Heinrich Bölls Der Engel schwieg - UvA-DARE

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Heinrich Bölls Der Engel schwieg - UvA-DARE
Masterscriptie
Studielast: 20 ECTS
Onderdeel Masterprogramma Duitse Taal & Cultuur
Studiejaar 2011/2012
Heinrich Bölls Der Engel schwieg
Marlies Folkerts
Freek Oxstraat 1-I
1063 ZS Amsterdam
Universiteit van Amsterdam
Faculteit der Geesteswetenschappen
Master Duitse Taal & Cultuur
Email: [email protected]
Student No: 9107800
Docente en eerste lezeres: mw. dr. C.M.H.H. Dauven-van Knippenberg
Tweede lezeres: mw. A. Seidl MA
Augustus 2012
Inhalt
Einleitung
1
I Teile von oder Schlüssel zu Wirklichkeiten
2
II Das gute Auge des Schriftstellers
15
III Die Idee der ‚Gegenwelten‘
25
IV Literatur als Reaktion auf Wirklichkeit
29
Schluss
39
Literatur
40
Einleitung
Heinrich Böll hat mit ‘Wirklichkeitsmaterial’1angefangen, aber in seinem Werk
geht er damit ‘schriftstellerisch’2 um. Das literarische zeigt sich unter anderem in
der Perspektive, die der Autor wählt. Die Perspektive muss aber so gewählt sein,
dass es leichter wird ‘sich ein Bild machen [zu] können’3. Schwieriger wird es
aber wiederum für den Autor, wenn dieser sich mit seinem Wirklichkeitsmaterial
auseinandersetzt um das Erlebte konkret zu machen. Böll hat seine
Kriegserlebnisse und das Erlebte aus der Nachkriegszeit im Roman Der Engel
schwieg4 verarbeitet. Dem Roman wird in dieser Arbeit aber kein
zeitdokumentarischer Charakter zugeschrieben, sondern er wird als fiktives
Werk interpretiert. Ein literarisches Werk ist eine Fiktion. Wolfgang Iser setzt
voraus, dass ein fiktives Werk seinen wirklichkeitsentsprechenden Charakter
nicht verliert, wenn man sein ‘Mitteilungsverhältnis’5 betont in der
Interpretation. Wie Heinrich Böll schriftstellerisch in diesem Roman eine Brücke
zwischen Wirklichkeit und Fiktion herstellt, wird in dieser Arbeit erörtert.
Dazu werden im ersten Kapitel die Überlegungen Heinrich Bölls zu seinem
schriftstellerischen Verfahren interpretiert. In den drei nächsten Kapiteln wird
der Roman Der Engel schwieg interpretiert im Rahmen dieser Überlegungen.
Im zweiten Kapitel ‘Das gute Auge des Schriftstellers‘ wird anhand des Romans
Der Engel schwieg in einem zur Trümmerliteratur passenden Kontext erörtert
wie Böll mit der Wirklichkeit innerhalb seines Werkes umgeht. Bestimmte
Textstellen aus diesem Roman machen die Böllschen Schreibweise deutlicher.
Im dritten Kapitel ‘Die Idee der ‚Gegenwelten‘‘ wird erörtert, wie eine ‘neue’
Welt zu Stande kommt in der Literatur Bölls. Und im letzten Kapitel ‘Literatur
als Reaktion auf Wirklichkeit‘ wird Bölls Engagement näher betrachtet und
interpretiert.
1
Bernd Balzer: Heinrich Böll Ansichten eines Clowns. Frankfurt am Main: Moritz Diensterweg (in der Reihe
‘Grundlagen und Gedanken zum Verständnis erzählender Literatur’). 1988. S. 12.
2
Ebd.
3
Heinrich Böll: Frankfurter Vorlesungen. 4. Auflage. München: Deutscher Taschenbuch Verlag. 1977. S. 35.
4
Heinrich Böll: Der Engel schwieg. 3. Auflage. München: Deutscher Taschenbuch Verlag. 2001.
5
Wolfgang Iser: Die Wirklichkeit der Fiktion – Elemente eines funktionsgeschichtlichen Textmodells. In:
Rezeptionsästhetik Theorie und Praxis. Hg. v. Rainer Warning. München: Wilhelm Fink. 1975, S. 277-324. Hier
S. 277.
1
I Teile von oder Schlüssel zu Wirklichkeiten
Heinrich Böll kompliziert sein literarisches Verfahren, indem er sich nicht
auseinandersetzt mit der Frage, inwiefern nur ein Kunstcharakter ein literarisches
Werk prägt. Das gab für mich den Anlass sein Verfahren einzureihen in den
Gedankengut von Wolfgang Iser, der sich innerhalb der Rezeptionsästhetik kaum
mit rein ästhetischen Eigenschaften eines literarischen Werkes beschäftigt hat,
sondern vielmehr mit der Wirkung solcher Texte.
Was außerordentlich ist, in Bezug auf Böll, ist, dass er schon einen Ansatz zu
einer Ästhetik formuliert hat in den Frankfurter Vorlesungen (1963/1964) und
sich auch in verschiedenen Interviews geäußert hat darüber, wie er als
Schriftsteller arbeitet.
Böll hat 1963/64 an der Universität Frankfurt eine Vorlesungsreihe gehalten, die seinen immer
noch umfassendsten Versuch darstellt, ein schriftstellerisches Programm zu umreißen; ein
Programm, das er dort selbst auf den Begriff einer “Ästhetik des Humanen” gebracht hat.
Diese “Frankfurter Vorlesungen” haben den Vorzug einer expliziten Begrifflichkeit, die sie
zum Ausgangspunkt aller Überlegungen über das ästhetische und gesellschaftliche Programm
dieses Autors prädestinieren.6
Böll ist also ein Autor mit einem gesellschaftlichen Programm und die
Überlegungen über diesen Teil seines Gesamtwerks möchte ich hier im
Vordergrund stellen. Was das kommunikative Schreiben und Lesen konstituiert,
ist eine Forschungsfrage, die Iser in vielen seiner Forschungsarbeiten zu
beantworten versucht. Der kommunikative Aspekt in Bezug auf literarische
Werke, ist auch ein Aspekt vieler Werke Bölls.
Heinrich Böll hat von Anfang an als Schriftsteller Werk geschrieben, das nicht
nur als engagiert betrachtet wird, sondern das in der Rezeption oftmals heftige
Reaktionen herbeigeführt hat. Die meisten Reaktionen auf Bölls Werke wurden
geäußert, weil die Themen, mit denen sich Böll in seinem Werk
auseinandersetzt, aktuelle waren. Aber der ‘aktuelle’ Aspekt ist nur ein kleiner
6
Bernd Balzer: Humanität als ästhetisches Prinzip – Die Romane Heinrich Bölls. In: Heinrich Böll: Eine
Einführung in das Gesamtwerk in Einzelinterpretationen. Hg. v. Hanno Beth. 2. überarb. und erw. Aufl.
Königstein/Ts.: Scriptor. 1980. S. 41- 67. Hier: S. 42.
2
Teil seines gesellschaftlichen Programms. Nie verliert sein Werk seine Wirkung,
obwohl die Themen im Werk meistens nicht mehr aktuell sind. Ansichten eines
Clowns7 ist ein Werk, das zur Zeit seiner Publikation, viel Wirbel verursachte.
Das Werk Ansichten eines Clowns wird heute aber keinen derartigen Wirbel
mehr auslösen können und der Wirbel um das Werk von damals erscheint heute
ein historisches Phänomen. Ansichten eines Clowns wird aber heute noch immer
gelesen vom Lesepublikum und wird auch in neuen Weisen interpretiert.8
Die Publikation des Romans Der Engel schwieg hätte wahrscheinlich ähnliches
Brisantes in der Rezeption herbeiführen können. Das geschah aber nicht, weil
das Buch, während Bölls Leben, nie publiziert worden ist, obwohl der Text kurz
nach dem Zweiten Weltkrieg geschrieben worden war.
Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, als das Buch publiziert wurde, sind die von
Böll ausarbeiteten Kriegsthemen, die im Roman aufgenommen sind, nun mal
weniger aktuell, als sie kurz nach dem Krieg hätten sein können. Gerade weil es
einen Wirbel um dieses Buch nie gegeben hat, scheint es mir interessant, die
Sachen aus dem Programm von Böll anhand dieses Romans zu untersuchen. Die
Kriegsthemen im Nachkriegszeit-Roman sind fast alle zurückzuführen auf die
Kriegserlebnisse von Böll selbst. Heinrich Böll wurde 1917 geboren und wurde
daher als junger Erwachsene sehr geprägt vom Zweiten Weltkrieg.
Nach dem Abitur beginnt Böll 1938 eine Buchhändler-Lehre und 1939 ein GermanistikStudium, aus dem er nach 3 Monaten zur Wehrmacht eingezogen wird. Mitten im Krieg, 1942,
heiratet er Annemarie Cech, mit der er seit längerer Zeit befreundet war. Seine
Kriegserlebnisse in Frankreich, Polen und Bulgarien, - Verwundungen, Versuche, zu überleben
durch Krankmeldungen und Simulation, gefälschte Urlaubspapiere und auch Desertion –
tauchen in seinen literarischen Arbeiten immer wieder als Motive auf. 9
Die Handlungen im Roman Der Engel schwieg vollziehen sich aber in der
Nachkriegszeit. Im Roman wird aus Perspektiven verschiedener Figuren ein Bild
einer Stadt in Trümmern geschildert. Dabei geht es weniger um die Stadt als um
die Erlebnisse und Entscheidungen der Hauptfiguren. Die wichtigste Hauptfigur
7
Heinrich Böll: Ansichten eines Clowns 1963. In: Romane und Erzählungen 1961-1970. Hg. v. Bernd Balzer.
Köln: Kiepenheuer & Witsch. 1977. S. 67-266.
8
Vgl. dazu auch Bernd Balzer: Heinrich Böll Ansichten eines Clowns. 1988. S. 5-8, §1.1 “Wogen um Heinrich
Böll”.
9
Balzer, B.: Heinrich Böll Ansichten eines Clowns. S. 13.
3
ist Hans Schnitzler. Mit seiner Ankunft als Ex-Soldat in einer Stadt kurz nach
dem Tag der Kapitulation und des Waffenstillstandes muss er um sein Leben
fürchten, weil er keine andere Kleider besitzt als die Uniform eines Feldwebels,
und die sind noch nicht mal seine. Solche Kleider in einer Stadt zu tragen, die
von den alliierten Amerikanern besetzt worden ist, bedeutet, dass er von den
Amerikanern erschossen werden könnte, obwohl der Waffenstillstand in Kraft
getreten war.
Der Roman fängt also schon an mit einer prekären und heiklen Situation.
Danach werden im Roman noch mehr solcher Situationen geschildert. Der
Roman wird gekennzeichnet als ‘Trümmerliteratur’, aber es ist nicht so sehr die
Stadt, die sich während des Krieges verwandelt hat in Chaos, Ruinen, Staub und
Schutt, als wohl die Leben deren Einwohner. Ein‘wohner’ leben in Ruinen und
sie müssen mit nichts und oft völlig traumatisiert, ein neues Leben aufbauen.
Auf die historische Nachkriegsrealität in deutschen Städten werde ich in dieser
Arbeit nicht eingehen. Ich möchte das Werk Der Engel schwieg als literarisch in
einem Böllschen Sinne charakterisieren. Dafür werde ich anhand dessen, was
sich im Roman im literarischen Sinne anbietet, den ‘humanen’ Aspekt des
Werkes hervorheben. Und gegebenenfalls das Werk einen ‘humanen’ Aspekt
hat, möchte ich diesen verbinden mit dem, was Böll in seiner Stellungnahme als
‘engagierter’ Schriftsteller zustande gebracht hat innerhalb des Werkes und
vergleichen mit verschiedenen Stellen aus den Frankfurter Vorlesungen von
1963 und aus seinen Interviews, die, wie zitiert von Bernd Balzer10, so etwas
ausdrücken wie: ‘das ästhetische und gesellschaftliche Programm dieses Autors’.
Vorwegnehmen möchte ich noch eine Bemerkung Bölls, die ausdrückt, was man
ungefähr unter den ‘humanen’ Aspekt eines literarischen Werkes zu verstehen
hat:
Ich gehe von der Voraussetzung aus, daβ Sprache, Liebe, Gebundenheit den Menschen zum
Menschen machen, dass sie den Menschen zu sich selbst, zu anderen [...] in Beziehung
setzen.11
10
11
Balzer, B.: Humanität als ästhetisches Prinzip – Die Romane Heinrich Bölls. S. 42.
Böll, H. : Frankfurter Vorlesungen. S. 12.
4
Obwohl der Roman Der Engel schwieg postum erschien, gehört er zu den frühen
Werken im Oeuvre Bölls. Das macht es auch zu einem wichtigen zu erforschen
Werk. Es ist eins der wenigen deutschen Werken, die kurz nach dem Krieg
geschrieben wurden. In jener Nachkriegszeit gab es weniger Werke von
deutschen Autoren als (übersetzte) Werke ausländischer Autoren auf dem Markt.
Der deutsche Markt wurde überspült in einer Art Nachholbedarf an Werken
nicht-deutscher Autoren, die in den 6 Jahren, als es Krieg gab, entstanden waren
und also ziemlich spät erst in Deutschland publiziert wurden.12
Noch hinzu kam das Problem der Beschäftigung mit der eigenen Sprache der
deutschen Autoren. Böll schreibt über die Heimatlosigkeit der deutschen
Literatur und dass die Entwicklung der deutschen Nachkriegsliteratur zu
bezeichnen war als ‘mühselig’, im Sinne davon, dass die Autoren sich ‘auf den
mühseligen Weg der Sprachfindung’13befanden. Böll schreibt:
Unsere Literatur hat keine Orte. Die ungeheure, oft mühselige Anstrengung der
Nachkriegsliteratur hat ja darin bestanden, Orte und Nachbarschaft wieder zu finden.14
Hinzu kommen noch die außergewöhnlichen literarischen Einfälle im Roman
Der Engel schwieg. Böll versucht in vielen seiner Romane eine Art ‘humane
Gegenwelt’ aufzurufen. Am Anfang der Geschichte gibt es zum Beispiel die
Begegnung zwischen Hans und dem Engel. Hans glaubt vom Engel begrüßt zu
werden und er denkt, dass der Engel ihn willkommen heißt.
Der Engel ist aber eine Statue und kann zwar lächeln, aber kein Geräusch
erzeugen. Die wirklich humane Begegnung findet dann doch statt als Hans an
dem Engel vorbeigeht und die Nonne trifft, die ihm hilft.
Bölls Anlass zu einer Gestaltung einer ‘humanen Gegenwelt’15 in seinem
literarischen Werk ist etwas, was er als ‘Aufgabe’16 der Literatur sieht oder was
12
Zum ‚Nachholbedarf‘ vgl. auch Jochen Vogt: Das falsche Gewicht. Oder: Vom armen Heinrich Böll, der unter
die Literaturpädagogen gefallen ist. In: Heinrich Böll. Eine Einführung in das Gesamtwerk in
Einzelinterpretationen. Hg. v. Hanno Beth. 2. überarb. und erw. Aufl. Königstein/Ts.: Scriptor Verlag. 1980. S.
129-148.S. 131: ‚und es kennzeichnet zugleich die Tendenz der „neuen“, etwa seit 1965 entstandenen
Lesebücher, sich der lang ignorierten zeitgenössischen Literatur zu öffnen.‘ Und vgl. weiterhin auch Gerhard
Kothy, Gisela Kothy, Egbert Schmidt u. Regine Schulz Heinrich Böll – Eine biographische Skizze. In: Heinrich
Böll. Eine Einführung in das Gesamtwerk in Einzelinterpretationen. Hg. v. Hanno Beth. 2. überarb. und erw.
Aufl. Königstein/Ts.: Scriptor Verlag. 1980. S. 1-39.S. 8: ‚Da der Nachholbedarf an ausländischer und unter dem
Faschismus verbotener deutschsprachiger Literatur auβerordentlich groβ war, gelang es den jungen deutschen
Autoren nicht, gröβere Verkaufserfolge zu erzielen.
13
Böll, H.: Frankfurter Vorlesungen. S. 91.
14
Böll, H.: Frankfurter Vorlesungen. S. 53.
5
er, wie Bernd Balzer im obenerwähnten Zitat schreibt, zu seinem
schriftstellerischen, ‘ästhetischen und gesellschaftlichen Programm’17 rechnet.
Die letzte Phase des Schriftstellersleben Heinrich Bölls ist gekennzeichnet von
der Betonung der Sprache und der Sprachfindung. Die Sprache und die Literatur
werden letztendlich der Ort, in dem eine ‘humane Gegenwelt’ entsteht.
Die Sprache, die Literatur verändert sich [...] für Böll vom Mittel der Darstellung einer
humanen Gegenwelt zur Gesellschaft zu ihrem wichtigsten Ort [...]. 18
Obwohl Der Engel schwieg ein frühes Werk ist, gibt es schon genügend
Anweise dafür, dass im Roman nicht nur eine ‘Trümmer’-Welt geschildert ist,
sondern dass es ein literarisches Werk ist, das auch das Zeigen eines Prozesses
von Sprachfindung beinhaltet. Nicht nur von einer Figur wie Hans Schnitzler
geht die Perspektive aus, die dem Leser zur Verfügung steht. Die Perspektiven
anderer Figuren stehen dem Leser auch zur Verfügung. Das heißt, aus deren
Sicht erfährt der Leser von jener ‘Trümmer’-Welt, in der die Figuren heimatlos
sind und wieder von vorne anfangen müssen. Die Figuren sind anscheinend noch
nicht in ihrem eigenen Leben angekommen, und das macht es für den Leser nicht
leicht. Auch die deutschen Nachkriegsautoren kommen aber noch nicht in ihrer
eigenen Sprache zurecht. Das erschwert die Sache noch mehr. Um seine
Entwicklung als deutscher Schriftsteller weiterzubringen, hat Böll via den
Umweg des Übersetzens versucht, wieder ‘Grund unter den Füssen zu finden’.
Böll schreibt:
[…] [mir wurde bewuβt,] daβ die deutsche Nachkriegsliteratur als Ganzes eine Literatur der
Sprachfindung gewesen ist, ich wußte auch, warum ich oft lieber übersetzte als selbst schrieb:
etwas aus einer fremden ins Gelände der eigenen Sprache hinüberzubringen, ist eine
Möglichkeit, Grund unter den Füssen zu finden. 19
15
Balzer, B.: Ansichten eines Clowns. S. 19.
Heinrich Böll: Bekenntnis zur Trümmerliteratur, 1952. In: Essayistische Schriften und Reden I 1952-1963.
Hg. v. Bernd Balzer. Köln: Kiepenheuer & Witsch. S. 31-35. S. 35. Vgl. auch die Aufgabe die hier formuliert
ist: ‘Es ist unsere Aufgabe, daran zu erinnern, daβ der Mensch nicht nur existiert, um verwaltet zu werden – und
daβ die Zerstörungen in unserer Welt nicht nur äuβerer Art sind und nicht so geringfügiger Natur, daβ man sich
anmaβen kann, sie in wenigen Jahren zu heilen.’
17
Balzer, B.: Humanität als ästhetisches Prinzip – Die Romane Heinrich Bölls. S. 42.
18
Balzer, B.: Ansichten eines Clowns. S. 19.
19
Böll, H.: Frankfurter Vorlesungen. S. 61.
16
6
Die Figuren im Roman sind, außer der Figur Dr. Fischer, typisch für die Art von
Leuten, die sich angewohnt hatten die Ärmel hochzukrempeln. Sie waren noch
zu beschäftigt mit dem Anwuchs von Wohlstand um sich noch mit der
Vergangenheit auseinandersetzen zu wollen. Anders gesagt war
Vergangenheitsbewältigung nicht populär. Diese Wiederaufbau-Generation ist
wahrscheinlich schuld, dass der Roman Der Engel schwieg nie publiziert
wurde20. Trümmerliteratur war nicht beliebt in den vierziger und fünfziger
Jahren. Die Figuren im Roman, außer der Figur von Dr. Fischer, sind auch kaum
im Stande kräftig zuzupacken, weil sie den Krieg beinahe nicht überstanden
hatten und erschöpft sind. Und in einer Trümmer-Welt gibt es dann fast kaum
weniger Elend als während des Krieges selbst. Für jene Figuren ist das Leben
noch geprägt vom Überleben. Die Geschichte spielt zwar in der Nachkriegszeit,
ist dennoch eine Geschichte, die mit dem schriftstellerischen Talent Bölls
gestaltet ist. Das heißt, dass Böll schon mit ‘Wirklichkeitsmaterial’21 angefangen
hat, aber damit ‘schriftstellerisch umgeht’22. Das Werk ist ein Werk, in dem der
Schriftsteller einen Ausdruck findet. Das Werk ist auch ein Buch, d.h. Teil eines
Oeuvres, wenn es vom selben Autor noch mehr Werke gibt. Ein Buch ist aber
auch als ein Medium zu betrachten, das Wirklichkeiten öffnen kann.
[...] Bücher, Tatsachen, sie sind immer nur – sind es bestenfalls – Teile von oder Schlüssel zu
Wirklichkeiten, sie öffnen Wirklichkeiten, wie man Türen zu Gebäuden öffnet, damit der
Eintretende sich darin umsehe. Und man muß eintreten in den noch unbekannten Raum und
sich darin umsehen.23
Hier zeigt Böll, dass er als Schriftsteller keineswegs l’art pour l’art zustande
bringt. Es geht ihm nicht nur um das Anbieten von ‘Schlüssel zu
Wirklichkeiten’, sondern er fordert vom Leser, dass der eintritt in jene
Wirklichkeit und sich darin umsieht.
Überfordert Böll aber den Leser, wenn dieser einsehen muss, dass durch die
nicht besonders aufschlussreichen Perspektiven der Hauptfiguren, einen
20
Vgl. dazu auch das Nachwort in ‘Der Engel schwieg’ von Werner Bellmann. S. 193-211. Vgl. auch auf Seiten
194 und 195 was Paul Schaaf, der Lektor Heinrich Böll geraten hat.
21
Balzer, B.: Ansichten eines Clowns. S. 12.
22
Ebd.
23
Heinrich Böll: Der Zeitgenosse und die Wirklichkeit. 1953. In: Essayistische Schriften und Reden I 19521963. Hg. v. Bernd Balzer. Köln: Kiepenheuer & Witsch. 1977. S. 71-75. Hier: S. 73.
7
größeren Beruf auf die Fähigkeit des Leser um die benötigte KompensationsReaktionen aufzubringen entstanden ist? Literarische Texte reagieren ja auf
Defizite ihrer soziokulturellen Umwelt. Der Leser sieht sich also indirekt dieser
Defiziten ausgesetzt. Die Texte tragen bei ‘zur imaginären Bewältigung dieser
Defizite’.24
Oder macht Böll es dem Leser schwierig, indem er von ihm abverlangt, sich in
eine Figur hineinzuversetzen, deren Perspektive nicht oder kaum übereinstimmt
mit der des Lesers?
Wenn der Leser die ihm angebotenen Perspektiven des Textes durchläuft, so bleibt ihm nur die
eigene Erfahrung, an die er sich halten kann, um Feststellungen über das vom Text Vermittelte
zu treffen.25
Aber die Erfahrung des Lebens ist auch eine Erfahrung an sich. Und Böll
behauptet: ‘Das Wirkliche ist phantastisch [...]‘.26
Daraus folgt, dass der Leser sich, im Einsatz seiner Phantasie, der Wirklichkeit
des Textes annähern könnte.
Die Lesersituation ist ja noch schwieriger, wenn nicht nur Hans, oder Regina,
oder Dr. Fischer sich in seine bzw. ihre Welt zurechtfinden muss. Informationen
über das Verhalten vieler anderen Figuren werden nämlich auch noch vermittelt.
So ist der Text im Roman Der Engel schwieg nun mal gestaltet. Ein Beispiel im
Text von einer Szene, in der nur heimatlose Figuren vorgeführt werden, ist die
Szene im Bunker im Kapitel VIII. Die Figuren, die auf einander treffen, weil sie
wegen Sperrzeit irgendwo anders, als in ihrer eigenen Wohnung, übernachten
müssen, werden in diesem Kapitel porträtiert. Aus der Perspektive von Hans
kriegt der Leser mit, was sich in einer solchen (typisch für die Nachkriegszeit)
Situation so alles ereignen könnte. Böll hat diese Szene im Text aufgenommen,
weil diese Situation bildreich die Nachkriegszeit porträtiert.
24
Angelika Kieser-Reinke Techniken der Leserlenkung bei Hans Fallada Ein Beitrag zur Rezeptionsforschung
mit einer empirischen Untersuchung des Romans ‘Jeder stirbt für sich allein’(1946) Bern/Fr. a. M./ Las Vegas:
Peter Lang, 1979. S. 23. Der Satz lautet: ‘[..] literarische Texte [reagieren] auf Defizite ihrer Soziokulturellen
Umwelt […] und durch von ihnen ausgelösten Komplementarisierungsprozesse zur imaginären Bewältigung.’
25
Iser, W.: Die Appellstruktur der Texte Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa. S. 11f.
26
Böll, H.: Der Zeitgenosse und die Wirklichkeit. S. 75.
8
Böll zeigt hier, dass er der Wirklichkeit besser annähern kann, einen passenden
Ausdruck für solche Erlebnisse findet, wenn er sich fokussiert auf die Bewegung
der Personen in Mikrosicht und nicht in Makrosicht.
Er hat im Interview mit Christian Linder folgendermaβen über seine
Kriegserfahrungen gesprochen:
Wenn Sie den Krieg abstrakt sehen, sehen Sie ja eine vielvielvielmilliardenfache sinnlose
Bewegung, von einzelnen und Massen; völlig unabhängig, völlig unpolitisch gesehen ist er
eine irrsinnige Bewegung.27
Die Sache mit dem ‘nirgendwo richtig ankommen’, auch eine seiner
Kriegserlebnisse, lässt ihm sogar in dem Rest seines Lebens, in dem er das
‘nicht-seßhaft-sein’28 oder die Unfähigkeit sesshaft zu werden empfindet, noch
täglich die Spuren des Krieges mitbekommen. Im selben Interview spricht er
davon, wie das Literarische letztendlich in seinem Werk hineinkommt:
[Böll:] „Diese Verbindung [...] zwischen dieser Bewegung meines privaten Lebens und dem,
was ich schreibe: zum Beispiel das Modell Wartesaal, abfahren, unterwegs sein, ankommen,
wieder abfahren, nirgendwo richtig ankommen - ja, das müßte wirklich alles analysierbar sein,
und da ist wahrscheinlich auch die Verbindung zwischen abstrakt und konkret zu finden; wie
ich eben sagte: wenn man den Krieg als solchen abstrakt sieht, sieht man nur milliardenfache
sinnlose Bewegungen, konkret wird er erst durch das Erlebte und durch das Eingreifen ...“
L: [=Linder] „...und da käme auch wieder das Literarische hinein.“
B: „Ja, das Literarische, das Gemachte.“29
Was den Figuren im Bunker oder Übernachtungsraum passiert, entspricht auch
dem, womit der Autor sich auseinandersetzen muss. Der hat auch im
literarischen Bereich oft keine Wahl. Sein höchstes Ziel wäre ‘sich ein Bild
machen können’.
Hier zeigt sich, Böll zufolge, wie schwierig eigentlich die Position des Autors
ist, im Vergleich zu der Position eines Wissenschaftlers, der auch beruflich
‘analysiert’.
27
Böll, H. & C. Linder: Drei Tage im März. Ein Gespräch. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1975, S. 43.
Ebd. S. 42.
29
Ebd. S. 43.
28
9
[...] sich ein Bild machen können, ist ja der höchste Stand der Bildung. Als Autor aber hat er
nicht, was die Wissenschaft hat; er hat keinen Apparat, keine Hilfstruppen, er kann die
Voraussetzungen weder kontrollieren noch schaffen. 30
Und was für den Autor gilt, gilt eigentlich auch für den Leser: ‘[...] die Zeit ist
ein Karussell, das sich so geschwind dreht, daß wir seine Bewegung nicht mehr
erkennen und zu ruhen scheinen, zu ruhen in der Gegenwart, während die Zeit
vergeht; [...] Die Wirklichkeit des Augenblicks ist die Vergänglichkeit die unsere
Kinder mit so beneidenswerter Intensität genießen, daß sie ihnen ewig erscheint,
ohne Ende [...]‘31. Diese zeitlich beschränkte Wirklichkeit kann nicht anders als
vorbeigehen und wir sind ‘damit der Wirklichkeit ausgeliefert, sind es von jenem
uns bekannten Punkt an, wo wir aufhören, Kinder zu sein.‘32
Der Autor hat es aber doppelt schwer, weil er eine ‘doppelte Verwandlung’33 zu
Stande bringen sollte. Böll gibt eine Definition der ‘doppelten Verwandlung’ in
‘Über die Gegenstände der Kunst’:
[...] das Problem der Verwandlung von Gegenständen in Material und die Rückverwandlung
dieses Materials in eine gegenstands- und materialgerechte neue Wirklichkeit.34
Aber zunächst muss es zwischen Leser oder Lesepublikum und Autor eine
Übereinstimmung geben, über das, was während der Kriegs- und Nachkriegszeit
eigentlich zerstört war, bzw. was eigentlich passiert war.
Böll ist der Meinung, dass ‘die Zerstörungen in unserer Welt nicht nur äußerer
Art’35 sind.
Das obengenannte ‘Problem der Verwandlung von Gegenstanden in Material’
muss man daher nur im übertragenen Sinne des Wortes auffassen. Nur in diesem
Sinne könnte man ja sich ‘ein Bild machen’36. In der ‘Trümmer’-Welt herrscht
30
Böll, H.: Frankfurter Vorlesungen. S. 35f.
Böll, H.: Der Zeitgenosse und die Wirklichkeit. S. 71f.
32
Böll, H.: Der Zeitgenosse und die Wirklichkeit. S. 72.
33
Heinrich Böll: Über die Gegenstände der Kunst. Ansprache zur Preisverleihung des Literaturpreises der Stadt
Köln an Jürgen Becker am 26.10.1968 im Gürzenich, in: Heinrich Böll Heimat und keine. Schriften und Reden
1964-1968, München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1985, S. 313-317, hier S. 313.
34
Ebd, S. 311.
35
Böll, H.: Bekenntnis zur Trümmerliteratur. S. 35.
36
Böll, H.: Frankfurter Vorlesungen. S. 35.
31
10
also Orientierungslosigkeit und es ist, fast wie in Kriegszeiten, schwierig in jener
Welt zu überleben. Dass zur Entzifferung einer derartigen Wirklichkeit dennoch
Schlüssel angeboten werden müssen, will nicht jeder ‘Zeitgenosse’ (anstelle
‘Zeitgenosse’ würde auch ‘Leser’ passen) wahrhaben:
Der Zeitgenosse glaubt zu wissen, dass die Wirklichkeit häßlich und quälend sei, daß man sie
nicht herankommen lassen darf; nah genug kommt die Wirklichkeit des Alltags, die eigenen
Sorgen und Nöte in Permanenz. Wozu da noch ferne, noch fremde Wirklichkeiten an sich
herankommen lassen. Aber die fremden Wirklichkeiten sind nur scheinbar fremd, und die
fernen sind nur scheinbar fern. Es gibt nichts, was uns nichts angeht, das heißt positiv: alles
geht uns etwas an.37
Dennoch bleibt so immer noch das Problem, wie man sich dann ein Bild machen
könnte, ungelöst. In Bölls ‘ästhetischen und gesellschaftlichem Programm’38
setzt er auseinander, warum und wie er sich als Schriftsteller begibt auf die
Suche nach ‘einer bewohnbaren Sprache in einem bewohnbaren Land’39.
Diese bewohnbare Sprache ist noch sozusagen im Anfangsstadium und diese
Aufgabe ist sicherlich, nach nur einem Versuch einer derartigen Sprache zu
konzipieren in einem Roman, noch nicht erledigt. Es ist eine Sache, die immer
entwickelt werden sollte. Eine Sache die im Leben eines Schriftstellers auf
‘Fortschreibung’40zurückzuführen ist. Und wenn die ‘doppelte Verwandlung’
mal gelingt und tatsächlich einen passenden Ausdruck für etwas gefunden wird,
und in einem Bild, das gemacht wird, ein Teil der Wirklichkeit wiedergegeben
wird, dann gibt es eine Darstellung, die als gelungen gelten darf. Die
elementaren Dinge können in einer bewohnbaren Sprache benannt werden und in
dieser neu geschaffenen Wirklichkeit findet eine ‘Verbindung zum ‘Stofflichen’,
das heißt zum Sinnlichen, in seiner ganzen Palette hergestellt’41 statt.
Eine bewohnbare Sprache ist nicht nur eine Sprache, in der sich Teile der
Wirklichkeit ausdrücken lassen, sondern auch eine Sprache, in der sich der
37
Böll, H.: Der Zeitgenosse und die Wirklichkeit. S. 71.
Balzer, B.: Humanität als ästhetisches Prinzip – Die Romane Heinrich Bölls. S. 42.
39
Böll, H.: Frankfurter Vorlesungen. S. 45.
40
Heinrich Böll: Gruppenbild mit Dame Tonbandinterview mit Dieter Wellershoff am 11.6.1971, 1971. In:
Interviews I 1961-1978, S. 120-134] Hg. v. Bernd Balzer. Köln: Kiepenheuer & Witsch. 1978. S. 120.
41
Bernd Balzer: Das literarische Werk Heinrich Bölls Einführung und Kommentare. München: Deutscher
Tachenbuch Verlag 1997. S. 31.
38
11
Schriftsteller leichter fokussieren kann auf wichtige konkrete oder abstrakte
Details. Hier kommt der humane Aspekt der Sprache besser zurecht, wenn er
folgendermaßen auf Objekte zugespitzt wird:
Sprachobjekte, Objekte [...], die sich den Schriftstellern zur Materialisierung anbieten. Jeder
Maler, Bildhauer, Komponist steht vor dem gleichen Problem, nur ist die Sprache voller
besonders heikler Objekte, und ihre Materialisierung, die doppelte Verwandlung, die ihr
angetan werden muss, auf eine extreme Weise durch Vorstellungskonventionen, durch Moral,
Politik, Geschichte, Religion belastet, durch mißverstandene und mißgeleitete Ideale, wie sie
so auf der Interpretationspalette bereitliegen. 42
Und Böll hat das schon 1953 erwähnt als er schrieb:
[...] Jene, die das Aktuelle für das Wirkliche halten, sind oft sehr weit davon entfernt, das
Wirkliche zu erkennen.43
‘Milieustudien’ macht ein Autor, Böll zufolge, jedenfalls gar nicht:
Es ist ein Irrtum, zu glauben, jeder Autor mache Mileustudien. Ich glaube, er muß nur die
Elemente des menschlichen Lebens kennen, und die muß er, scheint mir, bis spätestens zu
seinem 21. Lebensjahr kennen, im Zustande verhältnismäßigen Unschuld und Naivität.44
Wolfgang Iser betont in seinen Forschungsarbeiten im Rahmen der
Rezeptionsästhetik die Rolle des Lesers bei der Interpretation der literarischen
Werke. Fiktion, behauptet er, wäre, angesichts der Voraussetzung, dass der Text
dem Leser etwas mitzuteilen hat, in einer polaren Entgegensetzung zur
Wirklichkeit kaum eine Funktion zuzuschreiben. Er behauptet, dass ‘die Fiktion
uns etwas über die Wirklichkeit mit[teilt]’45. Aber was die Fiktion uns mitteilt ist
nicht unwirklich.
42
Heinrich Böll: Über die Gegenstände der Kunst, Ansprache zur Preisverleihung des Literaturpreises der Stadt
Köln an Jürgen Becker am 26.10.1968 im Gürzenich. In: Heinrich Böll: Heimat und keine. Schriften und Reden
1964-1968. München: Deutscher Taschenbuch Verlag. 1985. S. 313-317. Hier S. 313f.
43
Böll, H.: Der Zeitgenosse und die Wirklichkeit, 1953, S. 74.
44
Heinrich Böll: Werkstattgespräch mit Horst Bienek,1961. In: Interviews I 1961-1978. Hg. v. Bernd Balzer.
Köln: Kiepenheuer & Witsch. 1977. S. 120-134. Hier: S. 15.
45
Wolfgang Iser: Die Wirklichkeit der Fiktion – Elemente eines funktionsgeschichtlichen Textmodells. In:
Rainer Warning: Rezeptionsästhetik Theorie und Praxis, München: Wilhelm Fink. 1975. S. 277-324. Hier
S. 277f.
12
In diesem Mitteilungsverhältnis sind Wirklichkeit und Fiktion unzertrennbar.
Das heißt aber doch nicht, dass historische Fakten und soziokulturelle Kontexte,
in denen die historische Bedingtheit von dem Gebrauch einer Sprache an sich
deutlich verankert ist, ohne Bedeutung sind für die Interpretationen von
literarischen Werken.
Die […] Interpretationen erweisen sich […] als das Zusammenspiel zwischen der historischen
Bedingtheit jener Annahmen, durch die alle Interpreten gekennzeichnet sind, und den
Werkstrukturen, durch die bestimmte Sinnvollzüge veranlasst werden. 46
Und Bölls Werke, als fiktionale Ausdrücke von Teilen der Wirklichkeit, haben
auch Werkstrukturen47. Dennoch ist für Böll die Wirklichkeit, die er in seinem
Werk verarbeitet, zusammengesetzt und verwandelt hat, eine Sache die erst
interessant wird, nachdem die doppelte Verwandlung gelungen ist.
Ein Autor nimmt nicht Wirklichkeit, er hat sie, schafft sie, und die komplizierte Dämonie auch
eines vergleichsweise realistischen Romans besteht darin, dass es ganz und gar unwichtig ist,
was an Wirklichem in ihn hineingeraten, in ihm verarbeitet, zusammengesetzt, verwandelt sein
mag. Wichtig ist, was aus ihm an geschaffener Wirklichkeit herauskommt und wirksam wird. 48
Das Maß, in dem ein literarischer Text ‘real’ oder ‘realistisch’ sein könnte, ist
auch für Wolfgang Iser nicht eins der Eichwesen, mit denen er die Wirkung des
Textes analysieren will. Iser behauptet, dass fürs Verständnis der
kommunikativen Qualität eines Textes (er geht ja davon aus, dass ein
literarischer Text etwas über die Wirklichkeit mitteilt und lässt den reinen
Kunstcharakter des Textes in seinen Analysen außer Betracht) derjenige, der den
Text als Forschungsobjekt sieht, eher Schlüssel zum hilfreichen Verständnis im
Lesevorgang finden wird, als in der Welt, die der Autor, auch Iser zufolge,
durchaus kaum dokumentiert im Text selber.
46
Wolfgang Iser: Im Lichte der Kritik. In: Rainer Warning: Rezeptionsästhetik Theorie und Praxis, München:
Wilhelm Fink. 1975. S. 325-342. Hier S. 330.
47
Werkstrukturen sind Strukturen, die es dem Leser des Textes einfacher machen Feststellungen über das vom
Text Vermittelte zu treffen (Vgl. Wolfgang Iser, 1970, S. 12)
48
Böll, H.: Frankfurter Vorlesungen. S. 48.
13
Lebensweltliche Situationen sind immer real, literarische Texte hingegen fiktional; sie sind
daher nur im Lesevorgang, nicht aber in der Welt zu verankern.49
Böll bestätigt das mit der folgenden Stellung:
Und wenn einer in einem Roman Wirklichkeitstreue oder Lebensnähe entdeckt, so entdeckt er
geschaffene Wirklichkeit und geschaffene Lebensnähe. 50
49
50
Iser, W.: Die Appellstruktur der Texte Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa. S. 11.
Böll, H.: Frankfurter Vorlesungen. S. 48f.
14
II Das gute Auge des Schriftstellers
Heinrich Böll versucht in seinen literarischen Werken ‘das wahrnehmbare,
täglich Erlebte’51 auf seine Weise ‘in Sprache zu fassen’52. Im Roman Der Engel
schwieg fängt die Geschichte an mit den Erlebnissen des Ex-Soldates Hans
Schnitzler. Der Startpunkt der Geschichte ist das Krankenhaus.
Die Lage der Figur Hans Schnitzler scheint am Anfang der Geschichte durchaus
aussichtslos. Hans ist im Dunkeln angekommen in einer ‘Trümmer’-Welt. Er
trägt die falsche Uniform, er hat auch keine gültige Papiere. Die Papiere, die er
hat, sind gefälscht oder gestohlen. Er stiehlt den Mantel einer Frau im
Krankenhaus, aus dem Raum also, in dem die Geschichte anfängt. Im Mantel
befindet sich einen Brief. Auf dem Brief steht eine Adresse. Später stellt sich
heraus, dass das die Adresse der Eigentümerin ist. Sie heißt Regina Unger. Er
bekommt etwas zu essen im Krankenhaus und während der Arzt im
Krankenhaus Operationen ausführt und die Nonnen ihm dabei helfen, bekommt
Hans mit, wie einer stirbt.
Man geht im Krankenhaus in sachlicher Weise mit dem Schicksal, das zum Tod
führt, um. Hans kann nur registrieren, was er sieht, ohne fähig zu sein direkt zu
reagieren. Da er schon erschöpft war, fällt es ihm, nachdem er folgendes gesehen
hat, schwer wach zu bleiben.
Er registriert, was mit dem Toten auf der Bahre passiert:
[...] [Der Arzt warf seine blutige Gummihandschuhe] hinter sich auf einen Tisch, riß die Maske
herunter und zuckte die Schultern. Die Nonne, die hinten stand, warf ein großes Tuch über die
Liegende und schob die Bahre herum, und Hans sah jetzt deutlich das Gesicht der Liegenden:
es war weiß wie Kalk.53
Hans wird übel vom Rauchen einer Zigarette und die Tasse Wasser, die er trinkt,
schmeckt ihm widerwärtig. Danach schläft er ein.
Hans nimmt den Mantel mit, nachdem er wieder aufwacht. Der Arzt bietet ihm
die Papiere eines Toten an. Der Arzt weiß schon, was Hans braucht.
51
Böll, H.: Frankfurter Vorlesungen. S. 52.
Ebd.
53
Böll, H.: Der Engel schwieg. S. 18.
52
15
Der Arzt sagt ihm: ‘Fünfundzwanzig Jahre, völlig wehrunfähig wegen eines
schweren Lungenleidens. Sie heißen dann Erich Keller.’54
Hans möchte diese Papiere schon haben. Er kann aber nur dem Arzt versprechen
sie irgendwann zurückzubringen, weil er sie nicht bezahlen kann. Hans kann
dem Arzt sogar nichts als Pfand geben, denn sogar die Uniform, die er trägt,
einem Toten gehört. Er darf die Papiere trotzdem mitnehmen, wenn er sie bald
wieder zurückbringt. Dann geht er zu Elisabeth Gompertz um die Uniform ihres
verstorbenen Mannes Willi Gompertz zu geben. Hans bringt ihr auch noch Willis
Testament, in dem Willi seiner Frau sein ganzes Eigentum überlässt. Willi wurde
im Krieg statt Hans erschossen, obwohl es eigentlich Hans war, der erschossen
werden sollte wegen Fahnenflucht. Hans erzählt Elisabeth folgendes über Willi:
„[...] er wollte mir das Leben schenken, aber ich begreife jetzt, dass man jemand das Leben
schenken kann, indem man ihm den Tod stiehlt.“55
Willi hat Hans also einen Gefallen getan, aber Hans hat unter den Umständen, in
denen er jetzt lebt, sich lieber tot gewünscht. Hans lebt also, obwohl er tot sein
möchte. Hans trägt einen Mantel, der ihm nicht gehört. Und er hat auch
Identitätspapiere, die nicht seine sind. Nachdem er Elisabeth Gompertz verlassen
hat, möchte er dann Regina Unger besuchen, die glücklicherweise nicht die Tote
auf der Bahre in jener Nacht im Krankenhaus war.
Regina Unger hat zwar nicht als Soldat, dennoch auch kreuz und quer durch
Deutschland reisen müssen während des Krieges. Sie wohnt in einer Wohnung,
die einer Ruine ähnelt. Dazu kommt noch, dass sie kurz zuvor ihr Baby verloren
hat. Die Wiege ist in der Wohnung aber noch nicht weggeräumt. Regina ist froh,
dass sie ab dem Moment, das Hans bei ihr bleiben möchte (auch wenn das
zunächst nur vorübergehend ist um sich zu erholen), nicht mehr allein zu sein
braucht. Es ist schwierig in der Trümmer-Welt an genügend Brot, Kohlen,
Kaffee und Zigaretten zu kommen, aber mittels Schwarzhandel und die Sache,
dass Hans für die beiden Kohlen stiehlt, sind sie im Stande ein neues Leben
aufzubauen. Die Geschichte ist nicht eine Standard-Liebesgeschichte. Diese
54
55
Böll, H.: Der Engel schwieg. S. 21.
Böll, H.: Der Engel schwieg. S. 47f.
16
Liebesgeschichte endet aber relativ glücklich, weil Hans und Regina einen
gewissen Moment ihre Liebe zu einander bekennen und ihre Heirat planen.
Heinrich Böll hatte in Bezug auf viele seine Werke vor, eine Liebesgeschichte zu
schreiben. Er hat die Liebesgeschichten dann aber wohl so gestaltet, dass sie
letztendlich im Grunde eine Liebesgeschichte sind, dennoch aber, weil Böll es
für ‘spannender, echter, exakter und auch Wirklichkeit entsprechender’56 hielt,
das Liebespaar nicht in eine einfache (auch also vom erzählen her einfache)
Situation zu stellen, sondern ‘in einer möglichst schwierige’57,wird daraus keine
Standard-Liebesgeschichte. Und die Welt in Kriegszeit oder Nachkriegszeit
bietet hierfür eine außerordentlich gute Kulisse. Mit ‘möglichst schwierig’ meint
Böll aber auch ‘möglichst heikel’ im politischen und sozialen Sinne.
Die Tragfähigkeit, Zähheit oder Standhaftigkeit der beiden Figuren Hans und
Regina werden in der Geschichte im Vordergrund gestellt, anhand eines zwar
alltäglichen, dennoch im literarischen Sinne nicht üblich verwendeten Objekt,
hier als Motiv vorgeführt, nämlich eine Dachrinne, und ihre ‘Lebensdauer’
mitten im Krieg. Für Regina insbesondere ist die Dachrinne, die immer schief da
gehangen hatte im Krieg, und nie abgebrochen war, ein fester Punkt, wenn sie
ihre Hoffnung im Leben ein Fundament geben möchte. Diese Dachrinne hat ja
sechs Jahre lang nachts geklappert und ‘immer noch an der einen haltenden
Klammer gehangen’58.
Und inzwischen waren Dachpfannen weggeflogen, Bäume umgelegt worden,
Putz heruntergebröckelt und hat sie den Regen ins Leere gelenkt, weil keine
Mauer mehr da war. Und dieses nächtliche Klappern hat Regina Freude
gemacht.
Man könnte natürlich in einer ‘Trümmer‘-Welt Ähnliches vorstellen in Bezug
auf andere kaputte Sachen. Die gab es in jener Welt ja genügend. Böll gibt einem
Stück Zinkblech, was eine Dachrinne natürlich eigentlich nur ist, in dieser
Geschichte eine tiefere Bedeutung, man könnte auch sagen einen ‘Hintergund’.
Für den Leser gilt, dass er, wenn er über diesen Hintergrund dieses
unansehnlichen Dinges liest, den Schlüssel in dem Hand hat um eine neue Welt
56
Böll Gruppenbild mit Dame Tonbandinterview mit Dieter Wellershoff am 11.6.1971. S. 126.
Ebd.
58
Böll, H.: Der Engel schwieg. S. 144.
57
17
zu betreten. Und wie schon erwähnt, geht es Böll in jener anderen und zugleich
derselben Wirklichkeit darum, dass nicht nur die Tür mit dem Schlüssel geöffnet
wird, sondern auch, dass der Schlüsselbesitzer ‘in den noch unbekannten
Raum’59 eintritt und sich in diesem Raum umsehen wird.
Wolfgang Iser betrachtet ein solches Verfahren auch typisch für das, was mit
’bekannten’ Sachen in literarischen Texten gemacht wird. Nicht nur vom Autor,
sondern auch (und das interessiert Iser, dessen Spezialität die Rezeptionsästhetik
ist, am meisten) vom Leser wird dieses Bekanntsein oder ‘Gekanntsein’ eines
Objektes überholt. Iser behauptet in diesem Rahmen, dass
‘Sinn ständig überhohlbar ist’60.
Iser nimmt eine Verschiebung von Interesse wahr, insofern, dass das Interesse
des Lesers im Laufe des Textes einer anderen Sache gelten wird. Und so könnte
es sein,
[...] dass das bekannte nicht in seinem Bekanntsein interessiert, sondern dass mit dem
Bekanntsein etwas gemeint werden soll, das seiner noch ungekannter Verwendung
entspringt.61
Wenn man diesen spezifischen Leseprozess oder Lesevorgang dann auch noch
generalisiert, könnte daraus diese Behauptung Isers folgen:
‘[...] fiktionale Texte sind unserer Lebenspraxis immer schon voraus [...]‘.62
Böll weiß aber, dass diese Sache einen Haken hat. Die Lebenspraxis lässt sich
nämlich nicht so leicht reformieren. Es gibt Sachen, die im soziokulturellen
Kontext ‘bekannt’ sind. Es gibt aber auch Sachen, die im soziokulturellen
Kontext unerwünscht sind. Die werden in der Regel von der Gesellschaft
verdrängt oder als ‘Abfall’ bezeichnet und entfernt.
Im Roman Der Engel schwieg lässt der Autor den Leser nicht nur einsehen, wie
grausam es war und wichtig es war, eine humane Weise zu finden um zu
überleben in jener Zeit der ‘Trümmer‘-Welt, weil im Lesevorgang63 die
komponierte Textgestalt sich nicht nur auf ein historisches Substrat bezieht. Böll
59
Böll, H.: Der Zeitgenosse und die Wirklichkeit. S. 73.
Iser, W.: Die Appellstruktur der Texte Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa. S. 35.
61
Iser, W.: Die Wirklichkeit der Fiktion – Elemente eines funktionsgeschichtlichen Textmodells. S. 300.
62
Iser, W.: Die Appellstruktur der Texte Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa. S. 35.
63
Ein Lesevorgang besteht einerseits aus der Gegebenheit einer komponierten Textgestalt und andererseits
gelangt er erst durch die im Leser verursachten Reaktionen zur Wirkung (Vgl. auch Wolfgang Iser 1970, S. 6).
60
18
hat ‘eine Geschichte’ geschrieben, und nicht ‘Geschichte’. Die Art, in der der
Text konstituiert, ist mehr als nur historisch determiniert.
Nun soll gar nicht geleugnet werden, dass literarische Texte ein historisches Substrat besitzen.
Doch allein die Art, in der sie dieses konstituieren und mitteilbar machen, scheint nicht mehr
ausschließlich historisch determiniert zu sein.64
Böll befindet sich angesichts seiner Trümmerliteratur in einer misslichen Lage,
weil ihm einerseits vom Lesepublikum das übel genommen wurde, was er in
jener Zeit gesehen hatte. In dieser Sache war Böll nicht der einzige Autor, der
sich darüber beklagen könnte, es gab mehrere Autoren die Trümmerliteratur
schrieben. Dennoch fand Böll es nötig, seine Beschwerden zu verschriftlichen in
seinem Aufsatz Bekenntnis zur Trümmerliteratur (1952). Die Wirklichkeit
kannte damals jeder, schreibt er in diesem Aufsatz auf Seite 31, ‘nur nahm man
uns [= die Schriftsteller] übel, dass wir es gesehen hatten’65.
Andererseits befindet sich Böll auch in einer misslichen Lage, weil er immer
seine Phantasie anspricht (und natürlich seine weiteren schriftstellerischen
Qualitäten), wenn er das, was er gesehen hat, mit dem Auge eines Schriftstellers
sieht und sah. Und er hat seine Lieblingsthemen auch immer wieder in
komponierten Textgestalten verarbeitet so lange er als Schriftsteller tätig war.
Seine Phantasie kann nicht außerhalb vom Wirklichen stehen. Und die Phantasie
kann sich auch nur innerhalb des Wirklichen bewegen:
‘man muß wissen, daß unsere menschliche Phantasie sich innerhalb des
Wirklichen bewegt.’66 Die Sprache ist vor allem für den Autor der Ort, in dem
mittels seiner Phantasie die Komposition einer Textgestalt seinen Anfang hat.
Wer Augen hat, zu sehen, für den werden die Dinge durchsichtig – und es müßte ihm möglich
werden, sie zu durchschauen und man kann versuchen, sie mittels der Sprache zu
durchschauen, in sie hineinzusehen.67
Das Auge eines Schriftstellers sieht mehr als im optischen Bereich aufgetaucht
ist:
64
Iser, W.: Die Appellstruktur der Texte Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa. S. 7.
Böll, H.: Bekenntnis zur Trümmerliteratur. S. 31.
66
Böll, H.: Der Zeitgenosse und die Wirklichkeit. S. 75.
67
Böll, H.: Bekenntnis zur Trümmerliteratur. S. 34.
65
19
[...] [Ein] gutes Auge gehört zum Handwerkszeug des Schriftstellers, ein Auge, gut genug, ihn
auch Dinge sehen zu lassen, die in seinem optischen Bereich noch nicht aufgetaucht sind. 68
Das tote Baby Reginas gehört zum Beispiel keineswegs schon dem Jenseits, aber
sicherlich auch nicht dem Diesseits, da es ja tot ist. Das ist aber nicht so einfach
hinzunehmen in dem literarischen Text.
Für Böll gilt, dass ein toter Mensch in der Literatur nicht so einfach weg zu
lassen oder weg zu machen ist. Was oder wer in der Gesellschaft ausgegrenzt
wird, wird zum Thema gemacht in der Literatur.
Die Literatur kann offenbar zum Gegenstand wählen, was von der Gesellschaft zum Abfall, als
abfällig erklärt wird.69
Im ‘optischen Bereich’ ist das Baby noch immer da für Hans und Regina, nur
nicht für den Leser. Aber der Leser weiß genau, dass das Baby, präsent ist in der
Geschichte obwohl es ‘physisch’ abwesend ist70. Es hat seinen Platz in dem
Raum, in dem Hans und Regina leben, noch nicht aufgegeben.
Aus der Perspektive von Hans bekommt der Leser das mit:
[...] [Er] blieb stehen und sah in die leere Wiege hinein: noch waren die Kissen zerdrückt, eine
sanfte kleine Delle, in der das Kind gelegen haben musste. 71
Hans hat das Baby nie gekannt. Er weiß aber, dass das Baby Regina viel
bedeutet hat. Er schaut sie an und ihr Gesichtsausdruck vermittelt schon
ausreichend wie sie sich fühlt:
Sie hielt den Blick auf die Wiege gesenkt, und er sah, dass ihre Lippen zitterten. 72
Man könnte behaupten, dass in der Gegenwart in der Hans und Regina ihre
Liebesbeziehung anfangen, in dieser Weise auch ihre (zumindest Reginas)
Vergangenheit vergegenwärtigt ist.
68
Böll, H.: Bekenntnis zur Trümmerliteratur. S. 31.
Böll, H.: Frankfurter Vorlesungen. S. 82.
70
insofern man im Fall einer Figur von ‘physisch’ reden könnte.
71
Böll, H.: Der Engel schwieg. S. 61.
72
Ebd.
69
20
Und es gehört alles trotzdem zum Erlebten in der Gegenwart. Auch für den
Leser, der noch nicht weiß, was als nächstes passieren wird.
In dieser Hinsicht hat Böll auch versucht, sein Problem mit der Wirklichkeit als
Schriftsteller in der Herstellung komponierten Textgestalten wiederzugeben:
‘das Wahrnehmbare, täglich Erlebte, ist offenbar nicht so leicht in Sprache zu
fassen.’73
Ähnliches wird thematisiert im Kapitel VIII. In diesem Kapitel befindet Hans
sich in einem Bunker, der als öffentlicher Übernachtungsraum benutzt wird.
Der Weg von Reginas Haus bis zum Haus von Elisabeth Gompertz ist lang.
Obwohl Hans schon weiß, wo Elisabeth wohnt, denn er hat, das erste Mal als er
bei ihr war, die Uniform ihres Mannes zurückgebracht, sieht er sich gezwungen,
in einem öffentlichen Raum für Passagiere und andere Reisenden auf der
Durchfahrt, zu übernachten.
Wenn es dunkel ist, ist es auch in der Nachkriegszeit in der Stadt nicht erlaubt,
sich auf der Straße zu begehen. Komfort gibt es aber kaum oder gar nicht in
solchen Schlafbunkern. Hinzu kommt noch, dass die anwesenden Leute gestört
werden von neuen Leuten, die später kommen. Und es müssen immer wieder
Menschen den Raum verlassen, weil sie ihren Zug nicht verpassen möchten.
Wenn sie nicht leise sind, wachen die anderen auf. Es ist auch dunkel. Nicht so
sehr weil die Menschen sonst nicht schlafen können, sondern vielmehr, weil es
gar keinen Sinn hat mit Glühbirnen Licht zu machen, denn die werden sonst jede
Nacht gestohlen.
Decken gibt es zwar, aber die sind schmutzig und halbzerrissen. Sie werden auch
nicht umsonst ausgeteilt, sondern man soll für eine Decke einen Pfand von 100
Mark bezahlen. Im Kapitel VIII wird die Atmosphäre geschildert die es nachts
im Bunker gibt. Die anwesenden Leute haben viel Gepäck und scheinen eher zu
warten als zu schlafen. Hans hört, dass viele trinken und essen.
[...] [S]ie schienen alle nur auf die Dunkelheit gewartet zu haben, um zu essen; es war ein
hundertfaches heimliches Fletschen und Kauen [...] vom Bahnhof her [wurde] wieder eine
73
Böll, H.: Frankfurter Vorlesungen. S. 52.
21
neue Menge hineingepreßt [...] Später flüsterten sie, es wisperte im Dunkeln, weckte
Erinnerung an glückliche Hamsterfahrt, Bedauern über das Schwinden der Vorräte. 74
Hans möchte das zweite Mal, das er zu Elisabeth Gompertz geht, für einen
Austausch vom Brotschein gegen Brot, Brot bei ihr abholen. Er erwartet aber
auch, dass sie ihm als Belohnung für die Rückgabe von Willis Uniform und
Übergabe des Testaments, das viel Geld wert war, Geld geben wird. Er macht
sich schon auf den Weg zur Wohnung von Elisabeth, Gedanken über die Sachen,
die er vom noch zu bekommenen Geld kaufen könnte. Er möchte Regina eine
Freude machen und er entscheidet sich dafür Brot zu kaufen.
[...] [E]r wollte es spüren, wollte es essen, wollte es brechen, es Regina bringen: Brot, weich
und gar in der braunen Kruste der gebackene Teig: süß riechend und süß schmeckend, so süß
wie nur Brot schmeckt.75
Am Anfang der Erzählung ging es Hans genauso, aber er hatte, nachdem er total
erschöpft in seiner Stadt zurückgekommen war, nur noch eine vage Erinnerung
an Brot, das ‘weich und gar’ ist. Es ist zu lange her, dass er es gegessen hat. Er
hatte vergessen, wie es früher geschmeckt hat. Jetzt weiß er es wieder und er
möchte seiner Geliebten eine Freude machen und auch für sie weiches und gares
Brot regeln.
Brot an sich oder das Essen von Brot und sogar ein Brotschein ist nicht einmal,
sondern vielmals in der Geschichte als Motiv vorgeführt. Man könnte eventuell
behaupten, dass die ‘Engel’ – Figur zwar wichtig ist im Roman Der Engel
schwieg, aber dass dann durchaus an der zweitwichtigsten Stelle das Brot
kommen könnte.
Böll machte sich sogar Gedanken, das Brot in eine Ästhetik einzuordnen.
Das Brot in eine Ästhetik einzuordnen, das würde zwar weit, doch nicht ins Uferlose führen,
wäre einzudämmen, zu ordnen, zu erforschen – es würde unweigerlich auf die Abfallhalde
führen.76
74
Böll, H.: Der Engel schwieg. S. 84.
Böll, H.: Der Engel schwieg. S. 89.
76
Böll, H.: Frankfurter Vorlesungen. S. 107.
75
22
Da so etwas wie Brot leicht zum Abfall wird in der Gesellschaft, wird daraus für
Böll ein beliebtes zu thematisierendes Objekt in seiner schriftstellerischen
Arbeit. Böll macht Brot-Arbeit ist dann also buchstäblich und bildlich
aufzufassen.
Wichtiger aber ist es, die Intention des Autors in dieser Sache zu erkennen. Böll
findet tatsächlich, dass es zu wenig deutsche Literatur gibt, in der die Aktivität
des Essens und des Trinkens aufgeführt wird. Alsob dem Essen und dem Trinken
keine Aufmerksamkeit geschenkt werden dürfen. Die Gesellschaft sollte aber
auch solche und ähnliche ‘humane’ Sachen vertragen.
Das Problem ist, dass es eine gesellschaftliche Konvention gibt, die solche
Sachen vorführt, als Dinge, die man ertragen muss.
Böll schreibt in diesem Zusammenhang folgendes:
Die Worte ‘sozial’, ‘human’ [...] werden in unserer Gesellschaft vermieden, unterdrückt,
lächerlich gemacht.77
Schon deshalb hatte Böll sich Gedanken gemacht, wie er für so etwas wie ‘Brot’
mehr Aufmerksamkeit in der deutschen Literatur erregen könnte.
‘Alles geht uns etwas an’78 heißt in diesem Sinne auch: für alles sollte man
versuchen einen passenden Ausdruck zu finden. Und diesen passenden Ausdruck
findet der Autor, indem er sich einer wechselnden Struktur aber auch einem
ständigen inneren Zusammenhang des eigenen Werkes widmet.
Auch kleinere schriftstellerische Werke zählen zum Gesamtwerk. Böll nennt das
‘Fortschreibung’. Er behauptet, dass
[...] alles, was ich geschrieben habe – auch zwischendurch kleinere Dinge, Aufsätze, Kritiken
usw. – eine Fortschreibung darstellt.79
Ein Mensch sollte auch in der Gesellschaft nicht als Abfall angesehen werden.
Böll fügt in die Liebesgeschichte zwischen Hans und Regina auch eine andere
Liebesgeschichte ein. Diese Liebesgeschichte ist die der ersten Ehe von Hans
77
Böll, H.: Frankfurter Vorlesungen. S. 9.
Böll, H.: Der Zeitgenosse und die Wirklichkeit S. 71.
79
Böll, H.: Gruppenbild mit Dame Tonbandinterview mit Dieter Wellershoff am 11.6.1971. S. 120.
78
23
während des Krieges. In einer Rückblende, erinnert sich Hans der
Liebesbegegnung im Lazarett mit seiner ersten Frau. Das war auch das letzte
Mal, das die beiden sich trafen, weil die Frau danach noch im Krieg stirbt. Hans
erinnert sich noch an die Uhr und an den eigenen Herzschlag und den
Herzschlag seiner Frau. Die Uhr ‘gewinnt’ sozusagen von den beiden Liebenden,
weil der Krieg alles in jener Zeit überstimmte:
[I]rgendwo tickte eine Uhr. [...] Er spürte, daß die Uhr ihn forttickte, das Ticken der Uhr war
stärker als der Herzschlag an seiner Brust, von dem er nicht mehr wußte, ob es ihrer oder
seiner war. Alles das hieß: Urlaub bis zum Wecken.80
80
Böll, H.: Der Engel schwieg. S. 65.
24
III Die Idee der ‚Gegenwelten‘
Es geht Böll aber nicht darum alle Art Kulissen, die es geben könnte in einem
Roman, in dem die Nachkriegszeit geschildert wird, Revue passieren zu lassen.
Böll geht es eher darum, innerhalb des Schreibprozesses und der Sprachfindung,
die sprachlichen Ausdrücke zu finden, die jemals zu verschiedenen Bewegungen
der Personen passen könnten. Folglich drückt ein ‘Bild’ einer Bewegung diese
Bewegung aus. Darum wäre ein Wort wie ‘Bild’ besser zur Böllschen
Wirklichkeitsannäherung passen als ‘Ausdruck’. Mit dem könnte man doch
besser andeuten, dass es etwas ist, was man ‘macht’, statt ‘findet’.
Bilder macht man in Romanen und einen Ausdruck könnte man doch auch in
anderen Formen der Literatur ‘suchen’ und ‘finden’.
Daß selbst in den weniger subtilen Formen der Literatur, in allem Geschriebenen, in jeder
Reportage Verwandlung stattfindet (Transposition), Zusammensetzung (Komposition), dass
ausgewählt, weggelassen, lange “Ausdruck” gesucht wird, diese Binsenwahrheit müsste
allmählich bekannt sein.81
Obwohl Böll die individuelle und kollektive Bewegung, die im Krieg stattfand,
in dem kaum jemand noch sesshaft ist, als sinnlos bewertete, hatte er keine
Schwierigkeiten sie dennoch ernsthaft zu analysieren. Es ist nämlich keineswegs
so, dass dieser Teil des Erlebten in seinem Leben, d.h. Kriegs- und
Nachkriegszeit, ihm so wenig bedeutet hat, dass es ihm besser passte, gar nicht
mehr den Krieg in seinem Werk zu erwähnen. Eine entscheidende Rolle kommt
der Kriegs- und Nachkriegszeit zu, in der jene sinnlose Bewegung vollzog, der
aber jeden ausgeliefert war, in seinem Leben und in seinem Werk. Bölls
Erlebnisse in jener Zeit könnte man nicht trennen von seiner Stellungnahme in
seinem Engagement. Die Erlebnisse prädestinieren ja auch sein ästhetisches und
gesellschaftliches Programm. Bölls Literarisierung dieser Erlebnisse bestimmt
die kommunikativen Prozessen, die sich in der Rezeption seiner Werken
vollziehen.
81
Böll, H.: Frankfurter Vorlesungen. S.48.
25
Ein kommunikativer Prozess vollzieht sich vom Entstehen eines Werkes bis zur
frühen und heutigen Rezeption eines Werkes. Der wirkt also auch durch in die
Gegenwart, obwohl der Autor Böll heutzutage schon gestorben ist.
Das Verfahren Bölls ist speziell konzentriert auf die Sprachfindung. Darum hätte
Böll, indem er, aus der Makrosicht betrachtet, das Erlebte im Krieg nur als
‘irrsinnig’82 bewerten kann, keine andere Wahl, ganz konkret das Weltliche zu
literarisieren. Er veranlässt nicht im abstrakten Bereich eine Sprachfindung,
sondern im ganz konkreten. Er wählt, damit er passendere ‘Bilder’ machen kann,
also die Mikrosicht.
Das Abstrakte ist immerhin nicht verschwunden. Böll verfährt in seinen
literarischen Werken auf eine Weise, in der er Bilder ‘macht’ in einem
Zusammenhang mit Weltlichem, aber den Zusammenhang und das gewählte
Weltliche verwaltet der Autor. Er schreibt keine ‘Reportagen’, in deren er in
haargenauer und faktentreuer Weise seinen Stoff dem Lesepublikum präsentiert.
Wonach vielleicht seine ‘Analyse’ der Geschehnisse als eine gute und logisch
formulierte Spiegelung jenes Teils der Welt oder Wirklichkeit angesehen wird,
und vielleicht als zuverlässige Registrierung der Ereignisse bewertet wird. Böll
schreibt aber literarische Werke. Er hat also nicht die Absicht Formulierungen zu
wählen, die möglichst deckungsgleich zu dem passen, was heute Geschichte ist,
aber was einmal wichtig war im Leben.
Als Autor schafft Böll eine ‘neue Welt’. In dieser ‘neuen Welt’ ist zur gleichen
Zeit ebenso die Wirklichkeit konzipiert als die Sprache. Diese ‘neue Welt’ ist ja
zusammengesetzt im Prozess der Sprachfindung. Böll beschwert sich dennoch
über die Tatsache, dass er in Bezug auf seine schöpferische Aktivität manchmal
nicht besonders ernst genommen wird:
Offenbar stellen sich Leser, sogar Kritiker manchmal vor, ein Autor hätte Wirklichkeit wie in
einer Regentonne vor dem Haus stehen, und er brauchte nur hinauszugehen um daraus zu
schöpfen.83
Böll hat Der Engel schwieg als Trümmerliteratur konzipiert.
82
83
Böll, H. /C.Linder: Drei Tage im März. Ein Gespräch. S. 43.
Böll, H.: Frankfurter Vorlesungen. S. 51.
26
Ein Musterbeispiel der Trümmerliteratur hat Böll damit aber seinem
Lesepublikum nicht angeboten. Nicht nur in einem Werk hat Böll eine
‘Trümmer’-Welt geschaffen, sondern in vielen seiner Werke. Glücklicherweise
gibt es auch nicht nur eine einzige Szene im Roman Der Engel schwieg, wie die
Szene im Bunker, mit der die Bewegung (konkret gemacht), die so typisch war
für die Nachkriegszeit, symbolisiert wird. Insofern wird nichts ‘symbolisiert’ im
Werk Bölls, weil alles, wie oberflächlich, wie klein oder kurz erwähnt eine
Bewegung, eine Sache oder eine Figur auch dargestellt ist, nennenswert ist. Die
einfachsten Sachen, wie z.B. Brot, würde Böll behaupten, gehören zum Rest.
Obwohl sie kaum erkannt werden. Es ist aber nicht so, dass diese einfachen
Sachen den Rest symbolisieren. Hauptsächlich geht es darum, das passende Bild
zu machen.
Es wäre aber durchaus möglich, dass das passende Bild letztendlich nie gefunden
wird. Mittlerweile hat gerade vielleicht im Prozess der Sprachfindung (um das
passende Bild machen zu können) eine ‘doppelte Verwandlung’ stattgefunden.
Diese Materialisierung des ‘Abstrakten’, diese doppelte Verwandlung ist aber
gefährdet.
[...] [N]ur ist die Sprache voller besonders heikler Objekte, und ihre Materialisierung, die
doppelte Verwandlung, die ihr angetan werden muss, auf eine extreme Weise durch
Vorstellungskonventionen, durch Moral, Politik, Geschichte, Religion belastet, durch
mißverstandene und mißgeleitete Ideale, wie sie so auf der Interpretationspalette bereitliegen. 84
Die Belastung von der Seite der Moral, Politik, Geschichte und Religion
gefährdet nicht nur das Gelingen einer doppelten Verwandlung, sondern sie
prägt auch die Art und Weise, wie Bölls Werk rezipiert wird. Böll führt daher
ganz ungewöhnlich seine Liebesgeschichten, die am meisten einem Idyll ähneln,
auf in einer ‘herrschaftsfreie[n] Zwischenmenschlichkeit’85. Die ist nicht nur im
Roman Der Engel schwieg thematisiert, sondern auch in seinen anderen Werken.
Die zwei Figuren, die zusammen ein Liebespärchen sind, heiβen aber jeweils
anders und sind auch anderen Umständen ausgeliefert als Hans und Regina.
Dennoch wird das Prinzip ‘Gegenwelt’ in ‘Welt’ auch in jenen Werken
konsequent durchgeführt.
84
85
Böll, H.: Über die Gegenstände der Kunst. S. 313f.
Balzer, B.: Das literarische Werk Heinrich Bölls. Einführung und Kommentare. S. 36.
27
Es lohnt sich diese fragilen Liebesbeziehungen vor der Welt drauβen zu
schützen. Böll führt sie in seinen Geschichten durch in ‘tragfähigen
Gegenwelten’86.
[…] [S]olche Liebesidylle, wie die Andreas’ und Olinas, Feinhals und Ilonas, Schneiders und
Szarkas [...] sind Versuche, tragfähige Gegenwelten zu gestalten, die etwas später mit der
Imbiβbude (Und sagte kein einziges Wort) und dem Dorf Bietenhahn (Haus ohne Hüter) über
den engen Rahmen ausschlieβlich erotischer Liebesbeziehungen hinaus ausgewertet werden zu
liebevoller, beschützender Mitmenschlichkeit.87
86
87
Balzer, B.: Heinrich Böll Ansichten eines Clowns. S. 16.
Ebd.
28
IV Literatur als Reaktion auf Wirklichkeit
Der Idee der ‘Gegenwelten’ widmete Böll längst vor der Arbeit an Der Engel
schwieg andere kürzere Prosaarbeiten. Eigentlich ist der Roman entstanden aus
mehreren Publikationen dieser kürzeren Prosaarbeit Bölls. In manchen dieser
Werke wird ‘ein Panorama der Gesellschaft’88 jener Zeit entfacht. In anderen
wiederum werden auch Böllsche ‘Gegenwelten’ vorgeführt. Eine ‘Gegenwelt’Darstellung lässt sich nämlich in einem gesellschaftlichen Panorama einfügen.
Die Szene im Roman Der Engel schwieg, in der Hans sich seine letzte Nacht mit
seiner ersten Ehefrau erinnert, die Szene mit der Uhr, ist auch eine solche
‘Gegenwelt’-Darstellung. Diese Szene ist das Erzählfragment Die Liebesnacht
und ist eins der Beispiele von herangezogenen, vorhin publizierten Fragmenten,
die im Roman Der Engel schwieg eingefügt worden sind. Einige Fragmente hat
Werner Bellmann in seinem Nachwort zu Der Engel schwieg erwähnt:
Anregungen gewinnt Böll [...] [während des Gestaltungsprozesses von Der Engel schwieg ]
durch die Heranziehung einer eigenen Prosaarbeit mit dem Titel Verlorenes Paradies, die
Anfang Mai 1949 in Angriff genommen, Ende desselben Monats jedoch aufgegeben und als
Fragment hinterlassen wurde. In dieser Heimkehrergeschichte enthaltene Reflexionen des IchErzählers über eine defekte Dachrinne, die alle Unbilden der Zeit überstanden hat, werden im
Engel Regina Unger zugewiesen (Kap. XIV); und die Erinnerung Hans Schnitzlers an das
einzige nächtliche Beisammensein mit seiner inzwischen verstorbenen Frau, also die später
unter dem Titel Die Liebesnacht publizierte Romanepisode (Kap. V), basiert auf einer der
Rückwendungen des Erzählfragments, einer wehmutigen Reminiszenz an vergangenes
Liebesglück.89
Andere Erzählfragmente die im Roman Der Engel schwieg auch aufgenommen
sind, haben folgende Titel: Skizze, Der Geschmack des Brotes, Die Postkarte,
Besichtigung und Der Engel 90.
Im Erzählfragment Die Liebesnacht (Kap. V) ist es so, dass die Uhr ‘gewinnt’
von den beiden Liebenden, weil ‘das Ticken der Uhr [...] stärker [war] als der
88
Heinrich Böll: Gruppenbild mit Dame Tonbandinterview mit Dieter Wellershoff am 11.6.1971.S. 124.
Böll, H.: Der Engel schwieg. S. 201.
90
Werner Bellmann Das literarische Schaffen Heinrich Böls in den ersten Nachkriegsjahren. Ein Überblick auf
der Grundlage des Nachlasses. In: Das Werk Heinrich Bölls. Bibliographie mit Studien zum Frühwerk. Hg. v.
Werner Bellmann. Opladen: Westdeutscher Verlag. 1995. S. 22-31. Hier: S. 27, Fuβnote 39.
89
29
Herzschlag an seiner Brust’91. Eine Gegenwelt an sich kann daher nie eine
Alternative für die ‘reale’ Welt draußen sein. Das wird auch an anderen Stellen
im Roman Der Engel schwieg deutlich. Man könnte sogar behaupten, dass in den
Räumen, in denen die Handlungen sich vollziehen, auch nie ein Idyll in großer
Aufmachung entfacht werden könnte, weil es die Welt von draußen nie zulassen
wird und immer die ‘liebevolle[], beschützende[] Mitmenschlichkeit’92
verderben wird.
Auch das gehört zu der Aufgabe, die sich ein Autor der Trümmerliteratur gestellt
hat. Nur ein Blindekuh-Schriftsteller93 würde Leser in das Idyll oder mehrere
Idylle entführen:
Die Zeitgenossen in die Idylle zu entführen würde uns allzu grausam erscheinen, das Erwachen
daraus wäre schrecklich, oder sollen wir wirklich Blindekuh miteinander spielen? 94
Das ‘Auge’ eines Schriftstellers hat ja anderes zu tun als Blindekuh zu spielen.
Dieses Auge eines Trümmerliteratur-Autors sieht nicht nur ein junges Mädchen,
sondern es kennt auch, weil es die Dinge ‘durchschauen’95 kann, seine
traumatische Geschichte. Es sieht nicht bloß ein junges Mädchen, sondern: ‘ein
junges Mädchen zu dem es auch gehört [...], dass ihre Mutter irgendwo unter
einen Trümmerhaufen begraben liegt.’96
Zur gleichen Zeit hat der Autor von Trümmerliteratur auch vor ‘ein Panorama
der Gesellschaft’97 zu zeigen. Heinrich Böll teilt aber dazu seine Protagonisten
nicht in Gruppen ein, in der Art, wie man eine Gruppe Schuldiger und eine
Gruppe Unschuldiger aufführen könnte. Die Bewegung aus der Mikrosicht, also
aus der Sicht eines Individuums, möglichst konkret, wird solcher Art literarisiert,
dass der Autor Sachen entdecken könnte, die im Stande sind das ‘Ticken der
91
Böll, H.: Der Engel schwieg. S. 65.
Balzer, B.: Heinrich Böll Ansichten eines Clowns. S. 16.
93
Vgl. Böll, H.: Bekenntnis zur Trümmerliteratur. S. 31.
94
Böll, H.: Bekenntnis zur Trümmerliteratur. S. 31.
95
Böll, H.: Bekenntnis zur Trümmerliteratur. S. 34. Der Satz lautet: ‘Wer Augen hat, zu sehen, für den werden
die Dinge durchsichtig – und es müßte ihm möglich werden, sie zu durchschauen, und man kann versuchen, sie
mittels der Sprache zu durchschauen, in sie hineinzuschauen.’
96
Böll, H.: Bekenntnis zur Trümmerliteratur. S. 33.
97
Heinrich Böll: Gruppenbild mit Dame Tonbandinterview mit Dieter Wellershoff am 11.6.1971.S. 124.
92
30
Uhr’98 zu überstehen. Aus jener Sicht wäre es möglich den passenden Ausdruck
für einen Wirklichkeitsfetzen zu finden, der auch zukünftiges Potential haben
könnte. Er hätte zukünftiges Potential, wenn der Autor sich weiterhin mit ihm
auseinandersetzen könnte.
In verschiedenen Ausgrenzungszonen der Gesellschaft, aus denen der ‘Abfall’
herkommt, findet der Autor Böll die wertvollen humanen Sachen.
Das einzige, das gegenwärtig zu bleiben versucht, einen Fetzen Dauer zu schnappen, ist die
Kunst, die aus der Asche, aus der Handvoll Staub oder Dreck etwas macht. 99
Ein anderer Aspekt dieser Verewigung, ist die vermeinte Ungegenwärtigkeit der
Erinnerung des Autors. Der Autor bevorzügt es, seine Erinnerungen an einem
Ort wiederzufinden, der nicht der Ort ist, an dem das Erlebte stattgefunden hat.
Dadurch, dass der Autor weglässt in seinem ‘Panorama der Gesellschaft’100 und
nicht alles vorort ‘materialisiert’, vergrößert er die Intensität der Erinnerung.
[Bestimmte] Heimat-Assoziationen sind unauslöschlich wie unzählige andere; ich brauchte
nicht am Ort zu wohnen, um sie wiederzufinden; im Gegenteil: mit dem Quadrat der
Entfernung wächst ihre Intensität; bei gegenseitiger Annäherung ergibt sich die peinliche
Differenz zwischen Erinnerung und Sentimentalität; nah besehen, wird das alles schal und
peinlich; man stelle sich vor, ein Maler würde Apfel und Birne aufheben, konservieren, die
ihm einmal Modell zu einem Stilleben gewesen ist.101
In einer ‘Trümmer’-Welt ist die Stadt, in der Hans auch früher gelebt hat,
sowieso nicht mehr die, die sie einmal war. Sie ist im Krieg zerstört worden. Die
Stadt, in der Böll gelebt hatte, Köln, wurde auch im Krieg zerstört. Eine
Reminiszenz an glückliche Erlebnisse, einst erlebt in Köln vor dem Krieg, hat
Böll kaum in seinen literarischen Werken zum Ausdruck gebracht.
Der Böllsche Begriff von ‘Heimat’ ist ständig verbunden mit Begriffen wie ‘Ort’
und ‘Nachbarschaft’. Bölls Heimat ist das Rheinland. Er hält sich dennoch fern
98
Böll, H.: Der Engel schwieg. S. 65.
Böll, H.: Über die Gegenstände der Kunst. Ansprache zur Preisverleihung des Literaturpreises der Stadt Köln
an Jürgen Becker am 26.10.1968 im Gürzenich. 1968. S. 315.
100
Heinrich Böll: Gruppenbild mit Dame Tonbandinterview mit Dieter Wellershoff am 11.6.1971.S. 124.
101
Heinrich Böll Heimat und keine. In: ders. Heimat und keine. Schriften und Reden 1964-1968. München:
Deutscher Taschenbuch Verlag. 1985. S. 109-112. Hier: 108.
99
31
vom allzu sentimentalen Verhältnis zu diesem Land. ‘Ich habe das rheinische
Wesen, die Rheinlande nie als so warm empfunden.’102
Das bedeutet nicht, dass er ‘Weltbürger’ wäre und er nur vorübergehend das
Rheinland als Heimat empfunden hat in seinem Leben. Eine gewisse Distanz zu
betrachten seiner eigenen Heimat, seinem Ort und seiner Nachbarschaft
gegenüber, wäre aber total ‘kalt’. Das möchte er auch nicht. Weil er nun mal die
‘Wärme’ oder die ‘Kälte’ spürt in seinem Leben, kann er nicht anders als
aussagen:
‘Wie ich Spott über Heimat für dumm halte, so halte ich es für provinzlerisch,
Provinzialismus zu verachten.’103
Die ‘Stunde-Null’-Täuschung der Nachkriegsgeneration, die nur wiederaufbauen
und in die Zukunft schauen wollte, ist auch etwas, mit dem sich Böll
auseinandersetzt. Die Attitude, in der die Kriegsvergangenheit verdrängt werden
muss, weil sonst nichts richtig aufzubauen ist, hat Heinrich Böll als Mensch, und
als Autor immer abgelehnt. Sogar seinen Protagonisten verweigert er diese
Attitude:
Er [= Heinrich Böll] hat seinen Figuren strikt die Selbsttäuschung einer “Stunde Null”
verweigert. Bis in seinen letzten Roman der achtziger Jahre hinein, “Frauen von
Flußlandschaft”, sind die Protagonisten der älteren Generation geprägt von den Traumata der
Kriegszeit, andere haben ihr Leben dem Zwang unterworfen, ihre Beteiligung an Vergehen
oder Untaten zu vertuschen, wegzudrücken, sich selbst vergessen zu machen. Wenn irgendwo
in der westdeutschen Literatur der Nachkriegszeit, dann finden sich bei Heinrich Böll alle
Stadien dieses oft lautlosen, unsichtbaren Korrosionsprozess aufgezeichnet, die Haarrisse in
den Ehen, die Sprachunmächtigkeit zwischen Eltern und Kindern, zwischen Liebenden,
zwischen Freunden, Kollegen – Risse, die sich im Lauf von Jahren, Jahrzehnten verbreitern,
aufklaffen, zu Abgründen zwischen Menschen werden, zu Unglück und Zusammenbruch
führen bei äußerlich steil aufsteigenden Karrieren. 104
Umsomehr ein Grund um sich als Autor weiterhin mit Sprachfindung zu
beschäftigen, denn Böll hat selber schon angedeutet, von der Voraussetzung
102
Böll, H.: Frankfurter Vorlesungen. S. 53.
Ebd.
104
Christa Wolf „Mitleidend bleibt das ewige Herz doch fest“ zum 80. Geburtstag von Heinrich Böll. In: Christa
Wolf Essays/Gespräche/Reden/Briefe 1987-2000. Werke Band 12. München: Luchterhand. 2001. S. 613-631.
Hier: S. 624.
103
32
auszugehen, ‘[...] daß Sprache, Liebe, Gebundenheit den Menschen zum
Menschen machen, daß sie den Menschen zu sich selbst, zu anderen [...] in
Beziehung setzen.’105
Der Kaplan, der in Der Engel schwieg die Ehe zwischen Hans und Regina
schliesst, weiss auch nicht was in die Leute gefahren ist, denen es während des
Krieges immer besser gegangen ist. Der Kaplan weiss nicht warum bei der
Opferung, die am morgen stattgefunden hat, zwei Päcken abgegeben worden
sind, deren Inhalt aus Produkte besteht, von denen in der ‘Trümmer’-Welt nur
wenig zu bekommen sind. Der Kaplan will auch nichts mehr dazusagen, als dass
er vermutet, dass die Schenker entweder Sünder wären oder Heilige. Er weiss es
auch wirklich nicht, und sagt Hans:
“Nehmen Sie es, so wie es ist, und denken Sie: es ist nicht von mir, nicht mir haben Sie zu
danken...”106
Hans hat, weil er Hunger hat, den Kaplan um etwas zu essen gebeten. Hans will
aber wissen von wem die zwei Päcken, die er bekommt, sind:
“Wem denn?”
“Danken Sie Got – unbekannten Menschen – der – er-” sein Gesicht rötete sich ein wenig vor
Verlegenheit – “der lebendigen Kirche, kann man wohl sagen” – seine Augen wurden schmal
vor Erregung, “Sündern vielleicht, veilleicht Heilige – ich weiß nicht [...]”107
Hans bekommt dann einen runzeligen kleinen Apfel, eine dicke Scheibe Brot,
Marmelade, eine in Seidenpapier gewickelte Zigarette, ein Paar Militärsokken,
ein viereckiges Kopftuch und einen Geldschein.
Vom Kaplan muss er Wein trinken, weil seine plötzliche Schwäche ihn sonst
völlig lähmen würde. Obwohl Hans Hunger und Durst hat, ist ihm der Gedanke,
der Wein wäre vielleicht Messwein, unangenehm. Der Kaplan beruhigt ihn
darauf aber.
105
Böll, H.: Frankfurter Vorlesungen. S. 12.
Böll, H.: Der Engel schwieg. S. 130.
107
Ebd.
106
33
“Keine Angst”, sagte dieser lächelnd, “keine Angst, es ist Wein – nur Wein – möchten Sie
noch etwas-?”108
Fast hätte sich in dieser Szene wiederholt, was Hans zugestoßen war, als er
Fahnenflucht begangen hat. Als er Fahnenflucht beging, hat jemand anders sein
Leben, also sein Blut, gegeben für ihn. Willi Gompertz machte das und starb an
seiner Stelle im Krieg. Hans wusste damals, dass das Land, in dem er lebte,
unbewohnbar109 war. Er wollte aber trotzdem nicht sein Leben aufgeben. Als der
Kaplan allerdings ihm Wein zu trinken gab, hielt er den Wein kurz für
Messwein. Weil er Durst hatte, hat er aber schon davon getrunken. Hans hat
Angst, dass hier schon wieder Blut fliessen musste um ihn zu retten. Der Wein
muss man dann natürlich als Blut von Christus betrachten. Es stellt sich dann in
diesem Fall glücklicherweise heraus, dass der Wein kein Messwein war. Der
Gedanke, es hätte Messwein sein können, ist in dieser Szene immerhin
literarisiert und ‘wirklich’ geworden. Darum wäre die Sprache auch ein besserer
Ort um eine solche Wirklichkeit zu entfalten. Das würde einer Gegenwelt besser
passen als einer ‘echten’ Welt. Und mittels Sprachfindung sollte man eine
geeignete Welt und einen passenden Ausdruck finden können. In dieser ‘neuen’
Welt bleibt aber die ‘echte’ Welt anwesend. Diese ‘Gegenwelt’ ‘reagiert’ auf die
‘echte’ Welt, so wie Texte eine Welt konstituieren.
Die Wirklichkeit der Texte ist immer erst eine von ihnen konstituierte und damit Reaktion auf
Wirklichkeit.110
Die Einwirkung von der ‘echten’ Welt wird aus der Perspektive Reginas im
Roman Der Engel schwieg aber anders konzipiert. Ihr sechs Wochen altes Kind
wurde, obwohl sie die Läden geschlossen hatte, von einer Kugel getötet als die
Amerikaner einrückten.
“Es starb”, sagte sie, “als die Amerikaner einrückten, vor drei Tagen; das süß Licht dieser
Welt erlosch für seine Augen in dem Augenblick, als mir eine deutsche Maschinenpistole die
Fensterscheiben einschoβ”- sie zeigte auf die Fenster und er sah, dass sich hinter den zäckigen
Rändern der Einschuβstelle die grüne abgebrockelte Farbe der Läden zeigte; ihr Finger ging
108
Böll, H.: Der Engel schwieg. S. 131.
Vgl. zum Thema ‘bewohnbar’ Böll, H.: Frankfurter Vorlesungen. S. 45.
110
Iser, W.: Die Appellstruktur der Texte Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa. S. 11.
109
34
weiter – “die Geschosse zischten oben an der Stuckdecke vorbei und der feine Gipsstaub
bröselte wie Puderzucker auf uns herunter...”111
Hans hat während des Krieges seine erste Frau verloren. Regina fragt ihn, ob er
sie lebend hätte wiedersehen wollen.
“Möchtest du, dass sie noch lebt?”
Er sah sie erst erstaunt an; er hatte noch nie daran gedacht, aber er sagte sofort: “Nein, ich
möchte es nicht ... ich gönne es ihr...”112
Hans und Regina möchten, dass die Läden der Wohnung geschlossen bleiben.
Man kann sich nämlich über die Aussicht aus dem Fenster eh nicht freuen.
Fern, hinter den Schrebergärten, über den Bahndamm hinausragend, sah er die verkohlten
Ruinen der Stadt, eine zerrissene finstere Silhouette – er spürte einen tiefen, bohrenden
Schmerz und schloβ das Fenster wieder. Drinnen war es nun wieder dämmerig und ruhig, das
Vogelgezwitscher war ausgesperrt, und er begriff jetzt, dass sie das Fenster nicht hatte öffnen
wollen.113
Dem Leser muss es zunächst fremd erscheinen, dass man in dieser Wohnung,
obwohl es drauβen hell ist, und die Sonne warm und kräftig114 scheint, die Läden
und Fenster zuhält. Die Geschichte mit dem getöteten Baby und die Aussicht
einer zerbombten Stadt machen es aber verständlicher, dass in dieser vom Autor
geschaffenen ‘neuen’ Welt, die Läden und Fenster am liebsten nicht geöffnet
werden. Die Beschaffenheit der neuen Welt harmonisiert hier nicht mit der Welt,
die dem Leser bekannt ist. Dies entspricht auch der Literarisierung von
Wirklichkeit, in der Art, wie Wolfgang Iser sie erforscht. Fiktion ist für ihn
immerhin nie eine bloβe Wiedergabe einer Wirklichkeit, sondern ein Auslöser
zur Kommunikation zwischen Text (produziert vom Autor) und Leser.
Im Verzicht auf eine [...] Harmonisierung [wird deutlich im Kommunikationsverhältnis
zwischen Text und Leser] , dass das Bekannte nicht in seinem Bekanntsein interessiert,
111
Böll, H.: Der Engel schwieg. S. 58.
Ebd., S. 68.
113
Ebd. S. 68f.
114
Ebd. S. 68.
112
35
sondern dass mit dem Bekannten etwas gemeint werden soll, das seiner noch ungekannten
Verwendung entspringt.115
Böll beschreibt auch auf die Böllschen Weise bestimmte Gesichter von Figuren
aus der Sicht der Hans-Figur. Hans erkennt zum Beispiel das Gesicht des
Straßenbahnschaffners wieder:
[Der Schaffner ist derselbe] Mann [...], der ihm dreitausend Kilometer westlich vor sieben
Jahren einen Umsteigefahrschein verkauft hatte: ein schmales leidendes Gesicht, das damals
sehr frisch und optimistisch gewesen war... 116
Die Zeit hat in dem Gesicht des Schaffners ihre Spuren hinterlassen.
Hans macht an dieser Stelle seine zweite Reise um Elisabeth Gompertz zu
besuchen. Diesmal hat er einen Brotschein, den er gegen Brot tauschen möchte,
mitgenommen. Dieser Austausch geschieht aber nicht, weil er Elisabeth nicht
mehr trifft. Dr. Fischer hat die Tür für ihn geöffnet, und will ihn nicht
hereinlassen. Dr. Fischer hat kein Verständnis dafür, dass es Menschen gibt,
denen man wirklich hätte helfen können, indem man sie etwas zum Essen
einfach schenken würde. Dass Hans auch noch einen richtigen Schein hat, den er
gegen Brot austauschen kann, ist Dr. Fischer völlig egal.
Durch die Augen von Hans bekommt der Leser nur mit, was die Finger von Dr.
Fischer machen:
[...] und die Finger zerrissen den Zettel, sie zerrissen ihn nicht mit einem einzigen, kurzen
Ratsch, viermal, fünfmal kreuzten sie sich reißend, immer wieder, mit Freude – man sah es - ,
es fiel vor die Tür wie Konfetti, weißlich, verstreut wie Brotkrümmel.117
Mit einer anderen Hinweisung macht der Autor auch deutlich, daβ die Figur von
Dr. Fischer nicht im moralischen Bereich taugt. Böll fügt nämlich auch eine
Beschreibung des Gesichtes des Mannes ein:
Aber dies breite blasse Männergesicht mit dem nervös geöffneten Mund hatte sich nicht
verändert, weder Krieg noch Zerstörung hatten es angreifen können. 118
115
Iser, W.: Die Wirklichkeit der Fiktion – Elemente eines funktionsgeschichtlichen Textmodells. S. 300.
Böll, H.: Der Engel schwieg. S. 93.
117
Böll, H.: Der Engel schwieg. S. 94.
116
36
Hans kann nämlich schon wissen ob sich dieses Gesicht geändert hat, weil er Dr.
Fischer noch von früher kannte. Dr. Fischer erkennt aber Hans nicht wieder.
Der Autor betont am Anfang die Miene des Engels: ‘das steinerne Antlitz eines
Engels milde und schmerzlich lächelnd’119 und zuletzt denselben Engel am Ende
des Romans dessen Lächeln nochmals oder noch immer ‘ein schmerzliches
Lächeln’120ist.
Das Lächeln ist aber der einzige ‘menschliche’ Aspekt des Engels. Weiterhin hat
die Statue das ‘allzu wallende Haar’121 und ‘starre Auge’122 , die an Hans
vorbeiblicken.
Zerquälte Gesichter der menschlichen Figuren, wie zum Beispiel das des
Schaffners, wecken aber eine Vergangenheit zum Leben, im Gegensatz zu dem
Gesicht des Engels. Böll stellt seine schriftstellerische Tätigkeit wie folgt dar:
In der Asche der Vergangenheit schmecken wir die Asche der Zukunft, und aus beiden
versuchen wir Gegenwart zu machen und Leben zu erwecken.123
So könnte man eine Verbindung zustande bringen zwischen dem
‘Wahrnehmbare[n], täglich Erlebte[n], [das] [...] offenbar nicht so leicht in
Sprache zu fassen’124 ist, und der Wiedergabe dessen, was das schriftstellerische
Auge gesehen hat, als komponierte Textgestalt, die [...] unserer Lebenspraxis
[schon] immer [...] voraus’125 ist. Und so könnte die doppelte Verwandlung
gelingen.
Was aber zunächst passiert, wenn man in der ‘vielvielvielmilliardenfache
Bewegung’126 stillsteht, könnte folgendes sein:
‘Hans stockte, als er die große Vorhalle erreichte, die voll Licht war: links stand
der lächelnde Engel, der ihn damals in der Nacht begrüßt hatte. Hans blieb
118
Böll Der Engel schwieg. S. 93.
Ebd. S. 5f.
120
Ebd. S. 185.
121
Ebd. S. 6.
122
Ebd. S. 185.
123
Böll, H.: Über die Gegenstände der Kunst. Ansprache zur Preisverleihung des Literaturpreises der Stadt Köln
an Jürgen Becker am 26.10.1968 im Gürzenich. S. 316.
124
Böll, H.: Frankfurter Vorlesungen. S. 52.
125
Iser, W.: Die Appellstruktur der Texte Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa. S.35.
126
Böll, H. & C. Linder Drei Tage im März. Ein Gespräch. S. 43.
119
37
stehen: aber die starren Augen blickten an ihm vorbei, und die vergoldete Lilie
rührte sich nicht, nur das Lächeln schien an ihn gewandt, und er lächelte leise
zurück; jetzt erst, wo die Figur im vollen Licht stand sah er, dass das Lächeln des
Engels ein schmerzliches Lächeln war.’127
127
Böll, H.: Der Engel schwieg. S. 185.
38
Schluss
‘Ein gutes Auge gehört zum Handwerkszeug des Schriftstellers‘ schreibt
Heinrich Böll in seinem Aufsatz Bekenntnis zur Trümmerliteratur (1952).
Dieses Auge benützt Böll, wenn er mit seinem Wirklichkeitsmaterial in seinem
Werk schriftstellerisch umgeht. Mit diesem Auge macht er das Erlebte sichtbar.
Er macht daraus ein Bild. Obwohl der Roman Der Engel schwieg als
Beschreibung der Nachkriegszeit in Deutschland zu lesen ist, hat Böll auf seiner
partikularen Böllschen Weise seine Erlebnisse aus jener Zeit in diesem Roman
verarbeitet. Das geht weiter als nur zeitdokumentarisch zu verfahren. Mittels
seines Augens, gelingt ihm die doppelte Verwandlung.
39
Literatur
Balzer, Bernd: Humanität als ästhetisches Prinzip – Die Romane Heinrich Bölls.
In: Heinrich Böll Eine Einführung in das Gesamtwerk in Einzelinterpretationen.
Hg. v. Hanno Beth. 2. überarb. und erw. Aufl. Königstein/Ts.: Scriptor. 1980. S.
41- 67.
Balzer, Bernd: Heinrich Böll Ansichten eines Clowns. Frankfurt am Main:
Moritz Diensterweg (in der Reihe ‘Grundlagen und Gedanken zum Verständnis
erzählender Literatur’). 1988.
Balzer, Bernd: Das literarische Werk Heinrich Bölls. Einführung und
Kommentare. München: Deutscher Tachenbuch Verlag. 1997.
Bellmann, Werner: Das literarische Schaffen Heinrich Böls in den ersten
Nachkriegsjahren. Ein Überblick auf der Grundlage des Nachlasses. In: Das
Werk Heinrich Bölls. Bibliographie mit Studien zum Frühwerk. Hg. v. Werner
Bellmann. Opladen: Westdeutscher Verlag. 1995. S. 22-31.
Böll, Heinrich: Bekenntnis zur Trümmerliteratur 1952. In: Essayistische
Schriften und Reden I 1952-1963. Hg. v. Bernd Balzer. Köln: Kiepenheuer &
Witsch. 1977. S. 31-35.
Böll, Heinrich: Der Zeitgenosse und die Wirklichkeit 1953. In: Essayistische
Schriften und Reden I 1952-1963. Hg. v. Bernd Balzer. Köln: Kiepenheuer &
Witsch. 1977. S. 71-75.
Böll, Heinrich: Werkstattgespräch mit Horst Bienek 1961. In: Interviews I 19611978. Hg. v. Bernd Balzer. Köln: Kiepenheuer & Witsch. 1978. S. 120-134.
Böll, Heinrich: Ansichten eines Clowns 1963. In: Romane und Erzählungen
1961-1970. Hg. v. Bernd Balzer. Köln: Kiepenheuer & Witsch. 1977. S. 67-266.
40
Böll, Heinrich: Über die Gegenstände der Kunst. Ansprache zur Preisverleihung
des Literaturpreises der Stadt Köln an Jürgen Becker am 26.10.1968 im
Gürzenich. 1968. In: ders. Heimat und keine. Schriften und Reden 1964-1968.
München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1985, S. 313-317.
Böll, Heinrich: Gruppenbild mit Dame. Tonbandinterview mit Dieter
Wellershoff am 11.6.1971, 1971. In: Interviews I 1961-1978. Hg. v. Bernd
Balzer. Köln: Kiepenheuer & Witsch. 1978. S. 120-134.
Böll, Heinrich: Frankfurter Vorlesungen. 4. Auflage. München: Deutscher
Taschenbuch Verlag. 1977.
Böll, Heinrich: Heimat und keine. In: ders. Heimat und keine. Schriften und
Reden 1964-1968. München: Deutscher Taschenbuch Verlag. 1985. S. 109-112.
Böll, Heinrich: Der Engel schwieg. 3. Auflage. München: Deutscher
Taschenbuch Verlag. 2001.
Böll, Heinrich u. Christian Linder: Drei Tage im März. Ein Gespräch. Köln:
Kiepenheuer & Witsch. 1975.
Iser, Wolfgang: Die Appellstruktur der Texte Unbestimmtheit als
Wirkungsbedingung literarischer Prosa. Konstanz: Universitätsverlag. 1970.
Iser, Wolfgang: Die Wirklichkeit der Fiktion – Elemente eines
funktionsgeschichtlichen Textmodells. In: Rezeptionsästhetik Theorie und
Praxis. Hg. v. Rainer Warning. München: Wilhelm Fink. 1975. S. 277-324.
Iser, Wolfgang: Im Lichte der Kritik. In: Rezeptionsästhetik Theorie und Praxis.
Hg. v. Rainer Warning. München: Wilhelm Fink. 1975. S. 325-342.
41
Kieser-Reinke, Angelika: Techniken der Leserlenkung bei Hans Fallada Ein
Beitrag zur Rezeptionsforschung mit einer empirischen Untersuchung des
Romans ‘Jeder stirbt für sich allein’(1946). Bern/Fr. a. M./Las Vegas: Peter
Lang (Reihe I Deutsche Sprache und Literatur Band/Vol. 318). 1979.
Kothy, Gerhard u. Gisela Kothy, Egbert Schmidt u. Regine Schulz: Heinrich
Böll – Eine biographische Skizze. In: Heinrich Böll. Eine Einführung in das
Gesamtwerk in Einzelinterpretationen. Hg. v. Hanno Beth. 2. überarb. und erw.
Aufl. Königstein/Ts.: Scriptor Verlag. 1980. S. 1-39.
Vogt, Jochen: Das falsche Gewicht. Oder: Vom armen Heinrich Böll, der unter
die Literaturpädagogen gefallen ist. In: Heinrich Böll. Eine Einführung in das
Gesamtwerk in Einzelinterpretationen. Hg. v. Hanno Beth. 2. überarb. und erw.
Aufl. Königstein/Ts.: Scriptor Verlag. 1980. S. 129-148.
Wolf, Christa: „Mitleidend bleibt das ewige Herz doch fest“ zum 80. Geburtstag
von Heinrich Böll. In: Christa Wolf Essays/Gespräche/Reden/Briefe 1987-2000.
Werke Band 12. München: Luchterhand. 2001. S. 613-631.
42