Seite 1 / 20 Dein Anfang: Du bist am Nachmittag des 19. Januar

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Dein Anfang:
Du bist am Nachmittag des 19. Januar 1959 in der slawonischen Stadt Vinkovci in
Kroatien als
(‚Slawiza Ljubiza Glischitsch‘) geboren worden. (Dort
hast Du auch mich, Dein einziges Kind, 20 Jahre später, am 31. Oktober 1979, um
genau 22:55 Uhr, zur Welt gebracht.) Im deutschsprachigen Raum wurdest Du
später
genannt. Du warst die Älteste unter Deinen Geschwistern (zwei
Schwestern und ein Bruder). Du bist ab der 4. Klasse nach Wien gekommen, dort
hast Du Deine Hotel- und Servicelehre abgeschlossen. 1979 bist Du nach
Deutschland (Stuttgart) und 1983 in die Schweiz (Kreuzlingen, TG) gezogen. Du
warst sehr frühreif, selbständig und pflichtbewusst und wolltest rasch auf eigenen
Beinen stehen. Du hast seit Deinem 16. Lebensjahr Dein eigenes Geld verdient
(Arbeit kanntest Du jedoch schon als Kind). Du wurdest von Gerichts wegen in Wien
vorzeitig für volljährig erklärt. Deine Freiheit wurde Dir nicht geschenkt, Du hast sie Dir erobert. Fortan warst Du
Dein Leben lang finanziell unabhängig. Du hast mangels eines geregelten, zweiten Einkommens noch hochschwanger
12 Stunden am Tag gearbeitet und hast von Anfang an allein die Verantwortung für Deine eigene, kleine Familie
getragen. Damals schon war eine tapfere Haltung in jeder Lebenslage kennzeichnend für Dich sowie Stärke bei
gleichzeitiger Verletzlichkeit und eine unbeirrbare Sicht auf die Realität – nicht auf den Schein, auf die Welt und die
Menschen, wie sie sind. Deine Entscheidungen im Leben waren Dir früh schon heilig und es war Dir wichtig, zu allem,
was Du tust, stehen zu können. Den Kern Deines Charakters bildeten Anspruch, Verlässlichkeit und Beständigkeit.
Mit Halbheiten und Provisorien in allen Lebenslagen wolltest Du Dich nicht zufrieden geben.
Deine Hauptmerkmale:
Gewissenhaftigkeit, Fleiss, finanzielle Unabhängigkeit, Verantwortungsbewusstsein, Freigiebigkeit, Anstand und
Herzlichkeit. Das sind Attribute, die mir bei Dir früh aufgefallen waren, ohne dass ich sie damals hätte benennen
können. Zum Beispiel kannte ich damals das Wort „Direktheit“ noch nicht, erfuhr aber von Dir, dass man die Dinge
immer beim Namen nennen soll, selbst wenn unangenehme Konsequenzen folgen. In Deiner klaren und
unmissverständlichen Sprache hast Du die Wahrheit über den Komfort gestellt und nicht selten bist Du auf
Menschen gestossen, die Unangenehmes lieber verblümt oder verdreht ausgesprochen oder ganz verschwiegen
haben wollten.
Grosszügigkeit mit Geld und Dingen ging mit Deiner Fähigkeit einher, mit Geld gut umgehen zu können, ohne daran
zu hängen, und ohne selbst darum zu bitten. Aufgrund selbst erlebter Armut und daraus folgender Ausgrenzung
warst Du sensibilisiert, wenn es um bedürftige Menschen aller Art ging (so gingen häufig auch Menschen auf Dich zu,
die lediglich das Bitten um Geld u.a. vorzogen, als es sich selbst zu erarbeiten).
Deine Gegenwart strahlte stets eine unaufdringliche Liebenswürdigkeit, Würde und Stolz aus. Trotz Deiner
Bemühungen um ein gepflegtes und gutes Äusseres, womit Du Dein Inneres unterstreichen wolltest, warst Du nie
oberflächlich, nie protzig, nie anbiedernd. Konkurrenzkämpfe jeglicher Art waren Dir fremd. Älter zu werden, war für
Dich normal und hatte etwas Auszeichnendes (obschon Du seit Deinem 50. Lebensjahr eine erst heute erklärliche
Unruhe verspürt hast, die nichts mit Eitelkeit, sondern mit Deinem ausgeprägten Instinkt zu tun hatte). Du hast nicht
zu den Frauen gehört, die sich auf äusserliche Ambitionen oder auf die Gunst anderer verliess, Du hast vielmehr
Deine eigenen Fähigkeiten und Leistungen vorangestellt und viel von Dir selbst gefordert. Du lebtest als Mensch und
als Frau stets von innen nach aussen, nie von aussen nach innen.
Du warst immer sehr hilfsbereit, oft über Deine Möglichkeiten hinaus und entgegen aller Risiken. Das Gefühl hast Du
oft vor die Vernunft gestellt. Da Du Dein Herz offen durchs Leben getragen hast, wurdest Du auch oft verwundet. Du
bist dieses Risiko unermüdlich und hoffnungsvoll eingegangen und hast auch die Konsequenzen tapfer getragen.
„Lieber sich betrügen lassen, sich verletzen und enttäuschen lassen, als selbst zu betrügen, zu verletzen und zu
enttäuschen.“ Das war auf den Punkt gebracht Dein Lebensmotto. Irgendwann hast Du Letzteres nicht mehr
zugelassen und hast Dein Leben auf diejenigen Menschen konzentriert, bei denen Ersteres nicht passieren kann. Du
wurdest konsequent und kompromisslos. Entweder richtig oder gar nicht.
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Wahrheit und Gerechtigkeit, solide Verhältnisse in Beziehungen und die
verlässliche Beständigkeit menschlicher Qualitäten waren Dir im Leben am
teuersten. Eine tiefe Verbundenheit auch zu Deinem erwachsenen Kind war
ein zentrales und erfülltes Bestreben in Deinem Leben. Du hattest den
Zeitpunkt erkannt, an dem die Mutterrolle sich in ihren Schwerpunkten
verwandeln sollte: in vorwiegende Freundschaft und Respekt gegenüber
dem Kind und umgekehrt. Du hast Menschen in Deinem Leben in vieler
Hinsicht jene Dinge gegeben, die Du selbst entbehren musstest.
Deine Lieblingstugenden:
Gerechtigkeitsstreben, Integrität, Wahrheitsliebe, Tiefgründigkeit, Würde,
Unbestechlichkeit, Zuverlässigkeit, Gewissenhaftigkeit, Mut in Krisenzeiten,
Wiedergutmachung, direkte Art der Kommunikation, beständige Tiefe und
Freundschaft in allen Beziehungen.
Fehler/Eigenschaften, die Du entschuldigt hast:
Ungeduld, Gutgläubigkeit, Zweifel und Zögern, Unerfahrenheit.
Fehler/Eigenschaften, die Dir unverzeihlich waren:
Böswilligkeit, Schadenfreude, Missgunst, Reue- und Gewissenlosigkeit, Vertrauensbruch, Vulgarität, Wankelmut,
Heuchelei und Kriecherei, Angebertum, Ausbeutung, primitive Verhaltensweisen und mangelnde Opferbereitschaft.
Deine Lieblingsbeschäftigungen: Stundenlange Spaziergänge durch Wälder („Spazzotteln“ ), Du hast Gärten, die
Natur und zuletzt besonders Bäume gern gesehen und berührt. Kochen, Essen, Lesen, schöne Lieder hören und
singen, gute Gespräche führen, Latte Macchiatos trinken und besonders Desserts essen, gute Filme und Sendungen,
Tagesausflüge, wahre Geschichten aus dem Leben. Die persönlichen Begegnungen hast Du mehr geschätzt, als Dich
in Gruppen oder Massen wiederzufinden.
Deine Begabungen:
Du warst ein sehr praktisch veranlagter Mensch, dem es auch nicht an Geist
fehlte. Du hattest ein ausgezeichnetes Gedächtnis und Organisationstalent, um
mehrere Dinge gleichzeitig zu tun und (besonders in der Gastronomie) die
Fähigkeit, dort Übersicht zu behalten, wo andere überfordert sind. Zudem hast
Du privat wie beruflich hervorragend gekocht und warst die letzten 7 Jahre in
der Lage, ein 100-plätziges Restaurant allein mit Speisen zu versorgen. (Das
Kochen hast Du Dir durch Kreativität selbst beigebracht und durch viele Jahre
interessierter Beobachtungsgabe.) Du konntest sehr viel allein leisten und Dir
allein aneignen, ohne Dich auf andere zu verlassen, da Du zuerst von Dir alles
gefordert hast. Du hattest einen Blick für Räume, die Du mit Stil einrichten
konntest sowie für Kleidung. Du hattest ein Gespür für Pflanzen und für alles,
was lebt und wächst. Ich hatte Dir immer gesagt, dass Du eine gute Ärztin
hättest werden können, da Du in medizinischen Fragen und Zusammenhängen
sehr aufnahmefähig warst. Von Dir als Mensch ging eine natürliche Mischung
aus Charme, Würde und Erhabenheit aus. Bei allem, was Du Dir vornahmst,
hast Du stets viel Geschicklichkeit und überdurchschnittliche Ausdauer gezeigt
– im Beruf wie im Leben.
Was Du nicht mochtest: Es fiel Dir zeitlebens schwer, nicht zu sagen, was Du
denkst und Dich dem Willen anderer zu beugen, auch wenn die Umstände im
Leben einen nicht selten dazu zwingen wollen. Du mochtest es nicht, wenn
jemand keinen festen Charakter hat, mit eigenen Prinzipien, wenn er je nach
„Wetterlage“ heute so und morgen anders ist. Opportunismus jeglicher Art war
Dir zuwider. Du hast Dich immer erfolgreich gegen Unselbständigkeit gewehrt,
womit Du die Menschen durch Deinen starken Willen bis zum Schluss
beeindruckt hast.
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Deine Lieblingszitate:
„Das Dilemma unserer Welt ist,
dass die Narren so selbstsicher
und die Weisen so voller Zweifel sind.“
(Bertrand Russell, 1872 – 1970)
„Man sieht nur mit dem Herzen gut.
Das Wesentliche
ist für die Augen unsichtbar.“
(Antoine de Saint-Exupéry, 1900 – 1944)
„Wenn Du Dich zur Versöhnlichkeit geneigt fühlst,
so frage Dich vor allem,
was Dich eigentlich so milde stimmt: Schlechtes Gedächtnis,
Bequemlichkeit oder Feigheit?“
(Arthur Schnitzler, 1862 – 1931)
„Es gibt nichts Vergleichbares wie die Liebe von einer Person, die
beides ist, Tochter und Freundin zugleich.“ (aus dem Zitate-Buch:
‚Es gibt keine bessere Freundin als eine Tochter… und keine Tochter ist
wie Du.‘ – ein Geschenk von Dir aus dem Jahr 2010)
Bücher, die Du gern gelesen hast
(in chronologischer Reihenfolge):
„Nicht ohne meine Tochter“ von Betty Mahmoody
„Die Asche meiner Mutter“ von Frank McCourt
„Die Geisha“ von Arthur Golden
„Die Ballade vom traurigen Café“ von Carson McCullers
Medizinische & psychologische Fachbücher
Astrologie & Traumdeutung
Zitate-Sammlungen… und alles, was ich zu Papier gebracht habe
Filme, die Dich besonders bewegt haben
(in chronologischer Reihenfolge):
{Filme mit Romy Schneider, Doris Day, Rock Hudson und Heinz Rühmann}
„Die Farbe Lila“ von Steven Spielberg
„Nicht ohne meine Tochter“ von Brian Gilbert (ich glaube, unser erster
gemeinsamer Kinofilm, 1991)
„Was das Herz begehrt“ von Nancy Meyers
„Die Geisha“ von Rob Marshall
„Bridget Jones-Trilogie“ von Sharon Maguire & Beeban Kidron
„Wie im Himmel“ von Kay Pollak
„Mystic River” von Clint Eastwood
„Cinderella Man – Das Comeback“ von Ron Howard
„Tsotsi“ von Gavin Hood
„Million Dollar Baby“ von Clint Eastwood
„Walk the Line“ von James Mangold
„Liebe braucht keine Ferien“ von Nancy Meyers
„Drachenläufer“ von Marc Forster
„Die Fremde in Dir“ von Neil Jordan
„Der Klang des Herzens“ von Kirsten Sheridan
„Der seltsame Fall des Benjamin Button“ von David Fincher
„Slumdog Millionär“ von David Boyle
„Es kommt der Tag“ von Susanne Schneider
„Der fremde Sohn“ von Clint Eastwood
„Australia“ von Baz Luhrmann
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„The King’s Speech“ von Tom Hooper (Dein letzter Kinofilm im 2011;
es war Dir wichtig, dass ich diesen Film mit Dir im Kino sehe)
Ein Film, den Du noch gern gesehen hättest:
„War Horse – Die Gefährten“ von Steven Spielberg
Deine Lieblingsschauspieler:
Rock Hudson, Kevin Costner, Richard Gere, Al Pacino, Sean Penn, Colin Firth.
Deine Lieblingsschauspielerinnen:
Doris Day, Romy Schneider, Julia Roberts, Michelle Pfeiffer, Jodie Foster, Catherine Zeta-Jones.
Musik, die Du gern gehört hast:
Du hast selbst sehr gut und gern gesungen. Musik gehörte für Dich zum Leben wie das Essen: Kroatische, Serbische,
Bosnische, Griechische, Türkische/Orientalische (zum Tanzen) und Deutsche.
Zuletzt hat Dich HELENE FISCHER begeistert, das Lied „Geboren, um zu leben“ von UNHEILIG (ich danke Dir heute, dass
Du mich noch im 2011 darauf aufmerksam gemacht hast) sowie das Lied „Ich hatte keine Zeit für Dich“ von PETER
MAFFAY, das wir im Dezember 2011 zusammen im Fernsehen gehört haben. (Die Zeit war früher infolge Deines
Berufs, den Du immer ausüben musstest u.a., zu wenig da, aber geschenkt hast Du mir alle Deine Zeit, die Du hattest
und ich bleibe Dir immer dankbar dafür.)
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Wie Du in mir und mit mir weiterlebst:
Auf mein Bedürfnis hin, Dein Leben hier auf Erden zu verlängern, Deine Geschichte, alles das, was Dich ausmacht,
weiterleben zu lassen, eine Art ewiges Denkmal für Dich zu finden, sagte mir jemand, den Du mochtest (J.H.), einen
Satz, der Dir gefallen hätte und den ich hier festhalten möchte: „Vielleicht sind Sie dieses Denkmal.“
Darüber hinaus möchte ich Dein Gedächtnis sein. Du weisst, was ich meine. Natürlich habe ich meine eigene
Geschichte zu leben, aber Deine Geschichte ist untrennbar mit meiner verbunden und findet in mir und durch mein
Leben ihre Fortsetzung.
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Menschen, die Dich zeitlebens tief beeindruckten:
Deine Grossmutter (MANDA BRZAK, gest. 1990)
Dein Onkel (MATO BRZAK, 1944 – 1980)
Du hast mir ihre Geschichten erzählt, besonders viel
aus dem Leben Deines nur 15 Jahre älteren Onkels,
der mit 36 Jahren starb und der sich um Dich und
mich sehr gekümmert hat. Dieser viel zu frühe
Verlust hatte für Dich dieselbe Bedeutung wie heute
für mich der 20. April 2012.
Was Du mir noch an Rat und Liebe mitgegeben hast:
Lerne aus meinen Erfahrungen, um andere zu machen. Nicht mehr arbeiten als wirklich nötig, sich so gut es geht
auch schonen. Nicht zuviel Zeit mit Putzen und Aufräumen vergeuden.  Nicht zuviel Zeit mit Äusserlichkeiten
vergeuden. Die gute Gesundheit und unabhängige Beweglichkeit schätzen und tun, was Dir wichtig ist und was Dir
Freude bereitet. Dein Leben leben, wie Du es Dir wünschst, nicht wie andere es erwarten. Menschen um Dich haben,
die von sich aus gut zu Dir sind und Dich von jenen lösen, an denen Du zugrunde gehst und die Du nicht ändern
kannst. Du sollst nicht um mich trauern. Du bist mein Leben. Du bist alles, was ich habe. Du sollst ein gutes Leben mit
nur guten Menschen um Dich haben. Du sollst leben. Und ganz besonders: Mit Rauchen aufhören.
Deine Krankheit:
Die wahrnehmbare Schwere Deiner Krebserkrankung (unheilbares und fortschreitendes Bronchialkarzinom =
Lungenkrebs mit ersten Ablegern im Hüftknochen) dauerte sechs Monate – von November 2011 bis April 2012.
Hier halte ich die schönen Seiten fest: Zunächst haben wir bei Dir zuhause die Krankheit gemeinsam gemeistert und
das Beste aus den Umständen gemacht. Wir haben uns dann jeden Tag in Deinem Krankenzimmer im Spital gesehen
und wir hatten viele gute Gespräche und schöne Momente. Du warst unglaublich tapfer und konsequent und hast
Dir unnötigerweise mehr Sorgen darum gemacht, dass ich meine Zeit im Krankenhaus verbringe, als um Deinen
Gesundheitszustand. Obwohl Du oft sehr müde und geschwächt warst, wolltest Du nicht schlafen, wenn ich da war.
Das Universitätsspital Zürich wurde ab dem 8. Februar 2012 zum zweiten Zuhause und das gesamte Ärzte- und
Pflegepersonal uns bestens bekannt, das uns sehr unterstützt hat. (Du hast dort einen tiefen Eindruck hinterlassen.)
Im April an Ostern hast Du alle mit Osterhasen beschenkt. Du wolltest unbedingt selbst im Rollstuhl rausfahren, um
mich mit einem grossen Ostersack zu überraschen, was mich heute noch tief berührt und ich u.a. nie vergessen
werde. Genauso wenig wie unsere Ausflüge durch das Spital, in die Cafeteria und in den Park und im Besonderen
unsere letzten Gespräche. Wir hatten zu Deinen Lebzeiten haufenweise Gespräche. Es gibt nichts, was noch hätte
gesagt werden können und trotzdem bzw. gerade deshalb bleibt alles zu wenig. Dein Leben hätte nicht lang genug
sein können.
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Dein Vorangehen:
In mir bleibt der tiefe, bedeutsame Eindruck: Du bist voran- und nicht weggegangen. Es gab unvergessliche letzte
Gesten und Worte, aber nie einen Abschied von Deiner Seite. Nur das Bedürfnis, mir noch Deine Zeit, Deine Liebe
und Deinen Rat zu geben. Und umgekehrt. Nur Liebe. Liebe, die bleibt. Für mich. Und für Dich. Es gibt keinen
Abschied.
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Würdigung / Nachruf:
Wenn ich an Dich denke und daran, was ich von Dir gelernt habe und was ich in mir nicht missen möchte, dann fallen
mir auf Anhieb drei grosse Worte ein: Stärke. Tapferkeit. Tiefe. Die Stärke, sich selbst immer wieder aus jedem
Abgrund zu erheben, die eigene Kraft zu erneuern, um stärker als zuvor weiterzukämpfen. Die Tapferkeit in sich zu
bewahren, auch in der grössten Angst hinzusehen, zu handeln, die Wahrheit auszuhalten, nicht in die Lüge, in
Verdrängung und Ablenkung zu flüchten. Und den Blick in die Tiefe, auf das Wesentliche in und um uns nicht zu
meiden oder gar zu verlieren; sondern vielmehr zu benennen, was man in der Tiefe sieht, es zu würdigen und danach
zu leben.
Du hast mich im Leben zur Stärke und Eigenständigkeit
erhoben, meine Kraft verdoppelt, selbst als ich innerlich
glaubte, nichts mehr zu schaffen. Aber ich habe alles
geschafft und im Besonderen alles das, was mit Deinem
„Vorangehen“ zu tun hat. Ich kann mir heute nicht mehr
vorstellen, dass ich irgendetwas nicht bewältigen könnte
und ich verstehe Dein Wesen besser denn je. Ich werde Dir
immer dankbar bleiben für all das in mir, was Du mir fürs
Leben mitgegeben hast und bestimmt weiterhin mitgibst.
Mit Dir verbinde ich Freundschaft, Anspruch, Aufrichtigkeit,
Verlässlichkeit und absolutes Wohlwollen. Du hast zu jeder
Zeit an Dein Kind geglaubt, in Zeiten, in denen ich noch
keinen Glauben in mich fand. Du warst der einzige Mensch,
der trotz dreier grosser und prägender Handicaps, die mich
lange Zeit meiner Jugend behinderten, nicht wegsah, mir
zuhörte, mit Stolz von mir sprach und mit sicherer Geduld
davon überzeugt blieb, dass ich sie mit meinem Willen
werde beherrschen können. Meine Verwandlungen und
Entwicklungen hast Du mit Stolz verfolgt und gefördert.
Heute bin ich sogar dankbar für diese Handicaps. Deinen
letzten Weg mit Dir zu gehen, gerade mit Dir, war mir trotz
der gewaltigen Traurigkeit eine unbeschreiblich grosse
Ehre.
Festhalten möchte ich hier abschliessend noch ein Erlebnis, das kennzeichnend für Dich ist und das gleichzeitig –
angesichts unserer letzten, gemeinsamen Zeit – eine starke und deutliche Aussagekraft hat: Als ich etwa 7 oder 8
Jahre alt war, befanden wir uns gezwungenermassen mit dem Auto auf der Rückreise aus Wien in die Schweiz. Es
war Winter und Nacht. Ich schlief auf dem Rücksitz, als Du plötzlich meinen Namen riefst. Deine Stimme klang ganz
ruhig, gefasst, aber ernst und bestimmt. Du sagtest, ich solle sofort aussteigen und erklärtest mir beherrscht, dass
unser Auto mit den Vorderreifen bereits über einem Abgrund ragt und Du infolge Schnees nicht weisst, ob Du den
Rückwärtsgang einlegen kannst, wobei das Auto womöglich mit uns beiden in die Tiefe stürzen könnte. Ich schaute
nach vorn und konnte Tannenbäume erkennen, die aus einem dunklen Abgrund emporragten. Es erstaunte mich,
dass Du so ruhig warst. Ich weigerte mich, ohne Dich das Auto zu verlassen. Deine Stimme wurde laut und streng
und Du befahlst mir, augenblicklich auszusteigen und im schlimmsten Fall am Strassenrand zu bleiben und zu
warten, bis jemand anhält. Ich fing an zu weinen und bat Dich, mir zu versprechen, dass Du nachkommst. "Ich
versuche es, mein Schatz. Aber Du musst zuerst aussteigen." hast Du gesagt. Ich fürchtete mich, die Tür
aufzumachen und mich zu bewegen, Dich vielleicht durch meine Bewegung hinunterzustossen. Als ich schliesslich
ohne Schuhe im Schnee stand, starrte ich zitternd auf das Auto und auf Dich. Die hinteren Reifen drehten sich immer
wieder ins Leere und das Auto wippte hin und her – zwischen Abgrund und sicherem Boden. Ich hatte grosse Angst
und fühlte mich unzulänglich, weil ich tatenlos daneben stand und zusehen musste. "Und wir sind jetzt ganz allein."
dachte ich. Niemand sonst fuhr in dieser Zeit vorbei, der hätte helfen können. Ich weiss nicht mehr, wie oft Du
Anlauf genommen hast, aber irgendwann fuhr das Auto doch rückwärts. In diesem Augenblick schien es mir, als wäre
eine andere Variante gar nicht möglich gewesen, dass es schlichtweg undenkbar und unrealistisch ist, dass Dir etwas
passiert. Du bist mit Tränen in den Augen, aber lächelnd ausgestiegen und hast mich in die Arme genommen. Ich
weinte und war wütend zugleich, weil Du mich aus dem Auto geschickt hast. Du aber sagtest: "Mein Kind, Du hast
doch noch Dein ganzes Leben vor Dir."
SLAVICA TADIC – STECKBRIEF MEINER MUTTER (1959 – 2012)
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(Diese marmorne Engelfigur habe ich für Dich gekauft. Als ewiges, unumstössliches Symbol.)
SLAVICA TADIC – STECKBRIEF MEINER MUTTER (1959 – 2012)
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Zu Dir passende und Dir – von mir – gewidmete Zitate:
„Wenn Menschen so viel Mut auf die Welt mitbringen, muss
die Welt sie töten, um sie zu zerbrechen, und darum tötet sie
sie natürlich. Die Welt zerbricht jeden, und nachher sind viele
an den zerbrochenen Stellen stark. Aber die, die nicht
zerbrechen wollen, die tötet sie. Sie tötet die sehr Guten und
die sehr Feinen und die sehr Mutigen; ohne Unterschied.
Wenn Du nicht zu diesen gehörst, kannst Du sicher sein, dass
sie Dich auch töten wird, aber sie wird keine besondere Eile
haben.“ (Ernest Hemingway, 1899 – 1961)
„Der Gerechte ist sterblich und geht dahin. Sein Licht jedoch
bleibt.“ (Fjodor Dostojewski)
„Takt und Würde lehrt das eigene Herz und nicht der
Tanzmeister. (…) Um zu begreifen, muss man Herz haben.“
(Fjodor Dostojewski)
„Wahre Freunde sind in seelischer Beziehung mit der
gleichen Vollkommenheit begabt, wie die Hunde hinsichtlich
der Witterung; sie wittern jeden Kummer ihrer Freunde, sie
ahnen seine Ursachen und beschäftigen sich eifrig mit
ihnen.“ (Honoré de Balzac)
„Immer ist es so gewesen und wird immer so sein, dass die Zeit und die Welt, das Geld und die Macht den Kleinen
und Flachen gehört, und den anderen, den eigentlichen Menschen, gehört nichts. Nichts als der Tod.“ (Hermann
Hesse)
„Der Mensch ist erst wirklich tot, wenn niemand mehr an ihn denkt.“ (Bertolt Brecht)
„Ich weiss, warum wir die Toten begraben, warum wir einen Stein an den Ort stellen, das schwerste, beständigste
Ding, das wir kennen: weil die Toten überall sind, nur nicht in der Erde.“ (Anne Michaels) *Mein Dank an Pfarrer
Jermann für die Anne Michaels-Zitate!
„Bei den Toten bleiben, heisst, sie verlassen. All die Jahre, in denen ich gespürt habe, dass Bella (meine getötete
Schwester) mich anfleht, habe ich mich, erfüllt von ihrer Einsamkeit, getäuscht. Ich habe ihre Zeichen falsch
verstanden. Wie andere Geister flüstert sie; aber nicht, dass ich bei ihr bleiben soll, sondern damit sie mich, wenn ich
nah genug herangekommen bin, wieder in die Welt zurückstossen kann.“ (Anne Michaels)
„Unsere Beziehung zu den Toten verändert sich immer weiter, weil wir nicht aufhören, sie zu lieben.“ (Anne
Michaels)
„Alle, die in Schönheit gehen, werden in Schönheit auferstehen.“ (Rainer Maria Rilke)
SLAVICA TADIC – STECKBRIEF MEINER MUTTER (1959 – 2012)
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„Das einzig Wichtige im Leben sind die Spuren der Liebe, die wir hinterlassen, wenn wir gehen.“ (Albert Schweitzer)
„Es nimmt der Augenblick, was Jahre geben.“ (Goethe)
„Da ist ein Land der Lebenden und ein Land der Toten. Und die
Brücke zwischen ihnen ist die Liebe. Das einzig Bleibende. Der
einzige Sinn.“ (Thornton Wilder)
„Gold bewährt sich im Feuer. Starke Menschen bewähren sich in
Zeiten der Not.“ (Seneca)
„Nicht der Mensch hat am meisten gelebt, welcher die höchsten
Jahre zählt, sondern derjenige, welcher sein Leben am meisten
empfunden hat.“ (Jean-Jacques Rousseau)
„Ich bin nicht tot, ich tausche nur die Räume, ich lebe in Euch
und gehe durch Eure Träume.“ (Michelangelo)
„Freunde sind sich nahe, auch wenn sie getrennt sind; sie sind reich, auch wenn sie arm sind; sie sind hilfsbereit,
auch wenn sie krank sind; ja, was unmöglich zu sein scheint: sie leben, auch wenn sie schon gestorben sind.“ (Cicero)
"Was klagst Du über Feinde? Sollten solche je werden Freunde, denen das Wesen, wie Du bist, im Stillen ein ewiger
Vorwurf ist?" (Johann Wolfgang von Goethe)
„Man lebt zweimal: Das erste Mal in der Wirklichkeit, das zweite Mal in
der Erinnerung.“ (Honoré de Balzac)
„Man darf die Ungerechtigkeit nicht akzeptieren. Man muss die
Ungerechtigkeit sichtbar machen.“ (Mahatma Gandhi)
„Mit jemand leben oder in jemand leben ist ein grosser Unterschied. Es
gibt Menschen, in denen man leben kann, ohne mit ihnen zu leben und
umgekehrt. Beides zu verbinden ist nur der reinsten Liebe und
Freundschaft möglich.“ (Goethe)
„Unsterblichkeit ist eine Frage des Charakters.“ (D.H. Lawrence)
SLAVICA TADIC – STECKBRIEF MEINER MUTTER (1959 – 2012)
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Du (Sommer, 2011)
Ich (Sommer, 2011)
„Wenn ich unter all den Müttern,
die ich sah, zu wählen gehabt hätte,
würde ich meine Mutter gewählt haben.“
(Thomas Carlyle)
SLAVICA TADIC – STECKBRIEF MEINER MUTTER (1959 – 2012)
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Deine Lieblingsblumen (Margeriten):
Du (Kroatien, 1963)
Ich (Kroatien, 1983)
SLAVICA TADIC – STECKBRIEF MEINER MUTTER (1959 – 2012)
Seite 15 / 20
DU BIST ÜBERALL, NUR NICHT IN DER ERDE…
(Ein Dir gebührender Grabstein folgt im April 2013)
„Heute bin ich sicher, dass es ein Leben nach dem Tod gibt.
Und dass der Tod, unser körperlicher Tod, einfach der Tod des Kokons ist.
Bewusstsein und Seele leben auf einer anderen Ebene weiter. Ohne jeden Zweifel.“
(Elisabeth Kübler-Ross, 1926 – 2004)
SLAVICA TADIC – STECKBRIEF MEINER MUTTER (1959 – 2012)
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…IN EWIGER LIEBE UND DANKBARKEIT, SANELA
SLAVICA TADIC – STECKBRIEF MEINER MUTTER (1959 – 2012)
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„Došlo doba da se rastajemo
Uvijek ćemo da se poznajemo
„Die Zeit ist gekommen, dass wir uns trennen,
immer aber werden wir uns kennen.
Došlo doba da se pozdravimo
Časom bola mi da nazdravimo
Die Zeit ist gekommen, uns zu verabschieden,
mit einem Glas voll Schmerz anzustossen.
Hej, neću žaliti, hej, neću plakati
Sudbino, otrove, otimaš mi sve
Hey, ich werde nicht trauern, werde nicht weinen,
obwohl des Schicksals Gift mir alles nimmt.
Došlo doba svi da zapjevamo
Sretnih dana da se prisjećamo
Die Zeit ist gekommen, dass wir alle singen,
glücklicher Tage, dass wir uns erinnern.
Došlo doba da se rastajemo
Die Zeit ist gekommen, dass wir uns trennen,
Uvijek ćemo da se poznajemo.“ immer aber werden wir uns kennen.“
(Text: Marina Tucaković /
Album: Neda Ukraden, 1988)
Audio: http://www.youtube.com/watch?v=ThLGFFpoojo
LIEBE MAMA,
ICH DANKE DIR FÜR ALLES,
WAS DU WARST UND WEITERHIN BIST.
FÜR IMMER.
UND LÄNGER ALS FÜR IMMER.
– IN LIEBE, DEINE TOCHTER, SANELA –
SLAVICA TADIC – STECKBRIEF MEINER MUTTER (1959 – 2012)
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SLAVICA TADIC – STECKBRIEF MEINER MUTTER (1959 – 2012)
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(Unheilig, Album 2011)
Es fällt mir schwer
ohne Dich zu leben,
jeden Tag zu jeder Zeit
einfach alles zu geben.
Ich denk so oft
zurück an das, was war,
an jedem so geliebten vergangenen Tag.
Ich stell mir
das Du zu mir stehst
und jeden meiner Wege
an meiner Seite gehst.
Ich denke an so vieles
seit dem Du nicht mehr bist,
denn Du hast mir gezeigt
wie wertvoll das Leben ist.
Wir war'n geboren, um zu leben
mit den Wundern jeder Zeit,
sich niemals zu vergessen
bis in aller Ewigkeit.
Wir war'n geboren, um zu Leben
für den einen Augenblick,
weil jeder von uns spürte
wie wertvoll Leben ist.
Es tut noch weh
wieder Neuem Platz zu schaffen,
mit gutem Gefühl
etwas Neues zu zulassen.
In diesem Augenblick
bist Du mir wieder nah,
wie an jedem so geliebten vergangenen Tag.
Es ist mein Wunsch
wieder Träume zu erlauben,
ohne Reue nach vorn
in eine Zukunft zu schau'n.
Ich sehe einen Sinn
seit dem Du nicht mehr bist,
denn Du hast mir gezeigt
wie wertvoll mein Leben ist.
Wir war'n geboren, um zu leben…
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