weniger geeignet,
wichtige Entscheidungen zu treffen als du.“
„Was redet Ihr da? Ihr seid die Prinzessin!“
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„Ja, aber du triffst den ganzen Tag wichtige Entscheidungen, und Mutter auch. Ich
verstehe nichts von Staatsgeschäften.“
Der Minister lächelte flüchtig. „Irgendwann“, sagte er, „stünde es Euch gut an, damit
anzufangen.“
Kajida seufzte. „Worum geht es denn überhaupt?“
Graf Emberbey schritt zu ihr hinüber an den Tisch, machte jedoch keine Anstalten, sich
in Gegenwart seiner Herrin zu setzen. Stattdessen nahm er im Vorbeigehen ein Pergament
aus dem Regal und breitete es vor ihr aus. Kajida erkannte eine Skizze, die mit den
Bautätigkeiten an der neuen Werft zu tun haben durfte.
„Das ist ein Grundriss der neuen Hafenanlage, die Eure Mutter errichten lässt“,
bestätigte Osse ihre Vermutung. „Interessant für diese spezielle Sache ist aber nicht der
Bau, sondern der Boden. Diese Linien hier, “ er wies mit dem Finger darauf, „markieren
den Grund, der für das Gelände beansprucht wird.“
„Oh.“ Kajida ahnte. „Verlieren die Bauern dadurch Ackerland?“
„Nein. Und das solltet Ihr wissen, wenn Ihr das Gelände in all den Jahren aufmerksam
betrachtet hättet. Es sind sehr sandige Salzwiesen, die kaum als Weidefläche für Ziegen
getaugt haben. Schlechter Boden, der die Leute an dieser Stelle des Strandes kaum
ernähren konnte.“
Kajida wartete verständnislos.
„Ich spüre“, sagte der Minister, „dass Ihr Euch fragt, ob die Werft den Bauern in
irgendeiner Form zu Schaden gereicht. Seid unbesorgt. Eure Mutter, Herr Merrit und meine
Wenigkeit haben zusammen mit dem Dorfsprecher, den Dorfältesten und den Anwohnern
des Gebietes neue Ackergrenzen verhandelt. Wenn es euch interessiert, zeige ich Euch
einen älteren Gebietsplan mit den ursprünglichen Grenzen, und...“
„Es interessiert mich nicht. Wenn du sagst, es sei in Ordnung, dann reicht mir das.“
Graf Emberbey schüttelte tadelnd den Kopf. „Majestät, Euer Vertrauen ehrt mich. Aber
was, wenn ich nicht der redliche Mann wäre, der ich bin, sondern im Sinne hätte, Euch aus
niederem Ansinnen mit falschen Auskünften zu verwirren?“
Kajida lehnte sich nachdenklich zurück. „Würdest du das wagen?“
„Natürlich nicht. Nicht vor Euch und nicht vor meinem Herzen. Aber Ihr werdet eines
Tages noch die Erfahrung machen, dass nicht allen Menschen zu trauen ist.“
„Aber wenn es nicht um die Weidegrenzen geht, worum machst du dann so viel
Aufhebens?“
„Um den großen Schatzfund, der auf dem ehemaligen Weidegrund eines der Bauern
gemacht wurde.“
Die Prinzessin richtete sich kerzengrade auf. „Ein Schatzfund? Wie aufregend! Wieso
weiß ich nichts davon?“, fragte sie gespannt.
„Weil wir die Sache bislang geheim halten konnten. Aus eben dem Grunde,
wessenthalben ich Euch hergebeten habe.“
„Ein richtiger Schatz? So mit Juwelen und Schmuck und kostbarem Gerät aus Gold?“
Osse seufzte. „Nein, Majestät. Etwas bescheidener als das, was Kapitän Drabèk im Laufe
seiner Kaperfahrten an Bord gebracht zu haben behauptet. Es ist ein Topf mit
Silbermünzen.“
„Ein Kochkessel?“
„Ein kleiner Tiegel. So wie eine Hausfrau ihn für Schmalz verwendet.“
Kajida entspannte sich etwas. Das klang schon weniger spannend.
„Und was ist mit diesem Silberschmalztopf?“
„Er war genau hier, “ der Minister tippte auf das Pergament, „im Erdboden vergraben.
Und die Frage, die es nun mit königlicher Weisheit zu erörtern gilt, Majestät, ist folgende:
Wo kommt der Schatz her und wem gehört er?“
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„Na, ich würde doch annehmen, dem, der ihn gefunden hat, oder?“
„Majestät, würde ich in dieser Burg Eure Krone – die Ihr ohnehin beschämend selten auf
dem Haupte tragt – irgendwo liegen finden, könnte ich mir anmaßen, sie behalten zu
wollen?“
„Natürlich nicht“, antwortete Kajida errötend, denn sie hatte ihre Krone tatsächlich seit
einigen Tagen verlegt, aber auch nicht die Lust gehabt, ausdauernd danach in ihrem
Gemach zu suchen.
„Nun, es wurde etwas auf dem Grund gefunden, der Eurer königlichen Familie gehört.“
„Ja, das mag sein, aber dennoch: Wenn du nun in der Burg etwas verlierst, was dir
gehört, dann wird es doch nicht sofort Eigentum der Krone. Oder?“
„Nein. Aber ganz sicherlich auch nicht das Eigentum des Finders.“
Die Prinzessin dachte nach. „Es wurde gefunden, nachdem die Bauern die Weide
aufgegeben hatten, nicht wahr?“
Der Minister nickte.
„Aber vielleicht gehört der Schatz ja ihnen. Ich meine... vielleicht haben die Bauern das
Silbergeld gespart und aus irgendeinem Grund vergraben.“
„Das ist unwahrscheinlich. Zum einen hätten sie sicherlich ihre Ersparnisse mit sich
genommen, als sie auf einen anderen Grund wechselten. Zum anderen – hätten sie von dem
Schatz gewusst, weshalb hätten sie sich so lange Zeit an das karge bisschen Erde klammern
sollen, statt sich anderswo ein neues Leben zu suchen? Die Strand-Leute sind keine
Leibeigenen und können gehen, wohin es ihnen beliebt.“
„Dann meinst du, die Bauern hätten gar nichts von dem Geld gewusst?“
„Ich bin mir dessen sehr sicher.“
Kajida überlegte. „Vielleicht ist es Geld, das die Vorväter dieser Familie vergraben
haben. Das wäre dann ein unverhofftes Erbe, oder?“
„Das wird sich nicht klären lassen, Majestät, doch in einem habt ihr Recht: Es sind recht
alte Münzen, und es sieht so aus, als lägen sie schon weit mehr als eine Generation im
Boden.“
„Das ist aber ein vertracktes Problem!“, rief die Prinzessin aus.
„Es fügt sich noch eine Kleinigkeit an, Majestät. Meiner Meinung nach sieht der Schatz
nämlich nicht nach dem sparsamen Leben redlicher Bauersleute aus. Ganz abgesehen von
der Unwahrscheinlichkeit, wie Bauern mit schlechtem Boden so viel Geld hätten anhäufen
sollen – stimmt Ihr mir zu, wenn ich die Vorstellung hätte, ein solches Vermögen müsse
allerlei verschiedene Münzen und Metalle umfassen? Geringe und werte, Kupfer, Silber,
vielleicht auch die eine oder andere Goldmünze, herbeigebracht in der Zeit aus allen
möglichen Grafschaften?“
„Dem ist nicht so?“
„Nein. Es sind ausnahmslos Silbermünzen des gleichen Wertes und derselben Prägestätte.
Und desselben Münzjahres.“
Kajidas Interesse flammte wieder auf. „Das ist sehr seltsam.“
„Die einzige Gelegenheit, bei der ein Schatz in solcher Währung zugleich zusammen
käme“, sagte Osse, „wäre der jährliche Münzschlag in einer gräflichen Prägestätte. Bei dem
dann wohl ein kleiner Tiegel voller Münzen einen wunderlichen Weg gefunden hat.“
„Diebesgut“, nickte Kajida.
„Nicht unbedingt“, entgegnete der Minister. „Denn ein solcher Diebstahl wäre nicht
unbemerkt geblieben und sicherlich in den Chroniken vermerkt worden, selbst wenn der
Dieb mit der Beute entkommen wäre.“
„Vielleicht hatte der Chronist einen Grund, es zu verschweigen“, überlegte die
Prinzessin. „Vielleicht, weil er mit dem Dieb unter einer Decke steckte. Was für Münzen
sind es eigentlich?“
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Der Minister griff umständlich in seine Börse und legte ein glänzendes Silberstück vor
seiner Herrin nieder. „Das ist eine davon.“
Kajida nahm die Münze in die Hand und begutachtete sie stirnrunzelnd. „Nun willst du
mich zum Narren halten, Osse!“
„Ich würde mir solches nie in den Sinn kommen lassen.“
„Aber die stammt aus der Münzschlägerei der Herren von Emberbey!“
„Das ist zutreffend.“
„Und deine Vorväter haben sich einen ganzen Topf davon einfach so unter dem
Prägehammer weg klauen lassen? Das...“
„Eure Wortwahl, Majestät!“, tadelte der Minister.
Sie seufzte. „Mir schwirren die Gedanken, Osse. Was genau habe ich zu entscheiden?“
„Nun, da es um einen nicht unbeträchtliche, wenn auch nicht so immensen Schatz geht,
wie Ihr im ersten Moment gedacht haben mögt, seid Ihr es, die über den Besitz urteilen
muss. Das Geld lag auf dem Grund eurer Mutter, ist möglicherweise unwissend
zurückgelassenes Erbe der Bauern, wurde von einem auswärtigen Arbeiter gefunden und
stammt sehr wahrscheinlich aus einem Delikt an den Herren von Emberbey.“
„Wenn sich ein Verbrechen beweisen ließe“, fragte Kajida vorsichtig, „und die Vorväter
der Bauern daran beteiligt waren, könnte man die Leute dafür noch zur Verantwortung
ziehen?“
„Aber nein. Seid unbesorgt. Wie immer Ihr Euch entscheidet, Ihr tastet niemandes
Unversehrtheit damit an.“ Nun lächelte der Minister wieder. „Das Recht des Straferbes, bei
dem die Kinder für die Missetaten der Eltern zu sühnen haben, ist seit langer Zeit
abgeschafft. Was zu den großen Leistungen von König Benasrù gehörte, der das Gesetz in
seinen alten Tagen reformierte und den anderen Königen zum Vorbild wurde. Aber
natürlich habt Ihr bereits davon gelesen.“
„Ah... natürlich.“
„Dann ist es ja gut. Ich danke Euch für die Aufmerksamkeit, Majestät, und wünsche Euch
eine glückliche Erleuchtung in Eurer Urteilsfindung.“
„Wer weiß eigentlich von dem ganzen Vorfall?“
„Nur der Tagelöhner, der den glücklichen Spatenstich tat, der Meister der Bauhütte und
meine Wenigkeit, Majestät. Wir haben vorerst Schweigen über den Fund gelegt.“
„Wie geht das?“
Graf Emberbey rollte das Pergament zusammen. „Ich habe beiden, dem Arbeiter und
seinem Vorgesetzten eine Belohnung in Aussicht gestellt, so sich die Kunde von dem Fund
nicht auf wunderliche Weise unter den Strand-Leuten weiter verbreitet, bis Ihr darüber
entschieden habt. Ganz unabhängig davon, wem Ihr am Ende das Geld zusprecht. Ich wollte
einfach nicht riskieren, dass es allzu große Unruhe und womöglich deswegen gibt.“
Sie erhob sich. „Du bist sehr umsichtig, Osse. Ich werde mir die Sache durch den Kopf
gehen lassen und dich meine Entscheidung wissen lassen.“
Der Minister verneigte sich und öffnete seiner Herrin die Tür. Kajida hatte es eilig, sich
zu entfernen. Die Silbermünze hatte sie eingesteckt.
Osse Emberbey schaute ihr nach, wie sie über den Flur davon eilte und war zufrieden.
Genugtuung.
in Silberschatz? Hier, nahe der Burg?“ Drabèks Augen begannen zu leuchten.
„Erzählt mir mehr davon!“
„Das ist aber ein Sinneswandel, nachdem du mich eben gar nicht an Bord
lassen wolltest.“ Kajida saß auf einer Taurolle, feierlich wie auf dem Thron
im königlichen Saal, und betrachtete den Piraten mit genüsslicher
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Die Silbergischt lag ein gutes Stück vor der Küste vor Anker und wiegte sich sanft auf den
ruhigen Wellen der Ebbe. Die Prinzessin hatte die Flucht des Piraten auf das offene Meer
mit Unmut zur Kenntnis genommen und sich kurzerhand von Svegars Vater, dem Fischer
Majek hinüber rudern lassen. Der Mann, der zugleich Dorfsprecher und Gefährte von Isan,
einer guten Freundin der Königin war, hatte sich beeilt, dem Willen seiner Prinzessin
nachzukommen.
Drabèk, dem das letzte Gespräch mit dem jungen Mädchen noch allzu gut in Erinnerung
war, hatte in einem halbherzigen Versuch, sich selbst als Hausherr an Bord des Schiffes
hervorzutun, sich ungefähr zehn Atemzüge lang geziert, bis er der Prinzessin ein Fallreep
zugeworfen hatte. Daraufhin hatte Kajida Majek die Rückkehr ins Dorf befohlen – somit
hatte sich die Prinzessin wohl wissend auf dem kleinen Piratenschiff festgesetzt, zu Drabèks
Entsetzen wohl in der Absicht, längere Zeit zu verweilen. Doch die Geschichte über den
Silbertopf hatte sein Interesse erweckt – gab es für einen Piraten ein interessanteres Thema
als einen rätselhaften Schatz?
Kajida genoss es, den eigenwilligen Kapitän in ihren Bann geschlagen zu haben und
berichtete, was sie zuvor von Graf Emberbey erfahren hatte. Auch Svegar hörte
aufmerksam zu.
„Dann ist das Silber also auf jeden Fall irgendwie von der Prägestätte der Emberbeys
verschwunden, ohne dass jemand es bemerkt hat? Mann, das ist ja eine Geschichte!“, rief
er aus, als die Prinzessin geendet hatte.
„Ja, nicht wahr? Ich hätte nicht gedacht, dass einem Herrn von Emberbey entgehen
würde, wenn so viel Geld einfach so verschwindet.“
„Vielleicht ist es gar nicht so einfach verschwunden“, sagte Drabèk. „Vielleicht wurden
mehr Münzen geprägt als das Gesetz es vorsah.“
„Das ist schwer möglich“, widersprach die Prinzessin. „Die Grafschaften bekommen von
ihren Königen einen festgelegten Satz Silber, aus dem sie Münzen schlagen dürfen. Und
dabei kommt nun einmal nur eine bestimmte Menge an Münzstücken heraus.“
„Vielleicht hat jemand für mehr Silber gesorgt.“ Svegar schnippte aufgeregt mit den
Fingern. „Einen alten Leuchter oder Besteck eingeschmolzen oder so.“
„Was würde das denn für einen Sinn machen?“ Kajida schüttelte den Kopf. „Ob jemand
nun geklaute Silberlöffel oder Münzen hat, dürfte für den Schatz doch egal sein!“
„Nun“, gab Drabèk ernsthaft zu bedenken, „es ist wesentlich unauffälliger, als eine Ware
mit silbernen Löffeln zu bezahlen.“
„Hast du Osse denn gefragt, ob in den Familienchroniken jemals der Diebstahl von
Silbergerät vermerkt wurde?“
„Wenn dem so wäre, hätte er das bestimmt selbst schon bedacht. Die Grafen von
Emberbey sind doch nicht blöd.“
„Trotzdem ist Svegars Idee gut.“ Drabèk, der bislang am Mastbaum gelehnt hatte, kam
näher. „Denn zum einen brauchen die geraubten Silberlöffel ja nicht aus dem Haushalt der
Grafen verschwunden zu sein. Vielleicht hat jemand die Gelegenheit genutzt, aus
Diebesgut von wer weiß woher saubere Münzen zu machen. Dazu hätte es eines Komplizen
in der Prägestätte bedurft.“
„Was für ein Aufwand.“ Kajida schüttelte den Kopf. „Ich weiß kaum, worüber ich mehr
staunen soll – über die Mühe des Diebes oder die Leichtigkeit, mit der dir solche
Ungeheuerlichkeiten in den Sinn kommen.“
Drabèk grinste. „Nun, das mag einer der Vorzüge sein, ein Seeräuber zu sein – ein
gewisses Verständnis für menschlichen Trickreichtum.“
Svegar, der das Gespräch in eine heikle Richtung abgleiten sah, warf ein: „Aber nehmen
wir an, es ist nirgendwo Silber verschwunden, weder bei den Grafen noch anderswo.“
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„Dann“, sagte Drabèk, „fällt mir nur noch ein, dass weitere Münzen aus einem
schlechten Metall geprägt wurden, die den Grafen erfolgreich untergeschoben wurden.“
„Geht das denn?“, staunte Kajida.
„Sicher. Allerdings würde man auch hier einen Komplizen in der Münzstätte vermuten
müssen. Ohne geht es nicht.“
Kajida dachte darüber nach und schüttelte dann den Kopf. „Ich glaube das nicht. Ich
meine – wir reden vom Haus Emberbey, dem ehrenwertesten Grafengeschlecht an der
Küste. Denen wären schlechte Münzen doch aufgefallen! Osse bemerkt doch jede
Schummelei, bevor ich überhaupt im Raum bin!“
„Das stimmt wohl. So misstrauisch wären sie gewesen, jede einzelne Münze
nachzuwiegen, wenn auch nur ein Zweifel bestanden hätte“, bekräftigte Svegar.
„Dann“, sagte Drabèk, „erkundigt Euch doch bei Herrn Osse, ob während der fraglichen
Prägezeit das Haus Emberbey eine größere Anschaffung getan hat. Etwas, was dafür sorgte,
dass die Münzen nicht allzu lange in der gräflichen Schatzkammer gelegen haben, so dass
die Eile beim Vertuschen half.“
Kajida dachte einen Moment darüber nach.
„Ich will ihn fragen, verkündete sie dann würdevoll. „Es ist ohnehin an der Zeit, zur Burg
zurückzukehren. Wer von euch beiden rudert mich zurück ans Ufer?“
m Abend saß Kajida nachdenklich vor ihrem Nachtmahl. Sie hatte es sich
angewöhnt, gemeinsam mit dem gesamten Burghaushalt in der großen Halle
zu speisen, aber an der großen Tafel der Hausherrin saß sie allein, da die
Königin und Merrit Althopian mit einem Großteil der Burgbesatzung unterwegs
waren.
Nur Cùya, der Falke, leistete ihr Gesellschaft. Der große Vogel hockte erwartungsvoll vor
dem Teller der Prinzessin und ließ sich von ihr mit klein geschnittenen Fleischstückchen
füttern.
Vielleicht unhungrig, vermutete der Vogel, der zu Kajidas Belustigung nuschelte, obwohl
er für diese Art von Konversation seinen mit Wildbret gefüllten Schnabel überhaupt nicht
benutzen musste. In Papierhorst gewesen, ganzen Morgen, ganze Nacht.
„Papier-Horst? Du meinst, er hat sich in der Bibliothek beschäftigt“
Cùya nickte und stibitzte einen weiteren Bissen vom Teller. Kajida ließ ihn gewähren.
„Wieso hast du gestern behauptet, Mutter und Oheim Merrit würden heute zurückkehren,
obwohl sie sich noch die Zeit lassen, um den Altgrafen Althopian zu besuchen?“
Cùya blinzelte verständnislos.
„Du weißt gar nichts davon?“
Menschen langsam, Vogel schnell, Menschen sehr langsam. Schneckenlangsam.
„Mach mir nichts vor, Federvieh. Du weißt ganz genau, wie schnell Menschen zu Pferd
reisen.“
Schneckenlangsam. Falke schwindelfrei, gurrte Cùya und versuchte, seinen Schnabel in
Kajidas Weinkelch zu tauchen. Die Prinzessin vereitelte das, indem sie den Becher an sich
riss. Weintropfen spritzten auf das rotbraune Falkengefieder.
„Und Osse würde sich eher selbst die Zunge abbeißen als mir gegenüber die Unwahrheit
zu sagen. Vielleicht hat man ihn getäuscht? Vielleicht ist etwas geschehen, und man hat
einen falschen Boten geschickt? Vielleicht ist dem Tross etwas zugestoßen?“
Cùya schwieg und putzte sich. Die Prinzessin runzelte unwillig die Stirn und erhob sich
dann energisch.
„Ich sehe nach“, beschloss sie. „Gleich morgen früh, wenn es hell wird, reite ich dem
Tross entgegen, und wenn ich keine Spur von ihnen finde, dann…“
Der Falke blinzelte mit schimmernden Augen.
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LaMaga: Kajidas Träume. Eine Geschichte aus den Schattenherz-Chroniken
„Kapitän Olgurd!“, rief Kajida in Richtung des Tisches, an dem die Mannschaft der
Burgsoldaten versammelt saß, ganze fünf Mann – die übrigen waren mit der Mutter auf die
Reise gegangen. Der Wachkapitän sprang auf und salutierte zu ihr hinüber.
„Ich benötige einen Begleiter, der morgen in der früh mit mir auf Erkundung ausgeht.
Stell mir einen deiner Männer ab. Bei Sonnenaufgang geht es los.“
„Wie Eure Hoheit wünscht,“ bestätigte der Hauptmann. Olgurd war ein älterer, beleibter
Mann, der zu Gemütlichkeit neigte, seine Männer aber gut unter Kontrolle hatte. Allerdings
fand er sich von betreten dreinschauenden Gesichtern umgeben, als Kajida den Saal
verließ, ohne ihre Mahlzeit beendet zu haben. Keiner seiner Leute riss sich darum, mit der
gebieterischen Prinzessin unterwegs zu sein.
Der Wachhauptmann seufzte. Aus seiner Tasche brachte er vier Würfel zutage.
„Esst auf“, ordnete er an. „Das sieht mir nach ein einem guten Grund für eine
Würfelpartie aus.“
ajida träumte, und es überraschte sie wenig, dass ihr neuer Traum in dieser
Nacht eine Fortsetzung dessen zu sein schien, der sie zuvor so verstört hatte.
Doch die geheimnisvolle Riesentreppe war nun fort, oder besser: Sehr weit
weg, hoch oben. Der Traum hatte sie wieder in das unendliche Gewölbe
zurück geführt, doch nun befand sie sich an dessen Grund, hoch oben über ihr
schwebte, wie von einer Riesenhand abgerissen, der untere Absatz der Treppe. Obwohl es
absolut unwahrscheinlich war, dass sie sich bei diesem Sturz nicht zumindest alle Knochen,
wenn nicht den Hals gebrochen hatte, fand sie sich unverletzt und ohne sonderliche
Verwirrung wohlbehalten auf dem blanken Boden sitzend und sah vor sich einen
gepflasterten Weg, der in die Dunkelheit führte.
In der Ferne rauschte immer noch das Wasser.
Die Prinzessin erhob sich und folgte, ohne zu zögern, dem Weg, der vor ihren Füßen wie
von Feuchtigkeit überzogen glänzte. Es war der einzige Hinweis für ein Weiterkommen, und
sie sah keinen Grund, ihm nicht nachzugehen.
Das ist ein Traum, sagte Kajida sich. Mehr noch – es ist mein Traum. Mir kann in meinem
eigenen Traum nichts zustoßen!
Als die Prinzessin den Blick erneut hob, hatte der Weg sie in einen engen Korridor hinein
geführt. Obwohl sie keine Lichtquelle ausmachen konnte, war es erstaunlich hell hier,
heller, als Lampen oder Fackeln einen Gang hätten erleuchten können, und das Licht war
ganz ruhig und gleichmäßig. Die Wände des Korridors waren erst feucht und schwarz,
wurden aber mit jedem ihrer Schritte etwas heller, schwarz zu grau zu aschfarben bis hin
zu einem unwirklichen, sauberen Weiß, fast so gleißend wie frisch gefallener Schnee. Und
dann gabelte sich der Gang, stieß rechtwinklig auf einen anderen, der in verschiedene
Richtungen weiter führte.
Kajida spähte links und rechts um die Ecke. Scheinbar endlos reichte der neue Korridor
weiter. Aber das ferne Wasser klang von links. Also folgte die Prinzessin ihren Ohren, so
lange, bis der schnurgerade Korridor schon nach wenigen Schritten wieder auf andere
Querverbindungen stieß, diesmal gleich drei an der Zahl. Strahlenförmig und endlos
fächerten sie aus.
Das Wasser war diesmal rechts deutlich zu hören. Kajida gehorchte und fand sich nach
einigen Schritten vor vier neuen Wegen.
Ein Labyrinth, dachte sie verdutzt. Was tue ich nun? Dem Wasser kann ich weiter folgen,
aber es wird immer komplizierter werden. Und wie komme ich wieder zurück?
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LaMaga: Kajidas Träume. Eine Geschichte aus den Schattenherz-Chroniken
Aber wäre es überhaupt sinnvoll, wieder zurück zur Treppe gelangen zu wollen? War es
nicht viel einfacher, zu hoffen, dass das Wasser sie irgendwohin geleitete, von wo aus sie
sich aus dem Traum befreien konnte?
Sie gab sich einen Ruck, horchte und wählte den zweiten Weg von rechts, wo in der
Ferne das Wasser murmelte und erwartete, nach wenigen Schritten auf fünf
Weggabelungen zu stoßen. Und tatsächlich: Sternförmig öffneten sich neue Korridore nach
allen Seiten, in einer Weise, das Kajida klar wurde, dass diese Korridore unmöglich in
dieser Form existieren konnten, denn nun führten sie auch nach rückwärts, wo sie die
vorherigen Gänge kreuzen mussten. Das war absurd und bestürzte das Mädchen, das sich
durch das Raunen des Wassers in eine Falle hatte locken lassen.
Ich muss hier wieder heraus, bevor ich mich zu sehr in diesem Labyrinth verstricke,
dachte sie grimmig, horchte auf das Wasser, entschied sich für den Gang schräg hinter sich
und begann, zu laufen.
Sechs Weggabelungen, nicht nur ebenerdig, sondern auch leicht abschüssig oder
ansteigend. Das Wasser war genau zu ihrer Linken und klang aufwärts. Kajida besann sich
nicht lange, stand kurz darauf vor sieben neuen Korridoren – der siebente führte von der
Mitte des Knotenpunktes steil nach unten fort. Das weiße stetige kalte Licht auf den glatten
Wänden verwirrte das Mädchen. Es fühlte sich unangenehm an, kalt und feindlich, und trieb
es gleichzeitig weiter voran.
Und als Kajida schließlich in einer Kreuzung mit sechzehn neuen Richtungen stand,
geschah etwas noch Verstörenderes – denn nun begann das Echo, ihr einen Streich zu
spielen. Das Wasser klang zugleich aus verschiedenen Richtungen. Es war unmöglich zu
sagen, woher der Klang des Wassers tatsächlich tönte.
Zugleich konnte sie nicht länger ignorieren, dass mit jedem Mal, an dem sie eine solche
verwirrende Anzahl an neuen Möglichkeiten vorfand, die Zugänge immer enger und
niedriger wurden. Wenn sie sich noch allzu lange auf dieses Spiel einließ, so dachte sie,
wären die Gänge bald zu klein für sie, um auch nur darin zu kriechen.
Kajida nahm all ihren Mut zusammen, schloss die Augen und hielt sich die Ohren zu. Sie
drehte sich einmal im Kreis, lief in den nächstbesten Gang hinein – und stand dort plötzlich
vor einer Tür.
Das war neu. Und eine unwiderstehliche Einladung, diesem neuen Weg zu folgen. Doch
die Tür hatte weder Riegel noch Klinke. Wenn überhaupt, befanden diese sich auf der
anderen Seite, was bedeutete, dass sie, Kajida ausgesperrt blieb.
„Das wollen wir doch einmal sehen“, sagte die Prinzessin, legte die Hand flach gegen die
Tür und drückte sacht dagegen…
oraufhin die Tür augenblicklich nachgab und die Prinzessin, die mit
Widerstand gerechnet hatte, hindurch purzelte.
„Aber Majestät!“, rief Graf Emberbey überrascht aus, „was macht
Ihr hier zu nachtschlafender Zeit vor der Bibliothek?“
Kajida schaute sich verwirrt um und rappelte sich dabei so lässig
auf, wie es ihr möglich war. Der Graf beeilte sich, ihr auf die Füße zu helfen.
„Das selbe könnte ich dich fragen“, fand sie jedoch schnell die Sprache wieder. „was
treibst du so spät noch bei den Büchern, Osse?“
„Ich habe gearbeitet“, antwortete der Minister. „Manche Dinge erledigen sich nicht von
selbst, müsst Ihr wissen. Und was treibt Euch dazu, wenn Ihr mir die Frage gestattet, statt
in Eurem Bett auf dem Boden vor der Tür zu weilen?“
Das hätte Kajida selbst gern gewusst. Tatsächlich hatte das Mädchen keine Ahnung, wie
sie in den Korridor vor den Amtsräumen gelangt war – und warum sie dort offenbar
eingeschlafen war.
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LaMaga: Kajidas Träume. Eine Geschichte aus den Schattenherz-Chroniken
„Cùya sagte, du seiest hier. Ich wollte mit dir reden.“
„Warum habt Ihr dann nicht einfach angeklopft? Oder seid, wie es Eurem normalen
Habitus entspricht, unbekümmert hinein gekommen?“
Die Prinzessin zuckte die Achseln und dachte fieberhaft nach. Sie erinnerte sich genau,
dass sie nach dem Essen den Saal verlassen und in ihre Kemenate gegangen war, wo sie
sogar schon praktische Gewänder für den morgendlichen Ausritt bereitgelegt hatte. Aber
davon konnte sie dem Minister nichts erzählen. Sie hatte an diesem Abend keine Lust, sich
auf dessen Einwände einzulassen. Nicht, dass sie einen davon beherzigt hätte – aber die
Diskussion konnte sie sich ebenso gut ersparen.
„Sag, Osse, “ ging sie über seine Frage hinweg, „wenn eure Hauschroniken schon nichts
von einem Silberdiebstahl wissen – gab es vielleicht eine größere Anschaffung, die in etwa
dem Gegenwert des Geldes entspricht, das im Schmalztiegel vergraben war?“
„Ihr denkt, meine Familie habe den Strand-Leuten etwas Kostspieliges abgekauft?“
„Genaugenommen meint Drabèk, jemand könne versucht haben, gefälschte Münzen
unterzuschieben.“
„Es ist wenig verwunderlich, dass ein solcher Einfall von eben diesem Ratgeber kommt.
Die Münzen sind allerdings echt. Ich habe persönlich das Gewicht überprüft.“
„Die Münzen, die auf dem Baugrund gefunden wurden, ja. Aber die können aus der
Münzstätte eigentlich nur verschwunden sein, wenn es zugleich Fälschungen gab, die der
Schatzkammer zukamen.“
„Und dort nicht lange blieben, so dass der Schwindel nicht bemerkt wurde. Ich verstehe.
– Majestät, denkt Ihr nicht auch, dass ein so hoher und erfahrener Beamter wie ein
gräflicher Schatzmeister den Unterschied zwischen einer echten und einer gefälschten
Münze vom bloßen Augenschein her erkannt hätte?“
„Hat er vielleicht auch. Aber das heißt doch nicht, dass er dazu etwas gesagt haben
muss.“
„Ihr verdächtigt einen der gräflichen Schatzmeister?“
„Zumindest als Mitwisser.“
Osse trat einen Schritt weit in die Bibliothek zurück. „Tretet ein, Majestät. Manche
Dinge sollten besser nicht zwischen Tür und Angel besprochen werden.“
Kajida trat ein. Die Bibliothek der Strand-Burg war nicht so beeindruckend wie der
Lesesaal der Großkönigsburg in der Ebene; dafür war der Raum vollgestellt mit Regalen, in
denen sich Bücher und Pergamente stapelten, bei einigen der Stellagen derart
abenteuerlich, dass sich die Bretter bereits zur Seiten neigten. Nahe dem Fester stand das
Schreibpult, an dem Osse zu arbeiten pflegte, doch die einzige Beleuchtung im Raum war
ein Öllicht in einer Glaslaterne, die auf einem kleinen Tisch in einer Ecke stand.
Normalerweise diente der Tisch zur Ablage von Pergamenten; nun aber befand sich eine
halb geleerte Karaffe mit weißen Wein dort, flankiert von einem gläsernen Kelch.
Kajida runzelte die Stirn. „Du schließt dich mit Wein hier ein, statt uns beim Abendessen
Gesellschaft zu leisten?“
Der Minister rückte seiner Herrin einen der beiden bereit stehenden Stühle zurecht. „So
manches alte Buch genießt sich ebenso wie ein gutes Abendessen, Majestät.“
„Und was liest du hier mitten in der Nacht so Köstliches?“
„Darf ich meinerseits Euch fragen, wie weit Ihr mit Eurer Lektüre gekommen seid?“
Kajida seufzte und nahm sich den Becher. „Reden wir lieber über den Silberschatz. Und
setz dich. Ich mag nicht dauernd zu dir aufsehen müssen.“
„Danke.“ Osse ließ sich auf dem zweiten Stuhl nieder. „Nun, Majestät, es ist in der Tat
so, dass im selben Jahr der Münzprägung der fraglichen Münzen in der Grafschaft Emberbey
diverse größere Anschaffungen getätigt wurden. Die meisten im Zusammenhang mit
kriegerischen Aktivitäten.“
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LaMaga: Kajidas Träume. Eine Geschichte aus den Schattenherz-Chroniken
Die Prinzessin trank und schaute aufmerksam über den Becherrand zu ihrem Lehrer
hinüber. Ihr war bekannt, dass die Ahnherren des Ministers tapfere und ehrenvolle Krieger
gewesen waren, die sich vornehmlich im Kampf gegen die Küstenpiraten einen Namen
gemacht hatten. Dass Osse einem so streitbaren Haus entstammte, mochte man beim
Anblick des hageren, stillen Mannes kaum erwarten.
„Und? Was habt ihr gekauft?“
„Meine Ahnen mussten sich in jenem Jahr gegen wiederholte Angriffe seitens des
Königshauses vom Strand erwehren. Es ging, neben Sold und kleinerem Material unter
anderem um Reparaturen an einem Schiff.“
Kajida stellte den Becher heftig ab. „Meine Vorfahren haben gegen deine Vorfahren
gekämpft?“
„Eine unschöne Episode in der Geschichte derer von Emberbey, die zum Glück keinen
bleibenden Schaden in der Vasallenschaft meiner Leute über die Generationen hinaus
verursachte.“
„Worum ging es?“
„Ich glaube, König Benasrù erwähnt die Fehde in einer seiner Schilderungen. Ich hatte
gehofft, dass die Geschichte Euer Interesse erweckt und Ihr Rückfragen an mich stellt.“
„Ich… ich bin noch nicht an diese Stelle gelangt.“
„Bedauerlich. Sie kommt im vorderen Drittel des Werkes zur Sprache, und es ging um
eine Frau. Um eine Königstochter.“
Die Prinzessin war mit einem Mal hell aufmerksam. „Erzähl!“
„Mit Verlaub, Majestät, ich sehe den Zusammenhang zwischen der fraglos tragischen
Geschichte der Prinzessin Ingola von den Westlichen Inseln und dem mysteriösen
Silberschatz nicht.“
„Ich bin mir sicher, dass es einen Zusammenhang gibt! Das kann kein Zufall sein!“
„Vielleicht insoweit nicht, dass mein Ahnherr Thorgar Emberbey in jenen Tagen
womöglich zu viele Sorgen hatte, um seinen Münzmeister ausreichend im Auge zu
behalten.“
„War das nicht der, der mit dem Katapult ein Schiff weit draußen vor der Bucht
abgeschossen hat?“
„Mit einem einzigen Schuss, ganz richtig. Doch das ist eine andere Geschichte, von der in
anderen Erzählungen berichtet wird.“
Etwas enttäuscht darüber, dass Osse sich nicht auf weit spannendere Themen einlassen
wollte, leerte Kajida ihren Becher und hielt ihn dem Grafen hin. Osse hob die Brauen,
schenkte ihr jedoch ohne Kommentar nach.
„Demnach ist es also nicht ausgeschlossen, dass man deinem Ahnherrn, der wegen dieser
schönen Prinzessin abgelenkt war, gefälschtes Geld untergeschoben hat?“
„Nun, wenn Ihr die Idee der Falschmünzerei weiter verfolgen wollt… ja, ich gebe zu,
dass mein im Übrigen äußerst ehrenhafter und ruhmreicher Ahnherr mit seiner
Aufmerksamkeit anderenorts gewesen sein könnte als bei seinem Haushalt.“
„Dann ist das Rätsel der Silbermünzen wohl gelöst – sie sind indirekt Beute aus einem
Verbrechen.“
Der Minister hob die Brauen. „Indirekt?“
„Nun ja, wer immer das echte Geld aus eurer Münze entwendet hat, hat es später auf
dem Grund der Bauern vergraben und ist aus irgendeinem Grund nicht dazu gekommen, es
wieder an sich zu nehmen.“
„Möglich“, stimmte Osse zu.
„Es ist nicht anzunehmen, dass Strand-Leute in irgendwelche dunklen Geschäfte mit
hohen Beamten des Hauses Emberbey verwickelt waren.“
„Dem stimme ich zu – obwohl es sich natürlich nicht zur Gänze ausschließen lässt.“
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LaMaga: Kajidas Träume. Eine Geschichte aus den Schattenherz-Chroniken
„Aber Osse! Für meine Untertanen lege ich beide Hände ins Feuer!“
„Für Eure Untertanen, Majestät. Über die Menschen, die hier vor mehreren Generationen
gewirkt haben, dürfte selbst Euch solches Vertrauen schwer fallen.“
Kajida trank. Der Wein war ausgezeichnet. Es erstaunte sie, dass der sonst so
enthaltsame Minister sich offensichtlich eine Leckerei aus dem königlichen Weinkeller
gegönnt hatte. Das stand ihm zwar durchaus zu, entsprach aber so gar nicht seinen
Gewohnheiten. In der Tat, Osse verhielt sich ziemlich sonderbar.
„Ich gebe aber zu, eine Beteiligung von einfachen Bauern aus diesem Königreich bei
einer so raffiniert eingefädelten Untat halte auch ich für recht weit hergeholt. Was hat
nach Eurem königlichen Entschluss mit dem Geld zu geschehen?“
Kajida zuckte die Achseln. „Wir teilen es einfach in vier gleiche Teile. Einen für die
Krone, auf deren Land es gefunden wurde. Eines für die Bauern, deren Land es ursprünglich
war - sagen wir, als Finderlohn, denn offensichtlich hat der Dieb es dort in der Erde
verloren und gelassen. Und das dritte Viertel geht zurück an das Haus Emberbey. Du magst
selbst entscheiden, ob du es zu deinem persönlichen Gebrauch verwenden willst oder an
deinen Vater zurück gibst.“
„Das ist sehr großzügig, Majestät. Ich werde es, mit Eurer Erlaubnis, dem Schatzmeister
zur Verwahrung geben, bis meine Schwester Gebrauch davon machen will.“
Kajida winkte ab. „Der Finder des Schatzes, der Tagelöhner, bekommt den vierten Teil.
Schade nur, dass wir nicht mehr ergründen werden, wie die echten Geldstücke
abhandenkamen. Oder berichten eure Chroniken von der überstürzten Abreise des
Münzmeisters oder einem seiner Gehilfen zur fraglichen Zeit?“
„Nicht direkt. Aber das Totenregister ist ziemlich umfangreich zu jener Zeit. Krieg,
Majestät. Es mag gut sein, dass der Übeltäter schlicht nicht lange genug mehr lebte, um
seine Beute zu bergen.“
„Vortrefflich.“
„Wie bitte?“
„Dass niemand mehr belangt werden kann, das ist vortrefflich, Osse. Ich hasse
Gerichtsstunden.“
Ein Lächeln zuckte über Osses Mundwinkel, Kajida sah es, dachte sich aber nichts dabei.
„Dann ist der Fall damit abgeschlossen?“
„Mir scheint so. Ihr habt als Herrscherin gut und besonnen gehandelt, Euch trefflichen
Rat gesucht und die richtigen Schlüsse gezogen.“
Kajida war zufrieden mit dem Lob. „Dann will ich dich nicht mehr länger aufhalten bei
deinen Amtsgeschäften, Osse.“ Sie erhob sich. „Gute Nacht.“
Der Minister verneigte sich und öffnete ihr die Tür. „Gute Nacht, Majestät. Ruht Euch gut
aus, ich habe morgen einige schwierige Lehrstücke für Euch vorbereitet. Wobei mir einfällt
– zu den Handelspartnern meiner Ahnherren zählte übrigens auch der Großkönig Benasrù.“
Kajida, die schon halb den Raum verlassen hatte, wandte sich fragend um. „Benasrù?
Wieso handelte dein Haus mit dem Großkönig vom Lebendigen Tal und nicht mit dem
Strand-König?“
„Der zur nämlichen Zeit welchen Namen trug, Majestät?“
„Der… das war…“ Sie errötete. Das war eine Fangfrage.
„Athgey, Majestät, König Athgey. Und da der in Fehde mit Thorgar Emberbey, meinem
Urgroßvater lag, bevorzugte der Handelsgeschäfte mit einem mehr oder weniger neutralen
Königshaus.“
„Dann hat Benasrù also einen Widersacher meines Ahnkönigs mit Waren versorgt?“
Kajida war verwirrt. „Mit was für Waren eigentlich?“
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LaMaga: Kajidas Träume. Eine Geschichte aus den Schattenherz-Chroniken
„Erlaubt Ihr mir eine Frage, Majestät? Bis zur wievielten Seite habt ihr die
Königschroniken des Herrschers Benasrù eigentlich studiert, dass Euch das wichtigste
Handelsgut entgangen ist?“
„Waffen?“, riet Kajida. „Rüstzeug?“
Einen Moment lang schaute der Minister ihr in die Augen, wie um zu entscheiden ob sie
es tatsächlich gewusst oder nur so getan hatte als ob. Aber der feste grüne Blick der
Prinzessin gab ihm keinen Aufschluss darüber.
„Da ist noch etwas in dem Buch, was wichtig ist, nicht wahr, Osse?“
„Das müsst Ihr entscheiden, Majestät. Aber nicht mehr heute. Geht nun zu Bett.“
Kajida schlüpfte auf den Gang heraus und beeilte sich, aus Osses Reichweite zu
entkommen, bevor der weitere Fragen stellen konnte.
Erst als sie in ihrem Gemach angelangt war, fiel ihr ein, dass sie ihn gar nicht nach dem
Verbleib des mütterlichen Trosses befragt hatte.
aum hatte der Minister die Tür hinter sich geschlossen, regte sich in einem
Winkel des Raumes etwas und eine Gestalt mit einem Weinbecher trat hinter
einem Regal hervor.
„Wie gut“, scherzte Merrit Althopian, „dass ich meinen Becher gleich in der
Hand behielt. Bist du zufrieden, Osse?“
„Die Prinzessin wird einmal zu einer sehr guten Königin werden. Ich wünschte nur, die
Mächte hätten ihr etwas mehr Besonnenheit und Geduld geschenkt.“
Der Ritter lachte und schenkte dem Minister in den geleerten Becher nach. „Jedenfalls
ist es dir gelungen, ihre Neugier zu wecken. Ich bin gespannt, was sie als nächstes tun
wird.“
Der Minister nickte zerstreut. „Ich denke, sobald sie innehält und über das Erfahrene
nachdenkt, wird sie das Richtige tun. Aber lasst Euch gesagt sein – ich werde sie nicht lange
hinhalten können, wenn die Frage auf die Königin kommt. Wie seid Ihr mit ihrer Majestät
verblieben?“
„Das“, entgegnete der Ritter gut gelaunt, „lass nur meine Sorge sein.“
ùya streckte den Schnabel unter seinem Flügel hervor und blinzelte müde
ins Licht. Der Falke hatte, gleich einer plusterigen Kugel, in die Kopfkissen
der Prinzessin geschmiegt geschlafen, bis das Mädchen mitten in der Nacht
sein Bett verlassen hatte. Nun saß Kajida beim Schein mehrerer Kerzen in
Gläsern auf ihrem Sessel und war in das Königsbuch versunken.
Cùya richtete sich auf und schüttelte sein Gefieder. Fragend spähte er zu seiner
Gebieterin hinüber. Als Kajida nach einer Weile immer noch nichts gesagt hatte, sondern
stattdessen völlig in ihre Lektüre vertieft war, flog der Falke mit lautlosen Schwingen auf
ihre Armlehne hinüber.
„König Benasrù und seine Amtsmänner“, sagte Kajida zu dem Vogel, „müssten doch
gemerkt haben, wenn so viel nachgemachtes Geld auftaucht.“
Cùya blinzelte verständnislos.
„In der Chronik steht tatsächlich viel über die Geschäfte des Königreiches vom
Lebendigen Tal. Ausgezeichnetes Rüstzeug haben die dort hergestellt und an jeden
verkauft, der welches brauchte. Das hat dem Großkönig im Krieg recht gut getan für seine
Kasse.“
Lange her, wusste der Falke.
„Wieso steht hier nichts über falsches Geld?“
König schämt sich. Schlechte Beute, schlechter Geschmack.
„Meinst du?“, fragte Kajida zweifelnd.
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LaMaga: Kajidas Träume. Eine Geschichte aus den Schattenherz-Chroniken
Nicht prahlen mit Beute bitter. Falke schweigt.
Die Prinzessin, die sich nicht entsinnen konnte, dass der Vogel jemals ein Stück
erbeutetes Fleisch hätte liegen gelassen, blätterte um. Die Ausführungen über den
Reichtum, den der Krieg über das Königreich vom Lebendigen Tal gebracht hatte, waren
sehr ausschweifend, aber gingen nur wenig in Einzelheiten, ganz so, als habe der Chronist
sich ein wenig geniert, der Nachwelt mitzuteilen, woher all das Geld denn nun gekommen
war. Über schlechtes Geld von der Bernsteinbucht - das ohne Zweifel nicht unbemerkt
hatte bleiben können – schwieg er sich aus.
Schlechte Beute viele kleine Bissen, sagte Cùya und flatterte wieder hinüber zum Bett,
wo er sich eine Nestmulde in das königliche Kopfkissen grub.
„Du meinst, das Geld ist nicht in einer großen Summe ausgegeben worden, sondern in
vielen Kleinbeträgen?“
Vom Bett erklang ein zustimmendes Murmeln.
„Bei den Mächten“, seufzte Kajida. „Dann brauche ich das dicke Buch ja gar nicht weiter
zu lesen. Womöglich hat der Dieb gar nichts beim König gekauft, sondern sich in den
Schänken des Lebendigen Tals ein paar luxuriöse Monde gemacht. So ein Tavernenwirt
würde bestimmt eine einzelne Silbermünze, die ein vornehmer Herr ausgibt, nicht in Frage
stellen.“
Cùya gurrte schläfrig. Kajida dachte noch einen Augenblick nach und klappte das Buch
dann so heftig zu, dass der Vogel erschrocken wieder hochschnellte.
„Was kümmert mich eigentlich der Schatzhort von Osses Ur-Urgroßvater?“, rief sie aus.
„Was sitze ich hier mitten in der Nacht und suche nach unsichtbarem Geld? Reicht es nicht,
dass die echten Münzen wieder aufgetaucht sind?“
Weil die Neugier dich umtreibt.
„Als ob ich nichts Besseres zu tun habe! Mit Tagesanbruch will ich den Tross suchen
gehen, und… Vater?“
Der Falke saß nun aufrecht und sah hellwach aus. Seine Augen schimmerten.
Die Prinzessin lächelte. „Willkommen, Vater.“
Du möchtest wissen, was für eine Geschichte sich hinter den Münzen verbirgt. Es lässt
dir keine Ruhe.
„Im Augenblick wünschte ich mir, ich hätte mit diesem Unfug gar nicht erst begonnen. Es
ärgert mich, dass ich wohl keine Antwort mehr auf das Rätsel finden werde.“
Beharrlichkeit, mein Kind. Für eine gute Königin ist auch das eine Tugend.
„Nun ja. Ich denke, wenn mir in meinem Haushalt falsche Münzen unterkommen würden,
würde ich schon versuchen, so weit wie möglich herauszufinden, woher sie ursprünglich
stammen.“
Das denke ich, hast du bereits herausgefunden. Du aber willst wissen, wohin die Münzen
gegangen sind. Was damit getan wurde. Was wirst du machen, wenn du die falschen
Münzen entdeckt hast?
„Keine Ahnung. Wenn sie tatsächlich noch im Umlauf sind, dann sind sie wahrscheinlich
längst über die ganze Welt verteilt.“
Also?
Kajida zuckte die Achseln.
Es ist wie Salz, Kind. Du kannst das Salz, das einer Suppe zugegeben wurde, nicht
wieder herausholen.
„Ich weiß. Aber trotzdem hat Osse mir diese ganze Geschichte doch nicht nur deswegen
aufgetischt, damit ich ein Urteil darüber fälle, wer am Ende die Silbermünzen bekommt.
Das hätte er ebenso gut selbst machen können. Er ist schließlich dazu da, um sich um
solche Dinge zu kümmern.“ Sie überlegte. „Vielleicht war es einfach ein Trick, um mich
dazu zu bringen, dieses alberne Buch zu lesen.“
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LaMaga: Kajidas Träume. Eine Geschichte aus den Schattenherz-Chroniken
Dann hatte er wohl Erfolg damit.
„Das hätte er wohl gern.“ Sie erhob sich und legte das Buch auf dem Tisch ab. „Aber
damit lenkt er mich nicht ab. Ich werde morgen trotzdem losziehen und herausfinden, was
den Tross meiner Mutter aufhält. Oder weißt du es?“
Doch so schnell, wie er gekommen war, hatte der Geist von Galeon den Falken wieder
verlassen. Das Seelentier knurrte leise im Schlaf.
ajida öffnete im Traum die Tür. Und blinzelte verwirrt in grelles Sonnenlicht,
das in den weißen Gang hineinstürzte und das unheimliche Leuchten dort
zurückbranden ließ. Das Licht von jenseits der Tür war warm und lebendig.
Und es schien von einer Sonne, die hoch am Himmel über einem Kornfeld
stand, das sich endlos bis zum Horizont erstreckte.
Kajida besann sich nicht lange. Die Sonne behagte ihr mehr als das kalte Gewölbe, also
durchschritt sie die Tür. Hüfthoch wogten die Halme um sie herum, golden und mit reichen
Ähren gekrönt. Der Himmel war wolkenlos und von so intensivem Blau, dass es zusammen
mit dem üppigen Gelb des Feldes unwirklich wirkte. Nun bemerkte Kajida auch, dass das
Geräusch des Wassers, dem sie bislang gefolgt war, nicht mehr zu hören war.
Gar nichts war zu hören. Kein Wind, kein Rascheln in den Halmen, kein Vogelruf über ihr.
Die Welt um sie herum war still, wie gefroren, wie unter Glas.
Kajida runzelte die Stirn und wandte sich zurück zur Tür. Doch die war verschwunden.
Auch hinter ihr erstreckte sich jetzt endlos weit das Getreide. Und nun, da sie im Freien
stand, bemerkte sie auch, wie drückend heiß es war. Über den Halmen flimmerte Hitze.
Kein guter Tausch, dachte Kajida, drehte sich um und zuckte zusammen. Denn in einiger
Entfernung stand nun jemand und kehrte ihr den Rücken zu. Eine Gestalt in einem weiten
blutroten Mantel mit einer Kapuze über dem Kopf stand im Feld.
Eine goala’ay?
„Bist du meinesgleichen?“, fragte Kajida.
Die Gestalt senkte das Haupt.
„Hast du mich in diesen Traum geführt?“
Wieder nickte der sonderbare Fremde.
„Warum?“
Nun neigte das Wesen den Kopf zur Seite. Eine lange, lockige Haarsträhne löste sich aus
der Kapuze und fiel ihr über die Schulter. Doch keine Antwort.
„Darfst du nicht zu mir sprechen?“
Ein Nicken.
Kajida war enttäuscht. Aber sie hielt es für ausgeschlossen, dass die fremde goala’ay sie
gerufen hatte, um sie anzuschweigen.
„Darf ich dir Fragen stellen?“
Eine anmutige, auffordernde Geste.
Kajida erinnerte sich, dass in früheren Zeiten Magier einander in ihren Träumen
begegnen konnten, das hatte ihr Dyamiree vom Schwarzen See, die Mutter von Vèljioz
Veree berichtet. Magier aller Zeiten hatten das getan. Aber nie ohne Grund. Und Kajida
war diese Frau gänzlich unbekannt, weder in der Schattenburg noch in ihren bisherigen
Träumen hatte sie sie gesehen.
„Bist du in meiner Zeit?“, fragte Kajida.
Die Rotgewandete schüttelte den Kopf.
„Bist du hinter den Träumen? Ist deshalb alles hier so still?“
Nicken. Dann senkten sich die Schultern unter dem roten Mantel, so als stieße die
Fremde einen tiefen Seufzer aus, auch dieser lautlos in der Stille unter der Hitze.
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LaMaga: Kajidas Träume. Eine Geschichte aus den Schattenherz-Chroniken
Kajida musterte die Fremde. Irgendwo, so meldete sich eine verschwommene
Erinnerung, hatte sie die Frau doch schon einmal gesehen. Die Prinzessin versuchte
angestrengt, sich an das wann und wo zu entsinnen, aber es gelang nicht, so dass sie sich
dafür entschied, dass es womöglich in einem anderen, viele Jahre zurückliegenden Traum
gewesen sein dürfte.
„Wenn du eine goala’ay bist?“, fragte Kajida, „wo ist dein Schwert?“
Nun zuckte die Frau, so als lache sie lautlos. Und ziemlich bitter.
Die Prinzessin fragte sich, ob sie wohl, wenn die andere keine Anstalten dazu machte,
ihrerseits versuchen sollte, um sie herum zu gehen und ihr endlich ins Gesicht schauen zu
können. Aber etwas hielt sie davon ab, ein Unbehagen, sich weiter in das schweigende Feld
hinein zu wagen.
„Bist du wegen Véljioz hier? Schicken die Schatten dich, um mir etwas über meine Suche
zu sagen?“
Nun wandte die Frau sich ruckartig um. Sie war groß und schlank, eine junge Frau, aber
etwas älter doch als die Prinzessin. Von ihrem Gesicht erkannte Kajida dennoch nicht allzu
viel, es lag unter der Kapuze in einem harten Schatten.
„Bitte“, sagte Kajida, „ich weiß, ihr alle wartet auf den Moment, an dem ich bereit sein
werde um nach Librien zu reisen und Véljioz Veree wieder hierher zu holen. Ich fühle mich
mehr als bereit dazu! Doch stattdessen halten mich meine Leute hier mit uralten
Geschichten und Banalitäten auf, und ich bin besorgt um meine Mutter. Weißt du Dinge, die
mir mein Vater nicht sagen wollte? Wovon nicht einmal sein Seelentier Kenntnis hatte?“
Über die Lippen der schwertlosen goala’ay zuckte ein Lächeln hinweg, zumindest
deutete Kajida die Regung so.
„Oder ist das ein Rätsel, das ihr mir aufgebt? Hängen all diese Dinge auf eine Weise
zusammen, die ich nicht durchschaue?“
Als die Rotgewandete nicht sofort antwortete, fügte Kajida hinzu: „Die verschwundenen
Silbermünzen, dein verschwundenes Schwert, der verschwundene Magier – und meine
Mutter, die im Augenblick zumindest nicht da ist, wo sie sein sollte?“
Die Rotgewandete faltete ihre Hände und betrachtete die Prinzessin forschend. Kajida
nahm das als Aufforderung, weiter zu reden. „Ich wünschte nur“, sagte sie, „ich müsste mir
nicht immer selbst alles zusammenreimen. Mir ist auch nicht klar, wie die Münzen, also ein
Schurkenstück unter habgierigen Unkundigen, und die Geschäfte der Magier miteinander in
Verbindung stehen könnten. Osse weiß nichts über euch. Bleibt also nur, dass er zufällig auf
etwas gestoßen ist, das auch euch interessiert.“
Die Rotgewandete blieb reglos stehen. Kajida redete weiter. Ihr Blick glitt über die
Gestalt in dem roten Mantel und blieb an der Hüfte der Frau hängen, dort, wo sie eigentlich
ihr Schwert hätte tragen sollen.
„Hast du mich hergeführt, damit ich dein Schwert suche?“
Die andere senkte traurig den Kopf. Ihre Hand bewegte sich dorthin, wo sie den Knauf
ihrer Waffe hätte ertasten müssen, wäre sie dort gewesen.
Kajida betrachtete sie mitleidig. Wenn es der Rotgewandeten gelungen war, in ihren
Traum einzutreten, über ihren Tod im Weltenspiel hinaus, dann handelte es sich sehr
wahrscheinlich um eine ytrara, eine Meisterin. Und eine Meisterin ohne Schwert – das war
an Tragik kaum zu überbieten.
„Bitte“, sagte Kajida, „ich will dir helfen. Aber du musst mir zu verstehen geben, was
ich machen soll.“
Das goldene Korn unter dem schmerzhaft blauen Himmel begann, zu wispern und zu
wogen. Die Sonne wurde greller, und zu Kajidas Erstaunen begannen um die Rotgewandete
herum überall zwischen den Halmen Mohnblumen zu sprießen und ihre Kelche zu öffnen,
zerknittert und rot wie Blut. Die Hitze begann zu flimmern, das Kornfeld wurde zu einer
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endlosen goldbraunen Ebene unter gnadenlosem Himmel, und in der Hitze verschwamm
auch die Rotgewandete, und die Mohnblumen begannen zu schmelzen, und ein feuchter,
metallischer Geruch stieg in Kajidas Nase. Blut! Das Feld blutete…
ajida schlug die Augen auf. Kein Schrecken und keine Störung hatten den
Traum beendet – er war einfach abgerissen wie in zu dünner Faden auf der
Spindel. Cùya neben ihr auf dem Kissen hatte Klauen und Schnabel ebendort
hinein gebohrt und kämpfte in der seltsamen Welt seiner Vogelträume mit
einer wehrhaften Beute. Dann ließ er von dem Kissen ab, gurrte kehlig und
plusterte sich wieder zusammen.
Die Prinzessin verschränkte die Arme unter dem Kopf und dachte über die verschlüsselte
Traumbotschaft nach, ohne zu einer Erkenntnis zu gelangen.
ach all den sonderbaren Traumgesichtern war Kajida am kommenden Morgen
zwar rechtschaffen müde, und selbstverständlich hätte sie sich den Luxus
eines späten Aufstehens leisten können. Aber sie hatte nicht vergessen, was
sie sich am Abend zuvor vorgenommen hatte, und so erschien sie kurz nach
dem ersten Hahnenschrei in den Stallungen, wo ein junger Soldat der
Palastwache damit beschäftigt war, sein Pony zu satteln.
„Guten Morgen, Fanwer. Bist du meine Eskorte?“
Der Bursche wandte sich zu seiner Gebieterin um. „Die Würfel wollten es so, Herrin.
Wünscht ihr einen meiner Kameraden zur Begleitung?“
„Nein, es ist gut.“ Kajida schaute sich um und ihr Blick fiel auf eines der Pferde in der
Nähe, das mit gespitzten Ohren beobachtete, was auf der Stallgasse vor sich ging. „Was für
Würfel? Habt ihr ausgelost?“
„So machen wir es oft, Herrin.“
Kajida runzelte die Stirn. „Solltet ihr nicht eigentlich um die Ehre wetteifern, mit der
Prinzessin auszureiten?“
„Wetteifer um Ehre unter Kameraden ist nicht gut für die Moral, sagt Kapitän Olgurd.“
„Ein kluger Mann.“ Kajida lächelte. „Dann lass uns aufbrechen. Machst du mir den da
fertig zum Ausritt?“
Der junge Soldat stutzte und folgte ihrem Blick. „Wollt Ihr nicht euer eigenes Pferd…“
„Mach dir darum keine Gedanken. Ich möchte den da ausprobieren.“
„Aber Herr Merrit..“
„Hast du meine Wünsche in Frage zu stellen?“
Der junge Mann errötete und machte sich dann daran, den Wunsch seiner Herrin zu
erfüllen. Kajida beobachtete voller Vorfreude, wie er das stattliche Ross, das Graf
Althopian erst kürzlich für seinen eigenen Gebrauch von seiner Heimatburg mitgebracht
hatte, aufsattelte. Kajida war eine ausgezeichnete Reiterin. Der Gedanke, die Abwesenheit
ihres Ziehonkels zu nutzen, ein besonders edles Ross zu reiten, war ihr ganz spontan
gekommen.
Fanwer führte das Pferd ins Freie und war ihr beim Aufsitzen behilflich, indem er ihr den
Steigbügel hielt. Die Prinzessin wäre durchaus auch so dazu in der Lage gewesen, den
Rücken des wuchtigen Rosses zu erklimmen, aber ihr gefiel Fanwers unaufdringliche, artige
Art. Sie mochte den Burschen, der nur wenige Jahre älter war als sie selbst. Außerdem, so
wusste die Prinzessin, war Fanwer gar keine so schlechte Wahl, wenn es darum ging, mehr
über die Dinge zu erfahren, die Osse am Vorabend nur angedeutet hatte. Fanwer war
nämlich nicht nur ein loyaler Soldat des Königshauses, sondern darüber hinaus ein großer
Bewunderer der Helden der vergangen Zeiten und bestens informiert über Geschichte der
Grafen und Könige. Vielleicht besser, als Kajida es nach der Lektüre sämtlicher Chroniken
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gewesen wäre. Allerdings, und das war vielleicht ein kleines Problem, bezog Fanwer sein
Wissen zum größten Teil aus den Heldenepen der fahrenden Spielleute und den Erzählungen
alter Leute, nicht aus offiziellen Quellen.
„Wir reiten dem Tross meiner Mutter entgegen“, sagte Kajida. „Ich muss wissen, aus
welchem Grund sie sich womöglich verspäten. Das heißt, ob sie schon in der Nähe sind oder
sich doch noch gar nicht in Reichweite der Burg befinden.“
„Oh. Darum geht es also.“ Fanwer nickte, aber Kajida war nicht entgangen, dass er für
einen Augenblick ein etwas unbehagliches Gesicht gemacht hatte.
„Weißt du irgendetwas Genaueres? Sag es frei heraus, womöglich spart es uns einen
Weg.“
„Was sollte ich schon wissen, Herrin? Ich gehörte ja nicht zur Eskorte Eurer Frau Mutter.“
Er trieb sein Pony an, so dass er nun ein paar Tritte vor der Prinzessin ritt und sie sein
Gesicht nicht sehen konnte. Trotzdem war Kajida überzeugt, dass es rot wie eine
Hagebutte war.
Wohlan, dachte die Prinzessin misstrauisch, so tue ich das Spielchen eine Weile mit.
„Fanwer“, fragte sie, „du weißt doch eine Menge über Graf Emberbeys Familie, oder?“
„Das kommt darauf an, was Ihr wissen wollt, Herrin. Ich weiß natürlich nicht allzu viel
über die hohe Politik.“
„Mich interessieren eher vergangene Geschichten. Heldentaten und so.“
„Wie die über den Meisterschuss des Thorgar Emberbey, der mit einem einzigen Geschoss
ein feindliches Schiff versenkte?“
„So in etwa. Thorgar Emberbey war…“
„Der Ur-Urgroßvater des edlen Herrn Osse. Ein großer, ehrenhafter Krieger.“
„Und sagt dir der Name Prinzessin Ingonna etwas?“
„Ingola. Ingola von den Westlichen Inseln. Sicherlich. Sie war die… sie war mit Herrn
Thorgar verbunden.“
„Was heißt verbunden? Seine Gefährtin?“
„Nicht wirklich. Es war eine schwierige Zeit, damals, es herrschte überall Krieg. Die Lage
war kompliziert, und die Häuser führten untereinander Fehden und Streit.“
„Und wie passt diese Prinzessin in dieses Gewirr?“
„Darüber gibt es verschiedene Geschichten. Eine sehr verbreitete sagt, dass die
Prinzessin eine Kriegsgeisel war und Herr Thorgar sich in sie verliebt habe. Aber ich glaube
das nicht. Ich denke, die Prinzessin war aus freien Stücken bei ihm. Jedenfalls waren die
beiden zwar ein Paar, aber nicht öffentlich mit der Zustimmung ihrer Häuser.“
„Aha.“ Kajida begann, das Interesse zu verlieren. Kitschige Liebesgeschichten waren
etwas für träumerisch veranlagte Jungfern.
„Jedenfalls ging aus der Verbindung ein Kind hervor, ein Mädchen. Die Prinzessin Ingola
überlebte die Geburt allerdings nicht, und das Kind wuchs unter der Obhut seiner Tante
auf.“
„Was war mit Herrn Thorgar?“
„Aber Majestät! Das müsst Ihr doch wissen! Er fiel als Held bei der großen Schlacht um
die Regenbogenburg.“
„Sicher. Das hatte ich einen Moment lang vergessen.“
Kajida ärgerte sich, dass sie von einem einfachen Soldaten über eine so wichtige
Begebenheit belehrt werden musste. Andererseits begann die Sache, spannend zu werden.
„Dann hat Herr Osse also unter seinen Vorfahren nicht nur einen großen Helden, sondern
auch eine Frau von königlichem Geblüt?“
„Ja. Allerdings, Herrin, spielt die Prinzessin Ingola in der Geschichte der Königshäuser
keine besonders wichtige Rolle. Sie hatte mehrere Schwestern, die später Königinnen von
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den Westlichen Inseln wurden. Und das Kind wurde ohnehin nie vom Haus seiner Mutter
anerkannt.“
„Und wie war mein Geschlecht in diese ganze Geschichte verwickelt?“
„Was meint Ihr?“
„Osse erwähnte, dass zu Lebzeiten der Prinzessin Ingola das Strand-Haus die Grafschaft
Emberbey bekriegt habe.“
Der junge Soldat zuckte die Achseln. „Wie ich gerade sagte, Majestät, es war eine Zeit,
zu der jeder gegen jeden im Streit lag und Allianzen von einem Tag auf den nächsten
umschlagen konnten.“
„Das heißt?“
„Es gab ein Bündnis mit den Westlichen Inseln. Und eine gewisse Dringlichkeit, die
Prinzessin aus der Reichweite des Grafen zu entfernen. Außerdem war die liebreizende
Ingola als Gefährtin für einen Prinzen des Strand-Hauses im Gespräch.“
„Für wen?“
„Prinz Ansger.“
„Nie gehört. Und das, obwohl ich mit ihm verwandt bin“, staunte Kajida.
„Nur entfernt, Majestät. Prinz Ansger fiel damals einem Meuchelmord zum Opfer,
erschlagen von einem Grafen aus dem Haus Lebrèoka unter völlig unklaren Umständen. Mit
Prinz Ansger starb eine Linie des Strand-Hauses aus, und die Familie Spagor trat die
Nachfolge an. Aus deren Blutlinie entstammt Eure Mutter.“
„Das sind die Nachkommen dieses Cousins von König Athgey, nicht wahr?“, fragte Kajida
und hoffte, damit nicht allzu falsch zu liegen.
„Die Kinder des Halbbruders des Königs. Die männlichen Spagors waren am Hofe in hohen
Ämtern. Ein besonders rechtschaffener von ihnen war der Minister Herik Spagor, der nach
dem Tod des Königs dessen Platz einnahm, nachdem Athgey keine leiblichen Nachkommen
hatte. Abgesehen von dem unglücklich zu Tode gekommenen Prinzen.“
„Fanwer?“
„Herrin?“
„Woher weißt du all diese Dinge so genau? Ich glaube, das sind genau die Dinge, die in
dem Buch stehen, das Osse mir als Aufgabe gegeben hat. Aber du – du kannst doch nicht
einmal lesen?“
Fanwer lachte. „Ich hab ein gutes Gedächtnis, Herrin. Und Ohren zum hören. Was mich
interessiert, das merke ich mir einfach.“
„Ich wünschte, ich könnte das auch“, seufzte Kajida. „Aber ich habe überhaupt keine
Geduld für solche Dinge.“
Einen Moment lang ritten beide schweigend nebeneinander her. Der Himmel wurde
heller, es versprach, ein sehr sonniger, warmer Tag zu werden. Über den Wiesen lag ein
feiner Dunst wie ein Gespinst, und als sie entlang der Felder ritten, auf denen die Bauern
unter den Strand-Leuten Gemüse und Rüben zogen, sahen sie dort von fern eine kleine
Schar Rehe.
Kajida war eine Weile versucht, den Ritt einfach aufzugeben, Fanwer einen Tag Urlaub
zu gewähren und, anstatt der Straße nach Blauhafen zu folgen, hinunter an den Strand zu
reiten und dort einfach nur eine Weile herumtoben. Aber wie hätte das ausgesehen!
„Wohin reiten wir eigentlich?“, erkundigte Fanwer sich schließlich. „Wollt Ihr etwa in die
Stadt?“
„Nein. Wir reiten dem Tross meiner Mutter entgegen.“
„Nun? Und auf dieser Straße?“
„Das ist der Weg, den sie nehmen sollte, und eigentlich müssten wir ihr in der nächsten
Zeit begegnen, wenn sie heute in der Burg anlangen will.“
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„Aber Majestät – hatte man Euch nicht gesagt, dass Ihre königliche Hoheit ihre Pläne
kurzfristig geändert hat und einen Besuch bei Graf Althopian machen wollte?“
Kajida zügelte ihr Pferd. Sollte an der Sache doch etwas dran sein?
„Ich habe davon gehört, aber ich hielt es für ein Gerücht. Von wem hast du das gehört?“
„Von Graf Emberbey.“
Kajida seufzte. „Lass uns weiter reiten.“
ls sie zwei Stunden später immer noch keine Spur des königlichen Trosses
gefunden hatten, begann Kajida, an die Geschichte vom Höflichkeitsbesuch
bei Wayreth Althopian zu glauben. Da weder sie selbst noch Fanwer am
Morgen gefrühstückt hatten, entschied die Prinzessin sich, bei der Raststation
am Wege einzukehren, wo sie sich auf einer schattigen Bank vor dem weiß
getünchten, adretten Gebäude niederließen. Das Gasthaus befand sich etwa auf halber
Strecke zwischen Blauhafen und der Strand-Burg, aber doch eine gute Strecke hinter der
Weggabelung, der man folgen musste um auf die Grafschaft der Herren vom Hochland
zuzuhalten. Wenn der Tross den Gasthof passiert hatte, war es in der Tat möglich, dass die
Mutter, einer plötzlichen Laune folgend, den direkten Weg verlassen hatte, um dem alten
Vater von Merrit Althopian die Ehre ihrer Anwesenheit zu bescheiden.
Und tatsächlich!
„Ja, Majestät“, bestätigte der Wirt eifrig, während er der Prinzessin und ihrem etwas
verlegenen Begleiter duftendes Brot, sahnigen Käse und erfrischende Getränke auftrug,
„die Herrschaften waren hier. Gestern um die Mittagszeit. Sie sind aber nicht lange
geblieben, nur auf einen kurzen Imbiss.“
Kajida runzelte die Stirn. Es passte ihr nicht, dass Osse offenbar Recht behalten hatte.
„Und? Du hast doch bestimmt gehört, wohin sie weiter wollten?“
„Der edle Herr in Begleitung der Königin hatte es sehr eilig. Er hat nur ein paar Bissen
gegessen und ist dann allein in Richtung Burg aufgebrochen. Ein hervorragendes Pferd hatte
er. Man glaubt fast, es könne fliegen.“
„Ein Ritter mit blauem Waffenrock auf einem dunkelbraunen Hengst?“
„Ja, Majestät. Dem Wappen nach war es wohl der Graf Althopian.“
Kajida stutzte. „Fanwer, hast du gesehen, wie Herr Merrit in der Burg ankam?“
Fanwer errötete und schüttelte gestikulierend den Kopf. Antworten konnte er nicht, den
Mund voller weichem Käse.
„Und die Königin und ihr Gefolge?“, wandte die Prinzessin sich wieder an den Wirt.
„Die Königin, die Damen in ihrem Gefolge und die Soldaten blieben noch bis die
Mittagssonne etwas gesunken war. Dann sind sie wieder aufgebrochen. Dort entlang.“ Er
deutete mit dem dicken Daumen die Straße entlang.
„Zurück nach Blauhafen?“ Kajida schüttelte den Kopf. „Haben sie gesagt, wieso?“
„Nicht zu mir, Majestät. Und ich belausche die Gespräche der Gäste nicht.“
Das enttäuschte Kajida, die Gastwirte stets für zuverlässige, redselige Informanten
gehalten hatte.
„Alles, was ich sagen kann, ist dass die Damen in hervorragender Laune waren. Sie haben
viel gelacht und geschwatzt.“
„Jedenfalls“, murmelte Kajida, sind sie also nicht gen Hochland unterwegs. Eine
Heimlichkeit steckt dahinter.“ Sie musterte misstrauisch ihren Begleiter, aber Fanwer
kaute immer noch hastig und errötete dabei verlegen, weil er seiner Herrin immer noch
nicht antworten konnte. Die Prinzessin erhob sich und kramte in ihrer Börse nach Geld, um
den Wirt zu entlohnen. Dass ihr dabei die Silbermünze aus dem Schatz zwischen die Finger
geriet, brachte ihre Gedanken schlagartig wieder zurück zu dem, was am Vorabend in der
Burg geschehen war.
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„Fanwer, beeil dich!“, trieb sie den jungen Soldaten an, drückte dem Gastwirt das Geld
in die Hand und war schon fast wieder bei ihrem Ross und im Sattel. „Wir reite sofort
zurück zur Burg!“
„Aber Majestät!“, rief der Wirt dem jungen Mädchen bestürzt hinterher, „das ist viel zu
viel, soviel Kupfer zum Wechseln habe ich nicht zur Hand!“
Aber Kajida hörte schon nicht mehr zu, trieb ihr Pferd auf die Straße und ließ es dort so
schnell angaloppieren, dass Fanwer, den Mund immer noch voller Käse, sie erst einholte,
als das Wirtshaus bereits hinter einer Wegbiegung außer Sicht geraten war.
er Falke Cùya war indes nicht untätig geblieben. Ganz so, wie seine Herrin es
ihm befohlen hatte, war er auf der Burg geblieben und hatte Osse Emberbey
nicht aus den Augen gelassen. Der getreue Vogel war weniger überrascht als
der Geist des Magiers Galeon, der ihm innewohnte, als kaum dass die
Prinzessin die Burg verlassen hatte, jemand anderes aus seinem Versteck
hervor kam. Ohne allzu große Heimlichkeit gesellte sich Graf Althopian in der Burgküche zu
dem Minister, der dort sein bescheidenes Frühstück aus dunklem Brot und verdünnter Milch
entgegen nahm.
„Sie wird bald wieder da sein, sobald sie den Schwindel bemerkt“, gab der Minister zu
bedenken, während die Küchenmeisterin dem Ritter Wecken und einige Scheiben Schinken
aushändigte.
„Das macht gar nichts. Die Königin wird mit ihrem Gefolge ebenfalls bald eintreffen. Die
Damen haben in der Herberge am Weg durch die Salzwiesen genächtigt.“
„Das würde mir nicht einfallen“, sagte der Minister kopfschüttelnd. „Aus reiner Kurzweil
kreuz und quer von Gasthof zu Gasthof zu reisen, jenseits des Weges…“
„Nun, es verschafft der Königin einen Eindruck von der Gastlichkeit der Wegstationen.
Sie liebt es, zuweilen in Person unter ihrem Volk zu weilen und sich aus eigenen Augen
davon zu überzeugen, dass alles zum Besten steht.“ Merrit Althopian spießte von seinem
Schinken auf sein Essmesser und bugsierte etwas auf den Teller seines Gegenübers hinüber.
„Und du, lang ordentlich zu. Du musst auf dieser Burg vor gefüllten Speisekammern nicht
hungern. Das ist ja nicht mit anzusehen!“
Osse Emberbey seufzte, lächelte flüchtig und schob dann die Hälfte seines Brotes zu dem
Ritter hinüber.
Cùya, der sich im Gebälk unter dem Dach des Küchenhauses versteckt hatte,
beobachtete, als Falke mit neidischem Hunger, als Seelentier mit Wohlwollen, wie die
beiden Grafen gegenseitig von ihren Tellern aßen. So verschiedenartig die beiden Männer in
ihrem Charakter waren, so fest war doch die Freundschaft zwischen ihnen; waren Osse
Emberbey und Merrit Althopian gemeinsam eine Einheit, an deren Seite die Königin Manjev
behütet und wohlbehalten war. Und das war wichtig. Niemals sollte es Manjev an etwas
mangeln.
„Wie sieht es nun aus, Osse? Was soll ich der Königin berichten, wenn ich dem Gefolge
nachher entgegen reite?“
„Ihr könnt unserer Herrin anvertrauen, dass die Prinzessin sich besonnen und gescheit
angestellt hat, das Rätsel um den Silberschatz zu lösen. Zum Anderen, so hörte ich, hat sie
am Morgen die Burg verlassen, ohne Zweifel, um sich auf die Suche nach dem Gefolge zu
machen. Wohlgemerkt, nur in Begleitung eines einzelnen Mannes und ohne mich davon in
Kenntnis zu setzen. Wäre Kapitän Olgurd nicht so ein vernünftiger Mann, ich wüsste jetzt
noch nicht davon und geriete in Verlegenheit, wenn sich gerade nun etwas ereignete, wozu
das Wort der Krone vonnöten wäre. Abgesehen davon, dass mir Angst und Bange wird, wenn
ich daran denke, dass sie auf einem ihrer eigenwilligen Ausflüge in Not geraten könne.“
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Merrit Althopian lächelte. „Was sollte da schon geschehen, Osse? Sie ist klug und kämpft
besser als so mancher meiner Soldaten. Und dies hier ist eine friedliche Gegend, wo sich
kein Gesindel umtreibt.“
Der Minister nippte an seiner Milch. „Den Mächten sei gedankt dafür, dass die Zeiten
vorbei sind, in denen man sich auf den Straßen Sorgen um Leib und Leben machen musste.“
Merrit Althopian zuckte die Achseln und blickte nachdenklich auf seinen Teller. „Das
alles macht das Leben eines Ritters allerdings nicht wirklich abenteuerlicher.“
Graf Emberbey schaute verwundert auf. „Ihr seht Euch nach Abenteuern?“
„Wozu, sei ehrlich, mein Freund, ist meinesgleichen noch nütze? Während der letzten
acht, lass es zehn Sommer gewesen sein, fanden all meine Kämpfe inmitten bunter
Fähnchen und feierndem Volk statt.“
„Und die Kämpfe, die Ihr in dieser Zeit nicht für Eure Ehre und den Stolz der Königin
entscheiden konntet, kann ich an einer meiner Hände abzählen. Seid Ihr dessen nicht
zufrieden?“
Merrit Althopian erhob sich. „Ich traue dem Frieden nicht.“
„Die Königin schätzt sich glücklich, einen Kämpfer wie Euch an ihrer Seite zu wissen.
Darauf könnt Ihr stolz sein.“
„Das bin ich. Aber dennoch frage ich mich, was wohl geschehen wird, wenn sich
unvermittelt eine Gefahr gegen uns erhebt, die nicht mit stumpfer Lanze kämpft. Und nun
halte du hier die Stellung, Osse. Ich werde die Damen am vereinbarten Treffpunkt abholen
und hoffe, der Prinzessin derweil nicht zu begegnen. Du weißt ja: Ich bin offiziell nicht hier
gewesen.“
„Eines solltet Ihr noch wissen, Herr Merrit, bevor Ihr aufbrecht, bevor ihr es anderweitig
erfahrt.“
Der Ritter wandte sich um. „Ja?“
„Es scheint so, als habe die Prinzessin der Versuchung nicht widerstehen können, Euer
neues Ross… auszuleihen.“
Merrit Althopian stand wie vom Donner gerührt. Dann schlug er mit der Faust auf den
Tisch, dass der Krug in die Höhe sprang.
„Dieser Wildfang!“, rief er aus. „Bei den Mächten, hat dieses Mädchen denn vor gar
nichts Angst?“
Osse Emberbey zuckte die Achseln. „Sie tut, was ihr in den Sinn kommt.“
Der Ritter nickte seufzend. „Nun, sie ist eine ausgezeichnete Reiterin. Und auch ich habe
als Knabe oft ein Ross meines Vaters geritten, ohne zuvor gefragt zu haben. Aber, bei allen
Mächten, das ist nicht dasselbe!“
„Nun, es zeigt zumindest, dass Ihr ein großes Vorbild für ihre Hoheit seid.“
Merrit Althopian lächelte säuerlich. „Darauf, mein Freund, bilde ich mir nichts ein.“
Der Minister blickte nachdenklich dem Ritter nach, der, vornehm gekleidet in leichtes
Rüstzeug und seinen blauen Waffenrock, die Küche verließ.
Cùya in seinem Versteck spürte die Melancholie des Grafen darüber, dass ihm, dem
Gleichrangigen, ein solches Gewand nicht anstand. Auf der einen Seite tat das dem
Seelentier leid. Doch die Erleichterung darüber, Osse Emberbey und Merrit Althopian
jeweils auf den Plätzen zu sehen, die die Mächte ihnen im Weltenspiel zugeordnet hatten,
überwog.
ährend der Ritter sich landeinwärts auf die Suche nach der Königin und ihrem
Gefolge machte, hatte Kajida den Weg unten am Strand gewählt, sehr zum
Schrecken des jungen Soldaten. Denn mit dem Meer des Chaos verhielt es sich
so, dass sich zweimal des Tages die Flut hob, einmal in der Nacht und einmal
bei Tageslicht. Und die Flut unter der Sonne war nahe und würde bald den
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Strand überspülen; eine Tücke des Küstenabschnitts, an dem sich das Königreich befand.
Der Tidenhub war dort so stark, dass die Wellen in rasendem Tempo den Strand hinauf
brandeten und mit großem Sog ins tiefere Meer zogen, was sie packen konnten.
Der Strand mit seinem feinen, hellen Sand war gefährlich zu dieser Tageszeit. Die
Prinzessin wusste das.
„Majestät“, jammerte Fanwer und preschte ein gutes Stück hinter ihr her, „die Flut…“
„Wir schaffen es zuvor! Ich will schnell zurück zur Burg!“
„So besinnt Euch doch, nehmt den oberen Weg hinter den Dünen!“
„Angsthase! Uns passiert nichts!“
Kajida trieb das Pferd an, das Tier flog über den feuchten, glatten Sand. Die Prinzessin
hatte mit Bedacht den Weg am Strand entlang gewählt, der ihr der kürzeste zu sein schien,
so ganz ohne Hindernisse und griffigen Grund, dort wo die flach ausrollenden Wellen den
Sand schwer und nass gemacht hatten. Das Pferd war feurig und schnell, ein herrliches
Tier, dessen Galopp Kajida berauschte.
An die Flut hatte sie zu spät gedacht, und den Fehler einzugestehen und den Dünendeich
hinauf zu reiten, diese Blöße wollte sie sich vor Fanwer nun nicht geben.
Der junge Soldat versuchte, sie umzustimmen, aber im Gegenwind wehte seine Stimme
fort. Kajida presste entschlossen die Lippen zusammen. Erst im allerletzten Moment würde
sie den Wellen ihr Recht lassen und auf den befestigen Weg ausweichen. Dort hinten war
schon die Strand-Burg zu sehen, und dort hinten auf dem Meer, wo es dunstig wurde, lag
die Silbergischt mit ihren schwarzen Segeln. Etwas blitzte in der Sonne über dem
funkelnden Wasser auf.
„Majestät!“, schrie Fanwer. Kajida amüsierte sich über den ängstlichen Soldaten und
jubelte angesichts des Rausches, der sie ergriff, während der Wind an ihrem Haar zerrte
und Wellen und Strand an ihr vorbei flogen.
Den Priel, der sich ein Stück voraus in den Sand grub und gurgelnd mit Wasser füllte,
bemerkte sie zwar, maß ihm aber keine Bedeutung bei. Das war ein kleines Hindernis, das
das Ross nicht bremsen sollte. Ein niedriger, getreckter Sprung, mehr nicht.
Das Pferd war anderer Meinung. Das schaumige, fließende Wasser, das so unvermittelt
den Weg kreuzte, war dem Tier nicht geheuer. Und so scheute das Pferd, das auf den
Weiden der Grafschaft Althopian zwischen Hügeln und Wäldern aufgewachsen war und
wenig Erfahrung mit beweglichem Wasser hatte, sprang so heftig zur Seite weg, dass Kajida
den Halt verlor und galoppierte schnaubend hinauf in die Dünen. Ohne Reiterin.
Kajida war nicht zum ersten Mal vom Pferd gestürzt, und obwohl ihr erster Impuls es
war, sich über das vermeidbare Missgeschick zu ärgern, rappelte sie sich wieder auf. Ein
scharfer Schmerz fuhr durch ihren Fuß. Die Prinzessin verbiss sich einen Klagelaut und sah
Fanwer heran preschen. Der junge Soldat hatte sein Reittier besser im Griff.
„Majestät“, rief er aus, „habt Ihr Euch verletzt?“
„Kümmere dich nicht um mich!“, rief Kajida ihm entgegen. „Sieh zu, dass du das Pferd
wieder einfängst!“
Fanwer bremste und schaute einen Augenblick unschlüssig zwischen der Staubwolke in
den Spuren des entsprungenen Rosses und seiner auf allen Vieren im Sand hockenden Herrin
hin und her.
„Graf Althopian reißt uns den Kopf ab, wenn dem Tier etwas zustößt! Das Vieh ist
wertvoll! Nicht auszudenken, wenn es sich im lockeren Grund vertritt und sich das Bein
verrenkt! Wir treffen uns in der Burg wieder!“
Dieses Argument überzeugte den jungen Mann. Er nickte seiner Herrin knapp zu und
jagte dann dem Pferd hinterher.
Kajida atmete auf und war froh, ihn ohne viel Aufheben los geworden zu sein. Mühsam
richtete sie sich auf und atmete scharf durch die Zähne ein. Bei ihrem Sturz war sie
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unglücklich aufgeprallt und hatte sich dabei den Fuß verdreht. Jedenfalls ließ er sich nicht
ohne Weiteres belasten.
Kajida ließ sich wieder zurück in den Sand fallen und zerrte sich unter leisem Fluchen
den Stiefel vom Bein, um den Schaden zu untersuchen. Zu ihrer Erleichterung hatte das
Fesselgelenk wohl keinen Schaden genommen, aber es war gezerrt und begann bereits,
anzuschwellen. Die Prinzessin schöpfte mit der hohlen Hand Wasser aus dem Priel, um das
Bein zu kühlen.
Irgendwo hinter dem Dünenkamm hetzte Fanwer wohl hinter dem Pferd her, ab und zu
schallte sein Rufen zu ihr hinunter an den Strand. Kajida seufzte und probierte ein zweites
Mal, aufzustehen. Es ging etwas besser, aber Halt fand sie immer noch nicht. Mit einem
Platschen landete das Mädchen im schienbeinhohen Wasser des Priels, der sich binnen
weniger Augenblicke beträchtlich verbreitert hatte.
Kajida runzelte die Stirn, und ein Schaudern überkam sie.
Die Flut!
Ohne sich weiter um den schmerzenden Fuß zu kümmern, taumelte die Prinzessin auf die
Beine und begann, so schnell sie konnte, zu den Dünen zu humpeln.
So, dachte sie, fühlt sich also Svegar mit seiner Krücke. Verflucht! Und alles nur, weil
ich wieder einmal meinen Kopf durchsetzen musste, statt auf Fanwer zu hören!
Sie gab einen ärgerlichen Laut von sich und stolperte hin, rappelte sich wieder hoch,
hastete weiter, während ihr Fuß sich anfühlte, als triebe jemand glühende Nadeln hinein.
Auf dem feinen, von der Sonne der Vormittagsstunden getrockneten Sand sank sie ein,
unmöglich war es, rasch die rettenden Dünen zu erreichen. Kajida knurrte vor Wut, hörte
das trügerisch sachte Rauschen der Brandung und hatte doch erst die Hälfte des Weges
zurückgelegt, als die ersten Wellen ihre Fersen berührten und der übernächste
Wellenschlag sie bis über die Knie traf, umwarf und zurück in Richtung Meer riss. Kajida
versuchte, sich wieder zu erheben, und zunächst gelang es ihr auch, sich aufzurichten, aber
kaum dass sie stand, kam die nächste Welle heran getost, traf sie am Rücken und tauchte
sie mit dem Gesicht voran ins Wasser, das schon so tief war, dass die Prinzessin darin nicht
mehr stehen konnte.
Kajida war eine gute Schwimmerin. Doch der Sog der Gezeiten, der in wenigen Minuten
das Ufer übermannshoch überspülte und von dem jedes kleine Kind wusste, dass man
tunlichst vermeiden sollte, zur Unzeit am Strand zu sein, war tückisch und von so
gewaltiger Kraft, dass die nächste Woge die Prinzessin bereits so weit auf Meer hinaus
zerrte, dass sie die Fischerboote, die auf ihren Pollern sicher auf die Flut warteten,
beängstigend nahe vor sich sah, als sie das nächste Mal durch die Wasseroberfläche brach.
Kajida spuckte salziges Wasser, strampelte gegen die Wucht des Wassers an und
versuchte, um Hilfe zu rufen. Wenn die Fischer, die auf ihren Booten die Flut erwartet
hatten, auf sie aufmerksam wurden, gab es vielleicht noch eine Hoffnung.
Aber alles, was über ihre Lippen kam war ein ersticktes Spucken und Gurgeln. Dann war
um sie herum kristallklares, grünes Wasser und eine dumpfe Stille, durch die nur das Lied
des Meeres und das Donnern der Wellen von weither zu ihr hin klang.
ls Kajida aus dem Wasser auftauchte und nach Luft schnappte, war der
Himmel dräuend grau. Es war still um sie herum. Das Plätschern, das sie selbst
verursachte, klang seltsam dumpf zu ihr hin, und die Wellen selbst waren nur
als leises Rauschen zu hören. Kajida schwamm und schaute sich um, bis sie
das Ufer entdeckte. Die Flut hatte sie also nicht auf das offene Meer gerissen,
und der Wellengang hatte sich auch merklich beruhigt. Das Wasser ringsum lag fast so flach
wie ein großer See.
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LaMaga: Kajidas Träume. Eine Geschichte aus den Schattenherz-Chroniken
Allerdings war auch die vertraute Küstenlinie verschwunden. Anstelle des breiten
Sandstrandes und des Dünenwalls erkannte sie steil aufragende Klippen und die Silhouette
einer klobigen Burg, die darauf thronte. Ganz in der Nähe ragte eine felsige Landzunge ins
Wasser hinein, an deren Ende eine Gestalt hockte, deren rote Gewänder gegen das graue
Meer und den Himmel erschreckend grell ins Auge stachen.
Und doch war das scharfe Rot vertraut, lebendiger, besser als die Trübnis des
unwirklichen Lichtes, das die Bernsteinbucht, die in aller Welt ob ihrer Schönheit gerühmt
wurde, in dumpfe Bitternis tauchte. Kajida schwamm auf die Rotgewandete zu. Die Gestalt
schaute ihr ruhig entgegen, machte aber keine Anstalten, sich zu erheben oder der
Prinzessin aus dem Wasser zu helfen.
„Was ist das hier?“, rief Kajida. „Was ist hier los?“
Die Rotgewandete legte den Finger an die Lippen und bedeutete der Prinzessin, leise zu
sein und im Wasser zu bleiben. Kajida klammerte sich an einem großen Felsbrocken fest
und warf ihr einen fragenden Blick zu. Dann verstand sie, ließ sich tiefer ins Wasser sinken
und verbarg sich hinter dem Stein, so gut es ging, denn die Rotgewandete war nicht allein
auf dem Felsen.
Zwei Männer und eine Frau waren lautlos aus dem trüben Licht getreten und standen
einige Schritte neben der Rotgewandeten, allerdings offenbar – und das war seltsam
angesichts der schreiend roten Kleider – ohne ihr Beachtung zu schenken. Der eine Mann
war in leichten Waffen und schien sich in seiner Haut äußerst unwohl zu fühlen, denn er
warf nervöse Blicke um sich. Er trug die honigfarbenen Gewänder eines Bewaffneten im
Dienste des Hauses Emberbey. Offenbar war er die Eskorte für die Frau, eine altmodisch,
aber vornehm gewandete, verbittert aussehende ältliche Frau, die mit dem anderen Mann
aufgeregt und hektisch zu verhandeln schien. Der war in der schlichten Kluft eines Bauern.
Und trug seinerseits ein kurzes Schwert gegürtet und mehr schlecht als recht unter seinem
Mantel verborgen. Auch die Kleider der Männer kamen Kajida ungewöhnlich vor, sie wusste
aber nicht, woran das lag, bis ihr in den Sinn kam, dass alles an ihnen uralt aussah, ohne
verschlissen zu sein.
Kajida konnte nicht hören, was geredet wurde; alle Laute drangen zu ihr wie durch dicke
Watte. Aber sie sah die Dame aufgeregt mit dem Bauern verhandeln. Der Mann gestikulierte
und schaute um sich, immer noch ohne von der Rotgewandeten Notiz zu nehmen. Der
Emberbey-Soldat sah aus, als hätte er sich liebend gern unsichtbar gemacht.
Und dann geschah etwas Interessantes. Der Bauer hielt der Dame die geöffnete Hand
entgegen. Die Frau nickte und forderte dann ihrerseits ihren Soldaten auf, ihr einen kleinen
Beutel auszuhändigen. Der Bauer nahm das Ledersäckchen, setzte sich damit auf einen
Stein und schüttete den Inhalt in seinen Schoß. Er begann, zu zählen.
Kajida reckte neugierig den Kopf. Der Soldat zog leise sein Schwert, aber die Dame
bemerkte es und winkte ihm ärgerlich ab. Und der Bauer zählte, mit offensichtlichem
Vergnügen, spiegelblanke Silbermünzen ab, die in ihrem Glanz ebenso lebendig wirkten wie
das Ornat der rotgewandeten Frau.
Schließlich schien der Bauer zufrieden. Er packte das Geld zurück in den Beutel, erhob
sich und deutete auf das Meer jenseits der Landzunge hinaus. Kajida konnte aus ihrer
Position heraus zwar nicht sehen, was da war, aber die Dame schien es zufrieden zu
stellen.
Zugleich aber spürte sie plötzlich, wie sich etwas in ihrer Kehle zusammen zog. Das Bild
vor ihren Augen, die Felsen, die seltsamen Figuren, die Rotgewandete begannen, sich zu
verzerren und ein dumpfer Schmerz bohrte sich in ihre Stirn und fächerte in ihrem Kopf
aus. Kajida versuchte, zu schreien, aber da war keine Luft mehr zum Atmen, und ihre
Finger lösten sich von dem Stein. Und alles wurde dunkel und taub…
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LaMaga: Kajidas Träume. Eine Geschichte aus den Schattenherz-Chroniken
nd eine Stimme drang von weither an ihr Ohr.
„Du bist mein Zeuge. Dies ist ein Notfall! Ich habe keinerlei
unredlichen Absichten!“
„So mach doch schon“, antwortete eine zweite Stimme, eine, die ihr
ebenfalls bekannt vorkam, und diese Stimme zitterte vor Angst.
Und dann war da plötzlich etwas auf ihren Lippen, etwas, das – bei den Mächten! – sich
anfühlte wie andere Lippen und etwas in ihren Mund hauchte, das ein feines Aroma von
Rum mit sich brachte.
Kajida fuhr entsetzt hoch, schrie und schlug mit der Hand um sich und versetzte Drabèk,
der über sie gebeugt neben ihr kniete, einen unsanften Hieb.
„Kaj“, rief Svegar aus. „Den Mächten sei Dank! Du lebst!“
„Ich sehe hier wen, der nicht mehr lange lebt, wenn er nicht eine sehr gute Erklärung für
diese Unverfrorenheit hat!“ Kajida sprang mit zornrotem Kopf auf die Beine, knickte
sogleich wieder um und landete auf dem Hosenboden. „Reichen dir die Dorfmädchen nicht
mehr?“
„Beruhigt Euch“, sagte Drabèk und rieb sich die Nase. „Unter dem Wachküssen von
Prinzessinnen habe ich mir auch etwas anderes vorgestellt.“
„Was für eine lose Rede ist denn das?“ Kajida zog sich an der Reling neben sich hoch und
stellte dabei fest, dass sie irgendwie an Bord der Silbergischt gelangt war. „Was ist hier
los?“
„Wir haben dir das Leben gerettet, Kaj“, erklärte Svegar. „Drabèk hat dich an Bord
gezogen. Und weil du nicht mehr geatmet hast, wollte er dich wiederbeleben.“
Kajida warf dem Piraten einen verdrießlichen Blick zu. „Danke“, sagte sie dann knapp.
„Keine Ursache.“ Drabèk erhob sich und begann, sein klatschnasses Hemd auszuwringen.
„Prinzessin, ich bin nicht neugierig, aber ich wüsste doch ganz gern, was ihr zur Unzeit am
Strand getrieben habt.“
„Ich war ausreiten“, brummte Kajida.
„Das haben wir gesehen“, sagte Svegar. „Ich hab mir Sorgen gemacht!“
„Und ich habe an Eurem Verstand gezweifelt. Wir haben Euch eine ganze Weile
beobachtet und da das Unheil unausweichlich war, sind wir so schnell wie es nur ging, an
die Stelle gefahren, an die die Flut Euch gezogen hat.“
Kajida seufzte und schämte sich, dass sie Drabèk so unwirsch angegangen war. Zugeben
konnte sie das natürlich nicht. „Und wohin fahren wir jetzt?“
„Wo wollt Ihr hin? Zurück zur Burg?“
„Wenn das möglich wäre?“
„Ich werde sehen, was sich einrichten lässt. Obwohl Ihr langsam darüber nachdenken
solltet, eine Fähre zwischen Strand und meinem Ankerplatz einzurichten, so oft, wie wir
Euch in den letzten Tagen hin und her gerudert haben. Aber lassen wir das. Ihr habt uns
immer noch nicht gesagt, was Ihr am Strand wolltet.“
„Mit Herrn Merrits neuem Turnierpferd, wenn ich richtig gesehen habe“, fügte Svegar
hinzu, der natürlich, wie das halbe Dorf, dabei gewesen war und das Pferd bestaunt hatte,
als der Ritter damals von seiner Reise heimgekehrt war.
Kajida errötete und hoffte von ganzem Herzen, dass Fanwer den Hengst wieder
herbeischaffen konnte. Dann besann sie sich auf das, was sie unter den Augen der
Rotgewandeten in der Bernsteinbucht beobachtet hatte.
„Ich glaube“, sagte sie, „ich weiß jetzt, wie der Silberschatz auf den Grund unsere Leute
gekommen ist.“
„Tatsächlich?“ Drabèk horchte auf. „Ist das eine gute Geschichte?“
„Ich weiß nicht recht. Ich glaube, es wurde ein Verrat damit bezahlt.“
„Ein Verrat?“
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LaMaga: Kajidas Träume. Eine Geschichte aus den Schattenherz-Chroniken
„Eine Herrin von Emberbey hat einen Bauern damit bestochen, der bestimmt ein Spion
war. Und damit nicht herauskam, dass das Geld in der Kasse der Grafen fehlte, hat sie
entweder dem Schatzmeister selbst befohlen, es zu vertuschen oder einen Weg gefunden,
es mit dem minderwertigen Geld zu ersetzen.“
„Und wieso liegt das Geld im Tiegel unter der Erde?“
„Wahrscheinlich konnte der Spion die emberbey‘schen Münzen nicht sofort ausgeben. Er
hätte sich damit verdächtig gemacht in den wirren Kriegstagen. Und wahrscheinlich hatte
er dann keine Gelegenheit mehr, seinen Schatz auszugraben, als die Lage sich beruhigt
hatte. Vielleicht ist er umgekommen.“
„Nun“, sagte Drabèk, „das ist ja alles sehr interessant, aber wie kommt Ihr zu dieser
Geschichte?“
„Eine Eingebung. Und ich frage mich, was ich nun mit diesem Wissen anfangen soll.“
Kajida ließ die Schultern hängen. „Es muss einen Grund haben.“
„Was ist mit deinem zweiten Stiefel passiert?“, fragte Svegar und deutete auf Kajidas
bloßen Fuß.
„Weg. Wenn das das Einzige ist, was verschwunden bleibt, kann ich von Glück sagen.“
Die Prinzessin betrachtete kleinlaut ihre Zehen. „Ich kann nur hoffen, dass Fanwer nicht
auch denkt, dass ich weg bin und auf der Burg Alarm schlägt. Wir müssen so schnell wie
möglich zurück, bevor jemand mich vermisst oder mich für tot hält.“
Drabèk warf einen Blick zur Rah hinauf. Mit einem Rascheln bewegten sich die Segel und
drehten sich in den Wind. Wie der Pirat es fertig brachte allein durch seinen Willen das
Schiff zu bedienen, konnte sie sich immer noch nicht erklären, obwohl sie eine Magierin
war.
Svegar brachte Kajida einen Tiegel mit heilender Salbe, die er selbst immer dann
benutzte, wenn seine verkrüppelten Beine schmerzten. Kajida war gerührt über die
Fürsorge ihres Freundes. Und zugleich plagte sie das schlechte Gewissen, durch ihren
Leichtsinn einmal mehr anderen Probleme bereitet und sich selbst in eine Lage gebracht zu
haben, aus der ihr keine Ausreden oder Schwindeleien heraus helfen würden.
Und diese seltsame Vision, die die Rotgewandete ihr an der Schwelle zu den Träumen
gezeigt hatte – was sollte sie damit anfangen? Sollte sie Osse anvertrauen, dass es sich um
Verrätergeld handelte und dass eine seiner Ahnherrinnen darin verwickelt war? Das war
eine weniger ruhmreiche Geschichte als der Meisterschuss des Herrn Thorgar Emberbeys,
dessen sich die Grafen bis zum heutigen Tage rühmten.
Kajida seufzte. Sie näherten sich der Burg viel zu rasch für ihren Geschmack. Eine
passende Geschichte konnte sie sich so schnell nicht zurechtlegen. Und sie begann auch,
sich zu fragen, ob all das, die Träume, das seltsame Versteckspiel ihrer Mutter und der
Umstand, dass sie beinahe ertrunken wäre, günstige Vorzeichen für die Fahrt nach Librien
sein würden, um Véljioz Veree zu retten.
er junge Soldat Fanwer war unterdessen in höchster Besorgnis. Zwar war es
ihm gelungen, das entlaufene Turnierpferd an einer umzäunten Viehweide in
die Enge zu treiben und wieder einzufangen; als er jedoch zurück zu den
Dünen eilte, fand er den Strand überspült und bar jeder Spur von der
Prinzessin vor. Da er zuvor nicht bemerkt hatte, dass seine Gebieterin sich
verletzt hatte, war er sich zwar einerseits sehr sicher, dass die Prinzessin sich bei den
Dünen in Sicherheit gebracht hatte. Er verstand aber nicht, wie sie beiderseits des
schmalen Bohlenweges auf dem Dünenkamm so ganz außer Sichtweite hatte geraten
können.
Zu allem Überfluss tauchte plötzlich, schräg aus Richtung Salzwiesen kommend und unter
munterem Geplauder eine Gruppe Berittener auf; mehrheitlich Damen mit einigen leicht
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LaMaga: Kajidas Träume. Eine Geschichte aus den Schattenherz-Chroniken
bewaffneten Trossbegleitern und einem Ritter, der ihnen voraus ritt, stutzte und dann
seinem Hengst die Sporen gab, um zu Fanwer zu galoppieren.
Es gab kein Entrinnen und keine Möglichkeit, das Pferd zu verstecken. Fanwer sandte
eine flehentliche Bitte an die Mächte und erwartete ergeben die Ankunft seinen Herrn.
„Wieso“, fragte Merrit Althopian, „führst du mein Ross spazieren, Bursche? Wo willst du
damit hin?“
„Zur Burg, Herr“, antwortete Fanwer wahrheitsgemäß. „Ich bringe es in seinen Stall
zurück.“
„Und wieso ist es in Sattel und Zaum?“, fragte der Ritter beiläufig nach. „Hat dir der
Zeugwart aufgetragen, das Leder in Form zu halten? Oder hast du Pferdedieb einen
Komplizen bei dir?“
„Herr, Ihr bringt mich in eine große Verlegenheit, Ich wurde zu Verschwiegenheit
verpflichtet…“
„Von jemandem, dessen Wort mehr Gewalt hat als meines?“
„Nun ja… ja.“
Merrit Althopian runzelte die Stirn. „Nun gut. So werde ich nicht weiter nach dem Pferd
fragen. Stattdessen wüsste ich gern, wo die Prinzessin steckt.“
„Ich… ich…“, druckste Fanwer nervös herum und errötete unter dem gestrengen Blick
des Grafen, „ich weiß nicht. Ich habe sie verloren…“
„Du meinst, sie ist dir entwischt?“
„Nein. Sie hat mich weggeschickt. Und als ich zurück kam, war sie verschwunden.“
Zwischenzeitlich war auch der Rest der Gruppe herangekommen. Während die
Gesellschaft etwas Abstand wahrte, ritt die Königin an die Seite ihres Ritters. Besorgnis
malte sich auf ihrem Antlitz ab.
„Was ist geschehen?“
„Ein schöner Leibwächter ist das“, schalt Merrit Althopian den unglücklichen Fanwer.
„Die Prinzessin ist ihm abhanden gekommen.“
„Hier am Strand?“ Königin Manjev erbleichte. „Bei den Mächten, die Flut…“
Merrit Althopians Hand zuckte zu ihr hinüber, als wolle er sich begütigend berühren,
aber unter den Augen der neugierigen Edeldamen und Zofen konnte er sich beherrschen.
„Herrin, die Prinzessin kennt den Strand und die Tücken der Gezeiten. Macht Euch keine
Sorgen. Sicherlich ist sie sich ihrer Schuld bewusst, unerlaubt und mit einem… sagen wir,
entwendeten Pferd die Burg verlassen zu haben und versucht nun, uns vorerst nicht unter
die Augen zu kommen. Das wäre nicht das erste Mal.“
Königin Manjev suchte verunsichert Fanwers Blick. Der junge Mann nickte eifrig.
„Vielleicht war es doch keine so gute Idee, sie mit unserer verlängerten Abwesenheit zu
verwirren“, sagte die Königin.
„Herrin, wie anders hätten wir sonst die Möglichkeit gehabt, zu erfahren wie die
Prinzessin auf sich selbst gestellt Rätsel löst und Entscheidungen fällt? Herr Osse war sehr
angetan davon, wie die Prinzessin sich angestellt hat.“
Ein großer Vogel strich über die Gesellschaft hinweg. Die Königin folgte im mit ihren
Blicken, während er einen großen Kreis über dem Wasser zog und wieder auf die Gruppe zu
glitt.
„Schaut doch“, rief die Königin aus, „vielleicht weiß der Falke, wo wir suchen müssen!“
Sie streckte ihren Arm aus, und der Vogel landete so vorsichtig darauf, dass seine Krallen
sich kaum schlossen. Mit glimmenden Raubtieraugen schaute er in die Runde und dann
lange der Königin ins Gesicht.
„Es ist alles in Ordnung“, sagte Königin Manjev und strich dem Vogel zärtlich über das
Gefieder. „Die Prinzessin ist in ihrem Nest.“
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LaMaga: Kajidas Träume. Eine Geschichte aus den Schattenherz-Chroniken
Niemand fragte sich, wie sie das wissen konnte. Im ganzen Königreich war bekannt, dass
die Monarchin eine geheimnisvolle, lautlose Zwiesprache mit ihrem Vogel hielt, und wenn
auch so mancher das für eine wunderliche Marotte der Dame hielt, so hätte doch niemand
versucht, dagegen zu reden. Merrit Althopian am allerwenigsten.
Und so setzte der Tross sich in Richtung der Strand-Burg in Bewegung, während ein Stück
voraus auf dem Meer ihr Segelwerk neu ausrichtete und auf das nahe gelegene Strand-Dorf
zuhielt.
Fanwer führte das Kriegsross am Zügel und wagte es nicht, seinen Herrn anzuschauen.
Doch Merrit Althopian war nicht mehr verärgert. Es war kein Schaden entstanden, und
doch nahm er sich vor, mit seiner jungen Herrin einige ernsthafte Worte zu wechseln,
sobald sich die Gelegenheit ergab.
ajida hatte noch versucht, an Osse Emberbeys geöffneter Tür vorbei zu
huschen, aber der Minister hatte sie dennoch gesehen. Er trat hinter seinem
Pult hervor, wo er gerade wichtige Dokumente aufgesetzt hatte und rief ihr
hinterher.
„Majestät?“
Kajida zögerte, einen kurzen Moment nur. Dann seufzte sie, straffte ihre Gestalt zu
königlicher Haltung und humpelte würdevoll auf ihn zu. „Was gibt es?“
„Das wollte ich gerade Euch fragen. Ich habe wohl über meiner Arbeit nicht bemerkt,
dass es zwischenzeitlich heftig geregnet haben muss.“
Kajida errötete. Aus ihrem Mantel tropfte es immer noch ein wenig, eine kleine Pfütze
bildete sich um ihre bloßen Füße. Den verbliebenen Stiefel trug sie in der Hand.
„Ich wollte mich gerade umziehen“, sagte sie schnell.
„Tut das. Wünscht Ihr danach, mir von dem Abenteuer zu berichten, das Euch euer
Schuhwerk kostete?“
Die Prinzessin seufzte. Das war eine schwierige Entscheidung. „Ich weiß nicht so recht…“
„Habt Ihr denn wenigstens den königlichen Tross gefunden?“
„Woher weißt du, wo ich war?“
Der Minister lächelte. „Kapitän Olgurd hat mir Bericht erstattet.“
„Petze“, zischte Kajida verärgert.
„Nein, das ist er nicht. Über Euren Verbleib hat er keine Meldung gemacht, aber
natürlich hat er ordnungsgemäß angegeben, dass einer seiner Männer außerhalb der Burg
Dienst tut. Den Rest konnte ich mir denken.“
„Jedenfalls war mein Ausflug erfolgreich. Ich weiß jetzt, wie die Silbermünzen den Weg
auf das Feld gefunden haben.“
Der Graf hob überrascht die Brauen. „Tatsächlich?“
Die Prinzessin nickte und humpelte dann an ihm vorbei in die Amtsstube, wobei sie nasse
Fußstapfen auf dem holzvertäfelten Boden hinterließ. Osse Emberbey warf einen gefassten
Blick darauf und folgte ihr. Die Tür schloss er hinter sich.
„Das ist nichts, was das Gesinde mithören muss“, sagte sie und warf ihren Mantel achtlos
über eine gepolsterte Bank. Der Minister beeilte sich, das triefnasse Kleidungsstück
aufzuheben und hängte es, mangels besserer Möglichkeiten, an einen hohen Kerzenständer.
„Und woher habt Ihr diese Erkenntnis?“
„Aus einem Traum, glaube ich. Jemand, der damals dabei war, hat mir seine
Erinnerungen gezeigt.“ Sie zuckte die Achseln. „Es war wohl etwas Magie dabei. Aber keine
Zauberei. Nichts ist verändert worden an dem, was geschehen ist.“
Osse Emberbey nickte. Kajida war dankbar, sich nicht weiter rechtfertigen zu müssen.
Der Minister gehörte zu den wenigen Menschen, die um ihr magisches Erbe wussten und
keine Fragen stellten, wenn sie über ihre sonderbaren Fähigkeiten redete. Manchmal
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LaMaga: Kajidas Träume. Eine Geschichte aus den Schattenherz-Chroniken
erschien es Kajida sehr seltsam, dass der immer so sachliche Minister keinen Moment lang
an der Wirklichkeit der Magie gezweifelt hatte.
„Wollt ihr mir sagen, wer es war?“
Die Prinzessin wollte ihm antworten, besann sich jedoch.
„Wer was war? Wer mir den Traum gezeigt hat? Das weiß ich nicht. Sie.. sie hat sich
nicht vorgestellt.“
„Nein. Das geht mich nichts an. Aber ich nehme an, Ihr habt mir von einer Angelegenheit
zu berichten, die kein gutes Licht auf meine Familie wirft.“
„Dann weißt du davon?“
Der Minister lächelte. „ihr seid nicht weit gekommen mit der Lektüre des Königsbuches,
nicht wahr?“
Sie runzelte fragend die Stirn. „Steht es etwa da geschrieben?“
„Es steht etwas geschrieben, was Ihr nun vielleicht bestätigen könnt.“
Kajida ließ sich auf der Bank nieder. „Eine vornehme Dame aus deiner Familie war es.
Sie gab einem äußerst zwielichtig aussehenden Bauern Geld, und es ging um etwas, was auf
dem Wasser geschah.“
„Eine etwas ältere Dame?“
Die Prinzessin nickte. Der Minister seufzte.
„Das war Enaide Emberbey. Die Mutter von Herrn Thorgar.“
„Tatsächlich? Was hat sie gemacht?“
„Sie hat, während Thorgar Emberbey mit König Benasrù um Waffen handelte, über
Agenten sowohl mit dem Strand-Haus als auch dem von den Westlichen Inseln Ränke
geschmiedet, die dazu dienten sollten, dass die Angreifer die Burg Emberbey einnehmen
sollten.“
„Ihr eigenes Haus?“
„Ja. Unter der Bedingung, dass weder ihr noch ihrer nachgeborenen jüngsten Tochter ein
Leid geschähe, wenn der… Feind die Burg erobern und die Prinzessin Ingola befreien
würden.“
„Schon wieder diese Prinzessin! Dabei schien dich dieses Thema gar nicht zu
interessieren, als wir darüber sprachen.“
Graf Emberbey senkte den Blick. „Und dennoch habt ihr Euch vom Starrsinn Eures
Ministers nicht davon abhalten lassen, weiter zu forschen. Das habt Ihr sehr gut gemacht,
Majestät.“
Kajida fragte sich, ob das tatsächlich ein Lob aus Osses Mund gewesen war. Dann nickte
sie, als habe sie nichts anderes erwartet. „Wie ist die Sache damals ausgegangen?“
„König Benasrù schreibt dazu, wie ihr sicherlich noch selbst lesen werdet, dass Herr
Thorgar schließlich nach verlustreichen Kämpfen Verdacht gegen seine eigene Mutter
schöpfte. Und weiteren Verrat unterbinden konnte, indem er sie in ihren Gemächern
gefangen setzen ließ.“
„Eine Mutter wendet sich gegen den Sohn“, staunte Kajida. „und das alles wegen dieser
Prinzessin!“
„Herr Thorgar hat die Prinzessin aufrichtig geliebt, Herrin. Aber es war keine glückliche
Zeit für diese Liebe. Und nach der offiziellen Lesart war es Herr Thorgar, der die Prinzessin
als Gefangene hielt. Doch ich glaube, tatsächlich verhielt es sich anders. Doch darüber
steht es mir nicht an, zu sprechen.“
„Steht denn mehr dazu in König Benasrùs Buch?“
„Die offizielle Lesart, Majestät. Zu allem weiteren könnt Ihr vielleicht Eure
Traumkameradin befragen.“ Und nun, Prinzessin, sputet Euch und sehr zu, dass Ihr in
trockene Gewänder kommt. Eure Mutter und Herr Merrit werden mit dem Gefolge bald hier
sein.“
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LaMaga: Kajidas Träume. Eine Geschichte aus den Schattenherz-Chroniken
Kajida, die schon halb aufgestanden war, warf ihm einen scharfen Blick zu. „Du weißt
viel, Osse Emberbey, und andere Dinge als du sagst!“
Der Graf wandte sich wieder seinen Papieren zu. „Majestät – dies alles war eine Probe.
Ein Spiel, um Eure Findigkeit und Euren eigenen Verstand zu prüfen. Ihr habt Euch wacker
geschlagen. Herr Merrit und Eure Mutter werden hoch zufrieden mit Euch sein.“
„Und du?“
Er schenkte ihr einen langen, gütigen Blick. „Ich werde es sein, wenn Ihr mir in der
nächsten Schulstunde berichten könnt, wie es nach den großen Kriegen zur Neuorganisation
der Östlichen Königreiche kam.“
„Vielleicht werfe ich heute Abend einen Blick auf das Kapitel“, sagte sie gnädig und
schritt so hoheitsvoll, wie ihre nassen Gewänder und bloßen Füße es erlaubten, aus dem
Raum.
Den nassen Mantel ließ sie über dem Kerzenständer hängen.
ls Königin Manjev, den Falken auf der Schulter, die Gemächer ihrer Tochter
aufsuchte, fand sie das Mädchen frisch frisiert und in neuen Gewändern auf
der Fensterbank sitzend in ein dickes Buch vertieft vor. Die Königin setzte sich
dazu.
„Guten Tag, Mutter“, sagte Kajida und vermied es, allzu lange
aufzublicken. „Ich lese gerade ein spannendes Buch über die Geschichte der Nördlichen
Reiche.“
„Ich sehe es. Und es freut mich, dich friedlich mit einem Buch anzutreffen. Und allzu
selten sehe ich dich in einem hübschen Kleid einher gehen. Mancher könnte meinen, du
seiest ein Junge.“
„Ich dachte mir, ich probiere etwas neues aus“, sagte Kajida rasch. „Und wie war es bei
deinem Staatsbesuch? Ist der Altgraf Althopian wohlauf?“
Die Königin lächelte. Der Falke löste sich vorsichtig vom Tuch ihres Kleides und flatterte
zwischen sie auf das Fensterbrett.
„Ich habe dir einige Dinge aus Blauhafen mitgebracht, Liebes. Feines Leder für neues
Schuhwerk hatte man dort anzubieten.“
„So ein Zufall“, murmelte Kajida und fügte laut hinzu: „Danke Mutter.“
„Du weißt, dass Fanwer in großer Sorge war?“
Kajida zuckte zusammen. An den jungen Soldaten hatte sie kaum noch gedacht. „Hat er
das Pferd denn gefunden?“
„Dem Tier ist nichts geschehen. Aber wie konntest du einfach so alles stehen und liegen
lassen, um in die Burg zurück zu laufen? Wenn dir dein Ausritt langweilig wird, dann hättest
du zumindest deiner Eskorte Bescheid geben können, anstatt einfach zu verschwinden. Der
junge Mann war in höchster Sorge, und Kapitän Olgurd war auch nicht sehr zufrieden mit
ihm.“
„Kommt nicht wieder vor“, murmelte Kajida und hoffte inständig, dass niemand Zeuge
gewesen war, als sie durchs seichte Wasser von Drabèks aus ans Ufer gewatet war und sich
durch versteckte Winkel zurück in die Burg gestohlen hatte. Und dass Osse nicht plaudern
würde. „Ich werde zur Wachstube gehen und ein gutes Wort für Fanwer einlegen. Er konnte
wirklich nichts dafür und hat nur meinen Befehl befolgt.“
„Aber was ist denn eigentlich passiert?“
„Ich bin vom Pferd gefallen“, erklärte sie. „Das war mir so peinlich, dass ich Fanwer
hinter dem Ross her geschickt habe. Und dann bin ich einfach nach Hause gegangen.“
Du verschweigst Dinge, Tochter, dachte der Falke.
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LaMaga: Kajidas Träume. Eine Geschichte aus den Schattenherz-Chroniken
Soll ich sie etwa ängstigen, indem ich vom Wasser erzähle? fragte die Prinzessin in
Gedanken zurück. Soll ich ihr erzählen, dass mich meine Unvernunft um ein Haar hinter
die Träume gespült hätte?
„Dann hattest du ursprünglich vor, Herrn Merrit auf seinem eigenen Pferd entgegen zu
reiten? Er wäre sicher nicht erfreut gewesen.“
„Vielleicht wäre er stolz gewesen, wenn ich mich als gute Reiterin gezeigt hätte.“
Die Königin seufzte. „Kajida – in so vielen Dingen bist Du noch ein Kind!“
„Ich bin dein Kind“, antwortete die Prinzessin.
Die Königin erhob sich und streichelte ihrer Tochter zärtlich über das wilde kupferrote
Haar. „Ich danke den Mächten dafür. Und nun entschuldige mich, ich muss mich eine Weile
von dem anstrengenden Ritt ausruhen. Schau zu, dass du pünktlich zum Nachtessen
erscheinst. Ich habe gehört, du habest gestern kaum etwas gegessen.“
Kajida nickte. „Ja, Mutter.“
Nachdem die Königin sich entfernt hatte, schaute der Falke der Prinzessin lange in die
Augen.
„Ich habe nicht geschwindelt“, sagte sie trotzig.
Nein. Aber viel lernen musst du trotzdem noch, bis du die Fahrt nach Librien wagen
kannst, um Véljioz Veree zu befreien.
Die Prinzessin wartete. Aber das Seelentier schien das Gespräch beendet zu haben.
„Wer war sie?“, fragte das Mädchen schließlich.
Das darfst du noch nicht wissen, antwortete der Falke. Es würde dich zu sehr verwirren.
„Werde ich sie wiedersehen?“
Der Falke wandte sich dem Fenster zu. Versuch es, sagte er.
„Aber wie?“, fragte Kajida, doch der Falke hatte tief unten im Burghof eine Maus
entdeckt, glitt lautlos hernieder und verschwand mit seiner Beute im Schnabel hoch über
den Dächern. Meister Galeon war fort.
ajida las in König Benasrùs Chronik, bis das Tageslicht schwand. Dann
erinnerte sie sich an Fanwer und beeilte sich, Kapitän Olgurd aufzusuchen. Der
hatte dem jungen Soldaten als Strafe für seine vermeintliche Nachlässigkeit
auferlegt, ausgemustertes Kettenzeug zu entrosten, das von niemandem mehr
getragen wurde. Kajida selbst erlöste ihn von der langweiligen Arbeit.
„Ich habe jetzt die Geschichte der Grafen von Emberbey von vorne bis hinten gelesen“,
berichtete sie ihm, während sie sich von ihm in den Rittersaal begleiten ließ. „Habe ich es
richtig verstanden, und Herrn Osses Ahneltern stammten tatsächlich von dieser Prinzessin
Ingola ab?“
„Es ist anzunehmen, dass Herr Thorgar der Vater ihres Kindes war, ja.“
„Dann hat Osse also eine echte Prinzessin in der Familie“, staunte Kajida. „Schade, dass
das Kind nicht vom Königshaus der Westlichen Inseln anerkannt wurde. König Benasrù
erwähnt das, während er sich in seinem Buch Gedanken über die Erbfolge seines eigenen
Reiches macht. Wenn ich nicht darauf geachtet hätte, hätte ich das wohl überlesen.“
„Das ist alles sehr interessant, nicht wahr, Majestät?“
„Na ja.“ Kajida zuckte die Achseln „Irgendwie schon. Aber letztlich sind all diese Dinge
irgendwie…“
Sie unterbrach sich. Menschengerangel, hatte sie sagen wollen. Aber das hätte Fanwer
wohl verwirrt. Wie sollte der junge Mann verstehen, dass sie sich viel mehr dafür
interessierte, wer die Rotgewandete aus ihrem Traum war?
Bei Tisch war Kajida schweigsam und aß mit äußerster Konzentration auf das Dekor ihres
Tellers. Den Blickkontakt zu Merrit Althopian vermied sie. Trotzdem spürte sie, wie die
beiden Grafen und die Königin über sie hinweg vielsagende Blicke austauschten, während
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LaMaga: Kajidas Träume. Eine Geschichte aus den Schattenherz-Chroniken
sie sich über das Warenangebot in Blauhafen, anstehende Handelsfahrten und den Zustand
der Gasthäuser am Rand der Reiseroute unterhielten.
„Kann ich morgen mit Euch über den Inhalt der Lektüre reden, die ich euch gab?“, fragte
Osse Emberbey schließlich beiläufig.
„Ich habe es fast ausgelesen“, sagte Kajida ohne aufzublicken.
„Brav“, lobte der Minister.
„Hat die Prinzessin sich wohl betragen und wie eine künftige Herrscherin gehandelt,
während wir weg waren, Osse?“, fragte die Königin.
„Ich habe keinen Grund zum Tadel vorzubringen, Majestät.“
Kajida hielt misstrauisch beim Kauen inne.
„Sie hat sich in der Angelegenheit mit den Silbermünzen interessiert und besonnen
gezeigt und dabei auch ihre Studien nicht nennenswert vernachlässigt. Entschuldbar.“
Kajida schluckte und bemühte sich, die Blicke zu ignorieren, die auf ihr lagen.
„Ich finde“, sagte Merrit Althopian, „das sollte belohnt werden. Osse, kannst du deine
Schülerin für einige Stunden entbehren, morgen am Nachmittag – nachdem die Flut
zurückgegangen ist?“
„Selbstverständlich, Herr Merrit.“
„Und Ihr, Majestät? Wie es euch, wenn wir morgen einige Exerzitien am Strand reiten
würden? Ich habe ein hervorragendes neues Pferd im Stall. Ich glaube, Ihr kennt es schon.“
Kajida blickte auf und schaute ihm in seine scharfen blauen Augen.
„Gern“, sagte sie dann. „Sobald Herr Osse seine Lektionen beendet hat, werde ich Zeit
dazu haben.“
Der Ritter lächelte. Und der Prinzessin fiel ein Stein vom Herzen.
päter in der Nacht träumte Kajida. Sie träumte wieder von der sonderbaren
Treppe in dem unterirdischen Gewölbe über dem wispernden Wasser. Sie
saß über dem Abgrund auf der letzten Stufe und horchte. Aber diesmal war
sie nicht allein. Die schweigende Rotgewandete aus den anderen Träumen
stand hinter ihr. Sie spürte es, ohne sich umzudrehen. Doch diesmal, das
ahnte Kajida, würde sie ihr antworten.
„Warum zeigst du mir das?“, fragte Kajida. „Ist dies ein wirklicher Ort? Oder ist es ein
Bild?“
„Es ist beides“, antwortete die Rotgewandete. Sie hatte eine sanfte, jugendliche
Stimme.
„Ein Ort und ein Bild wie die vielen Türen und das Kornfeld? Das Meer war echt, das habe
ich erkannt.“
„Es ist an dir, es zu entschlüsseln. Die Dunkelheit, die Entscheidungen, die einsame
Hitze.“
„Die Entscheidungen haben angefangen, nachdem die Dunkelheit hier weg war. Und
obwohl ich dem Wasser nachgegangen bin, bin ich am Ende bei dir in der Hitze gelandet.“
„Es war einsam, dort, wo du mich gefunden hast.“
„Konntest du von dort nicht weg?“
„Nein.“
„Aber nun bist du hier?“
„Ja.“
„Warum?“
„Weil du dem Wasser gefolgt bist und mich gefunden hast.“
Kajida runzelte die Stirn. Sie begriff nicht so recht.
„Bist du lieber hier als auf dem Kornfeld?“, fragte sie.
„Oh ja.“
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LaMaga: Kajidas Träume. Eine Geschichte aus den Schattenherz-Chroniken
„Warum?“
„Weil ich hier das Wasser hören kann. Hörst du es? Das Wasser ist viel näher gekommen,
seit du den Weg gefunden hast. Du hast das Wasser her gebracht.“
Die Prinzessin schwieg nachdenklich.
„Du darfst mir immer noch nicht sagen, wer du bist, nehme ich an? Selbst mein Vater
verschweigt es mir, obgleich er es gewiss weiß.“
„Im richtigen Moment, Prinzessin Kajida, werde ich mich dir offenbaren. Wenn du deine
Aufgaben erledigt hast.“
„Ich weiß. Ich muss Véljioz Veree retten.“
„Das mag sein. Aber das wird nicht deine einzige Aufgabe sein.“
Kajida stutzte. „Darfst du mir sagen, worum es geht?“
Die Rotgewandete lächelte spöttisch, Kajida konnte es spüren.
„Die Aufgabe wird zu dir finden, ohne dass du dich darum kümmern musst, kleine
Prinzessin. Du musst etwas hüten, das ich selbst verloren habe. Etwas, was dir leicht
erscheinen wird und doch schwer zu ertragen sein wird, sobald du erkennst, was mit dir
geschieht, sobald du diese Bürde trägst.“
„Das verstehe ich nicht.“
„Du wirst es erkennen, wenn du es längst tust.“
„Kann ich dir eine Frage stellen?“
„Ich kann dir vielleicht keine Antwort geben. Aber frage nur zu, Prinzessin Kajida.“
Kajida nahm all ihren Mut zusammen.
„Fließt das Wasser jetzt unter dieser Treppe entlang? Ist es eine Grenze? Habe ich die
Grenze verschoben, irgendwie?“
„Ja.“
Diese Antwort, so knapp und schlicht, überraschte Kajida nicht. Sie erhob sich und
drehte sich zu der Rotgewandeten um. Deren Gesicht lag immer noch im Schatten ihrer
Kapuze, unkenntlich.
„Dann will ich diese Grenze nun auch überschreiten. Näher hin zum Ziel.“
„Ohne zu wissen, wovon diese Grenze dich trennt?“
Kajida zögerte. „Kannst du die Grenze nicht überschreiten, wenn du doch danach
suchst?“
Die Rotgewandete lächelte. „Nicht allein.“
„Dann komm,“ sagte Kajida und streckte die Hand nach der Frau aus. „Ich führe dich.“
„Ohne zu wissen, wohin ich will? Ohne zu wissen, ob du auch dorthin willst?“
„Das ist mein Traum“, sagte Kajida. „Mir kann hier nichts geschehen.“
Die Rotgewandete senkte den Kopf. Dann fasste sie Kajidas Hand. Ihre Finger waren kalt
wie Eis. Die Prinzessin schauderte.
Dann nahm sie ihren Mut zusammen, schloss die Augen und drehte sich um. Und sprang
hinab ins Dunkle, auf das tosende Wasser zu, die fremde Rotgewandete bei sich,
gemeinsam fielen sie in die Schwärze, hinab in das brausende, tobende Wasser in ihrem
Geist…
Das war ein Traum. Ihr konnte nichts geschehen.
M
enschenküken auf, wach wach wach!, zwitscherte der Falke und zupfte an Kajidas
Haar.
Die Prinzessin schrak hoch und schlug abwehrend um sich. Cùya hüpfte beiseite
und flatterte auf die andere Seite des Kopfkissens.
Auf auf wach wach Sonne scheint! beharrte er.
„Cùya! Was soll das? Warum machst du so ein Spektakel?“
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Früher Falke fängt Küken, sagte Cùya. Draußen krähte ein Hahn im Burghof.
Menschenmeisterküken hat viel vor!
„Dank dir werde ich nicht erfahren, was jenseits des Wassers ist! Ob die Rotgewandete
nun an einem Ort ist, an dem sie nicht mehr einsam herumirren muss!“
Sie ist einen guten Schritt weiter gekommen, sagte Cùya. Indem du ihr geholfen hast,
hat sie eine Barriere überwunden. Aber nun bist du es, die noch nicht dorthin darf.
Kajida setzte sich auf. „Vater?“
Du hast es richtig gemacht.
Kajida warf dem Falken einen zweifelnden Blick zu. „Ich habe ihr geholfen, weil sie mir
geholfen hat. Die Sache mit den Silbermünzen und so.“
Hast du aus der ganzen Sache denn auch etwas gelernt?
„Na ja… die Ahnfrau vom Uhumann… von Osse hat ihren Sohn verraten, und…“
Kajida?
Das Mädchen verstummte. Die glimmenden Falkenaugen betrachteten sie scharf.
„Ich habe gelernt, dass ich mehr Rücksicht auf andere, Geduld und Vertrauen haben
muss. Und dass ich öfter auf das hören sollte, was andere, erfahrene Ratgeber mir sagen.“
Der Falke legte den Kopf schief.
„Ich werde nicht mehr ohne Erlaubnis mit einem fremden Pferd an gefährlichen Orten
herumreiten, obwohl ich mich eigentlich um andere Dinge kümmern sollte. Meine Studien
zum Beispiel. Die Lektüre des Königsbuches. Die Verantwortung einer Prinzessin. So, wie
Mutter, Oheim Merrit und Herr Osse es an mir prüfen wollten.“
Der Falke war amüsiert. Kajida seufzte. „Aber das alles fällt mir so schwer…“
Cùya schüttelte das Gefieder aus und flatterte auf das Fensterbrett.
Lärmvogel, sagte er entschlossen. Heute Falkenbeute!
Kajida schaute ihm nach, wie er aus dem Fenster glitt, woraufhin im Burghof aufgeregtes
Gegacker erschallte. Dann erhob sie sich aus dem Bett und räkelte sich. Am Mittag winkten
die Lektionen von Merrit Althopian, des ersten Ritters der Königin, als Belohnung für die
Mühen mit Osse Emberbey.
Der Traum aber begann bereits, in ihren Gedanken zu verblassen.
enseits des Chaos trieb ein kleines buntes Schiffchen über ein friedliches azurblaues
Meer. An Deck saß ein alter, einäugiger Kapitän mit einem Holzbein in der Sonne
und döste. Der zerrupfte Papagei auf seiner Schulter starrte apathisch vor sich hin.
Der Kapitän hatte eine Angelrute ausgeworfen und genoss die Sonne, die warm
vom mit weißen Wölkchen getupften Himmel strahlte. Er hatte nichts weiter zu tun
an diesem Tag, als einen Fisch zum Abendessen zu fangen. Und in diesem Moment schien er
etwas am Haken zu haben.
Aufgeregt holte er die Angelschnur ein, mit Mühe, denn seine Beute lieferte sich einen
aufregenden Kampf mit ihm, der sogar den Papagei dazu brachte, kurz zu blinzeln. Doch als
der alte Mann seinen Fang an Bord bugsiert hatte, zeigte sich, dass er einen Stiefel aus dem
Ozean gefischt hatte. Zwar war es nicht, wie üblich, ein alter Treter mit kaputter Sohle,
sondern ein fein gearbeiteter Damenreitstiefel aus rotem Leder. Essbar war er trotzdem
nicht.
„Blitzdonnerschlag“, seufzte der Kapitän. „Gibt es in den siebenundzwanzig Meeren
denn gar keine Makrelen mehr?“
Enttäuscht warf er den Stiefel zurück ins Wasser. Der Tag in Librien war warm und
sonnig. Und in Bel’e Tristika träumte ein junger Magier von einer anderen Welt.
J
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