Sexualisierte Gewalt im behinderten Alltag

Transcription

Sexualisierte Gewalt im behinderten Alltag
Sexualisierte Gewalt im behinderten
Alltag
Jungen und Männer mit Behinderung
als Opfer und Täter
Forschungsbericht
Aiha Zemp
Erika Pircher
Heinz Schoibl
unter Mitarbeit von
Elfriede Ch. Neubauer
Netzwerk für Sozialforschung
www.genderlink.com
August 1997
(Im Auftrag des Büros der Frauenministerin und finanziert aus den
Mitteln des Bundeskanzleramtes/Wien)
2
“Das ‘Recht’ auf das Leben, auf den Körper, auf
die Gesundheit, auf das Glück, auf die Befriedigung der Bedürfnisse, das ‘Recht’ auf die Wiedergewinnung alles dessen, was man ist oder sein
kann - jenseits aller Unterdrückungen und ‘Entfremdungen’, dieses für das klassische Rechtssystem so unverständliche ‘Recht’ war die politische
Antwort auf all die neuen Machtprozeduren, die
ihrerseits auch nicht mehr auf dem traditionellen
Recht der Souveränität beruhen“1.
1
Foucault 1983, 173
3
Vorwort
Männer als Opfer von sexueller Gewalt ist ein Tabu, das erst in den letzten Jahren
am Aufbrechen ist. Daß es auch männliche Opfer mit Behinderung gibt, erstaunt aufgrund ihrer vermehrten Abhängigkeit von Hilfe und Begleitung nicht mehr, seit das
doppelte Tabu gebrochen ist, daß Menschen mit Behinderung in weit größerem
Ausmaß sexuell ausgebeutet werden als Menschen ohne Behinderung.
Anders aber ist es bei dem Phänomen, daß Männer mit Behinderung Täter von sexuellen Ausbeutungshandlungen sind. Das ist ein - von Professionellen zwar beobachtetes - Tabu, das allerdings bisher noch nie untersucht wurde, weil es einerseits
bis zur Studie „Weil das alles weh tut mit Gewalt. Sexuelle Ausbeutung von Mädchen
und Frauen mit Behinderung“ (Zemp/Pircher 1996) keinem Forschungsteam gelungen war, in Institutionen der Behindertenhilfe zu diesem Thema zu forschen, andererseits aber Männer mit Behinderung aufgrund von Vorurteilen oftmals vorschnell
als ‘schuldunfähig’ erklärt werden. Relativierend müssen wir hier aber anmerken, daß
es sich bei dieser Tätergruppe gemäß den Ergebnissen der ‘Frauenstudie’ lediglich
um die drittgrößte Tätergruppe handelt, die zu 13% verantwortlich für die sexuelle
Ausbeutung von Frauen mit Behinderung sind.
Beide Fragen, diejenige der Glaubwürdigkeit und diejenige der Schuldfähigkeit von
Menschen mit Behinderung müssen auf der Grundlage der vorliegenden Studie
grundsätzlich enttabuisiert werden, damit den von sexueller Gewalt Verletzten adäquat geholfen und dementsprechend präventiv gearbeitet werden kann.
Die vorliegende Studie ist einer der bis jetzt wichtigsten Meilensteine in der Thematik
der sexualisierten Gewalt im behinderten Alltag, weil sie deutlich aufzeigt, daß der
Alltag von Menschen mit Behinderung in einem erschütternden Ausmaß von dieser
Art der Gewalt geprägt ist.
Wir waren sehr berührt, daß uns von sexueller Ausbeutung betroffene Männer eintreten ließen in ihr Schweigen und uns ihre Not, wenn auch weitgehend wortkarg und
mit wenig Emotionen, offenbarten. Wir waren erstaunt und erschüttert über die
Selbstverständlichkeit, mit der uns die Männer mit Behinderung ihre sexuellen Gewalttaten schilderten.
Wir danken deshalb zuerst den Männern mit Behinderung, die zu einem Gespräch
mit uns bereit waren. Wir sind großem Vertrauen begegnet und haben viel Belastendes mitgenommen.
Die vorliegende Studie geht u.a. auf die Hilflosigkeit der Einrichtungen zurück. Diese
hatten mit dem zentralen Ergebnis der ‘Frauenstudie’ umzugehen, wonach männliche Mitbewohner in Einrichtungen als Täter von sexueller Ausbeutung von Mädchen
und Frauen mit Behinderung an dritter Stelle stehen. Daß sie uns in ihren Einrichtungen wiederum Befragungen machen ließen, ist für uns trotzdem nicht selbstverständlich, zeigt uns aber auch, daß ihnen viel an der Verbesserung der momentanen Situation liegt.
4
Wir bedanken uns bei allen ExpertInnen, die uns einerseits Einblick gaben in ihren
Berufsalltag mit Menschen mit Behinderung und die uns andererseits aufgrund ihrer
Erfahrungen auf straf- und verfahrensrechtliche Mängel sowie Lücken in Gesetzen
hingewiesen haben.
Wir danken E.Christine Neubauer, Günther Fisslthaler und Eugene Sensenig für ihr
Engagement als InterviewerInnen, Andreas Paschon für seine umsichtige Hilfestellung bei der EDV-Auswertung und allen unseren FreundInnen, die in unserer intensiven Zeit des Endberichts um unser leibliches Wohl besorgt waren.
Salzburg, 22. August 1997
Aiha Zemp, Erika Pircher & Heinz Schoibl
5
Inhalt
Vorwort
A.
1.
2.
2.1
2.2
2.3
2.4
3.
3.1
3.2
3.3
3.4
3.5
3.6
3.7
4.
4.1
4.2
4.3
5.
5.1
5.2
6.
Theoretische Einführung
Historischer Abriß
Begriffsklärung
Zum Begriff Behinderung
Zum Begriff der sexuellen Ausbeutung
Zum Begriff Opfer
Definition von sexueller Ausbeutung von Menschen
mit Behinderung
Forschungssituation
Jungen und Männer mit Behinderung als Opfer von
sexueller Ausbeutung
Folgen von sexueller Ausbeutung
Jungen und Männer mit Behinderung als Opfer
Täter von sexueller Ausbeutung ohne Behinderung
Jugendliche als Sexualstraftäter
Täterinnen von sexueller Ausbeutung ohne
Behinderung
Täterinnen von sexueller Gewalt mit Behinderung
Umgang mit Sexualstraftätern ohne Behinderung
Hegemoniale Männlichkeit - legitime Gewalt und
sexuelle Gewalt
“Normal Crimes”
Sexuelle Gewalt - eine Sache der Auslegung?
Behandlung von Sexualstraftätern ohne Behinderung
Behandlungsziele
Behandlungssetting
Sexualstraftäter mit intellektueller Beeinträchtigung
im Strafrechtssystem
9
9
11
12
13
13
13
15
15
16
19
19
22
23
23
24
24
25
25
26
29
32
34
B.
Untersuchungsleitende Thesen
36
C.
1.
1.1
1.2
1.3
1.4
1.5
Methodische Anmerkungen
Forschungsinstrumentarium
Literaturrecherche
Fragebogenerhebung
Auswertung der Ergebnisse
Selbstevaluation
ExpertInnengespräche
40
40
40
40
48
48
49
D.
Die Stichprobe
50
6
E.
1.
2.
3.
3.1
3.2
4.
5.
5.1
5.2
6.
F.
1.
1.1
1.2
1.3
1.4
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
G.
1.
1.1
1.2
1.3
1.4
1.5
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
Institutionelle Rahmenbedingungen und
Grundzüge struktureller Gewalt
Bedarf an Hilfe
Vorsorgen zur Auswahl der Hilfeperson
Wohnstandards
Gestaltungsmöglichkeiten
Zufriedenheit mit der Wohnform
Institutionelle Vorsorgen für die Auseinandersetzung
mit Sexualität
Aufklärung
Zum Aufklärungsstand
Wunsch nach mehr Wissen über Sexualität
Sexuelle Identität
62
64
65
67
69
“Männer mit Behinderung als Opfer ist kein Thema” Die Sicht der Opfer
Betroffenheit von sexueller Ausbeutung
Sexuelle Belästigung
Sexuelle Gewalt
Sexuelle Ausbeutung und Alter
Täter und Täterinnen aus Sicht der Opfer
Gewaltorte
Folgen für die betroffenen Männer
Beschwerden und Medikamente
Umgang der Männer mit Gewalterfahrung
Folgen für die TäterInnen aus Sicht der Betroffenen
Maßnahmen gegen die TäterInnnen
Brauchen die Männer Hilfe?
72
72
73
73
76
76
80
82
85
86
88
88
91
‘Gemma’ hab I’ g’sagt, und dann samma gangen’
Männer mit Behinderung als Täter
Ausmaß von sexueller Ausbeutung
Sexuelle Belästigung durch Männer mit Behinderung
Sexuelle Gewalt durch Männer mit Behinderung
Sexuelle Ausbeutung durch Männer mit Behinderung
Häufigkeit von sexueller Ausbeutung
Täterschaft und Alter
Umfeld der sexuellen Ausbeutung
Opfer der Täter
Sind Täter auch Opfer?
Täterschaft und institutionelle Rahmenbedingungen
Spektrum von Tathintergründen
Grund für die Taten
Die Täter und ihr Umgang mit den Opfern
Haben sich die Täter wem anvertraut?
Bedarf nach Hilfe
Die Folgen von sexueller Ausbeutung bei den Tätern
Dunkelfelddaten
93
93
93
94
95
96
96
97
98
101
102
103
107
108
109
109
109
113
53
53
54
56
60
62
7
H.
1.
2.
3.
4.
Problembewußtsein und -bearbeitungsansätze in den
Einrichtungen
Wissen um sexuelle Ausbeutung und sexualisierte Gewalt
Wissen, was tun
Umgang mit Sexualität
Strukturelle Maßnahmen zur Prävention
115
115
116
118
119
I.
Schlußfolgerungen
123
J.
6.2
7.
Gesetzgebung und Gerichtspraxis für Menschen
mit Behinderung
Gesetzesebene
Verfahrensebene
Maßnahmen
Notwendiger Paradigmenwechsel
Integration
Strukturentwicklung
Aus- und Weiterbildung
Frauen und Männer mit Behinderung als Opfer
Männer mit Behinderung als Täter
Andere Zielgruppen für Aus- und Weiterbildung
Strukturen in den Einrichtungen
Gesetzesbestimmungen und Gerichtspraxis
Gesetzlicher Schutz von Betroffenen und
Überlebenden
Behandlung von Tätern mit Behinderung
Forschungsbedarf
L.
Literatur
1.
2.
K.
1.
2.
3.
4.
4.1
4.2
4.3
5.
6.
6.1
Anhang
127
127
130
130
130
131
132
132
132
133
133
136
136
136
137
139
139
143
Tabellenanhang
Rechtsvergleich Österreich, Deutschland, Schweiz
Fragebogen für Männer mit Behinderung
BetreuerInnenfragebogen
8
A.
Theoretische Einführung
Sexuelle Ausbeutung von Mädchen ist kein Tabu mehr, weil betroffene Frauen und
parteiliche Beratungsstellen in den letzten fünfzehn Jahren dieses Problem immer
wieder zum öffentlichen Thema gemacht haben. Erst damit wurde die Problematik
der sexuellen Gewalt grundsätzlich diskutierbar. Das trifft mit zeitlicher Verzögerung
auch für die sexuelle Gewalt gegen Jungen zu.
1.
Historischer Abriß
Obwohl es sexuelle Gewalt gegen Jungen genauso wie gegen Mädchen seit Jahrtausenden gibt, wurde sie erst Anfang der neunziger Jahre thematisiert. Zur Begründung der Liberalisierungsversuche von Beischlaf mit Minderjährigen auf Gesetzesebene berufen sich die Pädosexuellen immer wieder auf die „griechische Knabenliebe“. Diese wird von ihnen insofern verzerrt dargestellt, als sie sie als gleichberechtigt
und sowohl für Erwachsene als auch für die Jungen als lustvoll bezeichnen. In der
Antike konnte man sich Jungen mieten oder Sklavenjungen halten, um sie sexuell
auszubeuten. Damit verleugnen sie die altersbedingte körperliche und geistige Unterlegenheit der Jungen und deren Abhängigkeit von den erwachsenen Männern. Aber
es gab damals in Griechenland Gesetze gegen die sexuelle Ausbeutung von Kindern, weil kleine Jungen auch der „griechischen Knabenliebe“ zum Opfer fielen (de
Mause 1980, 72f.; Licht 1969, 247).
Auch im Mittelalter war sexuelle Gewalt gegen Jungen keine Seltenheit. Weil sie
leichter zu überwältigen waren und weil sie mädchenhaft wirkten, wurden sie häufig
Opfer von sexueller Gewalt. In den Turmbüchern der Reichsstadt Köln aus dem 16.
Jahrhundert ist nachzulesen, daß sexuelle Ausbeutung von Kindern oft vor Gericht
verhandelt und auch bestraft wurde (Schwerhoff 1991, 398ff.). In England wurde
1548 ein Gesetz zum Schutz der Jungen vor „forced sodomy“ eingeführt (Schultz
1982, 22). Aus Venedig ist überliefert, daß in der Renaissance sich prostituierende
Frauen aufgefordert wurden, sich den Männern mit nackten Brüsten anzubieten, um
diese vom „Modetrend“ der Sexualität mit Jungen abzubringen (Bornemann 1978,
1145).
In seiner Fachschrift ‘Das Geschlechtsleben des Kindes’ (1909) warnte der Arzt Albert Moll vor Kindermädchen und Hausangestellten, „die zu ihrem Vergnügen an
Kindern alle möglichen Arten von sexuellen Handlungen“ vornehmen (Moll 1909, 57).
Auch Sigmund Freud erklärte sich die Ursache für Hysterie 1896 noch mit sexueller
Gewalt in der Kindheit, weil alle seiner zwölf Klientinnen und seiner sechs Klienten
sexuell ausgebeutet worden waren. Er begann jedoch kurze Zeit später an den Erfahrungen seiner KlientInnen zu zweifeln und deutete es um als Ausdruck des Ödipuskomplexes. Es gibt die - allerdings umstrittene - Vermutung, daß Freud selbst von
seinem Vater sexuell ausgebeutet worden war und es ihm daher besonders schwerfiel, die sexuelle Gewalt gegen Jungen als Realität zu akzeptieren (Freud 1968, 118).
Aus der Zeit des Nationalsozialismus ist bekannt, daß Sexualstraftäter von den Wissenschaftlern als „menschliche Minusvariante“ angesehen und als „Perverse oder
sexuell Unangepaßte“ kastriert wurden. Aber auch die Opfer wurden stigmatisiert, indem sie als seelisch und geistig gestört, als schwachsinnig und hemmungslos abgetan wurden (Bock 1986, 394).
9
In den fünfziger und sechziger Jahren diskutierten die WissenschaftlerInnen wie
schon Anfang des Jahrhunderts über die Glaubwürdigkeit der Kinder, die von sexuellen Ausbeutungserfahrungen berichteten. Bereits in dieser Zeit wurde durch polizeiliche Kriminalstatistiken deutlich, daß auch Jungen Opfer von sexueller Gewalt waren.
Laut einer Studie aus dem Jahr 1965, in der die Persönlichkeit von Jugendlichen untersucht wurde, die als Ausgebeutete dem Täter vor Gericht gegenüberstanden, befanden sich unter 1646 Kindern und Jugendlichen 205 Jungen, also 12,5% (Nau
1965, 27). In den achziger Jahren wurde dann endlich erreicht, daß dieses Problem
als allgemein soziales beachtet wurde. Aber die Diskussion konzentrierte sich vorwiegend auf die sexuelle Ausbeutung von Mädchen. Erst seit Anfang der neunziger
Jahre wird das Thema auch im Zusammenhang von Jungen und Männern diskutiert.
Es paßte nicht ins gängige Bild von Jungen und Männern, Opfer von sexueller Gewalt zu sein. Bis jetzt hat diese Enttabuisierung allerdings noch nicht zu einer adäquaten Forschungstätigkeit geführt, wie es notwendig wäre.
So wie es bis vor wenigen Jahren keinen öffentlichen Diskurs gegeben hat bezüglich
der sexuellen Ausbeutung von Jungen, gibt es für sie noch kaum spezielle Beratungsstellen. Die Situation für von sexueller Gewalt betroffene Jungen und Männer ist
schlecht. In Österreich gibt es landesweit keine speziellen Beratungsangebote für
sexuell ausgebeutete Jungen und Männer, im Gegensatz z.B. zu Zürich, wo betroffene Jungen in der Beratungsstelle für sexuell ausgebeutete Knaben Hilfe und Unterstützung bekommen können, erwachsene Männer im “Mannebüro” Zürich.
In der Fachliteratur ist man sich weitgehend darüber einig, daß zum Themenbereich
der sexuellen Ausbeutung mittlerweile eine große Fülle an Daten, Materialien und
Analysen zusammengetragen wurde, aber immer noch ein großes Theoriedefizit vorhanden ist. Im Zusammenhang mit sexuellen Gewaltätern ist die Forschungsabstinenz besonders auffällig. Das hat in erster Linie damit zu tun, daß noch häufig
vermieden wird, wirklich Verantwortliche für die sexuelle Gewalthandlung eindeutig
zu benennen. Immerhin wurden in der Zwischenzeit alte Mythen über Täter als falsch
entlarvt, wie z.B. daß Täter unteren Schichten angehören, Alkoholiker, Psychopathen, hypersexuelle Triebtäter oder Fremde seien. Die Psychopathologisierung der
Täter entspricht dem Bedürfnis, die Betroffenen zu stigmatisieren und damit ausgrenzen zu können. Beim Bemühen, Tätertypologien zu entwerfen, ist es wichtig, den
Blick auf die gesellschaftlichen Gewaltstrukturen nicht zu vergessen, weil sonst die
Gefahr besteht, daß ein strukturelles Phänomen der Gewalt auf die individuelle Ebene reduziert wird.
Erst in den letzten Jahren fand eine zögernde Annäherung an das Phänomen von
Frauen als Täterinnen statt. Täterinnen sind zwar im Vergleich zu den Männern, die
sexuell ausbeuten, in der Minderheit, aber die Mädchen und Jungen, Frauen und
Männer, die von sexualisierter Gewalt von Frauen berichten, sind keine ungewöhnliche Ausnahme, sondern müssen als Gruppe ernst genommen werden. Weil lange
Zeit ein Großteil der Arbeit zum Thema der sexuellen Ausbeutung von Feministinnen
geleistet wurde und diese Arbeit von einem Bedürfnis nach Eindeutigkeit und Gemeinsamkeit geprägt war, war es schwierig, einerseits Frauen nicht nur in der Position des Opfers sondern auch in der Position der Täterin wahrzunehmen. Solche
Handlungen sind genauso wie bei den männlichen Tätern zu verurteilen und auf keinen Fall zu akzeptieren. Andererseits ging es aber auch darum, Jungen und Männer
nicht nur in der Position von Tätern, sondern auch als Opfer wahrzunehmen, zum
10
Teil auch als Opfer von sexueller Ausbeutung von Frauen. Das heißt nicht, daß die
konkreten Gewalttaten und die alltägliche Männergewalt verharmlost oder außer acht
gelassen werden sollen, denn gerade durch diese werden die Strukturen der Geschlechterhierarchie immer wieder reproduziert. Aber auch die Gewalttaten von
Frauen, die ihre Macht gegenüber abhängigen Menschen ausnutzen, stabilisieren
das strukturelle Machtgefälle.
Im selben Zeitraum, in dem sexuelle Ausbeutung von Männern thematisiert wurde,
kam auch das Problem der sexuellen Gewalt gegenüber Mädchen und Frauen mit
Behinderung an die Öffentlichkeit. Während Männer als Opfer tabuisiert wurden, weil
es nicht ins Klischee von Männlichkeit paßte, ist es bei Frauen mit Behinderung so
lange verschwiegen worden aufgrund des Vorurteils, „mit so einer will eh keiner“. Als
Folge eines Symposiums, das 1992 in Wien stattfand, entstand die Studie „Weil das
alles weh tut mit Gewalt - sexuelle Ausbeutung von Mädchen und Frauen mit Behinderung (Zemp/Pircher 1996). Das erahnte Ausmaß der sexuellen Gewalt gegenüber
Mädchen und Frauen mit Behinderung wurde zum ersten Mal in dieser Art erfaßt. In
den Institutionen, in denen Befragungen durchgeführt wurden, ist seither ein viel größeres Problembewußtsein vorhanden, was die Frauen mit Behinderung nicht aber
Männer mit Behinderung als Opfer anbelangt. In der Öffentlichkeit hat das Thema
nach wie vor nicht die Präsenz, die es für eine Verbesserung der Situation haben
müßte. Die Studie zeigt unter anderem auf, daß von den Tätern, die Frauen mit Behinderung ausbeuten, 13% Männer mit Behinderung sind und diese auf der Täterskala an dritter Stelle stehen (Zemp/Pircher 1996, 78). Diese Daten wurden weltweit zum
ersten Mal erfaßt, weil es bisher keinem Forschungsteam gelungen war, Menschen
mit Behinderung in den Institutionen zu befragen. Die Tatsache, daß männliche Mitbewohner nicht selten als Täter aufscheinen, hat vor allem in den verschiedenen Institutionen große Unbeholfenheit und Hilflosigkeit ausgelöst und zur Frage nach den
Zusammenhängen und Hintergründen geführt.
Es gilt auch hier, sich vom Vorurteil zu befreien, daß Menschen mit Behinderung
ausschließlich Opfer sind, und zu akzeptieren, daß auch sie TäterInnen sein können.
Das ist letztlich auch nicht erstaunlich, weil sie nicht ‘nur’ innerhalb dieser gesellschaftlichen Machtstrukturen sozialisiert wurden, sondern in den Institutionen in permanenten strukturellen Gewaltverhältnissen leben.
2.
Begriffserklärung
In Anlehnung an die ‘Frauenstudie’ (Zemp/Pircher 1996) übernehmen wir die zentralen Definitionen und verwenden die folgenden Begriffe:
11
2.1
Zum Begriff der Behinderung
In der vorliegenden Untersuchung haben wir uns auf Männer mit Behinderung konzentriert, die aufgrund ihrer körperlichen, geistigen und/oder psychischen Behinderung in einer Institution leben.
In der Fachliteratur fällt auf, daß in der Regel zwischen Schädigung und Behinderung
unterschieden wird. Nach einer Klassifikation der Weltgesundheitsorganisation
(WHO) wird im internationalen Verständnis folgende Dreiteilung gemacht:
“1.
impairment (Schädigung): Störung auf der organischen Ebene (menschlicher
Organismus allgemein);
2.
disability (Behinderung): Störung auf der personalen Ebene (Bedeutung für
einen konkreten Menschen)
3.
handicap (Benachteiligung): mögliche Konsequenzen auf der sozialen Ebene
(Nachteile, durch die die Übernahme von solchen Rollen eingeschränkt oder
verhindert wird, die für die betreffende Person in Bezug auf Alter, Geschlecht,
soziale und kulturelle Aktivitäten als angemessen gelten).” (WHO 1980, 27ff.)
Wenn diese Art der Klassifikation auch einen geeigneten Zugang zum Problem darstellt, so ist doch zu kritisieren, daß ausgegangen wird von der Schädigung als objektivierbare Abweichung von der Norm, und zwar im organischen Bereich. Schädigung
ist wohl kaum immer so genau feststellbar, wie medizinische oder sonderpädagogische Definitionen vorgeben. Behinderung kann auf einen pathogenen Zustand von
gewisser Dauerhaftigkeit zurückgeführt werden; es ist aber auch möglich, daß Behinderung das Ergebnis eines sozialen Bewertungs- oder Abwertungsprozesses darstellt, selbst ohne objektiv vorhandenen Grund, in dem dieser als Schädigung einfach
unterstellt wird. Die Schädigung kann sich auch als Folge der negativen Bewertung
nachträglich und/oder zusätzlich einstellen.
Uns ist wichtig, von Behinderung erst dann zu sprechen, wenn eine gewisse Andersartigkeit in einer bestimmten Kultur entschieden negativ bewertet wird. Damit schließen wir uns der Definition von Cloerkes an:
*
“Eine Behinderung ist eine dauerhafte und sichtbare Abweichung im
körperlichen, geistigen oder seelischen Bereich, der allgemein ein
entschieden negativer Wert zugeschrieben wird.
‘Dauerhaftigkeit’ unterscheidet Behinderung von Krankheit.
‘Sichtbarkeit’ ist im weitesten Sinn das ‘Wissen’ anderer Menschen um die
Abweichung.
*
Ein Mensch ist ‘behindert’, wenn erstens eine unerwünschte Abweichung von
wie auch immer definierten Erwartungen vorliegt, und wenn zweitens deshalb
die soziale Reaktion auf ihn negativ ist.” (Cloerkes 1977, 6)
Behinderung ist immer relativ in der zeitlichen Dimension, je nach subjektiver Auseinandersetzung damit, je nach verschiedenen Lebenssituationen und in verschiedenen Lebensbereichen und nach kulturspezifischen sozialen Reaktionen. Behinderung
ist also nichts Absolutes, sondern nur als soziale Kategorie verstehbar. Weder Defekt
noch Schädigung sind ausschlaggebend, sondern die Folgen für das einzelne Individuum.
12
2.2
Zum Begriff der sexuellen Ausbeutung
Für die sexuelle Ausbeutung von Kindern und abhängigen Menschen sind im
deutschsprachigen Raum vor allem vier Ausdrücke geläufig:
Inzest wird vor allem für den Geschlechtsverkehr zwischen Familienmitgliedern, insbesondere zwischen Eltern und Kindern oder Geschwistern verwendet. Er drückt
nicht aus, daß die betroffenen Kinder Opfer sind, daß sie zu den sexuellen Handlungen gezwungen werden, daß diese Handlungen auch andere Formen des Geschlechtsaktes beinhalten können und Täter nicht nur Familienangehörige sind.
Beim Begriff des sexuellen Übergriffs wird zwar deutlich, daß Grenzen nicht eingehalten werden. Gleichzeitig wird jedoch suggeriert, daß die betreffende Handlung
harmlos sei, daß es sich um eine einmalige Tat handle.
Der in Österreich und Deutschland gebräuchlichste Begriff ist der des sexuellen
Mißbrauchs. Dieser Begriff impliziert aber, daß es einen legitimen Gebrauch von Kindern oder abhängigen Menschen geben könnte.
Wir verwenden in der Folge den Begriff der sexuellen Ausbeutung. Dieser Begriff beinhaltet alle Formen sexueller Belästigung, sexueller Gewalt und sexualisierter Gewalt. Es wird deutlich, daß Gewalt stattfindet, physische wie psychische, und daß das
Kind oder die abhängige Person in seiner/ihrer persönlichen Integrität mißachtet, als
Objekt benutzt und ausgenutzt wird.
2.3
Zum Begriff Opfer
Wir verwenden den Begriff ‘Opfer’ vorwiegend im Beziehungszusammenhang von
Opfer und Täter. Wir gebrauchen ihn jedoch nie bezogen auf einzelne konkrete, von
sexueller Gewalt betroffene Menschen, weil sich mit diesem Begriff die Gefahr verbindet, daß Menschen mit sexueller Ausbeutungserfahrung auf das Opfersein reduziert und damit erneut stigmatisiert werden. Wir benutzen im weiteren den Begriff ‘Überlebende’, aber auch ‘Verletzte’. Wenn wir von ‘Betroffenen’ schreiben, meinen wir
in dieser Untersuchung immer Männer mit Behinderung, die von sexueller Ausbeutung betroffen sind.
2.4
Definition von sexueller Ausbeutung von Menschen mit Behinderung
Wir übernehmen die Definition von sexueller Ausbeutung von Menschen mit Behinderung von Zemp (1991): Sexuelle Ausbeutung von Kindern und/oder physisch
und/oder geistig abhängigen Menschen durch Erwachsene (oder ältere Jugendliche)
ist eine sexuelle Handlung des Erwachsenen mit einem abhängigen Menschen, der
aufgrund seiner emotionalen, intellektuellen oder physischen Entwicklung nicht in der
Lage ist, dieser sexuellen Handlung informiert und frei zuzustimmen. Dabei nützt der
Erwachsene, der/die HelferIn die ungleichen Machtverhältnisse zwischen sich und
der/dem Abhängigen aus, um es/sie/ihn zur Kooperation zu überreden oder zu zwingen. Zentral ist dabei die Verpflichtung zur Geheimhaltung, die das Kind/die abhängige Person zu Sprachlosigkeit, Wehrlosigkeit und Hilflosigkeit verurteilt. (in Anlehnung an Sgroi 1982, 13)
13
Wir gehen von einer weitgefaßten Definition von sexueller Ausbeutung aus, weil eine
eng gefaßte Definition, die den Genitalkontakt als alleiniges Kriterium für sexuelle
Ausbeutung aufweist, andere Ausbeutungserfahrungen als solche nicht erkennt oder
als solche nicht ernst nimmt. Für uns beginnt sexuelle Ausbeutung da, wo eine Person von einer anderen als Objekt zur Befriedigung gewisser Bedürfnisse gebraucht
wird. Es können Bedürfnisse sexueller Natur sein oder auch nicht sexuelle, die aber
in sexualisierter Form ausgelebt werden, wie zum Beispiel der Wunsch nach Macht,
sich selber zu bestätigen oder jemanden zu unterdrücken. Um solche Bedürfnisbefriedigung zu erlangen, werden vor oder an der Person Handlungen vollzogen oder
von ihr zu tun verlangt, die in unserer Kultur mit Sexualität in Zusammenhang gebracht werden. Dazu zählen wir Handlungen wie despektierliche Bemerkungen über
den Körper, Berühren von Geschlechtsorganen bis hin zum Geschlechtsverkehr.
Diese Handlungen sind in erster Linie aufgrund von unterschiedlichen Ressourcen
und Macht möglich und geschehen gegen den Willen der Person, die die betreffende
Handlung erfahren muß. Die Vergewaltigung ist demnach das Extrem eines breiten
Spektrums, das sowohl körperliche sexuelle Angriffe als auch verbale und visuelle
wie Nachpfeifen, anzügliche Bemerkungen, Exhibitionismus oder Pornographie mit
einschließt. Unter Vergewaltigung verstehen wir alle Formen von erzwungener Penetration (vaginale, anale und orale, mit Penis, Finger oder irgendwelchen Gegenständen). Wir fassen unsere Definition so weit und schließen NichtKontakthandlungen mit ein, weil Nachpfeifen oder „Hinterntätscheln“ nicht im luftleeren Raum stattfinden, sondern in einer Gesellschaft, in der in der Regel Männer solche Gesten und Handlungen ausführen, Frauen dadurch oft auf ihren Körper reduziert werden und damit zum Objekt verkommen. Das heißt, derartige Gesten sind
Ausdruck eines Machtverhältnisses, meistens eines zwischen den Geschlechtern,
von dem aber auch Jungen und Männer betroffen sein können.
Eine sexuelle Handlung wird durch die Form der Beziehung zwischen Opfer und TäterIn, die durch das gesellschaftliche Machtgefälle geprägt ist, zur sexuellen Ausbeutung. Dieses Machtverhältnis verschärft sich bei Menschen mit einer Behinderung um
ein Vielfaches durch ihre Abhängigkeit in hierarchischer, arbeits- oder erziehungsbedingter Hinsicht, aber auch durch eine körperliche und/oder geistige und/oder psychische Behinderung. Sexuelle Ausbeutung von Menschen mit einer Behinderung
drückt die gesellschaftliche Verachtung, welcher sie in der Regel mehr oder minder
immer ausgesetzt sind, aufs Schärfste aus. Diese Verachtung geben sie auch unter
ihresgleichen u.a. in Form von sexueller Gewalt gegen Schwächere im Heim weiter.
Wir verzichten in unserer Definition auf eine Altersdifferenz zwischen Tätern und Opfern zur Begründung eines Straftatbestandes, weil Menschen mit einer Behinderung
auch im erwachsenen Alter von gleichaltrigen und/oder jüngeren TäterInnen ausgebeutet werden können.
14
3.
Forschungssituation
3.1
Jungen und Männer ohne Behinderung als Opfer von sexueller
Ausbeutung
Was die sexuelle Ausbeutung von Jungen und Männern ohne Behinderung betrifft,
ist es schwierig, klare Aussagen zu machen, weil deutlich weniger Datenvorliegen als
bei Mädchen und Frauen. In Deutschland wurden vier Dunkelfelduntersuchungen
durchgeführt, wobei die Rate der sexuell ausgebeuteten Männer von vier bis 14 Prozent schwankt, was sich kaum von anderen Ländern unter-scheidet. Dirk Bange hält
es für realistisch, daß etwa jeder zwölfte Junge von sexueller Ausbeutung betroffen
ist (1995, 70), wie aus der nachfolgenden Tabelle ersichtlich wird.
Studie
Teilnehmer
Bange
1992
343
BRD
Studenten
Raup/Eggers
1993
412
BRD
Studenten
Wetzels
1994
1604 Männer
BRD
(repräsentativ)
BMFuS
255
1993
JugendamtsBRD
mitarbeiter
Finkelhor
1979
266
USA
Studenten
Fritz u.a.
1981
412
USA
Studenten
Finkelhor
1984
187
USA
Väter
Baker/Duncan
836
1985
Männer
GB
repräsentativ
Risin/Koss
2972
1987
Studenten
USA
Bagley
935
1989
Männer
(Kanada)
repräsentativ
Finkelhor u.a.
1145
1990
Männer
USA
repräsentativ
(nach Bange 1995, 70).
Ausmaß
Altersgrenze
Methode
8%
16
Fragebogen
6,3%
14
Fragebogen
4-9%
16
Fragebogen
14%
?
Fragebogen
9%
16
Fragebogen
5%
präpubertär
Fragebogen
6%
16
Fragebogen
8%
16
Fragebogen
7,3%
16
Fragebogen
8%
16
Tiefeninterviews
16%
18
Telefoninterviews
Aus den in der Bundesrepublik Deutschland durchgeführten Dunkelfeldstudien wird
deutlich, daß Jungen am häufigsten von Bekannten im außerfamiliären Nahraum
ausgebeutet werden, und zwar von Nachbarn, Pfarrern, Lehrern usw.; fast jeder
Fünfte muß durch Familienangehörige Gewalt erleben, vor allem von Onkeln, Brü15
dern und Cousins. Fast ein Drittel sind Fremdtäter, die meistens als Exhibitionisten
auftreten. Im Gegensatz dazu erzwingen Täter aus dem Bekannten- und Familienkreis fast immer sexuelle Handlungen mit Körperkontakt. Dabei wurden 30 Prozent
der befragten Männer oral oder anal vergewaltigt oder mußten den Versuch dazu erleben, ca. 40 Prozent wurden genital manipuliert oder mußte den Täter manipulieren,
und das letzte Drittel mußte Zungenküsse über sich ergehen lassen oder wurde eben
von Exhibitionisten belästigt. Fast 60 Prozent der befragten Männer berichten, daß
die sexuelle Ausbeutung „nur“ einmal stattfand. (Julius/Boehme 1994, 107ff.)
Auch Jungen müssen sexuelle Gewalt im Säuglingsalter, als Kleinkinder, im Grundschulalter und als Jugendliche erleben; nach den Dunkelfeldstudien liegt das Durchschnittsalter zwischen zehn und 12 Jahren (Bange 1991, 74).
Betroffene Männer haben Mühe, über ihre Ausbeutungserfahrung zu sprechen. Collings (1991, 153ff.) vermutet, daß die Offenbarungsbereitschaft der Männer umso
größer ist, je anonymer die Befragungsmethode ist, also mittels Telefoninterviews
oder Fragebogen, der abgegeben werden kann. Aber vor allem, wenn die Gewalterfahrung in der Familie passiert, sind die Scham- und Schuldgefühle, sowie die
Angst vor Ablehnung besonders groß. Männer haben auch große Mühe, über anale
oder orale Vergewaltigung zu sprechen, weil solche Praktiken als pervers gelten oder
der Homosexuellenszene zugeschrieben werden. Diese beiden Vergewaltigungsformen sind für Betroffene äußerst erniedrigend, weil sie sich absolut ausgeliefert fühlen und das überhaupt nicht in ihre Jungen- bzw. Männerrolle paßt.
3.2
Folgen von sexueller Ausbeutung
Finkelhor und Browne (1986) haben die Dynamik von sexueller Gewalt differenziert
dargestellt und auch in Bezug gesetzt zu den Auswirkungen auf das psychische Erleben und das Verhalten von Betroffenen. Sie unterteilen die traumatischen Auswirkungen in vier Bereiche.
Traumatische Sexualisierung
Traumatische Sexualisierung meint, daß dem Kind eine Form von Sexualität aufgezwungen wird, die seinem Lebensalter nicht entspricht und dadurch das Kind verwirrt
und schädigt. Ihm wird vermittelt, daß es Geborgenheit und Nähe nur gekoppelt mit
Sexualität bekommen kann. Das führt beim Kind zu einer Konditionierung: Sexuelle
Aktivität wird mit negativen Gefühlserinnerungen gekoppelt. Dem Kind werden oft falsche sexuelle Normen und Moralvorstellungen vermittelt, um es für die sexuelle Ausbeutung zugänglicher zu machen, mit Sätzen wie: “Alle Väter, die ihre Kinder lieben,
tun das". Das führt dazu, daß Liebe und Sexualität verwechselt werden, so daß eine
Aversion gegen Intimität und sexuelle Stimulierung auftreten und die eigene sexuelle
Identität gebrochen werden kann. Daraus ergeben sich typische Verhaltensweisen
wie, zwanghaftes sexuelles Ausagieren, aggressives sexuelles Verhalten, phobisches Vermeiden von Intimität, Orgasmusprobleme, Prostitution.
16
Neben körperlichen Verletzungen und Schwangerschaften ist altersunangemessenes
Sexualverhalten von Mädchen und Jungen der einzig eindeutige Hinweis auf sexuelle Ausbeutung. In der aktiven Wiederholung dessen, was sie passiv erlebt haben,
sexualisieren Überlebende häufig soziale Beziehungen. In der Wiederholung des Erlebten drücken sie aus, was sie selbst mit Worten nicht fassen können. So zeigten in
der Studie von Tufts (1984, 113) 27 Prozent der vier- bis sechsjährigen Kinder mit
sexuellen Ausbeutungserfahrungen signifikant häufiger Verhaltensweisen wie Masturbieren in der Öffentlichkeit, Zurschaustellen der Genitalien und Sexualisieren von
Beziehungen. Jungen werden durch sexuelle Ausbeutung zutiefst in ihrer Geschlechtsrollenidentität verwirrt. „Sind es bei der Mißhandlung durch Männer angenehme Gefühle, die Ängste auslösen, schwul zu sein, so sind es bei der sexuellen
Ausbeutung durch Frauen die unangenehmen Gefühle, die den Jungen verunsichern. Der Junge meint, nur ein schwuler Mann könne sich geekelt, gedemütigt oder
verängstigt fühlen, wenn eine „reife“ Frau ihn „in die Sexualität einführt.“ (Glöer/Schmiedeskamp 1990, 29). Viele sexuell ausgebeutete Männer fühlen sich als
Neutrum, weil ihnen der Bezug zu ihrer Sexualität fehlt.
Die Stigmatisierung
Das Erleben des Gezeichnetseins verstärkt den Zwang zur Geheimhaltung, das
Schamgefühl und den Eindruck, selber an allem Schuld zu sein, denn in der Regel
macht der Täter die betroffenen Kinder für die Tat verantwortlich, mit Sätzen wie: “Du
hast es ja gern”, “Du hast es ja gewollt”. Weil die Täter oft mit Frauen zusammenleben und die Jungen das auch wissen, meinen sie, es sei etwas an ihnen, das
den Täter zu gleichgeschlechtlichen Handlungen ‘verführe’. Daraus resultieren die
Gefühle des Ausgestoßenseins, das schlechte Selbstwertgefühl, Scham- und
Schuldgefühle. Die typischen Verhaltensweisen hier sind Autoaggressionen: Drogenund Alkohol- oder Medikamentenabhängigkeit helfen Überlebenden, die Erinnerung
an die sexuelle Ausbeutung zu betäuben; der Versuch, mit Hilfe der Droge aus der
nicht aushaltbaren Realität zu flüchten, ist Ausdruck des Überlebenswillens von Betroffenen. Selbstverstümmelungen wie Haare ausreißen, Nägel kauen usw. gehören
ebenfalls zu diesen Selbstaggressionen: Betroffene wollen über den Schmerz spüren, daß es sie noch gibt und drücken sich beispielsweise brennende Zigaretten auf
der Haut aus oder fügen sich Schnitte zu. Selbstmord scheint schließlich für viele Betroffene der einzig wirksame Schutz vor den Übergriffen der Täter einerseits, andererseits aber auch die einzige Lösung, dem Selbsthaß, der Scham, der Verzweiflung
ein Ende zu setzen. Im Erwachsenenalter haben ausgebeutete Männer oft nur lose
und distanzierte Beziehungen. Wer sie gerne mag, ist in ihren Augen ein Narr. Das
führt zu einer enormen inneren Einsamkeit, was zu suchtartigem Verhalten im Beruf,
Sport oder im Ausüben der Religion führen kann.
Der Verrat
Das Kind ist in seinem Vertrauen getäuscht, in seiner Abhängigkeit und Verletzlichkeit manipuliert worden. Statt Schutz zu erfahren, wurde es ausgebeutet und verletzt.
Es fühlt sich nicht nur vom Täter, sondern meistens auch von seiner Umgebung allein gelassen, weil es nicht geschützt wurde. Das führt zu Mißtrauen, Wut und Feindseligkeit, aber auch zu tiefer Trauer und Depression. Nach außen hin wirken solche
Jungen oft wie erstarrt und gefühllos, zerstören in ihren Wutanfällen, was in ihrer Nä17
he ist, oder planen sehr gezielte Zerstörungsaktionen. Sie fühlen sich nicht mehr als
‘richtiger Junge’, oder als ‘richtiger Mann’ und versuchen als Folge davon, durch dominantes und aggressives Auftreten das verlorene Gefühl der Kontrolle wieder zu erlangen.
Ohnmacht
Weil das Kind erlebt hat, daß die Körpergrenzen gegen den eigenen Willen überschritten worden sind, hat sich das Gefühl des Ausgeliefertseins eingeprägt: Die wiederholte Erfahrung der Hilflosigkeit und Unmöglichkeit, der Gewalt ein Ende zu setzen, führt zu der Überzeugung, als Mensch keine Wirkung zu haben, keinen Einfluß
nehmen zu können auf das, was mit einem geschieht. Das Gefühl der Ohnmacht und
des Ausgeliefertseins führt zu Angst- und Panikattacken, was sich in Zwängen und
Phobien ausdrücken kann. Solche Kinder müssen sich dauernd oder zu Unzeiten
waschen, regredieren, haben Beziehungsschwierigkeiten bis zu Vereinsamungstendenzen, ein geringes Selbstwertgefühl, leiden an Depressionen, sind überangepaßt oder sehr aggressiv, haben z.B. diffuse Ängste in geschlossenen Räumen oder vor Autoritätspersonen. Im sozialen Verhalten reagieren sexuell ausgebeutete Kinder oft mit übersteigertem Fremdeln oder distanzlosem Verhalten. Sie
ziehen sich aus den sozialen Kontakten zurück; oder sie verhalten sich distanzlos,
wieil sie nie gelernt haben, die eigenen Grenzen und die der andern zu spüren. Es
kann auch sein, daß sie gerade kontraphobisch reagieren und bei anderen sofort den
körperlichen Kontakt suchen, ihre Beziehungen sexualisieren. Betroffene präsentieren sich von vorneherein, um erwarteten sexuellen Ausbeutungshandlungen
vorzubeugen.
Physische, psychische und psychosomatische Folgen
Folgen von sexueller Ausbeutung zeigen sich oft auch auf psychosomatischer Ebene
wie Einnässen, Einkoten, Unterleibschmerzen, Wundsein und Jucken im Genitalbereich, Schwindelanfälle. Betroffene leiden unter Alpträumen, Schlafstörungen, Blutungen und/oder Rissen im Rektalbereich, ungewöhnlicher Dehnung des Anus, Verletzungen oder Rötungen am Penis. Im Zusammenhang mit oraler Vergewaltigung
stehen Erstickungsanfälle, Würge- und Ekelgefühle, Kieferschwierigkeiten oder Atemprobleme. Bei Männern, die in ihrer Kindheit ausgebeutet worden sind, kann es
sexuelle Funktionsstörungen geben wie vorzeitige Ejakulation und Schwierigkeiten,
eine Erektion zu bekommen, was gar nicht ins übliche Bild von einem aktiven potenten Mann paßt und bei Betroffenen oft Depressionen zur Folge hat. Es gibt Betroffene, die nur durch das Produzieren von sadistischen oder sadomasochistischen Phantasien, nur durch Gewalt, beziehungsweise Unterwerfung, Demütigung und Erniedrigung zu sexueller Erregung und Entspannung kommen können.
18
3.3
Jungen und Männern mit Behinderung als Opfer
Jungen und Männer mit Behinderung als Opfer von sexueller Gewalt tauchen in der
Fachliteratur lediglich in zwei Untersuchungen auf. In den Studien, die in den USA
bei Menschen mit Lern- oder leichter geistiger (mild retarded) Behinderung gemacht
wurden, unterschieden die BefragerInnen meistens nicht zwischen Jungen und Mädchen oder Männern und Frauen. Das hängt einerseits mit der allgemein geringeren
Forschungstätigkeit zum Thema Männer als Opfer von sexueller Gewalt, andererseits aber sicher auch mit dem nach wie vor mangelnden Bewußtsein bezüglich
Geschlechterspezifik im Bereich von Menschen mit Behinderung zusammen sowie
mit dem Vorurteil, Menschen mit Behinderung seien geschlechtslos.
Hard (1987,1-3) befragte in einem Zentrum für Arbeitsaktivitäten 65 Personen. In
dieser Studie wurde sexuelle Ausbeutung definiert als sexuelle Kontakte wie Geschlechtsverkehr, Anal- und Oralverkehr oder Berührungen von Brust oder Genitalien
ohne Wissen oder Verständnis für die sexuellen Handlungen, die nicht gewollt waren,
oder vom Täter mit Gewalt, Zwang oder Manipulation ausübt wurden. 32 Prozent der
Männer berichteten von sexueller Gewalterfahrung. Aber auch in dieser Untersuchung wurde bezüglich des Alters, in dem die befragten Personen sexuell ausgebeutet wurden, nicht nach Geschlechtern unterschieden.
Der Verband evangelischer Einrichtungen für Menschen mit geistiger und psychischer Behinderung hat 1993 in Deutschland eine Studie in Auftrag gegeben. 308 der
angeschriebenen Einrichtungen der Behindertenhilfe füllten einen Fragebogen aus
(Noack/Schmid 1994). Ermittelt wurde damit das Bewußtsein der Einrichtungen zum
Thema der sexuellen Gewalt. Bezüglich Knaben mit einer geistigen Behinderung
machten 5,2 Prozent der Einrichtungen Aussagen zu Vorkommnissen von sexueller
Gewalt. Sie berichteten insgesamt von 16 Fällen. Nur noch 2,9 Prozent der Einrichtungen erwähnten insgesamt zehn Fälle von sexueller Gewalt gegen männliche Jugendliche. Bezüglich Männern mit geistiger Behinderung sagten 16,6 Prozent aus
und gaben insgesamt 105 Fälle an (Noack/Schmid 1994, 45). Vergleicht man diese
Zahlen mit denjenigen von Hard (1987, 1-3) und der vorliegenden Studie, in der
Männer mit Behinderung selber befragt wurden, muß von einer hohen Dunkelziffer
ausgegangen werden. Es ist anzunehmen, daß sexuelle Gewalt gegen Jungen und
Männer viel weniger als solche erkannt wird. Einerseits sieht man sie nicht, weil sie
als alltägliche Gewalt abgetan und damit auch verharmlost wird; andererseits weiß
man es nicht, weil es im Geheimen passiert; oder wenn man es weiß, schweigt man
darüber, weil man aus Gründen der eigenen Überforderung mit diesem Problem den
notwendigen Handlungsbedarf fürchtet.
3.4
Täter von sexueller Ausbeutung ohne Behinderung
Männer, die sexuelle Gewalt ausüben, stehen in der Öffentlichkeit kaum dazu. Erst
wenn Beweise ein weiteres Verleugnen der begangenen Tat verunmöglichen oder
ein Gericht den Täter unmißverständlich mit der Tat konfrontiert, gesteht ein Teil der
Männer die Gewalt. Täter aber, die nie angezeigt, angeklagt und verurteilt werden,
fühlen sich in keiner Weise genötigt, sich zu ihrer Täterschaft zu bekennen. „Daraus
ergibt sich die paradoxe Situation, daß unzählige Frauen glaubwürdig über erlittene
sexuelle Gewalt berichten und kaum ein Mann diese Gewalt zugibt. Aussage steht
gegen Nicht-Aussage. Zeugen gibt es meist keine.” (Godenzi 1989, 39)
19
Immer wieder wird in der psychopathologischen Literatur der Vergewaltiger als triebhaft, willensschwach, haltlos, gemütsarm, egozentrisch, als triebhafter oder
substanzloser Psychopath beschrieben (Hentig 1921; Schulz 1958; Plaut 1960; Dost
1983). Nicht selten werden Sexualdelikte den unteren Schichten mit asozialen und
kriminellen Tendenzen unterschoben (Schorsch 1971). In den siebziger Jahren wurden vor allem in den USA allerdings auch andere Konzepte von Tätertypologien entwickelt. Diese gehen von Motiven wie Macht, Stärke, Kontrolle und Aufwertung des
eigenen Selbst aus; aus Haßgefühlen gegenüber Frauen erniedrigen und/oder bestrafen sie diese. Bei Tätern mit vorwiegend sexuellem Ziel wird ein Typ beschrieben,
der schon oft durchlebte Phantasien in der Vergewaltigung durchspielt. Krön (1986,
202) zeigt auf, daß es kein taugliches Instrumentarium zur Objektivierung gibt; das
gilt bis heute. „Alle gängigen Testuntersuchungen zeigen kein für einen Vergewaltiger typisches Profil. Gleichzeitig weisen diese Konstrukte aber einen Weg weg von
der eindimensionalen Sichtweise der Vergewaltigung als reinem Sexualdelikt und hin
zu anderen Motiven und Aspekten, in denen das sexuelle Element, die Vergewaltigung, lediglich das Vehikel darstellt, sei es zur Kontrolle als Ausdruck von Dominanzkonflikten des Täters, sei es zur Herabsetzung und Erniedrigung der Frau“ (Krön
1986, 202). Die Frauenbewegung hat sich gelöst von der täterbezogenen Individualität und richtet ihr Augenmerk vor allem auf die strukturelle und der Gesellschaft immanente Gewalt. In diesem Zusammenhang ist wichtig, sich der in jeder
Gesellschaft vorhandenen Geschlechtsrollennormierungen und Mythologien bewußt
zu sein, welche die Beziehungen zwischen den Geschlechtern, aber auch die Beziehungen im hierarchischen Gefälle überhaupt regeln und Machtverhältnisse konstituieren.
Krön (1986) untersuchte 147 bei der Polizei bekannt gewordene Täter. 40 Prozent
der Täter waren im Alter zwischen 20 und 30 Jahren, 75 Prozent mit deutscher Nationalität, überwiegend arbeitslos oder Arbeiter und fast 25 Prozent verheiratet. 45
Prozent ist die vergewaltigte Frau völlig fremd, 30 Prozent kannten diese flüchtig und
25 Prozent waren einander gut bekannt. Bei Bekanntschaftsvergewaltigungen erfolgt
viel seltener eine Meldung oder Anklage gegen die Täter. Nur ein Drittel der Täter
war zum Tatzeitpunkt völlig ohne Alkohol. 45 Prozent sind nicht vorbestraft, 20 Prozent jedoch einschlägig. „Explorativ und auch in der angesprochenen Tatbegehungsweise kamen Dominanzkonflikte und Insuffizienzgefühle in der eigenen Männlichkeitsrolle zum Ausdruck, die diese Täter in der Unterwerfung der Frau durch die
Vergewaltigung zu kompensieren trachteten. Diese Gruppe mit eindeutigen Hinweisen auf nicht-sexuelle Konflikte und Motive umfaßt etwa 30 Prozent aller Täter“
(204f.). 20 Prozent der Fälle betreffen Jugendliche, die noch wenig sexuelle Erfahrung hatten. Sie wiesen Unsicherheit auf und Hemmungen bezüglich heterosexuellen
Kontaktanbahnungen. Diese Täter haben nur eine verschwommene Vorstellung vom
objektiven Tathergang. Die dieser Gruppe zugehörigen Männer waren häufiger impotent oder brachen den Sexualvollzug im Vergleich zu anderen Gruppen vorzeitig ab.
Erlebt wurden sie von außen eher als scheu, einzelgängerisch und unauffällig. Die
größte Gruppe in dieser Untersuchung sind rücksichtslose und unkontrolliert aggressive Täter, sehr egozentrisch mit unkontrolliertem Aggressionspotential und geringer
Ich-Kontrolle. Sie äußern nach der Tat keine Schuldgefühle. Sie wirkten undifferenziert mit instabilen, oft unpersönlichen Beziehungen mit wenig Zärtlichkeit, waren
zum Teil aber verheiratet. „Während bei den Jugendlichen in erster Linie Geschlechtsrollenunsicherheiten und männliche Erwartungsstrukturen den gewalttätigen
Übergriff im Sinne eines rollenkonformen „aktiven“ Verhaltens (der Mann als „Erobe20
rer“) bahnen, steht bei der zweiten Gruppe eine frauenfeindliche, verobjektivierende
und despektierliche Haltung dem weiblichen Geschlecht gegenüber im Vordergrund“
(Krön 1986, 206). Keine 10 Prozent der Täter in dieser Untersuchung sind als psychisch abnorm zu bezeichnen.
Marion Breiter (1995) hat in Österreich aufgrund von Akteneinsicht 49 Sexualstraftäter untersucht. Ihre Daten ähneln denjenigen von Krön (1986): Der Altersdurchschnitt liegt bei 21 bis 30 Jahren, 69 Prozent sind österreichischer Nationalität
(wobei zu bedenken ist, daß aufgrund der gestiegenen Ausländerfeindlichkeit die Bereitschaft wahrscheinlich größer ist, ausländische Täter anzuzeigen), 35 Prozent sind
nicht erwerbstätig, der Anteil der Beamten und Angestellten beträgt 32 Prozent, Arbeiter stellen 27 Prozent der Täter; nicht vorbestraft sind von den Beschuldigten 53
Prozent (21ff.).
Godenzi (1989) hat in der Schweiz eine Untersuchung gemacht mit nicht-angezeigten Tätern mittels offenem Telefon, das über die Medien bekannt gegeben und von
35 Männern in Anspruch genommen wurde. 25 Männern berichteten von einer Vergewaltigung; mehr als die Hälfte waren zum Zeitpunkt der Tat zwischen 30 und 40
Jahren alt; 32 waren Schweizer, 17 arbeiteten als untere Angestellte oder Facharbeiter, neun in mittleren und höheren Positionen, und vier waren selbständig Erwerbstätige; 21 sind verheiratet, neun ledig, drei geschieden und zwei getrennt. In 20 Fällen
bestand zwischen dem Täter und der betroffenen Frau ein Vertrauensverhältnis
(42ff.).
Das Alltagsverständnis von sexueller Gewalt erfaßt demgemäß, z.B. durch die Reduktion auf den Begriff des pathologischen Triebtäters, kaum mehr als 10 Prozent
der tatsächlich bekannt gewordenen, d.h. im Rahmen der Strafverfolgung ausgeforschten Täter. Eben nur hier kommt es zur unheilvollen Vermischung von Aggression und Sexualität, wie er dem 'Triebtäter'-Konzept zugrundegelegt ist. Beim Gros
der Fälle stehen demgegenüber Motive und persönliche Faktoren im Hintergrund der
inkriminierten Tat, die jeweils höchstens sekundär auf Sexualität und/oder sexuelle
Bedürfnisse zurückgeführt werden können. Es zeigt sich aber, daß durch Vergewaltigung meistens nicht-sexuelle Konflikte ausagiert werden und diese weitgehend als
Vehikel für die Wiederherstellung verunsicherter männlicher Identität dient. Besonders deutlich kommt dies in der Untergruppe der 'eher angepaßten und ansonsten
unauffälligen' Männer zum Ausdruck, bei denen die Tat eher als Versuch der Bearbeitung eigener Dominanzkonflikte und Insuffizienz in der eigenen Männlichkeitsrolle
gewertet werden kann.
Aber auch bei den sexuell oder koital eher wenig erfahrenen jugendlichen Sexualdelinquenten überwiegen außersexuelle Motive - mangelnde soziale Reife und Kompetenz, Einzelgängertum und fehlende soziale Anerkennung bzw. Perspektiven stellen die Tat hier eher in den Kontext des Bemühens und/oder der Suche nach einer
Bestätigung für männliche Macht und Anerkennung.
Täter von sexualisierter Gewalt sind in der Regel Wiederholungstäter. Das New Yorker Institut für Psychiatrie hat sich auf die Behandlung von Sexualstraftätern spezialisiert und festgestellt, daß der durchschnittliche Täter 7,5 Vergewaltigungen begeht.
(Wyre 1991, 12) Es muß allerdings angenommen werden, daß die tatsächliche Zahl
noch höher liegt.
21
3.5
Jugendliche als Sexualstraftäter
Der forensische Gutachter vor Jugendgerichten Lempp berichtet von den Schwierigkeiten, wenn er mit Handlungen von Jugendlichen konfrontiert ist, die “von den
Handelnden selbst, den Jugendlichen selber, nicht erklärt werden können. Die Jugendlichen stehen oft völlig ratlos davor, verstehen sich selbst nicht mehr, und wenn
es eine offensichtlich verwerfliche Handlung war, dann versuchen sie, sich verzweifelt davon zu distanzieren". (1986, 185)
In seinen Überlegungen dokumentiert sich eine gewisse Hilflosigkeit des Gutachters:
"Auch eine sehr sorgfältige Anamnese unter psychoanalytischen Gesichtspunkten
vermag nicht mehr zu erreichen, als übliche sexuelle und soziale Reifungsprobleme,
wie sie dem Alter dieser Probanden entsprechen, deutlich zu machen. Diese Probleme sind häufig keineswegs einzigartig und unbefriedigend zur Erklärung dieser in
der Regel persönlichkeitsfremden und vom Angeklagten selbst nicht akzeptablen Taten. Auf diesem Wege können im allgemeinen verdrängte homosexuelle Tendenzen
mit einer überschießenden Abwehr derselben hinreichend und stimmig erklärt werden, gelegentlich auch unverhältnismäßig aggressive Sexualhandlungen - bei welchen allerdings nur das Ausmaß der Gewalt, keineswegs aber das Motiv der triebgerichteten Handlung selbst der besonderen Erklärung bedürfen -, keineswegs jedoch
die Mehrzahl solcher Taten. Erst eine sorgfältige Analyse des Tatablaufs, der Äußerungen des Täters in möglichst entspannter Situation, die Berücksichtigung seiner
sozialen Beziehungen und die Einbeziehung neuerer Erkenntnisse über die Borderline-Struktur und -Reaktionsweise bei pubertierenden Jugendlichen können die Tat
nicht nur in ihrem Motiv und ihrem Ablauf, sondern auch die Prognose des Täters
und seine therapeutischen Bedürfnisse erhellen" (1986,186).
Am Beispiel eines Jugendlichen, der wegen wiederholter, als gewaltförmig interpretierter und gescheiterter Kontaktversuche zu jungen Frauen mehrfach als Triebtäter vorbestraft wurde, demonstriert Lempp die fatalen Folgen und Gefahren 'vorschneller' und zu eindeutiger Abstempelung. Er diagnostiziert erstens eine
Abstempelung/Etikettierung als Triebtäter und eine entsprechende Schwächung der
Position des betreffenden Jugendlichen in Familie und peer-group sowie eine
weitgehende Schwächung des ohnedies bereits geschädigten Selbstwertgefühls;
"zweitens unterbleiben in aller Regel therapeutische und pädagogische Maßnahmen,
wie sie gerade diese Jugendlichen in besonderem Maße nötig haben." (1986, 188)
Alleingelassen mit ihrer spezifischen Unfähigkeit, ihr eigenes Verhalten zu verstehen,
wird überhaupt erst eine Wiederholungsgefahr hervorgerufen. Drittens kann im
Einzelfall die psychosexuelle Entwicklung definitiv gestört werden, sodaß der
Jugendliche den Weg zu einer normalen sexuellen Kontaktaufnahme möglicherweise
überhaupt nicht mehr findet" (Lempp 1986, 189).
Unter diesem Gesichtspunkt sind es allem voran die Rahmenbedingungen von Strafverfolgung, Rechtsprechung sowie Strafvollzug, die dann dazu führen, daß „solche
abwegigen Formen sexueller Kontaktaufnahme“ zu „scheinbar kriminellen Handlungen entgleisen“, bzw. über die Folgen von Stigmatisierung zur Verfestigung gewaltförmigen Sexualhandelns führen. (Lempp 1986, 189f.)
22
Die zentralen Gesichtspunkte von Motiv und sozialem Hintergrund des Sexualdeliktes werden dementsprechend nicht nur nicht berührt, sondern sogar in ihrer Wirksamkeit und Aussichtslosigkeit verstärkt.
3.6
Täterinnen von sexueller Ausbeutung ohne Behinderung
Laut Schätzungen sollen Frauen zu fünf bis 20 Prozent Täterinnen von sexueller
Ausbeutung sein, aber eine wissenschaftliche Untersuchung gibt es zu diesem Thema noch nicht.
Michele Elliott (1995) hat Erfahrungen von 127 Frauen und Männern ausgewertet,
die von einer oder mehreren Frauen sexuell ausgebeutet wurden. Die 95 Frauen und
32 Männer, die ihre Gewalterfahrungen mitteilten, wurden zu 45 Prozent von ihren
Müttern ausgebeutet, gefolgt von anderen weiblichen Verwandten mit 21 Prozent. An
dritter Stelle, nämlich zu 14 Prozent stehen die Babysitterinnen. Das deutet darauf
hin, daß Täterinnen Opfer vorwiegend aus ihrer allernächsten Umgebung wählen
(51f.).
3.7
TäterInnen von sexueller Gewalt mit Behinderung
In früherer Literatur zu Sexualstraftätern wurde das Vorurteil verbreitet, daß Sexualverbrecher nur über geringe Intelligenz verfügen. Ein Autor ging sogar soweit: „Niemand mit einiger kriminologischer Erfahrung würde versuchen, die Feststellung zu
widerlegen, daß, wenn alle Schwachsinnigen aus der Gemeinschaft entfernt würden,
sich das Gesamtbild der Kriminalität erheblich verändern würde und in der Tat eine
sehr große Anzahl von Delikten nicht länger oder nur so sporadisch begangen würden, daß sie nicht einmal ein soziales Problem darstellten.“ (Selling 1939, 178)
Wenn auch nicht gerade alle VerfasserInnen solcher Texte dermaßen diskriminierende Vermutungen in die Welt setzten, so hat sich doch bis heute das Vorurteil
weitgehend gehalten, Männer mit geistiger Behinderung seien triebhaft („oversexed“)
und daher potentielle Sexualverbrecher. Auch Männer ohne Behinderung sind nicht
zum größten Teil Sexualverbrecher, genau so wenig sind es Männer mit Behinderung. Aber einige, ob mit oder ohne Behinderung sind es, denn genauso, wie es
nichts behinderungsimmanentes gibt, das jemanden zum Sexualverbrecher machen
könnte, gibt es auch nichts, das es verhindern könnte.
In der Forschung zu den Sexualdelikten wird deutlich, daß kein ungewöhnlich hoher
Anteil von Tätern mit geistiger Behinderung besteht. Gebhard u.a. (1965) berichtet
von 10 bis 20 Prozent der Delinquenten, die als „geistig gestört“ bezeichnet werden.
20% ihrer Taten betrafen sexuelle Ausbeutung von Kindern. In der Literatur sowie in
Erzählungen von Professionellen wird immer wieder darauf hingewiesen, daß einige
der begangenen Verbrechen sehr einfach durch adäquate Sexualaufklärung und
-erziehung hätten verhindert werden können.
Etwas anders schauen die Zahlen aus, wenn gefragt wird, wieviele Menschen mit
Behinderung ihresgleichen in den Einrichtungen sexuell ausbeuten. In diesem Zusammenhang tauchen auch bei einer einzigen Studie indirekt Frauen mit Behinderung als Täterinnen auf. Ansonsten ist unklar, ob nur Männer bezüglich Täterschaft
23
untersucht wurden oder ob auch da wieder nicht nach Geschlechtern unterschieden
wurde. Furey und Niesen fanden heraus, daß in 171 Fällen von Menschen mit geistiger Behinderung, die sexuell ausgebeutet wurden, 42% der Täter auch geistig behindert waren (1993, 286). Von diesen waren 94% männlich. Im Gegensatz zu Männern
ohne Behinderung, die zu höheren Anteilen sexuelle Gewalt an Frauen ausüben,
beuten Männer mit Behinderung Frauen und Männer zu gleichen Teilen aus (Griffith
u.a. 1985, 51).
4.
Umgang mit Sexualstraftätern ohne Behinderung
Um den gesellschaftlichen Umgang mit Sexualstraftätern zu verstehen, geht es darum, vorab das Alltagsverständnis von sexueller Gewalt und den 'normalen' Umgang
mit Opfern und Tätern in der öffentlichen und veröffentlichten Meinung zu rekapitulieren. Das bedeutet, die Besonderheit des Themas im Kanon von Sexualitäts- und
Männlichkeitskultur zu verstehen. Dazu gehört auch, die Manifestation der Männlichkeitsmuster in der Negation, d.h. in der Definition von Abweichung und insbesondere in der Inkrimination von Abweichung im Strafverfolgungs-, Rechts-, Rechtsprechungs- und Vollzugssystem, zu erkennen.
4.1
Hegemoniale Männlichkeit - legitime Gewalt und sexuelle Gewalt
Joachim Kersten (1995) setzt den Begriff des (Sexual)Straftäters in Beziehung zu
den gemeinhin üblichen und mehrheitsfähigen Kulturmustern von Männlichkeit und
versucht diese - quasi - als Negativabzug von hegemonialer Männlichkeit zu verstehen. Als Bezugsfeld von männlicher sexueller Gewalt gelten damit die tragenden
Prämissen hegemonialer Männlichkeit:
• "Der richtige Mann wird für seine Arbeit gut bezahlt, macht etwas Sinnvolles und
läßt sich dabei von niemandem reinreden, sondern weist anderen weniger wichtige Arbeiten zu. Unbezahlte oder schlecht bezahlte Arbeit, abhängige Arbeit und
Arbeiten mit Konnotation weiblicher Fürsorge: im Haus, Reinigungstätigkeiten,
Kinderversorgung, Versorgung und Pflege von Kranken und Alten gelten als unmännlich.
• Ein echter Mann tritt für sich und andere ein. Wird er herausgefordert, so muß er
sich stellen etc. Er muß Schwächere wie Frauen und Kinder verteidigen und muß
in der Gemeinschaft anderer absolut verläßlich sein. Er kennt Techniken des
Kämpfens und beherrscht Waffen.
• Ein Mann ist anders als eine Frau, aber er braucht eine Frau, um ein richtiger
Mann zu sein. Für Sexualität ist der erigierte Penis und die Penetration des weiblichen Geschlechtsorgans wichtig. Sexualität zwischen Menschen gleichen Geschlechts ist nicht 'normal'. Ein Mann paßt auf seine Frau und seine Töchter auf
und beschützt sie vor den anderen Männern." (Kersten 1995, 24)
24
Der Sexualstraftäter stellt nach diesem Verständnis das 'äußerste Gegenteil von
rechtmäßigen Praktiken der Sicherstellung des Nachwuchs, des Beschützens und
des Versorgens der Gemeinschaft' dar. Letztlich beziehen sich auch die gesellschaftlichen Reaktionen auf Gewalttaten und Täter auf die oben angeführten Prämissen hegemonialer Männlichkeit. Dabei geht es eher 'um die Unterordnung bestimmter junger, gefährlicher Männlichkeiten als um den Schutz der Opfer'.
4.2
„Normal crimes“
Die Alltagstheorie von Kriminalität bildet sich vor allem in der mehr oder minder veröffentlichten Kriminalitätsangst ab und hat weitreichenden bis konstituierenden Einfluß
auf die Systeme der Strafverfolgung, der Rechtssprechung sowie der Vollzugspraxis.
Kriminalitätsangst stellt das je persönliche und lebenspraktisch wirksame Konzept
von Verbrechen dar und bildet mithin einen Spiegel für das Alltagsverständnis von
Kriminalität. Dieses Konstrukt kann auch als „normal crime“ bezeichnet werden.
Diesem Grundverständnis entsprechend stellt Joachim Kersten (1991, 41ff.) Kriminalitätsangst und die Bereitschaft, in einer Tat ein Verbrechen zu sehen, mit den traditionellen und kulturabhängigen Männlichkeitsmustern und dem nach wie vor de facto gegebenen 'heile-Familie-Mythos' in Zusammenhang. 'Normal crime' bezeichnet
danach in der Regel ein Verbrechen, wenn die Tat Ausdruck destruktiver, bedrohlicher und quasi 'böser' Männlichkeit ist, der Täter dem Opfer nicht persönlich bekannt ist bzw. aus seinem oder ihrem engeren Umfeld kommt.
Dieses ausgesprochen enge Verständnis von angstauslösender und in der Folge
strafwürdiger Kriminalität im Alltagsverständnis findet sich auch in der Judikatur und
in der Rechtssprechung mehr oder weniger unkorrigiert manifestiert - und wird erst
neuerdings durch die entsprechende Öffentlichkeitsarbeit im Kontext der Frauenbewegung und dem dadurch mittlerweile bewirkten Wandel in der öffentlichen Meinung als auch in der Alltagstheorie tendenziell aufgebrochen, besonders mit dem
Schwerpunkt auf Sexualdelikte als Verstöße gegen das Recht auf selbstbestimmte
Sexualität; also: Vergewaltigung in der Ehe oder Partnerschaft; Inzest und Kindesmißhandlung durch Väter sowie nahestehende Verwandte. Dementsprechend haben
erst in den letzten Monaten Initiativen zu entsprechenden Reformen des Sexualstrafrechts in Österreich und der BRD geführt. Bis zur durchgehenden Umsetzung in
Strafverfolgung und Rechtsprechung selbst ist es vermutlich noch ein langer Weg.
4.3
Sexuelle Gewalt - eine Sache der Auslegung?
Monika Frommel unterscheidet in der Rechtspraxis der BRD einen engeren und einen weiteren Begriff von Gewalt. Historisch betrachtet, ergibt sich für Frommel ein
Auseinanderklaffen von einer weiten, ja geradezu uferlos werdenden Begrifflichkeit
von Gewalt im Eigentumsdeliktbereich (z.B. Handtaschenraub etc.) sowie bei Verstößen gegen die öffentliche Ordnung (z.B. Sitzblockaden auf öffentlichen Straßen)
auf der einen Seite und einer zunehmenden Verengung des Gewaltbegriffes bei Sexualdelikten. Als sexuelle Gewalt gilt dann - vor dem Gesetz - nur die direkte, unmittelbar final-funktional mit Geschlechtsverkehr verknüpfte Gewalthandlung mit erheblichem Krafteinsatz (1993, 22-29). Quasi als Voraussetzung für eine gerichtliche Sanktion von sexueller Gewalt hat die/der Überlebende entsprechende Verletzungen vor25
zuweisen. Sogar die knappe zeitliche Verzögerung zwischen Gewalthandlung und
Sexualhandlung - z.B. Applikation eines Präservativs - gilt unter diesen Vorzeichen
als Indiz, das sexuelle Gewalt ausschließt und Einverständnis des/der Ausgebeuteten 'vermuten' läßt.
Durch die enge Begriffsauslegung von sexueller Gewalt ergibt sich für die Richter ein
Auslegungsspielraum, der in der Regel zugunsten von Tätern gehandhabt wird, die
nicht dem Alltagsbild der ‘normal crime’ entsprechen.
Sexuelle Gewalt als Straftatbestand sowie als Strafmotiv kommt in dieser Sicht der
Dinge überwiegend nur dann zum Tragen, wenn der klassische Fall eines „normal
crime“ vorliegt; d.h. ein dem Opfer fremder „Triebtäter“ nach Möglichkeit an einem
dem Opfer nicht vertrauten Ort (im Freien, im Auto etc.) gewaltsam einen Geschlechtsverkehr vollzieht. Sexuelle Gewalt in der Ehe oder im engeren Bekanntenkreis läge dagegen erst bei Vorliegen schwerster Verletzung bzw. Tod des Opfers
vor.
Vor diesem Hintergrund gestalten sich denn auch die Versuche der Täter, sich, ihr
Verhalten bzw. ihre Tat zu entschuldigen, besonders leicht. In letzter Konsequenz
genügt ein Hinweis darauf, daß 'mann' kein pathologischer Triebtäter ist. In der Darstellung der Tat wird dem Opfer neuerlich Gewalt angetan: die Entpersönlichung und
allem voran die persönliche Abwertung erfährt in der Verharmlosung der Tat und der
Umkehrung von Täter- und Opfer-Status eine neue Qualität.
5.
Behandlung von Sexualstraftätern ohne Behinderung
In den letzten 15 Jahren sind dank dem kontinuierlichen Engagement vieler Frauen
die verschiedensten Unterstützungsangebote für von Gewalt betroffene Frauen und
Kinder entstanden, die zunehmend differenziert und professionalisiert wurden. Die
Arbeit der Frauenprojekte basiert seit Anfang auf einem gesellschaftspolitischen Verständnis von Gewalt und beinhaltet sowohl die individuelle Unterstützung der betroffenen Frauen und Kinder wie auch das Einfordern von gesellschaftlichen Veränderungen. In den USA wurde durch ein bahnbrechendes Projekt die Erfahrung
gemacht, daß durch öffentliche Aufmerksamkeit und öffentliches Engagement gegen
Gewalt die Mißhandlung von Frauen und Kindern deutlich abnahmen.
„Männergewalt macht keine Männer“ war im Dezember 1995 unvermittelt auf Plakatwänden zwischen Zigaretten- und Jeansreklamen in Zürich zu lesen. Damit hatte die
Stadtregierung der männlichen Gewalt den Kampf angesagt. Ähnliche Initiativen gibt
es auch in versciedenen anderen Städten und Ländern, wie beispielsweise die Kampagne gegen “Gewalt in der Familie” von Stadt und Land Salzburg im Frühjahr
19972. Solche Interventionsprojekte zeugen von einer entscheidenden Haltungsänderung gegenüber männlicher Gewalt, die nicht mehr davon ausgeht, daß „Gewalt
Männer macht“ und die Hauptverantwortung für die Verhinderung von Gewalt auf die
Opfer abgeschoben wird. In Zürich müssen seit dieser Kampagne geschlagene
Frauen nicht mehr aus den eigenen vier Wänden fliehen; die mißhandelnden Männer
werden aus der gemeinsamen Wohnung entfernt und kommen mindestens 24 Stunden in Untersuchungshaft. Österreich geht in dieser Beziehung noch konsequenter
vor. Hier sind seit ersten Mai dieses Jahres Opferschutzgesetze nach amerikani2
Siehe hierzu die Broschüre des Amtes der Salzburger Landesregierung
26
schem Vorbild in Kraft getreten. Jetzt kann und soll die Polizei den gewalttätigen
Mann aus der Wohnung wegweisen.3 Die mißhandelte Frau hat das Recht, bei Gericht zu beantragen, daß der Gewalttäter nicht zurückkehren und sich zudem nicht an
gewissen Orten aufhalten darf (z.B. im Quartier, wo die betroffene Frau wohnt, oder
in der Nähe des Kindergartens). Er muß jedes Zusammentreffen sowie die Kontaktaufnahme mit der Familie vermeiden. Wenn er gegen diese gerichtliche Verfügung
verstößt, wird er zwangsweise entfernt.
Am weitesten geht die Initiative der Basler Frauenliste, die eine „Gewaltsteuer für
Männer“ einfordert. Auch bei der Abgeordneten der Grünen im Bayrischen Landtag,
Elisabeth Köhler, steht diese Idee hinter ihrer Forderung, daß bei Männern ab 16
Jahren bescheidene 40 Mark jährlich als „kommunale Gewaltabgabe“ eingefordert
werden sollen.
In der Zwischenzeit gibt es in verschiedenen westeuropäischen Städten Interventionsprojekte gegen männliche Gewalt. Die meisten beziehen sich auf das US - Domestic Abuse Intervention Projekt (DAIP) in Duluth (Minnesota), das schon seit 1981
existiert. 1981 haben sich in Duluth (93'000 EinwohnerInnen) Einrichtungen auf
kommunaler und Bezirksebene sowie private Träger im Rahmen des DAIP auf
schriftlich festgehaltene Strategien und ein koordiniertes Vorgehen bei Gewalt geeinigt. Primäres Ziel des DAIP ist der Schutz der betroffenen Frauen vor Gewalt durch
ein Maßnahmenpaket, das Hilfsangebote für das Opfer, rechtliche Sanktionen sowie
Rehabilitationsprogramme für den Aggressor und gegebenenfalls dessen Einweisung
in eine Haftstrafe kombiniert. Der mutmaßliche Täter wird von der Polizei in Gewahrsam genommen, wenn eine Gewalttat mit körperlichen Verletzungen festgestellt wird
oder wenn eine hohe Wahrscheinlichkeit besteht, daß Gewalt angewandt bzw. daß
mit Gewaltanwendung gedroht wurde/wird, und wenn die streitenden Parteien zusammenleben oder schon einmal zusammen gelebt (Ex-GattInnen) haben. Die Anklageerhebung muß innerhalb von 36 Stunden erfolgen.
Das Gefängnis informiert das Frauenhaus, das eine Mitarbeiterin zur mißhandelten
Frau schickt, solange der Täter im Gefängnis ist. Diese bietet Hilfe an und orientiert
über die Möglichkeit, dem Täter mit einer Verfügung zu untersagen, an den gemeinsamen Wohnort zurück zu kommen. Das DAIP schickt einen freiwilligen Mitarbeiter
zum mutmaßlichen Täter ins Gefängnis. Bekennt sich ein Täter schuldig oder wird er
vom Gericht als schuldig befunden, erfolgt die Anordnung einer Voruntersuchung, die
durch einen Bewährungshelfer durchgeführt wird. Bei einem ersten einschlägigen
Straffall erfolgt in der Regel eine Haftstrafe von 30 bis 90 Tagen mit einjähriger Bewährung. Bedingung für die Bewährung ist meistens die Teilnahme an einem von
DAIP angebotenen Beratungs- und Erziehungsprogramm für gewalttätige Männer.
Die Frau kann mit Hilfe einer Anwältin eine einstweilige Verfügung erwirken, daß der
Täter das Haus nicht mehr betreten darf. Es kommt zu einer richterlichen Anhörung.
Wenn der Täter als schuldig befunden wird, kann ihm der Zutritt zur gemeinsamen
Wohnung und die Kontaktaufnahme mit der Frau verboten werden. Die Richterin/der
Richter entscheidet auch über Vormundschaftsfragen und Besuchsregelungen bei
Kindern.
Das DAIP hat als Hauptaufgaben vor allem die laufende Kontrolle, wie die Justiz und
andere kommunale Einrichtungen mit Fällen der Gewalt umgehen, die Berichte von
Polizei und BewährungshelferInnen zu begutachten, die Inanspruchnahme von Beratungspflichten zu beobachten und Treffen für einen gesicherten Informationsfluß zu
3
§ 38a Wegweisung und Rückkehrverbot bei Gewalt in Wohnung im BGBl. Nr. 566/1991
zuletzt geändert durch das Bundesgesetz BGBl. Nr. 201/1996
27
organisieren. Jeder zwanzigste Mann in Duluth ist bereits ans DAIP verwiesen worden, 80% der Frauen, die Dienstleistungen des DAIP und der Women’s Coalition in
Anspruch genommen haben, erfahren heute keine Gewalt mehr (Pence 1988).
Der erste Versuch, das amerikanische Modell auf deutsche Verhältnisse zu übertragen, fand 1989 in Gladbeck statt. In der Zwischenzeit gibt es in verschiedenen europäischen Städten Interventionsprojekte. In Österreich gibt es noch kein Interventionsprojekt.
In diesem Modell dokumentiert sich ein Paradigmenwechsel, der bedeutet, daß Männer die Verantwortung für ihr Handeln übernehmen und auch die Folgen selber tragen müssen. In diesem Rahmen können beschuldigte Männer zur Teilnahme an Behandlungs- oder sozialen Trainingsprogrammen verurteilt werden. Die hauptsächlichste Legitimation der Behandlung von Tätern von sexueller Gewalt ist die
Verhinderung von erneuten sexualisierten Gewalthandlungen. Aufgrund eines Sexualdeliktes gibt es Opfer, und deren Interessen haben immer an erster Stelle zu stehen. Das Risiko eines Rückfalls in naher Zukunft muß gering eingeschätzt werden,
wenn ein Täter in eine ambulante Behandlung einbezogen werden soll. Das bestimmende Kriterium muß also immer die Sicherheit des (künftigen) Opfers sein. Eine
Wiederholung kann natürlich auch verhindert werden, indem der Täter aus der Gesellschaft gezogen und ins Gefängnis gebracht wird. Aber nach einiger Zeit kommt er
wieder aus dem Gefängnis heraus und kann erneut zum Täter werden. Die Rückfallquote ist sehr hoch. 80 Prozent der Täter ohne Therapie werden nach der Strafentlassung rückfällig und 25 Prozent, die zum Teil an einem Therapieprogramm teilgenommen haben (Wyre 1991, 29). Eine Gefängnisstrafe fördert zudem immer die Verleugnung, weil man als Täter von sexueller Ausbeutung im Gefängnis in der Hackordnung letzter ist, und damit wird Verleugnung der begangenen Tat zur Überlebensstrategie. In seltenen Fällen wird am Verhaltens- und Gefühlsrepertoire und am Gedankengut eines Täters während des Gefängnisaufenthaltes etwas zur Veränderung
getan. „Der Haß gegen diejenigen (Familie, Polizei, Justiz), die den Täter, jedenfalls
nach seiner Überzeugung, durch Auferlegen einer Gefängnisstrafe abgewiesen haben, ist zudem nur noch größer geworden, als er schon war. Dies kann sogar bewirken, daß sich das kompensatorisch mißbräuchliche sexuelle Verhalten, das der Täter
zeigt, noch tiefer in seiner Persönlichkeit verankert und für ihn noch schwerer beherrschbar wird. Es kann deshalb sinnvoll sein, für diese Gruppe in einem späteren
Stadium des Gefängnisaufenthalts die Möglichkeit offen zu halten, diesen mit einer
Behandlung zu verbinden“ (Bullens 1991, 7). Das Ziel der Täterbehandlung soll also
eine bleibende Verhinderung von sexuellen Gewalttätigkeiten sein und nicht nur eine
zeitlich begrenzte. Das bedeutet, daß Täter von sexuellen Gewaltdelikten auf jeden
Fall behandelt werden sollten, weil sie in bezug auf die körperliche Identität von anderen grenzüberschreitend handeln, weshalb der Schutz der Integrität einer jeden
und eines jeden in dieser Hinsicht an oberster Stelle stehen muß.
Die Behandlung von Tätern von sexueller Gewalt ist keine neue Entwicklung, sondern hat eine längere Tradition (Beyaert 1989), allerdings vorwiegend im stationären
Rahmen, wobei es um schwerere Delikte geht. In den skandinavischen Ländern Europas gibt es auch schon jahrelange Erfahrungen mit ambulanter Behandlung von
Tätern von sexueller Ausbeutung von Kindern. Wir beziehen uns im folgenden auf
zwei Vorträge von Bullens (1993) und damit auf die Praxis mit Sexualstraftätern in
den Niederlanden.
28
Täter von sexuellen Gewalthandlungen sind in der Regel nicht selber motiviert für eine Behandlung, sondern es braucht einen externen Druck für eine Veränderung im
Denken, Fühlen und Handeln bezüglich der sexuellen Ausbeutung. „Subjektiver Leidensdruck wird bei Tätern durchgehend nicht wahrgenommen, höchstens manchmal
Erleichterung, wenn der Mißbrauch ans Licht kommt. Wenn von Motivation gesprochen werden kann, so liegt diese vornehmlich beim Therapeuten, der seinerseits
versuchen muß, beim Täter die Motivierbarkeit für eine Behandlung einzuschätzen.
Erst nach einiger Zeit - und manchmal auch nie - kann ein Stück eigener Motivation
beim Täter entstehen“ (Bullens 1993,4). Weil das Endziel einer solchen Behandlung
nicht die „Heilung“ des Täters sein kann (das kann bestenfalls möglich sein), sondern
für den Rest seines Lebens die Impulse, die zur sexuellen Ausbeutung führen können, unter Kontrolle zu halten, erfordert diese Art von Behandlung einen anderen
Ausgangspunkt. Zentral hierbei ist die Haltung des Therapeuten. Allen Sexualstraftätern ist eines gemeinsam: Sie fühlten sich in ihrer Kindheit fundamental abgewiesen
(Frenkel 1989). Daher ist es von zentraler Bedeutung, daß es dem Therapeuten gelingt, sich dem Täter in vollster Zuwendung zu nähern, ansonsten wird er ihn sehr
schnell wieder verlieren.
Im Gegensatz zu sonstigen Therapien, bei denen die Freiwilligkeit ein wichtiges Moment ist, wird in diesem Fall der Täter zur Behandlung oft in irgendeiner Weise verpflichtet, sich für die von außen formulierten Behandlungsziele einzusetzen.
5.1
Behandlungsziele
Das Delikt-Szenarium
In einem frühen Stadium der Behandlung muß das Delikt rekonstruiert werden. Dabei
wird mit dem Täter zusammen ganz genau untersucht, wie die Gewalthandlung geplant und ausgeführt wurde und welche Gefühle in welcher Phase vorherrschten.
Dieses Deliktszenario ist deswegen von zentraler Bedeutung, weil es eine Möglichkeit bietet, ihm die sexuelle Ausbeutung bewußt zu machen. Täter haben in der Regel ein Bild von ihrer Gewalttat, welches diese nicht nur verharmlost, rationalisiert
und gut verdrängen läßt, sondern sie geben auch die Verantwortung an das Opfer
oder sonst eine Instanz von außen ab. Solange er die Verantwortung für das Delikt
nicht übernimmt, „nicht lernt, mit den vorangehenden Faktoren wie Gefühlen von Ärger, Wut, Verzweiflung, Panik und Angst (zusammengeballt als „anonyme Spannung“) in effektiver Weise umzugehen, so lange kann er sich selbst auch nicht vollständig unter Kontrolle halten“ (Bullens 1993, 5).
29
Verantwortung übernehmen
Lernen, Verantwortung zu übernehmen, ist wohl das Hauptziel. Es kann sein, daß die
Verantwortung vom Täter schon in einem frühen Stadium der Behandlung übernommen wird, daß sie oft aber emotional zu wenig oder noch gar nicht gestützt, sondern
eine abgespaltene Sache des Kopfes ist. Die Täter müssen im Verlauf ihrer Behandlung einen Entschuldigungsbrief an Überlebende schreiben, in dem deutlich zum
Ausdruck kommt, daß sie allein die Schuld tragen für das, was passiert ist. Vorschnelle Entschuldigungsbriefe beinhalten oft offene oder versteckte Vorwürfe an die
Adresse der Überlebenden oder wiederum Drohungen. Deswegen ist das richtige
‘timing’ eines solchen Briefes wichtig, für das sich der Therapeut auch mit den anderen Fachleuten, die in diese Behandlung miteingebunden sind, absprechen muß. Der
Prozeß eines solchen Entschuldigungsschreibens kann innerhalb der Behandlung
ein bis eineinhalb Jahre beanspruchen. Der Brief wird aber erst dann wirklich abgeschickt, wenn die Überlebende/der Überlebende bereit ist, diesen Brief zu empfangen.
Durch die Augen der Anderen schauen lernen
Viele der Täter haben eine egozentrische Erlebniswelt und haben sich in der Regel
nie gefragt, wie sich die Person, der sie die Gewalt angetan haben, gefühlt haben
muß. Die eigenen Bedürfnisse der Täter haben immer im Vordergrund gestanden.
Pädosexuelle behaupten zwar immer wieder von sich, den kindlichen Bedürfnissen
Rechnung zu tragen, ihnen gerecht zu werden, aber bei genauerer Analyse zeigt sich
auch da, daß es sich um egozentrische Bedürfnisse handelt. „Täter, die sagen, daß
sie immer viel „Liebe“ für das Kind empfunden haben, verschleiern damit tatsächlich
egozentrisch orientierte Eigenliebe“ (Bullens 1993, 7). Es geht also darum, daß der
Täter die wirklichen Gefühle, Gedanken und das Verhalten des Opfers verstehen und
berücksichtigen lernt. Wenn Täter nicht sensibel werden für die zerstörerischen Auswirkungen ihrer Taten, sind Rückfälle nicht auszuschließen. „Daß der Täter die (potentiellen) Folgen des Mißbrauchs für das Opfer durchlebt hat, bildet damit einen
Pfeiler der Täterbehandlung. ‘Empathie für den anderen haben’ beinhaltet, daß auch
in der persönlichen Entwicklung des Täters ein emanzipatorischer Sprung nach vorne gemacht wird, von kindlich-egozentrischen Bedürfnissen ‘zur Rücksichtnahme auf
die Bedürfnisse der anderen’. Unseres Erachtens bedeutet ‘Erwachsen sein’, daß
auf Basis der Gleichwertigkeit sowohl die eigenen Bedürfnisse wie die der anderen
wahrgenommen werden in der Interaktion mit den anderen. In diesem Sinne kann die
Behandlung der Täter als eine Form der ‘Nach-Erziehung’ gesehen werden“ (Bullens
1993, 8).
Vermitteln von Einsicht in den Unterschied zwischen Sexualität von Kindern und derjenigen von Erwachsenen
Wenn es sich um Sexualdelikte an Kindern handelt, ist typisch, daß Täter die Kinder,
an denen sie die Gewalt ausüben, auf ihr (pseudo-) erwachsenes Erlebnisniveau
hinaufheben. Damit wird eine Ebenbürtigkeit in die Beziehung hineininterpretiert, die
bezüglich der dem Täter zur Verfügung stehenden Ressourcen im Gegensatz zu
denjenigen des Kindes absolut nicht vorhanden sein kann und auch aus entwicklungspsychologischer Sicht unmöglich ist. „Die kindliche Sexualität ist jedoch von
30
ganz anderer Art als die Erwachsenen-Sexualität. Es ist beispielsweise wie bei einem
vierjährigen Kind, das die Zahlen drei und vier reproduzieren kann, einem sechsjährigen Kind, das die Zahlen drei und vier zusammenzählen und einem achtjährigen
Kind, das die Zahlen drei und vier multiplizieren kann, auf der einen Seite und wie
beim Erwachsenen auf der anderen Seite, der mit all seinen mathematischen Kenntnissen und Erfahrungen hochstehende algebraische Kunststücke ausführen kann
durch eine Quadratgleichung mit den Zahlen drei und vier darin und mehreren Unbekannten. Sowohl das Kind wie der Erwachsene machen von denselben Zahlen
Gebrauch, aber damit endet der Vergleich. Jedoch nicht für den Täter des sexuellen
Mißbrauchs, der auf dem Gebiet der Sexualität dem Kinde Gefühle, Gedanken und
Verhalten unterschiebt, die das Kind noch nicht verstehen kann, ganz zu schweigen
von integrieren in die eigene Erlebniswelt. Die wortlose Verwirrung, der das Kind dadurch ausgesetzt ist, der Mangel an Urteilsvermögen, was es mit diesen nicht altersgemäßen sexuellen Erfahrungen machen soll und wodurch es sich - isoliert von der
Umgebung, wegen des nicht zu handhabenden Geheimnisses - oft noch stärker auf
den Täter ausrichtet, wird durch den Täter oft als eine (implizite) Zustimmung mit den
sexuellen Handlungen gesehen.“ (Bullens 1993, 9)
Erlernen von sozialen Fähigkeiten
Viele Täter weisen einen Mangel an sozialen Fähigkeiten auf und geben an, in ihrer
Kindheit häufig abgelehnt worden zu sein. Das hat zur Folge, daß sie ihr Selbst dauernd wieder beweisen müssen. Die früher erlebte Ohnmacht wird durch Macht ersetzt, die man jetzt selber ausübt, auch in Form der Kontrolle über andere. „Dieses
letzte Phänomen findet man in zwei Modalitäten: In einem Fall sprechen wir von einem autoritären (Macht)Auftreten (dies gilt sicher innerhalb der Familiensituation;
außerhalb kann er sich sehr unterwürfig verhalten). Dabei macht der Täter mit dem
notwendigen Zwang/Drang das Opfer zum Objekt, eigentlich zu einem Ding. Im anderen Fall sprechen wir von einem kindlichen Auftreten. Es kann dann von einem untergeordneten Verhalten in dem Sinne gesprochen werden, daß er den Kontakt mit
Erwachsenen vermeidet. Der Täter zieht sich daraufhin in der Kontaktnahme mit dem
Kind zurück und macht dies auf einem emotional kongruenten kindlichen Niveau.
Auch bei dieser Art von Kontakt kann übrigens von Zwang/Drang gesprochen werden, aber er wird weniger manifest, mehr subtil ausgeübt. In beiden Fällen geht es
um Verhalten, in welchem die selbstbewußte Komponente fehlt. Der gleichwertige
Umgang mit einem Partner, der mündig genug ist, seine/ihre eigenen Wünsche/Bedürfnisse deutlich zu machen, und gleichzeitig imstande ist, Grenzen zu setzen, fehlt im Verhaltensrepertoire des Täters. Grenzklärungen in Bezug auf sich
selbst, wie gegenüber anderen, sind in ihrer Art diffus und/oder elastisch“ (Bullens
1993, 10). Täter müssen also im Verlauf des Behandlungsprozesses klare Grenzsetzungen, selber Bedürfnisse äußern, aber auch diejenigen von anderen respektieren lernen. Der Umgang mit Grenzen wird durch das Vermitteln von sozialen Fähigkeiten gelernt. Dabei lernt der Täter, mit Spannungen nicht auf eine unterdrückende sondern auf eine selbstbewußte Art umzugehen.
31
5.2
Behandlungssetting
Die eben aufgeführten Behandlungsziele können in Form verschiedener Behandlungssettings angegangen werden.
Die individuelle Behandlung
In den Niederlanden finden Behandlungen vorwiegend in einer Zweier-Situation statt,
im Gegensatz zu angelsächsischen Ländern, wo viel mehr gruppenorientiert gearbeitet wird. Als wichtiger Vorteil der individuellen Vorgehensweise kann das phasenweise und zielorientierte Vorgehen innerhalb des therapeutischen Prozesses genannt
werden: Unter Berücksichtigung einer gewissen Marge kann eine fokale Therapiemethode mit einem klar umrissenen Etappenplan absolviert (Bruinsma 1987; Bullens
1988; Frenken 1989) und können die Behandlungsziele nacheinander angegangen
werden.
Die Gruppenbehandlung
In jeder der vier Behandlungsgruppen, die es bis 1993 in Holland gab, waren pro
Gruppe acht Mitglieder und zwei bis drei Therapeuten. Bei dieser Art der Behandlung
ist Homogenität der Problematik zentral gegeben, ungeachtet der unterschiedlichen
Täter wie Exhibitionisten, Pädosexuelle, Inzesttäter oder Vergewaltiger. „Wegen dieser Homogenität ist es möglich, daß der Täter, der aufgrund seiner spezifischen
Problematik den Mißbrauch zunächst hartnäckig leugnet (Salter 1988; Bullens
1990), gerade deswegen in die Öffentlichkeit kommen darf/kann. Alle Täter haben
sich selbst als solche durch die Teilnahme an der Tätergruppe definiert“ (Bullens
1993). In einer Gruppe sind die jeweiligen Täter auch in verschiedenen Phasen der
Behandlung, was den Vorteil hat, daß Täter, die schon lange in der Gruppe sind,
neue Mitglieder oft gezielter provozieren und damit konfrontieren können als die Therapeuten. Dazu kommt, daß die Veränderungsmöglichkeiten oft größer sind, gerade
weil man unter Seinesgleichen ist. Ein Nachteil der offenen Gruppenbehandlung
kann sein, daß es weniger möglich ist, sehr fokal zu arbeiten. Mit Tätern in verschiedenen Phasen kann nicht innerhalb eines ununterbrochenen Konzeptes, bei dem
man im voraus eine Selektion der Themen trifft, gearbeitet werden. Deswegen ist es
wichtig, für jeden Täter einzeln festzulegen, inwieweit er innerhalb des Gruppenprozesses die verschiedenen Behandlungsziele absolviert hat.
Familienorientierter Ansatz
Der familienorientierte Ansatz der Täterarbeit wird und wurde vor allem dort gemacht,
wo man die Problematik der sexuellen Ausbeutung in erster Linie als Problem eines
dysfunktionalen Familiensystems versteht und nicht als Machtproblematik. Innerhalb
einer Familie haben die einzelnen Familienmitglieder überhaupt nicht gleich viel
Macht. Diese Machtprozesse spielen auch in einem familienorientierten Behandlungsansatz eine wichtige Rolle. Was in der systemischen Familientherapie ausschaut wie „offene Kommunikation“, erweist sich in vielen Fällen als weiteres Zudecken der Tatsache, daß die Ausbeutungshandlungen während der Behandlung weiterlaufen. Um in der Therapie den Schein zu wahren, manipuliert der Täter in der
32
Regel die Familienmitglieder zu Hause. Es geht darum, das Delikt der sexuellen
Ausbeutung nicht als Familienproblem zu sehen, zu dem alle Familienmitglieder ihren Teil beigetragen haben, sondern anzuerkennen, daß die Verantwortung für die
Gewalttat ausschließlich beim Täter liegt.
Der Behandlungskontext: freiwillig oder innerhalb eines gesetzlichen Rahmens
Die Frage, ob sich der Täter freiwillig einer Behandlung oder innerhalb des gesetzlichen Rahmens unterzieht, hängt wesentlich davon ab, ob die oder der Überlebende
eine Anzeige gemacht hat oder nicht. Ohne Anzeige ist eine Behandlung innerhalb
des gesetzlichen Rahmens nicht möglich, und es muß nach einer Behandlungsmöglichkeit auf freiwilliger Basis gesucht werden. Aufgrund des niederländischen Grundgesetzes kann keine Behandlung erzwungen werden. Innerhalb des verpflichtenden
Rahmens hat der Täter die Möglichkeit zwischen zwischen einem Behandlungsangebot und weiteren strafrechtlichen Maßnahmen zu wählen.
„Der Vorteil der Behandlung innerhalb eines verpflichtenden Rahmens ist, daß damit
ein externer motivierender Faktor eingebaut ist. Dies ist wichtig, um den Täter langfristig in Behandlung behalten zu können. Einfach gesagt, es geht um die Drohung,
die notwendig ist, um ein frühzeitiges Abbrechen durch den Täter zu verhindern. Täter haben ohnehin nie ein freiwilliges Interesse an einer Behandlung. Ihr Interesse,
wie sie es erleben, liegt darin, sich in eine sichere Position zu bringen und ihr Doppelleben durch das kontinuierliche Verleugnen, Bagatellisieren und Rationalisieren
aufrecht zu erhalten. ... Freiwillige Hilfe für den Täter steht oder fällt mit der Faust,
die man gegen die Macht des Täters machen kann, wie sie im Mißbrauchsverhalten
zum Vorschein gekommen ist“ (Bullens 1993, 14f.). Deshalb gilt als allgemeine Regel, daß der Behandlung innerhalb eines verpflichtenden Rahmens der Vorzug gegenüber der freiwilligen Behandlung gegeben werden muß. Ob diese Behandlung innerhalb eines verpflichtenden Rahmens dann ambulant oder stationär, kombiniert mit
oder ohne eine (un)bedingte Freiheitsstrafe stattfindet, hängt wieder eng mit der Art
und der Schwere des erfolgten Deliktes zusammen. Die oder der Überlebende
und/oder der nicht ausbeutende Elternteil kann also in hohem Maß mitbestimmen, ob
der Täter in eine freiwillige oder verpflichtende Behandlung kommt. Bei freiwilliger
Behandlung ist ein Vertrag zwischen Täter und Therapeut wichtig, mit dem der Therapeut notfalls drohen kann.
Unabhängig von der Schwere des Delikts und der Einschätzung des Rückfallrisikos
wird verpflichtende Hilfe in den Niederlanden ausgeschlossen, wenn der Täter der
niederländischen Sprache nicht oder ungenügend kundig ist, wenn sein IQ niedriger
als 80 ist, bei Drogen- oder Alkoholabhängigkeit oder bei psychotischen Strukturen
mit vermuteter Unzurechnungsfähigkeit. Als Bedingungen für die verpflichtende Behandlung gelten: Der Täter muß ein (Teil)Bekenntnis ablegen, der Fall muß juristisch
geklärt sein, die zu erwartende Gefängnisstrafe darf maximal 15 Monate betragen,
und der Täter muß grundsätzlich die Bereitschaft haben, am Projekt mitzuarbeiten.
33
6.
Sexualstraftäter mit intellektueller Beeinträchtigung im
Strafrechtssystem
Brown und Courtless (1968) haben strafrechtliche Verfahren bei Sexualstraftätern mit
geistiger Behinderung untersucht und dabei festgestellt, daß Geständnisse in zwei
Dritteln der Fälle erfolgten, die Angeklagten in der Regel durch RechtsanwältInnen
vertreten wurden, die vom Gericht bestellt waren oder zu 8 Prozent überhaupt keinen
juristischen Beistand hatten. Die Anklage bei Tätern mit geistiger Behinderung wurde
im Gegensatz zu anderen Angeklagten nur selten verringert. In den seltensten Fällen
wurden bei dieser Tätergruppe psychologische oder psychiatrische Gutachten erstellt
oder die Verhandlungsfähigkeit überprüft, und in 88 Prozent der Fälle wurde auch
keine Berufung eingelegt. Bei einem Vergleich von Santamour und West (1978) von
intellektuell beeinträchtigten Tätern mit solchen ohne Behinderung zeigte sich, daß
erstere häufiger geständig waren und bei ihnen auch häufiger auf Schuld plädiert
wurde, während Berufung gegen das Urteil in diesen Fällen seltener war. Strafaussetzung zur Bewährung oder Haftverschonung wurde ihnen auch seltener gewährt.
Im Gegensatz dazu zeigt die Psychotherapeutin Batya Hyman (Senn 1993, 83) - sie
hat 50 Täter mit intellektueller Beeinträchtigung untersucht - auf, daß Täter mit Behinderung in einigen Fällen von den Einrichtungen, in denen sie leben, vor strafrechtlicher Verfolgung geschützt wurden.
Nach Überführung von Tätern mit geistiger Behinderung stellt sich das Problem ihrer
Unterbringung. „Historisch wurde das Einsperren von als geistig zurückgeblieben etikettierten Tätern in die bestehenden Gefängnisse als problematisch angesehen, vor
allem seitdem man annahm, daß Kriminalität auf einer erblich bedingten intellektuellen Beeinträchtigung basierte (Brown & Courtless 1968). Zudem stellte auch
die Verwahrung der Täter in Institutionen ein Problem dar, weil man glaubte, sie würden dort einen schlechten Einfluß auf die übrigen geistig retardierten Menschen ausüben. Als Lösung wurde eine separate Unterbringung vorgeschlagen sowie ein Plan
mit zwei Komponenten: Sterilisation und Aussonderung/Abschiebung in die Kolonien
(Goddard 1912, zt.n.Brown & Courtless 1968)“ (Senn 1993). Brown & Courtless untersuchten 1968 die internationale Situation. Dabei stellte sich heraus, daß England
und Schweden den Einrichtungen am meisten therapeutische und beraterische Interventionen anboten und aufgrund dessen danach tendierten, Täter mit Behinderung in
den Institutionen zu belassen, in denen sie lebten. Im Gegensatz dazu tendierte
Nordamerika auf „Sicherheit und Verwahrung“ (Brown & Courtless 1968, 364), und
damit wurden Täter mit Behinderung meist in Gefängnissen oder psychiatrischen Anstalten eingesperrt. Coleman & Murphy (1980) stellten fest, daß die Einrichtungen,
die zu 15% von durchschnittlich drei Sexualstraftätern berichteten, über kein Behandlungsprogramm verfügten und auch keine Ahnung hatten, ob von ihrem jeweiligen Staat Behandlungsprogramme angeboten würden. Alle diese Institutionen problematisierten jedoch das Verbleiben dieser Täter in der Institution: “Verglichen mit
den übrigen BewohnerInnen von Heimen für Retardierte befinden sich die Delinquenten eher im oberen Spektrum, d.h. im Bereich leichter geistiger Behinderung, und
manipulieren und viktimisieren oftmals diejenigen, die schwerer geistig behindert
sind“ (Murphy, Coleman & Haynes 1983, 26). Sie berichten, daß Gefängnisse und
stationäre Unterbringung in psychiatrischen Einrichtungen am häufigsten seien zur
Verwahrung von Tätern mit Behinderung. Diese Einrichtungen könnten zwar zum Teil
Behandlungsprogramme anbieten, in die jedoch diese Täter wegen ihrer Behinderung in der Regel nicht aufgenommen werden. Murphy, Coleman & Haynes wiesen
zudem darauf hin, daß „Täter mit intellektueller Beeinträchtigung im Gefängnis oder
34
in anderen Erziehungsanstalten zu denen gehören, deren Intelligenz im unteren IQBereich angesiedelt ist und die oft zum Opfer anderer intellektuell überlegener Straftäter werden” (1983, 26). Es ist offensichtlich, daß eine derartige Bestrafung längerfristig keine adäquate Maßnahme ist, wenn der Täter mit geistiger Behinderung keine
Behandlung bekommt, aber gleichzeitig auch ausgebeutet wird.
Täter mit Behinderung begegnen denselben Schwierigkeiten, in Behandlungsprogramme aufgenommen zu werden, wie Überlebende mit Behinderung. Knopp, Rosenberg und Stevenson (1986) haben sich in den USA einen landesweiten Überblick
über die Behandlungsprogramme verschafft und stellten dabei fest, daß lediglich 46
Prozent der sozialen Dienste für Täter mit geistiger Behinderung als Beratungsstelle
zur Verfügung stehen und nur 26 Prozent auch Anpassungen für dieses Klientel vorgenommen haben. Über den Erfolg der bisherigen Behandlungsprogramme, in die
Täter mit geistiger Behinderung integriert wurden, ist bis heute nichts publiziert. Murphy, Coleman & Haynes (1983) haben ein Modell vorgelegt, das für Täter mit oder
ohne Behinderung gilt. „Es ist ein Modell für soziales Lernen, das physiologische,
verhaltensmodifizierende und kognitive Prozesse und Defizite umfaßt. Das Programm wird individuell auf die jeweilige Person abgestimmt. Murphy, Coleman und
Haynes betonen, daß Menschen, die den gleichen IQ haben, in ihrer sozialen Funktionsfähigkeit, ihrem sozialen Wissen und der Einsicht in ihre Verhaltensprobleme sehr
unterschiedlich sein können“ (Senn 1993, 87). Damit Behandlungsprogramme für Täter mit Behinderung effektiv werden, müssen sie an die besonderen Bedürfnisse der
jeweiligen Täter angepaßt werden können.
35
B.
Untersuchungsleitende Thesen
In den meisten Gesellschaften wird Menschen mit Behinderung ein gesonderter Platz
zugeschrieben. Durch Sondereinrichtungen werden sie innerhalb eines bestimmten
Rahmens gefördert, was allerdings meistens eine Isolierung zur Folge hat. Menschen
mit Behinderung werden als minderwertig angesehen. Man vermeidet wenn möglich
Kontakte zu ihnen und ist auf Erhaltung von sozialer und räumlicher Distanz bedacht.
Die Diskriminierung von Menschen mit Behinderung wird tendenziell rationalisiert, indem ihnen vermittelt wird, daß sie ihre Andersartigkeit ‘im eigenen Interesse’ akzeptieren sollen. In diesem Akzeptieren der Andersartigkeit wird ihnen zugleich ein Annehmen ihrer Situation nahegelegt, die ihnen von der Gesellschaft zugeschrieben
wird.
Menschen mit einer Behinderung werden nicht als Individuen sondern als Mitglieder
der Gruppe von Menschen mit Behinderung kategorisiert, be- und abgewertet. Sie
werden an ihren persönlichen und individuellen Qualitäten gemessen. Stattdessen
steht die Behinderung im Mittelpunkt, der jeweilige Mensch mit Behinderung wird auf
diese reduziert. Subtilere Differenzierungen werden in der Regel abgelehnt.
Auf diesem Hintergund entstanden Paradigmen und darauf aufbauend Handlungskonzepte sowie -strategien. Uns interessierten vor allem drei der bekannteren Paradigmen (Bleidick 1976, 411f.; 1977, 66f.) und ihre Handlungsmodelle. Dies vor allem
deshalb, weil jeder theoretische Ansatz, der Menschen mit Behinderung verobjektiviert, auch solche Handlungsweisen nach sich zieht, die sich in Strukturen verfestigen, die selbst gewaltförmig oder zumindest gewaltfördernd sein können.
Das Paradigma der christlichen Nächstenliebe
Zum Paradigma der christlichen Liebestätigkeit gegenüber ‘Elenden’ und ‘Verkommenen’ gehört das caritative Modell. Den ‘bedürftigen’ Menschen wird innerhalb dieses Modells in allen Hochreligionen als einzige Rolle die des Opfers, bzw. des Almosenempfängers zugeschrieben. Das wiederum macht vor allem Sinn aus der Sicht
der Helfenden. Diese können sich beispielsweise durch eine Spende von Schuld,
Mitleidsgefühlen und Ablehnung etc. befreien. Diese Denkmuster sind noch keineswegs überwunden; sie zeigen sich u.a. im appellativen Charakter der modernen
Wohlfahrtspflege und ihren Spendenkampagnen.
Das personenorientierte Paradigma
Behinderung wird hier als individuelle Kategorie verstanden; diese gilt als persönliches, fast unabänderliches und daher zu akzeptierendes Schicksal. Der ‘Defekt’ ist
objektiv gegeben, die Ursache dafür liegt in der Person. Ein Beispiel für dieses Paradigma ist das medizinische Modell. Es geht davon aus, daß jede Krankheit einen Erreger hat; er ist der Feind, den der Arzt/die Ärztin ausfindig zu machen und auszumerzen hat. Damit verliert Krankheit weitgehend ihre subjektive und soziale Dimension. Dieses Verständnis wurde zum Teil unkritisch von der Heilpädagogik übernommen, was sich vor allem in verobjektivierenden Diagnosen und institutionellen Rollenzuschreibungen niederschlägt. Soziale und/oder psychische Probleme von Menschen mit Behinderung werden oft vorschnell unter die Behinderung subsumiert.
Analog dazu beschränkt sich auch Rehabilitation darauf, zu reparieren oder möglichst große Funktionstüchtigkeit erreichen zu wollen. Menschen mit Behinderung in
36
die Arbeitswelt zu integrieren, ist erstrangiges Ziel. Persönliche oder soziale Dimensionen bleiben auch hier ausgespart.
Das interaktionistische Paradigma
Behinderung wird in diesem Paradigma als Zuschreibung von Erwartungshaltungen
seitens Anderer und nicht als vorgegebener Zustand verstanden. Der Mensch mit einer Behinderung weicht von gesellschaftlich bestimmten Normen ab und wird aufgrund dessen typisiert, etikettiert, stigmatisiert und kontrolliert. Behinderung ist in diesem Verständnis vor allem das Resultat sozialer Reaktionen und von daher ein sozial
bestimmter Status. Interaktionen sind nach Watzlawick (1985) u.a. kreisförmig und
nicht linear. Jedes Verhalten ist sowohl Ursache als auch Wirkung; der Mensch ist
immer Subjekt und Objekt zugleich. Kein Mensch mit Behinderung kann daher bloßes Objekt pädagogischen Handelns sein.
Dieses interaktionistische Modell geht im weiteren davon aus, daß es keine Behinderung ‘an sich’ gibt, die unpolitisch und ahistorisch ist. Behinderung wird über Zuschreibungen durchgesetzt, in hohem Maß abhängig von Machtkonstellationen.
Gerade im Zusammenhang mit sexueller Ausbeutung, die immer Ausdruck eines
Machtverhältnisses ist, sind die verschiedenen Machtkomponenten ein grundlegender Teil der untersuchungsleitenden Thesen auch dieser Studie. Mit StaubBernasconi unterscheiden wir zwischen Begrenzungs- und Behinderungsmacht. Im
Zusammenhang mit sexueller Ausbeutung muß von Behinderungsmacht ausgegangen werden, weil „die Kontrolle und Verteilung von Gütern und Ressourcen und damit die Ausstattung von Menschen und sozialen Systemen nach Merkmalen erfolgt,
die nicht veränderbar sind, so z.B. Geschlecht, Alter, Hautfarbe, familiäre Abstammung, ethnische Zugehörigkeit, geographische Lage, Beschaffenheit und andere
(Macht als feudale, patriarchale Kastenstruktur, Klassengesellschaft)“ (StaubBernasconi 1989, 9).
Ressourcenmacht
In der Regel sind Menschen ohne Behinderung jenen mit Behinderung physisch und
sozioökonomisch überlegen. Menschen mit Behinderung sind oft auf Hilfe Dritter angewiesen, z.B. bei der Körperpflege, bei der Zubereitung und Zusichnahme von Nahrung, bei der Fortbewegung im und/oder außer Haus. Potentielle Täter brauchen oft
nur zu drohen, um ihren Willen gegenüber Menschen mit Behinderung durchzusetzen. Die erste Untersuchung gibt Hinweise auf einen Zusammenhang von Hilfsbedürftigkeit und sexueller Ausbeutung. Menschen mit Behinderung sind aber auch
in ihren Zugängen zu ökonomischen und materiellen Mitteln benachteiligt und deshalb häufig auf Zuwendungen von Dritten (Familie, staatliche Transfers oder andere
prekäre Quellen) angewiesen.
Ressourcenmacht ist innerhalb der Einrichtungen ungleich verteilt. Es ist zu unterscheiden zwischen BewohnerInnen, die sich aufgrund einer Verschiedenheit des Behinderungsgrades und/oder im Zuge langer Aufenthaltsdauer auch unterschiedliche
Zugänge zu den zumeist knappen Ressourcen innerhalb des institutionellen Gefüges
sichern konnten. Diese relative Ressourcenmacht geht insbesondere zu Lasten
schwächerer MitbewohnerInnen.
37
Artikulations- und Wissensmacht
Der Sprachlosigkeit vieler Betroffener steht die (relative) Sprachgewalt der Täter gegenüber. Es gibt Menschen mit Behinderung, die von ihrer Behinderung her weniger
oder gar nicht über verbale Kommunikation verfügen. Andere sind sprachlos, weil sie
sexuell nie aufgeklärt wurden und von daher nicht benennen oder verstehen können,
was mit ihnen passiert, wenn sie sexuell ausgebeutet werden. Diese Menschen sind
mit der (relativen) Wortgewalt der Täter konfrontiert, die einerseits Geschichten erfinden und zum besten geben können, um sie für die Gewalttat zu gewinnen. Das Geheimhaltungsgebot wird sowohl mit Drohungen gegen die Betroffenen als auch mit
Gefahren für den Täter unterstrichen. Menschen mit Behinderung haben in der Regel
keine Möglichkeit, die Angaben der Täter zu überprüfen. Damit stehen sie, auch
wenn sie es noch ausdrücken könnten, in Beweisschuld. In Frage steht, wie es um
ihre Glaubwürdigkeit bestellt ist. Wir vermuten in Anlehnung an die erste Studie, daß
es einen Zusammenhang gibt zwischen dem Aufgeklärtsein über den Körper und die
Sexualität, unterschiedlicher Artikulations- und Wissensmacht aufgrund von verschiedenen Graden der Behinderung und der Glaubwürdigkeit sowohl bei Opfern als
auch Tätern.
Positionsmacht
Die gesellschaftliche Position, die Menschen mit Behinderung zugeschrieben wird,
und diejenige des Mannes im Vergleich zur Frau tragen wesentlich zur Verschleierung von sexueller Ausbeutung bei. Menschen mit Behinderung (nicht nur
geistig behinderten) wird in der Regel ihre Mündigkeit abgesprochen, d.h. sie sind
gesellschaftlich gesehen Unmündige und (Befehls-) EmpfängerInnen. Mädchen und
Frauen mit Behinderung unterliegen einer doppelten Ohnmachtsposition: Als Mensch
mit Behinderung und aufgrund ihres Geschlechts und ihres Alters. Auch Männer mit
Behinderung leiden an einem Statusverlust im Vergleich zu Männern ohne Behinderung. Hier hat uns der Zusammenhang zwischen Selbstbestimmungs-kompetenz und
sexueller Ausbeutung interessiert.
Im weiteren wollen wir wissen, wie sich die informelle Hierarchie zwischen den BewohnerInnen auf die individuellen Risiken, sexuell ausgebeutet zu werden, auswirkt.
Wir vermuten, daß dieses Risiko mit geringerer Positionsmacht zunimmt und darüber
hinaus potentielle Täter im Wege sexualisierter Gewalt einen zusätzlichen Gewinn an
Positionsmacht für sich sichern können.
Selbstbestimmungsmacht
Menschen mit Behinderung werden in der Regel durch Menschen ohne Behinderung
vertreten, respektive müssen sich vertreten lassen, und haben damit auch nur in den
seltensten Fällen die Möglichkeit, ihr Alltagsleben zu gestalten und die Strukturen,
durch die sie festgelegt werden, zu wählen. Wir fragen deshalb nach dem Zusammenhang zwischen den Strukturen, in denen Männer mit Behinderung leben, und sexueller Ausbeutung.
38
Organisationsmacht
Diese Machtquelle ist die wahrscheinlich am wenigsten ausgebildete innerhalb einer
Familie oder einem Heim. Wir haben uns darauf beschränkt, Männer in Einrichtungen zu befragen. Ein Heim bedeutet immer Ghetto und ein mehr oder weniger
großes Ausmaß an Isolation. Menschen mit einer Behinderung können aus Gründen
der Unmündigkeit, in der sie belassen werden, oder wegen örtlicher Abgeschiedenheit, oder wegen der gesellschaftlichen Ausgrenzung, wenn überhaupt, nur in sehr
beschränktem Maß frei wählen, mit wem sie sich wie und wo vernetzen wollen.
Daraus ergeben sich Konsequenzen auf zwei Ebenen:
* Der Kontakt nach außen, insbesondere zu Männer und/oder Frauen ohne Behinderung, findet kaum statt. Die BewohnerInnen eines Heimes haben deshalb nur wenig
Anknüpfungspunkte für den Aufbau von Beziehungen. Vielfach bleiben sie dabei auf
prekäre soziale Zusammenhänge (Kneipen, Strich, Bahnhof etc.) angewiesen, was
sich nur zu oft auf die soziale Qualität der solcherart geknüpften Begegnungen auswirkt. Männer mit Behinderung werden unter diesen Vorzeichen potentiell zu Tätern,
aber auch zu Opfern von sexueller Gewalt.
* Für die Bewohner und Bewohnerinnen bedeutet das Leben in sozialer Ausgrenzung
und in Zwangsgemeinschaft mit Menschen, die ebenfalls behindert sind, vielfach,
daß ihnen die Wahl eines/einer PartnerIn lediglich im Umkreis der MitbewohnerInnen
möglich ist. Die mögliche Qualität sozialer Beziehungen hat dann notwendigerweise
lediglich sekundäre Bedeutung. Die Personen, mit denen „Beziehungen“ eingegangen werden, werden tendenziell objektiviert. Damit wird einer möglichen Habitualisierung von sexualisierter Gewalt im behinderten Alltag strukturell Vorschub geleistet.
Opfer- und Täterrollen werden in diesem Zusammenhang tendenziell austauschbar:
‘Mann nimmt, was man will und wird genommen’.
39
C.
Methodische Anmerkungen
Für die vorliegende Untersuchung greifen wir auf quantitative und qualitative Methoden zurück. Zu den quantitativen Methoden zählen die Fragebogenerhebung unter
Männern mit Behinderung, die in österreichischen Institutionen leben, zu den qualitativen hingegen eine Literaturrecherche, problemzentrierte Interviews mit Männern mit
Behinderung, Workshops sowie ExpertInnengespräche. Die Vorgangsweise ist vergleichbar mit der ‘Frauenstudie’ (Zemp/Pircher 1996).
1.
Forschungsinstrumentarium
1.1
Literaturrecherche
Im Zusammenhang mit der Erhebung des Forschungsstands zum Thema beschäftigten wir uns mit der aktuellsten internationalen Literatur bezüglich der Opfer- und Täterforschung unter Knaben und Männern. Darüberhinaus sammelten wir Primärmaterial bezüglich international angewandter Modelle im Zusammenhang mit dem rechtlichen, polizeilichen und therapeutischen Umgang mit Tätern.
1.2
Fragebogenerhebung
Angesichts des Datenmangels zur Thematik von sexueller Gewalt, der im Fall von
Jungen und Männern noch stärker ausgeprägt ist als bei Mädchen und Frauen, lag
das Ziel der Untersuchung unter anderem darin, das Ausmaß und die Häufigkeit von
sexueller Gewalt festzustellen, sei es bei den Betroffenen oder Überlebenden als
auch bei den Tätern. Diesem Anspruch - zwar eingeschränkt auf den Aspekt der Überlebenden und nicht bezogen auf die Täterinnenschaft - wurde bereits in der ersten
Untersuchung die Methode der Fragebogenerhebung gerecht. Zwecks unmittelbarer
Vergleichbarkeit der Daten wurde dieser Zugang auch für die vorliegende Studie gewählt.
Kernstück der vorliegenden Untersuchung bildet also eine explorative Fragebogenerhebung zur Problematik der Betroffenheit und Täterschaft von Männern mit Behinderung, die in österreichischen Institutionen leben, wobei derselbe Fragebogen,
leicht angepaßt und erweitert, wieder verwendet wurde (siehe Anhang).
Vorbereitung der Befragung
Die Stichprobe sollte aus Männern mit Behinderung zusammengesetzt sein, die aufgrund ihrer körperlichen, geistigen und/oder psychischen Behinderung in einer Institution leben. Die Wahl dieser Stichprobe stützte sich auf die Überlegung, auf diese
Weise einen systematischen und umfassenden Zugang zu Interviewpartnern mit Behinderung zu erhalten.
Die Gründe für die Tatsache, daß wir erneut eine explorative und keine repräsentative Fragebogenerhebung anpeilten, sind zum Teil dieselben wie bei der ersten
Studie. Nach wie vor gibt es für Österreich keine umfassende Zusammenstellung von
Einrichtungen, in denen Menschen mit Behinderung leben, und dementsprechend
fehlen die Angaben über die genaue Anzahl der Männer und Frauen, die dort woh40
nen und auch betreut werden. Außerdem gibt es verschiedene Organisationsformen
von Einrichtungen - etwa Wohngemeinschaften und/oder Einzelwohnungen sowie
Heime mit Wohngruppen. Da sich diese verschiedenen Organisationsformen auf das
gesamte Bundesgebiet verstreuen, hätte es eines enormen organisatorischtechnischen Erhebungsaufwands bedurft, den der finanziell beschränkte Rahmen
nicht zugelassen hätte, zumal wir alle Männer persönlich aufgesucht, über den Inhalt
der Untersuchung informiert und bei Einverständnis mit ihnen ein Interview geführt
haben.
Im Zusammenhang mit der Auswahl der Institutionen griffen wir auf dieselben Institutionen zurück, in denen wir bereits für die erste Untersuchung geforscht hatten. Eine
Institution, in der wir aufgrund fehlenden Rückhalts und unzureichender Rahmenbedingungen schlechte Erfahrungen gemacht haben, bezogen wir nicht mehr ein.
Wir kontaktierten die LeiterInnen der von uns ausgewählten Einrichtungen zuerst telefonisch oder brieflich und stellten ihnen unser Vorhaben vor, Männer mit Behinderung zum Thema der sexuellen Gewalterfahrung als auch zur Täterschaft zu befragen. Da wir während der Erhebungen zur ‘Frauenstudie’ in den Institutionen sehr
stark mit dem Bedürfnis konfrontiert wurden, auch die männlichen Bewohner mit Behinderung zum Thema der sexuellen Ausbeutung zu befragen, wurde der Vorschlag
fast überall positiv aufgenommen. In einigen Einrichtungen ging der Tenor gar in die
Richtung: “Wir haben ja selbst so viel davon, wenn Sie bei uns forschen, es ist ganz
in unserem Interesse, wenn Sie wiederkommen”. Da der Finanzierungsrahmen geringer als bei der ersten Untersuchung war, mußten wir auf eine Orientierung des
Leitungspersonals sowie der BetreuerInnen in den jeweils interessierten Einrichtungen über die Anliegen der Untersuchung verzichten. Dies bedeutete, daß das Leitungspersonal die Informationsweitergabe an die BetreuerInnen weitestgehend übernehmen mußte. In der Regel genügte es, wenn wir den Einrichtungen ein kurz zusammengefaßtes Konzept mit den wichtigsten Angaben über Inhalte, Ziele und Methoden der Untersuchung zur Verfügung stellten. Es gab Einrichtungen, in denen das
als Mangel empfunden wurde. Das hatte zur Folge, daß wir dort wesentlich weniger
Männer befragen konnten als letztes Mal Frauen. In einer weiteren Einrichtung gab
es größere Befürchtungen bezüglich der Bearbeitung dieser Thematik, und es wurde
nach der Sinnhaftigkeit der Untersuchung für die Einrichtung gefragt. Deshalb wurde
zwecks Entscheidungsfindung eine Sonderauswertung der im Rahmen der ersten
Studie erhobenen Daten bezüglich der Betroffenheit von sexueller Ausbeutung für
diese Einrichtung verlangt, um über die Relevanz der neuen Untersuchung zu entscheiden. Als die Daten vorlagen und feststand, daß speziell in dieser Einrichtung
mehr als die Hälfte der befragten Frauen von sexueller Ausbeutung betroffen war
und die Gewalt zum Teil von Mitbewohnern ausging, Handlungsbedarf also in großem Maß gegeben war, willigte die Leitung in die Kooperation ein. Es wurde dennoch die Auflage gemacht, die Befragung nur in ambulant betreuten und nicht in vollzeit betreuten Wohneinheiten durchzuführen.
Bereits in der ersten Untersuchung waren wir bei der Vorbereitung der Befragung in
den Einrichtungen seitens des Leitungs- aber insbesondere des Betreuungspersonals immer wieder mit der Befürchtung konfrontiert, daß die Fragen nach der erlebten und vermutlich psychisch nicht bewältigten sexuellen Gewalterfahrung bei den
betroffenen Frauen Krisen auslösen könnten. Mit diesen Folgen hätten dann die BetreuerInnen umzugehen, was für sie in der täglichen Arbeit eine Überforderung bedeuten würde, zumal sie auch über kein entsprechendes psychologisches Instrumentarium verfügen. Im damaligen Entscheidungsprozeß versuchten wir, die Zweifel insofern auszuräumen, als wir auf die rein individuelle und freiwillige Entscheidungs41
möglichkeit seitens der Frauen verwiesen. Die Erhebung bestätigte unsere Vorgehensweise. Die Frauen erzählten uns nicht mehr, als sie uns wissen lassen wollten,
sie wußten sehr wohl um ihre Grenzen. Bei keiner der betroffenen Frauen zeigten
sich in der Folge negative Nachwirkungen der Befragung. Mit derselben Annahme
gingen wir auch an die vorliegende Befragung heran.
Insgesamt kontaktierten wir acht Einrichtungen in fünf Bundesländern. Es waren Einrichtungen, in denen Menschen mit Lern- und geistiger Behinderung, mit Sinnes- und
Mehrfachbehinderung leben. In einem einzigen Heim leben überwiegend Menschen
mit Körperbehinderung.
Ausbildung der InterviewerInnen
Genauso wie auch in der ersten Studie wurden die InterviewerInnen speziell für diese
Tätigkeit von Aiha Zemp ausgebildet. Diese Ausbildung ist deshalb notwendig, weil
die Befragung hohe Ansprüche an die InterviewerInnen stellt. Ziel dieser dreitägigen
Weiterbildung war es, den InterviewerInnen einerseits ein Grundwissen zum Thema
der sexuellen Ausbeutung zu vermitteln und sie andererseits für den Umgang und die
Kommunikation mit Männern mit Behinderung zu befähigen. Entgegen der ‘Frauenstudie’, wo es nur Interviewerinnen gab, die einzeln unterwegs waren, sollte diesmal
ein Paar, also jeweils ein Mann und eine Frau, in einer Einrichtung Interviews machen. Es sollte den männlichen Bewohnern überlassen bleiben, ob sie lieber mit einem Interviewer oder einer Interviewerin sprechen wollen. Bei der Befragung der
Frauen für die erste Studie wurden verschiedene Interviewerinnen immer wieder von
Männern angesprochen, die zum Ausdruck brachten, ihre Erlebnisse auch erzählen
zu wollen. Als frau ihnen sagte, daß eine solche Befragung von Männern gemacht
werden sollte, reagierten gewisse sehr vehement, indem sie sagten, daß sie einem
Mann das nie erzählen würden. Von daher wußten wir, daß es Männer geben würde,
die diese Erlebnisse nur einer Frau erzählen würden, weil sie von ihnen einerseits
mehr Empathie erwarteten, andererseits aber auch, weil sie Angst hatten, solche Erfahrungen in einer intimen Zweiersituation einem Mann zu erzählen, wenn sie Gewalterfahrung durch Männer hatten. Für die Befragungen waren drei Paare vorgesehen.
Weil die für die neue Studie benötigten drei Interviewerinnen dieselben waren wie bereits bei den Befragungen der Frauen, wurden die ersten zwei Tage lediglich die drei
Interviewer ausgebildet. Am ersten Tag ging es darum, daß sich zuerst jeder der drei
Männer damit auseinandersetzte, welche Fragen, Unsicherheiten und/oder Ängste er
einerseits bezüglich Behinderung und andererseits bezüglich sexueller Ausbeutung
hat. Anschließend wurden den Interviewern Informationen zur sexuellen Ausbeutung
vermittelt. Da es leider noch kein vergleichbares Material in bezug auf sexuell ausgebeutete Männer gibt, wurde den Interviewern am Ende des ersten Tages das VideoBand “Wir möchten noch viel lauter sein” vorgeführt. Es handelt sich dabei um einen
Film einer Selbsthilfe-Projektgruppe “Gegen sexuelle Gewalt an Mädchen” aus Bremen. In diesem Film erzählen von sexueller Ausbeutung betroffene Frauen über ihre
gemachten Erfahrungen. Damit sollten die künftigen Interviewer eine Ahnung bekommen, von dem, was auf sie zukommen kann.
Der erste Teil des zweiten Tages galt der Auseinandersetzung mit dem eigenen
Menschenbild, weil die Haltung der einzelnen Interviewer gegenüber einem Mann mit
Behinderung die Stimmung, in der die Befragung durchgeführt wird, beeinflußt, d.h.,
42
je mehr jemand einen Mann mit Behinderung von sich her eingrenzt, desto weniger
wird er sich öffnen und kann ein Vertrauensverhältnis aufgebaut werden. Die Auseinandersetzung passierte auf der Basis eines Kartenspiels “Mensch ist Mensch” und
aufgrund der Aufzeichnung einer Sendung des “Inlandsreport” (ORF) über die Gewalterfahrung einer Frau. In diesem Fernsehbeitrages wird auf erschütternde Weise
ersichtlich, wie sich die Haltung z.B. einer Regisseurin und eines Kameramannes in
diesem Fall auf Kameraführung, Bildauswahl und Beitragsgestaltung auswirkt. Am
Nachmittag wurden der Fragebogen und der Leitfaden vorgestellt, und anschließend
wurde in Zweier-Gruppen geübt, jetzt noch mit der Möglichkeit der verbalen Kommunikation. Am Ende des zweiten Ausbildungstages wurden die anatomisch
ausgebildeten Puppen vorgestellt: ein Mann, eine Frau, ein Mädchen, ein Junge. Alle
sind mit den primären und sekundären Geschlechtsmerkmalen ausstaffiert. Sie
dienten auch bei dieser Befragung als mögliche Methode, vor allem für die Befragung
mit Männern, die nicht über verbale Kommunikation verfügen und damit nicht in
Worten ausdrücken können, was sie erfahren haben. Damit die Interviewer die
Puppen optimal einsetzen konnten und Fehlinterpretationen so weit wie möglich
vermieden wurden, galt es, zuerst einmal überhaupt einen Zugang zu den Puppen zu
finden, zu realisieren, was sie bei einem selber an Emotionen auslösen.
Am dritten Tag kamen die Interviewerinnen hinzu. In der ersten Tageshälfte ging es
um die Auseinandersetzung mit den Tätern. Für die konkrete Befragung ging es auch
darum, sich darüber klar zu werden, welche Worte man selber im Zusammenhang
mit Sexualität wählen will, wie man auf professioneller Ebene z.B. die Geschlechtsmerkmale bezeichnet. Lateinische Begriffe aus der Medizin, private Koseworte und
Gassensprache sollten zugunsten einer neutralen Wortwahl wie z.B. Scheide oder
Glied vermieden werden. Als letztes wurde wiederum in Zweiergruppen ein Interview
gemacht, diesmal ohne verbale Kommunikation der einen Interviewpartnerin oder
des Interviewpartners, dafür mit den anatomischen Puppen als Hilfsmittel.
Durchführung der Befragung
Laut unseren Erhebungen von 1995 leben 1.543 Männer in Einrichtungen, d.h. sie
leben dort und werden auch betreut. Nicht aufgenommen haben wir jene Männer, die
zu Hause wohnen, aber in den geschützten Werkstätten der Trägerorganisationen
arbeiten, und dort tagsüber betreut werden.
Nach telefonischer Vereinbarung über den genauen Termin des Erhebungsbeginns
und den Ablauf mit den jeweiligen Kontaktpersonen (Heimleitung, pädagogische Leitung, BetreuerInnen) in der jeweiligen Einrichtung starteten wir Anfang Februar die
Erhebungsphase vor Ort. Jeweils ein Paar übernahm bestimmte Einrichtungen in den
einzelnen Bundesländern. In den Wohneinheiten der Einrichtungen gingen wir dann
folgendermaßen vor: Zum festgesetzten Termin trafen wir im Aufenthaltsraum oder in
der Küche der Wohneinheit auf eine kleine Gruppe von Männern, die nach einer kurzen Vorinformation seitens ihrer BetreuerInnen prinzipielles Interesse an der Teilnahme gezeigt haben. Diese Männer klärten wir dann in einer sehr einfachen, langsam vorgetragenen, verständlichen Sprache über den Sinn und Zweck der Befragung auf und baten um ihre Mitarbeit. Im Umgang mit den BetreuerInnen wie auch
den Männern war es uns ein zentrales Anliegen, keinerlei Druck in Richtung Mitarbeit
auszuüben. Bei allen Beteiligten sollte die Bereitschaft zur Mitarbeit freiwillig und ohne Zwang passieren. Diese Vorgehensweise hatte sich schon bei der vorangegangenen Untersuchung als erfolgreich erwiesen.
Außerdem hatten wir den BetreuerInnen vermittelt, keine Vorauslese unter den Män43
nern zu treffen. Immer wieder waren wir damit konfrontiert, daß man uns bestimmte
Männer empfahl, bei denen entweder ein Verdacht auf Gewalterfahrung, die bis dahin nicht bewiesen war, oder auf Täterschaft bestand. Da es aber nicht unserem Forschungsziel entsprach, nur betroffene Männer - sei es als Opfer, sei es als Täter, zu
befragen - sondern die Prävalenzraten zu erheben, achteten wir darauf, daß alle Bewohner die gleichen Chancen hatten, sich zur Befragung zu melden.
In fast allen Fällen gingen die Orientierung und später die Befragung problemlos vor
sich. In der Regel waren bei der Orientierung die Betreuerin oder der Betreuer als
Vertrauensperson der Männer dabei.
In einer Einrichtung, in der hauptsächlich Menschen mit Körperbehinderung leben,
gingen wir vom Prinzip des sogenannten Fragebogeninterviews ab und konzipierten
den Fragebogen als “Selbstausfüller”. Dadurch erhofften wir uns eine geringere Verweigerungsrate. In diesem Fall ging das InterviewerInnenpaar jeweils zu den Essenszeiten in die jeweiligen Wohngruppen, orientierte die Bewohner über die Befragung und verteilte an alle interessierten Männer einen Fragebogen. Im weiteren wurden die Männer ersucht, an einem qualitativen Interview zum Thema sexuelle Gewalt
teilzunehmen. Bei Bedarf nach Hilfe und Unterstützung bei der Fragebogenbeantwortung wurde ihnen angeboten, sich bei den InterviewerInnen, die während des gesamten Erhebungszeitraumes in der Einrichtung waren, direkt oder telefonisch einen
Termin zu sichern. Der ausgefüllte Fragebogen sollte dann in eine Wahlurne, die nahe am Kapelleneingang aufgestellt wurde, eingeworfen werden.
Zusätzlich wurde ein ausführliches Interview mit der Arbeitsgruppe Sexualität geführt,
an der Betreuer und Bewohner teilnahmen. Diese Arbeitsgruppe existiert seit ein
paar Jahren und beschäftigt sich in Form von öffentlichen Veranstaltungen und internen Diskussionen mit dem Thema Sexualität. Der allgemeine Tenor war positiv, fast
alle angesprochenen Männer haben den Fragebogen entgegengenommen, und etwa
ein Drittel hat sich zur Mitarbeit, zumeist mit persönlicher Assistenz durch die InterviewerInnen, bereit erklärt.
Insgesamt betrachtet waren die Reaktionen der Männer auf die Orientierung sehr
positiv. Schließlich konnten wir rund 90 Prozent aller Männer, die zur Orientierung
gekommen waren, befragen. Nur wenige entschieden sich gegen die Befragung,
nachdem sie das InterviewerInnenpaar gesehen und gehört hatten. In allen Fällen
respektierten wir dies. Viele Männer entschieden sich sehr rasch und gezielt, mit
wem sie das Interview führen wollten. Wir haben aber den Eindruck, daß sich ganz
allgemein mehr Männer, als es bei den Frauen der Fall gewesen ist, der Befragung
grundsätzlich verweigert haben, was wir mit der heiklen Thematik der Täterschaft erklären.
In der Regel wurde die Befragung mittels Fragebogen unmittelbar nach der Orientierung durchgeführt. Die Einladung zur Mitarbeit erging an alle Männer, unabhängig
davon, ob diese von sexueller Ausbeutung betroffen waren oder nicht.
Die Befragung fand entweder in einem von der Heimleitung zur Verfügung gestellten
Raum statt, in dem man ungestört sein konnte, oder, je nach Wunsch im Zimmer des
Interviewpartners. In den meisten Fällen führten wir Einzelgespräche, in Ausnahmefällen nahm am Interview einE BetreuerIn oder ein Freund teil, wenn der Interviewpartner dies wünschte.
Die Interviewsituation stellte sich für die Interviewerinnen z.T. anders dar als für die
Interviewer, speziell was den Umgang seitens der Männer mit ihnen betraf. Generell
stellten sich die Männer als Kavaliere dar und vergaben Handküsse. Eine Intervie44
werin wurde - wenn das Gespräch im Zimmer des Interviewpartners stattfinden sollte
- sehr häufig aufgefordert, sich auf das Bett zu setzen, obwohl auch ein Stuhl als
Sitzgelegenheit vorhanden war. Darüber hinaus wurden die Interviewerinnen einige
Male auch belästigt. Am eindrücklichsten ist die Erfahrung jener Interviewpartnerin in
der Einrichtung für Menschen mit Körperbehinderung. Dort wurde es bekanntlich so
gehandhabt, daß Männer sich für ein qualitatives Gespräch zur Verfügung stellen
konnten. Also wurde die Interviewpartnerin von einem Mann zwecks eines Gesprächs in sein Zimmer gerufen. Er wolle mit ihr über Aufklärung sprechen, teilte er
ihr mit. Als die Interviewpartnerin das mitgebrachte Anschauungsmaterial zur Aufklärung auf den Tisch legte, unterbrach er sie, er wolle dies nicht von ihr hören, sondern in der Praxis erfahren, und bedeutete ihr, daß er mit ihr schlafen möchte. In einem Fall wünschte der Interviewpartner während des Interviews mehrmals, der Interviewerin seinen Kopf auf ihren Bauch zu legen, und wollte nur dann weitere Fragen
beantworten, wenn er dies dürfe. Die ersten beiden Male ließ die Interviewerin dies
zu, verweigerte ihm dann aber den Wunsch, nachdem er fast jede zweite Frage mit
seinem Bedürfnis koppelte. Schließlich konnte dieses Interview - mit mehreren Unterbrechungen - doch zu Ende geführt werden. Ein anderer Mann wollte zum
Abschluß des Gesprächs, in dem er sich als Täter ausgewiesen hatte, der seine Tat
auch bereute, von der Interviewerin einen Kuß auf den Mund und spielte dann beleidigt, als er seinen Wunsch nicht erfüllt bekam.
Auf dem Hintergrund, daß die überwiegende Mehrheit der Interviewpartner geistig
behindert war, stellte die Interviewsituation größte Anforderungen an die InterviewerInnen, weil es notwendig war, übliche Kommunikationsformen den Möglichkeiten
der jeweiligen Männer anzupassen.
Methoden zur Kommunikation mit den Männern
Es gibt Menschen mit Behinderung, die nicht über verbale Kommunikation verfügen
aufgrund einer geistigen oder motorischen Behinderung. Bis zu unserer ersten Untersuchung wurden weltweit nie Menschen zur sexuellen Gewalt befragt, denen verbale Äußerungsmöglichkeiten fehlen. Wir sammelten dabei wichtige Erfahrungen, die
wir in der vorliegenden Untersuchung einsetzen konnten. In solchen Fällen klärten
wir entweder mit dem Mann selber oder mit dessen Betreuungsperson, welches Zeichen für ihn ‘ja’, welches ‘nein’ bedeutet. Bei manchen war es eine Kopfbewegung,
bei anderen eine Gesichtsmimik, bei den einen eine Geste oder ein Laut. Bei allen
von uns befragten Männern waren solche Zeichen für die ‘Ja/Nein-Kommunikation’
auszumachen. Andererseits haben wir mit den anatomischen Puppen gearbeitet, die
sich von handelsüblichen Puppen insofern unterscheiden, als sie nicht geschlechtsneutral sind, sondern alle äußeren Geschlechtsmerkmale aufweisen. Jedes InterviewerInnenpaar war mit einem Vierer-Set dieser Puppen ausgerüstet. Diese Puppen
wurden den Männern als ‘besondere Puppen’ vorgestellt, als ‘Frau’, ‘Mann’, ‘Mädchen’ und ‘Knabe’, und bewußt nicht als ‘Vater’, ‘Mutter’, ‘Tochter’, ‘Sohn’, um den
Familienkontext nicht von vornherein zu suggerieren. In einschlägigen Kreisen gibt
es eine breite Diskussion zur Sinnhaftigkeit vom Einsatz der Puppen als diagnostisches Hilfsmittel. In seinem Ursprungsland USA wurde ein regelrechter Glaubenskrieg darum ausgelöst. Für Greuel (1997, 370 f.) dürfte die augenscheinliche Sexualisierung von kindlichem Spielmaterial ein Grund für die kritische Auseinandersetzung
mit diesen Puppen sein. Die Diskussion wird ihrer Meinung nach überlagert von der
Unfähigkeit, sich sachlich und neutral mit dem Phänomen der sexuellen Gewalt speziell an Kindern auseinanderzusetzen.
45
Wir haben bereits in der ersten Untersuchung gute Erfahrungen mit den Puppen gehabt, deshalb war es für uns keine Frage, sie in der vorliegenden wieder einzusetzen. Interessant war die Beobachtung, daß die Männer, die nicht über verbale Kommunikation verfügten, im Vergleich zu den Frauen einen weniger spontanen Umgang
mit den Puppen hatten. Tendenziell fingen sie nicht von sich aus an, mit den Puppen
zu spielen, sie auszuziehen oder zu untersuchen, sondern mußten erst aufgefordert
werden. Zum Teil haben auch die InterviewerInnen die Puppen selber ausgezogen
und den Männern gezeigt, was man damit machen kann. Waren die Puppen nackt,
hat der/die InterviewerIn dem Mann erklärt, wie er/sie selber die Geschlechtsteile benennt. Anschließend ging der/die InterviewerIn den inhaltlichen Teil des Fragebogens
durch, indem sie dem Mann an den Puppen zeigte, wo und wie man sich selber oder
andere berühren kann, daß sich manche dieser Berührungen angenehm anfühlen,
andere nicht, je nach dem, wer einen berührt und ob man das will oder nicht. Danach
wurde der Mann gefragt, ob er solche unangenehmen Berührungen kenne und wenn
ja, ob er mit den Puppen zeigen könne, welche. Auf diese Art konnten alle Fragen
zur sexuellen Gewalt erklärt und gestellt und zum Teil von den Männern auch beantwortet werden. Darüberhinaus war jedeR InterviewerIn mit Anschauungsmaterial zur
Aufklärung sowie einem Kondom und einer Karotte ausgerüstet. Diese Utensilien
waren insbesondere für den Einsatz bei den Fragen zur Aufklärung und auch bei den
Fragen zur sexuellen Gewalt gedacht.
Um möglichst vollständige biografische Daten zum befragten Mann zu erhalten (z.B.
Alter, Behinderung, Schulbildung, Beschwerden, Medikamente etc.) baten wir vor
dem Interview die/den entsprechendeN BetreuerIn den eigens entwickelten „BetreuerInnenfragebogen“4 auszufüllen. Nur lern- und körperbehinderten Männern stellten wir auch diese Fragen. Der BetreuerInnenfragebogen enthielt mit wenigen Ausnahmen dieselben Fragen zu Personendaten wie der Betroffenenfragebogen.
Die Befragung mittels Fragebogen dauerte unterschiedlich lang - von 15 Minuten bis
45 Minuten, in seltenen Fällen länger. Obwohl der Fragebogen wegen des Täteraspekts insgesamt länger war als jener für die Frauen, waren die Gespräche mit den
Männern in der Regel kürzer. Dies dürfte mit ihrem ‘anderen’ geschlechtsspezifischen Kommunikationsverhalten zu tun haben. Sie antworteten auf die Fragen
meist sehr knapp, fast einsilbig und ließen sich auch sonst nicht sehr zu ausführlichen Beschreibungen hinreißen. Unter diesen Bedingungen war es auch nur in seltenen Fällen möglich, mit den Männern qualitative Gespräche zu führen. Insgesamt
führten wir drei qualitative Gespräche.
Zur Problematik der Interviews
Den Block zur sexuellen Ausbeutung hinsichtlich des Opferaspekts begannen wir mit
folgender Frage: “Fühlten Sie sich schon einmal durch bestimmte Handlungen in sexueller Hinsicht belästigt?” Wenn der Mann die Frage bejahte, baten wir ihn, uns die
Art der erlebten Gewalt zu erzählen. Wenn der Mann nicht über verbale Kommunikation verfügte, regten wir ihn an, daß er uns die Gewalterfahrung anhand der
Puppen zeigen solle. Ganz allgemein zeigte sich, daß die Männer sehr viel weniger
bereit waren, über persönliche und emotionale Erlebnisse zu erzählen als die Frau4
Siehe „Fragebogen für die BetreuerInnen“ im Anhang
46
en. Es war nicht selten der Fall, daß die Frauen gleich bei der ersten Frage zur Sexualität im Zusammenhang mit der Aufklärung anfingen, uns ihre Gewalterfahrungen
zu schildern, unterbrochen oft nur vom Weinen. Dieses unterschiedliche Herangehen
lag sicher nicht an den geringeren sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten der Männer,
da wir hinsichtlich der Behinderungsart fast dieselbe Population vor uns hatten. Vielmehr sind Männer - behinderte Männer bilden da keine Ausnahme - entsprechend
der Geschlechtsrollenstereotype und sozialisationsbedingt weit weniger gewohnt und
deshalb in der Lage, über sich selbst zu reflektieren. Aufgefallen sind uns diese
Hemmungen bei allen Fragen, die im weitesten Sinn mit Sexualität zu tun hatten, wie
Aufklärung, sexuelle Belästigung und sexuelle Gewalt. Nicht selten hatten wir den
Eindruck, daß sie sich schämten und es sie peinlich berührte, in einer hilfsbedürftigen
und schwachen Situation zu sein. Ein etwa fünfzigjähriger Mann gab solange freundlich und geduldig Auskunft über sich selbst, bis die erste Frage zur Aufklärung kam,
die er nicht (mehr) verstand. Als ihm die Interviewerin dann anhand der mitgebrachten Aufklärungsblätter die Fragen verständlich zu machen versuchte, stand er wortlos
auf und verließ den Raum.
Wie bereits erwähnt, gingen wir jeweils als Paar in die Einrichtung, um den Männern
die Möglichkeit der Auswahl zu geben. Wir stellten aber fest, daß die Tatsache, ob
die Männer eine Frau oder einen Mann als InterviewerIn hatten, keinen Einfluß darauf ausübte, was sie uns bezüglich des Opferaspekts bzw. Täterschaft erzählten.
Die Erfahrungen, die wir bereits bei den Gesprächen mit den Frauen gemacht haben,
bestätigten sich erneut. Nur sehr wenige Männer haben die Befragung abgebrochen
und keiner der Männer ist während des Interviews oder in der Folge zusammengebrochen. Diese Befürchtungen insbesondere seitens der BetreuerInnen waren bereits im Zusammenhang mit der Befragung an den Frauen ausgeräumt worden. Wir
fühlten uns dadurch in unserer Vorgehensweise, die darauf abstellte, daß die Teilnahme am Interview freiwillig erfolgen sollte, bestätigt.
Im Gegensatz zur vorangegangenen Studie, wo wir rund einen Monat nach der Erhebung in allen Einrichtungen eine Nachbereitung der Befragung machten und dabei
die Hilfswünsche an die speziellen AdressatInnen übermittelten, mußten wir diesmal
aufgrund eines verringerten finanziellen Rahmens auf eine Nachinformation in dieser
ausführlichen Form verzichten. Dennoch wollten wir die Einrichtungen nicht ohne
Feedback belassen. Deshalb spiegelten wir meist noch vor Ort im Anschluß an die
Befragung Eindrücke über das Ausmaß der Gewalterfahrung und der Täterschaft an
die jeweilig verantwortlichen Personen zurück. Zugleich übermittelten wir entweder
noch während wir in der Einrichtung operierten oder kurze Zeit darauf telefonisch die
Hilfswünsche der betroffenen Männer an die jeweiligen Professionellen. In einigen
Fällen waren diese ziemlich überrascht zu hören, daß der von ihnen betreute Mann
Gewalterfahrung hatte und/oder ein Täter war und sich bei ihnen um Hilfe bemühte.
In diesen Fällen hatten die Männer ihre Gewalterfahrung uns Außenstehenden als
erste erzählt und nicht ihnen im Alltag nahestehenden Personen.
Auf Drängen mehrerer MitarbeiterInnen wurde unmittelbar vor Abschluß der Erhebungen zudem eine Nachbereitung der Ergebnisse in diesen Einrichtungen durchgeführt bzw. vereinbart.
1.3
Auswertung der Ergebnisse
47
Von den insgesamt 136 Fragebogeninterviews gelangten 117 Fragebögen zur Auswertung. Nach der inhaltsanalytischen Behandlung der offenen Fragen wurde eine
deskriptive Auswertung vorgenommen, wodurch eine genaue Beschreibung des gesamten Datensatzes (absolute und relative Häufigkeiten, Mittelwerte, Standardabweichungen und Anzahl der gültigen Antworten) realisiert wurde. Als weiterführende statistische Auswertung berechneten wir Kreuztabellen. Diese Methode wurde
deshalb gewählt, weil die meisten der im Fragebogen enthaltenen Variablen (Fragen)
ein qualitatives Meßniveau aufwiesen. Kreuztabellen wurden nur mit jenen Variablen
gerechnet, die aus inhaltlich-theoretischen Gründen wichtig erschienen.
1.4
Selbstevaluation
Um das vielfältige Beobachtungsmaterial der/des jeweiligen Interviewers/in zu verarbeiten, führten wir zur Gewinnung zusätzlichen qualitativen Materials im Zusammenhang mit und im Anschluß an die Befragung verschiedene Evaluierungs- und Reflexionsformen ein. Erstens hingen wir jedem Fragebogen ein Blatt über Kurznotizen
zum Gesprächsverlauf an. Dabei ging es in erster Linie um Einschätzungen der atmosphärischen und räumlichen Rahmenbedingungen, des Gesprächsverlaufs sowie
des Verhaltens des Mannes bei Schilderungen von sexuellen Gewalterfahrungen oder von Täterschaft. Zusätzlich hatte jedeR InterviewerIn einen Evaluationsbogen
auszufüllen. Dabei ging es vor allem um die subjektive Wahrnehmung des Interviews
seitens des/der InterviewerIn im allgemeinen, etwa die eigene Befindlichkeit, die
Wahrnehmung der Wünsche und der Rollen des Mannes und die eigenen Reaktionen darauf sowie die Reaktionen bei Darstellungen von sexuellen Gewalterfahrungen
und Tätererlebnissen.
Diese Evaluationsbögen bildeten unter anderem eine wesentliche Grundlage des eintägigen Reflexionsseminars, an dem alle sechs InterviewerInnen teilnahmen. Bei
diesem Seminar ging es einerseits um eine Supervision der eigenen Interviewtätigkeit. Darüberhinaus rekonstruierten und besprachen wir gemeinsam die subjektiv
eindrücklichsten Beispiele von sexuellen Gewalterfahrungen sowie Tätererlebnissen.
Zwecks einer detaillierteren Darstellung der Fälle interviewten wir uns außerdem gegenseitig. Die gemeinsame Reflexion wie auch die gegenseitigen Interviews wurden
auf Band aufgenommen und transkribiert. Diese Ergebnisse fließen in die Darstellung
der quantitativen Ergebnisse ein.
48
1.5
ExpertInnengespräche
Für die vorliegende Studie führten wir insgesamt 16 Gespräche mit Professionellen
aus den Bereichen Leitungsebene sowie pädagogisches und Betreuungspersonal in
den Institutionen durch. Da wir in denselben Institutionen waren, in denen wir bereits
im Zusammenhang mit der ersten Studie ExpertInnengespräche zur Problemwahrnehmung von struktureller und sexueller Gewalt gemacht haben, erhoben wir als erstes, welche Folgen die erste Untersuchung für die betroffenen Frauen wie auch für
die Institution selber gezeitigt hat. Speziell wollten wir erfahren, inwieweit die damals
konstatierte reichlich vorhandene strukturelle Gewalt in Form von fehlender Intimsphäre, Mehrbettzimmern etc. verringert werden konnte. Ein weiterer wichtiger
Schwerpunkt dieser Gespräche lag in der Wahrnehmung und dem Problembewußtsein bezüglich sexueller Gewalt sowie dem Umgang der Einrichtung mit Fällen
von sexueller Gewalt, sei es bezüglich der Überlebenden, sei es der Täter. Wenn es
solche Fälle gegeben hat, ließen wir uns diese ausführlich erzählen.
Alle ExpertInnengespräche wurden auf Band aufgenommen und transkribiert.
Darüber hinaus führten wir noch eine Reihe von Gesprächen mit ExpertInnen aus
den Bereichen Recht, Medizin, Kriminalsoziologie, Strafvollzug, Patientenanwaltschaft. Im speziellen waren dies: Claudia Burgsmüller (Rechtsanwältin, Wiesbaden), Lucio Decurtins (Sozialpädagoge, Mannebüro, Zürich), Dr. Theresia Degener
(Juristin, Universität Frankfurt), DDr. Nikolaus Dimmel (Rechtssoziologe, Universität
Salzburg), Marlene Eggenberger (Sozialarbeiterin, Stadt Zürcher Kontaktstelle Opferhilfe, Zürich), Dr. Günther Fisslthaler (Patientenanwaltschaft Landesnervenklinik,
Salzburg), Jürg Frauenfelder (Sozialdienste Justizdirektion, Zürich), Dr. Med. Urs
Glenck (Ottenbach), Dr. Wolfgang Gratz (Leiter einer Fortbildungsstelle für Vollzugspersonal, Wien), Vrenie Heer (Rechtsanwältin, Zürich), Dr. Christiane Hofinger
(Wohlfahrtsabteilung des Amtes der Salzburger Landesregierung, Salzburg), Dr. Philipp Maier (Universität Zürich), Dr. Arno Pilgram (Kriminalsoziologisches Institut,
Wien), Dr. Adolf D. Ratzka (Institute on Independent Living, Stockholm), Dr. Wolfgang Stangl (Kriminalsoziologisches Institut, Wien)
49
D.
Die Stichprobe
Laut einer von uns 1995 durchgeführten Telefonumfrage leben in Österreich 3.119
Menschen mit Behinderung in Institutionen speziell für Menschen mit Behinderung,
davon sind 1.543 Männer, d.h. ungefähr gleich viel Männer wie Frauen. Insgesamt
befragten wir 136 Männer, auswertbar waren 117 Interviews, das sind 7,6% der
Grundgesamtheit. Die Erhebung wurde in acht verschiedenen Einrichtungen5 in fünf
Bundesländern durchgeführt. In zwei Einrichtungen in Wien befragten wir 36, ebenfalls in zwei Einrichtungen in Oberösterreich 32, in Salzburg 22, in der Steiermark 15
und in zwei Einrichtungen in Tirol 12 Männer.6
Es handelt sich dabei um unterschiedlich große und unterschiedlich strukturierte Trägerorganisationen. Drei Einrichtungen sind Heime mit Wohngruppen, die übrigen fünf
verfügen über Wohngemeinschaften und/oder geschützte Wohnplätze bzw. ambulant
betreute Wohnungen. Insbesondere die großen Häuser wurden in den letzten Jahren
reformiert und werden jetzt in Form von gemischtgeschlechtlichen Wohngruppen geführt, in denen die BewohnerInnen hauptsächlich in Ein- und höchstens Zweibettzimmern leben. In einer Einrichtung ist die Umwandlung noch im Gange, weshalb es
dort noch einen hohen Anteil an Mehrbettzimmern gibt. Auch die kleineren Einrichtungen sind dabei, sich in Richtung Auslagerung und Verkleinerung von Gruppengrößen zu reformieren, sofern dies nicht bereits geschehen ist. Tendenziell werden
externe Wohngemeinschaften und ambulant betreute Wohnplätze geschafffen, was
mit deutlichen Standardverbesserungen für die BewohnerInnen verbunden ist. Einige
Einrichtungen haben eine katholische Vergangenheit und wurden erst vor wenigen
Jahren laiziiert. Viele BewohnerInnen haben den repressiven katholischen und unpersönlichen Umgang noch heute in leidvoller Erinnerung.
Wir befragten Männer zwischen 18 und 78 Jahren. Die Kerngruppe, etwa die Hälfte
aller, ist zwischen 25 und 34 Jahre alt.
Die überwiegende Mehrheit der befragten Männer bezeichnet sich selbst als geistig
behindert oder wird von den BetreuerInnen so bezeichnet. Die meisten Männer sind
aufgrund pränataler Beeinträchtigungen oder auch wegen eines Geburtstraumas von
Geburt an behindert.
Von allen befragten Männern sind drei (3%) sterilisiert, wohingegen laut ‘Frauenstudie’ 27% der Frauen zwangssterilisiert wurden, was generell mit einer prophylaktischen Maßnahme, um mögliche Folgen von sexueller Ausbeutung zu verhindern,
begründet wird.
Rund die Hälfte der Männer lebt in einer Wohngruppe im Heim, die übrigen verteilen
sich auf Wohngemeinschaften sowie ambulant betreute Wohnplätze.
Über 40% der Befragten kennen Institutionen von Kindheit an. Die meisten von ihnen
leben weniger als fünf Jahre in der untersuchten Einrichtung, aber rund ein Viertel
hat bis zu einem Vierteljahrhundert schon dort verbracht.
Fast alle befragten Männer sind ledig. Nur einzelne Befragte waren bzw. sind verheiratet, aber die Partnerin lebt nicht bei ihnen; wenige Männer leben in einer Lebensgemeinschaft mit einer Frau. Nur einem einzigen Mann ist es möglich, mit einem
Mann zusammenleben.
Die schulische und berufliche Ausbildungssituation der befragten Männer ist sehr
prekär. Die überwiegende Mehrheit hat als höchste Schulbildung die Sonderschule
5
6
Zum Schutz der Einrichtungen bleiben diese anonym.
Siehe Tabellen im Anhang
50
gemacht. Eine Berufsausbildung stellt eine Ausnahme dar. Einige wenige Männer,
die ihre Behinderung erst später erworben haben, haben einen Lehrberuf erlernt,
beispielsweise Koch, oder eine Anlehre gemacht.
Vier Fünftel der Männer arbeiten, aber nur wenige sind auf einem außerinstitutionellen Behindertenarbeitsplatz. In der Einrichtung sind etwa die Hälfte der arbeitenden Männer in Beschäftigungstherapie tätig, wobei diese in manchen Einrichtungen durchaus anspruchsvolle Tätigkeiten umfaßt, z.B. Empfangsdienst, Korbproduktion, Reinigungsdienst, Lederverarbeitung und Teppichweberei.
Zusammenfassende Anmerkungen
Im folgenden wollen wir auf ein paar markante Momente hinsichtlich der Charakteristika der Befragten näher eingehen. Betroffen gemacht hat uns die Tatsache, daß
die meisten BewohnerInnen ledig sind und auch keine Lebensgemeinschaft leben
(können). Ihre oft problematischen Lebensläufe sowie ihre oft beengenden Lebensund Wohnbedingungen, machen es ihnen vielfach schwierig, eineN möglicheN PartnerIn kennenzulernen. Im Zusammenhang mit den Fragen zur Sexualaufklärung sagte ein 38jähriger gehbehinderter Mann mit großer Trauer in seiner Stimme, daß er in
seinem Leben noch nie eine Freundin gehabt habe. Tendenziell ist das Leben in solchen Institutionen mit einem Leben ohne (Liebes-)Beziehung verbunden. Dies betrifft
sowohl hetero- als auch homosexuelle Beziehungen. Obwohl es in den Einrichtungen
bezüglich der sexuellen Präferenz mittlerweile ein Umdenken gibt - siehe hierzu auch
das Kapitel E: institutionelle Rahmenbedingungen sowie das Kapitel H: Problembewußtsein und - bearbeitungsansätze in den Einrichtungen -, ist es für Männer im
Vergleich zu Frauen nach wie vor schwieriger, homosexuelle Beziehungen zu leben.
Entsprechend der gesellschaftlichen Praxis wird Homosexualität bei Männern stärker
diskriminiert als bei Frauen.
Ein deutlicher Hinweis auf geschlechtsspezifisch unterschiedlich gesetzte Maßstäbe
hinsichtlich der gesellschaftlichen Bewertung von Menschen mit Behinderung stellt
die Handhabe der Sterilisation dar. Die Tatsache, daß Sterilisation bei Frauen als
beinahe ‘normale Praxis’ gilt, bei Männern aber eine Ausnahme darstellt, stellt den
‘Schutzgedanken’ bei Frauen erneut in Frage und entblößt sie als eine weitere frauenverachtende Maßnahme.
Zu fragen ist auch, was es für einen Menschen bedeutet, lebenslänglich in einer Einrichtung zu leben. Eindrücklich ist hier die Geschichte eines jungen Mannes, der seit
frühester Kindheit in derselben Wohneinheit lebt. Mit nachhaltigem Schmerz erzählt
er im Interview, daß ihn seine Mutter wegen seiner Behinderung nach der Geburt im
Krankenhaus gelassen und sich nie mehr um ihn gekümmert hat. Er ist im Krankenhaus aufgewachsen und kam dann etwa mit drei oder vier Jahren in die Einrichtung.
So wie ihm geht es vielen: Wenn man „in den Mühlen einer Einrichtung ist“, wie dies
ein Betreuer treffend ausgedrückt hat, ist das oft eine lebenslängliche Option. Mobilität zwischen verschiedenen Einrichtungen - mit Ausnahme alters- und schulspezifischer Einrichtungen - ist praktisch kaum vorhanden. Und auch die Chancen, später
einmal selbstbestimmt leben zu können, sind wegen der fehlenden Vorsorge staatlich
finanzierter Assistenz, sehr gering.
Grundsätzlich zu problematisieren ist der erschreckend hohe Anteil an unausgebildeten Personen. Dieser ist nicht mit dem Schweregrad an Behinderung zu begründen, sondern läßt auf massive Diskriminierung durch Verweigerung an Förderung im
österreichischen Schulsystem schließen. Bei einem Vergleich der schulischen und
51
beruflichen Ausbildungssituation zwischen Männern und Frauen mit Behinderung
(Zemp/Pircher 1996) scheinen keine besonderen geschlechtsspezifischen Unterschiede auf. Dies steht im krassen Gegensatz zur Situation bei Menschen ohne Behinderung, wo die geschlechtsspezifische Segregation in der Ausbildung wie auch im
Beruf ein prägendes Merkmal für die Benachteiligung von Frauen ist. Eine Erklärung
dafür könnte im tendenziell geschlechtsneutralen Zugang zu Menschen mit Behinderung gesehen werden sowie im niedrigen Ausbildungsstand, wie er bei Menschen
ohne Behinderung nicht der Fall ist. Obwohl die meisten Bewohner arbeiten - in der
Beschäftigungstherapie wie auch in der geschützten Werkstätte -, verdienen sie vielfach nur ein Taschengeld. Eine Ausnahme bilden lediglich jene Männer, die einen
Behindertenarbeitsplatz außerhalb der Einrichtung gefunden haben. Es stellt sich die
Frage, ob dies nicht eine Diskriminierung ist. In manchen Einrichtungen ist die Beschäftigungstherapie eine Verschleierung von Arbeitsverhältnissen, bei der die Einrichtung notwendige intern zu verrichtende Dienstleistungen wie auch Aufträge von
außen von den billigen eigenen Arbeitskräften ausführen läßt.
Eine andere Überlegung über den gesellschaftlichen Wert von Leistung und Arbeit,
an dem Menschen in unserer Gesellschaft gemessen werden, sei noch angefügt.
Angesichts der Tatsache, daß die Bewohner von Einrichtungen nur in Ausnahmefällen ihren Lebensunterhalt selbst verdienen können, obwohl sie vielfach dazu in der
Lage wären, ist zu fragen, was es für den Selbstwert eines Mannes bedeutet, wenn
er sich nicht - wie dies für die meisten nichtbehinderten Geschlechtsgenossen der
Fall ist - über die Anerkennung durch (Erwerbs)Arbeit definieren kann?
52
E.
Institutionelle Rahmenbedingungen und Grundzüge
struktureller Gewalt
In den Einrichtungen der Behindertenhilfe wohnen überwiegend Personen, die aufgrund ihrer Behinderung in einem besonderen Abhängigkeitsverhältnis stehen. Für
weite Bereiche ihres alltäglichen Lebens benötigen sie Hilfe. Sie stehen damit in der
Machthierarchie ausgesprochen weit unten; sie sind nicht nur abhängig von Hilfe,
sondern in diesem Kontext auch angreif-, erpreß- oder ausbeutbar. Das betrifft sowohl Kinder und Jugendliche als auch Frauen und Männer mit Behinderung. Wie
schon in der ‘Frauenstudie’ haben wir nach dem Zusammenhang zwischen Hilfebedarf und der Möglichkeit gefragt, sich den/die HelferIn auszuwählen.
1.
Bedarf an Hilfe
Die überwiegende Mehrzahl der befragten Männer (93%) benötigt Hilfe für diverse
Alltagsverrichtungen. 34% sind aufgrund ihrer Behinderung weitgehend von Hilfe abhängig und 59% teilweise bzw. für ausgewählte Tätigkeiten. Nur 6% haben keinen
behinderungsbedingten Unterstützungsbedarf. Zum Vergleich: In der Stichprobe der
untersuchten Frauen (Zemp/Pircher 1996) waren knapp drei Viertel (71,5%) im Alltag
auf irgendeine Hilfe angewiesen. Bei den von uns befragten Männern ist dieser Anteil
deutlich höher.
Zumal in beiden Untersuchungen Männer und Frauen der gleichen Stichprobe untersucht wurden, die sich hinsichtlich der Art und des Ausmaßes ihrer Behinderung
nicht wesentlich unterscheiden, liegt die Vermutung nahe, daß der höhere Hilfebedarf
der Männer auf geschlechtsspezifische Unterschiede in ihrer Sozialisation zurückzuführen sein dürfte. Analog zu den allgemein verbreiteten Rollenbildern von Mann und
Frau in unserer Gesellschaft werden an Frauen höhere Anforderungen in den Bereichen Haushaltsführung und Reproduktionsleistungen gestellt, während Männer sich
in diesen Bereichen eher ‘bedienen’ lassen.
Der Hilfebedarf der Männer betrifft einerseits den unmittelbar persönlichen Bereich
wie Hygiene, Nahrungsaufnahme und die Benützung der Toilette etc. sowie andererseits soziale Themen wie die Fortbewegung innerhalb und außerhalb von Haus oder
Gemeinde, den Besuch von Veranstaltungen, Arzt/Ärztin oder TherapeutIn sowie die
Regelung von finanziellen Angelegenheiten etc.
53
Tab. 1: Welche Form von Hilfe brauchen die Männer?
Essen
Waschen/Duschen/Baden
Zähneputzen
Toilette
An-/Ausziehen
Arzt-/Therapiebesuch
Veranstaltungsbesuch
Fortbewegung außerhalb der Gemeinde
Einkaufen
Fortbewegung außerhalb des Hauses
Fortbewegung im Haus
sonstige
Hilfebedarf gegeben
Absolut
% von N=117
32
27,3
31
26,5
12
10,3
12
10,3
11
9,4
71
60,7
68
58,1
61
52,1
58
43
8
15
49,6
36,8
6,8
12,8
Zusammengefaßt ist also festzustellen, daß rund jeder Vierte Hilfe bei der Körperpflege sowie beim Essen und jeder Zehnte Hilfe bei der Benützung der Toilette sowie
beim An- oder Ausziehen benötigen. Besonders hoch ist der Anteil der Männer mit
Behinderung, die für allgemeine und besondere soziale Anliegen einer Unterstützung, z.B. in Form von Mobilitätshilfen und Begleitung, bedürfen: 37% brauchen Hilfe
bei der Fortbewegung außerhalb des Hauses und jeder Zweite bei der Fortbewegung
außerhalb der Gemeinde; 58% müssen beim Besuch einer Veranstaltung begleitet
werden. Ein großer Anteil der Männer ist damit bezüglich ihrer sozialen Beziehungen
und der sozialen Teilhabe auf systematische Hilfestellung angewiesen.
2.
Vorsorgen zur Auswahl der Hilfeperson
In vielen Einrichtungen sind Vorsorgen dafür getroffen, daß die Männer mit Behinderung wählen können, von wem sie die Hilfeleistung in Anspruch nehmen. Das trifft
auf 77% der befragten Männer zu. Damit ist in relativ hohem Ausmaß eine der
Grundvoraussetzungen für die beziehungsorientierte Betreuung der Männer mit Behinderung gegeben. Das kommt auch darin zum Ausdruck, daß 73% der befragten
Männer auswählen können, ob sie Hilfe von einem Mann oder einer Frau wollen.
Für knapp jeden Fünften aber (18%) ist diese Möglichkeit nicht gegeben. Dies wird
von den BetreuerInnen auf die je aktuell gegebene Diensteinteilung sowie auf eingeschränkte Personalressourcen zurückgeführt.
54
Tab. 2: Wahl deR HelferIn nach Hilfebereich (Mehrfachnennungen)
Hilfebedarf
Toilette
Waschen/Baden
Routine in der Stadt / Reise
ÄrztIn-/Therapiebesuch
Einkaufen
Besuch von Veranstaltungen
Finanzen
Fortbewegung außerhalb des Haus
Lesen/Schreiben
Kochen/Haushalt
sonstiges
Wahlmöglichkeit gegeben
Absolut
% von N=117
13
11,1
15
12,8
26
22,2
26
22,2
24
20,5
20
17,1
20
17,1
18
15,4
15
12,8
15
12,8
20
17,1
Die Wahl deR HelferIn wird vor allem im Hilfebereich ‘Mobilität’, beispielsweise Routinegänge in der Stadt und Besuch von externen Diensten und Veranstaltungen, ermöglicht. In diesem Hilfebereich ist auch ein hoher Bedarf gegeben, der zu etwa einem Viertel gemäß einer individuellen Wahl deR HelferIn gedeckt werden kann.
Etwa 10% der befragten Männer können auswählen, von wem sie Hilfe im Intimbereich (Toilette, Waschen und Baden) erhalten möchten. Der Anteil der Männer, denen in diesen Hilfebereichen die Wahl eineR HelferIn möglich ist, deckt sich in etwa
mit dem Hilfebedarf in diesem Bereich. Bedarf und Möglichkeit einer Wahl stehen
hier in einem relativ ausgewogenen Verhältnis.
Die Hilfebereiche Intimes/Persönliches einerseits und Soziales/Kommunikatives werden, so kann man dieses Ergebnis interpretieren, in den Einrichtungen unterschiedlich behandelt. Dem Bereich der persönlichen Hilfen im Intimbereich wird von den
Einrichtungen in der Form Augenmerk gewidmet, daß entsprechende Vorsorgen zur
bedürfnisorientierten und die Persönlichkeit respektierenden Hilfestellung getroffen
werden. Im Vergleich mit der Situation vor zwei Jahren (Zemp/Pircher 1996) zeigt
sich, daß die Männer bezüglich ihrer Wahlmöglichkeiten deutlich bessergestellt sind
als ihre Mitbewohnerinnen. Das kann zum einen auf die inzwischen (unter anderem
als Reaktion auf die erste Erhebung und ihre Ergebnisse) von den Einrichtungen
vorgenommenen Standardverbesserungen zurückgeführt werden (z.B. Binnengliederung der Heime in kleinere Wohngruppen, Entwicklung von koedukativ geführten
Wohngruppen, Personalaufstockung). Zum anderen könnte dies aber auch als Indiz
für eine geschlechtsspezifische Benachteiligung von Frauen mit Behinderung interpretiert werden.
Für den Sozial- und Kommunikativbereich ist diese Bedarfsorientierung nur in bedeutend geringerem Ausmaß gegeben. In den Einrichtungen besteht in diesem Sinne offensichtlich eher Sensibilität für die intimeren Hilfebereiche; Fragen der Persönlichkeitsentwicklung, des sozialen Lernens sowie der sozialen Teilhabe werden demgegenüber nachrangig behandelt. Das erscheint vor allem hinsichtlich der institutionellen Vorsorgen für Sexual- und Persönlichkeitserziehung relevant. Gerade in diesem
Aufgabenbereich sind Gestaltungsmöglichkeiten im Sinne von persönlich gewählten
und akzeptierten Bezugspersonen wichtig. Durch die knappen personellen Möglichkeiten, auf Wünsche und Bedürfnisse der BewohnerInnen einzugehen und eine
55
Wahl, mit wem man was im Sozial- und Kommunikativbereich erleben und gestalten
möchte, zu ermöglichen, ist auch die wichtige Beziehungsorientierung in der sozialen
Arbeit mit Menschen mit Behinderung nur in Ansätzen zu realisieren. Soziale Teilhabe ist so nur unter Einschränkung von tragenden Momenten der Persönlichkeitsentwicklung, des sozialen Lernens etc. möglich. Dies erscheint vor allem für Jugendliche
in der Pubertät sowie für die Entwicklungsaufgaben der Herausbildung und Entfaltung von Geschlechtsbewußtsein sowie des Bewußtseins des eigenen sozialen Geschlechts als zentrales Manko.
3.
Wohnstandards
Die besuchten Einrichtungen sind sehr unterschiedlich ausgestattet und bieten den
dort lebenden Menschen mit Behinderung deutlich verschiedene Wohn- und Betreuungsstandards. Diese Standards sind allem voran bezüglich Rückzugsmöglichkeiten,
Intim- und Privatsphäre entscheidend und geben damit einen ersten Einblick in die
strukturellen Rahmenbedingungen, in denen Gewalt entweder verhindert werden
kann oder aber begünstigt wird.
Zwei Drittel der befragten Männer (66%) wohnen in einem Einzelzimmer; jeder fünfte
Mann in einem Mehrbettzimmer. Nur jedem siebten Mann (14,5%) steht eine eigene
Wohnung zur Verfügung, in der er entweder alleine oder mit PartnerIn lebt. Der hohe
Anteil an Mehrbettzimmer-Wohnplätzen in der steirischen Einrichtung ist darauf zurückzuführen, daß die entsprechenden Umbau- und Standardverbesserungspläne
zwar in Vorbereitung sind, aus verschiedensten Gründen (Finanzen, Ersatzwohnraum während der Zeit des Umbaus etc.) bis zum Zeitpunkt unserer Untersuchung
aber noch nicht realisiert werden konnten.
Tab. 3: Vergleichender Überblick über die Wohnstandards
Eigene Wohnung*)
Einzelzimmer
Mehrbettzimmer Gesamt
Absolut
%
Absolut
in %
Absolut
in %
Tirol 1
2
28,6
5
71,4
0
0,0
7
Tirol 2
0
0,0
2
40,0
3
60,0
5
Salzburg
2
9,1
16
72,7
4
18,2
22
Oberösterreich 1
0
0,0
17
100,0
0
0,0
17
Oberösterreich 2
4
26,7
11
73,3
0
0,0
15
Steiermark
0
0,0
1
6,7
14
93,3
15
Wien 1
9
36,0
16
64,0
0
0,0
25
Wien 2
0
0,0
9
81,8
2
18,2
11
Gesamt
17
14,5
77
65,8
23
19,7
117
*) Darunter fallen geschützte Wohnplätze sowie Wohnungen im Kontext von Heim oder Einrichtung.
56
Beim überwiegenden Teil der Befragten sind zusätzliche Faktoren gegeben, um den
Bewohnern Möglichkeiten für die eigenständige Gestaltung des unmittelbaren Privatbereiches zu gewähren. Zum Großteil können sie ihr Zimmer bzw. ihre Wohnung abschließen (86%) und selbst festsetzen, wann sie ins Bett gehen (80%). Eine eigene
Toilette haben immerhin noch 28% der befragten Männer, ein eigenes Badezimmer
23%.
Es ist damit festzustellen, daß es den befragten Männern im Rahmen der unterschiedlichen Einrichtungsstandards zu einem großen Teil nur eingeschränkt möglich
ist, eigenständig ihren Alltag zu gestalten. Das betrifft insbesondere natürlich jene
Männer, die über kein eigenes Zimmer verfügen können. Jeder fünfte Mann (20%)
wohnt in einem Mehrbettzimmer und ist mit den entsprechenden Einschränkungen
bezüglich Privat- und Intimsphäre konfrontiert. Diese Wohnform findet sich in insgesamt vier aus acht Einrichtungen; überdurchschnittlich häufig in zwei Einrichtungen,
in denen die Mehrzahl der Männer ihren unmittelbaren Wohn- und Lebensbereich mit
anderen Männern teilen müssen. Das ist überwiegend bei Männern der Fall, die in
Wohngruppen im Heim leben, und zwar bei rund einem Drittel dieser Männer (30%).
Diagramm 1: Verteilung der Befragten nach Wohnform
50
45
40
35
30
25
20
15
10
5
0
Wohngruppe im Heim
betreute
Wohngemeinschaft
ambulant betreute
Wohnplätze*)
Prozent
Anzahl der Nennungen = 117 / Unter ambulant betreuten Wohnplätze subsumieren wir geschützte
Wohnplätze (vorwiegend in Wien) sowie ambulant betreute Kleinwohngemeinschaften (Tirol)
Jeder Zweite der Befragten wohnt in einer Wohngruppe im Heim, jeder Dritte in einer
betreuten Wohngemeinschaft und jeder Siebte auf einem ambulant betreuten Wohnplatz. Die am häufigsten angetroffene Wohnform stellen Wohngruppen innerhalb eines Heimes für Menschen mit Behinderungen dar, die mit Ausnahme der steirischen
Einrichtungen weitgehend gemischtgeschlechtlich geführt werden.
Bei den Wohngruppen im Heim handelt es sich um eine in der Geschichte der Behindertenhilfe in Österreich noch relativ junge Form der nachträglichen Binnendifferenzierung bereits bestehender Großeinrichtungen. Diese Binnendifferenzierung von
Einrichtungen, in der Regel begleitet von Auslagerung oder anderweitiger Reduktion
der Gesamtzahl der BewohnerInnen, wird von den Verantwortlichen mit dem Ziel begründet, die Zusammenlegung verschiedener Personen auch unterschiedlichen Geschlechts in Gruppen mit überschaubarer Größe zu ermöglichen. Dabei ist allerdings
anzumerken, daß die Entwicklung in Österreich hinter jener vor allem in den nordischen Ländern weit zurückhinkt. So hat man sich in Schweden bereits vor 17 Jahren
57
gegen die Heimunterbringung von Menschen mit Behinderung zugunsten kleinerer
Einrichtungen bzw. überhaupt der ambulanten Betreuung in eigenständigen Wohnund Lebensformen entschieden.
3.1
Gestaltungsmöglichkeiten
Das Leben im Heim ist als zwangsgemeinschaftliches Wohnen in Institutionen mit
vielfachen Einschränkungen für die BewohnerInnen verbunden. Das ist zum einen
eine Folge der Größe von Einrichtungen und zum anderen abhängig vom Ausmaß
der Ausgrenzung aus dem gesellschaftlichen Ganzen. Darüberhinaus weisen diese
Einrichtungen durchaus auch selbstgemachte Beschränkungen auf, die sich aus den
verfügbaren personellen und finanziellen Ressourcen oder auch aus der jeweiligen
Heimordnung ergeben. Dies betrifft zum einen die Frage, ob und inwieweit es den
BewohnerInnen möglich ist, ihr Zimmer beziehungsweise ihren Wohnbereich abzuschließen.
Der Großteil der befragten Männer hat die Möglichkeit, das eigene Zimmer abzuschließen (86%). Diese Rückzugsmöglichkeit wird allerdings durch die Tatsache eingeschränkt, daß sich die BetreuerInnen mittels Generalschlüssel über den Wunsch
der BewohnerInnen nach Abgeschiedenheit und Ungestörtsein hinwegsetzen können. Nach Auskunft der BetreuerInnen stellt dies eine Krisenfalloption dar und dient
dem Schutz der BewohnerInnen; in erster Linie als Vorsorge für den Fall akuter körperlicher Beschwerden, zum Beispiel bei Anfällen. Daneben kommt der Generalschlüssel natürlich auch im Falle von Gewaltanwendung, zum Beispiel bei sexueller
Gewalt, zum Einsatz.
„Die laden sich ein, zu sich aufs Zimmer zu kommen - also aufs Zimmer des Opfers.
Da ist Spaß, da ist irgendeine Form von Unterhaltung, und das entwickelt sich dann
anders. Ich als Betreuer komme erst auf die Bildfläche, wenn man den Lärm hört: Da
ist was los! Dann schreitet man ein, indem man anklopft, man versucht das irgendwie
zu bremsen. Ich glaube, das müssen wir tun, wenn wir einen Hilferuf hören. Wenn
nicht aufgemacht wird, dann machen wir die Türe auf. Das ist ziemlich hart dann.“
(Betreuer)
Rund 15% der Befragten haben keine Möglichkeit, ihr Zimmer abzuschließen. Das
gilt insbesondere für 80% der Bewohner der steirischen Einrichtung, die überwiegend
in Mehrbettzimmern wohnen müssen, sowie für 60% der Befragten in der Einrichtung
Tirol 2. Im Vergleich zur Stichprobe der ‘Frauenstudie’ zeigen sich deutliche geschlechtsspezifische Benachteiligungen: Frauen haben im Verhältnis zu den befragten Männern seltener die Möglichkeit, ihr Zimmer abzuschließen (27%).
Zum anderen geht es darum, inwieweit die Männer Zeitregelungen, beispielsweise
wann sie ins Bett gehen, selbst bestimmen können. Drei Viertel der befragten Männer (77%) können selbst über ihre Ruhezeiten entscheiden. In drei der untersuchten
Einrichtungen ist es den Bewohnern weitgehend freigestellt, nach eigenem Ermessen zu Bett zu gehen. In den anderen Einrichtungen ist dieses Recht einem großen
Teil der Bewohner nicht zugestanden. Vor allem gilt diese Einschränkung für die Einrichtung in der Steiermark, in der nahezu die Hälfte der Bewohner, unter anderem
aufgrund des überwiegend zutreffenden Mehrbettzimmerstandards, an vorgegebene
Ruhezeiten gebunden ist. Vorgaben bezüglich Bettgehen finden sich vor allem in
58
Wohngruppen im Heim (32%), während Bewohner von betreuten Wohngemeinschaften nur zu 17% daran gebunden sind. Bewohner von ambulant betreuten Wohnplätzen sind entsprechend einem auf hohe Selbständigkeit beruhenden ambulanten
Betreuungskonzept zur Gänze von dieser Fremdbestimmung ausgenommen.
Im Vergleich zur ‘Frauenstudie’ fällt auch hier auf, daß die befragten Männer deutlich
weniger von fremdbestimmten Zeitregelungen betroffen sind als Frauen. Diese geschlechtsspezifische Benachteiligung erscheint gerade in Hinblick auf die bei Frauen
deutlich geringere Abhängigkeit von Hilfe ausgesprochen unverständlich.
Als Gründe für vorgeschriebene Ruhezeiten wird von den BetreuerInnen vor allem
auf die per Hausordnung festgelegte Nachtruhe verwiesen (17 Nennungen). Unter
anderem wird auch darauf hingewiesen, daß die Männer früh aufstehen müssen (drei
Nennungen). Bei weiteren drei Männern befürchten die BetreuerInnen, daß diese
ohne entsprechende Regelung zu spät ins Bett gingen, ohne aber in ihren Angaben
zu konkretisieren, für wen dies zu spät wäre.
Ein weiterer Untersuchungsaspekt betrifft die Gestaltungsmöglichkeit im Bereich der
Körperpflege. Die unterschiedlichen Standards in den Einrichtungen schlagen sich
auch in der grundsätzlichen Ausstattung der jeweiligen Wohneinheiten nieder. Nur
wenige Bewohner leben in abgeschlossenen Wohneinheiten, die auch über eigenständige Sanitärräume wie Badezimmer oder WC verfügen. Jeder vierte Bewohner
(23%) kann über ein eigenes Badezimmer verfügen, während die überwiegende
Mehrzahl der Interviewten (77%) sich den Ort für die tägliche Körperpflege mit anderen MitbewohnerInnen teilen muß. Etwas besser sieht es lediglich für die Bewohner
von ambulant betreuten Wohnplätzen aus, von denen immerhin zwei Fünftel (43%)
über ein eigenes Badezimmer verfügen, während dies nur bei jedem Sechsten (16%)
in einer Wohngruppe im Heim der Fall ist.
Die gemeinschaftliche Nutzung der Sanitärräume schließt individuelle Gestaltungsmöglichkeiten dieser Räume tendenziell aus. Darüberhinaus ist es den Bewohnern
vielfach nicht möglich, bei der Verrichtung ihrer intimen Körperpflege wenigstens vor
Störungen durch die Anwesenheit oder gleichzeitige Nutzung durch andere BewohnerInnen sicher zu sein. Es wird damit der Schutz des Privat- und Intimbereiches beschnitten. Bewohner in betreuten Wohngemeinschaften (21%) sowie von ambulant
betreuten Wohnplätzen (33%) sind diesbezüglich deutlich besser gestellt als die Bewohner einer Wohngruppe im Heim, bei denen in 79% der Fälle die gleichzeitige
Nutzung des Badezimmers möglich ist.
Die Intimität der Körperpflege, eine Voraussetzung für die eigenständige Entdeckung
des eigenen Körpers sowie die Entwicklung von Körperbewußtsein und sexueller Identität, ist somit für die Hälfte aller befragten Männer mit Behinderung, vor allem
aber für die überwiegende Mehrzahl der Bewohner von Wohngruppen im Heim nicht
gewährleistet. Stattdessen kommt hier eine strukturelle Vermischung von privaten
und öffentlichen Bereichen zum Ausdruck, wodurch es den BewohnerInnen zumindest deutlich erschwert wird, Respekt vor persönlicher Integrität zu erfahren bzw. darüberhinaus zu erlernen, dies anderen gegenüber zu respektieren. Mangelnde Standards werden unter den Bedingungen zwangsgemeinschaftlicher Unterbringung tendenziell zur institutionell bedingten und damit strukturellen Verletzung von persönlicher Integrität.
59
Dem Großteil der befragten Männer steht keine abgetrennte, eigene Toilette zur Verfügung (72%). Die besten Ausstattungsstandards finden sich im Bereich der ambulant betreuten Wohnplätze, deren Bewohner zu 53% eine eigene Toilette haben,
während dies nur bei jedem Vierten (23%) aus Wohngruppen im Heim sowie jedem
Fünften (19%) aus betreuten Wohngemeinschaften der Fall ist. Auch in diesem sehr
intimen Bereich ist also festzustellen, daß mangelnde Standards der Einrichtungen
sich in Form weitgehender Einschränkungen der Selbstbestimmungs- und Gestaltungsmöglichkeiten von BewohnerInnen auswirken. Dazu kommt, daß es auch bezüglich der Toiletten, mit Ausnahme im Bereich der ambulant betreuten Wohnplätze,
nicht ausgeschlossen ist, daß andere Personen diese während der Benützung betreten können. Das gilt überproportional für die Bewohner von Wohngruppen im Heim
(33%) sowie für jeden achten Bewohner einer betreuten Wohngemeinschaft (12%)
und ist nur im Bereich der ambulant betreuten Wohnplätze gänzlich ausgeschlossen.
Für viele Männer gilt damit nicht einmal dieser minimale Schutz ihrer Intimsphäre.
3.2
Zufriedenheit mit der Wohnform
Auf die Frage, ob sie so wohnen wollen, wie sie derzeit leben, antwortet die Mehrzahl
der Befragten mit „Ja“. Zwei Drittel der Befragten (67,5%) sind damit grundsätzlich
mit ihren Wohnverhältnissen zufrieden.
Tab. 4: Wollen die Männer so wohnen?
Wollen Sie so wohnen?
ja
nein
keine Antwort
Gesamt
Absolut
79
9
29
117
Prozent
67,5
7,7
24,8
100,0
Die darin zum Ausdruck kommende hohe Zufriedenheit mit der Wohnform wird allerdings bei näherem Nachfragen etwas eingeschränkt. So sind insgesamt 30% mit ihren aktuellen Wohnverhältnissen sehr zufrieden, 47% antworten auf diese Frage mit
„gut“. Jeder Sechste aber erweist sich als mäßig bis wenig zufrieden mit der aktuellen Wohnsituation (16%). Im Vergleich zur Befindlichkeit der Frauen (Zemp/Pircher
1996) erweisen sich die Männer (77% sind sehr bis gut zufrieden) als deutlich zufriedener als ihre Mitbewohnerinnen (66% waren 1995 sehr bis gut zufrieden).
Am ehesten zufrieden sind die Bewohner von ambulant betreuten Wohnplätzen (37%
sehr gut und 63% gut). Demgegenüber schneiden betreute Wohngemeinschaften am
schlechtesten ab. Jeder vierte Bewohner vergibt dieser Wohnform eine schlechte
Benotung (mäßig zufrieden und unzufrieden: 25%). Als ähnlich unzufrieden erweisen
sich auch die Bewohner von Wohngruppen im Heim, von denen sich zusammen 16%
als unzufrieden mit ihren Wohnverhältnissen erweisen.
In der relativ großen Zustimmung durch die Bewohner von Wohngruppen, die gerade
in Anbetracht der deutlich eingeschränkten Wohnstandards auffällig ist, dürfte zum
Ausdruck kommen, daß viele Bewohner in Wohngruppen bereits sehr lange in institutioneller Betreuung stehen. Es ist anzunehmen, daß zum einen ein gewisser Gewöhnungseffekt eine große Rolle spielt, zumal diese Männer ja kaum etwas anderes
60
kennen, als das Leben in einer Institution. Zum anderen können sich viele - wie auch
in unserer Befragung mehrfach verbalisiert - sehr wohl daran erinnern, daß die neue
Wohnform der Wohngruppe eine entscheidende Verbesserung ihrer Lebenssituation
gegenüber den früher erlebten institutionellen Wohn- und Lebensformen darstellt.
Das überwiegend positive Bild ihrer Wohnzufriedenheit hindert sie aber nicht daran,
sich Änderungen und spezifische Verbesserungen ihrer Wohnsituation zu wünschen.
Dagegen könnte bei den Bewohnern von betreuten Wohngemeinschaften das relativ
hohe Ausmaß an Unzufriedenheit damit interpretiert werden, daß sie sich vergleichsweise kurz in der Einrichtung befinden und diese Wohnform im Vergleich zu
ihrem früheren Leben in der Familie tendenziell als Verschlechterung bewerten. Auch
sie beteiligen sich zu hohen Anteilen an der Äußerung von Änderungswünschen.
Die Zufriedenheit mit der Wohnform ist abhängig von den Standards in den einzelnen
Einrichtungen, die damit von ihren Bewohnern ausgesprochen unterschiedliche Zufriedenheitswerte erhalten. So ist in der steirischen Einrichtung mit dem höchsten Anteil an Mehrbettzimmerstandard auch die Zufriedenheit am niedrigsten: Knapp jeder
Zweite (47%) äußert sich mäßig bis nicht zufrieden. In den Einrichtungen mit überwiegend Einbettzimmern bzw. ambulant betreuten Wohnplätzen fallen dagegen sehr
hohe Zufriedenheitswerte an (Tabelle im Anhang).
Insgesamt äußert jeder Dritte (33,3%) der befragten Männer konkrete Änderungswünsche und partielle Kritik. Wünsche melden vor allem die Bewohner von Wohngruppen im Heim bzw. von betreuten Wohngemeinschaften an. Die hohe Zufriedenheit der Bewohner von ambulant betreuten Wohnplätzen schlägt sich auch in einer
vergleichsweise niedrigen Anmeldung von Änderungswünschen nieder. Nur jeder
Fünfte wünscht eine Änderung, während dieser Anteil in Wohngruppen im Heim sowie in betreuten Wohngemeinschaften doppelt so hoch ist (41%). Die genannten Änderungswünsche beziehen sich vor allem auf eine abgeschlossene Wohneinheit.
Tab. 5: Was möchten die Männer anders haben? (Mehrfachnennungen)
Was sollte anders sein?
Wohnung allein
möchte weg
Einzelzimmer
mit bestimmten Personen in WG leben
mehr Zuwendung, Kontakt und sex. Beziehung
weniger Störungen durch MitbewohnerInnen
wünsche sensibleren Umgang durch das Personal
sonstiges/weiß nicht
Gesamtzahl der Nennungen
Absolut
6
5
5
5
5
3
1
11
41
Prozent
14,6
12,2
12,2
12,2
12,2
7,3
2,4
26,8
100,0
Die Änderungswünsche verteilen sich je nach Einrichtung und den entsprechenden
Standards unterschiedlich häufig. Die meisten Nennungen erfolgen in den Einrichtungen in der Steiermark sowie Salzburg und Wien 1. Im Fall der steirischen Einrichtung hat mehr als die Hälfte der befragten Männer Änderungswünsche. Dabei werden in den Interviews vielfach auch Fragen der allgemeinen Integration im sozialen
Umfeld und die allgemeinen Lebensbedingungen angesprochen. So wird unter anderem die räumliche Situierung der Einrichtungen in den ländlichen Gegenden kritisiert
und bessere Rahmenbedingungen für soziale Teilhabe gewünscht. Andere kritische
61
Anmerkungen betreffen auch die fehlende Integration der Einrichtungen im sozialen
Umfeld:
„Hier leben ja nur Menschen mit Behinderungen, sodaß wir mit Nicht-Behinderten
kaum einmal zusammenkommen. Das beschränkt sich dann meist auf die, die als
BetreuerInnen hier arbeiten.“ (Bewohner)
Vielfach mischt sich in diese kritischen Anmerkungen auch Resignation über eingeschränkte Lebensperspektiven bzw. die Sorge vor Einsamkeit und unzureichender
Hilfestellung bei einem Leben außerhalb der Einrichtung. Diese resignative Grundstimmung führt bei manchen der Interviewten dazu, daß sie ganz bewußt darauf verzichten, konkrete Änderungswünsche zu artikulieren. Die Wünsche nach einer Verbesserung der sozialen Teilhabe bzw. entsprechenden Rahmenbedingungen sind
gänzlich unabhängig von den Wohnstandards - im Gegenteil: Diese Wünsche werden vor allem auch in Einrichtungen mit relativ guten Standards vorgetragen. Standardbezogene Änderungswünsche werden andererseits vor allem in den Einrichtungen mit vergleichsweise eingeschränkten Wohnstandards geäußert.
4.
Institutionelle Vorsorgen für Auseinandersetzung mit Sexualität
In allen Einrichtungen werden nach Auskunft der MitarbeiterInnen Maßnahmen zur
Sexualerziehung und Aufklärung gesetzt.
62
Diagramm 2: Institutionelle Vorsorgen für Auseinandersetzung mit Sexualität
40
Rückzugsmöglichkeiten
35
Gesprächsangebote
30
Aufklärungsmaterial
25
Sexualität von Paaren ist
möglich
20
Beratung / Therapie
15
Ausgabe von Kondomen
10
Arbeitskreis / Fortbildung
5
0
Prozent
Anzahl der Nennungen = 145
Am häufigsten werden Rückzugsmöglichkeiten und das Angebot von Gesprächen mit
den BetreuerInnen als institutionelle Vorsorgen genannt. Neben den institutionellen
Maßnahmen, die es Paaren ermöglichen sollen, als solche zusammenzuleben, finden sich in dieser Liste von Vorsorgen überwiegend individuelle, personenbezogene
Ansätze. Auffällig daran ist vor allem das Fehlen von weitergehenden Arbeitsansätzen wie beispielsweise geschlechtsspezifische Ansätze der Arbeit mit den Jungen
und Männern mit Behinderung. Kein einziges Mal wird von den BetreuerInnen das
Thema der geschlechtsspezifischen Betreuung oder Gruppenarbeit genannt oder auf
Konzepte systematischer und übergreifender Vorsorgen hingewiesen. In der konkreten Arbeit mit Männern mit Behinderung gibt es, so scheint es zumindest auf der Ebene der BetreuerInnen, keine entsprechend ausformulierten und handlungsanleitenden geschlechtsspezifischen Konzepte. Vor diesem Hintergrund überrascht es
denn auch nicht, wenn in den persönlichen Gesprächen mit BetreuerInnen zum
Themenbereich Sexualität und sexuelle Gewalt überwiegend persönliche Betroffenheit und Hilflosigkeit zum Vorschein kommen. Tatsächlich dürften die Vorsorgen gegen sexuelle Gewalt im Heim- und Institutionenalltag auf reaktive Formen des Umgangs mit bekanntgewordenen Fällen sexueller Ausbeutung und sexualisierter Gewalt beschränkt bleiben.
Zudem ist in einigen Einrichtungen nur ein sehr eingeschränktes Spektrum an institutionellen Vorsorgen für Sexualität zu finden (Tabelle im Anhang). In einer Einrichtung
beschränken sich diese überhaupt auf ‘Rückzugsmöglichkeiten’, ‘Gespräche mit den
BetreuerInnen’ bzw. ‘therapeutische Hilfe’. Aktive und selbstbestimmte Sexualität von
Personen mit großem Hilfebedarf, insbesondere im Intimbereich, ist ohne entsprechende Vorsorgen (Ausstattung der Räumlichkeiten, Hygiene etc.) aber sicherlich
nicht zu gewährleisten und - so könnten diese Ergebnisse interpretiert werden - institutionell nicht vorgesehen. In der überwiegenden Mehrzahl der untersuchten Einrichtungen ist in diesem Sinne ein Mangel an Vorsorgen für Sexualität zu konstatieren
63
und ein großer Bedarf nach ensprechender Weiterentwicklung festzustellen. Das gilt
besonders auch für das Thema der sexuellen Gewalt.
In zwei der befragten Einrichtungen (Wien 1 und Oberösterreich 1) findet sich ein überproportionaler Anteil von Vorsorgen mit relativ breiter thematischer Streuung.
Hilfsmittel und persönliche Hilfeangebote halten sich hier die Waage. Diese sind
auch die einzigen Einrichtungen, die auf Wunsch oder Bedarf Kondome aushändigen. Insgesamt zeigt sich hier ein differenzierterer Umgang mit Sexualität, der sowohl in den qualitativen Gesprächen mit BetreuerInnen als auch in den Aussagen der
Männer mit Behinderung zum Ausdruck kommt.
Von besonderem Interesse erscheint ferner der Zusammenhang zwischen der Wohnform und den institutionellen Vorsorgen (Tabelle im Anhang). Die Nennungen zu institutionellen Vorsorgen konzentrieren sich insbesondere auf die Wohnform der
Wohngruppen im Heim; hier finden sich auch die höchsten Anteile des Hilfeangebotes durch BetreuerInnen (Gespräch, Beratung), während etwa im Bereich der betreuten Wohngemeinschaften an erster Stelle die Rückzugsmöglichkeiten hervorgehoben
werden. Weiterführende und insbesondere geschlechtsspezifische Präventionsansätze, die sowohl Schutz und Hilfe für die potentiellen und tatsächlichen Opfer von
sexueller Gewalt als auch Arbeit mit den potentiellen und tatsächlichen Tätern leisten
könnten, fehlen in allen Wohnformen und Einrichtungen. Im Gegenteil waren in den
Einrichtungen Szenen und Situationen zu beobachten, die eher dafür sprechen, daß
strukturell tendenziell verhindert wird, daß die Männer (junge wie alte) sich auch als
Männer erleben können.
Am eindrucksvollsten war dabei die weitgehende Vermischung von öffentlich und privat in einer Einrichtung, in der die Männer im Pyjama zum Interview erschienen. Auf
diesem Hintergrund wird auch verständlich, weshalb sich - wie wir weiter unten sehen werden - ein großer Teil der Männer als “Bub” bezeichnet und dementsprechend
keine altersadäquate sexuelle Identität hat.
5.
Aufklärung
Mehr als die Hälfte der befragten Männer (52%) geben an, nicht aufgeklärt zu sein.
In einigen Einzelfällen war es überdies offensichtlich nicht möglich, Themen aus dem
Bereich der Sexualität anzusprechen. Die Männer stehen zum Teil unter einem außerordentlich stark ausgeprägten Verbotsdiktum. Entsprechende Fragen werden von
diesen Männern als Verletzung des einschlägigen Verbotes und damit als Bedrohung
erlebt. Entsprechend enthaltsam fallen dann ihre Antworten aus. Ihre Reaktion beschränkt sich dann auf Kopfschütteln, Lippen zusammenbeißen und/oder Schultern
hochziehen. Dabei vermitteln sie das Bild eines kleinen Jungen, der bei etwas Verbotenem ertappt wurde. In besonders plastischer Weise kommt dieses Sexualverbot in
folgenden Beispielen gescheiterter Interviews zum Ausdruck.
Hermann H.
Hermann H. ist 35 Jahre alt. Er hat sich im Rahmen des Orientierungsgespräches
nicht nur freiwillig zum Interview gemeldet, sondern sich darüberhinaus ganz eindeutig für den männlichen Interviewer entschieden. Auf die Frage, ob er über Sexualität
aufgeklärt wurde, gibt Hermann H. keine verbale Antwort. Stattdessen schüttelt er
64
den Kopf. Nachdem dem Interviewer nicht klar wurde, ob Hermann H. die Frage verstanden hatte, wiederholte er diese mit anderen Worten. Auch darauf beschränkt
Hermann H. sich auf diese Form der Antwort, die er dann auch in der Folge beibehält. So schüttelt er den Kopf als Antwort auf die Fragen, ob er wüßte, wann ein
Mann eine Erektion bekommt, wann ein Mann einen Samenerguß hat und wie
Selbstbefriedigung geht. Er zieht sich sichtlich mehr und mehr zurück. Bei der Frage,
ob Selbstbefriedigung in seiner Jugend verboten war, bricht plötzliche Erregung
durch: Hermann H. breitet die Arme aus und zeigt die Handflächen wie zur Kontrolle
vor. Gleichzeitig blickt er demonstrativ auf seinen Schoß und sagt deutlich akzentuiert: „Schau mich an! Ich bin sauber!“ Ob er wisse, wie Geschlechtsverkehr zwischen
Mann und Frau verlaufe, beantwortet er wieder mit der gestisch gestützten Formel.
Danach steht er auf und verläßt mit stockendem Schritt aber zielstrebig den Raum.
Martin B.
Martin B. ist etwa 30 Jahre alt und lebt in einer Wohngruppe. Zur großen Überraschung der BetreuerInnen meldet auch er sich beim Orientierungsgespräch in der
Gruppe für das Gespräch mit dem männlichen Interviewer. Die Aufmerksamkeit von
Martin B. läßt bei der ersten Frage zum Sexualitätsthema schlagartig nach. Er beantwortet die Frage nach Sexualaufklärung erst nach mehreren Umwegen, dann aber mit einem deutlichen „Nein“. Auf die weiteren Fragen nach seinem Wissensstand
verweigert er dann völlig die Antworten und wechselt in ein Rollenspiel über. Martin
B. ist in der Folge zuerst der Schäferhund seines Vaters und anschließend der ‘Audi’
der Familie (von beiden zeigt er voller Stolz vom vielen Gebrauch schon etwas
schmuddelige Fotos) und wechselt damit auf eine symbolische Kommunikationsebene. Eine Fortsetzung des Interviews ist auf dieser Basis nicht möglich.
Beide exemplarisch vorgestellten Beispiele zeigen, wie prekär das Thema Sexualität
für einige der befragten Männer ist. Ein übergroßes Sexualitätsverbot, ganz offensichtlich auf die Kindheit der Befragten und Erziehungspersonen wie Eltern oder
Nonnen zurückgehend, verhinderte eine weitergehende Exploration.
Dieses Sexualitätsverbot kommt aber auch in den Antworten auf die Frage zum Ausdruck, ob Selbstbefriedigung in ihrer Jugend verboten war. Dies trifft für ein Drittel jener Männer zu, die sich als sexualaufgeklärt erweisen (14 Männer, das sind 12% der
Gesamtstichprobe).
5.1
Zum Aufklärungsstand
Insgesamt 41% der Befragten schildern ein Aufklärungsgespräch.
65
Tab. 6: Grad der sexuellen Aufklärung
ja
nein
Aufklärungswissen
Erektion
Samenerguß
Selbstbefriedigung
Homosexualität
Heterosexualität
Kindesentstehung
Monatsblutung
Verhütung
Petting
Geschlechtskrankheiten
Verwendung eines Kondoms
Nein sagen können
Nein respektieren
sexuelle Gewalt
Abs.
49
47
49
30
48
46
33
36
34
27
21
49
45
41
in %
41,9
40,2
41,1
25,6
41,0
39,3
28,2
30,8
29,1
23,1
17,9
41,9
38,5
35,0
Abs.
6
8
7
23
7
5
20
16
18
25
24
3
3
9
in %
5,1
6,8
6,0
19,7
6,0
4,3
17,1
13,7
15,4
21,4
20,5
2,6
2,6
7,7
keine Antwort /
weiß nicht
Abs.
In %
62
53,0
62
53,0
61
52,1
64
54,7
62
53,0
66
56,4
64
54,7
65
55,5
65
55,5
64
54,7
72
61,5
65
55,5
69
58,9
67
57,2
Gesamt
Abs.
117
117
117
117
117
117
117
117
117
117
117
117
117
117
Im Durchschnitt ist ein Drittel der befragten Männer (34%) über sexuelle Themen
informiert und aufgeklärt. Der überwiegende Anteil der Befragten (52%) hat zu den
nachgefragten Themen keine Antwort gegeben. Durchschnittlich 14% wissen über
einzelne Themen nicht Bescheid.
Die befragten Männer wissen zu relativ hohen Anteilen über Erektion, Selbstbefriedigung, Samenerguß und heterosexuellen Geschlechtsverkehr Bescheid (zu ca. 41%).
Demgegenüber erscheint der Wissensstand über die Themenbereiche Verhütung
(31%), weibliche Geschlechtsspezifika wie z.B. Monatsblutung (28%) sowie Geschlechtskrankheiten (23%) ausgesprochen niedrig. Auch über Homosexualität wissen nur wenige Bescheid (26%). Es ist also ein ausgesprochen lückenhaftes und
bestenfalls selektives Wissen über Sexualität festzustellen. Die Männer mit Behinderung erweisen sich damit als noch schlechter aufgeklärt und informiert als die befragten Frauen mit Behinderung (Zemp/Pircher 1996), von denen immerhin knapp die
Hälfte (47%) Bescheid weiß. Im unterschiedlichen Aufklärungsstand von Männern
und Frauen mit Behinderung dokumentiert sich, daß Frauen mit Behinderung - unter
anderem wegen des Schwangerschaftsrisikos - eher (mit Schwerpunkt auf Verhütung) aufgeklärt werden als Männer. Am Beispiel von Friedrich T. läßt sich die selektive Aufklärung von Männern mit Behinderung exemplarisch darstellen.
Friedrich T.
Friedrich T. (ca. 25 Jahre alt) weiß über Erektion, Samenerguß und Selbstbefriedigung gut Bescheid und redet freimütig und offen darüber. Die weiteren Fragen zur sexuellen Aufklärung verneint er mit der Haltung von Staunen, gepaart mit
Scheu. Diese Themen sind für ihn offensichtlich Neuland. Bei der Aufklärung mit
Puppen, die Friedrich vom Interviewer einfordert, schaut er dann weitgehend nur aus
den Augenwinkeln heraus zu. Eine aktive Auseinandersetzung mit den Puppen, wie
Berühren, Aus- oder Ankleiden, ist ihm nur zaghaft möglich.
Je nach Einrichtung erweisen sich die Befragten als äußerst unterschiedlich aufgeklärt. Auffällig niedrig sind die Anteile der aufgeklärten Männer in der steirischen
66
(13%) und der Salzburger Einrichtung (23%). Dieser große Unterschied kann nur zu
einem geringen Teil durch einen unterschiedlichen Grad der Behinderung erklärt
werden, sondern steht eher als Ausdruck für die Ausprägung und die Qualität der institutionellen Vorsorgen für den Umgang mit Sexualität (Tabelle im Anhang).
Von besonderem Interesse erscheint deshalb die Frage nach den Personen, durch
die diese Aufklärung vorgenommen wurde.
Tab. 7: Von wem wurden die befragten Männer aufgeklärt?
Wer hat aufgeklärt?
andere /
LehrerIn
BetreuerIn Eltern
FreundIn
weiß nicht Gesamt
Abs. %
Abs. %
Abs. %
Abs. %
Abs. %
Abs. %
14
27,5 13
25,5 12
23,5 7
13,7 5
9,8 51
100,0
Das von den Männern erinnerte Aufklärungsgespräch hat zu ca. je einem Viertel in
der Familie, in der Schule sowie in der Einrichtung stattgefunden. Jeder Siebte erinnert sich an seine Aufklärung durch FreundInnen, Bekannte sowie Zeitschriften. Gerade in Hinblick auf die durchschnittlich bereits sehr lange Zeit, die sich die befragten
Männer in Einrichtungen der Behindertenhilfe aufhalten, erscheint deren Anteil bei
der Aufklärung als bedenklich gering. In der steirischen Einrichtung gibt es hierzu
keine einzige und in Salzburg eine Nennung. Demgegenüber kommt dem Engagement der BetreuerInnen bezüglich Aufklärung in den Einrichtungen Tirol 1, Oberösterreich 1 und Wien 2 überproportional hohe Bedeutung zu.
5.2
Wunsch nach mehr Wissen über Sexualität
Vor dem Hintergrund weitgehender Aufklärungsabstinenz der Einrichtungen und dem
generell sehr geringen Aufklärungsstand verwundert auch nicht, daß der Großteil der
befragten Männer (61%) mehr über das Thema Sexualität wissen bzw. überhaupt
aufgeklärt werden will.
60 Männer (52%) wollen über Sexualität mehr wissen. Davon geben 54 Personen
(46%) spezielle Wünsche bezüglich ihres Informationsbedarfes an. In erster Linie
äußern sie den Wunsch nach allgemeiner und umfassender Information; bei den
Spezialwünschen stehen Fragen zu Partnerschaft und Geschlechtsverkehr zwischen
Mann und Frau oben an.
67
Tab. 8: Worüber wünschen die Männer Aufklärung?
Thema
alles / allgemein über Sexualität
Geschlechtsverkehr zwischen Mann und Frau
Monatsblutung / Geburt
Geschlechtsverkehr zwischen Männern
Selbstbefriedigung
Verhütung
Erektion
Geschlechtskrankheiten
sexuelle Gewalt
Gesamt
Wunsch nach Information
Absolut
Prozent
30
55,5
7
12,9
5
9,3
4
7,4
3
5,5
2
3,7
1
1,8
1
1,8
1
1,8
54
100,0
Zum überwiegenden Teil wünschen sich die Männer eine Gesamtinformation. Demgegenüber entfallen auf spezielle Themenbereiche nur Einzelnennungen, die jeweils
für einige Männer von besonderem Interesse sind. Ausgesprochen gering sind insbesondere Interessenanmeldungen für die Bereiche sexuelle Gewalt, Geschlechtskrankheiten und Verhütung. Dieses Ergebnis ist in etwa analog zu den Ergebnissen
der ‘Frauenstudie’; damals wünschten sich die Frauen zu 60% Aufklärung über ‘alles’
(Zemp/Pircher 1996, S. 73).
Für den Großteil der befragten Männer war es auch ganz klar, an wen sie sich mit
diesem Informationsbedarf wenden möchten. Mehr als ein Drittel (38%) verweist auf
einen guten Kontakt zu eineR bestimmten BetreuerIn, von deR sie mehr über die genannten Themen wissen möchten. Im Unterschied zu den befragten Frauen wenden
sich die Männer damit zu einem größeren Anteil an ihreN BetreuerIn, während diese
sich mehrheitlich eine Information durch Außenstehende wünschten (35%). Eine in
diesem Sinne anonyme Form der Aufklärung ist für jeden Fünften der befragten
Männer von Interesse, die sich z.B. eine Informationsveranstaltung in der Einrichtung
(20%) wünschen. 18% überlegen, sich mit ihren Aufklärungswünschen an IhreN ÄrztIn bzw. an die/den PsychologIn zu wenden. Immerhin jeder Siebte aber (16%) will
sofort von deR InterviewerIn konkrete Antworten auf seine Fragen. Das Interview
wird in diesen Fällen für ein kurzes Aufklärungsgespräch (unter Verwendung der
anatomischen Puppen sowie Bild- und Anschauungsmaterial wie Kondom etc.) unterbrochen. Soweit sich im Gespräch große Unsicherheit über sexuelle Themen und
Begriffe zeigt, werden diese ebenfalls kurz erläutert, um so eine gemeinsame Verständigungsbasis darüber aufzubauen.
Bei der Frage, ob sie mehr über Sexualität wissen bzw. aufgeklärt werden wollen,
antworten rund drei Viertel der Befragten mit ja. Lediglich in zwei Einrichtungen (Oberösterreich 2 und Wien 1) liegen die Ja-Anteile deutlich darunter (33% und 40%).
Dies hängt im Falle der Einrichtung Oberösterreich 2 mit der anderen Zusammensetzung der Stichprobe zusammen; hier leben überwiegend körperbehinderte Menschen. Der Anteil der Bewohner, die sich als aufgeklärt beschreiben, ist hier ebenfalls
größer als in den Vergleichseinrichtungen. Daß auch in der Einrichtung Wien 1 der
Anteil der aufklärungsbedürftigen Männer relativ niedrig ausfällt, korrespondiert umgekehrt proportional mit den vielfältigen Vorsorgen, die in dieser Einrichtung realisiert
sind. Dagegen sind die Anteile der aufklärungsbedürftigen Männer in den weiteren
Einrichtungen - gemessen am niedrigen Aufklärungsstand - erwartungsgemäß hoch.
68
Überproportional hoch sind diese Anteile in Oberösterreich 1, Steiermark, Tirol 1 und
Salzburg. Zwischen Aufklärungsstand und institutionellen Vorsorgen für den Umgang
mit Sexualität gibt es damit einen klar ersichtlichen Zusammenhang (Tabelle im Anhang).
Nicht bestätigt hat sich allerdings das zentrale Ergebnis der ‘Frauenstudie’, wonach
insbesondere jene Frauen mit Behinderung aufgeklärt sind, die auch über Erfahrungen von sexueller Ausbeutung berichtet haben. Hier zeigt sich bei den befragten
Männern kein eindeutiger Zusammenhang.
6.
Sexuelle Identität
In der ‘Frauenstudie’ wurden die Frauen im Rahmen der Fragen zur Aufklärung danach gefragt, ob sie den Unterschied zwischen Frau und Mann kennen. Rund 35%
wußten es nicht bzw. gaben darauf keine Antwort. Da diese Frage letztlich keinen
zusätzlichen Erkenntniswert brachte und außerdem für einige sehr mißverständlich
war, beschlossen wir für die vorliegende Untersuchung, die Frage differenzierter und
gezielter zu stellen. Uns interessierte nämlich, einen Hinweis auf die Selbstwahrnehmung bzw. die sexuelle Identität der befragten Männer zu erhalten. Die Frage
danach, ob sie sich als Mann, als Frau, als Bub oder als anderes definieren, operiert
auf zwei Ebenen: Die eine Ebene bezieht sich auf die Geschlechtsrolle, der man sich
durch Biologie, Sozialisation und Kultur zugehörig fühlt, die andere auf den entwicklungsspezifischen Stand. Auf beiden Ebenen können Schlüsse gezogen werden hinsichtlich der institutionellen Rahmenbedingungen für die dort lebenden Bewohner
bzw. über das Menschenbild, das in der jeweiligen Institution bezüglich Behinderung
vorherrscht und mit dem Menschen mit Behinderung im Alltag konfrontiert sind. Wird
der männliche Bewohner unter den Vorzeichen seiner Geschlechtlichkeit wahrgenommen? Gibt es überhaupt einen geschlechtsspezifischen Zugang? Welcher
Spiel/Raum bezüglich Ausagieren von Bedürfnissen und Interessen wird ihm gelassen? Welche Verantwortlichkeiten werden ihm zugetraut?
69
Tab. 9: Als was fühlen sich die Männer?
als Mann
als Frau
als Bub
als etwas anderes
keine Antwort
Gesamt
Absolut
79
1
22
7
8
117
Prozent
67,5
0,8
18,8
5,9
6,8
100,0
Die Frage “Als was fühlen Sie sich?” wurde von den meisten Befragten sehr ernstgenommen. Nur rund 7% geben auf diese Frage keine Antwort. Nicht ganz zwei Drittel
der Befragten, 68%, meinen, sie fühlen sich als Mann. Bei manchen kam dies wie
aus der Pistole geschossen, unter dem Motto, „als Mann natürlich, was sonst“. Andere wiederum mußten eine Weile nachdenken. Erstaunlich für uns aber war, daß sich
rund 19% als Bub fühlen. Es waren genauso ältere wie jüngere, mehr oder weniger
behinderte, mehr oder weniger maskulin aussehende Männer darunter. Jedenfalls
sehen wir mit diesen Antworten die Sinnhaftigkeit der Fragestellung bestätigt. 6% bezeichnet sich gar als etwas anderes, z.B. “als Behinderter” und wie ein etwa sechzigjähriger Mann sagte, als “Halbmensch” oder als „Halbminderheit“. Bei letzterem stellte sich im Gespräch heraus, daß er nicht nur im Alter von 20 Jahren kastriert wurde,
“verschnitten” wie er selbst sagte, sondern daß sich im Verlauf der Pubertät bei ihm
eine weibliche Brust herausgebildet hat, die dann wegoperiert wurde. In seiner Diktion klingt das so: „Da hab’ ich eine Duttl g’habt, des haben sie mir geschnitten, ohne
Befund, ist das normal, von einem Doktor.“
Ein einziger Mann fühlt sich als Frau. Dieser Mann wünscht sich eine Geschlechtsumwandlung, er fällt also nicht in die Kategorie jener, die über ihre Geschlechtszugehörigkeit nicht Bescheid wissen.
Für die weitere Interpretation möchten wir uns eher auf die Selbstwahrnehmung als
Bub bzw. als “anderes” konzentrieren. Zusammengezählt macht das immerhin rund
ein Viertel aller Befragten aus. Aufgefallen ist uns auch, daß es bei dieser Frage tendenziell Unterschiede zwischen den einzelnen Einrichtungen gibt (Tabelle im Anhang).
Ins Auge stechen drei Einrichtungen, in denen es Abweichungen gibt. Das ist jene
Einrichtung in Wien 2, wo sich gleich viele Befragte “als Mann” wie “als Bub” fühlen,
je vier Männer. In der steirischen Einrichtung bezeichnen sich zwar neun Befragte als
Männer, aber immerhin sechs “als Bub”. In der Einrichtung in Oberösterreich 1 fällt
eine Streuung der sexuellen Befindlichkeiten auf. Hier fühlt sich zwar die Mehrheit
der Befragten als Mann (zehn Befragte), aber je drei Befragte als Bub und als „etwas
anderes“.
Die sexuelle Identität und Selbstwahrnehmung dürfte einerseits mit der Art und dem
Schweregrad der Behinderung zu tun haben. In den Einrichtungen, wo der Anteil der
Männer mit Körperbehinderung wie auch jener mit einer Lernbehinderung unter den
Befragten sehr hoch ist, ist auch das Selbstbild als Mann klarer definiert als in jenen
mit einem hohen Anteil an geistig behinderten Männern. Andererseits dürften die institutionellen Rahmenbedingungen für die Eigendefinition eine nicht unerhebliche
Rolle spielen. Gerade die Eigenbezeichnung „Bub“ bei erwachsenen Männern verweist in seinem regressiven Moment auf eine durchgängige Vorenthaltung selbstverantwortlichen und selbstbestimmten Sexual- und Alltagslebens, was zwangsge70
meinschaftliche ‘Unterbringungsorte’ wie Heime meistens mit sich bringen. Mangel
an Intimsphäre, fehlende Rückzugsmöglichkeiten für die Einzelnen, ein zeitlich
fremdkontrollierter Tagesablauf, was u.a. durch die Gruppensituation gegeben ist,
mangelnde Möglichkeiten der Berücksichtigung individueller Wünsche und Bedürfnisse etc. sind wesentliche Elemente, die den Objektstatus von BewohnerInnen von
Einrichtungen festschreiben und eine geschlechtsspezifische Sozialisation sowie Adoleszenz verhindern. Sexuelle Identität bleibt dann häufig prekär und die Entwicklung einer ‘reifen’ Geschlechtlichkeit vielfach behindert. Eine gebrochene sexuelle Identität ist in dieser Sicht ein wichtiges Indiz für eine grundlegende Problematik der
institutionellen Wohn- und Lebensbedingungen.
71
F.
“Männer mit Behinderung als Opfer ist kein Thema”7
Die Sicht der Opfer
Das Titelzitat kann als typische Aussage für den Stand der Problemwahrnehmung
beim Personal in den Einrichtungen hinsichtlich des Ausmaßes von sexueller Ausbeutung von Männern mit Behinderung gewertet werden. Obwohl uns nach einigem
Nachfragen fast alle ExpertInnen in den Einrichtungen Fälle von sexueller Gewalt an
Bewohnern erzählen konnten, scheint die Betroffenheit von Männern nicht in demselben Ausmaß wie jene von Frauen wahrgenommen und dementsprechend
thematisiert zu werden.
1.
Betroffenheit von sexueller Ausbeutung
Im Sinn einer weiten Definition von sexueller Ausbeutung unterscheiden wir zwischen
sexueller Belästigung und körperlicher sexueller Gewalt (siehe Kapitel A).
Auf die Frage, ob sie schon einmal sexuell ausgebeutet wurden, antworteten alle 117
Männer. 58 Männer (50%) geben an, daß dies schon mindestens einmal der Fall gewesen sei. Das ist jeder zweite Mann. Bei den Frauen (Zemp/Pircher 1996) haben
64% sexuelle Gewalterlebnisse. Demnach sind in rein quantitativer Hinsicht etwas
weniger Männer als Frauen mit Behinderung von sexueller Gewalt betroffen.
Bei einem Vergleich der Verteilung der betroffenen Männer in den fünf Bundesländern, in denen wir Befragungen durchgeführt haben, fällt auf, daß es bezüglich
der Gewalterfahrung von Männern große Unterschiede zwischen den Einrichtungen
gibt: Sie streuen zwischen 60% in Oberösterreich 2 als der Einrichtung mit dem
höchsten Prozentanteil an Opfererlebnissen und 36% in Wien 2 mit dem niedrigsten
Prozentanteil. Mit Ausnahme der beiden Tiroler Einrichtungen hat in den übrigen Institutionen rund die Hälfte der befragten Männer Erfahrungen mit sexueller Gewalt.
Interessant ist der Vergleich mit der ‘Frauenstudie’, wo der Prozentsatz von betroffenen Frauen in Salzburg (71%) und Tirol (69%) am höchsten war. Die oberösterreichischen Einrichtungen lagen bezüglich des Opferanteils von Frauen an vierter
Stelle.
7
Zitat aus einem ExpertInnengespräch mit einer Initiativgruppe zum Thema Sexualität, die
sich aus BetreuerInnen und Bewohnern zusammensetzt.
72
1.1
Sexuelle Belästigung
Tab. 1: Häufigkeiten einzelner Formen von sexueller Belästigung
(Mehrfachnennungen)
Sexuelle Belästigung /sexuelle Gewalt
Hat jemand blöde Bemerkungen über ihren Körper gemacht?
Hat Sie jemand mit Blicken ausgezogen?
Hat Ihnen jemand “Sex-Witze” erzählt?
Hat Sie jemand an bestimmten Körperstellen (Gesicht, Haare
etc.) berührt?
Gesamtzahl der Nennungen
Absolut
21
5
22
30
Prozent
26,9
6,4
28,2
38,4
78
100,0
Von den 58 Männern, die über sexuelle Ausbeutungserlebnisse berichten, erhielten
wir 78 Nennungen, die sich auf sexuelle Belästigung beziehen. Als sexuelle Belästigung empfinden die Männer Berührungen an bestimmten Körperstellen wie im Gesicht, an den Haaren oder ‘am Hintern’ (39%). Im Vergleich zu den Frauen geben
Männer diese Form der Belästigung häufiger an. Bei den hierzu befragten Frauen
waren es 25%, die aussagten, daß ihnen jemand gegen ihren Willen über die Haare
gestrichen hat. An zweiter Stelle der Belästigungen stehen “blöde Bemerkungen über
den Körper” (27%), wie etwa „Schlappschwanz“. Dieser Prozentsatz ist niedriger als
jener, der von den Frauen angegeben wurde (34%). Bemerkenswert ist, daß diese
Belästigungen zu einem großen Teil in der Einrichtung passieren und von anderen
Männern mit Behinderung ausgeübt werden; in 45% der Fälle sind die männlichen
Mitbewohner wie auch beispielsweise Mitschüler in der Sonderschule die Belästiger.
Dieses Phänomen, sich gegenseitig zu unterdrücken, ist eine verbreitete Verhaltensform insbesondere in gesellschaftlich ‘stigmatisierten’ Gruppen sowie in geschlossenen Gesellschaften.
In 15% der Fälle gehen die Hänseleien von unbekannten Männern an öffentlichen
Orten, also von Fremden aus; andere Kategorien wie Familienmitglieder, Betreuungspersonal etc. kommen hier kaum zum Tragen.
Obwohl anzügliche Witze meist von Männern erzählt werden, empfinden dies nicht
nur Frauen als sexuelle Belästigung. 28% der Männer fühlen sich durch sogenannte
Sex-Witze ebenfalls sexuell belästigt.
1.2
Sexuelle Gewalt
Die meisten der genannten sexuellen Gewalterfahrungen beziehen sich auf unangenehme Berührungen an Penis und Hoden (21%). 16% der Männer sagen aus, so angegriffen, gepackt oder geküßt worden zu sein, daß sie sich sexuell bedroht fühlten.
73
Tab. 2: Häufigkeiten einzelner Formen von sexueller Gewalt (Mehrfachnennungen)
Formen von sexueller Gewalt
Hat Sie jemand gezwungen, sich vor ihm/ihr nackt auszuziehen, oder dies
versucht?
Hat Ihnen jemand seine/ihre Geschlechtsteile gezeigt?
Hat jemand gegen ihren Willen von Ihnen verlangt, seine oder ihre Geschlechtsteile zu berühren?
Hat Sie jemand überreden oder zwingen wollen, ihn bzw. sie zu befriedigen?
Hat Sie jemand dazu überreden oder zwingen wollen, seine/ihre Geschlechtsteile in den Mund zu nehmen?
Hat jemand gegen Ihren Willen oder auf einen Ihnen unangenehme Weise Ihr
Glied, Ihren Hoden oder Ihren Hintern berührt?
Hat Sie jemand angegriffen, gepackt oder geküßt, daß Sie sich sexuell bedroht fühlten?
Hat Sie jemand gezwungen, bei sexuellen Handlungen (z.B. Selbstbefriedigung, Geschlechtsverkehr) zuzuschauen?
Hat Sie jemand gezwungen, mit Ihnen Pornofilme anzuschauen?
Hat jemand gegen Ihren Willen mit Ihnen irgendeine Art von Geschlechtsverkehr gehabt oder dies versucht?
Gesamtzahl der Nennungen
Absolut
12
Prozent
10,3
14
13
12,1
11,2
9
4
7,8
3,4
24
20,7
18
15,5
10
8,6
4
8
3,4
6,9
116
100,0
Bei den Männern kommt es im Gegensatz zu den Frauen auch häufig vor, daß ihnen
jemand seine/ihre Geschlechtsteile zeigt (rund 12%), sie gezwungen werden, jemanden an den Geschlechtsteilen zu berühren (11%), sie sich nackt vor jemandem ausziehen müssen (10%). 9% sagen, daß sie bei sexuellen Handlungen zuschauen
mußten. Männer werden jedoch in einem weit geringeren Maß als Frauen vergewaltigt bzw. wird Geschlechtsverkehr mit ihnen versucht: Dies trifft ‘nur’ in 7% der
Fälle zu. Im Gegensatz dazu machen bei den Frauen ein- oder mehrmalige Vergewaltigungen ein Viertel aller sexueller Gewalterfahrungen aus.
Ablesbar an diesen nackten Zahlen ist folgendes: Männer mit Behinderung sind genauso wie Frauen mit Behinderung in einem hohen Ausmaß von sexueller Gewalt
betroffen, es gibt auch keine Gewaltform, die ausschließlich von Frauen oder von
Männern erlebt wird. Dennoch gibt es deutliche geschlechtsspezifische Unterschiede. Die Männer werden zwar intim berührt, fühlen sich sexuell bedroht, werden
gezwungen, andere zu berühren, müssen bei sexuellen Handlungen anderer zusehen, aber Vergewaltigungen und Fellatio kommen im Vergleich dazu weniger häufig
vor. Demnach kann man von einem hohen Ausmaß an sexualisierter Gewalt im Alltag von Institutionen der Behindertenhilfe sprechen. Daß diese Formen sexualisierter
Gewalt hauptsächlich von Männern ausgeübt werden und kaum von Frauen, könnte
dahingehend interpretiert werden, daß sie einen wichtigen Bestandteil männlicher Riten und Umgangsformen bilden.
74
Häufigkeit der Gewalterfahrung
Tab. 3: Häufigkeit der Gewalterfahrung bei Männern mit Behinderung
Gewalterfahrung
1x
2x
3x
4x und mehr
Gesamt
Absolut
17
12
23
6
58
Prozent
29,3
20,7
39,6
10,3
100,0
Von den betroffenen 58 Männern erleben 71% sexuelle Gewalt mehr als einmal in ihrem Leben. 12 Männer (21%) geben an, zweimal sexuelle Gewalt erfahren zu haben,
und 23 Männer (40%) sogar dreimal.
Die Häufigkeit der sexuellen Gewalterlebnisse wie auch die Erzählungen einiger betroffenen Männer lassen die Aussage zu, daß sich für viele von ihnen - wie es auch
in der Geschichte von Norbert U. deutlich wird - die sexuellen Gewalterfahrungen
über einen längeren Zeitraum erstrecken, zum Teil über Jahre.
Norbert U.
Norbert U. ist geistig behindert. Er ist neunundzwanzig Jahre alt, wirkt aber jünger. Er
ist großgewachsen und gutaussehend. Er ist bis zum Alter von sechs Jahren gemeinsam mit seinen Geschwistern bei seinen Eltern aufgewachsen und kam dann in
eine Einrichtung. Auf die Frage nach seiner sexuellen Selbstwahrnehmung sagte er,
er fühle sich als Frau.
Noch bevor der Interviewer mit den Fragen beginnen konnte, begann er, von sich
aus zu erzählen. Er habe sich deshalb zum Interview gemeldet, weil „es ist nicht zum
Auszuhalten“. Er muß in der geschützten Werkstätte, am Gang, im Keller, aber auch
auf der Toilette und in der Dusche fast täglich von einem Mitbewohner sexuelle Gewalt erfahren. Dieser zieht ihn aus und vergewaltigt ihn. Er habe sich bereits an die
Werkstättenleitung gewandt und auch mit dem Gruppenbetreuer des Täters gesprochen, „aber das interessiert niemanden, es kommt keine Reaktion“. Er beklagt sich
darüber, daß er nicht ernst genommen wird. Dies sei im übrigen nicht das erste Mal,
daß ihm so etwas passiere. Immer wieder in seinem Leben werde er zum Lustknaben der Gruppe gemacht. Dem Stärksten in der Gruppe gehöre er halt. Dieser ‘darf’
mit ihm auch tun, was immer er will. Er selbst sieht keine Chance, daß er Nein sagen, oder daß er sich wehren könnte. Der Andere sagt einfach: „Gemma!“, dann wird
gegangen. Er weiß zwar, daß er Nein sagen könnte, aber er wehrt sich nicht dagegen, weil er „muß ja dann doch mitgehen“.
Der Täter ist noch in der Einrichtung, und Norbert U. versucht, ihm auszuweichen,
was aber nicht so einfach ist, weil ihm der Täter dauernd ‘nachsteigt’.
In der Geschichte von Norbert U. wird das Unterwerfungsritual in der Wiederholung
des Gewaltablaufs anschaulich vor Augen geführt. Das zwingende Wiederholungsmuster weist auf eine lange - vermutlich schon in der Kindheit begonnene - Sozialisation als Opfer hin, die ihn im Augenblick der Gewalt unter den Vorzeichen der
Machtlosigkeit resignieren läßt. Aus der Psychotherapie kennt man noch eine andere
75
Erklärung für dieses Wiederholungsmuster. Menschen mit Opfersozialisation verlassen in dem Augenblick, in dem sie sich bedroht fühlen, gewissermaßen als Überlebensstrategie ihren Körper, was zur Folge hat, daß sie sich gegenüber dem Aggressor/der Aggressorin nicht zur Wehr setzen können und dieseN gewähren lassen. Das
heißt für uns aber nicht, daß die Opfer die Gewalterfahrung durch ihr Verhalten selbst
heraufbeschwören und deshalb selbst daran Schuld sind. Dieses Argumentationsmuster wird vor allem auf der Ebene gerichtlicher Verhandlungen virulent und ist insbesondere im Zusammenhang mit Vergewaltigungsprozessen bei Frauen sehr verbreitet. Auch im Fall von Norbert U. könnte diese Sichtweise dafür verantwortlich
sein, daß von den BetreuerInnen keine Maßnahmen gesetzt werden.
1.3
Sexuelle Ausbeutung und Alter
In der Altersgruppe zwischen 16 und 24 Jahren werden die Männer am häufigsten
sexuell ausgebeutet (siehe Tabellen im Anhang). In dieser Altersgruppe finden sich
nicht nur die häufigsten Belästigungen (55%), sondern auch die meisten sexuellen
Gewaltvorkommnisse, nämlich 51%. 29% der sexuellen Gewalterlebnisse finden im
Alter zwischen 26 und 34 Jahren statt. 7% der Gewalterfahrungen fallen in Kindheit
und Pubertät bis 15 Jahren, die frühesten Erfahrungen werden im Alter von 10 Jahren gemacht. Am ehesten werden sie als Knaben an den Geschlechtsteilen berührt
oder müssen sich vor irgendjemanden nackt ausziehen. Alle übrigen Gewaltformen
kommen in dieser Altersstufe entweder kaum oder gar nicht vor.
Diese Zahlen weisen einen bedeutenden Unterschied auf zu der in der Literatur vertretenen Annahme, derzufolge sexuelle Gewalt im Erwachsenenalter bei Männern
kaum vorkommt. Die sexuelle Gewalt wird in erster Linie im Kindheitsalter geortet,
nämlich bei den sechs- bis 11jährigen Kindern, gefolgt von Kindern von 0 bis fünf
Jahren, dann erst kommt die Gruppe der Kinder zwischen zehn und 14 Jahren (Bange/Boehme 1997, 17).
Ganz allgemein ist festzuhalten, daß wir keine Indizien für Gewalterfahrung in der
Kindheit gefunden haben. Dies ist damit zu erklären, daß es für die Befragten kaum
möglich ist, in der kurzen Zeit eines Interviews Zugang zu verdrängten Gewalterfahrungen in der frühen Kindheit zu finden. Dazu kommt, daß sexuelle Ausbeutungserfahrung im Säuglings- und Kindheitsalter auf dem Weg der Sprache kaum zu erinnern ist, weil Kinder in diesem Alter noch keine Worte und Begriffe kennen für das,
was sie erfahren müssen. Für Menschen mit geistiger Behinderung dürfte das über
das Kleinkindalter hinaus gelten.
1.4
Täter und Täterinnen aus der Sicht der Opfer
Werden die Männer von demselben TäterInnentypus wie die Frauen ausgebeutet?
Eines der zentralen Ergebnisse der ‘Frauenstudie’ war, daß die befragten behinderten Frauen hauptsächlich von bekannten, gefolgt von unbekannten Männern ausgebeutet werden, aber immerhin 13% der Gewaltvorkommnisse auf Kosten ihrer
männlichen Mitbewohner gehen.
76
Diagramm 1: Verteilung der TäterInnen (nach Häufigkeit der Nennungen)
TäterIn
HeimbewohnerIn, MitschülerIn
andere Personen (unbekannt)
andere Personen (bekannt)
35
Pflege- und Betreuungspersonal
30
ArbeitskollegIn
Familienmitglied
25
sonstige Person
20
15
10
5
0
Prozent
Anzahl der Nennungen = 187
Insgesamt wurden zu Tätern und Täterinnen 187 verschiedene Nennungen gemacht.
Bei 58 betroffenen Männern heißt das, daß sie im Schnitt drei TäterInnen im Zusammenhang mit sexueller Belästigung und/oder sexueller Gewalt erlebten. Aus
Sicht der Opfer gehen die Übergriffe überwiegend von Männern aus. Die Täterschaft
bei den Männern weist aber eine andere Verteilung als bei den Frauen auf. Im vorliegenden Fall sind nämlich die MitbewohnerInnen mit einem Drittel aller Nennungen
die häufigsten TäterInnen. Wenn man die ArbeitskollegInnen als TäterInnen zu den
MitbewohnerInnen hinzuzählt, gehen sogar 44% der Gewaltfälle von behinderten TäterInnen aus (siehe Tabellen im Anhang). Interessant ist, daß diese Übergriffe zu fast
gleichen Teilen in Wohngruppen in Heimen wie auch in Wohngemeinschaften passieren.
Dieses Ausmaß stellt ein völlig neues Ergebnis dar und wirft ein grelles Licht auf das
Alltagsleben in den Einrichtungen. Es muß vor allem im Zusammenhang mit der institutionellen strukturellen Gewalt sowie dem Umgang mit Aufklärung, Sexualität und
sexueller Gewalt in der jeweiligen Einrichtung gesehen werden. Angesichts der geringeren Einschränkung der Gestaltungsmöglichkeiten aufgrund der höheren Wohnstandards in den Wohngemeinschaften im Vergleich etwa zu den Wohngruppen ist
dieses Ergebnis für die Wohngemeinschaften bedenkenswert.
In der vorliegenden Erhebung stehen die unbekannten Personen als TäterInnen genauso wie in der ‘Frauenstudie’ an zweiter Stelle, 23%.
Im Zusammenhang mit Gewalterfahrungen durch Unbekannte sei auch die
Geschichte von Toni S. erzählt.
Toni S.
Toni S. ist dreißig Jahre alt und lernbehindert. Bis zum Alter von 29 Jahren hat er zu
Hause bei seinen Eltern gewohnt. Er ist ausgebildeter Koch und arbeitet derzeit in
77
seinem erlernten Beruf. In seinem Zimmer stehen zwei Betten, das eine Bett wird von
seiner Freundin benutzt, die sehr oft bei ihm übernachtet.
Als er noch zu Hause gewohnt hat, wurde er häufig von Männern belästigt. Das erste
Mal wurde er im Alter von ungefähr 20 Jahren öfters gegen seinen Willen von einem
Bekannten berührt und gestreichelt. Das war ihm deshalb besonders unangenehm,
weil es ein Mann war. Er berichtet auch von Sex-Witzen, die ihm erzählt worden seien. Toni S. wurde von einem Fremden zu einem Pornofilmabend in dessen Privatwohnung eingeladen, wo er dann im Anschluß den anderen masturbieren mußte. Ansonsten hatte er immer wieder verschiedene Erlebnisse auf öffentlichen Toiletten mit
fremden Männern. Einmal wurde er an einem solchen Ort auch vergewaltigt. Diese
Täter hat er nie wieder gesehen. Dennoch weiß Toni S. über Homosexualität nicht
Bescheid, obwohl er immer nur von Männern sexuelle Gewalt erfahren hat.
Toni S. ist selbst auch Täter, er hat einmal eine junge Frau sexuell ausgebeutet, was
er aus der heutigen Perspektive besonders schlimm findet. „Das war nur einmal “und
„Das war ein Ausrutscher“, sagt er. Toni S. möchte aber weder als Betroffener noch
als Täter Hilfe haben.
Daß Toni S. Opfer von Fremdtätern wird, erklärt sich unter anderem aus der Not vieler Männer, ihre sexuellen Bedürfnisse im öffentlichen Raum zu leben bzw. leben zu
müssen. Toni S. weiß nicht, daß viele Männer, obwohl sie selbst nicht homosexuell
sind, sich dennoch anderen Männern nähern. Auch andere Interviewpartner haben
uns erzählt, daß sie öfters Orte aufsuchen, die von einer bestimmten Männerszene
frequentiert werden. In Wien beispielsweise ist der Karlsplatz ein solcher Ort. In Ermangelung von Möglichkeiten, eine Partnerschaft in der Einrichtung zu leben, ist dies
für einige von ihnen eine Gelegenheit, Sexualpartner zu finden. Manche Männer mit
Behinderung gehen schließlich selbst auf den Strich. Sexualität unter solchen entwürdigenden Bedingungen zu leben, bedeutet ein hohes Risiko, sexuelle Gewalt zu
erfahren.
Mit 14% in der Täterschaft nachgeordnet sind den Männern bekannte Personen. In
13% der Fälle wird das Pflege- und Betreuungspersonal der Täterschaft bezichtigt,
wobei dies überwiegend männliches Personal ist. Diese TäterInnenschaft könnte einerseits mit der täglichen Konfrontation von struktureller Gewalt in den Einrichtungen
und andererseits mit der Vollstreckung dieser begründet werden. Ein anschauliches
Beispiel dafür bietet eine Pflegerin in der Biografie von Franz F.
Franz F.
Franz F. ist 35 Jahre alt und hat eine Körperbehinderung. Er erzählt uns, daß er im
Alter zwischen elf und 12 Jahren von einer Pflegerin einer Rehabilitationseinrichtung,
wo er circa zwei Jahre lang wegen seiner Behinderung war, laufend gedemütigt wurde und sexualisierte Strafen über sich ergehen lassen mußte. Diese Pflegerin machte sich nicht nur lustig über ihn, sondern bedachte ihn fast jeden zweiten oder dritten
Tag mit Schimpfnamen wie „Drecksau“ und „Bettnässer“. Damit war aber nicht genug. Als Strafe für das Bettnässen zwang sie ihn mehrmals dazu, sich vor anderen
BewohnerInnen nackt auszuziehen, oder sie fesselte ihn nackt auf das Klo, wo ihn
durch die eigens offengelassene Tür alle sehen konnten.
Es gelang ihm, diesem Terror zu entkommen, nachdem seine Eltern, denen er in einem Brief davon berichtet hatte, für ihn intervenierten, ihn zu seinem Schutz aus der
Anstalt holten und die Betreuerin anzeigten. Die Betreuerin wurde zu einer Haftstrafe
78
verurteilt. Diese furchtbare Erfahrung ist für Franz F. mit ein Grund, daß er heute
sagt, “mit Frauen fang ich mir nichts mehr an”.
Die Geschichte von Franz F. ist ein Beispiel dafür, daß sexualisierte Strafen die Entwicklung einer sexuellen Identität stören können.
In 10% der Fälle sind die ArbeitskollegInnen am Arbeitsplatz die TäterInnen. Auch
dieses Faktum dürfte mit der strukturellen Gewalt in den Einrichtungen - wie sie weiter unten im Zusammenhang mit der Gewalt durch MitbewohnerInnen / MitschülerInnen problematisiert wird - zu erklären sein.
Die Familienmitglieder (Eltern, Stief-, Pflegeeltern, Geschwister) stehen in der TäterInnenschaft gemeinsam mit den sonstigen Personen (TherapeutIn, Ärzte, Fahrer
etc.) an letzter Stelle. Auffallend ist, daß nur wenige Männer angeben, sexuelle Gewalt in der Familie erlebt zu haben. Wir erklären uns den geringen Prozentsatz damit,
daß ein großer Teil der Betroffenen im Vergleich zum Aufenthalt in Institutionen nur
einen kurzen Zeitraum ihres Lebens bei der Familie verbracht hat, was also zumindest in zeitlicher Hinsicht die Möglichkeit einschränkt, Gewalt zu erfahren. Andererseits verdrängen viele Menschen sexuelle Gewalttaten, die sie in ihrer Kindheit erlebt
haben, und können sich deshalb an sie nicht mehr erinnern. Auch bei nichtbehinderten Männern kommt es vor, daß sie häufiger von anderen Personen - bekannten oder unbekannten - vergewaltigt werden als von Familienmitgliedern.
Allgemein ist festzuhalten, daß die überwiegende Anzahl von Übergriffen von Männern ausgehen, wobei dies keinerlei Aussagen hinsichtlich der Verbreitung von Homosexualität in den Einrichtungen zuläßt. Wie aus der Literatur hervorgeht, wählen
Täter Jungen nicht deshalb, weil sie homosexuell sind, sondern weil sie sich besser
mit ihnen identifizieren können und ihnen der Umgang mit den Jungen leichter fällt
als mit Frauen. (Schmiedeskamp-Böhler 1990, 18)
Weibliche Täterinnenschaft
Entgegen der bisher in der Literatur getroffenen Feststellung, daß sexuelle Gewalt
nur in Ausnahmefällen von Frauen ausgeht, ist in der vorliegenden Untersuchung der
Frauenanteil unter den genannten TäterInnen mit 22% verhältnismäßig hoch. Im
Vergleich dazu betrug der Anteil weiblicher Täterinnenschaft in der Frauenstudie 3%,
und bezog sich ausschließlich auf Betreuerinnen.
Der Großteil aller Übergriffe, von denen die betroffenen Männer berichteten, wird dabei von unbekannten Frauen verübt, das sind in erster Linie Begegnungen in Diskotheken und Gastbetrieben sowie Straßenbekanntschaften, aber offenbar auch Frauen, die in den Wohngruppen und Wohngemeinschaften auf Besuch vorbeikommen.
In diesem Zusammenhang ist die Geschichte von Robert T. aufschlußreich.
79
Robert T.
Robert T. ist 35 Jahre alt und hat eine Lern- und Körperbehinderung. Er lebt in der
Außenwohngruppe einer Einrichtung, wo er in der Cafeteria arbeitet. Robert T. erzählt uns, daß er eines Abends in der Diskothek von einer jungen Frau angesprochen wurde, die ihn dann auch in ihre Wohnung einlud. Dort näherte sie sich ihm
mit sexuellen Absichten, was ihn sehr empörte. Er fühlte sich dadurch sexuell bedroht. Er wies sie zurück und klärte sie dann über die Gefahren ihres Lebenswandels
auf, indem er ihr drohte, daß “er ja ein Täter“ sein könnte. Dann verließ er die Wohnung.
Innerhalb der Täterinnenskala stehen die Heimbewohnerinnen an zweiter Stelle. Wir
interpretieren diesen relativ hohen Prozentsatz dahingehend, daß jede zwangsgemeinschaftliche ‘Unterbringung’ notgedrungen eine Verdinglichung des Einzelnen
mit sich bringt. Dieses Verkommen zum Objekt kann die Gewaltbereitschaft fördern.
Laut Furey/Niesen (1993, 289) haben TäterInnen mit geistiger Behinderung abgesehen von einem Mangel an sexuellen und soziosexuellen Kenntnissen und negativen
frühen sexuellen Erfahrungen auch einen zusätzlichen Mangel an Selbstwert und sozialer Kompetenz. Die Unterdrückung von jemanden, der/die als schwächer angesehen wird, könnte als Kompensation dieses Mangels gewertet werden.
2.
Welches sind die Gewaltorte?
Eng mit der Art der Täterschaft verknüpft ist das Umfeld, in dem sexuelle Belästigungen und sexuelle Gewalt passieren.
Diagramm 2: Verteilung der Gewalt nach Umfeld in Prozent :
50
Heim/Einrichtung
45
40
35
außerhalb der
Einrichtung/Hotel oder
eigene Wohnung
30
am Arbeitsplatz
25
20
überall
15
10
zu Hause /
Ursprungsfamilie
5
0
Prozent
Anzahl der Nennungen = 115
Im Schnitt haben jeweils 13 Männer die oben angeführte Frage zu den Orten, wo sie
die Gewalt erfahren haben, beantwortet. Das Diagramm zeigt anschaulich, daß die
80
befragten Männer überwiegend in der Einrichtung Opfer von sexueller Gewalt werden. Dies gilt für fast die Hälfte aller betroffenen Männer, nämlich 48%. Wenn man
den Arbeitsplatz - der in der Regel in der einrichtungseigenen geschützten Werkstatt
oder in der Beschäftigungstherapie im Haus liegt - noch dazuzählt (16%), so steigt
der Anteil auf 64%. Auch bei den Frauen war der hauptsächliche Tatort die Einrichtung (39%). Darüberhinaus wurde den Frauen häufig außerhalb der Einrichtung Gewalt zugefügt (36%). Bei den Männern machen die Gewalterfahrungen, die sie an öffentlichen Kommunikationsorten, Hotels oder auch in Privatwohnungen erleben, 26%
aus. Markus M. erzählt uns, wie er an seinem Arbeitsplatz - der geschützten Werkstätte -sexuell ausgebeutet wird.
Markus M.
Markus M. ist 43 Jahre alt und lebt in einer betreuten Wohngruppe. Er ist von Kindheit an in verschiedenen Heimen aufgewachsen. Markus M. hat eine Anlehre als
Gärtner gemacht und ist derzeit in der geschützten Werkstätte als Hausmeister beschäftigt, wo er von einem Arbeitskollegen sexuell ausgebeutet wird. Dieser Kollege
verschleppt ihn mehrmals die Woche auf das WC, wo er sich ausziehen und den anderen befriedigen muß. Markus M. mußte auch in anderen Einrichtungen sexuelle
Gewalt erfahren, und zwar einmal vom Hausmeister des Heimes, ebenfalls einmal
von einem Betreuer sowie von anderen Heimbewohnern. Aber am meisten stört ihn
die Gewalt am Arbeitsplatz.
Der Tatort Arbeitsplatz dürfte deshalb von solcher Bedeutung sein, weil die Arbeitsräume durch Ausstattung und Gestaltung offenbar auch Möglichkeiten für Übergriffe
schaffen, die in anderen Bereichen der Einrichtung durch stärkere Überwachungsmöglichkeiten seitens des Betreuungspersonals schwerer zu bewerkstelligen sind.
Wir sind auch der Frage nachgegangen, welche sexuellen Gewaltformen an welchen
Örtlichkeiten passieren. Wir mußten feststellen, daß die betroffenen Männer in der
Einrichtung mit Ausnahme von Pornofilmen alle Formen von sexueller Gewalt in einem bedeutenden Ausmaß erfahren (siehe Tabelle 6 im Anhang). Am häufigsten
kommt es vor, daß die Männer in der Einrichtung an ihren Geschlechtsteilen berührt
werden, dies wurde 13 Mal genannt. Wie bereits erwähnt, sind die hauptsächlichen
TäterInnen unter den MitbewohnerInnen wie auch dem Betreuungspersonal zu finden. Im weiteren kommt es häufig vor, daß sich die Männer nackt vor jemandem
ausziehen müssen, ihnen Geschlechtsteile gezeigt werden, sie gezwungen werden,
ihn oder sie zu befriedigen, sie sexuell bedroht werden sowie gezwungen werden,
bei sexuellen Handlungen zuzuschauen. Von Vergewaltigung bzw. versuchter Vergewaltigung wird insgesamt achtmal berichtet. Davon ereigneten sich vier Fälle außerhalb der Einrichtung, drei in der Einrichtung und einer am Arbeitsplatz. Zu oralem
Verkehr werden die Männer zu je einem Drittel in der Einrichtung, außerhalb der Einrichtung und bei sich zu Hause, also in der Familie, gezwungen.
81
3.
Folgen für die betroffenen Männer
Daß sexuelle Gewalterfahrungen bei den betroffenen Frauen sich unter anderem in
physischen und psychischen Beschwerden äußern, wurde u.a. von Finkelhor (1984)
beschrieben. Die Studie von Zemp/Pircher (1996) zeigte, daß betroffene Frauen mit
Behinderung unter denselben Problemen leiden wie Frauen ohne Behinderung. Bislang gibt es noch keine Untersuchung zu den Folgen von sexueller Ausbeutung bei
Männern - weder mit noch ohne Behinderung. Deshalb war es wichtig, dieser Frage
hier speziell nachzugehen.
Laut BetreuerInnenfragebogen haben 57 (48%) der Männer regelmäßig körperliche
und/oder psychische Probleme. Von 29 Männern gibt es hierzu keine Angaben.
Tab. 4: Beschwerden der Männer
Ja
Nein
keine
Angabe
Gesamt
Absolut
57
31
29
Prozent
48,7
26,5
75,2
117
100,0
Laut BetreuerInnenfragebogen ist die Palette der Beschwerden breit. Mit 31% an erster Stelle werden Schwindelanfälle genannt. 17% der Männer leiden unter Phobien
und Ängsten. 11% haben sexuelle Probleme und je 10% leiden unter allgemeinen
Schmerzen sowie autoaggressivem Verhalten.
Diagramm 3: Art der Beschwerden bei Männern
Beschwerden
Schwindel/Epilepsie
Phobien/Ängste
Sexuelle Probleme
35
Schmerzen allgemein
30
Autoaggressives
Verhalten
25
Sonstiges/Zwänge
20
Schlafstörungen
15
Bauch-, Magen-,
Unterleibsschmerzen
10
Depressionen/Traurigkeit
Kopfschmerzen/Migräne
5
0
Prozent
Anzahl der Nennungen=70
Der Vergleich mit der Frauenstudie (Diagramm im Anhang) lohnt sich gerade auch in
dieser Frage, denn es lassen sich durch die sowohl quantitativ wie qualitativ anders
gelagerten Beschwerden bei den Männern mehrere geschlechtsspezifische Unter82
schiede feststellen. Bei den Frauen dominieren autoaggressive Verhaltensweisen
(wie Haare ausreißen, Kopf gegen die Wand schlagen, sich selbst mit Gegenständen
verletzen etc.) mit 36%. Diese Form von Beschwerden kann auch als mögliche Wut
gegen die Täter verstanden werden, gegen die sie nicht ankommen und sie die Wut
deshalb gegen sich selbst richten. Dieses Problem scheint bei den Männern erst an
vierter Stelle auf und weist mit 10% einen geringen Prozentanteil auf. Dies dürfte
damit zu erklären sein, daß Männer sozialisationsbedingt andere Verarbeitungsmuster von Beschwerden und Belastungen haben. Aggressionen äußern sie tendenziell in extravertierter Form, lassen sich verbal aus oder schlagen um sich. Möglicherweise trägt dieses Verhalten auch zu einer erhöhten sexuellen Gewaltbereitschaft gegenüber schwächeren MitbewohnerInnen bei.
Thomas S.
Thomas S. ist lernbehindert, er ist gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder bei seinen
Eltern aufgewachsen. Im Alter von sechzehn Jahren kam er in eine Einrichtung. Jetzt
lebt er in einer Wohngemeinschaft. Er fällt bereits bei der Orientierung der Männer
vor der Befragung auf, indem er laut sagt, daß er unbedingt mit “der Frau” (der Interviewerin) reden wolle, er wolle das Interview geben, “damit es ihm gut geht und nicht
schlecht geht”.
Das Interview findet in seinem Zimmer statt. Die Interviewerin muß sich auf sein Bett
setzen, er setzt sich neben sie ebenfalls auf das Bett. Auf die Frage: „Bist Du belästigt worden?“, antwortet er als erstes, daß seine Eltern immer, wenn er bei ihnen sei,
sich über ihn lustig und ständig blöde Bemerkungen über ihn machen würden. Dann
erzählt er von verschiedenen Gewalterfahrungen in seinem Leben. Hauptsächlich
wurde er von einem Pfleger in der Nervenheilanstalt mehrmals an seinen Geschlechtsteilen berührt. Er kann aber nicht sagen, in welchem Alter das war. Vor diesem mußte er sich - obwohl er sich gewehrt hat - nackt ausziehen. Thomas S. ist bereits mehrmals in die Nervenheilanstalt eingewiesen worden, weil er sehr aggressiv
ist. Bei seinen Wutausbrüchen wird er auch gewalttätig, schmeißt mit Sachen um
sich und geht Personen in seinem Umfeld körperlich an. Er erzählt auch, daß er von
einem Betreuer belästigt worden ist, geht aber in der Folge des Gesprächs nicht
mehr darauf ein.
Immer wieder unterbricht er seine Erzählung mit Aussagen, wie “Ich muß mich zusammenreißen, die ganze Zeit.” Er sagt aber auch, daß er sich sehr bemühe, seine
Wut unter Kontrolle zu halten. Wenn er wieder einmal spürt, daß ihn die Wut überkommt, geht er in sein Zimmer, “damit er nichts kaputt macht”. Thomas S. klagt auch
über häufige Schmerzen in den Augen, die er in unmittelbaren Zusammenhang mit
seinen Gewalterfahrungen bringt. Er erzählt auch, daß er selbst einer jungen Frau
aus seinem Dorf sexuelle Gewalt angetan hat und auch angezeigt wurde. Während
er dies erzählt, hält er sich die Hände vor die Augen und lacht.
Die aggressive Grundhaltung von Thomas S. könnte als Filter für die destruktive
Verarbeitung verschiedener Emotionen gesehen werden. Die Verletzungen und
Kränkungen durch seine Eltern, die sexuellen Gewalterfahrungen durch Pfleger in
der Klinik schreiben sich in ihn in Form von Zerstörungswut ein, weil er auch nicht in
der Lage ist, diese negativen Erfahrungen in anderer Form zu kanalisieren, beispielsweise indem er darüber spricht. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als diese aggressiven Gefühle, die zugleich auch einen Hilfeschrei darstellen - gegen sein Umfeld oder eben gegen Frauen - zu richten.
83
Mit 31,5% stehen bei den Frauen Phobien und Ängste an zweiter Stelle. In mehreren
Fällen erzählen die Frauen uns von der Art ihrer Ängste und Verfolgungsphantasien,
bei denen immer auch ein Zusammenhang mit der erlebten Vergewaltigung feststellbar ist. Diese Form ist bei Männern zwar auch an zweiter Stelle gereiht, betrifft aber
nur 17%. Von den Männern gibt es keinerlei Erzählungen darüber. Unter epileptischen Anfällen hingegen leiden die Männer (31%) in einem viel höherem Ausmaß als
die Frauen (20,5%). Wir erklären uns dieses hohe Ergebnis mit den unterschiedlichen Verarbeitungsmustern von Männern und Frauen: Männer dürften ihre psychischen Probleme tendenziell stärker auf der somatischen als auf der psychischen Ebene austragen. Außerdem könnte auch ein Zusammenhang damit bestehen, inwieweit die Männer ihre sexuelle Gewalterfahrung womöglich jahrelang mit sich herumtragen, ohne mit jemandem darüber zu sprechen. Wie wir weiter unten sehen werden, sind auch diesbezüglich geschlechtsspezifische Unterschiede feststellbar. Gerade bei Menschen mit geistiger Behinderung wurden Schwindelanfälle als psychosomatische Reaktion beobachtet. “Oft reagieren Opfer mit geistiger Behinderung mit
Schwindelanfällen, wenn sexuelle Gewalterfahrungen in ihr Bewußtsein drängen. Da
sie das Erlebte nicht mit Worten ausdrücken können, sind Schwindelanfälle ihre einzige Möglichkeit, vor der auftauchenden Bedrohung zu fliehen. In der Regel werden
sie deswegen auf mögliche Epilepsie untersucht. Häufig werden ihnen trotz negativem Befund Epilepsiemittel verschrieben, obwohl man um die Nebenwirkungen dieser Medikamente weiß. Gleichzeitig wird den Betroffenen damit eine ihrer wenigen
Möglichkeiten genommen, Hilfesignale auszusenden.” (Zemp 1996, 153)
Ein beträchtlicher Teil der Männer (11%) hat sexuelle Probleme. Diese Form wurde
wiederum von den Frauen nicht genannt. Sexuelle Funktionsstörungen als Folge von
sexueller Gewalt bei Männern werden auch in der Literatur beschrieben. Laut
Schmiedeskamp-Böhler sind vorzeitige Ejakulation, Impotenz etc. bei Männern, die in
ihrer Kindheit ausgebeutet wurden, weit verbreitet. Dies bedeutet auch, daß sexuelle
Kontakte für sie beängstigend sein können. Da dies nicht ins Bild des aktiven und potenten Mannes paßt, können Sexualstörungen dazu führen, daß sie depressiv und
hoffnungslos werden. (Schmiedeskamp-Böhler 1990, 31)
Als Beispiel für die Folgen von sexueller Ausbeutung möchten wir die Geschichte von
einem anderen Interviewpartner schildern.
Ossi R.
Ossi R. ist zweiunddreißig Jahre alt. Bis zu seinem vierzehnten Lebensjahr wuchs er
bei seinen Eltern auf und kam dann in das Heim, wo wir mit ihm gesprochen haben.
Er arbeitet jetzt in der Beschäftigungstherapie in der Textilwerkstatt. Auf die Frage,
als was er sich fühle, meinte er, er sei “ein Bub”. Über Sexualaufklärung weiß er überhaupt nicht Bescheid. Bei den Fragen zur sexuellen Ausbeutung ist er aufgestanden, im Zimmer auf und abgegangen und hat dann der Interviewerin ganz stockend erzählt, daß Schwester F. - eine Nonne - ihn manchmal ins Zimmer gesperrt
hat. Bis vor sieben Jahren war sie noch in diesem Heim. Das heißt, sie begleitete ihn
über einen Zeitraum von ca. 10 Jahren. Sie hat ihn ausgezogen, ihm „die Kleider
weggerrissen“, ihn an das Bett gebunden und ihn geschlagen. Sie nötigte ihn, indem
sie seine Hand nahm, in ihre Unterhose führte und sich dazu bewegte. Dann hat sie
ihn wieder geschlagen. „Ich war ganz lange gefesselt - konnte nicht auf Boden liegen
84
- auch nicht im Bett - konnte nicht mehr stehen - zuviel Blut“. Das mußte er öfters über sich ergehen lassen.
Ossi R. leidet unter Schwindelanfällen. Für ihn ist das ein neues Krankheitsbild, das
erst in der Einrichtung aufgetreten ist.
Auch Ossi R. ist Opfer sexualisierter Strafen durch eine Frau. Zusätzlich wird er von
der Nonne sexuell ausgebeutet. Im Fall von Ossi R. könnte jene These als Erklärung
für seine Beschwerden zutreffen, derzufolge manche Menschen die Gewalterfahrung
in Form von Schwindelanfällen psychosomatisch zum Ausdruck bringen, weil es
sonst keine andere Form für sie gibt. Obwohl die Gewalterfahrung mindestens sieben
Jahre zurückliegt, hat sich Ossi R. bislang nicht getraut, irgendjemandem darüber zu
erzählen. Er weihte die Interviewerin als erste in seine Gewalterfahrungen ein - und
dies unter großer Angst, entdeckt zu werden.
1.7
Beschwerden und Medikamente
Von 113 Männern nehmen 66 (58,4%) regelmäßig Medikamente ein. Nach den absoluten Zahlen betrachtet, sind das geringfügig mehr Männer als angeben, Beschwerden zu haben.
Diagramm 4: Art der Medikamente
Epilepsiemittel
35
Neuroleptika
30
25
blutdruckregulierende
Mittel
andere Schmerzmittel
20
Akinetikum
15
Antidepressiva
10
Beruhigungsmittel
5
0
Prozent
Anzahl der Nennungen = 136
Die Vergabe der Medikamente deckt sich in etwa mit der Verteilung der Art der Beschwerden. Unter Schwindelanfällen leiden 31% der Männer, geringfügig mehr Männer nehmen Epilepsiemittel ein, nämlich rund 34%. Es werden auch etwas mehr
Neuroleptika vergeben (21%) als Phobien und Ängste angezeigt werden (17%). (siehe Tabelle im Anhang)
5.
Umgang der Männer mit Gewalterfahrung
Aus der Literatur wie auch aus der ‘Frauenstudie’ wird deutlich, daß es für die Betroffenen sehr schwierig ist, mit einer sexuellen Gewalterfahrung umzugehen. Die Ausbeutung wird von Drohungen und Einschüchterungsversuchen seitens des/der TäterIn begleitet, etwa mit Liebesentzug, daß die Familie zerstört würde, wenn es be85
kannt wird etc. Die Betroffenen werden auch in das “Geheimnis” eingebunden. Außerdem wird ihnen vermittelt, daß Menschen mit Behinderung mangels Glaubwürdigkeit sowieso keine Chance hätten, die ‘Anschuldigungen’ erfolgreich zu verteidigen. Hinzu kommt das Argument, daß sie es aufgrund ihres sexuellen Notstands
selbst gewollt hätten, also selber daran Schuld tragen. Alle diese Momente führen
dazu, daß viele Betroffene über die sexuelle Ausbeutung jahrelang schweigen. Häufig treten psychische oder physische Beschwerden auf, die medizinisch nicht belegbar sind und die deshalb mit der Behinderung begründet werden, was dazu führt,
daß die Anzeichen letztlich nicht wahrgenommen werden.
Wie gehen also Männer mit Behinderung mit der Gewalterfahrung um? Inwieweit
wenden sie sich an eine Vertrauensperson ihres Umfeldes? Handeln sie diesbezüglich anders als betroffene Frauen?
Von den 58 betroffenen Männern haben vor dem Interview 21 oder 34% die Gewalterfahrung jemandem erzählt. Das ist vor allem im Vergleich zu den Frauen, die sich
zu 73% an eine Person ihres Vertrauens gewendet, ein niedriger Prozentsatz. Die
Tatsache, daß Jungen und Männer im Fall von sexueller Ausbeutung tendenziell über das Vorgefallene Stillschweigen bewahren, wird auch in der Literatur problematisiert. Das Schweigen der Jungen und Männer wird auf verschiedene Gründe zurückgeführt. Die Betroffenen - vor allem, wenn sie als Kinder noch in die Familie eingebunden sind - behalten das „Geheimnis“ auch für sich, aus Angst, ihre Familie würde
daran zerbrechen, wenn es bekannt wird. Zum einen wird aus Scham geschwiegen.
Man glaubt, sich selbst nicht genügend zur Wehr gesetzt zu haben. Die Ausbeutung
symbolisiert die Unfähigkeit, sich selbst zu schützen und stellt gleichzeitig die Fähigkeit in Frage, ein richtiger Mann zu sein. Zum anderen können Betroffene Angst haben, daß die gleichgeschlechtliche Ausbeutung zugleich auch als Beweis für Homosexualität gewertet werden könnte. Es wird auch geschwiegen, weil man Angst davor
hat, belächelt zu werden oder daß die eigene Männlichkeit angezweifelt wird, wenn
die sexuellen Erlebnisse mit Frauen als gewalttätig oder unangenehm bezeichnet
werden. Zuallerletzt wird geschwiegen, weil sie sich schuldig fühlen, durch das eigene Verhalten das Gewalterlebnis provoziert zu haben. Und es wird geschwiegen aus dem
Gefühl heraus, völlig allein zu sein und sich an niemanden wenden zu können.
Angesichts der Tatsache, daß die Problematik der Betroffenheit von Jungen und
Männern gesellschaftlich, aber auch in der Forschung, kaum wahrgenommen wird,
und es hierzu erst seit einigen Jahren vereinzelt Initiativen zur Schaffung von speziellen Anlaufstellen für Männer als Opfer von sexueller Gewalt gibt, ist diese Angst auch
verständlich.
86
Tab. 5: Wem haben die Männer die Gewalterfahrung erzählt?
AdressatIn
BetreuerIn
ArbeitsstättenleiterIn
Freundin/Frau/Lebensgefährtin
Mutter/andere
weiß nicht
missings
niemandem außer der/dem InterviewerIn erzählt
Gesamt
Absolut
13
3
2
2
1
14
23
Prozent
22,4
5,1
3,4
3,4
1,7
24,1
39,6
58
100,0
Die meisten Interviewpartner vertrauten ihre sexuelle Gewalterfahrung erstmals den
InterviewerInnen an (40%). Dieser hohe Prozentsatz verdeutlicht die Hemmung und
die Schwierigkeit vieler Bewohner, sich mit dieser Thematik jenen Personen mitzuteilen, mit denen sie den Alltag teilen. Es fiel ihnen offensichtlich leichter, ihre Ausbeutungserfahrung einer fremden, außenstehenden Person zu erzählen. Auch bei
der Befragung der Frauen machten wir diese Erfahrung, aber nicht in demselben
Ausmaß. Außer den InterviewerInnen stellen für die betroffenen Männer die BetreuerInnen (22%) die wichtigsten Vertrauenspersonen in diesem Zusammenhang
dar. Weitere Ansprechpersonen sind die WerkstättenleiterInnen, an die sich 5% der
Männer wenden. Die übrigen Personengruppen spielen kaum eine Rolle.
Ein typisches Beispiel für jemanden, der seine Erlebnisse erstmals im Interview erzählt, ist Ossi R. Im Anschluß an seine Erzählung sagte er, er wolle trotz seiner Gewalterfahrung keine Hilfe. Er war froh, daß er seine Erlebnisse, die er bisher für sich
behalten hat, jemandem erzählen konnte. Während des Interviews hatte er große
Angst, und bevor er zu reden begann, wiederholte er immer wieder: „Niemandem sagen.” Auch Thomas S. hat über seine verschiedensten sexuellen Gewalterfahrungen
mit niemandem außer der Interviewerin gesprochen, obwohl dessen Tätergeschichte,
da es zu einer Anzeige gekommen ist, allen bekannt ist. Als die Interviewerin die von
Thomas S. genannte Betreuerin mit dessen Hilfewunsch nach einer Psychotherapie
konfrontiert, um seine Opfererfahrungen zu verarbeiten, reagierte sie völlig erstaunt
über diesen Sachverhalt. Interessanterweise waren seine Opfererfahrungen auch in
der Therapie - die er seit einiger Zeit besucht - nicht zur Sprache gekommen.
6.
Folgen für die TäterInnen aus Sicht der Betroffenen
87
Tab. 6: Umgang mit den Tätern aus Sicht des Betroffenen
Art des Umgangs
TäterIn ist noch da/Leitung ist hilflos
kein Kontakt mehr zum/r TäterIn
Situation positiv verändert
Sonstiges
missings
Gesamt
Absolut
9
8
7
1
33
58
Prozent
15,5
13,8
12,1
1,7
56,8
100,0
16% der betroffenen Männer geben an, daß die Leitung hilflos auf ihre Gewalterfahrung reagierte. Diese Hilflosigkeit wirkte sich dahingehend aus, daß sich der/die
TäterIn noch in derselben Wohneinheit befindet und den Mann womöglich weiterhin
gegen dessen Willen sexuell bedrängt. In einem solchen Fall ist die Lage für die Betroffenen nach wie vor virulent, weil nichts unternommen wurde. Die Geschichte von
Markus M. steht exemplarisch für einen solchen Umgang. Er hat sich zwar mehrmals
beim Werkstättenleiter über die ständigen sexuellen Gewaltakte seitens seines Arbeitskollegen beschwert, was aber bisher keine Auswirkungen gezeitigt hat. Markus
M. möchte, daß die Interviewerin bei der Heimleitung dahingehend intervieniert, daß
sein Arbeitskollege die Werkstätte verlassen muß, denn dieser Wunsch ist bislang
nicht ernstgenommen worden.
14% der Männer haben keinen Kontakt mehr zum/r TäterIn. Wenn der/die TäterIn einE MitbewohnerIn war, wurde ihm/ihr eine andere Wohnmöglichkeit zugewiesen. In
einem Fall war die Täterin eine Betreuerin, sie mußte ihre Tätigkeit aufgeben und die
Einrichtung verlassen. Oder die Betroffenen selber laufen keine Gefahr mehr, den/die
TäterIn zu sehen, weil es eine außenstehende Person ist. In 12% der Fälle hat sich
die Situation zum Positiven verändert und ist jetzt für die Betroffenen lebbar geworden. Von 57% der betroffenen Männer gibt es hierzu keine Antwort. Auf diesem Hintergrund muß zusammenfassend festgehalten werden, daß die Situation bei mehr als
zwei Drittel der betroffenen Männer unbefriedigend ist.
7.
Maßnahmen gegen die TäterInnen
Bei den betroffenen Männern klafft das Verhältnis zwischen dem Ausmaß an sexuellen Gewalterfahrungen und den zur Prävention getroffenen bzw. zur Abhilfe geschaffenen institutionellen und rechtlichen Maßnahmen weit auseinander. In der Regel
passiert nach dem Bekanntwerden eines Falles von sexueller Ausbeutung wenig oder gar nichts.
Diagramm 5: Art der Maßnahmen
88
50
45
40
35
30
25
20
15
10
5
0
Täter wurde geschimpft
Täter bzw. Opfer wurde
versetzt
Anzeige - Verfahren
läuft
Anzeige und
Verurteilung
konkrete Maßnahmen
stehen noch aus
Sonstiges
Prozent
Anzahl der Nennungen = 16
Insgesamt wurden von den betroffenen Männern 16 verschiedene Maßnahmen genannt. In 50% der Fälle wurde der Täter von der Einrichtungsleitung bloß “geschimpft” und ihm eine Wiederholung seiner Tat(en) untersagt. Daß diese Vorgangsweise in den seltensten Fällen das Problem aus der Welt schafft, zeigen die
hohen Wiederholungsraten der Täter (siehe hierzu Kap. G). In rund 19% der Fälle
wurden die befragten Männer entweder selbst oder der/die TäterIn in eine andere
Wohneinheit versetzt. In drei Fällen wurde eine Anzeige erstattet, die in einem einzigen Fall zur Verurteilung der Täterin geführt hat. In zwei Fällen läuft das Verfahren
gegen den Täter. Bei einem weiteren betroffenen Mann stehen konkrete Maßnahmen
noch aus.
Ein eindrückliches Beispiel für die Schwierigkeit eines Menschen mit geistiger Behinderung, die Ausbeutungserfahrung durch eine nichtbehinderte Person glaubhaft zu
übermitteln, ist die Geschichte von Ulrich T.
Ulrich T.
Ulrich T. ist ein 31jähriger geistig behinderter Mann. Seine Kindheit verbrachte er zuerst bei der Mutter und dann in verschiedenen Institutionen. Heute lebt er in einer
Wohngemeinschaft. Er erzählt der Interviewerin, daß er von einem ortsansässigen
Bauern auf dessen Hof sexuell ausgebeutet wurde. Dieser zwang ihn, sich nackt vor
ihm auszuziehen, er wurde von diesem an seinen Geschlechtsteilen berührt, mußte
ihn oral befriedigen und wurde von ihm vergewaltigt.
Es ist nicht klar geworden, ob sich dieser Vorfall einmalig oder öfters ereignete. Ulrich T. hat seinem Bezugsbetreuer von diesem Erlebnis erzählt. Gegen den Mann
wurde zwar eine Anzeige erstattet, aber zum Zeitpunkt des Interviews im März des
Jahres war das Verfahren noch offen. Dem betroffenen Mann geht es psychisch sehr
schlecht mit dieser Situation. Er hat auch Schmerzen in der Penisgegend. Im Zuge
des Gesprächs bittet er die Interviewerin, für ihn bei der Betreuung zu intervenieren,
er möchte vor allem eine Therapie machen.
Im Anschluß an das Interview wendet sich der zuständige Betreuer von selbst an die
Interviewerin, um sich über diesen bestimmten Mann Klarheit zu verschaffen. Laut
Betreuer wurden, abgesehen von der polizeilichen Anzeige, keine weiteren Schritte
mehr gesetzt. Man glaubt dem Mann seine Geschichte nicht. Das BetreuerInnenteam
89
war der Auffassung, daß sich der Betroffene mit seinen Erlebnissen nur wichtig machen will. Der Betreuer sagte wortwörtlich: “Die erzählen uns ja soviel, ich kann mir
nicht vorstellen, daß das alles passiert ist, was er zu Protokoll gegeben hat bei der
Polizei”.
Daraufhin versuchte die Interviewerin, den Betreuer mit dem Hinweis, daß sexuelle
Gewalterlebnisse erfahrungsgemäß von niemandem erfunden werden, von der
Glaubwürdigkeit des Mannes zu überzeugen.
Im weiteren Gespräch stellte sich auch heraus, daß der Bezugsbetreuer erstmals mit
einer solchen Situation konfrontiert und offenbar überfordert war. Der Fall war zwar
Gegenstand einer Teambesprechung, aber es wurde keine handlungsanleitende
Entscheidung getroffen.
Der Betreuer fühlt sich mit diesem Fall sehr allein gelassen, ist aber in seiner Hilflosigkeit auch nicht imstande, sich die nötige Unterstützung und Hilfe beispielsweise
von der Einrichtungsleitung zu holen.
Nach dem Gespräch mit dem Betreuer hatte die Interviewerin den Eindruck, ihm mit
der Bestätigung den nötigen Anstoß für ein unmittelbares Handeln gegeben zu haben. Ein paar Wochen später rief die Interviewerin im Rahmen der Rückspiegelung
der Hilfewünsche die von Ulrich T. genannte Betreuerin an. Interessanterweise hatte
dieser nicht seinen Bezugsbetreuer angegeben. Tatsächlich aber reagierte die angesprochene Betreuerin auf den Hilfewunsch von Ulrich T. genauso wie vorher auch
der Betreuer und bezweifelte seine Glaubwürdigkeit.
Die ansatzweise Hilflosigkeit des BetreuerInnenteams ist auf den Umgang mit dieser
Fragestellung seitens der Institutionenleitung zurückzuführen. Daraufhin gefragt, wie
denn sexuelle Gewalterlebnisse von MitbewohnerInnen aus Leitungssicht behandelt
werden, vertrat der Leiter der Einrichtung im Expertengespräch die Auffassung, daß
„auf der Teamebene, auf der Ebene der Wohneinrichtung selber, der Großteil der
Problemlösungskapazitäten (läge), weil die Arbeit sonst nicht zu schaffen wäre“. Erst
wenn das Team der Auffassung ist, den Prozeß nicht mehr steuern zu können, würde er einschreiten. Dieser relativ autonome Zugang zu den Handlungsmöglichkeiten
seitens der einzelnen Betreuungsteams setzt aber bei diesen spezielle Erfahrungen
mit den Folgen von sexueller Gewalt und Kenntnisse voraus, die im vorliegenden Fall
scheinbar nicht gegeben sind und die deshalb auch in eine Überforderung ausarten.
Dieses Beispiel verdeutlicht sehr anschaulich, auf welchen verschiedenen Hierarchieebenen in den Einrichtungen Maßnahmen bezüglich der Unterstützung von Menschen mit Behinderung, die sexuelle Gewalterfahrungen machen, ansetzen müssen.
Einerseits muß auf der inhaltlichen Ebene insbesondere hinsichtlich des Menschenbilds von Behinderung gearbeitet werden. Nur, wenn Menschen mit Behinderung
nicht ernst genommen werden, steht auch deren Glaubwürdigkeit in Frage. Andererseits ist es absolut notwendig, daß sich die jeweilig Verantwortlichen ausgehend von
ihrer Funktion, ob als BetreuerIn, als pädagogischeR LeiterIn, als WohnbereichsleiterIn, als WerkstättenleiterIn etc., mit der Problemwahrnehmung und mit dem schrittweisen Umgang in konkreten Gewaltfällen auseinandersetzen.
8.
Brauchen die Männer Hilfe?
Wir fragten die von sexueller Gewalt betroffenen Männer auch danach, ob sie spezielle Hilfe benötigen würden, die wir ihnen vermitteln könnten. Von den 58 betroffenen Männern wünschen sich 12 (21%) Hilfe. Aber nur sieben Männer wollen, daß ihr
Wunsch mit Angabe des Namens von uns an eineN bestimmten AdressatIn, meis90
tens irgendjemanden aus dem Betreuungsbereich weitergeleitet wird. Auch in diesem
Fall dürften wir damit konfrontiert sein, daß es vielen Männern schwer fällt, sich als
schwach und hilfsbedürftig zu sehen, weil dies nicht in ihr Männerbild paßt. Wie wir
am Beispiel von Ulrich T. gesehen haben, ist diese Person nicht immer mit dem/der
jeweiligeN BezugsbetreuerIn ident. Es läßt sich auch keine Präferenz ableiten, ob
der/die AdressatIn eher eine Frau oder ein Mann ist.
Norbert U. fühlt sich als Frau und erkundigt sich beim Interviewer über Möglichkeiten
der Geschlechtsumwandlung. Er hat bisher mit seiner Bezugsbetreuerin noch nicht
über seine Gewalterfahrungen gesprochen, weil er sich bisher noch nicht getraut hat.
Deshalb bat er den Interviewer, gemeinsam mit ihm einen Brief zu verfassen. In diesem Brief schildert er den aktuellen Gewaltvorfall in der Werkstatt und appelliert an
die Betreuerin zu intervenieren.
Tab. 7: Art der Hilfewünsche
Hilfsformen
Psychotherapie
Intervention bei Leitung/Schutzmaßnahme
Gespräch mit Vertrauensperson
Verlegung in andere Wohngruppe oder andere Arbeitsstätte
missings
Gesamt
Absolut
3
2
5
2
Prozent
5,2
3,4
8,6
3,4
46
58
79,3
100,0
Unter den artikulierten Hilfewünschen scheint bei den Männern - wie dies im übrigen
auch bei den Frauen der Fall war - am stärksten das Bedürfnis nach einem Gespräch
mit einer Vertrauensperson (9%) auf. Offenbar wird dieser Form der Kommunikation
im Wohnalltag von Einrichtungen der Behindertenhilfe zu wenig Raum geboten. An
zweiter Stelle rangiert der Wunsch nach einer psychotherapeutischen Behandlung
(5%). Bei der Rückmeldung der Hilfewünsche an die Institutionen stellte sich zumindest bei zwei Männern heraus, daß sie sich bereits länger in Psychotherapie befinden. Dies gilt möglicherweise als eine Bestätigung des bereits eingeschlagenen therapeutischen Weges, eine Fortsetzung der Therapie seitens des betroffenen Mannes
scheint also durchaus erwünscht zu sein. Es könnte aber auch ein Indiz für das Bedürfnis des Betroffenen sein, den/die TherapeutIn zu wechseln. Gerade auch letzeres scheint uns angesichts der Tatsache, daß manche sexuelle Gewalterfahrungen in
der Therapie nicht zur Sprache kommen, durchaus plausibel zu sein.
Je zwei Männer (3%) wünschen sich seitens der/des InterviewerIn eine Intervention
bei der Leitung bzw. möchten in eine andere Gruppe/eine andere Wohneinheit oder
auch an eine andere Arbeitsstätte versetzt werden.
91
G.
‘Gemma’ hab i’ g’sagt, und dann samma gangen’8
Männer mit Behinderung als Täter
1.
Ausmaß von sexueller Ausbeutung
Insgesamt 32 Männer (27%) beantworten die Frage, ob sie schon einmal wen sexuell
belästigt haben bzw. sexuelle Gewalt ausgeübt haben, mit „ja“. Etwas mehr als jeder
Vierte unserer Stichprobe hat sich im Verlauf der Befragung zu Taten sexueller Belästigung und/oder sexueller Gewalt bekannt. Während ein Drittel der Personen von
einer einzigen Form von Ausbeutungshandlung berichtet, beschreiben die anderen
Täter zwei oder mehr verschiedene Formen von sexueller Ausbeutung. Insgesamt
werden von 32 der befragten Männer mit Behinderung 99 unterschiedliche Formen
von Gewalthandlungen genannt, die sie zum überwiegenden Teil mehrfach und zum
Teil an mehreren Betroffenen begangen haben. Davon sind knapp die Hälfte als sexuelle Belästigungen (49%) und 47 Vorfälle (51%) als sexuelle Gewalt zu qualifizieren.
1.1
Sexuelle Belästigung durch Männer mit Behinderung
Von sexueller Belästigung9 durch Männer mit Behinderung sind überwiegend Frauen
betroffen. Die männlichen Opfer kommen nahezu gänzlich aus dem näheren Umfeld
der Täter; es handelt sich dabei um Mitschüler oder Mitbewohner. Dagegen kommt
mehr als die Hälfte der weiblichen Betroffenen von außerhalb der Einrichtungen, und
zwar sind sie zu gleichen Teilen den Tätern bekannte oder unbekannte Frauen. In
sehr geringem Ausmaß (drei Nennungen) sind von der sexuellen Belästigung durch
Bewohner auch BetreuerInnen betroffen.
Die meisten Vorfälle (38%) betreffen den Versuch oder die Nötigung, sich berühren
oder streicheln zu lassen. Jeweils zu 29% haben sich die Männer mit ihrem Körper
an eine andere Person angedrängt oder ihrerseits dieseN im Gesicht oder an den
Haaren berührt und gestreichelt, obwohl der oder diejenige das nicht wollte. In mehr
als der Hälfte der Nennungen haben die geschilderten Vorfälle (52%) in der Einrichtung stattgefunden.
8
9
Zitat aus dem Interview mit einem Betroffenen.
In der nachfolgenden Darstellung haben wir - im Unterschied zur Darstellung von Opfererfahrungen - die Begriffe ‘Mit Blicken ausziehen’, ‘anzügliche Bemerkungen machen’ und ‘SexWitze’ zusammengenommen. Beim Begriff ‘Berühren’ unterscheiden wir hier ein eher ganzkörperliches Bedrängen und die (Streichel)Berührung von Gesicht, Haaren etc.
92
Tab.1: Sexuelle Belästigung durch Männer mit Behinderung (Mehrfachnennungen)
Sexuelle Belästigung (Mehrfachnennungen)
Opfer war Mann
Familienmitglied
Mitbewohner / Schüler
Betreuungspersonal
Arbeitskollege
Person (bekannt)
Person (unbekannt)
Bub
Opfer war Frau
Familienmitglied
Mitbewohnerin / -schülerin
Betreuungspersonal
Arbeitskollegin
Person (bekannt)
Person (unbekannt)
Mädchen
Gesamtzahl der Vorfälle
1.2
gezwungen,
zu berühren /
zu streicheln
2
mit dem
Körper bedrängt
2
2
15
Sex-Witze
gemacht
0
1
1
11
1
7
1
1
3
1
1
3
2
3
3
17
2
13
berührt an
Gesicht, Haaren etc.
Gesamt
2
6
0
2
5
1
0
0
1
1
1
1
11
39
2
15
1
4
2
1
9
3
9
1
3
1
1
2
45
13
Sexuelle Gewalt durch Männer mit Behinderung
Auch die Vorfälle sexueller Gewalt richten sich vor allem gegen Frauen (87%) und
dabei überwiegend gegen Mitschülerinnen oder Mitbewohnerinnen. Die außenstehenden Betroffenen sind den Tätern vielfach bekannt.
Tab. 2: Sexuelle Gewalt durch Männer mit Behinderung
Kategorien von sexueller
Gewalt
verübt an
Männern
Absolut
Prozent
Geschlechtsteil berührt
4
57,1
Glied gezeigt / selbstbefrie- 0
0,0
digt
festgehalten und geküßt
2
28,6
jmd. ausgezogen oder dies 0
0,0
versucht
jmd. gezwungen, Glied an- 1
14,3
zufassen
gezwungen, Glied in den
0
0,0
Mund zu nehmen
Vergewaltigung
0
0,0
Gesamt
7
14,9
verübt an
Frauen
Absolut
Prozent
10
24,4
2
4,9
Gesamt
Absolut
14
2
16
6
39,0
14,6
18
6
38,3
12,8
3
7,3
4
8,5
1
2,4
1
2,1
3
41
7,3
87,2
3
48
6,4
100,0
Prozent
29,8
4,3
Als häufigste Formen sexueller Gewalt werden von den männlichen Tätern ‘Festhalten und Küssen’ (38%) sowie die Berührung der Geschlechtsteile (30%) genannt.
Jemanden an Glied und Hoden zu berühren, ist die Form der sexuellen Gewalt, die
bei männlichen Opfern überproportional häufig vorkommt, während weibliche Opfer
vor allem Umarmen, Festhalten und Küssen gegen ihren Willen erleiden müssen.
93
JedeR dritte von sexueller Gewalt Betroffene ist MitschülerIn oder MitbewohnerIn
(32%) und kommt damit aus dem unmittelbaren Umfeld der Täter. Auf BetreuerInnen
entfallen zwei Nennungen. Im Vergleich zur sexuellen Belästigung fällt auf, daß die
sexuellen Gewalttaten ungleich häufiger außerhalb der Einrichtung begangen werden. In den Einrichtungen findet rund ein Viertel (27%) der Vorfälle sexueller Gewalt
statt.
1.3
Sexuelle Ausbeutung durch Männer mit Behinderung
Die Vorfälle sexueller Belästigung stehen häufig in einem unmittelbaren Zusammenhang mit weitergehenden Handlungen sexueller Gewalt, unter anderem als Versuch
der Nötigung oder als Vorstufen zu sexualisierten Gewalthandlungen. Nur wenige
Ausnahmen betreffen einmalige Handlungen, die nicht in direktem Kontext mit sexueller Gewalt stehen. Häufig sind dieselben Personen von sexueller Belästigung und
Gewalt betroffen. Wir stellen deshalb in der Folge die geschilderten Vorfälle von sexueller Belästigung und von sexueller Gewalt im Zusammenhang dar.
Tab. 3: Täteranteil nach Bundesländern
Bundesländer
Tirol 1
Tirol 2
Salzburg
Oberösterreich 1
Oberösterreich 2
Steiermark
Wien 1
Wien 2
Gesamt
Absolut
1
1
6
6
5
6
6
1
32
Täter
ja
in Prozent Absolut
14,3
6
20,0
4
27,3
16
35,3
11
33,3
10
40,0
9
24,0
19
9,1
10
27,6
85
nein
in Prozent
85,7
80,0
72,7
64,7
66,6
60,0
76.0
90,9
73,3
Gesamt
7
5
22
17
15
15
25
11
117
Während durchschnittlich 27% der befragten Männer sexuelle Belästigungen bzw.
Gewalttaten schildern, liegt dieser Anteil in einzelnen Einrichtungen deutlich darüber.
Das sind insbesondere die Einrichtungen in der Steiermark (40%), in Wien 2 (36%)
und in Oberösterreich 1 (35%). Demgegenüber sind die Anteile in den Tiroler Einrichtungen signifikant niedriger (14% und 20%).
Es sind also gerade größere Einrichtungen mit ausgeprägt katholischer Tradition, deren BewohnerInnen vielfach in Wohngruppen leben, in denen überproportional viele
Männer sexuelle Ausbeutung begangen haben. Beim Vergleich mit der Verteilung
der Opferanteile nach Einrichtungen zeigen sich damit weitgehende Entsprechungen.
Die Einrichtungen mit hohen Opferanteilen sind auch bezüglich des Anteiles an Tätern sehr belastet.
1.4
Häufigkeit von sexueller Ausbeutung
94
Wenn Männer mit Behinderung sexuelle Gewalt ausüben, kommt es überwiegend zu
einer Reihe von Gewalthandlungen. Ein Drittel der genannten Ausbeutungshandlungen (11 Nennungen) wird von den Tätern als Einzelvorkommnis beschrieben. Dagegen handelt es sich bei den weiteren Personen um Wiederholungstäter.
Tab. 4: Häufigkeit von sexueller Ausbeutung
Häufigkeit sexueller Ausbeutung
keine
einmal
zweimal
dreimal
viermal und öfter
Gesamt
1.5
Absolut
85
11
5
7
9
117
Täter
in Prozent
72,6
9,4
4,3
6,0
7,7
100,0
Täterschaft und Alter
Die meisten Fälle von sexueller Belästigung oder sexueller Gewalt durch Männer mit
Behinderung erfolgen im Alter von 15 bis 24 Jahren; auf diese Altersgruppe entfallen
rund 53% aller geschilderten Vorfälle (15-19 Jahre: 41%, 20-24 Jahre: 11%). Die Altersgruppe der 30-34jährigen weist mit 26% der Täter unserer Stichprobe den zweitgrößten Anteil an sexueller Ausbeutung auf.
Tab. 6: Altersverteilung (Mehrfachangaben)
Alter des Täters zum Zeitpunkt der Tat
unter 15 Jahren
15 - 19 Jahre
20 - 24 Jahre
25 - 29 Jahre
30 - 34 Jahre
älter als 35 Jahre
keine Angaben
Gesamt
Absolut
1
22
6
6
14
5
45
99
Prozent
1,0
22,2
6,1
6,1
14,1
5,1
45,5
100,0
95
2.
Umfeld der sexuellen Ausbeutung
Tab. 5: Umfeld der sexueller Ausbeutung
Ausbeutungsorte
zu Hause / in der Familie
in Heim, Einrichtung, Sonderschule
am Arbeitsplatz
öffentliche Einrichtung, Park, Straße
Wohnung, Hotelzimmer
keine Angaben
Gesamt
Absolut
15
35
4
10
16
19
99
Prozent
15,2
35,4
4,0
10,1
16,2
19,2
100,0
Die Vorfälle ereignen sich überwiegend in der Einrichtung; also entweder im Wohnbereich der Einrichtung, der geschützten Werkstätte oder einer Sonderschule (zusammen 39%). Demgegenüber entfallen auf einzelne externe Örtlichkeiten wie Hotelzimmer oder Wohnung des Opfers (16%) sowie öffentlich zugängliche Einrichtungen wie Parks (10%) deutlich weniger Nennungen. Ein knappes Sechstel der Nennungen (15%) bezeichnet das Zuhause als Ort der sexuellen Ausbeutung.
Diese Ergebnisse decken sich weitgehend mit den Darstellungen der Opfer von sexueller Ausbeutung, die diese ebenfalls überwiegend im Bereich der Einrichtungen
erleiden. Sexuelle Ausbeutung findet demnach überwiegend im geschützten Rahmen
der Einrichtungen und damit im engeren sozialen Umfeld der BewohnerInnen statt,
das sich in Zusammenschau von Betroffenen- wie Täterdarstellungen tendenziell als
sexualisiert gewaltförmiger Alltag erweist.
Sexuelle Ausbeutung am Arbeitsplatz
Der Arbeitsplatz wird von den Tätern insgesamt nur sehr selten als Ort sexueller
Ausbeutung genannt. Mit lediglich einer Nennung von sexueller Gewalt und drei Beispielen für sexuelle Belästigung gegen eine Arbeitskollegin nimmt sexuelle Ausbeutung am Arbeitsplatz den unbedeutenden letzten Rang in der Liste der Gewaltorte
ein.
Dieses Ergebnis steht in Widerspruch zu den Ergebnissen bezüglich Betroffenheit
von sexueller Ausbeutung (siehe dazu oben). In der Darstellung der Opfer ereignet
sich am Arbeitsplatz etwa jeder zehnte Vorfall von sexueller Ausbeutung, und wird
hier zur Gänze von ebenfalls behinderten Kollegen verübt. Offensichtlich wurde sexuelle Ausbeutung am Arbeitsplatz von den befragten Männern selektiv verschwiegen.
Dorian H.:
Dorian H. ist etwa 25 Jahre alt und lebt seit seinem sechsten Lebensjahr in einer Einrichtung. Seit sechs Jahren lebt er in einer Wohngruppe im Heim. Von den BetreuerInnen wird er als lernbehindert und verhaltensauffällig geschildert.
Dorian H. hat Erfahrungen mit sexueller Ausbeutung durch eine frühere Freundin und
ist auch selbst Täter. Er schildert eine Reihe von Vorfällen, die von sexueller Belästigung durch verbale Anmache und Berührungen bis zu sexueller Gewalt an einer Mit96
bewohnerin reichen. Es handelt sich dabei um eine junge Frau, mit der er regelmäßig
in der Werkstatt zusammentrifft. Wenn es ihm irgend möglich ist, dann paßt er sie auf
dem Gang zur Toilette ab. Im wesentlichen konzentrieren sich seine Ausbeutungshandlungen auf Berührungen am Körper und an der Scheide. Seine Taten begründet
Dorian damit, daß er mit der jungen Frau befreundet sein möchte.
3.
Opfer der Täter
Tab. 7: Betroffen von sexueller Belästigung und Gewalt
Geschlecht der Opfer
Frauen
Männer
missing
Gesamt
Absolut
79
13
7
99
in Prozent
79,8
13,1
7,1
100,0
Die von den Männern mit Behinderung genannten Vorfälle, bei denen sie sexuelle
Belästigung und Gewalt ausüben, betreffen, wie bereits betont, überwiegend weibliche Opfer (80%), wobei insbesondere die breite Streuung des Kreises von Betroffenen zu erwähnen ist. Zu den betroffenen Frauen zählen in erster Linie Heimbewohnerinnen und am zweithäufigsten den Bewohnern bekannte sowie unbekannte externe Frauen. Insgesamt achtmal wurden Mädchen (8%) ausgebeutet und sechsmal
sind Familienangehörige (6%) betroffen.
Damit ergibt sich in unserer Stichprobe ein deutlich anderes Bild als bei einer Untersuchung in den USA (Griffith u.a. 1985; siehe dazu oben S. 23). Danach richtet sich
sexuelle Gewalt durch Männer mit Behinderung gleichermaßen gegen Frauen wie
gegen Männer, was die AutorInnen damit erklären, daß Männer mit Behinderung bezüglich der Wahl ihrer Opfer keine geschlechtsspezifische Auswahl treffen, weil sie
diesbezüglich kein ausgeprägtes Geschlechtsbewußtsein hätten.
Eine mögliche Erklärung für diese deutliche Differenz zwischen den beiden Forschungsergebnissen bietet zum einen die Erkenntnis, daß Männer in persönlich geführten Erhebungen weniger offen Taten gestehen, die dem persönlichen Prestige
abträglich sein könnten; das heißt daß uns gleichgeschlechtliche Ausbeutungshandlungen tendenziell verschwiegen wurden (vgl. dazu unten: Dunkelfelddaten).
Demgegenüber heben Fragebogenuntersuchungen ohne persönliche Befragungsanteile die Bereitschaft zur ehrlichen Beantwortung derart kritischer Fragen, wie sie
das Thema sexuelle Ausbeutung naturgemäß darstellt. Diese Form einer völlig unpersönlichen Erhebung war uns aber in Anbetracht der Zielgruppe von Männern mit
Behinderung und insbesondere auch mit geistiger Behinderung nicht möglich.
97
Tab. 8: Die Betroffenen von sexueller Ausbeutung
Kategorien von Betroffenen
Familienmitglied
HeimbewohnerIn, MitschülerIn
Pflege-, Betreuungspersonal
ArbeitskollegIn
andere Person (bekannt)
andere Person (unbekannt)
Bub / Mädchen
missing
Gesamtzahl der Nennungen
Männer
Absolut
Prozent
0
0,0
9
25,7
Absolut
6
26
2
0
0
1
1
0
13
3
1
18
17
8
0
79
40,0
0,0
0,0
5,6
11,1
0,0
14,1
Frauen
Prozent
100,0
74,3
60,0
100,0
100,0
94,4
88,9
0,0
85,9
Gesamt
Absolut
Prozent
6
6,2
35
35,4
5
1
18
18
9
7
99
5,1
1,0
18,2
18,2
9,2
7,1
100,0
Von sexueller Ausbeutung sind vor allem MitbewohnerInnen sowie MitschülerInnen
betroffen, die also mit den Tätern während längerer Zeit die gleiche Einrichtung besuchen. Auf diese Gruppe entfallen 35% der Taten. Jeweils zu einem Fünftel (18%)
sind einrichtungsexterne, den Tätern persönlich bekannte sowie unbekannte, überwiegend weibliche Personen betroffen. JedeR zehnte Betroffene ist noch ein Kind
(9%), hier handelt es sich nahezu ausschließlich um Mädchen.
Sexuelle Ausbeutung von MitbewohnerInnen
Von sexueller Belästigung und Gewalt durch Männer mit Behinderung, die in Einrichtungen der Behindertenhilfe leben, sind vor allem andere HeimbewohnerInnen betroffen. Auf die Gruppe der männlichen (10%) und weiblichen (28%) HeimbewohnerInnen entfällt zusammen ein gutes Drittel der Nennungen. Innerhalb der Gruppe der
männlichen Opfer liegt der Anteil der Heimbewohner aber doppelt so hoch (69%),
während dieser Anteil bei den weiblichen Opfern bei etwa einem Drittel (33%) liegt.
Hier zeigt sich eine deutlich Entsprechung zu den Darstellungen der von sexueller
Ausbeutung betroffenen Männer. Auch sie berichten, daß die erlittenen Ausbeutungshandlungen überwiegend von ihren MitbewohnerInnen ausgehen (siehe dazu
oben, S. 76)
In der Folge möchten wir den Themenbereich sexueller Gewalt an MitbewohnerInnen
exemplarisch verdeutlichen.
Winfried S.
Winfried S. ist 32 Jahre alt, lernbehindert und leidet an Epilepsie. Im BetreuerInnenfragebogen wird zudem sexualisiertes Verhalten als besonderes Problem von
Winfried S. festgestellt. Er ist bei seinen Eltern aufgewachsen, lebt inzwischen aber
schon seit ca. 15 Jahren in derselben Einrichtung. Im Interview beschreibt er mehrere, häufig wiederholte Vorfälle von sexueller Belästigung bis Gewalt gegen jüngere
sowohl männliche als auch weibliche MitbewohnerInnen, die im Falle eines Mädchens bis zur Vergewaltigung reichten. Diese Vorkommnisse liegen nun schon mehrere Jahre zurück.
F: Warum hast Du das gemacht mit den Buben und dem Mädchen?
A: Ja. Das habe ich mit Gewalt getan. Es hätte nicht sein müssen.
98
F:
A:
F:
A:
F:
A:
F:
A:
F:
A:
F:
A:
F:
A:
F:
A:
F:
A:
F:
A:
F:
A:
F:
A:
Es hätte nicht sein müssen, aber Du hast irgendwie ....
Ich habe einfach nicht mehr auskönnen.
Das klingt, als wärst Du unter Zwang gestanden, daß Du das tun mußtest?
Ja, genau, ja.
Gleichzeitig hast Du auch gewußt, Du mußt dich verstecken dabei, das darf niemand sehen?
Ja, genau.
Hast Du auch ein schlechtes Gewissen gehabt?
Ja, schon, hab ich schon gehabt.
... und gefürchtet, daß Du erwischt wirst?
Ja, das hab ich auch gefürchtet, und wie sie mich erwischt haben, da ist das ja
auch gekommen. Das hat der Betreuer auch meiner Mutter geschrieben, daß ich
es trieben hab’. Normalerweise, wenn das Kind zum Beispiel heimfährt und es
seinen Eltern erzählt, dann kann das zu einer Anzeige auch führen. Das will ich
nicht.
Wie war das für Dich?
Ja, ich hab einfach einmal probieren wollen, wie das eigentlich ist, ob ich selber wie soll man denn sagen - einen Samen - oder wie man sagt - hab. Dann bin ich
eben draufgekommen, daß ich einen hab. Dann hab ich es halt öfters trieben mit
einem Kind oder mit einem Behinderten. Wenn die (das Mädchen) in die Küche
gegangen ist, dann hab ich immer auf den Zeitpunkt gewartet, daß es wieder zurückkommt. Und wie sie zurückgekommen und genau in den Gang hineingegangen ist, da hab ich es gleich genommen und dann hinuntergeführt in den Keller. Da haben wir es dann getrieben.
Wollten die das dann auch?
Nein, aber ich war der Ältere, und ich hab sie überredet mitzumachen.
Was hast Du gemacht, daß sie Dich nicht verraten?
Ja, da habe ich auch geschaut. Ich habe gesagt, sie sollten nichts sagen, es wird
nicht wieder passieren, und es war auch nichts mehr. Dann aber ist es irgendwie
durch den Betreuer oder die Betreuerin herausgekommen.
Du hast zuerst gesagt: So richtig schuldig hast Du Dich erst gefühlt, als Du erwischt wurdest; also wie es herausgekommen ist.
Ja, genau.
Hast Du das Gefühl, daß Du es wieder machen würdest?
Ja, das kann mir schon wieder passieren, aber ich muß mich dann zusammenreißen, daß ...
Das heißt, Du willst nicht, daß Du es wieder tust?
Ja.
... aber ausschließen kannst Du das nicht.
Nein.
Sexuelle Ausbeutung nach außen: bekannte und unbekannte Frauen
In der Gruppe der weiblichen Betroffenen von sexueller Ausbeutung fallen die hohen
Anteile von Frauen von außerhalb der Einrichtung auf, die den Tätern je zur Hälfte
99
bekannt beziehungsweise unbekannt sind [18 bekannte (22%) und 17 unbekannte
(21%)].
Ulrich K.: „Ich wollt’ ihr zeigen, daß ich der Stärkere bin.“
Ulrich K. ist ein etwa vierzigjähriger Mann mit Lernbehinderung, aber großen Problemen im Sozialverhalten. Die BetreuerInnen stellen im Fragebogen fest, daß er große
seelische sowie Alkoholprobleme habe. Dementsprechend ist sein Dauerkonsum an
Medikamenten - Ulrich K. bekommt vor allem Beruhigungsmittel.
Ulrich K. schildert mehrere Erlebnisse, in denen er zum Teil sexuellen Übergriffen
ausgesetzt war, zum anderen Teil aber auch selbst eine Reihe von sexuellen Belästigungen und von sexueller Gewalt tätigte. Seine Gewalthandlungen stehen in Zusammenhang damit, daß er zum Großteil seine Freizeit in Kneipen verbringt, in denen er selbst bereits öfter an sexuellen Übergriffen gegen Frauen beteiligt war. Diese
reichen von derben Witzen bis hin zu sexuellen Belästigungen und erzwungenen Berührungen. Weiters berichtet er von der Vergewaltigung einer ihm unbekannten Frau.
Er war damals ca. 20 Jahre alt. Auf der Straße hat er eine ihm unbekannte Frau getroffen und diese gezwungen, ihn mit in ihre Wohnung zu nehmen. Dort hat er sie
ausgezogen und vergewaltigt. Sie hat sich gewehrt, ihn gekratzt und geschlagen.
Aber er war stärker. Er hätte das gemacht, weil - wie er sagt - er „ihr zeigen wollte,
daß ich der Stärkere bin, und ich wollte unbedingt mit ihr schlafen”.
4.
Sind Täter auch Opfer?
Im Vergleich der Täter- und Opferanteile zeigt sich, daß für die Mehrzahl der Täter
zutrifft, daß sie auch Opfer sind: 19 von 32 Tätern (60%) sind auch Opfer von sexueller Gewalt. Sexuelle Ausbeutung bei Männern mit Behinderung steht offensichtlich in
Zusammenhang mit dem Erleben von sexueller Ausbeutung.
Tab. 9: Täter- und Opferstatus
Opfer
kein Opfer
missing
Gesamt
ja
19
13
0
32
Täter
nein
39
45
1
85
Gesamt
58
58
1
117
Insgesamt 45 der interviewten Männer scheinen weder als Opfer noch als Täter auf;
das sind 39%. Dagegen haben nahezu zwei Drittel der männlichen Bewohner von
Einrichtungen für Menschen mit Behinderung, nämlich 62%, entweder passive, aktive
oder sogar beide Erfahrungen mit sexueller Gewalt.
Dieses Ergebnis ist ein deutliches Indiz dafür, daß ein Zusammenhang zwischen Opfer- und Täterstatus besteht, wobei es auf der Grundlage der von uns erhobenen Daten nicht möglich ist, diesen Zusammenhang empirisch schlüssig nachzuweisen. So
können wir die These weder belegen noch widerlegen, wonach das Erleiden von sexueller Ausbeutung die Entwicklung von Ausbeutungshandeln begünstige. Zum einen
100
sind die einzelnen Opfer-/Tätergeschichten zu unterschiedlich. Zum anderen war ein
qualitatives Gespräch mit den entsprechenden Männern über den Zusammenhang
zwischen ihren Opfer- und Tätererfahrungen nicht möglich. Auf eine mögliche Erklärung aber weisen mehrere Einzeldarstellungen hin. Danach zeichnet sich der institutionelle Heimalltag und seine sexualisierte Gewaltförmigkeit durch einen fließenden
Wechsel zwischen Täterhandeln und Opfererleben aus. Dabei kommt es tendenziell
zu einem Nehmen und Genommenwerden, das sich eher nach der Verfügbarkeit eines potentiell Schwächeren orientiert als nach sexuellen Präferenzen. Unter diesen
Vorzeichen wird ein Zerrbild von hegemonialer Männlichkeit reproduziert. Fehlende
Ressourcen und eingeschränkter sozialer Status werden dann unter anderem auch
durch sexuelle Ausbeutung von anderen ansatzweise zu kompensieren versucht.
5.
Täterschaft und institutionelle Rahmenbedingungen
Tab. 10: Täter und Wohnform
Täter
Wohnform
Wohngruppe im Heim
betreute WG
ambulant betreuter Wohnplatz
missing
Gesamt
ja
Absolut
21
9
2
--32
Prozent
37,5
21,4
13,3
--27,8
Absolut
35
33
13
4
85
nein
Prozent
62,5
78,6
86,7
--70,4
Gesamt
56
42
15
4
117
Sexuelle Ausbeutung durch männliche Mitbewohner tritt insbesondere in den Wohngruppen der Einrichtungen anteilsmäßig überproportional auf. Hier ist der Täteranteil
(38%) bei weitem höher als in den kleineren Wohneinheiten wie Wohngemeinschaften (21%) und ambulant betreuten Wohnplätzen (13%). Das hängt zum einen sicherlich mit der überdurchschnittlich langen Aufenthaltsdauer in den untersuchten
Einrichtungen zusammen, wie sie für die Bewohner der Wohngruppen in
besonderem Ausmaß zutrifft. Zum anderen dürfte auch der Erfahrungshintergrund
strikt sexualrepressiver katholischer Führung zur Entwicklung und Verfestigung von
sexualisierter Gewaltförmigkeit beigetragen haben, wie er bei einigen der
Großeinrichtungen bis vor wenigen Jahren gegeben war. Wie den Interviews und
Einzeldarstellungen von Vorfällen sexueller Ausbeutung unter BewohnerInnen zu
entnehmen ist, kommt dabei des öfteren eine Habitualisierung von sexueller
Ausbeutung und sexualisierter Gewalt zum Ausdruck, die es den Betroffenen wie den
Tätern zum Teil deutlich erschwert, ein adäquates Problembewußtsein zum Thema
sexueller Ausbeutung zu entwickeln.
Die bestimmenden Faktoren des Zusammenlebens und das Ausmaß von Zwangsgemeinschaft stehen insgesamt in einem deutlichen Zusammenhang mit sexueller
Ausbeutung - sowohl auf der Ebene der Betroffenen als auch der Täter. Dieser Zusammenhang dokumentiert sich auch in den empirischen Ergebnissen der Fragebogenerhebung. Bezüglich der weiteren Wohn- und Lebensstandards, wie wir sie erhoben haben, läßt sich aber empirisch keine klar erkennbare Auswirkung auf die Bereitschaft zu sexueller Gewalt nachweisen. So zeigt sich lediglich bezüglich des geschützten Privatbereiches und der Möglichkeit, das eigene Zimmer abschließen zu
können, ein deutlicher Zusammenhang mit sexueller Ausbeutung.
101
Unter den Männern mit Behinderung, die ihr Zimmer beziehungsweise ihren Wohnbereich nicht abschließen können, ist der Anteil an Sexualtätern bedeutend höher
(44%) als bei den Männern mit Behinderung, die über einen zumindest ansatzweise
geschützten Privatbereich verfügen (26)%. Das kommt auch in den hohen Anteilen
von Tätern innerhalb der Bewohner von Mehrbettzimmern zum Ausdruck. 35% der
befragten Mehrbettzimmerbewohner schildern Vorfälle von sexueller Ausbeutung,
während dies nur auf ein Viertel der Bewohner von Einzelzimmern (23%) zutrifft.
Demgegenüber steht die Frage der eigenständigen Tageszeiteinteilung beziehungsweise Schlafzeitenregelung sowie die Frage nach der Ausstattung mit Badezimmer
und Toilette in keinem Zusammenhang mit sexueller Ausbeutung. Ebenfalls nicht
bestätigt wurde in unserer Untersuchung ein erwarteter Zusammenhang zwischen
Beschwerden von Bewohnern, einer laufenden Medikation beziehungsweise einer
entsprechenden Problemdiagnose durch die BetreuerInnen und dem Anteil von Vorfällen sexueller Ausbeutung.
6.
Spektrum von Tathintergründen
Im Vergleich der unterschiedlichen Ausbeutungshandlungen wird deutlich, daß es
sich dabei um sehr unterschiedliche Täterkategorien handelt. Grob läßt sich einmal
unterscheiden zwischen sexueller Ausbeutung aus Unwissen einerseits und als Mittel
zur Ausübung von Macht und Gewalt andererseits. Mehrere Einzeldarstellungen
verweisen zudem auf Besonderheiten des institutionellen Umfeldes. Danach erweist
sich der Heimalltag als tendenziell gewaltförmig. In nahezu allen Beispielen aber läßt
sich der Mangel an Ressourcen sowie fehlende institutionelle Vorsorgen für den Umgang mit Sexualität als bestimmender Hintergrund von sexueller Ausbeutung ausmachen.
Sexuelle Ausbeutung im Kontext von Adoleszenz und Erwachsenwerden
Zu einem großen Anteil werden sexuelle Belästigung und sexuelle Gewalt von Jugendlichen (23%) begangen. Fast die Hälfte der Taten steht damit tendenziell im
Kontext von Erwachsenwerden sowie der Entwicklung und Festigung erwachsener
Formen der Sexualität. Diese können solcherart zum Teil auf spezifische Probleme
mit Pubertät und Adoleszenz zurückgeführt werden. Dies wird auch aus mehreren
Darstellungen der Täter ersichtlich, die als Grund für ihre Taten angaben, daß sie ‘es’
einmal versuchen wollten.
Winfried S. (siehe dazu oben) stellt seine Ausbeutungshandlungen ganz deutlich in
einen Zusammenhang von Pubertät, wenig Wissen und fehlender Erfahrung mit Sexualität: ‘Ich wollte wissen, ob ich auch - wie sagt man - einen Samen habe’. Die Suche nach sexueller Erfahrung und die Ausübung von Gewalt gehen in seiner Darstellung eine tendenziell zwanghafte Dynamik ein. Vor diesem Hintergrund kommt es zur
Wiederholung und offensichtlich auch zu einer Steigerung der gewaltförmigen Anteile. Am Schluß einer längeren Entwicklung steht dann die Vergewaltigung einer jüngeren Mitbewohnerin. Der Tatbestand sexueller Gewalt wird durch die stattgefundene
Wiederholung, die steigende Gewaltförmigkeit und insbesondere die Wahl von jüngeren und durch ihre Behinderung stark benachteiligten Personen als Opfer hier über102
deutlich und darf keineswegs verharmlost werden. Die Entwicklung aus einer Adoleszenzproblematik heraus indiziert unseres Erachtens aber überdeutlich, daß auch
institutionelle Vorsorgen und insbesondere die Täterarbeit diese Anteile der Tatmotivation zumindest miteinbeziehen muß.
Sexuelle Ausbeutung als Problem mangelnder institutioneller Vorsorgen
Beklemmend wird am Beispiel von Winfried S. auch deutlich, daß eine Entwicklung
wie seine im Heimalltag über längere Zeit hinweg nicht beachtet und damit auch nicht
bearbeitet wird. Offensichtlich bleibt Winfried S. stattdessen alleingelassen mit seinen
Fragen und seiner Suche, ob und in welcher Form er Sexualität erleben kann. Gewalt
wird ihm dabei zum Mittel, seine Unsicherheiten und Gefühle der Insuffizienz zu überdecken, was ihm sichtbar nur durch zunehmende Gewaltförmigkeit zu gelingen
scheint.
In diesem Zusammenhang halten wir auch den Hinweis von BetreuerInnen auf eine
Besonderheit des Heimalltages von Interesse. Danach suchen sich weniger behinderte BewohnerInnen häufig jüngere, schwächere oder aufgrund stärkerer Behinderung tendenziell wehrlose PartnerInnen als Opfer für sexuelle Ausbeutung aus. Diese
sexualisierten Gewalthandlungen werden dann eher versteckt und verheimlicht ausgelebt, z.B. im Bereich der Toiletten oder in anderen wenig einsehbaren Bereichen
der Einrichtung. Vielfach verlaufen diese Beziehungen gewaltförmig, wobei in der
Sicht der BetreuerInnen aber nicht immer klar und offensichtlich ist, inwieweit die Opfer dieser Beziehungen freiwillig oder gezwungen und unter Druck gesetzt mitmachen. „Die verständigen sich per Augenkontakt. Der eine geht vor, und der andere
kommt dann später nach. Wir bekommen das dann bestenfalls durch Zufall mit, weil
sie ertappt werden oder weil wir einen Tip von anderen BewohnerInnen bekommen.“
(Betreuer) Gelegentlich kommt es dann auch vor, daß die BetreuerInnen Verhaltensund Befindlichkeitsveränderungen bei den Opfern bemerken. Auf intensiveres Nachfragen, was denn los sei, kommt allmählich die Wahrheit an den Tag. In anderen Fällen entsteht bei den BetreuerInnen aber auch der Eindruck, daß die BewohnerInnen
„es vielleicht gerade so, nämlich gewaltförmig und eher im Verborgenen und etwas
schmuddelig, brauchen. Das Risiko, erwischt zu werden, die Action des Gewaltförmig-Verborgenen gehört zum Teil irgendwie zu ihrem Sexualleben. Das ist oft
schwierig, soll man das noch tolerieren oder ...“ (Leiter einer Einrichtung).
Die MitarbeiterInnen in den Einrichtungen reflektieren solcherart die Züge sexualisierter Gewaltförmigkeit im Heimalltag vor allem als Ausdruck einer langjährigen Gewöhnung an fehlende und unzulängliche Rahmenbedingungen für ein Leben mit Beziehungen und Sexualität. Letztlich erweisen sich auch die BetreuerInnen damit insoweit
gewaltsozialisiert, daß sie die Gewaltförmigkeit dieser Vorkommnisse zum Teil nicht
mehr als solche erkennen und problematisieren können. Stattdessen rücken Fragen
der Glaubwürdigkeit der von Ausbeutung Betroffenen sowie das Heimliche und die
‘Schmuddeligkeit’ der Vorkommnisse in den Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit und Intervention.
Habitualisierte sexuelle Gewalt im Heimalltag
103
Jochen B.
Jochen B. ist ein 40jähriger Mann, relativ klein und eher von zarter Statur. Er schildert sich als nicht aufgeklärt und weiß auch sehr wenig über sexuelle Themen Bescheid.
Als für ihn sehr belastendes Erlebnis schildert er einen Vorfall, der bereits lange zurückliegt. Er war damals ca. 24 Jahre alt und lebte noch bei seinen Eltern. Beim Spiel
mit Nachbarkindern war es zum Eklat gekommen, als er versuchte, einem um viele
Jahre jüngeren Mädchen ein ‘Bussi’ zu geben. Weiters hätte er dem Mädchen an die
Scheide gegriffen. Die Eltern hatten ihn dabei beobachtet und ihn sehr geschimpft.
Sichtbar ist ihm dieses Erlebnis immer noch unangenehm, es bereitet ihm Schuldgefühle, die er mit der Aussage zum Ausdruck bringt, daß er das nicht mehr machen
würde, weil er das nicht darf.
Es erscheint fraglich, inwieweit Jochen B. allerdings in der Lage war, eine eigenständige moralische Instanz, also das Wissen, was er darf oder nicht, zu entwickeln.
Tendenziell siedelt er diese außerhalb seiner Person an: Es wurde ihm verboten,
Mädchen zu küssen oder sexuell zu belästigen. In diesem Sinne ist es auch zu verstehen, wenn er schildert, daß es nach seiner Aufnahme im Heim zu weiteren
sexuellen Übergriffen und Belästigungen gekommen ist. Seither belästigt er
männliche Mitbewohner - mehrmals, in seinem Zimmer -, indem er sie sexuell
bedrängt und berührt. Während es sich bei seiner ‘frühen’ Erinnerung an sexuelle
Ausbeutung deutlich um ein eher kindliches Ausprobieren von Bussi-Geben,
Anfassen und zumindest zu einem Gutteil um Suche nach Nähe und Zärtlichkeit
handelt, hat sich diese kindliche Form der Sexualität nunmehr weitgehend als klare
sexuelle Ausbeutung habitualisiert. Diese ist offensichtlich zum Standard der
persönlichen Begegnung zwischen den Heimbewohnern und zum nahezu normalen
Begleitphänomen der intimen Beziehungen im Heimalltag geworden. Diese
Vermutung wird durch die Aussage von Jochen B. bestärkt, daß auch er immer
wieder Opfer sexueller Übergriffe durch andere Heimbewohner, insbesondere durch
einen bestimmten Mitbewohner geworden ist, die in einem Fall soweit gegangen
sind, daß er in seiner Bedrängnis solange und so laut um Hilfe gerufen hat, bis der
Täter nach einem Polizeieinsatz (‘mit Blaulicht und Sirene’) entfernt und inzwischen
aus dem Heim verlegt wurde.
Habitualisierte sexuelle Gewalt im Heimalltag auf der einen Seite und Isolation und
Einsamkeit auf der anderen scheinen in diesem Fall als Ausdruck einer besonderen
Form des zwangsgemeinschaftlichen Lebens in weitgehender Anonymität und Isolation. Konfrontiert mit sexuellen Übergriffen bis Gewalt, ist Jochen B. gleichzeitig Opfer und Täter. Auf der Suche nach Nähe und Zuneigung wird aktive wie passive Gewalterfahrung zum Wiederholungserlebnis und zum Alltagsphänomen. Gewaltförmige
und stark funktionalisierte Sexualität zwischen den HeimbewohnerInnen wird zum
Ausdruck für ein in sich schlüssiges System, das sich durch die Eckpfeiler unzureichender sozialer Stützung und dem Erleben struktureller Gewalt andererseits kennzeichnen läßt.
Horst L.: „Mädchen, das sind kleine Frauen“
Horst L. ist 32 Jahre alt, wirkt aber in seinem ganzen Verhalten noch sehr jung. Er
kommt aus sehr belasteten Familienverhältnissen, auf die von den BetreuerInnen
auch seine Lernbehinderung wesentlich zurückgeführt wird. Seit nunmehr 27 Jahren
lebt er im Heim, aktuell wohnt er in einer betreuten Wohngruppe im Heim.
104
Horst hat reichhaltige Gewalterfahrungen sowohl als Opfer als auch als Täter von
sexueller Gewalt, die sich überwiegend im Zusammenhang des Heimalltages abspielen. Seine sexuellen Übergriffe betreffen gleichermaßen männliche wie weibliche
HeimbewohnerInnen und reichen von Berühren und dem Erzwingen von Berührung
bis hin zu erzwungener Befriedigung.
Als besonderes Kapitel seiner Gewalterfahrungen schildert Horst seine Kontakte mit
Mädchen, die er als kleine Frauen tituliert. Im Detail schildert Horst, daß er sich in eine Besucherin des einrichtungseigenen Kindergartens verliebt hat. Er ist ganz besessen von der Vorstellung, mit der ‘kleinen’ Frau Sex zu haben. Mittlerweile hat er
bereits mehrmals und an verschiedenen Orten im Einrichtungsumfeld das Mädchen
festgehalten, geküßt und versucht, es auszuziehen, obwohl ihm durchaus klar ist,
daß sie das nicht will. Als Grund für diese Vorfälle nennt Horst L. sein Verliebtsein.
Es hätte ihm Freude gemacht, und er fühle sich weder schuldig, noch täte ihm leid,
was er gemacht hat. Auf die Frage, ob er es wieder machen würde, meint Horst L.,
daß es ihm zwar verboten wäre, daß er aber trotzdem „wieder kleine Frau will“.
Diese Versuche und Übergriffe haben inzwischen schon öfters stattgefunden und
sind auch bereits den BetreuerInnen bekanntgeworden. Horst L. schildert als zentrale
Maßnahme Gespräche mit den BetreuerInnen sowie Aufklärung über sexuelle Gewalt. Er selbst aber wirkt beim Gespräch eher emotionslos und formuliert sehr klar,
daß „er sich eben holt, was er will“.
Sexuelle Ausbeutung im Kontext fehlender Ressourcen / hegemoniale Männlichkeit
In etwa die Hälfte der Taten erfolgt im Erwachsenenalter; hier treten zum Teil entsprechend andere Motivzusammenhänge als bei den jugendlichen Tätern auf. So
zeigen die erwachsenen Männer stärker gewaltorientierte Motive (‘der wollte ich zeigen, daß ich stärker bin’) für ihre Taten auf, handeln eher in Form von Beharrung auf
Macht und ihren Willen sowie tendenziell weniger versteckt und heimlich (etwa im
Zusammenhang mit Alkoholkonsum und Kneipenmilieu, siehe oben: Beispiel Ulrich
K.). Ihre Strategien der Darstellung weisen dabei auch mehr Anteile der Verleugnung
und versuchter Schuldumkehr auf. ‘Einmal will sie und dann wieder nicht - da kennt
man sich als Mann ja nicht mehr aus.’ (Gerhard L., siehe dazu unten)
Gerhard L.: „Schuld ist die Mitbewohnerin“
Gerhard L. ist 31 Jahre alt und aufgrund starker spastischer Zustände weitgehend
von Hilfe abhängig. Er ist bereits seit früher Kindheit in Einrichtungen der Behindertenhilfe, mittlerweile in der dritten, in der er nun bereits seit 15 Jahren lebt. Er ist
weitgehend aufgeklärt und bezüglich allgemeiner sexueller Themen gut informiert,
mit einer Ausnahme: Er weiß nicht, warum eine Frau eine Monatsblutung hat.
Er selbst wurde nie sexuell belästigt oder Opfer sexueller Gewalt, war aber selbst Täter. Nach Darstellung von Gerhard L. beschränkt sich seine Tat auf einen einmaligen
Vorfall. Dazu war es im Zimmer einer Mitbewohnerin gekommen, mit der er zu dieser
Zeit ein intimes Verhältnis hatte. Obwohl sie ihm deutlich machte, daß sie an diesem
Tag keinen Geschlechtsverkehr wolle, hat er sie bedrängt, belästigt und angefaßt.
Unter anderem hat er ihr auf die Brust gegriffen. Auf die Frage, warum er das getan
hat, antwortet S.: „Ich wollte mit ihr schlafen, aber sie wollte nicht; obwohl das am
Tag davor für uns beide ok. war. Bei ihr kennt man sich nicht aus. Das ist einmal ja
und einmal nein.“
105
Im Interview versucht Gerhard L., einerseits klarzumachen, daß es sich bei diesem
Vorfall erstens um eine Lappalie und zweitens um den Ausdruck der Unzuverlässigkeit seiner damaligen Partnerin gehandelt habe. „Da kann man sich als Mann ja nicht
mehr auskennen, wenn es einmal so ist und am nächsten Tag anders.“ Zudem sucht
er Bestätigung, daß eigentlich die Schuld beim Opfer liege. Es erscheint ganz offensichtlich, daß dieser Versuch der Schuldabwälzung bei den BetreuerInnen dazu führte, daß tatsächlich auf Maßnahmen verzichtet wurde, die über ein Gespräch hinausgehen. Im Zweifelsfall, so scheint es zumindest in diesem Fall, wird eher dem Täter
geglaubt als dem betroffenen Opfer.
Vielfach führen aber auch die erwachsenen Täter Unkenntnis, Unwissen und mangelnde Erfahrung als ihre Gründe für sexuelle Ausbeutung an und stellen solcherart
ihre Ausbeutungshandlungen in einen Kontext mit mangelnden institutionellen Vorsorgen für Sexualität sowie der Suche nach adäquaten Formen der Sexualität.
7.
Grund für die Taten
Sechs Männer (19% der Täter) geben als Grund für ihre Tat/en Zuneigung und Verliebtheit an, drei Personen (9%) begründen diese damit, daß es Spaß gemacht hat,
und jeweils zwei Männer geben sexuellen Notstand an bzw. wollten ‘Sex ausprobieren’. Sieben Täter geben verschiedene andere Gründe an, wie zum Beispiel: „Der
wollte ich’s zeigen“.
Thomas S.
Thomas S. ist 37 Jahre alt, bei seinen Eltern aufgewachsen und lebt seit ca. 20 Jahren in einer Einrichtung für Menschen mit Behinderung. Aktuell lebt er in einer betreuten Wohngemeinschaft. Thomas S. hat auch Erfahrungen als Opfer sexueller Gewalt
geschildert, die weiter oben beschrieben sind.
Thomas S. schildert, daß er in seiner Jugendzeit - noch vor der Einweisung in eine
Einrichtung - eine Nachbarin aus seinem Heimatdorf mehrfach sexuell belästigt hat.
Er beschreibt verschiedene Facetten von Belästigung bis Gewalt. „Ich hab’ sie geärgert und getratzt.“ Seine Gewalttaten gehen bis zum Versuch einer Vergewaltigung.
Thomas berichtet, daß er diese Frau häufig bei ihr zuhause besucht und sie dabei
immer wieder berührt hat: „überall, am Hintern ...“. Als sich die Frau einmal sehr vehement dagegen wehrte, daß er sie auch an den Geschlechtsteilen zu berühren versuchte und mit ihr schlafen wollte, hat er sie zudem massiv bedroht: „Ich hab gesagt,
gib eine Ruh’, sonst stech’ ich dich ab!“
Sie hat sich zwar gegen seine sexuelle Ausbeutung gewehrt, ihn jeweils weggedrängt und auch des öfteren der Wohnung verwiesen. Aber er ist immer wieder hingegangen, hat „an der Tür geläutet wie wild“ und auch einmal „die Fensterscheibe
eing’haut“. In seiner Sicht war das vorrangiges Motiv: „Weil ich eine Gaudi machen
wollt“ und „daß es ihm damit gut geht“. Im Nachhinein tut ihm leid, was er getan hat.
Die Vorkommnisse sind bekannt geworden, und es kam auch zu einer Anzeige.
8.
Die Täter und ihr Umgang mit den Opfern
106
Den Tätern geht es sehr gemischt mit ihren Taten. In der Darstellung vieler Täter hat
ihnen die Tat Freude gemacht (28%); im Nachhinein bereuen 16 Männer (50%) ihre
Tat und weitere 13 (41%) haben Schuldgefühle deshalb. Sechs Männer (rund 20%)
halten eine Wiederholung ihrer Taten für denkbar.
Ähnlich unterschiedlich und breit gestreut ist auch ihr Verhältnis zu den Opfern der
von ihnen verübten sexuellen Ausbeutung. Ein Drittel der Täter hat keinen Kontakt
mehr zum Opfer; zum Beispiel weil sie mittlerweile in eine andere Wohneinrichtung
verlegt wurden. Auch zu Betroffenen von sexueller Ausbeutung, die nicht in der Einrichtung sondern außerhalb leben, besteht in der Regel kein Kontakt mehr. Ein weiteres Drittel hat sich beim Opfer entschuldigt und die Situation geklärt. Etwa ein Fünftel
(21%) der Täter berichtet, daß sich das Opfer von ihnen abgrenzt oder ihnen aus
dem Weg geht.
Bemerkenswert scheint dabei, daß ein hoher Anteil von Tätern und Opfern weiterhin
in derselben Einrichtung leben (müssen). Dies erscheint gerade in Hinblick auf die
von sexueller Ausbeutung betroffenen MitbewohnerInnen als ausgesprochen problematisch. Zu einem überraschend hohen Anteil normalisiert sich zwar der Kontakt
zwischen den Tätern und den Betroffenen von sexueller Ausbeutung innerhalb kurzer
Zeit nach der Tat wieder - aus der Sicht der Täter, wie hier einschränkend angefügt
werden muß. Unabhängig davon erscheint diese spezifische Täter-Opfer-Beziehung
nur möglich in einem Umfeld, in dem diese Taten nahezu zum integrierten Bestandteil eines tendenziell als gewaltförmig erlebten Heimalltages werden. Die Ausbeutungshandlungen verlieren deshalb nicht ihren abwertenden und damit zusätzlich
verletzenden und entwürdigenden Charakter. Dies führt aber dazu, daß die BetreuerInnen - wie sie uns berichtet haben - vielfach erst Tage oder Wochen später durch
veränderte Verhaltensweisen und Befindlichkeit von Betroffenen auf sexuelle Ausbeutung aufmerksam werden. Sexualisierte Gewalt wird unter diesen Vorzeichen
letztlich sowohl von den Tätern als auch den Opfern mehr oder weniger habitualisiert.
Zumal auch die Betroffenen nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten haben, ihre
Situation von sich aus zu verändern, bleibt ihnen offensichtlich nichts anderes übrig,
als sich mit der Gewalt ‘zu arrangieren’.
9.
Haben sich die Täter jemandem anvertraut?
Der Anteil der Täter, die inzwischen mit jemandem über (zumindest) eine sexualisierte Ausbeutungshandlung gesprochen haben, ist in etwa identisch mit dem Anteil
der Vorfälle, die bekannt geworden sind. So berichten sieben Männer (22% der Täter), daß sie entweder bei der Tat ertappt oder die Vorfälle bekannt wurden, weil sich
die Betroffenen beschwert oder Anzeige erstattet haben. Insgesamt zehn Männer
(31% der Täter) haben nach der Tat bzw. deren Aufdeckung mit jemandem darüber
gesprochen; zumeist mit eineR BetreuerIn, in wenigen Fällen mit einer persönlich
nahestehenden Person wie z.B. der Mutter oder eineR FreundIn.
Über sexuelle Ausbeutung wird, so zeigen diese Ergebnisse nur zu deutlich, von den
Tätern eher nicht gesprochen - außer sie werden zur Rede gestellt. Sexuelle Gewalt
wird solcherart nicht von sich aus problematisiert. Sie bleibt solange wie möglich im
107
Verborgenen - und wird wiederholt; tendenziell zwanghaft und mit steigender Gewaltförmigkeit, wie das Beispiel von Winfried S. (siehe oben) dramatisch belegt.
10.
Bedarf nach Hilfe
84% der Männer mit Behinderung, die sich zu sexueller Ausbeutung bekannten, äußern keinen Hilfebedarf. Drei Männer wünschen, daß die InterviewerInnen ein Gespräch mit eineR BetreuerIn vermitteln. Zwei Personen äußern den Bedarf nach Therapie.
Im Vergleich zu den von sexueller Ausbeutung betroffenen Männern ist der von den
Tätern geäußerte Hilfebedarf sehr gering und vor allem unspezifisch. Die Bearbeitung im Gespräch über sexuelle Ausbeutung wird von den Tätern, die kein oder nur
sehr eingeschränktes Schuldebewußtsein haben, offensichtlich als Sanktion bzw. als
Eingriff in den gewaltförmigen Alltag erlebt und als solche nicht aktiv gesucht. So äußert auch Winfried S. (siehe oben) keinen Bedarf nach weitergehender Hilfe, meint
aber nach längerem Überlegen: „Ich werde mal wieder mit meinem Betreuer über
Sexualität und Beziehung zu einer Frau reden. Das geht gut mit ihm.“
11.
Die Folgen von sexueller Ausbeutung bei den Tätern
Der Großteil der berichteten Vorkommnisse bleibt unbekannt und damit ohne Folgen.
Allerdings ist der Anteil der fehlenden Antworten auf diese Frage ziemlich hoch
(53%). Insgesamt nur sieben Personen (22%) berichten davon, daß sie auf eine Tat
bzw. deren Bekanntwerden hin zur Rede gestellt wurden.
Als erste und zentrale Reaktion berichten die Männer von Gesprächen mit BetreuerInnen, SachwalterInnen oder Familienmitgliedern, an die sich in der Folge zum Teil
weitere Maßnahmen anschließen.
Tab. 11: Maßnahmen infolge von sexueller Ausbeutung (Mehrfachnennungen)
Maßnahmen
Verlegung in andere Wohneinheit
Aufklärung über sexuelle Gewalt
Gespräch mit Bezugspersonen
Androhung einer Verlegung oder Anzeige
Täter wurde geschimpft
Gesamtzahl der Nennungen
ja
13
7
6
4
3
37
nein
3
10
8
13
13
50
missing
16
15
16
15
16
---
Gesamt
32
32
32
32
32
---
Die häufigste Maßnahme auf das Bekanntwerden von sexueller Ausbeutung besteht
in der Verlegung in eine andere Wohneinheit. Diese Versetzung erfolgt, in der Darstellung der BetreuerInnen, vor allem in Hinblick auf den Schutz des Opfers und wird
vor allem in Hinsicht auf die geeignete Zusammensetzung der neuen Wohngruppe
vorgenommen. Allem voran wird dabei darauf geachtet, ob die neuen PartnerInnen in
der Lage sind, sich gegen den Täter abzugrenzen bzw. sich gegen sexuelle Ausbeutung zur Wehr setzen können.
108
Häufig wird der Täter in Folgegesprächen über Sexualität, sexuelle Gewalt und mögliche Folgen aufgeklärt. Gelegentlich beschränkten sich die ergriffenen Maßnahmen
darauf, daß die Täter „geschimpft“ werden. In etwa ebenso oft berichten die Täter
von der Androhung weitergehender Maßnahmen wie Verlegung oder Anzeige.
Gerhard L. (siehe Einzeldarstellung oben).
Gerhard L. wird von seiner Freundin einer versuchten Vergewaltigung beschuldigt.
Von diesem Vorfall wissen die BetreuerInnen somit Bescheid, ohne daß aber die Leitung der Einrichtung darüber informiert wird. „Sonst wäre ich nicht mehr hier.“ In den
Gesprächen mit seinen BetreuerInnen wurde Gerhard L. über sexuelle Gewalt aufgeklärt. Eingeprägt hat sich ihm aber insbesondere die Drohung „mit einem
Rausschmiß“. Diese Drohung hält er für nicht angemessen, weil seine Tat seiner
Meinung nach „zwar blöd, aber nichts Besonderes“ gewesen sei. „Deswegen können
die mich doch nicht rausschmeißen. Und wenn? Wo sollte ich denn dann hin?“
Tatsächlich bleibt Gerhard L. in seiner gewohnten Umgebung. Weitergehende Maßnahmen werden nicht gesetzt. Die Drohung mit einem ‘Rausschmß’ bleibt diffus, eine
gezielte Hilfestellung dagegen gänzlich aus.
Ulrich K. (siehe Einzeldarstellung oben)
Im Interview führt Ulrich K. aus, daß ihm seine Tat damals Freude gemacht hat, er
sich jetzt aber deshalb schuldig fühle. Dabei wird deutlich, daß Art und Inhalt der Intervention eine entscheidende Rolle gespielt haben. Nachdem ihn die Frau wegen
Vergewaltigung angezeigt hat, war es zu einem Gespräch mit seinem damaligen
Sachwalter gekommen. Dieser machte ihm klar, daß es ‘seine letzte Chance’ wäre.
Sollte es noch einmal zu einer Anzeige wegen Vergewaltigung kommen, dann wären
die entsprechenden Konsequenzen unvermeidlich. Weitere Maßnahmen blieben
auch in diesem Fall aus. Der Gewalthintergrund wurde letztlich nicht bearbeitet. Darauf deutet auch der weitere Verlauf der Gewalterfahrungen in der Geschichte von Ulrich K. hin. Bei ihm ergibt sich in der Folge eine Verfestigung tendenziell gewaltförmiger Sexualität sowie seiner Bereitschaft zu sexualisierter Gewalt, die er im Kontext
von Kneipenkultur und Alkoholkonsum in vielfachen Formen auslebt.
Diese Tat wird infolge einer Anzeige des Opfers zwar bekannt, hat für Ulrich K. letztlich aber keine Folgen - mit Ausnahme eines ernsten Gespräches mit seinem Sachwalter. Ulrich K. erhält keine adäquaten Hilfestellungen. Er bleibt auch weiterhin im
Kneipenmilieu verhaftet und tendenziell eine Täterpersönlichkeit. Gleichzeitig beschränken sich die institutionellen Maßnahmen auf Medikamente - insbesondere beruhigender und dämpfender Art. Weitergehende professionelle Hilfe findet nicht statt.
Nachdem Ulrich K. für sich Hilfebedarf formuliert und die Interviewerin ersucht, seinen Bedarf nach Hilfe, Gespräch und Therapie weiterzuleiten, nimmt diese mit seinem Bezugsbetreuer Kontakt auf. Dabei wird deutlich, daß das Poblem in der Einrichtung selbst nur am Rande wahrgenommen wird und kaum Aufmerksamkeit durch
die BetreuerInnen findet. In der Darstellung des Bezugsbetreuers verbringt Ulrich K.
den Großteil seiner Zeit außerhalb der Einrichtung. Seinem Eindruck nach flüchte
dieser vor der Problembearbeitung, ohne daß dem aber von der Einrichtung und den
BetreuerInnen etwas entgegengesetzt würde. Stattdessen bleibt alles, wie es ist.
109
In der Zusammenschau von Täterdarstellung und der Reaktion seines Bezugsbetreuers auf die Übermittlung eines spezifischen Hilfebedarfes wird das Ausmaß von
Nicht-Wahrnehmung von Problem und Hilfebedarf in ihrem Zusammenhang mit der
Verfestigung tendenziell gewaltförmiger Sexualität beklemmend anschaulich. Ohne
konkreten Vorfall gibt es für die Einrichtung offensichtlich keinen Handlungsbedarf.
Zumal auch Ulrich K. sein Hilfebedürfnis nicht direkt und persönlich artikuliert, gibt es
auch kein gezieltes Angebot. Insgesamt entsteht aus dieser Konstellation der Eindruck von institutioneller Vernachlässigung (‘facility neglect’).
Die Instanzen Polizei, Strafrecht und Gericht sowie Strafvollzug bleiben in den uns
berichteten Vorkommnissen sexueller Ausbeutung peripher. Tatsächlich berichtete
kein einziger der von uns interviewten Männer von einer gerichtlichen Untersuchung,
Verhandlung oder gar Verurteilung. Diesen rechtsstaatlichen Interventionsebenen
kommt allenfalls der Stellenwert einer Drohung mit der externen und gewissermaßen
anonymen Strafinstanz zu. Der Rückgriff der BetreuerInnen auf diese, in Anbetracht
der in vielen Fällen wohl tatsächlich auszuschließenden Schuld- und/oder Haftfähigkeit, stumpfe Drohung erscheint umso erstaunlicher, als gleichzeitig auf der Betreuungsebene selbst nahezu durchgängig auf adäquate weiterführende Maßnahmen
wie z.B. Therapie, geschlechtsspezifische Betreuung, Begleitung und Täterarbeit
verzichtet wird. In Einzelfällen werden in den Einrichtungen stattdessen restriktive
Maßnahmen unterschiedlichen Ausmaßes realisiert.
Lorenz G.
Im Zuge der Interviews zur ‘Frauenstudie’ (Zemp/Pircher 1996) war Lorenz G. der
sexuellen Ausbeutung einer Mitbewohnerin beschuldigt worden. In unseren Gesprächen mit BetreuerInnen und dem pädagogischen Leiter der Einrichtung wurden
uns die in der Zwischenzeit gesetzten Maßnahmen berichtet und deren Ergebnis reflektiert.
Zum einen wurde Lorenz G. nahegelegt, sich einer psychotherapeutischen Behandlung zu unterziehen. Zum anderen wurde eine Reihe von Maßnahmen gesetzt, um
eine Tatwiederholung zu verhindern. So wurde ihm Alkoholkonsum verboten, die
freie Verfügung über seine Finanzen eingeschränkt und seine Besuchszeiten streng
geregelt. Besonderes Augenmerk wurde dabei darauf gelegt, die infomelle Hierarchie
in der Gruppe abzubauen, interne Abhängigkeiten zwischen den BewohnerInnen
aufzuheben und auf Sicht Lorenz G. zu verdeutlichen, daß er keine Verfügungsmacht
über andere MitbewohnerInnen ausüben darf. Mehrere Monate nach Bekanntwerden
der sexuellen Ausbeutungshandlung wurde Lorenz G. zudem in eine andere Wohngemeinschaft verlegt. Das alles führte dazu, daß Lorenz G. „sich dort untergeordnet
hat“. (Betreuer)
Die Sinnhaftigkeit des hier demonstrierten Maßnahmenbündels erscheint zumindest
fragwürdig, wie auch der Erfolg denkbar ungenügend ist. Die bloße Unterordnung unter willkürlich anmutende Repression, die sich auf den weitgehenden Abbau von sozialer Kompetenz konzentriert, unterstreicht den Eindruck, daß hier Bestrafung an die
Stelle adäquater Bearbeitungsformen getreten ist. Gleichzeitig wird durch diese gezielte Einschränkung von Freiräumen und Selbstbestimmungsrechten auf beklemmende Weise deutlich, in welchem Außmaß Menschen mit Behinderung letztlich
rechtlos sind. Auf diese Problematik, die weitgehend auf fehlende oder mangelhafte
institutionelle Vorsorgen zur Vermeidung von Rollenkonflikten innerhalb der Einrich110
tung zurückgeführt werden kann, weisen auch zwei weitere Beispiele von Maßnahmen gegen sexuelle Ausbeutung hin. Diese wurden uns von einem Betreuer und einem Leiter einer Einrichtung berichtet. Danach wurde in einer Einrichtung als Maßnahme auf ein Vorkommnis sexueller Ausbeutung ein internes Informationssystem
aufgebaut, das den Weg eines Täters innerhalb der Großeinrichtung möglichst transparent machen sollte. Die Mitarbeiterinnen wurden dabei aufgefordert, sich gegenseitig telefonisch zu informieren, sobald der Betroffene sich aus dem jeweiligen Aufenthaltsbereich (Werkstätte, Küche, Freizeitbereich etc.) entfernte bzw. wenn er in einem anderen eintraf.
In einer anderen Einrichtung wurden die MitbewohnerInnen jener Wohneinheit, in die
ein Mann mit Behinderung nach einem Vorkommnis sexueller Ausbeutung verlegt
wurde, darüber informiert, was an seinem früheren Wohnplatz geschehen war.
Beide geschilderten Maßnahmen werden mit dem notwendigen Schutz potentieller
Opfer von sexueller Gewalt begründet. In beiden Fällen aber wird das Recht auf persönliche Integrität, z.B. der Schutz vor Stigmatisierung und übler Nachrede, willkürlich eingeschränkt. Vorsorgen für eine aktive Vertretung der Interessen der betroffenen Männer werden in beiden Fällen nicht getroffen.
Winfried S. (siehe Einzeldarstellung oben)
F: Was wurden bei Dir für Maßnahmen gesetzt?
A: Ein flüssiges Mittel ... Spritze ....
F: Du hast eine Spritze bekommen, Du bist gedämpft worden praktisch ...
A: Ja, gedämpft, die habe ich in den Hintern hineingekriegt ... davon bin ich müde
geworden. Das ist ein starkes Mittel gewesen, und da hab ich dann auch nicht
mehr arbeiten können und bin immer so schwindlig geworden und hab Zustände
gekriegt. Die Spritze habe ich dann eine Zeitlang gekriegt. Dann haben die Betreuer dafür gesorgt, daß sie aufhören damit, weil das nicht mehr so weiter geht.
Ich habe auch nichts mehr essen können und gar nichts mehr. Schön langsam
sind sie einverstanden gewesen und haben aufgehört damit. Und die Spritzen
haben sie nur unter einer Bedingung gelassen: wenn ich mit dem ganzen Blödsinn aufhöre. Und das habe ich auch geschworen - und seither habe ich nie wieder mit so etwas zu tun gehabt.
F: Das heißt jetzt: Wie gehst Du jetzt mit jungen Männern um? Reizt Dich das
noch?
A: Nein, eigentlich jetzt reizt mich das nimmer.
F: Und Mädchen?
A: Ja, ich suche eher eine Freundin. Es sind auch fesche Frauen in dem Kurs, den
ich jetzt mache, aber ich habe noch keine gefragt, noch keine Freundin gefunden. Und vielleicht frage ich auch nicht ...
Winfried S. war, wie oben dargestellt, der wiederholten sexuellen Ausbeutung von
jüngeren MitbewohnerInnen überführt worden, und wurde in der Folge - in Absprache
mit dem Vertrauenarzt der Einrichtung - einer Langzeitbehandlung mit Typol unterzogen. Dabei handelt es sich um ein dämpfendes und während der Zeit der Einnahme
stark persönlichkeitsveränderndes Medikament. Diese Chemobehandlung wurde
durch Gespräche mit dem Leiter der Einrichtung sowie mit BetreuerInnen ergänzt,
111
die einerseits Aufklärung über sexuelle Gewalt (Anzeige, Gefängnis, Folgen für das
Opfer) zum Inhalt hatten. Vom Leiter der Einrichtung wird die radikale medikamentöse Behandlung mit dem Schutz des Täters vor einem sonst unausweichlichen und
möglicherweise längerwährenden Psychiatrieaufenthalt begründet. Eine weitergehende psychotherapeutische sowie geschlechtsspezifische Bearbeitung von Tathintergrund und -dynamik werden letztlich nicht, auch nicht nach Einstellung der Spritzen - gesetzt. Das erscheint umso fragwürdiger, als die von Winfried S. geschilderten
Taten deutlich auf einen Zusammenhang mit Pubertät, wenig Wissen und fehlende
Erfahrung mit Sexualität hinweisen. Diesen Tathintergrund in der nachgehenden Behandlung nicht gezielt aufzugreifen, läßt die gewählte Maßnahme als letztlich fragwürdige und einseitige Pathologisierung der Tat erscheinen. Die Dynamik aus Tatwiederholung und steigender Gewaltförmigkeit wurde damit zwar unterbrochen.
Geblieben aber ist eine letztlich prekäre und resignative Grundstimmung bei Winfried
S., die in der aktuellen Betreuung aber nicht adäquat aufgegriffen wird. Stattdessen
lebt Winfried S. unter dem handgreiflich verdeutlichten und durchgesetzten Diktum,
wonach sexualisierte Gewalt verboten ist, ohne daß sich daran aber Bemühungen
und Hilfestellungen für die Entwicklung und Stützung von lebbaren Alternativen geknüpft hätten.
12.
Dunkelfelddaten
Aus dem Vergleich der Interviews mit Opfern und Tätern von sexueller Ausbeutung,
aus konkreten Hinweisen im Zuge der ‘Frauenstudie’ (Zemp/Pircher 1996) sowie aus
den Berichten der befragten MitarbeiterInnen in den Einrichtungen wissen wir, daß
die interviewten Männer mit Behinderung uns viele Vorkommnisse sexueller Ausbeutung verschwiegen haben. Des weiteren konnten wir mit einzelnen Personen, von deren Taten wir aus oben genannten Quellen Kenntnis haben, nicht sprechen, weil sie
entweder ein Gespräch mit uns ablehnten bzw. zum angesetzten Termin verhindert
waren.
Es handelt sich bei diesen Hinweisen aber um letztlich nicht empirisch gestützte und
systematisch erhobene Daten, weshalb wir diese in der vorstehenden Auswertung
nicht berücksichtigt haben. Tatsächlich aber ist damit gesichert, daß das Ausmaß
von sexueller Ausbeutung durch Männer mit Behinderung sowohl in quantitativer als
auch qualitativer Hinsicht faktisch höher anzusetzen ist, als wir es hier ausleuchten
konnten. Konkret wurden uns verschwiegen:
• sexuelle Belästigung und sexuelle Gewalt gegen männliche Mitbewohner, insbesondere erzwungene Fellatio und Geschlechtsverkehr (siehe Opferdarstellung
Norbert U. und Täterdarstellung Dorian H.);
• sexuelle Gewalt gegen Mitbewohnerinnen, insbesondere erzwungener Geschlechtsverkehr oder versuchte Vergewaltigung (siehe Einzeldarstellungen Lorenz G. und Gerhard L.);
• sexuelle Ausbeutung am Arbeitsplatz (siehe Einzeldarstellung Markus M.).
Hier liegt in dieser Untersuchung eine tendenzielle ‘Verharmlosung’ des Ergebnisses
vor, das zum einen auf die Form der persönlich durchgeführten Erhebung zurückgeführt werden kann. Zum anderen ist zu vermuten, daß das Tabu Homosexualität in
den Interviews ebenso zum Tragen kam wie das persönliche Idealbild quasi ‘normaler’ Sexualität. Als tendenziell ebenfalls nicht ‘normal’ gilt offensichtlich auch sexuelle
Ausbeutung am Arbeitsplatz, was möglicherweise auf die dort zur Verfügung stehen112
den Örtlichkeiten sowie auf den Umstand des ‘Verstecken-Müssens’ zurückgeführt
werden kann. Der Eindruck eines sexualisiert gewaltförmigen Heimalltages aber verdichtet sich gerade angesichts dieser selektiven Lücken in unserer Erhebung.
113
H.
Problembewußtsein und -bearbeitungsansätze in den
Einrichtungen
In ausführlichen Leitfadengesprächen wurden MitarbeiterInnen in den untersuchten
Einrichtungen (BetreuerInnen, EinrichtungsleiterInnen, pädagogische LeiterInnen) zu
den institutionellen Vorsorgen für Sexualaufklärung und Sexualität sowie zu ihren Erfahrungen und Strategien im Umgang mit sexueller Ausbeutung befragt. Die Ergebnisse dieser Interviewserie stellen wir im folgenden thematisch geordnet vor.
1.
Wissen um sexuelle Ausbeutung und sexualisierte Gewalt
Die MitarbeiterInnen nehmen ganz unterschiedlich zu den Themen Sexualität und
sexuelle Ausbeutung in der Einrichtung Stellung, in der sie arbeiten. Während einige
zwar betonen, daß sie immer wieder einmal mit kritischen Vorfällen konfrontiert sind,
geben sich andere nur am Rande darüber informiert. Unter anderem problematisieren manche MitarbeiterInnen dabei auch die Glaubwürdigkeit ihrer KlientInnen.
„Es kommt nicht oft vor, daß wir BetreuerInnen von sexueller Gewalt unter den BewohnerInnen erfahren; wobei man immer beachten muß - wie kommt das zum Betreuer. Das darf man nicht eins zu eins übernehmen.“ (Betreuer)
In Aussagen wie dieser kommt auch Unsicherheit darüber zum Ausdruck, wie mit
dem Verdacht auf sexuelle Gewalt umgegangen werden kann und wie dem nachgegangen werden sollte. Insbesondere dürfte dabei auch von Bedeutung sein, daß sich
die TäterInnen des öfteren besser artikulieren können als ihre Opfer.
„Mit Gewalt haben wir eigentlich bei uns noch nie zu tun gehabt. Wir kommen schon
manchmal auf Situationen drauf, da wissen wir aber nicht, wie das zustande gekommen ist. Das ist gerade dann schwierig, wenn deR eine PartnerIn sich vielleicht nicht
artikulieren kann - und man weiß jetzt nicht, hat der/die das gewollt oder war da
Zwang dahinter.“ (Betreuerin)
Unter solchen Vorzeichen droht sich dann die Opfererfahrung in der Bearbeitung des
Vorfalles durch die BetreuerInnen zu wiederholen und eventuell zu verfestigen. Damit
dürfte aber auch in Zusammenhang stehen, daß vereinzelte Aussagen der BetreuerInnen tendenziell auf eine laufende unbehagliche Erfahrung mit einem aber nur diffus vorhandenen Problembewußtsein hinweisen.
„Es gibt (in dieser Einrichtung) auch genug Personen, die zum Teil in ihrer Persönlichkeit labil sind und erwischt man sie im richtigen Augenblick, dann kann man alles
von ihnen haben. Dieses Ausnützen ist sicher Alltag.“ (Einrichtungsleiter)
Viele MitarbeiterInnen wie EinrichtungsleiterInnen waren über die Ergebnisse der
‘Frauenstudie’ und insbesondere über das darin dokumentierte Ausmaß von sexueller Ausbeutung durch Männer mit Behinderung überrascht. Im Gespräch kommt
dann gelegentlich eine Art Fatalismus zum Ausdruck, wonach ihnen zwar das Problem bewußt ist, welches ihnen aber letztlich nicht bearbeitbar erscheint.
„Wir haben, seit ich in dieser Einrichtung bin, ständig Probleme gehabt, daß behinderte Männer, meist leicht behinderte, Schwächere sexuell ausbeuten und es so geschickt machen, daß es nicht oder lange nicht aufkommt.“ (Leiter einer Einrichtung)
114
Vielfach wird dies dann im Gespräch darauf zurückgeführt, daß viele BewohnerInnen
häufig Schwierigkeiten hätten bezüglich der eigenen Grenzen, des Wissens also
darum, was man/frau nicht möchte, und daß es deshalb des öfteren zu Problemen
käme. Unter der Hand wird sexuelle Ausbeutung so zum Problem der potentiellen
und tatsächlichen Opfer. Gelegentlich wird dabei thematisiert, daß auch die Grundkenntnisse über Sexualität bei vielen BewohnerInnen nur rudimentär vorhanden wären und es aus Unkenntnis zu Krisensituationen kommen könne.
„Eine Erfahrung aus dem Pflegebereich: Da ist es zu einer sexuellen Beziehung zwischen einem Mann und einer Frau gekommen, beide BewohnerInnen. Wo mir nie
klar war, inwieweit jetzt Gewalt im Spiel war und wieweit nicht. Als ich versuchte,
dem nachzugehen, habe ich dann von der Frau die Aussage gekriegt: ‘Am Anfang
wollte ich eh auch, aber ich habe nicht gewußt, daß es so weh tut.’ Im Nachhinein
wurde das sicher als Gewalt empfunden. Die erste Bereitschaft war durchaus da, es
hat aber zu etwas geführt, das nicht mehr in ihrem Sinne war.“ (Betreuer)
2.
Wissen, was tun
Durchaus analog zum vielfach nur in Ansätzen gegebenen Problembewußtsein über
sexuelle Gewalt wird auch zur Frage nach dem Umgang mit konkreten Vorfällen große Unsicherheit dokumentiert. Das betrifft insbesondere Vorfälle von sexueller Gewalt zwischen BewohnerInnen. Dabei wird vor allem die Vermischung der Aufgaben
der BetreuerInnen deutlich, die dann gleichzeitig die Interessen von Opfer wie TäterIn wahrzunehmen haben. Strukturelle Vorsorgen zur Entmischung dieser Aufgabenkumulation finden sich aber in keiner der untersuchten Einrichtungen.
„Ich glaube, daß es schwierig ist, Sanktionen gegen den Täter zu setzen - es kommt
auf die Art der Behinderung an. Wenn ich an unsere Klienten denke, dann fällt mir
nicht wirklich etwas ein. Wenn er jemanden anderen wirklich verletzt, dann kann man
das natürlich sanktionieren. Es geht aber darum, wie man prophylaktisch arbeiten
kann, daß das gar nicht zu seinem Bedürfnis wird, über eine Frau herzufallen in der
Wohngemeinschaft. ... Ich bin völlig überfordert. Das einzige, was mir einfällt - ich
würde mich an professionelle Hilfe wenden, an eine Psychotherapeutin, die damit
vielleicht Erfahrung hat, weil ich fühle mich damit völlig überfordert.“ (Betreuerin)
Zwischen den Aufgaben, einerseits das Opfer zu schützen und anderseits mit dem
Täter dahingehend zu arbeiten, daß es nicht mehr zu sexueller Gewalt kommt, werden die BetreuerInnen tendenziell zerrieben. Neben dem Versuch überwiegend interner Lösungen, sich zum Beispiel ganz speziell und in erster Linie mit dem Täter zu
beschäftigen (‘ihn in die Mangel nehmen’, Betreuer), wird hier vielfach auf Hilfe und
Unterstützung von außen gehofft.
„Und in der Realität, da gibt es natürlich eine Vermischung; weil ich als Betreuer ja
für beide zuständig bin: für das Opfer, das ich schützen und behüten muß, und für
den Täter, den ich auch schützen muß - vor allem nach außen. Da kommt es natürlich dazu, daß wir unsere Erwartungen nach Intervention und gezielter Arbeit mit dem
Täter sehr stark nach außen richten - innerhalb des Trägervereins, in Richtung Heimleitung und PsychologIn.“ (Betreuer)
In der Regel wird die Leitung der Einrichtung informiert, ein möglicher Wechsel des
Täters in eine andere Wohnung oder Wohngruppe angestrebt und insbesondere zum
Schutz des Opfers eine räumliche Trennung von Opfer und Täter zu realisieren versucht. In manchen Einrichtungen kann darüberhinaus auch eine psychologische Beratung durch den psychologischen Dienst der Einrichtung eingeschaltet werden.
115
„In erster Linie also die Erwartung nach außen - Hilfe von außen. Unsere Überlegungen gehen dahin, daß man sagt, anscheinend lebt dieser Mann hier falsch. Wie wären bessere Lebensformen, wo man stärker auf seine Persönlichkeit, auf seine Wünsche und so eingehen könnte. Die einzige wirkliche Maßnahme, die wir auf Täterseite setzen, ist eigentlich die Psychologin, die dann ihre Maßnahmen setzt. Wobei das
natürlich auch wieder Grenzen hat: Die wenigen TherapeutInnen, die es gibt. Es hat
wiederholt welche gegeben, die nach dem ersten Gespräch ablehnen und sagen: So
kann ich nicht arbeiten.“ (Betreuer)
Der Appell nach Hilfe und Unterstützung von ‘außen’ stößt in diesem Sinne rasch an
Grenzen. Vorbeugend wird dann gelegentlich überhaupt darauf verzichtet, auf Täterseite entsprechende Maßnahmen zu setzen.
F.: „Aber was heißt denn das jetzt konkret: Dann gibt es kaum oder keine Therapiemöglichkeit. Der Täter lebt dann weiter in der Gruppe?“
Betreuer: „Ja. Sicher; bis zu einem Punkt. Es wird eine Schmerzgrenze geben. Also
ein Wiederholungstäter kann weiter wiederholen, einige Male. Wir haben es auch
theoretisch schon durchgespielt, wann die Grenze gezogen wird. Wir sind noch nicht
angekommen dort. Ich glaube, diese Grenze, das wäre innerhalb des Hauses zum
Beispiel bei Verletzungen am Opfer, wenn eine Frau Opfer einer Vergewaltigung ist und natürlich, wenn er außerhalb des Hauses geht, wenn die Opfer draußen sind,
wird diese Grenze wahrscheinlich auch sehr rasch erreicht sein. Auch wenn das so
kleinere Übergriffe sind, ist sicher die Sensibilität draußen größer als innerhalb des
Hauses. Wenn eine Frau nur glaubt, sie wird immer wieder von XY belästigt, dann
wird halt stärker kontrolliert oder das Opfer besser geschützt. Aber passiert das
draußen, entsteht sofort der Mechanismus. ‘Halt, was wird die Nachbarschaft sagen?
Weil, wir müssen ja auch das Haus schützen, das heißt, es muß mit dem Täter etwas
geschehen, damit uns der nicht das ganze Haus in Verruf bringt.“
Mehrere Gründen werden dafür angeführt, daß die Sensibilität und die Bereitschaft,
bei sexueller Ausbeutung gegen ein Opfer von außerhalb der Einrichtung als höher
eingeschätzt werden muß kann. Potentielle externe Opfer werden in diesem Sinne
besser beschützt als interne. Die tatsächlich eingeleiteten Maßnahmen bei ‘lediglich’
internen Vorfällen beschränken sich dagegen eher auf interne Korrekturen (Gespräche, Drohungen bis Verlegung in eine andere Wohneinheit) und strukturelle Anpassungen. So äußert sich diesbezüglich ein Einrichtungsleiter:
„In einem konkreten Fall, mit dem ich mich jetzt seit längerem sehr intensiv auseinandersetzen muß, geht es um eine homosexuelle Beziehung, in der der eine von
denen sicherlich in Dinge gedrängt wird, die er nicht möchte. In dem Fall haben wir
versucht, durch strukturelle Maßnahmen zu beruhigen. Die zwei jungen Männer haben ursprünglich ein Zimmer miteinander geteilt, auch auf eigenen Wunsch, bis wir
eben draufgekommen sind, daß das in dieser Form eskaliert ist. Wir haben jetzt einfach mit dem Zimmer getauscht, also Strukturmaßnahmen ergriffen, indem sie zwei
getrennte Zimmer bekommen haben. Damit können sie jetzt aussuchen, ob sie zusammengehen oder nicht.“ (Einrichtungsleiter)
Tendenziell einfacher gestaltet sich die Suche nach Maßnahmen, wenn es sich bei
dem bekanntgewordenen Vorfall um die sexuelle Ausbeutung eines Bewohners
durch Außenstehende handelt. Dabei geht es vor allem um den Schutz des Opfers,
mit einer besonderen Ausprägung der helfenden und unterstützenden Arbeit mit dem
anvertrauten Menschen mit Behinderung. In diesem Zusammenhang wird insbesondere auf die Schwierigkeit hingewiesen, wenn es sich dabei um sexuellen Mißbrauch
116
durch Familienangehörige handelt. Dabei kommt vor allem die besondere Rolle der
Familien und insbesondere der Eltern in der Behindertenhilfe zum Tragen.
„Alles, was sich in Familien abspielt, ist ja noch mehr tabuisiert - und da kann man im
Endeffekt auch nichts beweisen. Wenn wir aber so einen Verdacht haben, dann
schauen wir eher, daß die Besuche eingeschränkt werden. Außerdem wird dann gezielt geschaut, ob es z.B. nach so einem Besuch zu einem veränderten Verhalten
kommt. Aber dieser Bereich ist schon sehr schwierig.“ (Pädagogische Leiterin)
3.
Umgang mit Sexualität
In unseren Gesprächen mit BetreuerInnen und LeiterInnen beklagen diese, daß Sexualität und insbesondere die Sexualität von Menschen mit Behinderung
gesellschaftlich stark tabuisiert wird. Dieses Tabu belastet direkt ihre Arbeit mit den
BewohnerInnen, die vielfach nur wenig über ihren Körper und insbesondere über
Sexualität Bescheid wissen.
„Sexuelle Belästigungen und Gewalt, die von Heimbewohnern ausgehen, haben sehr
viel mit der Familiensituation zu tun, aus der sie kommen. Es fehlt von seiten der Eltern an Aufklärung und Information, meist aus Angst vor den sexuellen Bedürfnissen
ihrer Kinder. Menschen mit Behinderung werden unmündig und abhängig gehalten.
Auch das ist eine Form der Ausbeutung. Zum anderen wurde vielen Heimbewohnern
der normale Umgang mit Sexualität nicht vorgelebt, das heißt, sie haben auf diesem
Gebiet keine Vorbilder.“ (Pädagogischer Leiter)
Letztendlich kommt es daraus zu einer Verdoppelung des Tabus. So wie einerseits
Menschen mit Behinderung von Sexualität eher ferngehalten werden, so beklagen
andererseits die BetreuerInnen, daß auch sie nur wenig Unterstützung im Umgang
mit Sexualität erhalten.
„Dieses Neinsagen können oder überhaupt die Kenntnis davon haben, mangelt jetzt
daran, daß wir BetreuerInnen uns über das Thema Aufklärung nicht drübertrau’n. Wir
selber haben keine Unterweisung, wie man Sexualaufklärung macht ... Deswegen
wird das auch von uns tabuisiert.“ (Betreuer)
Nur zu leicht beschränkt sich unter diesen Vorzeichen die Beschäftigung mit dem
Thema Sexualität in der Arbeit mit den BewohnerInnen auf mehr oder minder adäquate Formen der Intervention, wenn es zu Krisen kommt. Sexualität von BewohnerInnen wird damit schwerpunktmäßig aus einer Problemperspektive heraus gesehen,
was den alltäglichen Umgang mit Sexualität im allgemeinen noch einmal schwieriger
macht.
„Sexualität ist objektiv, also auch für uns beide, wie wir da sitzen, ein Problem. Es ist
nicht einfach so, daß eins und eins eben zwei ist und das dann schon paßt. Deshalb
müssen wir einmal zur Kenntnis nehmen, daß geistig behinderte Menschen in diesem Bereich mehr oder andere Probleme haben als wir. Und wir müssen zur Kenntnis nehmen, daß geistig behinderte Menschen auf Grund ihrer Lebenssituationen
und auf Grund ihrer Problemlösungsstrategien mit diesem Riesenproblem der Sexualität anders umgehen als wir. Und dann erscheint es mir als zentrales Problem, daß
sich niemand diesem Problem stellt, das wird kein Thema, z.B. Sexualpädagogik.
Warum reden wir nicht, wie wir miteinander gesund umgehen? Das ist ein typisches
Beispiel dafür, daß man halt ein Problemverhalten herausnimmt, statt daß man sich
damit beschäftigt, was können wir eigentlich tun für diese Menschen. Das ist mein
117
Problem: Es ist einfach schwierig, Mitstreiter zu finden für das Thema. Man findet ja
nichts! Man findet ja niemand, der will.” (Pädagogischer Leiter)
Von den BetreuerInnen wird vor allem auch problematisiert, daß in ihrer konkreten
Arbeit ein deutlicher Unterschied je nach Geschlecht der BewohnerInnen gemacht
wird. So verweist eine Betreuerin auf die unterschiedlichen Konsequenzen, die bei
sexuellem Mißbrauch entstehen können, als Grund dafür, daß bei Männern mit Behinderung weniger Vorsorgen für den Umgang mit Sexualität realisiert werden.
„Das ist noch einmal etwas anderes, wenn es sich um Frauen mit Behinderung handelt. Die klärt man auf, weil ihnen kann es ja passieren, daß sie ein Kind bekommen.
Einen behinderten Mann braucht man - überspitzt gesagt - nicht aufklären, weil da
kann eh nichts passieren, ganz grob gesprochen. Das heißt für alle, die befaßt sind
mit dem behinderten Mann, dem behinderten Sohn oder dem Zögling im Heim, daß
man sich überhaupt nicht mit dem Problem auseinandersetzt, weil man genau weiß,
daß es kein Problem geben wird mit ihm ... er braucht nichts über seine Sexualität
wissen. Bei der Frau sehr wohl, denn die muß sich ja schützen, weil sonst hat das
Heim oder die Institution das Problem: Was machen wir mit dem Kind?“ (Betreuerin)
Die sexual(päd)agogische Arbeit in den Heimen für Menschen mit Behinderung wird
so in Abhängigkeit zur Erziehung in der Familie oder im Kinderheim gesetzt, als thematische Fortsetzung gewissermaßen und durch Versäumnisse beziehungsweise
Mängel in der entsprechenden Vorbereitung belastet. Sexuelle Ausbeutung durch
Männer mit Behinderung wird dann als Resultat einer fehlgeleiteten Einführung in
Sexualität interpretiert.
„Die Leute sind ja meistens schon als Kind ins Heim gekommen, sind nie beziehungsfähig geworden. Sie werden erwachsen und der sexuelle Drang ist natürlich
da. Und dann können sie damit natürlich schwer umgehen. Der Trieb ist da, und - wie
es so schön heißt bei uns - dann nimmt man sich halt wen. Das Moralische ist ihnen
halt nicht so klar, denke ich, das haben sie dann nicht, das: Das tut man nicht!“ (Betreuer)
4.
Strukturelle Maßnahmen zur Prävention
In den Einrichtungen werden sehr unterschiedlich ausgeprägte Maßnahmen zur Verbesserung des Umgangs mit Sexualität und mit sexueller Ausbeutung gesetzt. Diese
Maßnahmen sind zum Teil direkte Auswirkungen bzw. Konsequenzen der ‘Frauenstudie’ und betreffen laut Darstellung von leitenden MitarbeiterInnen in erster Linie
die Fortbildung der BetreuerInnen. Auch weitergehende Maßnahmen sind vereinzelt
schon vorgeplant und vorgezeichnet, ohne daß damit aber auch schon konkrete Erfahrungen vorliegen.
„Zur Prävention sexueller Gewalt in Vollzeiteinrichtungen trägt die sexualpädagogische Weiterbildung des Betreuungspersonals, aber auch Bemühungen um
Aufklärung der HeimbewohnerInnen bei. Vom Verein aus gibt es sexualpädagogische Arbeitskreise, deren TeilnehmerInnen sich regelmäßig treffen. Von jeder Vollzeitwohngruppe sollte mindestens ein/e BetreuerIn daran teilnehmen. In den Wohngruppen sollen diese Themen dann aufgegriffen und weiter diskutiert werden, allerdings ist das schwer einzufordern bzw. zu überprüfen. Weiters gibt es für Frauen und
Männer mit Behinderung, also die HeimbewohnerInnen, sechs bis acht Fortbildungstage pro Jahr zum Thema Aufklärung und Sexualität, die regional organisiert werden.“ (Pädagogischer Leiter)
118
Aus Sicht der BetreuerInnen selbst erscheinen diese Maßnahmen aber als nicht ausreichend.
„Man bräuchte noch total viel Unterstützung. Die Vereinsleitung versucht es ja. Bei
der Einschulung hat man einen Block zur Sexualität. Aber ich brauche da mehr. Erstens sollte man da mehr machen in der Einschulung bzw. Fortbildung und zweitens
sollte es eine Anlaufstelle für Krisenintervention geben, wenn es soweit ist. Was mache ich dann? Und daß man eine Einzelsupervision haben kann. Das löst ja auch in
der BetreuerIn irrsinnig viel aus. Wenn das in meinem Nachtdienst passiert, dann
würde ich mich sehr sehr schuldig fühlen, daß ich das nicht vorher ‘abgecheckt’ habe
und daß das passieren konnte.“ (Betreuerin)
Konkret werden von unseren InterviewpartnerInnen Probleme und Grenzen in der
Umsetzung vorhandener Konzepte und Vorhaben aufgezeigt, die vor allem auf fehlende Toleranz seitens der Eltern und der Gesellschaft zurückgeführt werden, die
sich dann auch innerhalb der Trägervereine und der Einrichtungen als Barrieren
und/oder fehlenden Rückhalt niederschlagen.
“Das Problem ist eher so der Rückhalt von der pädagogischen Leitung, die natürlich
auch wieder den Rückhalt braucht von der Direktion. Ich glaube, daß das das große
Problem ist. Sexualität oder Aufklärung, rein theoretisch, ist perfekt behandelt. Da
braucht man nicht mehr lange Konzepte schreiben, die gibt es schon. Das Problem
ist eher in der Umsetzung - und das hängt zusammen mit den Eltern, die z.T. ja auch
schon recht alt sind und völlig andere Vorstellungen und ein völlig anderes Verhältnis
zu Sexualität und Behinderung haben. Das sperrt sich dann. Wenn dann in den Einrichtungen versucht würde, konsequent ein Aufklärungs- und liberales Sexualitätskonzept zu realisieren, da kämen dann alle Befürchtungen zum Vorschein: ‘Da werden schlafende Hunde aufgeweckt.’ oder: ‘Das hat er doch eh nie gebraucht.’ Das ist
mir schon verständlich, daß das vom Verein vorsichtig gehandhabt wird. Und dann
gibt es natürlich noch das Problem, daß das ja nicht nur von den Eltern so gesehen
wird, sondern auch noch von vielen BetreuerInnen. Solange nur theoretisch geredet
wird, tut man sich leicht, aber wenn es in die praktische Umsetzung geht, dann kommen bei den BetreuerInnen auch die Grenzen hervor. Und jedeR hat ein anderes
Verständnis. Was für die einen noch ganz selbstverständlich ist, ist für andere schon
unmöglich. Wenn es um die Umsetzung geht, dann kommen von BetreuerInnenseite
wahnsinnig viele Vorbehalte: ‘Aber zuerst müßte man das lernen und das.’ Oder: ‘Es
ist in Ordnung, er soll eine Freundin haben und mit ihr schlafen.’ Aber vorher gibt es
noch viele andere Sachen, die man klären muß. Dabei wird von behinderten Menschen mehr verlangt als von nichtbehinderten Menschen, was die Beziehungsfähigkeit anbelangt.“ (Pädagogischer Leiter)
Gezielte Unterstützung der BetreuerInnen wird vor allem in Hinblick auf die Entwicklung eines adäquaten Problembewußtseins vorgeschlagen, um so sicherstellen zu
können, daß aktuelle Probleme auch wirklich als solche erkannt werden und entsprechende Maßnahmen gesetzt werden können.
„Was mich stört, ist, daß man (erst) dann von Mißbrauch redet, wenn eine Frau vergewaltigt worden ist. Dann hat man es gesehen, dann ist es soweit ... aber daß da
vorher schon viel ‘abrennt’, daß da schon viele Kränkungen und Verletzungen passieren, darauf wird zu wenig geachtet. Wenn so ein Vorfall passiert, dann hat man sicher jede Unterstützung vom Verein; aber wenn man erzählt: ‘Das gefällt mir nicht!’
Oder: ‘Da merke ich jetzt etwas!’, dann wird man das eher so abtun: ‘Solange nichts
(oder nicht mehr) passiert!’ Das finde ich zuwenig.“ (Betreuerin)
119
Darüberhinaus werden gerade in der Arbeit mit den Eltern von BetreuerInnen und
LeiterInnen die zentralen Fragen und Probleme für einen adäquateren Umgang mit
Sexualität gesehen.
„Unser Verein hat sich noch nicht offiziell, in den Statuten, festgelegt, daß sexuelle
Aufklärung und Sexualpädagogik fixe Bestandteile der Arbeit in den Einrichtungen
sein sollen. Das wäre ein wichtiger Schritt in Richtung Prävention. Das müßte dann
auch in den Aufnahmevertrag mit den Eltern aufgenommen werden. Die Elternarbeit
ist in unserem Verein noch wenig entwickelt und gerade von den Eltern werden viele
fortschrittliche Ansätze (Aufklärung, Verhütung, heterosexuelle bzw. homosexuelle
Beziehungen etc.) gebremst.“ (Einrichtungsleiterin)
Als weitergehende Maßnahme für Änderungen im Umgang mit Sexualität sowie zur
Prävention von sexueller Ausbeutung werden von BetreuerInnen und LeiterInnen
konkret geplante oder bereits eingeleitete Standardverbesserungen in den Einrichtungen berichtet. Unter anderem wird etwa die Bildung von kleineren Wohngruppen
durch bauliche Veränderungen sowie die Dezentralisierung der Wohnangebote angestrebt. Ziel dieser Entwicklung ist in einer Einrichtung „eine Gruppengröße von
maximal vier BewohnerInnen, die auch in Hinblick auf konkretes Schutzbedürfnis zusammengesetzt werden sollen“ (Pädagogischer Leiter).
„Gerade wie dieses Haus geplant oder bezogen worden ist, da haben wir darüber
gesprochen: Gibt es Männer oder Frauen, die unmöglich zusammen in einem Stockwerk wohnen können. Man kennt natürlich Männer, wo man weiß, daß das ungut ist.
Da könnte es möglicherweise Konflikte geben, diesbezüglich. So wird dann etwa überlegt, die Frau X im Erdgeschoß unterzubringen, weil sie da mit den Leuten besser
kann, und den Herrn Y im zweiten Stock. Das waren Überlegungen, um mögliche
Konflikte oder sexuelle Belästigung zu verhindern, wie mache ich das präventiv.“ (Betreuer)
Die Überlegungen zur Dezentralisierung der Angebote thematisieren dabei insbesondere das Problem der fehlenden Durchlässigkeit der Einrichtungen der Behindertenhilfe. Gerade hier wird aber auch die Widersprüchlichkeit in der Aufgabenstellung
deutlich. Gilt es doch einerseits, den BewohnerInnen zu mehr Selbständigkeit zu
verhelfen. Der konkrete Arbeitsauftrag geht aber andererseits nach wie vor von einem Erziehungs- und/oder Schutzverständnis aus, wonach Menschen mit Behinderung in Einrichtungen der Behindertenhilfe den spezifischen Schutz und die konkrete
Hilfestellung erhalten sollen, derer sie aufgrund ihrer Behinderung in besonderem
Maße bedürfen.
„Wir befinden uns da sicher in einem Spannungsfeld: zwischen mehr Selbstbestimmung einerseits und dem legitimen Schutzaspekt, dem natürlichen Wunsch nach Hilfe und Unterstützung auf der anderen Seite.“ (Einrichtungsleiter)
In einigen Einrichtungen werden auch ganz gezielte Maßnahmen dahingehend gesetzt, den BewohnerInnen zumindest die räumlichen Voraussetzungen dafür zu sichern, auch sexuelle Partnerschaften leben zu können. Die Rückzugsmöglichkeit in
das eigene Zimmer wird vor allem unterstrichen, weil es den BewohnerInnen damit
möglich ist, Besuch auf ihr Zimmer mitzunehmen. In einigen Einrichtungen ist es zudem möglich, Zimmer zusammenzulegen und mehr/minder abgeschlossene Wohneinheiten für Paare zu schaffen. In der Diktion eines leitenden Mitarbeiters einer Einrichtung liest sich die dahintersteckende Intention so:
„Unsere Einrichtung hat eine stark katholische Tradition und wurde bis vor einigen
Jahren auch noch von Nonnen geführt. In dieser Zeit war absolut alles verboten, was
120
auch nur entfernt an Sexualität erinnert hat. Also, unsere Bewohner, die schon seit
damals hier sind, haben natürlich bezüglich Sexualität die seltsamsten Einstellungen,
allem voran die, daß das immer irgendwie versteckt sein muß. Das passiert dann
häufig im Keller oder am Klo. Wir arbeiten nun seit längerem schon daran, daß sie
das nicht im Klo machen sollen, sondern eben in ihrem Zimmer machen können. Das
gelingt uns nicht immer, weil bei manchen das ältere Verbot ganz einfach noch stärker ist.“ (Einrichtungsleiter)
Das Angebot, Sexualität im eigenen Zimmer leben zu können, dient in diesem Zusammenhang vorwiegend dem Ziel, Sexualität aus dem Stigma des Verbotenen bis
Schmutzigen herauszuholen und vom Ansatz her zu normalisieren: Als etwas, das
auch erwünscht ist, solange beide PartnerInnen darin einwilligen. Vereinzelt wird von
den InterviewpartnerInnen von Versuchen berichtet, diese Liberalisierung in Hinblick
auf homosexuelle Beziehungen auszudehnen, wobei gerade in dieser Frage von
großen Widerständen bei Eltern aber auch bei den BetreuerInnen berichtet wird.
Allgemein kann ein Trend in der Arbeit mit Menschen mit Behinderung festgestellt
werden, wonach in Zukunft insbesondere Leben von (auch sexuellen) Partnerschaften verstärkt durch Beziehungsberatung sowie eine Anpassung der Heimordnung an
das Leben zu zweit etc. gefördert werden soll, wenngleich vielfach die gegebenen
baulichen, personellen und finanziellen Beschränkungen diese neuen Ansätze noch
behindern.
121
I.
Schlußfolgerungen
In der vorliegenden Studie stellen wir die Ergebnisse einer Fragebogenerhebung an
117 Männern mit Behinderung vor, die wir österreichweit in verschiedenen Einrichtungen von acht Trägern, in denen Menschen mit Behinderung leben, befragt haben.
Im folgenden fassen wir die wichtigsten Ergebnisse in geraffter Form zusammen und
präsentieren ausgewählte Schlußfolgerungen.
Methode hat
sich bewährt
Der gewählte methodische Zugang hat sich bewährt. Durch die
persönliche Orientierung der Männer mit Behinderung und das Angebot der Wahl deR InterviewerIn war es in den meisten Fällen möglich, die Fragebogenerhebung durchzuführen. Durch den Einsatz von
anatomischen Puppen konnten auch Männer, die nicht über verbale
Kommunikation verfügen bzw. einen niedrigen Aufklärungsstand haben, befragt werden.
Kumulierte
Benachteiligungen
Die von uns befragten Männer unterliegen einer Vielzahl von
gravierenden Benachteiligungen. Diese kommen in folgenden
Momenten zum Ausdruck: Die meisten Männer verfügen in der Regel
nur über eine geringe schulische und berufliche Ausbildung. Nur wenige Männer sind außerinstitutionell in einem regulären Erwerbsverhältnis. Überwiegend leben die Befragten bereits seit vielen Jahren in
einer Einrichtung. Ein Wechsel zwischen verschiedenen Wohnformen ist kaum festzustellen. Sie haben wenig Gelegenheiten, Menschen von außerhalb der Einrichtung kennenzulernen und sind deshalb für die Wahl eines Partners /einer Partnerin auf den Personenkreis in der Einrichtung angewiesen. Nur wenige sind verheiratet oder leben eine Lebensgemeinschaft.
Strukturelle
Gewalt
Wir konnten feststellen, daß Männer mit Behinderung zu
hohen Anteilen wählen können, von wem sie Hilfe im Intimbereich
erhalten. Im Zuge der Nachbereitung der Ergebnisse der ‘Frauenstudie’ dürfte es diesbezüglich zu wichtigen Standardverbesserungen
gekommen sein. Die Auswahlmöglichkeit beim Hilfebedarf im Sozialund Kommunikationsbereich ist aber nur eingeschränkt möglich. In
den Einrichtungen besteht noch wenig Sensibilität für individuelle
Bedürfnisse im Zusammenhang mit Individuation, Entwicklung und
Festigung sexueller Identität und der Herausbildung adäquaten Sexualverhaltens.
Im Vergleich zur ‘Frauenstudie’ ist eine Verbesserung der Wohnstandards (weniger Mehrbettzimmer) und weiterer Voraussetzungen
für selbstbestimmte Lebensformen (abschließbare Zimmer, keine
Zeitvorgaben bezüglich Ruhezeiten) festzustellen. Institutionelle Vorsorgen für den Umgang mit Sexualität fehlen weitgehend. Diese beschränken sich vielfach auf die Gewährung von Rückzugsmöglichkeiten und Hilfeangebote bei Problemen mit Sexualität durch die BetreuerInnen. Systematische Aufklärung findet kaum statt. Nur in weni-
122
gen Einrichtungen gibt es Konzepte und Ansätze für eine geschlechtsspezifische Betreuung von Menschen mit Behinderung.
Aufklärung und
Die befragten Männer sind in ausgesprochen hohem Maß
sexuelle Identität nicht aufgeklärt. Bei vielen beschränkt sich ihre Sexualaufklärung auf
das Wissen über männliche Geschlechtsteile und funktionelle Aspekte des Geschlechtsverkehrs mit Frauen. Das Tabu bezüglich Homosexualität kommt in einer hohen Unkenntnis zum Ausdruck. In der
‘Frauenstudie’ stellten wir fest, daß diese ebenfalls nur sehr mangelhaft aufgeklärt sind. Vor allem aber bezüglich Verhütung wissen sie
besser Bescheid als die befragten Männer, was auf das Risiko der
Schwangerschaft zurückzuführen ist. Während insbesondere jene
Frauen sich als relativ aufgeklärt erwiesen, die sexuelle Gewalt erlebt
hatten, ist dieser Zusammenhang bei den Männern nicht gegeben.
Vor dem Hintergrund fehlender institutioneller Vorsorgen und weitgehendem Unwissen über Sexualität erstaunt es nicht, wenn sich rund
ein Viertel der befragten Männer als Bub oder anderes bezeichnet
und in diesem Sinn keine altersgemäße Sexualidentität hat.
Hohes Ausmaß
Jeder zweite der befragten Männer ist in seinem Leben
an sexueller Aus- Opfer von sexueller Ausbeutung geworden. Mehr als zwei Drittel der
beutung
betroffenen Männer erleben sexuelle Gewalt mehr als einmal in ih-
rem Leben. In der Altersgruppe zwischen 16 und 24 Jahren werden
die Männer am häufigsten sexuell ausgebeutet. Die meisten Gewaltvorkommnisse ereignen sich im geschützten Bereich von Einrichtungen. Dementsprechend sind es auch die MitbewohnerInnen, vorwiegend Männer, die sexualisierte Gewalt ausüben. Im Gegensatz zu
den in der Literatur angeführten Annahmen, wonach Täter von sexueller Gewalt zumeist Männer sind, haben wir mit rund einem Viertel
einen verhältnismäßig hohen Anteil an Täterinnen. Überwiegend erleben die Männer sexuelle Ausbeutung im Vorfeld von Fellatio und
Vergewaltigung. Auffallend ist, daß die zuletzt genannten Gewaltformen hauptsächlich außerhalb der Einrichtung passieren.
Folgen von
sexueller Ausbeutung
Fast die Hälfte der befragten Männer leidet unter regelmäßigen
körperlichen und/oder psychischen Problemen. Hauptsächlich
handelt es sich dabei um Schwindelanfälle sowie Phobien und Ängste. Diese dürften zu einem guten Teil nicht Bestandteil der Behinderung, sondern Resultat erlittener sexueller Gewalt sein. Vor diesem
Hintergrund erscheint es fragwürdig, daß sich die institutionellen
Vorsorgen auf die Verabreichung von Epilepsiemittel und Neuroleptika beschränken. Nur wenige der Befragten können eine Therapie in
Anspruch nehmen, die ihnen bei der Bewältigung der Gewaltfolgen
helfen könnte.
123
Kaum Schutz
der Opfer
In der Regel werden bei Bekanntwerden eines Gewaltvorkommnisses seitens der Einrichtung kaum wirksame Maßnahmen zum
Schutz des Opfers gesetzt. Die überwiegende Mehrzahl der Maßnahmen beschränkt sich darauf, daß der Täter ‘geschimpft’ wird. Viel
spricht dafür, daß den Opfern entweder Mitschuld am Vorkommnis
unterstellt oder ganz einfach nicht geglaubt wird.
Nur knapp jeder zweite der betroffenen Männer vertraut seine Gewalterfahrung bevorzugt einem/einer BetreuerIn an. In diesem
Schweigen kommt zum einen Gewöhnung an den sexualisierten gewaltförmigen Heimalltag, zum anderen eine homophobe Grundhaltung und im Weiteren der Widerspruch von Gewalterfahrung zum
Selbstbild als Mann zum Ausdruck. Auch im Schweigeverhalten tritt
ein wesentlicher Unterschied zu den weiblichen Betroffenen zutage,
von denen immerhin zwei Drittel ihre Gewalterfahrungen thematisieren.
Im Vergleich mit den Ergebnissen der Frauenstudie lassen sich bezüglich Ausmaß, Art und Folgen von sexueller Ausbeutung geschlechtsspezifische Differenzen feststellen. Lediglich bei den Maßnahmen infolge von bekanntgewordenen Vorfällen sexueller Gewalt
zeigen sich keine ausgeprägten geschlechtsspezifischen Unterschiede. Bei Männern wie bei Frauen mit Behinderung beschränken sich
die ergriffenen Maßnahmen hauptsächlich darauf, daß mit dem Täter
gesprochen wird.
Täter mit
Behinderung
Mehr als jeder vierte der Befragten bekennt sich dazu, jemanden sexuell ausgebeutet zu haben. Zwei Drittel berichten von mehreren Gewaltformen, die sie überwiegend mehrfach begangen haben.
Die Opfer der Männer sind hauptsächlich Frauen und zu einem hohen Anteil Mitbewohnerinnen. Sexuelle Ausbeutung durch Männer
mit Behinderung findet überwiegend in der Einrichtung statt. Die dargestellten Taten betreffen hauptsächlich sexuelle Ausbeutung im
Vorfeld von Fellatio und Vergewaltigung. Genauso wie im Fall der
Opfer werden die Gewalttaten zumeist in der Altersgruppe zwischen
15 und 24 Jahren begangen. Der Anteil an Tätern ist insbesondere in
großen Einrichtungen mit Wohngruppen überproportional hoch. Die
erst seit wenigen Jahren realisierten Standardverbesserungen in diesen Bereichen zeitigen noch keine wesentlichen Auswirkungen auf
das Ausmaß der Täterschaft.
Aus der Tatsache, daß der Großteil der Täter auch Opfererfahrung
hat, läßt sich auf einen Zusammenhang zwischen Opferstatus und
Täteraspekt schließen, der wesentlich auf dem spezifischen Umgang
mit Sexualität und sexualisierter Gewalt im Heimalltag beruht. Zu
60% kennen die befragten Männer entweder als Opfer oder als Täter
oder in beiden Perspektiven sexuelle Ausbeutung aus eigener Erfahrung oder persönlichem Gewalthandeln.
Die meisten Täter erzählen über ihre Gewalttaten erst, nachdem diese bekannt geworden sind.
Die Reaktion der verantwortlichen MitarbeiterInnen in der Einrichtung
besteht wesentlich darin, daß mit den Tätern gesprochen wird, zum
Teil erfolgt im Anschluß daran sexuelle Aufklärung. Ein Drittel der
Maßnahmen sieht die Verlegung des Täters in eine andere Wohn124
einheit vor. Therapeutische Maßnahmen im Sinn konsequenter Täterarbeit werden nur vereinzelt gesetzt. Abschließend kann gesagt
werden, daß in den Einrichtungen ein Problembewußtsein nur ansatzweise vorhanden ist, die MitarbeiterInnen erweisen sich bezüglich Umgang mit Sexualität und besonders mit sexualisierter Gewalt
als weitgehend hilflos.
Hohe Dunkelziffer
Zwischen Opferdarstellungen und den geschilderten Vorkommnissen aus der Perspektive der Täter zeigen sich große Diskrepanzen. Es wird deutlich, daß die Täter tendenziell eher sexuelle
Ausbeutung an Frauen zugeben und sie sich in der Darstellung eher
auf sexuelle Gewaltformen im Vorfeld von Fellatio und Vergewaltigung konzentrieren. Das wahre Ausmaß von sexueller Ausbeutung
in Einrichtungen für Menschen mit Behinderung dürfte wesentlich
größer sein, als wir mit dieser Untersuchung belegen können.
125
J.
Gesetzgebung und Gerichtspraxis für Menschen mit
Behinderung
1.
Gesetzesebene
Auch die vorliegende Studie zeigt wie schon die erste deutlich auf, daß der höchste
Prozentsatz von sexueller Ausbeutung gegenüber Menschen mit Behinderung in deren nahen Sozialbereich stattfindet (Einrichtungen, Familie, geschützte Werkstätte
etc.). Infolge dieser Lebensrealität, die von individuell jeweils verschiedenen Abhängigkeiten und/oder Pflegebedürftigkeiten geprägt ist, muß in einem Straftatbestand
grundsätzlich anerkannt werden, daß körperliche Gewalt und/oder sexuelle Ausbeutung von den Betroffenen nicht gewollt ist. Dabei ist der Fokus weit mehr auf das institutionelle Macht- und Abhängigkeitsverhältnis zu richten als auf die spezifische
Hilflosigkeit einer einzelnen Person mit Behinderung. Nur auf dieser Basis wird deutlich, daß die Ausnutzung einer so begründeten Zwangslage von Menschen mit Behinderung zu sexuellen Handlungen gegen oder ohne den Willen derselben ein
strafwürdiges Unrecht ist.
Das deutsche Strafgesetz mit § 174a und das schweizerische Strafgesetz mit Art.
192 bilden einen wichtigen Ansatz dazu, indem sie „sexuelle Handlungen“ oder „sexuellen Mißbrauch von Gefangenen, behördlich Verwahrten, Kranken in Anstalten
oder Anstaltspfleglinge“ speziell berücksichtigen. Sie greifen aber zu kurz, solange
die Rechtsprechung nur die sexuelle Ausbeutung von HeimbewohnerInnen und Ausnutzung von deren Hilfsbedürftigkeit oder Krankheit unter Strafe stellt und diejenigen,
die in teilstationären Einrichtungen wie geschützten Werkstätten arbeiten, aus dem
Schutzbereich der Vorschrift ausgrenzt.
Das österreichische Strafgesetz berücksichtigt diese spezielle Gruppe von Menschen
überhaupt nicht. In Österreich werden Sexualdelikte gegen Menschen mit Behinderung (wenn überhaupt) unter § 205 (Schändung) abgehandelt. Auch dieser § erfaßt
die spezifische Situation von Menschen mit Behinderung nicht, weil die meisten von
ihnen sehr wohl in der Lage sind, einen entgegenstehenden Willen gegen das sexuelle Ansinnen des Täters zu bilden und auf ihre ihnen mögliche und spezielle Art
auch auszudrücken10. Eine Strafvorschrift, die in ihren Voraussetzungen nicht ausschließlich auf die Hilfsbedürftigkeit und Unfähigkeit von Menschen mit Behinderung
abstellen würde, sondern auf das strukturelle Machtgefälle zwischen ihnen und dem
Täter, würde deutlich signalisieren, welches Unrecht hier bestraft werden muß.
2.
Verfahrensebene
Für Menschen, die von sexueller Gewalt betroffen sind, muß durch eine geeignete
Regelung der Strafprozeßordnung sichergestellt werden, daß den Opfern (auch mit
Behinderung) zum frühestmöglichen Zeitpunkt eine anwaltliche Interessenvertretung
zu Seite gestellt wird, d.h. eine parteiliche Rechtsanwältin oder ein parteilicher
Rechtsanwalt, die/der ausschließlich die Interessen der verletzten Menschen vertritt.
Die Gebühren einer solchen Vertretung sollen über die Justizverwaltung abgerechnet
werden. Zudem müssen dieser parteilichen Vertretung wichtige Verfahrensrechte
10
Zemp/Pircher 1996, 151f.
126
eingeräumt werden. In Deutschland ist es über die Nebenklagevertretung möglich,
Prozeßkostenhilfe für „Kostenarme“ staatlich finanziert zu bekommen. In der Schweiz
werden die Gebühren für parteiliche Vertretung durch das Opferhilfegesetz OHG geregelt und durch die Opferhilfsstellen finanziert. Ein vergleichbares Rechtsinstitut wie
die Nebenklage oder das Opferhilfsgesetz existiert in Österreich nicht. Weil die staatliche Finanzierung einer/eines parteilichen AnwältIin nicht garantiert ist, hat in Österreich die parteiliche Vertretung von Opfern noch immer keine Tradition.
Im Vordergrund auch der rechtlichen Reaktionen sollten Schutz- und Unterstützungsmaßnahmen für Betroffene stehen. Bei Kindern gehören dazu vormundschaftliche Regelungen wie etwa dem/der Verdächtigen aufzutragen, den Wohnbereich des Opfers nicht mehr zu benutzen, die sogenannte ‘Go Order’, Kontakt- und
Umgangsverbote sowie Unterlassungsverfügungen gegenüber dem Verdächtigen.
Neben dem Schutz der Betroffenen vor weiteren sexuellen Ausbeutungshandlungen
und vor Beeinflussungsversuchen durch die Beschuldigten sollten erste dienstrechtliche und arbeitsrechtliche Sanktionen bzw. Maßnahmen gegenüber denjenigen
Tätern stehen, die als Angehörige von Pflegeberufen oder ähnlichem verdächtigt
werden. Hier sollen sich von sexueller Ausbeutung Betroffene ebenfalls parteilich
vertreten lassen können. Ähnliches gilt bei TäterInnen mit Behinderung: Die Heimleitungen haben klar Stellung zu beziehen und sofort zu reagieren, indem der/die TäterIn sofort verlegt wird. Dabei ist es wichtig, den Grund der Verlegung nicht zu tabuisieren, sondern offen zu legen und dafür zu sorgen, daß das Kontaktverbot eingehalten wird.
Wenn Strafanzeige gegen den Beschuldigten erstattet wird, so ist es Aufgabe der
Rechtsanwältin/des Rechtsanwaltes, für eine qualifizierte und professionelle Aussagesicherung der Betroffenen zu sorgen. Dabei steht die Beratung von Unterstützungspersonen (PädagogInnen, BetreuerInnen, PsychologInnen etc.) im Vordergrund. Im Rahmen des „backlash“ und der aktuellen gesellschaftspolitischen Gefechte um den „Mißbrauch des Mißbrauchs“ sind die Unterstützungspersonen von sexuell
Ausgebeuteten oft sehr verunsichert und werden mit Vehemenz von entsprechenden
GutachterInnen angegriffen. Auf der Fachtagung11, bei der die Studie „Weil das alles
weh tut mit Gewalt. Sexuelle Ausbeutung von Mädchen und Frauen mit Behinderung“
(Zemp/Pircher 1996) vorgestellt wurde, erzählte Anwältin Burgsmüller12, wie sie in
laufenden Strafverfahren immer wieder mit dem „Blaming-The-Assistant-Effect“ konfrontiert wird: „Im Vordergrund der Kritik stehen nicht mehr unzureichende kindliche
Aussagen oder Aussagen einer Frau mit Behinderung, sondern eine angeblich unprofessionelle Vorgehensweise der Interviewperson, die mit falschem Frageverhalten
und entsprechendem Erwartungsdruck suggestiv auf eine Opferzeugin eingewirkt
haben soll.“ (1996, 3)
Nachdem die Rechtsanwältin/der Rechtsanwalt eine Strafanzeige erstattet hat, geht
es darum, ein Setting zu arrangieren, welches für das Opfer nicht belastend ist und
den speziellen Bedürfnissen und Möglichkeiten eines Opfers mit Behinderung bei der
ersten Einvernahme gerecht wird. Diese sollte auf Video- und Tonträger aufgezeichnet werden, um Betroffenen mehrere Einvernahmen zu ersparen. Im Zusammenhang mit sexuell Ausgebeuteten mit Behinderung ist es wichtig, daß die Professionel11
12
27. September 1996 in Wien
ExpertInnen-Liste
127
len, die die Einvernahme machen, sachkundig sind in bezug auf die Befragung von
Menschen mit Behinderung. Wenn sie das nicht sind, sollten sie ihr Fragerecht an
Sachverständige delegieren.
Der Ausgang eines Strafverfahrens hängt ganz wesentlich davon ab, ob BegutachterInnen wie PsychiaterInnen oder PsychologInnen die Aussagefähigkeit eines
Opfers mit Behinderung vorurteilslos und kompetent bewerten können. In diesem
Sinne sind für Professionelle zum Teil Spezialkenntnisse notwendig wie die Anwendung von speziellen Testverfahren oder der professionelle Umgang mit den anatomisch ausgebildeten Puppen. Wenn bei Überlebenden mit geistiger Behinderung ein
Glaubwürdigkeitsgutachten gemacht werden muß, ist darauf zu achten, daß nicht mit
altersentsprechenden, sondern mit entwicklungsentsprechenden Maßstäben gemessen wird. Bei Menschen mit geistiger Behinderung tauchen oft besondere Glaubwürdigkeitsmerkmale auf, daß z.B. unverstandene Details phänomengemäß geschildert
werden. Wenn sie danach gefragt werden, können OpferzeugInnen mit Behinderung
nicht selten emotionale Vorgänge bei sich und beim Täter sehr gut schildern.
Wie in allen Strafverfahren ist es auch hier wichtig, durch Anträge auf Öffentlichkeitsausschluß, Entfernung der Angeklagten aus dem Sitzungszimmer für die Dauer
der Einvernahme der Opfer, Betroffene vor zusätzlichen Traumatisierungen zu
schützen.
Auch Täter mit Behinderung brauchen qualifizierte Verteidiger, die u.a. für sie spezialisierte, kompetente GutachterInnen vorschlagen und deren Kompetenz in das Verfahren einbringen. Bezüglich der Schuldunfähigkeit von Tätern mit Behinderung gilt
dasselbe wie bezüglich der Opfer mit Behinderung: GutachterInnen wie PsychiaterInnen, die in strukturellen Abhängigkeits- und Machtverhältnisse erfahren sind, sollen die Schuldfähigkeit begutachten und auch einen Täter mit Behinderung sehr differenziert beurteilen können, z.B. was dessen soziale Fähigkeiten anbelangt.
128
K.
Maßnahmen
Die Ergebnisse der Studie machen deutlich, daß weitreichende Maßnahmen notwendig sind, und zwar auf den Ebenen Prävention, Intervention und Bearbeitung des
institutionellen Problemumfeldes. Die vorgeschlagenen Maßnahmen gehen von den
in der ‘Frauenstudie’ ermittelten Bedürfnissen von Frauen mit Behinderung nach
Schutz aus. Die hohe Problembelastung bei den Männern mit Behinderung zeigt,
daß auch auf dieser Ebene großer Bedarf nach Schutz vor sexueller Ausbeutung besteht. Das Hauptaugenmerk liegt auf der Notwendigkeit zu verhindern, daß Männer
mit Behinderung Täter und aufgrund fehlender oder kontraproduktiver Interventionen
pathologisiert werden oder gar Wiederholungstäter bleiben.
Als AdressatInnen der Maßnahmen betrachten wir insbesondere öffentliche und private Institutionen, politische Instanzen und Verbände (z.B. Gerichte, PolitikerInnen,
öffentliche Beratungsstellen, Einrichtungen, in denen Männer mit Behinderung leben,
Elternverbände etc.) sowie die Männer selbst, die sexuelle Gewalt erfahren und/oder
selbst ausüben. Sexualisierte Gewalt im behinderten Alltag von Heimen sowie als
Bestandteil der Biografie von Männern mit Behinderung kann nur verhindert oder
langfristig abgebaut werden, wenn die betroffenen Männer und Frauen die Möglichkeit haben, ihre Interessen und Bedürfnisse zu artikulieren und gleichberechtigten
Zugang zu den ökonomischen und sozialen Ressourcen für eine selbstbestimmte
Lebensgestaltung erhalten. Zumal sich in den vergangenen zwei Jahren die grundsätzlichen Rahmenbedingungen nicht verändert haben, sind die Maßnahmen, die wir
in der ‘Frauenstudie’ formuliert haben, weiterhin aktuell und wieder aufzugreifen. Die
vorgeschlagenen Maßnahmen beziehen sich auf die gesellschaftliche, rechtliche, institutionelle sowie individuelle Ebene.
1.
Notwendiger Paradigmenwechsel
Sexuelle Gewalt von und an Menschen mit Behinderung ist Ausdruck einer verobjektivierenden Grundhaltung und spiegelt damit Grundzüge ihres institutionellen Umfeldes, das wesentlich auf Entmündigung beruht, wider. Um sexueller Ausbeutung zu
begegnen, erscheint es uns wichtig, daß in der Behindertenhilfe ein Paradigmenwechsel vorgenommen wird. Das einzige Paradigma, das einer solchen Grundhaltung konsequent entgegentritt, ist dasjenige von “selbstbestimmt leben” (Independent
Living), das auf die Initiative von Menschen mit Behinderung zurückgeht. Dieser theoretische Ansatz geht davon aus, daß ein Leben mit Behinderung eine der vielen
verschiedenen Möglichkeiten des menschlichen Lebens darstellt, wobei Menschen
mit Behinderung aufgrund ihrer Andersartigkeit und den damit gesetzten Grenzen jedoch als selbstverständliches Recht die notwendigen Mittel zur Verfügung gestellt
werden, damit sie ein selbstbestimmtes Leben ohne Aussonderung führen können.
Das Modell, welches zu diesem Paradigma gehört, ist die persönliche Assistenz.
Staatliche finanzielle Mittel werden nicht weiterhin an Institutionen, in denen Menschen mit Behinderung zwangsgemeinschaftlich zusammenleben, abgegeben, sondern an die Menschen mit
129
Behinderung direkt. Damit ist es ihnen möglich, sich als ArbeitgeberIn für die notwendigen Hilfeleistungen selber die Leute auszuwählen und anzustellen. Das Modell
der persönlichen Assistenz fördert das Selbstbewußtsein der Menschen mit Behinderung, was eine zentrale Voraussetzung auch für das Leben von Partnerschaft und
Sexualität ist. Letztlich ist Integration nur auf dem Hintergrund eines Paradigmas von
selbstbestimmtem Leben möglich.
2.
Integration
Auch für die Zielgruppe Männer mit Behinderung gilt, was bereits in der Frauenstudie
als Begründung für integrative Maßnahmen im gesellschaftlichen Bereich formuliert
wurde. Nach wie vor werden in dieser Gesellschaft Menschen mit Behinderung, aber
insbesondere Menschen mit geistiger Behinderung, an einem selbstbestimmten Leben gehindert. Dadurch ist es vielfach nicht möglich, spezielle Bedürfnisse abzudecken. Der Lebenszusammenhang vieler Menschen mit Behinderung ist von Ausgrenzung und Absonderung geprägt. Das äußert sich u.a. darin, daß sie mangels einer
schulischen und beruflichen Integrationspolitik in Sonderschulen abgeschoben und
ihnen auch später kaum adäquate Ausbildungschancen geboten werden. Damit wird
der Zugang zu Wissens- und Artikulationsmacht eingeschränkt, wichtige Ressourcen
im ökonomischen und sozialen Bereich beschnitten. Vor dem Hintergrund von Isolation und Ghettoisierung werden Menschen mit Behinderung tendenziell abhängig von
Betreuung und Pflege. Die derzeitige Behindertenpolitik müßte langfristig darauf hinarbeiten, daß Menschen mit Behinderung unabhängig von institutioneller Hilfe materielle Ressourcen zur Verfügung gestellt bekommen, um ihren speziellen Bedürfnissen entsprechend, persönliche Assistenz zu holen. Die Folge davon wäre, daß Einrichtungen in diesem Ausmaß und in dieser Art, wie sie Österreich zur Zeit kennt,
künftig nicht mehr nötig sind.
In allen untersuchten Einrichtungen ist strukturelle Gewalt in hohem Maß gegeben,
die von den Bewohnerinnern und Bewohnern sowie ihren BetreuerInnen in Form von
sexualisierter Gewalt gelebt und erlitten wird. Um diesen Zustand zu verändern, muß
ein öffentliches Bewußtsein geschaffen werden, das Menschen mit Behinderung
grundsätzlich als gleichwertige Bürgerinnen und Bürger achtet. Medien und PolitikerInnen sind aufgerufen, die Akzeptanz für entsprechende Maßnahmen zu schaffen.
Weil das Ausmaß der sexualisierten Gewalt in den Einrichtungen für Menschen mit
Behinderung dermaßen hoch ist, schlagen wir die Schaffung einer bereichsübergreifend besetzten interministeriellen Arbeitsgruppe vor, bestehend aus VertreterInnen
des Bundesministeriums für Frauenangelegenheiten Konsumentenschutz, Bundesministeriums für Umwelt, Jugend und Familie, Bundesministerium für Justiz, Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, VertreterInnen aus der Behindertenbewegung, Selbsthilfeorganisationen und Integrationsbewegung, aus Forschung
und beruflicher Aus- und Weiterbildung sowie VertreterInnen der Berufsgruppen
(PsychologInnen, TherapeutInnen, PsychiaterInnen, BehindertenagogInnen etc.) sowie VertreterInnen von Einrichtungen. Die Aufgabe dieser Arbeitsgruppe besteht darin, bundesweite Standards der Behindertenhilfe (Grundsatzgesetzgebung) zu formulieren und einrichtungsübergreifende Vorsorgen für Entwicklung und Umsetzung von
Maßnahmen zu treffen. Darüberhinaus sollen in dieser Arbeitsgruppe die Vorarbeiten
für ein KlientInnenrecht geleistet werden, um den Rechtsstatus von Menschen in teilstationären und stationären Einrichtungen grundlegend zu verbessern.
130
2.
Strukturentwicklung
Nach wie vor ist in Österreich großer struktureller Mangel im Bereich der Behindertenhilfe festzustellen. Insbesondere fehlen dezentrale Einrichtungen im ländlichen
Raum sowie adäquate Vorsorgen für persönliche Assistenz. Statt dessen konzentrieren sich die Angebote vielfach auf Großeinrichtungen, die zudem oft nur unzureichend (Räume, Personal, Qualifikation und Strukturen) ausgestattet sind. Als besonders vordringlich erachten wir deshalb die Formulierung von verbindlichen Standards
für die ambulante, teilstationäre und stationäre Betreuung von Menschen mit Behinderung. Auf diesem Weg soll sichergestellt werden, daß ein flächendeckender Aufund Ausbau von ambulanten Diensten zur persönlichen Assistenz sowie ein flächendeckender Auf- und Ausbau von teilstationären Einrichtungen erfolgen kann. Erst auf
dieser Grundlage erscheint ein konsequenter Abbau von gewaltfördernden Strukturen in Großeinrichtungen möglich. Dazu bedarf es aber sicherlich der gezielten Unterstützung von außen, um institutionelle blinde Flecken bearbeiten zu können.
Ziel dieses Maßnahmenbündels ist es, die Durchlässigkeit ambulanter, teilstationärer
und stationärer Systeme zu gewährleisten und den Menschen mit Behinderung so
den Zugang zu bedürfnisorientierter Hilfe zu ermöglichen.
4.
Aus- und Weiterbildung
Nach wie vor ist Aus- und Weiterbildung bei verschiedenen Zielgruppen äußerst notwendig.
4.1
Frauen und Männer mit Behinderung als Opfer
Während man bei Menschen mit einer körperlichen Behinderung Selbsthilfegruppen
kennt, ist dies bei Menschen mit geistiger Behinderung erst ansatzweise in Deutschland13 vorhanden. Damit Menschen mit geistiger Behinderung eine Lobby bilden
können, müssen ihnen personelle und finanzielle Ressourcen zur Verfügung gestellt
werden.
Laut unserer Untersuchung ist der Wissensstand bei Männern mit Behinderung über
Körper, Sexualität und sexuelle Ausbeutung noch niedriger als bei Frauen mit Behinderung. Deshalb muß Sexualaufklärung als Auftrag im Lehrplan der (Sonder)Schulen verankert werden. Bei erwachsenen Männern und Frauen mit Behinderung
müssen die Einrichtungen diesem Auftrag nachkommen. Die Einrichtungen müssen
ein agogisches Konzept entwickeln, in dem Sexualität und sexuelle Gewalt thematisiert werden.
13
Dort hat 1994 der erste diesbezügliche Kongreß stattgefunden.
131
Auch im Sinne der Befähigung von Menschen mit Behinderung, für sich selbst einzutreten und dadurch ihren Selbstwert zu erhöhen, schlagen wir den Einrichtungen die
Organisation von Selbstverteidigungskursen für potentielle Opfer vor. Seit Jahren gibt
es SelbstverteidigungslehrerInnen, die mit der Zielgruppe Menschen mit Behinderung
arbeiten. Es gibt keine Form von Behinderung, die irgendeine Art von Selbstverteidigung verunmöglichen würde.
4.2
Männer mit Behinderung als Täter
Es muß davon ausgegangen werden, daß sexuelle Gewalttäter Wiederholungstäter
sind. Ausschließlich bestrafende Interventionsformen können diesen Kreislauf erfahrungsgemäß nicht durchbrechen. Internationale Modelle für gezielte Täterarbeit zeigen, daß es sehr wohl möglich ist, die Wiederholungsgefahr maßgeblich zu verringern. Wir schlagen deshalb vor, daß auch in Österreich Interventionsprogramme gestartet werden, die sich allgemein an Männer als Täter wenden. Innerhalb dieser
Programme ist darauf zu achten, daß auch Männer mit Behinderung daran teilnehmen können. Beispielhaft verweisen wir hier auf die pionierhaften Erfahrungen von
Ruud Bullens (Niederlande).
Insbesondere für die Zielgruppe von Männern mit Behinderung, die schon lange in
Einrichtungen leben, soll in Form von geschlechtsspezifischen Sozialtrainings soziale
Kompetenz vermittelt und längerfristig die Perspektive auf einen gleichberechtigten
Zugang zu den Ressourcen Bildung, Arbeit und Erwerbseinkommen eröffnet werden.
4.3
Andere Zielgruppen für Aus- und Weiterbildung
Professionelle in den Einrichtungen
Auch für diesen Bereich gilt, was bereits die ‘Frauenstudie’aufgezeigt hat. Die Professionellen in den Einrichtungen sind überfordert, die BewohnerInnen sexuell aufzuklären und sie bei der Entwicklung und Festigung ihrer eigenen sexuellen Identität zu
begleiten. Darüberhinaus geht es darum, Möglichkeiten zu schaffen, Sexualität ohne
Gewalt zu erfahren, indem sie selbst befähigt werden, Bedürfnisse wahrzunehmen,
diese zu thematisieren und gemeinsam mit den BewohnerInnen individuelle Antworten zu entwickeln. Zudem fehlen den meisten Professionellen mögliche Methoden
der Vermittlung von einschlägigem Wissen zum Thema der Sexualität v.a. bei Menschen mit geistiger Behinderung. Deshalb muß der Fragenkomplex zu Sexualität und
Sexualaufklärung in die Aus- und berufsbegleitende Weiterbildung von Professionellen eingebaut werden.
Das Thema der sexuellen Ausbeutung stellt nach wie vor ein Tabu dar, weshalb noch
immer eher weggeschaut wird und große Unsicherheit darüber besteht, wie sexuelle
Gewalt erkannt werden könnte sowie Überforderung begegnet werden kann. Deshalb
braucht es sowohl Weiterbildung als auch strukturelle Vorsorgen, die sicherstellen
können, daß die BetreuerInnen im Interesse des Opfers Maßnahmen setzen können.
Darauf aufbauend sind weitergehende Maßnahmen zum Schutz und zur Hilfe des
Opfers zu treffen und durch entsprechende Begleitung sicherzustellen, daß keine
Wiederholungen vorkommen. Fallbezogene Einzel- und Teamsupervisionen sollen
gewährleisten, daß die Professionellen die durch die Intervention entstandenen Belastungen aufarbeiten und aus den Erfahrungen lernen können.
132
Professionelle in ambulanten Diensten und im Bereich persönliche Assistenz
Damit auch Menschen mit geistiger Behinderung durch persönliche Assistenz ein
selbstbestimmtes Leben führen können, gilt es, die bestehenden ambulanten Dienste
für diese Zielgruppe zu öffnen. Im weiteren sind die Professionellen in ambulanten
Diensten und im Bereich von persönlicher Assistenz durch berufsbegleitende Weiterbildung für soziale Bedürfnisse, Sexualität und sexuelle Gewalt zu sensibilisieren.
Eltern von Menschen mit Behinderung
Immer wieder wurden wir in Einrichtungen mit der Klage konfrontiert, daß Eltern sich
gegen die Liberalisierung bezüglich Geschlechtermischung und gelebter Sexualität
stellen und zu verhindern versuchen. Es kann nicht die Aufgabe einzelner Einrichtungen sein, auch noch Elternarbeit in dieser Intensität, wie sie in solchen Fällen
notwendig wäre, selber leisten. Darum müssen sich Elternvereinigungen und andere
übergeordnete Verbände bemühen, indem sie Weiterbildung für Eltern von Menschen mit Behinderung anbieten. Dabei geht es inhaltlich v.a. darum, die Ablösethematik zu bearbeiten, damit sie ihre Töchter und Söhne als geschlechtliche Wesen mit
Bedürfnissen nach selbstbestimmt gelebter Sexualität akzeptieren können.
Über Information und Aufklärung ist den Eltern auch Wissen und Kompetenz zu vermitteln, Formen und Folgen sexueller Ausbeutung zu erkennen und entsprechend zu
agieren. Dazu gehören Information über mögliche professionelle Hilfe und die Bereitschaft, diese im Bedarfsfall auch in Anspruch zu nehmen. Auch den Eltern soll im
Bedarfsfall Supervision ermöglicht werden. Damit die Eltern in die Lage versetzt sind,
das zu tun, bedarf es einer entsprechenden Professionalisierung ihrer Angebote und
eines Paradigmenwechsels bezüglich des Menschenbilds von Behinderung, in dem
Sinn, daß Sexualität integraler Bestandteil des Menschseins ist.
Beratungspersonen und Beratungsstellen
Ebenfalls unverändert geblieben ist das große Manko an PsychotherapeutInnen und
PsychiaterInnen, die bereit sind, mit Menschen mit Behinderung zu arbeiten. Einen
Grund dafür sehen wir darin, daß bei der Ausbildung in diesen Berufszweigen Menschen mit Behinderung kaum als potentielle Klientel angesehen werden einerseits
und das Thema der sexuellen Ausbeutung nach wie vor zu sehr tabuisiert ist andererseits. Psychologische Verbände müssen Weiterbildungen anbieten für die Arbeit
mit Menschen mit Behinderung und zum Thema der sexuellen Ausbeutung.
Es scheint uns nicht sinnvoll, spezielle Beratungs- und Anlaufstellen für Menschen
mit Behinderung zum Thema der sexuellen Ausbeutung zu schaffen und sie damit
erneut auszugrenzen. Statt dessen sind MitarbeiterInnen bei den Notruf- und anderen Anlaufstellen dahingehend auszubilden, daß sie Menschen mit verschiedensten
Behinderungen genauso professionell beraten können wie Menschen ohne Behinderung.
Ebenso erachten wir es nicht als sinnvoll, für Betroffene mit sexuellen Gewalterfahrungen eigene Wohngemeinschaften einzurichten, weil sie damit auf ihre sexuelle
Gewalterfahrung reduziert und erneut ausgegrenzt würden. Es ist uns bewußt, daß
133
diese Personen derzeit keinen möglichen Zufluchtsort haben.
Es ist wichtig, daß genügend TrainerInnen Selbstverteidigungskurse für Menschen
mit den verschiedensten Behinderungen anbieten können. Dafür müssen sie sich
von Männern mit Behinderung ausbilden lassen, damit sie die verschiedenen Möglichkeiten der jeweiligen Behinderung kennenlernen können.
Polizei/RichterInnen
Aus der Sicht der Opfer von sexueller Gewalt übernehmen wir hier die entsprechenden Formulierungen aus der Frauenstudie. In Anlehnung an das schweizerische
Opfer-Hilfegesetz schlagen wir für die österreichische Praxis vor, daß PolizeiassistentInnen für die Einvernahme der Überlebenden speziell ausgebildet werden. Sie
sollen zum Einsatz mit den anatomischen Puppen als Hilfsmittel und zum Umgang
mit Betroffenen mit Behinderung befähigt werden. Bei letzterem geht es vor allem
darum, sich der Vorurteile gegenüber diesen Menschen bewußt zu werden, um ihnen
unvoreingenommen begegnen zu können. Außerdem sollten sie sich Fähigkeiten
aneignen, mit Menschen in Kommunikation treten zu können, die nicht über verbale
Möglichkeiten verfügen. Auch für Richterinnen und Richter gilt es, sich auseinanderzusetzen mit dem eigenen Menschenbild und den damit zusammenhängenden Vorurteilen, beispielsweise jenem bezüglich der fehlenden Glaubwürdigkeit von Menschen mit geistiger Behinderung. Es geht darum, daß sich diese Berufsgruppe für eine möglichst gute Verständigung weitere Kommunikationsformen aneignet als nur
die üblichen.
In Hinblick auf Männer mit Behinderung als Täter halten wir einen Paradigmenwechsel im Umgang mit Menschen mit geistiger Behinderung für notwendig. Damit
soll sichergestellt werden, daß es nicht wie bisher zu vorschnellen Pathologisierungen kommt bzw. zu einer Ungleichbehandlung beim Zugang zum Recht und im
Bereich des Strafvollzuges.
Sachwalterschaft und Bewährungshelferinnen
In der berufsbegleitenden Weiterbildung von SachwalterInnen und BewährungshelferInnen sind Angebote zur Sensibilisierung für soziale Bedürfnisse, Sexualität und
sexuelle Gewalt vorzusehen. Darauf aufbauend sind gezielt Konzepte bezüglich des
Umgangs mit Sexualdelinquenten mit Behinderung zu entwickeln.
134
5.
Strukturen in den Einrichtungen
Räumlichkeiten
Obwohl es im Vergleich zur ersten Studie sichtliche Verbesserungen im Bereich der
Wohnstandards gegeben hat, ist immer noch festzustellen, daß längst noch nicht alle
Menschen mit Behinderung in Einrichtungen über Einzelzimmer, die auch von ihnen
abschließbar sind, verfügen. Darüberhinaus erscheint es weiterhin unabdingbar, die
Räumlichkeiten so zu verändern, daß die größtmögliche Intimsphäre gewährleistet
ist. Dazu gehören auch genügend Toiletten- und Sanitäranlagen, zumal es wichtig
erscheint, daß diese auch individuell gestaltet und nach persönlichen Bedürfnissen
ausgestattet werden können. In jedem Fall aber ist zu unterbinden, daß diese Räumlichkeiten gleichzeitig von mehreren Personen benutzt werden können.
Die Wohnräumlichkeiten sind so zu konzipieren, daß BewohnerInnen auch paarweise zusammenleben können, wenn sie das wünschen. Einrichtungsbezogene
Wohnkapazitäten sind durch den Auf- und Ausbau von externen Wohnmöglichkeiten
zu ergänzen. Im Ausgleich dafür sind einrichtungsinterne Wohnplätze abzubauen,
um so auch räumlich die Voraussetzung für die Bildung von kleineren Gruppen und
überschaubaren Einheiten zu schaffen. Zur Verbesserung der Wohnqualität sind über die raumbezogenen Standards hinausgehende Verbesserungen in den Bereichen Raumnutzung und Innengestaltung zu empfehlen. Gezielte Wohnberatung in
Hinblick auf Individualisierung und Bedürfnisorientierung ist einzusetzen.
Personal
Auch im Personalbereich sind gegenüber der Situation vor zwei Jahren deutliche
Verbesserungen festzustellen. Wir erachten es als notwendig, daß die Träger über
ausreichend finanzielle Ressourcen verfügen, um genügend ausgebildetes Personal
(Betreuung, pädagogischer und psychologischer Bereich) einstellen zu können. Darüber hinaus scheint es uns wichtig, daß die Einrichtungen im Falle von BetreuerInnen
ohne einschlägige berufliche Qualifikation für eine entsprechende fachliche Ausbildung sorgen.
Zur Wahrung der Intimsphäre sowie zur Förderung und Festigung von sexueller Identität gehört, daß Menschen, die auf irgendwelche Hilfe angewiesen sind, wählen können, von wem sie welche Art von Hilfe bekommen. Dies erfordert einen Betreuungsschlüssel, der in allen Dienstplänen immer eine Betreuungsvertretung durch beide
Geschlechter garantiert.
6.
Gesetzesbestimmungen und Gerichtspraxis
6.1.
Gesetzlicher Schutz von Betroffenen und Überlebenden
Die verfahrensrechtlichen Bestimmungen sehen keinen besonderen Schutz für Betroffene von sexueller Gewalt und insbesondere für Menschen mit Behinderung vor.
Dieser Mangel führt de facto dazu, daß die Betroffenen von sexueller Gewalt in Vernehmung und Gerichtsverfahren nicht nur ihren Beitrag zur Wahrheitsfindung zu leisten haben, sondern darüber hinaus mehr oder weniger auch die Beweislast zu tragen
haben. Das betrifft in besonderem Ausmaß Menschen mit Behinderung und steht in
Widerspruch zur rechtsstaatlichen Norm, wonach diese Aufgabe von der Staatsan135
waltschaft zu leisten ist. Die Betroffenen von sexueller Gewalt sind stattdessen durch
besondere Vorsorgen davor zu schützen, daß sie im Zuge von Vernehmung und Verfahren noch einmal gedemütigt und entwürdigt werden.
Wir erachten es als notwendig, daß die österreichischen GesetzgeberInnen ein Opfer-Hilfe-Gesetz schaffen. Dies würde allen Menschen, die Opfer von Gewalt sind,
helfen. Für Menschen mit Behinderung wären wichtige Folgen eines solchen Gesetzes, daß sie zur polizeilichen Einvernahme und wenn sie als ZeugInnen aufzutreten
haben, eine ihnen vertraute Begleitperson mitnehmen könnten. Im weiteren müßte in
diesem Gesetz festgelegt sein, daß sie von einer eigens dafür ausgebildeten PolizeiassistentIn einvernommen werden. Dabei sollen Videoaufnahmen gemacht werden,
die verhindern, daß die Überlebende ihre Aussagen des öfteren wiederholen muß.
Wenn die Überlebenden das wünschen, sollen sie nicht direkt mit dem Täter konfrontiert werden, weder bei der Einvernahme, noch vor Gericht. Die gemachten Videoaufnahmen müßten beim Prozeß genügen, wie dies schon bei Kindern unter 14 Jahren üblich ist.
Die gesetzlichen Bestimmungen und Tatbestandsbeschreibungen zum Themenbereich der sexuellen Gewalt nehmen nur ungenügend auf Personen Bezug, die aufgrund von Krankheit oder Behinderung in teilstationären, ergänzenden oder stationären Einrichtungen für Menschen mit Behinderung leben. Die Problematik dieser Tatsache wird zusätzlich dadurch verschärft, daß die entsprechenden Formulierungen
zur Bestimmung von Krankheit, Behinderung und Abhängigkeit letztlich ungenau und
in der Wortwahl diskriminierend sind. Es erscheint deshalb unabdingbar, daß die gesetzlichen Bestimmungen (insbesondere § 205) bezüglich ihres Geltungsbereiches
auf geschützte Werkstätten und andere teilstationäre Einrichtungen erweitert werden.
Weiters sind in den geltenden gesetzlichen Bestimmungen diskriminierende Begriffe
wie Schwachsinn, Geisteskrankheit etc. zum einen in Hinblick auf die institutionellen
Bedingungen von Abhängigkeit zu konkretisieren und zum anderen durch nichtdiskriminierende Begriffe zu ersetzen.
6.2.
Behandlung von Tätern mit Behinderung
Die geltenden gesetzlichen Bestimmungen zu sexueller Gewalt regeln Fragen der
Behandlung von Tätern (mit und ohne Behinderung) nur sehr unzulänglich. So gibt
es für Sexualdelinquenten letztlich keine Rechtssicherheit aber auch keine Normierung in Hinblick auf verpflichtende therapeutische Behandlung. Damit fehlt eine
grundsätzliche Vorsorge im Sinne von Spezialprävention und einer gezielten Verhinderung von Rückfällen. In den gesetzlichen Bestimmungen sind deshalb dringend
Ergänzungen dahingehend vorzunehmen, die Verbindlichkeit und Rechtsanspruch
auf therapeutische Behandlung herstellen. Das betrifft einerseits den Zeitraum während der polizeilichen und gerichtlichen Erhebung sowie andererseits den Bereich
des geschlossenen beziehungsweise offenen Strafvollzuges. Im weiteren erscheint
es notwendig, auch Fragen des Täter-Opfer-Ausgleiches sowie geeigneter gerichtlicher Auflagen zu konkretisieren - auch im Vorfeld bzw. unabhängig von einer gerichtlichen Verurteilung.
Die angeführten Mängel in den gesetzlichen Bestimmungen gelten in besonderem
Maß für Täter mit Behinderung, vor allem mit geistiger und psychischer Behinderung.
Hier konzentrieren sich die geltenden Bestimmungen nahezu ausschließlich auf Fragen der Begutachtung und der Schuldfähigkeit. Fragen der weitergehenden thera136
peutischen Behandlung von Tätern mit Lern- sowie geistiger Behinderung, sofern
wegen fehlender Schuldfähigkeit eine Verurteilung und Überstellung in den Maßnahmenvollzug ausgeschlossen ist, bleiben damit weitgehend offen. In letzter Konsequenz ist damit auch ein Rechtsschutz für Täter mit Behinderung vor Willkür und
bestrafenden Einschränkungen, wie z.B. kontrollierte Verfügung über finanzielle Mittel, Ausgangssperre, Alkoholverbot usw., ebensowenig gegeben, wie damit vielfach
für diese Personen auch der Zugang zu bedingter Entlassung, Aussetzung auf Bewährung mit oder ohne Auflagen sowie weitergehenden Erleichterung des Strafvollzuges dem Graubereich von Ermessensspielräumen überlassen bleibt.
Täter mit geistiger oder psychischer Behinderung, bei denen wegen gutachterlich
festgestellter eingeschränkter oder fehlender Schuldfähigkeit ein Gerichtsverfahren
unterbleibt bzw. ohne Urteil abgebrochen wird, verbleiben weitgehend unter Verzicht
auf entsprechende therapeutische Maßnahmen in Einrichtungen der Behindertenhilfe
oder werden in psychiatrische Behandlung eingewiesen. In beiden Fällen sind Vorsorgen für eine parteiliche Vertretung, bezüglich einer Wahl von Betreuung und/oder
therapeutischer Behandlung sowie im Anhalteverfahren, nicht ausreichend gegeben.
Insbesondere für Täter mit geistiger Behinderung sind deshalb in den gesetzlichen
Bestimmungen Ergänzungen und Konkretisierungen vorzunehmen, die Gleichbehandlung und Gleichheit vor dem Recht sicherstellen können. Insbesondere sind für
diese Personen die entsprechenden Bestimmungen zu Sachwalterschaft und PatientInnenanwaltschaft zu konkretisieren sowie deren Kompetenzbereiche adäquat auszuformulieren.
7.
Forschungsbedarf
• Seinerzeit formulierten wir als integrierten Teil dieser Studie eine modellhafte Umsetzung der Verbesserung der Situation durchzuführen und eine Evaluation der
Ergebnisse vorzusehen. Diesen Vorschlag halten wir in Hinblick auf die vorliegenden Ergebnisse als wichtiger denn je.
137
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140
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mit Behinderung. In: Amann/Wipplinger (Hg.) 1997, 738-755
Liste der ExpertInnen
- Claudia Burgsmüller (Rechtsanwältin, Wiesbaden)
- Lucio Decurtins (Sozialpädagoge, Mannebüro, Zürich)
- Dr. Theresia Degener (Juristin, Universität Frankfurt)
- DDr. Nikolaus Dimmel (Jurist, Universität Salzburg)
- Marlene Eggenberger (Sozialarbeiterin, Stadt Zürcher Kontaktstelle
Opferhilfe, Zürich)
- Dr. Günther Fisslthaler (Patientenanwaltschaft Landesnervenklinik,
Salzburg)
- Jürg Frauenfelder (Sozialdienste Justizdirektion, Zürich)
- Dr. Med. Urs Glenck (Ottenbach)
- Dr. Wolfang Gratz (Leiter einer Fortbildungsstelle für Vollzugspersonal,
Wien)
- Vrenie Heer (Rechtsanwältin, Zürich)
- Dr. Christiane Hofinger (Wohlfahrtsabteilung des Amtes der Salzburger
Landesregierung, Salzburg)
- Dr. Philipp Maier (Universität Zürich)
- Dr. Arno Pilgram (Kriminalsoziologisches Institut, Wien)
- Dr. Adolf D. Ratzka (Institute on Independent Living, Stockholm)
- Dr. Wolfgang Stangl (Kriminalsoziologisches Institut, Wien)
141
Anhang
142
Tabellenanhang
D.
Die Stichprobe
Tab. 1: Verteilung der Befragten nach Bundesländern
Bundesländer
Anzahl der befragten
Männer
Absolut
36
32
22
15
12
117
Wien
Oberösterreich
Salzburg
Steiermark
Tirol
Gesamt
Prozent
30,8
27,3
1,8
12,8
10,3
100,0
Anzahl behinderter Männer in Bundesländern in
Einrichtungen Absolut
231
587
79
198
167
1.262
Prozent
18,3
46,5
6,2
15,7
13,2
100,0
Tab. 2: Verteilung der Befragten nach Einrichtung
Einrichtung
Wien 1
Wien 2
Oberösterreich 1
Oberösterreich 2
Salzburg
Steiermark
Tirol 1
Tirol 2
Gesamt
Absolut
25
11
17
15
22
15
7
5
117
Prozent
21,4
9,4
14,5
12,8
18,8
12,8
6,0
4,3
100,0
Tab. 3: Verteilung der Befragten nach Altersgruppe
Altersgruppe
18 - 24
25 - 34
35 - 44
45 - 78
Gesamt
Absolut
9
58
29
21
117
Prozent
7,7
49,6
24,8
24,8
100,0
Tab. 4: Verteilung der Befragten nach Dauer des Aufenthalts in der
Institution
Dauer des Aufenthalts
weniger als ein Jahr
1 bis 5 Jahre
6 bis 15 Jahre
16 bis 24 Jahre
25 +
Gesamt
Absolut
15
34
33
28
5
115
Prozent
13,0
29,5
28,7
24,3
4,3
100,0
143
Tab. 5: Dauer des Aufenhalts in Institutionen nach Wohnform
Wohnform
bis 5 Jahre
Abs. in %
Wohngruppe im Heim
8
13,3
betreute WG
27
67,5
ambulant betr. Wohnplatz 14
93,3
Gesamt
49
42,6
n=105
Jahre in einer Institution
6-10 Jahre
11-20 Jahre
Abs. in % Abs. in %
12
20,0 23
38,3
10
25,0
3
7,5
0
0,0
0
0,0
22
19,1 26
22,6
21 - Jahre
Abs. in %
17
28,3
0
0,0
1
6,7
18
15,6
Tab. 6: Art der Behinderung (Mehrfachnennungen)
Behinderungsart
geistige Behinderung
Lernbehinderung
Körperbehinderung
Sinnesbehinderung
chronisch krank
Gesamt
Absolut
85
17
30
12
9
153
Prozent
55,5
11,1
19,6
7,8
5,8
100,0
Tab. 7: Lebensform
Lebensform
ledig
verheiratet
in Lebensgemeinschaft mit Frau
in Lebensgemeinschaft mit Mann
Anderes
Gesamt
Absolut
104
5
5
1
2
117
Prozent
88,9
4,3
4,3
0,9
1,7
100,0
Tab. 8: Schulische Ausbildung
Schulform
Sonderschule
Volksschule
Hauptschule/Polytechnischer Lehrgang
Allgemein Höhere Schule (AHS)/Berufsbildende
Höhere Schule (BHS)
Andere Schule
Gesamt
Absolut
84
9
13
1
Prozent
77,8
8,3
12,0
0,9
1
108
0,9
100,0
Tab. 9: Berufliche Ausbildung
Art der Berufsausbildung
Anlehre
Lehre
Gesamt
Absolut
5
11
16
in Prozent der Befragten
4,3
9,5
144
Tab. 10: Art der beruflichen Tätigkeit
Art der Tätigkeit
Beschäftigungstherapie
geschützte Werkstätte
externer Arbeitsplatz
keine berufliche Tätigkeit
Gesamt
E.
Absolut
53
34
7
22
116
Prozent
45,6
29,3
6,0
19,0
100,0
Institutionelle Vorsorgen
Tabelle 1: Zufriedenheit mit der Wohnform nach Einrichtungen
Einrichtung
Tirol 1
Tirol 2
Salzburg
Oberösterreich 1
Oberösterreich 2
Steiermark
Wien 1
Wien 2
Gesamt
sehr gut
Abs
in %
3
42,9
3
100,0
6
31,6
6
40,0
4
26,7
1
6,7
10
40,0
2
22,2
35
32,4
gut
Abs.
4
-9
8
10
7
12
4
54
mäßig
in %
Abs.
in %
57,1 0
0,0
0,0 0
0,0
47,4 4
21,1
53,3 1
6,7
66,7 1
6,7
46,7 5
33,3
48,0 1
4,0
44,4 2
22,2
50,0 14
13,0
schlecht
Abs.
in %
0
0,0
0
0,0
0
0,0
0
0,0
0
0,0
2
13,3
2
8,0
1
11,1
5
4,6
Gesamt
7
3
19
15
15
15
25
9
108
Tab. 2: Änderungswünsche nach Einrichtung
Änderungswünsche
Tirol 1
Tirol 2
Salzburg
Oberösterreich 1
Oberösterreich 2
Steiermark
Wien 1
Wien 2
Gesamt
ja
Absolut
in %
1
14,3
3
100,0
7
38,9
4
28,6
6
46,2
8
53.3
7
29,2
3
38,2
39
38,2
nein
Absolut
in %
6
85,7
0
0,0
11
61,1
10
71,4
7
53,8
7
46,7
17
70,8
5
62,5
63
61,8
Gesamt
7
3
18
14
13
15
24
8
102
145
Tab. 3: Institutionelle Vorsorgen zum Umgang mit Sexualität nach
Einrichtungen (Mehrfachnennungen)
Vorsorgen für Sexualität
Einrichtungen
Kondome
auf Wunsch
Abs.
Aufklärungsmaterial
Abs. in %
in %
Arbeitskreis
Fortbildung
Rückzugsmöglichkeit
Abs.
Abs.
in %
in %
Sexualität
von Paaren
möglich
Abs. in %
Gespräch /
Hilfe durch
BetreuerIn
Abs. in %
Beratungs-,
Therapieangebot
Abs. in %
Tirol 1
0
0,0 2
25,0 2
25,0 2
25,0 0
0,0 1
12,5 1
12,5
Tirol 2
0
0,0 0
0,0 1
50,0 1
50,0 0
0,0 0
0,0 0
0,0
Salzburg
0
0,0 3
13,6 0
0,0 17
77,3 0
0,0 0
0,0 2
9,1
OÖ 1
3
8,6 11
31,4 0
0,0 9
25,7 3
8,6 9
25,7 0
0,0
OÖ 2 *)
----------------------------Steiermark 0
0,0 0
0,0 0
0,0 4
23,5 0
0,0 12
70,6 1
5,9
Wien 1
6
12,0 6
12,0 0
0,0 12
24,0 10
20,0 10
20,0 6
12,0
Wien 2
0
0,0 1
9,1 1
9,1 7
63,6 0
0,0 2
18,9 0
0,0
Gesamt
7
4,8 24
16,5 3
2,1 52
35,9 7
4,8 34
23,4 10
6,9
*) In der Einrichtung Oberösterreich 2 wurden keine BetreuerInnenfragebogen ausgefüllt. Zu den entsprechenden Fragen liegen somit keine auswertbaren Angaben vor.
Tab. 4: Institutionelle Vorsorgen nach Wohnform (Mehrfachnennungen)
Vorsorgen für den Umgang mit Sexualität
Kondome
Aufklärungs- Arbeitskreis
auf Wunsch material
Fortbildung
Rückzugsmöglichkeit
Abs. %
4
0,7
Abs.
11
%
16,2
Abs.
1
%
1,5
Abs.
16
%
23,5
4
6,1
10
15,4
2
3,1
33
50,8
6
9,2
8
12,3
4
6,1
65
1
8,3
3
25,0
3
25,0
3
25,0
0
0.0
2
16,7
1
8,3
12
9
6,2
24
16,5
6
4,1
52
35,9
13
9,0 34
23,4
10
6,9
145
Wohnform
Wohngruppe im
Heim
betreute
WG
ambulant
betreuter
Wohnplatz
Gesamtzahl der.
Nennungen
Sexualität
von Paaren mögl.
Abs. %
7
10,3
Gespräch
mit BetreuerIn
Abs. %
24
35,3
Beratung
durch Arzt /
Therapie
Abs.
%
5
7,3
Ges.
68
Tab. 5: Aufklärungsstand nach Einrichtung
Einrichtung
Tirol 1
Tirol 2
Salzburg
Oberösterreich 1
Oberösterreich 2
Steiermark
Wien 1
Wien 2
Gesamt
Abs.
4
4
5
10
12
2
8
6
51
ja
in %
57,1
80,0
22,7
58,8
80,0
13,3
32,0
54,5
43,6
aufgeklärt
nein
Abs.
in %
2
28,6
1
20,0
16
72,7
6
35,3
3
20,0
13
86,7
17
68,0
3
27,3
61
52,1
Abs.
1
0
1
1
0
0
0
2
5
missing
in %
14,3
0,0
4,5
5,9
0,0
0,0
0,0
18,9
4,3
Gesamt
7
5
22
17
15
15
25
11
117
146
Tab. 6: Wunsch nach mehr Aufklärung nach Einrichtung
Einrichtung
Tirol 1
Tirol 2
Salzburg
Oberösterreich 1
Oberösterreich 2
Steiermark
Wien 1
Wien 2
Gesamt
Ich möchte mehr wissen
nein
missing
Gesamt
in %
Abs.
in %
Abs. in %
57,1
2
28,6
1
14,3
7
60,0
1
20,0
1
20,0
5
54,5
3
13,6
7
31,8
22
70,6
4
23,5
1
5,9
17
33,3
10
66,7
0
0,0
15
60,0
3
20,0
3
20,0
15
40,0
12
48,0
3
12,0
25
45,4
3
27,3
3
27,3
11
51,3
38
32,5
19
16,2 117
ja
Abs.
4
3
12
12
5
9
10
5
60
Tab. 7: Sexuelle Identität der Männer nach Einrichtungen
Einrichtungen nach
Bundesländern
Tirol 1
Tirol 2
Salzburg
Oberösterreich 1
Oberösterreich 2
Steiermark
Wien 1
Wien 2
Gesamt
als Mann
Absolut
7
5
13
10
14
9
17
4
79
als Frau
Absolut
0
0
0
1
0
0
0
0
1
als Bub
Absolut
0
0
6
3
0
6
3
4
22
anderes
Absolut
0
0
0
3
1
0
2
1
7
Gesamt
7
5
19
17
15
15
22
9
109
F. Männer mit Behinderung als Opfer
Tab. 1: Opferstatus im Bundesländervergleich
Bundesland
Tirol 1
Tirol 2
Salzburg
Oberösterreich 1
Oberösterreich 2
Steiermark
Wien 1
Wien 2
Gesamt
Ja
3
2
11
9
9
7
13
4
58
Anzahl der befragten Männer
7
5
22
17
15
15
25
11
117
Anteil in Prozent
42,9
40,0
50,0
52,9
60,0
46,7
52,0
36,4
49,5
147
Tab. 2: Sexuelle Belästigung nach Altersgruppen14
Formen der sexuellen
Belästigung
blöde Bemerkungen
mit Blicken ausziehen
„Sex-Witze“
an bestimmten Körperstellen berührt werden (Gesicht etc.)
Gesamt
unter 15 Jahren
Abs.
%
3
27,3
1
33,3
0
0,0
1
4,5
Abs.
5
2
4
12
%
45,4
66,7
66,7
54,5
Abs.
0
0
0
8
%
0,0
0,0
0,0
36,4
Abs.
3
0
2
1
%.
27,3
0,0
33,3
4,5
Abs.
11
3
6
22
%
100,0
100,0
100,0
100,0
5
23
54,8
8
19,0
6
14,3
42
100,0
11,9
15-25
26-34
35 +
Gesamt
Tab. 3: Sexuelle Gewalt nach Altersgruppen
Formen der sexuellen
Gewalt
nackt ausziehen
Geschlechtsteile gezeigt
gezwungen, Geschlechtsteile zu berühren
Zwang zu befriedigen
gezwungen, oral zu befriedigen
Geschlechtsteile berührt
sexuell bedroht fühlen
gezwungen, bei sexuellen Handlungen zuzuschauen
Pornofilme anschauen
Geschlechtsverkehr
gehabt oder versucht
Gesamt
unter 15 Jahren 15-25
26-34
35 +
Abs.
2
1
%
22,2
11,1
Abs.
4
7
%
44,4
70,0
Abs.
2
1
%
22,2
11,1
Abs.
1
1
1
9,1
7
63,6
2
18,2
1
0
0
0,0
0,0
4
2
57,1
50,0
2
2
28,6
50,0
2
11,1
7
38,9
7
1
0
10,0
0,0
4
3
40,0
50,0
0
0
0,0
0,0
1
3
7
8,5
42
Gesamt
%.
11,1
11,1
Abs.
9
10
%
100,0
100,0
9,1
11
100,0
1
0
14,3
0,0
7
4
100,0
100,0
38,9
2
11,1
18
100,0
4
3
40,0
50,0
1
0
10,0
0,0
10
6
100,0
100,0
50,0
60,0
0
1
0,0
20,0
1
1
50,0
20,0
2
5
100,0
100,0
51,2
24
29,3
9
11,0
82
100,0
Tab. 4: Täter und Täterinnen bei den Opfern (Mehrfachnennungen)
Kategorien von TäterInnen
Familienmitglied
HeimbewohnerIn, MitschülerIn
Pflege- und Betreuungspersonal
ArbeitskollegIn
andere Personen (bekannt)
andere Personen (unbekannt)
sonstige Person
Gesamtzahl der Nennungen
14
Männer
Absolut
4
52
17
Prozent
2,7
35,6
11,6
Frauen
Absolut
5
10
6
Prozent
12,2
24,4
14,6
Gesamt
Absolut
9
62
23
Prozent
4,8
33,2
12,3
17
22
29
5
146
11,6
15,1
19,7
3,4
100,0
2
4
14
0
41
4,9
9,8
34,1
0,0
100,0
19
26
43
5
187
10,2
13,9
23,0
2,7
100,0
Da im Rahmen der Fragebogenerhebung nicht überall das Alter registriert wurde,
in dem das Gewalterlebnis stattfand, konnten nicht alle Daten der Stichprobe unter
dieser Variablen erfaßt werden.
148
Tab. 5: Opferanteil nach TäterInnen und Wohnformen (Nennungen) in
absoluten Zahlen
Täter sind Männer
Familienmitglied
Heimbewohner/Mitschüler
Pflege- und Betreuungspersonal
Arbeitskollege
Männer-bekannt
Männer - unbekannt
Sonstige
Täterinnen sind
Frauen
Familienmitglied
Heimbewohnerin/
Mitschülerin
Pflege- und Betreuungspersonal
Arbeitskollegin
Frauen -bekannt
Frauen - unbekannt
Sonstige
Gesamt
Wohngruppe
im Heim
55
2
37
Wohngemeinschaft
66
2
11
betreute Wohnplätze
21
0
4
Gesamt
146
4
52
2
15
0
17
0
10
4
4
27
15
12
11
0
13
2
0
14
1
1
17
22
29
5
41
3
8
2
2
0
0
5
10
6
0
0
6
0
3
7
0
82
1
1
7
0
79
1
0
0
0
22
2
4
14
0
187
Tab. 6: Verteilung der Gewalt nach Umfeldern
aus Sicht der Opfer
Umfeld
Heim/Einrichtung
außerhalb der Einrichtung/Hotel
oder Wohnung
am Arbeitsplatz
überall
zu Hause / Ursprungsfamilie
Gesamt
Absolut
55
29
Prozent
47,8
25,2
19
8
4
115
16,5
6,6
3,4
100,0
149
Tab. 7: Ausformungen der sexuellen Gewalt nach Umfeld
Gewaltform
gezwungen, nackt
auszuziehen
Geschlechtsteile
gezeigt
gezwungen, seine/ihre Geschlechtsteile zu
berühren
gezwungen, ihn/sie
zu befriedigen
oraler Verkehr
Geschlechtsteile
berührt
sexuell bedroht
gezwungen, zuzuschauen
gezwungen, Pornofilme anzusehen
zu Geschlechtsverkehr gezwungen
oder versucht
Gesamtwert
Einrichtung
Abs.
%
5
50,0
außerhalb
Abs.
%
1
10,0
Arbeitsplatz
Abs.
%
2
20,0
zu Hause
Abs.
%
0
0,0
überall
Abs.
%
2
20,0
Gesamt
Abs.
%
10
100,0
7
53,8
3
23,1
2
15,4
0
0,0
1
7,7
13
100,0
5
35,7
4
28,5
2
14,3
1
7,1
2
14,3
14
100,0
5
50,0
3
30,0
2
20,0
0
0,0
0
0,0
10
100,0
1
13
33,3
56,5
1
5
33,3
21,7
0
4
0,0
17,4
1
0
33,3
0,0
0
1
0,0
4,3
3
23
100,0
100,0
11
5
50,0
50,0
5
0
25,0
0,0
4
2
20,0
20,0
0
2
0,0
20,0
1
1
5,0
10,0
21
10
100,0
100,0
0
0,0
3
100,0
0
0,0
0
0,0
0
0,0
3
100,0
3
37,5
4
50,0
1
12,5
0
0,0
0
0,0
8
100,0
55
29
19
4
8
115
Tab. 8: Art der Beschwerden (Mehrfachnennungen)
Beschwerden
Schmerzen allgemein
Kopfschmerzen/Migräne
Bauch-, Magen-, Unterleibsschmerzen
Phobien/Ängste
Schwindel/Epilepsie
Schlafstörungen
Sonstiges/Zwänge
Sexuelle Probleme
Autoaggressives Verhalten
Depressionen/Traurigkeit
Gesamtzahl der Nennungen
Absolut
7
1
3
Prozent
10,0
1,4
4,3
12
22
3
5
8
7
2
70
17,1
31,4
4,3
7,1
11,4
10,0
2,9
100,0
150
Diagramm 1: Art der Beschwerden in Prozent (Frauen)
(Mehrfachnennungen)
2,7
Depressivität/Traurigkeit
5,5
Kopfschmerzen
6,8
sexuelle Probleme
6,8
Schmerzen allgemein
17,8
%
Sonstiges
17,8
Schlafstörungen
Bauch-,
Magenschmerzen
19,2
20,5
Schwindel / Epilepsie
31,5
Phobien/Ängste
Autoaggressives
Verhalten
35,6
0
10
20
30
40
Quelle: Zemp/Pircher 1996, 87
Tab. 9: Art der Medikamente (Mehrfachnennungen)
Art der Medikamente
Epilepsiemittel
Neuroleptika
blutdruckregulierende Mittel
andere Schmerzmittel
Akinetikum
Antidepressiva
Beruhigungsmittel
Gesamtzahl der Nennungen
Absolut
46
28
20
14
14
8
6
136
Prozent
33,8
20,6
14,7
10,3
10,3
5,9
4,4
100,0
Tab. 10: Art der ergriffenen Maßnahmen bei den Opfern
Art der Maßnahmen
Täter wurde geschimpft
Täter bzw. Opfer wurde versetzt
Anzeige - Verfahren läuft
Anzeige und Verurteilung
konkrete Maßnahmen stehen noch aus
Sonstiges
Gesamt
Absolut
8
3
2
1
1
1
16
Prozent
50,0
18,8
12,5
6,2
6,2
6,2
100,0
151
Auszüge aus den Strafgesetzbüchern von Österreich,
Deutschland und der Schweiz
1. Österreich
Im Österreichischen Strafgesetzbuch werden die strafbaren Handlungen “gegen die Sittlichkeit“ unter den §§
201 bis 212 geregelt. Bei den Erläuterungen beschränken wir uns auf die im Zusammenhang mit dieser Studie
wichtigsten Punkte.
§ 201 Vergewaltigung
(1) Wer eine Person mit schwerer, gegen sie gerichteter Gewalt oder durch eine gegen sie gerichtete Drohung
mit gegenwärtiger schwerer Gefahr für Leib oder Leben zur Vornahme oder Duldung des Beischlafes oder einer
dem Beischlaf gleichzusetzenden geschlechtlichen Handlung nötigt, ist mit Freiheitsstrafe von einem bis zu zehn
Jahren zu bestrafen. Als schwere Gewalt ist auch eine Betäubung anzusehen.
(2) Wer außer dem Fall des Abs. 1 eine Person mit Gewalt, durch Entziehung der persönlichen Freiheit oder
durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben zur Vornahme oder Duldung des Beischlafes oder einer dem Beischlaf gleichzusetzenden geschlechtlichen Handlung nötigt, ist mit Freiheitsstrafe von sechs
Monaten bis zu fünf Jahren zu bestrafen.
(3) Hat die Tat eine schwere Körperverletzung (§ 84 Abs. 1) zur Folge oder wird die vergewaltigte Person
durch die Tat längere Zeit hindurch in einen qualvollen Zustand versetzt oder in besonderer Weise erniedrigt, so
ist der Täter im Falle des Abs. 1 mit Freiheitsstrafe von fünf bis zu fünfzehn Jahren, im Fall des Abs. 2 mit Freiheitsstrafe von einem bis zu zehn Jahren zu bestrafen. Hat die Tat den Tod der vergewaltigten Person zur Folge,
so ist der Täter im Fall des Abs. 1 mit Freiheitsstrafe von bis zu zwanzig Jahren, im Fall des Abs. 2 mit Freiheitsstrafe von fünf bis zu fünfzehn Jahren zu bestrafen.
“II. die Nötigung zur Vornahme oder Duldung des (auch ehelichen) Beischlafs sowie einer „dem Beischlaf
gleichzusetzenden geschlechtlichen Handlung“ unter Strafe stellt. Darunter fällt der Anal- und Mundverkehr. §
201 ist auch anwendbar, wenn nicht die (freiwillig erfolgte) Einleitung des Geschlechtsverkehrs, sondern dessen
Fortsetzung erzwungen wird. Das Gesetz unterscheidet nach der Intensität der Gewalt oder Drohung zwei Tatbestände: Unter Abs. 1 fällt, wer eine Person mit schwerer, gegen sie gerichteter Gewalt oder durch eine gegen
sie (Nrsp 1991/145) gerichtete Drohung mit gegenwärtiger schwerer Gefahr für Leib oder Leben zu einer derartigen Handlung oder Duldung nötigt. Bewußt - um nämlich die gerade insofern für die Tatopfer unangenehme
Beweisführung entbehrlich zu machen - wurde somit nicht mehr die Widerstandsfähigkeit als die Auswirkung
der angewendeten Gewalt zum Kriterium schwerer und weniger schwerer Fälle gewählt, sondern die Schwere
der Gewalt ist nach der Tathandlung zu bestimmen.
Zur Auslegung des der Strafrechtsordnung bisher fremden Begriffs der „schweren Gewalt“ ist darauf abzustellen, daß die Anwendung überlegener physischer Kraft einen höheren Grad der Intensität oder Gefährlichkeit erreicht. Brutale, rücksichtslose Aggressionshandlungen, darunter auch solche, mit denen Lebensgefahr verbunden
ist, bei denen gefährliche Waffen verwendet werden oder Gewalt gegen besonders gefährdete oder empfindliche
Körperregionen ausgeübt wird, werden als schwere Gewalt zu beurteilen sein; ebenso die zusammenwirkende
Gewaltausübung mehrerer Personen gegen den Widerstand eines Opfers. Ein weiteres Indiz für schwere Gewalt
wird deren länger dauernde Anwendung sein, auch ohne daß damit bereits ein „qualvoller Zustand des Opfers“
verbunden sein muß. Ausdrücklich nennt das Gesetz auch die Betäubung als schwere Gewalt, wobei darunter
nicht der allmählich den Willen des Opfers beugende Einsatz berauschender Mittel verstanden wird, sondern nur
die Betäubung durch einen für das Opfer überraschenden und unvorhersehbaren Angriff.
III. Für die minderschwere Vergewaltigung genügt bereits die Anwendung jeder (nicht besonders schweren)
Gewalt oder die Drohung mit gegenwärtiger (nicht schwerer) Gefahr für Leib oder Leben. Gewalt und Drohung
müssen nicht gegen das Tatopfer gerichtet sein. Es genügt, wenn sie sich auf eine nahestehende Person beziehen. Als weiteres Begehungsmittel nennt das Gesetz auch die Entziehung der persönlichen Freiheit.
V. Vollendet sind die Tatbestände des Abs. 1 und 2, wenn die Nötigung erfolgreich ist, d.h. das Tatopfer den
152
Beischlaf oder die diesem gleichzusetzende geschlechtliche Handlung vorzunehmen oder zu dulden beginnt“.
§ 202 Geschlechtliche Nötigung
(1) Wer außer den Fällen des § 201 eine Person mit Gewalt oder durch gefährliche Drohung zur Vornahme oder Duldung einer geschlechtlichen Handlung nötigt, ist mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren zu bestrafen.
(2) Hat die Tat eine schwere Körperverletzung (§ 84 Abs. 1) zur Folge oder wird die genötigte Person durch die
Tat längere Zeit hindurch in einen qualvollen Zustand versetzt oder in besonderer Weise erniedrigt, so ist der
Täter mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren, hat die Tat aber den Tod der genötigten Person
zur Folge, mit Freiheitsstrafe von einem bis zu zehn Jahren zu bestrafen.
“I. bezieht auch „geschlechtliche Handlungen“, die einem Beischlaf nicht gleichzusetzen sind, ein, und zwar
auch dann, wenn ihre Duldung oder Begehung durch schwere Gewalt oder Drohung mit gegenwärtiger schwerer
Gefahr für Leib oder Leben erzwungen wird“.
§ 205 Schändung
(1) Wer eine Person weiblichen Geschlechtes, die sich in einem Zustand befindet, der sie zum Widerstand unfähig macht, oder die wegen einer Geisteskrankheit, wegen Schwachsinns, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen einer anderen schweren, einem dieser Zustände gleichwertigen seelischen Störung unfähig ist, die Bedeutung des Vorgangs einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, zum außerehelichen
Beischlaf mißbraucht, ist mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu bestrafen.
(2) Wer eine Person, die sich in einem Zustand befindet, der sie zum Widerstand unfähig macht, oder die wegen
einer den Bewußtseinsstörung oder wegen einer anderen schweren, einem dieser Zustände gleichwertigen seelischen Störung unfähig ist, die Bedeutung des Vorgangs einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, außer
dem Fall des Abs. 1 zur Unzucht mißbraucht oder zu einer unzüchtigen Handlung mit einer anderen Person oder, um sich oder einen Dritten geschlechtlich zu erregen oder zu befriedigen, dazu verleitet, eine unzüchtige
Handlung an sich selbst vorzunehmen, ist mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren zu bestrafen.
(3) Hat die Tat eine schwere Körperverletzung (§ 84 Abs. 1) oder eine Schwangerschaft zur Folge, so ist der Täter in den Fällen des Abs. 1 mit Freiheitsstrafe von einem bis zu zehn Jahren, in den Fällen des Abs. 2 mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu bestrafen. Hat die Tat jedoch den Tod der mißbrauchten
Person zur Folge, so ist der Täter in den Fällen des Abs. 1 mit Freiheitsstrafe von fünf bis zu fünfzehn Jahren, in
den Fällen des Abs. 2 mit Freiheitsstrafe von einem bis zu zehn Jahren zu bestrafen.
“§ 205 faßt den Mißbrauch wehr- oder bewußtloser Personen zum außerehelichen Beischlaf oder zu anderen
Unzuchtakten in einem Tatbild unter der Bezeichnung Schändung zusammen. Als unmittelbarer Täter nach Abs.
1 kommt nur ein beischlaffähiger, mit dem Opfer nicht verheirateter Mann in Betracht. Bestimmungs- und Beitragstäter kann jedermann sein.
II. Schutzobjekt im ersten Deliktfall (Abs. 1) ist eine Person weiblichen Geschlechts, die widerstandsunfähig ist
oder die wegen eines der Zustände, die Zurechnungsfähigkeit begründen können, unfähig ist, die Bedeutung des
an ihr oder mit ihr verübten Vorganges einzusehen (Diskretionsunfähigkeit) oder nach dieser Einsicht zu handeln (Dispositionsunfähigkeit). Der Vorgang, um den es sich hier handelt, ist der außereheliche Beischlaf. Der
Zustand muß einige Zeit hindurch bestehen und darf nicht vom Täter oder im Einverständnis mit ihm in Hinblick auf den geschlechtlichen Mißbrauch vorsätzlich herbeigeführt worden sein. Es kommt andererseits nicht
darauf an, wodurch der Zustand entstanden ist. Geisteskranke und Schwachsinnige, unter besonderen Umständen Schlafende oder im Erwachen begriffene sowie stark alkoholisierte Frauen können Tatobjekt sein. Die Willenstätigkeit des Opfers muß nicht vollständig aufgehoben sein, es genügt deren durch physische oder psychische Einwirkung hervorgerufene Störung in dem Maße, daß die Diskretionsfähigkeit oder die Dispositionsfähigkeit in bezug auf den Vorgang nicht oder nicht mehr vorhanden ist. Auch darauf und nicht bloß auf den Zustand des Opfers muß sich der Vorsatz des Täters beziehen. Ist die Fähigkeit, das Triebleben durch verstandesmäßige Erwägungen zu beeinflussen und die Einsicht in die Bedeutung des Beischlafes sowie die Fähigkeit, über den eigenen Körper in geschlechtlicher Hinsicht dieser Einsicht gemäß zu verfügen, nicht aufgehoben, kann
die Frau also die Bedeutung und Folgen des Beischlafes richtig erkennen und dem an sie gestellten Verlangen
eines außerehelichen Beischlafes in freier Entscheidung begegnen, so liegt auch bei Personen schwachen Verstandes und bei Geisteskranken keine Unfähigkeit. Widerstandsfähigkeit liegt vor, wenn das Tatopfer seinen wi153
derstrebenden Willen nicht durchsetzen kann, weil ihm Widerstand aus seelischen oder körperlichen Gründen
unmöglich ist.
III. Schutzobjekt im zweiten Deliktfall ist eine Person männlichen oder weiblichen Geschlechtes, die sich in einem der in Abs. 1 bezeichneten Zustände befindet.
Tathandlungen sind:
1. Mißbrauch zu einer anderen unzüchtigen Handlung als Beischlaf durch den Täter selbst;
2. Verleitung zu einer solchen unzüchtigen Handlung mit einer dritten Person; . Verleitung zu einer unzüchtigen
Handlung an sich selbst; nur in diesem Fall ist vorausgesetzt, daß der Täter in der Absicht handelt, sich oder einen Dritten geschlechtlich zu erregen oder zu befriedigen. Körperlicher Kontakt zwischen Täter und Opfer ist
hier nicht vorausgesetzt; es genügt u.U. fernmündliche Aufforderung.
V. Schändungen sind durch den Eintritt einer schweren Körperverletzung, einer Schwangerschaft oder des Todes des Opfers qualifiziert, wobei Schändungen durch außerehelichen Beischlaf allemal mit strengerer Strafe
bedroht sind als Schändungen durch andere unzüchtige Handlungen. Leichte Körperverletzungen des Opfers
sind dem Täter gesondert anzulasten, da Schändung kein „Gewaltdelikt“ ist, bei dem leichte Verletzungen konsumiert werden“.
§ 206 Beischlaf mit Unmündigen
(1) Wer mit einer unmündigen Person den außerehelichen Beischlaf unternimmt, ist mit Freiheitsstrafe von einem bis zu zehn Jahren zu bestrafen.
(2) Hat die Tat eine schwere Körperverletzung (§ 84 Abs. 1) oder eine Schwangerschaft der unmündigen Person
zur Folge, so ist der Täter mit Freiheitsstrafe von fünf bis zu fünfzehn Jahren, hat sie aber den Tod der unmündigen Person zur Folge, mit Freiheitsstrafe von zehn bis zu zwanzig Jahren zu bestrafen.
I. Der Beischlaf mit Unmündigen wird ohne Rücksicht darauf unter Strafe gestellt, ob der Unmündige imstande
ist, die Bedeutung des Vorganges zu erkennen und dieser Einsicht gemäß zu handeln.“ Die geschlechtliche
Mündigkeit erfolgt mit dem vierzehnten Lebensjahr.
„II. Die Tathandlung besteht im Unternehmen des außerehelichen Beischlafes; Vollziehung des Beischlafes ist
nicht erforderlich. Unternommen ist ein Beischlaf auch dann, wenn es zu einer Vereinigung der Geschlechtsteile
(Eindringen des männlichen Geschlechtsteiles zumindest in die äußeren Geschlechtsteile der Frau) nicht kommt,
wohl aber dazu angesetzt worden ist.
III. Der Täter muß zumindest mit bedingtem Vorsatz handeln, der sich vor allem auf das Alter des Opfers beziehen muß. Ein Irrtum des Täters befreit ihn von Strafe für den weiter nicht beschwerten Beischlaf. Handelt der
über das Alter seines Opfers Irrende mit Gewalt oder gefährlicher Drohung, so ist er jedenfalls nach diesen Gesetzesstellen zu bestrafen. Bei der Prüfung, ob die Verantwortung des Täters, er habe sein Opfer für schon mündig gehalten, zutreffend ist, muß auf die äußeren Umstände Bedacht genommen werden.“
§ 207 Unzucht mit Unmündigen
1) Wer eine unmündige Person auf andere Weise als durch Beischlaf zur Unzucht mißbraucht oder zu einer unzüchtigen Handlung mit einer anderen Person oder, um sich oder einen Dritten geschlechtlich zu erregen oder
zu befriedigen, dazu verleitet, eine unzüchtige Handlung an sich selbst vorzunehmen, ist mit Freiheitsstrafe von
sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu bestrafen.
(2) Hat die Tat eine schwere Körperverletzung zur Folge, so ist der Täter mit Freiheitsstrafe von einem bis zu
zehn Jahren, hat sie aber den Tod der unmündigen Person zur Folge, mit Freiheitsstrafe von fünf bis zu fünfzehn
Jahren zu bestrafen.
(3) Übersteigt das Alter des Täters das Alter der unmündigen Person nicht um mehr als zwei Jahre und ist keine
der Folgen des Abs. 2 eingetreten, so ist der Täter nach Abs. 1 nicht zu bestrafen.
“I. Die Tathandlungen der Unzucht mit Unmündigen entsprechend des § 205 Abs. 2 (Schändung), der Unterschied zwischen beiden Bestimmungen besteht nur darin, daß das Objekt der Schändung eine widerstandsunfähige Person oder eine Person, der in Ansehung des Geschlechtsaktes die Diskretions- oder Dispositionsfähigkeit
154
mangelt, sein muß, während bei § 207 das Tatobjekt lediglich unmündig sein muß. Weibliche und männliche
Unmündige sind gleichermaßen geschützt.“
Der Begriff der Unmündigkeit ist im § 74 Z 1 definiert.
§ 208 Sittliche Gefährdung von Personen unter sechzehn Jahren
„Wer eine Handlung, die geeignet ist, die sittliche, seelische oder gesundheitliche Entwicklung von Personen
unter sechzehn Jahren zu gefährden, vor einer unmündigen Person oder einer seiner Erziehung, Ausbildung oder Aufsicht unterstehenden Person unter sechzehn Jahren vornimmt, um dadurch sich oder einen Dritten geschlechtlich zu erregen oder zu befriedigen, ist mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr zu bestrafen, es sei denn,
daß nach den Umständen des Falles eine Gefährdung der unmündigen oder Personen unter sechzehn Jahren
ausgeschlossen ist.“
“I. Neben Beischlaf und anderen Unzuchthandlungen mit Unmündigen gibt es auch noch andere dem Geschlechtstrieb entspringende Handlungen, die geeignet sind, sittlich noch labilen, weil erst in einem leiblichseelischen Reifungsprozeß befindlichen Personen sittlichen, seelischen oder auch gesundheitlichen Schaden zuzufügen.
II. Die entwicklungsgefährdende Handlung muß vor dem Schutzobjekt, d.h. in dessen Gegenwart, und zwar so
begangen werden, daß sie der Gefährdete wahrnehmen kann. Damit sind in erster Linie Exhibitionisten getroffen.
III. Als Tathandlungen kommen Selbstbefriedigung vor einem Kind, das „kommentierende Vorzeigen von harter
Pornographie“ vor einem schulpflichtigen Mädchen u.ä. in Betracht.
IV. Wie erwähnt ist zur Strafbarkeit erforderlich, daß der Täter mit der Absicht handelt, sich oder einen Dritten
geschlechtlich zu erregen oder zu befriedigen. Trotz Vorliegen einer solchen Absicht bleibt der Täter straffrei,
wenn eine Gefährdung der betroffenen unmündigen oder noch nicht sechzehnjährigen Person objektiv ausgeschlossen, also im konkreten Fall unmöglich ist, etwa weil die Handlung vor Kindern, die ihren Sinn nicht erfassen können, oder vor blinden oder schlafenden Kindern oder vor einem bereits völlig verwahrlosten Unmündigen oder Jugendlichen vorgenommen wird“.
§ 209 Geschlechtliche Unzucht mit Personen unter achtzehn Jahren
Eine Person männlichen Geschlechts, die nach Vollendung des neunzehnten Lebensjahres mit einer anderen
Person, die das vierzehnte, aber noch nicht das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat, gleichgeschlechtliche Unzucht treibt, ist mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu bestrafen.
I. Die Bestimmung dient dem Schutz männlicher Personen in noch prägbaren Alter vor gleichgeschlechtlichen
Erlebnissen, die sie in ihrer Triebrichtung beeinflussen und auf Homosexualität festlegen können; auch erzwungene gleichgeschlechtliche Handlungen sind tatbildlich (SSt 52/23 = JBl 1981, 550 = LSK 1981/121). Zu den
Taten unter Zwang und Nötigung siehe Anm III.
II. Die Unzucht mit Personen des gleichen Geschlechtes wird Homosexualität, unter Personen des weiblichen
Geschlechtes auch lesbische Liebe genannt. Da das Gesetz den Begriff der gleichgeschlechtlichen Unzucht nicht
näher umschreibt, schwankten Lehre und Rechtssprechung. Früher verlangte der OGH beischlafähnliche Handlungen (KH 842, 963, 1052, 1215). Nach der neueren Rechtssprechung genügte jede unmittelbare, nicht bloß
flüchtige (SSt 52/44 = EvBl 1982/65 = LSK 1981/166: intensive Berührung der Geschlechtssphäre (im biologischen Sinn) einer männlichen Person durch einen Mann oder das gleichartige Berührenlassen der eigenen Geschlechtssphäre (EvBl 1979/163, RZ 1979/51, LSK 1978/134m 1979/161), falls dies zur Erregung oder Befriedigung der Sexuallust wenigstens eines der Beteiligten erfolgt (EvBl 1971/83). Lesbische Liebe ist mangels sozialer Schädlichkeit als solche nicht mehr gerichtlich strafbar (EvBl 1982/3 = LSK 1981/167: was dem Gleichhheitsgrundsatz nicht widerspricht), doch erfassen alle Bestimmungen aus diesem Abschnitt, die weder auf Beischlaf noch ausschließlich auf männliche Homosexualität abgestellt sind, auch lesbische Handlungen. Unter Personen männlichen Geschlechtes ist die Strafmündigkeit für Homosexualität mit dem vollendeten 19. und das
Schutzalter gegen solche Betätigung mit dem vollendeten 18. Lebensjahr festgesetzt.
III. Gleichgeschlechtliche Betätigung mit Personen, die das vierzehnte, aber noch nicht das achtzehnte Lebensjahr vollendet haben, ist vollendet, wenn ein erwachsener Mann seinen Geschlechtsteil mit dem Körper des
(männlichen) Unzuchtpartners in der auf sexuelle Entspannung gerichteten Absicht in eine nicht bloß flüchtige
155
(RZ 1970, 200) Berührung bringt, wobei sein Verhalten nicht beischlafähnlich oder onanistisch sein (LSK
1978/134) und auch nicht zur angestrebten sexuellen Entspannung geführt haben muß. Bei einer bloß flüchten
Berührung, die infolge der Abwehr des ausersehenen Partners nicht fortgesetzt werden konnte oder eine Aufforderung zu einer in unmittelbarer Folge vorzunehmenden Unzuchthandlung begleiten und verdeutlichen sollte,
liegt Versuch vor (EvBl 1968/152, 169/109, 1978/213, RZ 1978/65, LSK 1979/113). Wer einen Geschlechtsgenossen zur Unzucht mit ihm verleiten will, haftet unter den Voraussetzungen des § 209 uU wegen Versuches
dieses Delikts (vgl SSt 22/73); freiwillig wäre ein Rücktritt vom Versuch allenfalls, wenn der Täter die Weigerung des Partners nicht für endgültig hält (EvBl 1986/184).
IV. Gleichgeschlechtliche Unzucht mit Unmündigen ist stets statt nach § 209 nach § 207 strafbar (EvBl
1976/269 = RZ 1976/74 = LSK 1976/148); s aber auch Anm II zu § 207. Täter nach § 209 kann nur jemand
sein, der das neunzehnte Lebensjahr bereits vollendet hat. Nach § 207 sind auch jugendliche Täter strafbar. Bei
Zwang und Nötigung zur gleichgeschlechtlichen Unzucht trifft nach neuerer Rechtssprechung § 209 mit § 201
oder § 202 eintätig zusammen (EvBl 1985/94 = RZ 1985/32). Hält ein erwachsener Mann sein unmündiges,
gleichfalls männliches Opfer für einen Jugendlichen, so ist er statt nach § 207 nach §§ 15, 209 strafbar (EvBl
1979/38 = JBl 1979, 100 mit Anm von Burgstaller = LSK 1978/269).
§ 211 Blutschande
(1) Wer mit einer Person, die mit ihm in gerader Linie verwandt ist, den Beischlaf vollzieht, ist mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr zu bestrafen.
(2) Wer eine Person, mit der er in absteigender Linie verwandt ist, zum Beischlaf verführt, ist mit Freiheitsstrafe
bis zu drei Jahren zu bestrafen.
(3) Wer mit seinem Bruder oder mit seiner Schwester den Beischlaf vollzieht, ist mit Freiheitsstrafe bis zu sechs
Monaten zu bestrafen.
(4) Wer zur Zeit der Tat das neunzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet hat, ist wegen Blutschande nicht zu bestrafen, wenn er zur Tat verführt worden ist.
“I. § 211 verpönt die Ausübung des Beischlafes zwischen nahen Verwandten. Ob die Verwandtschaft ehelich
oder unehelich ist, spielt keine Rolle. Daß Blutsverwandtschaft vorliegt, ist als Tatbildmerkmal vom Strafgericht
festzustellen. Sinn der Bestimmung ist es, physische und psychischer Gefährdungen der Nachkommenschaft und
Beeinträchtigungen des Familienlebens hintanzuhalten.
II. Täter der Blutschande können Verwandte in auf- und absteigender Linie sowie Bruder und Schwester sein“.
§ 212 Mißbrauch eines Autoritätsverhältnisses
(1) Wer sein minderjähriges Kind, Wahlkind, Stiefkind oder Mündel und wer unter Ausnützung seiner Stellung
gegenüber einer seiner Erziehung, Ausbildung oder Aufsicht unterstehenden minderjährigen Person diese zur
Unzucht mißbraucht oder, um sich oder einen Dritten geschlechtlich zu erregen oder zu befriedigen, dazu verleitet, eine unzüchtige Handlung an sich selbst vorzunehmen, ist mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren zu bestrafen.
(2) Ebenso ist zu bestrafen, wer
1. als Arzt einer Krankenanstalt oder Angestellter einer Erziehungsanstalt oder sonst als ein in
einer Erziehungsanstalt Beschäftigter eine in der Anstalt betreute Person oder
2. als Beamter eine Person, die seiner amtlichen Obhut anvertraut ist,
unter Ausnützung seiner Stellung dieser Person gegenüber entweder zur Unzucht mißbraucht oder,
um sich oder einen Dritten geschlechtlich zu erregen oder zu befriedigen, dazu verleitet, eine
unzüchtige Handlung an sich selbst vorzunehmen.
“I. Die Bestimmung dient dazu, einen sexuellen Mißbrauch abhängiger Personen zu verhindern und die „Korrektheit des Aufsichts- oder Autoritätsverhältnisses“.
II. Als Tatobjekte kommen in Betracht:
1. minderjährige Kinder, Wahlkinder, Stiefkinder und Mündel;
2. minderjährige, der Erziehung, Ausbildung oder Aufsicht des
156
Täters unterstehende Personen;
3. in einer Krankenanstalt oder in einer Erziehungsanstalt betreute Personen,
mögen sie minderjährig sein oder nicht;
4. der amtlichen Obhut eines Beamten anvertraute Personen, mögen sie
minderjährig sein oder nicht.
III. Als Täter kommen bei dem unter II 1 angeführten Personenkreis Vater, Mutter und Vormund in Betracht.
Bei den unter II 2 angeführten Personen können Lehrer, Erzieher, Funktionäre von Jugend- oder Sportorganisationen, Arbeitgeber und Lehrherren, der Lebensgefährte der Mutter oder Schwester, u.U. auch Ärzte gegenüber
jugendlichen Patienten, schließlich auch Personen, denen vorübergehend vom Erziehungsberechtigten die Aufsicht über einen Minderjährigen anvertraut worden ist, Täter sein. Ein vertragsähnliches Verhältnis und eine
Verpflichtungserklärung sind nicht erforderlich; es genügt ein faktisches Eltern-Kind-ähnliches Verhältnis oder
ein faktisches Aufsichtsverhältnis.
In Ansehung des unter II 3 näher umschriebenen Personenkreises kommen nur Ärzte einer Krankenanstalt, Angestellte einer Erziehungsanstalt oder in einer solchen Anstalt Beschäftigte als Täter in Betracht.
V. Bei den minderjährigen Kindern, Wahlkindern, Stiefkindern und Mündeln ist zur Strafbarkeit des Täters
nicht vorausgesetzt, daß dieser seine Stellung gegenüber den Schutzbefohlenen ausnützt. Das wird zwar in aller
Regel der Fall sein, ist aber nicht besonders festzustellen.
Die Ausnützung der Stellung gegenüber dem Opfer der Tat durch den Täter ist Tatbildmerkmal in allen drei anderen Fällen. Vorausgesetzt ist also, daß der Täter seine Autorität einsetzt, damit die geschützte Person die Unzuchthandlung an sich geschehen läßt oder selbst eine unzüchtige Handlung setzt.
§ 218 Öffentliche unzüchtige Handlungen
Wer öffentlich und unter Umständen, unter denen sein Verhalten geeignet ist, durch unmittelbare Wahrnehmung
berechtigtes Ärgernis zu erregen, eine unzüchtige Handlung vornimmt, ist mit Freiheitsstrafe bis zu sechs
Monaten oder mit Geldstrafe bis zu 360 Tagessätzen zu bestrafen.
I. Die Bestimmung richtet sich gegen die Erregung berechtigten Ärgernisses durch öffentliche unzüchtige Handlungen. Unzüchtig ist jede Handlung, durch die Sittlichkeit in geschlechtlicher Beziehung verletzt wird, mag sie
auch nicht einem erregten Geschlechtstrieb entsprungen oder zur Erregung dieses Triebes bestimmt sein (SSt
17/142). § 218 erfaßt auch unzüchtige mündliche Äußerungen (SSt 24/59) und die Verbreitung unzüchtiger
Schriften (SSt 37/58) und Filme (SSt 25/20), diesbezüglich wird die Bestimmung aber weitgehend durch die
speziellen Bestimmungen des sog Pornographiegesetzes verdrängt. Bloß unanständiges Betragen, zB Nacktbaden (SSt 17/142), fallen nicht unter § 218. Die Handlung muß “etwas das Geschlechtliche Betreffendes in einer
den Anstand verletzenden Art ausdrücken oder darstellen” (Nowakowski, 155). Die Darstellung des nackten
menschlichen Körpers fällt an sich nicht unter den Begriff “unzüchtig”; Stripteasevorführungen sind idR nicht
unzüchtig (JBl 1972, 624).
II. Die Tat muß öffentlich geschehen; zum Begriff der Öffentlichkeit s Anm zu §69. Zusätzlich ist verlangt, daß
die Tat unter Umständen geschieht, unter denen das Verhalten geeignet ist, durch unmittelbares Wahrgenommenwerden berechtigtes Ärgernis hervorzurufen. Es genügt die bloße Eignung sowohl für die Wahrnehmung
durch einen größeren Personenkreis (SSt 16/116, 38/20, EvBl 1968/153, 1977/262, RZ 1977/100, LSK
1977/270) wie für die Erregung berechtigten Ärgernisses (EvBl 1957/394). Daß die Handlung wirklich wahrgenommen oder Ärgernis erregt wure, ist nicht verlangt. Die Eignung muß eine konkrete sein (SSt 29/72, EvBl
1966/486); der die Öffentlichkeit ausmachende größere Personenkreis muß also konkret in der Lage gewesen
sein, durch unmittelbare Wahrnehmung Ärgernis zu nehmen. Nach früherem Recht wurde es von der Rechtsprechung (entgegen Nowakowski, 156) mitunter als ausreichend angesehen, daß das Ärgernis durch nachträgliches
Bekanntwerden eines bestimmten Verhaltens entstehen konnte. Das ist nunmehr durch § 69 ausgeschlossen. Der
größere Personenkreis (etwa ab 10 Personen) muß kein unbestimmter sein. Bei den sog. Exklusivklubs fehlt es
aber wegen der Gleichgesinntheit der Mitglieder an der Eignung, Ärgernis zu erregen. Sollten einmal in einem
solchen Klub Personen sein, die Ärgernis nehmen, so ist ein Täter, der das nicht vorgesehen hat, wegen Tatirrtums von Strafe frei. Ärgernis ist eine tiefgreifende Empfindung der Verletzung eines Wertes (hier des Sittlichkeits- und Schamgefühls), die sich gegen die verletzende Handlung und ihren Urheber richtet. Das Ärgernis muß
ein berechtigtes sein. Prüdererie einzelner führt nicht zur Strafbarkeit: andererseits befreit es auch nicht von der
Strafbarkeit, wenn zufällig (und nicht weil sich solche Personen zusammengetan haben) der größere Personenkreis ausschließlich aus Menschen besteht, die auch an Unzüchtigem nicht Anstoß nehmen. Die Eignung, Ärgernis zu erregen, ist am Gefühl des sittlich normal empfindenden Durchschnittsmenschen (RV, 366) zu prüfen.
157
III. S das sog PornographieG, BGBl 1950/97 (Anhang), und das internationale Abkommen vom 4.Mai 1910,
betreffend die Bekämpfung der Verbreitung unzüchtiger Veröffentlichungen, RGBl 1912/116, sowie das internationale Übereinkommen v 12.September 1923, BGBl 1925/128, zur Bekämpfung und Verbreitung und des
Vertriebes von unzüchtigen Veröffentlichungen.
2. Bundesrepublik Deutschland
Das deutsche Strafgesetzbuch (StGB) regelt in einem gesonderten Abschnitt Straf-taten im Sinne von Vergehen
und Verbrechen gegen die „Sexuelle Selbstbestimmung“15. Die in den §§ 174-184 StGB zusammengefaßten
Straftatbestände gegen die sexuelle Selbstbestimmung sollen vor sexuellen Übergriffen und sexueller Gewalt
schützen und die ungestörte sexuelle Entwicklung von Kindern und Jugendlichen strafrechtlich garantieren.
§ 174 Sexueller Mißbrauch von Schutzbefohlenen
(1) Wer sexuelle Handlungen
1. an einer Person unter sechzehn Jahren, die ihm zur Erziehung, zur Ausbildung oder zur
Betreuung in der Lebensführung anvertraut ist,
2. an einer Person unter achtzehn Jahren, die ihm zur Erziehung, zur Ausbildung oder zur
Betreuung in der Lebensführung anvertraut oder im Rahmen eines Dienst- oder Arbeitsverhältnisses untergeordnet ist, unter Mißbrauch einer mit dem Erziehungs-, Ausbildungs-,
Betreuungs-, Dienst- oder Arbeitsverhältnis verbundenen Abhängigkeit oder
3. an seinem noch nicht achtzehn Jahre alten leiblichen oder angenommenen Kind vornimmt oder
an sich von dem Schutzbefohlenen vornehmen läßt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren
oder mit Geldstrafe bestraft.
(2) Wer unter den Voraussetzungen des Absatzes 1 Nr. 1 bis 3
1. Sexuelle Handlungen vor dem Schutzbefohlenen vornimmt oder
2.den Schutzbefohlenen dazu bestimmt, daß er sexuelle Handlungen vor ihm vornimmt, um sich
oder den Schutzbefohlenen hierdurch sexuell zu erregen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei
Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
(3) Der Versuch ist strafbar.
(4) In den Fällen des Absatzes 1 Nr. 1 oder des Absatzes 2 in Verbindung mit Abs. 1 Nr. 1 kann das Gericht von
einer Bestrafung nach dieser Vorschrift absehen, wenn bei Berücksichtigung des Verhaltens des Schutzbefohlenen das Unrecht der Tat gering ist.
§ 174a Sexueller Mißbrauch von Gefangenen, behördlich Verwahrten oder Kranken in Anstalten
(1) Wer sexuelle Handlungen
1. an einem Gefangenen oder
2. an einem auf behördliche Anordnung Verwahrten, der ihm zur Erziehung, Ausbildung,
Beaufsichtigung oder Betreuung anvertraut ist, unter Mißbrauch seiner Stellung vornimmt oder
an sich von dem Gefangenen oder Verwahrten vornehmen läßt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu
fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
(2) Ebenso wird bestraft, wer den Insassen einer Anstalt für Kranke oder Hilfsbedürftige, der ihm zur Beaufsichtigung oder Betreuung anvertraut ist, dadurch mißbraucht, daß er unter Ausnutzung der Krankheit oder Hilfebedürftigkeit sexuelle Handlungen an ihm vornimmt oder an sich von dem Insassen vornehmen läßt.
(3) Der Versuch ist strafbar.“
15
StGB §§ 174-184
158
§ 175 Homosexuelle Handlungen
(1) Ein Mann über achtzehn Jahren, der sexuelle Handlungen an einem Mann unter achtzehn Jahren vornimmt
oder von einem Mann unter achtzehn Jahren an sich vornehmen läßt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren
oder mit Geldstrafe bestraft.
(2) Das Gericht kann von einer Bestrafung nach dieser Vorschrift absehen, wenn
1. der Täter zur Zeit der Tat noch nicht einundzwanzig Jahre alt war oder
2. bei Berücksichtigung des Verhalten desjenigen, gegen den sich die Tat richtet, das Unrecht der Tat gering ist.
§ 176 Sexueller Mißbrauch von Kindern.
(1) Wer sexuelle Handlungen an einer Person unter vierzehn Jahren (Kind) vornimmt oder an sich von dem
Kind vornehmen läßt, wird mit einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren, in minder schweren
Fällen mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
(2) Ebenso wird bestraft, wer ein Kind dazu bestimmt, daß es sexuelle Handlungen an einem Dritten vornimmt
oder von einem Dritten an sich vornehmen läßt.
(3) In besonders schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren. Ein besonders
schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn der Täter
1. mit dem Kind den Beischlaf vollzieht oder
2. das Kind bei der Tat körperlich schwer mißhandelt.
(4) Verursacht der Täter durch die Tat leichtfertig den Tod des Kindes, so ist die Strafe Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren.
(5) Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer
1. sexuelle Handlungen vor einem Kind vornimmt,
2. ein Kind dazu bestimmt, daß es sexuelle Handlungen vor ihm oder einem Dritten
vornimmt, oder
3. auf ein Kind durch Vorzeigen pornographischer Abbildungen oder Darstellungen, durch
Abspielen von Tonträgern pornographischen Inhalts oder durch entsprechende Reden einwirkt,
um sich, das Kind oder einen anderen hierdurch sexuell zu erregen.
§ 177 Vergewaltigung
(1) Wer eine andere Person mit Gewalt, durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben oder unter Ausnutzung einer Lage, in der das Opfer der Einwirkung des Täters schutzlos ausgeliefert ist nötigt, sexuelle
Handlungen
1. des Täters oder
2. einer dritten Person an sich zu dulden oder an
3. dem Täter oder
4. einer dritten Person
vorzunehmen, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft.
(2) In minder schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren.
(3) In besonders schweren Fällen ist Strafe Freiheitsstrafe nicht unter zwei Jahren. Ein besonders schwerer Fall
liegt in der Regel vor, wenn
1. der Täter mit dem Opfer den Beischlaf vollzieht oder ähnliche sexuelle Handlungen an dem Opfer
vornimmt, die dieses besonders erniedrigen, insbesonders, wenn sie mit einem Eindringen in den
Körper verbunden sind (Vergewaltigung),
2. die Tat von mehreren gemeinschaftlich begangen wird oder
3. der Täter das Opfer bei der Tat körperlich schwer misshandelt oder es durch die Tat in die Gefahr
des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung bringt.
4. Verursacht der Täter durch die Tat leichtfertig den Tod des Opfers, so ist die Strafe Freiheitsstrafe
nicht unter fünf Jahren.
159
§ 178 Sexuelle Nötigung
(1) Wer einen anderen mit Gewalt oder durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben nötigt,
außereheliche sexuelle Handlungen des Täters oder eines Dritten an sich zu dulden oder an dem Täter oder einem Dritten vorzunehmen, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren bestraft.
(2) In minder schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren.
(3) Verursacht der Täter durch die Tat leichtfertig den Tod des Opfers, so ist die Strafe Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren.
§ 179 Sexueller Mißbrauch widerstandsunfähiger Personen
(1) Wer eine andere Person, die
1. wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung, wegen
Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Störung oder
2. körperlich
zum Widerstand unfähig ist, dadurch mißbraucht, daß er unter Ausnutzung der Widerstandsunfähigkeit sexuelle
Handlungen an ihr vornimmt oder an sich von ihr vornehmen läßt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren
oder mit Geldstrafe bestraft.
(2) Der Versuch ist srtrafbar.
(3) In besonders schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren, in minder
schweren Fällen Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren.
§ 180 Förderung sexueller Handlungen Minderjähriger
(1) Wer sexuellen Handlungen einer Person unter sechzehn Jahren an oder von einem Dritten oder sexuellen
Handlungen eines Dritten an einer Person unter sechzehn Jahren
1. durch seine Vermittlung
2. durch Gewähren oder Verschaffen von Gelegenheit Vorschub leistet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. Satz 1 Nr. 2 ist nicht anzuwenden, wenn der zur Sorge für die Person Berechtigte handelt; dies gilt nicht, wenn der Sorgeberechtigte durch das Vorschubleisten seine Erziehungspflicht
gröblich verletzt.
(2) Wer eine Person unter achtzehn Jahren bestimmt, sexuelle Handlungen gegen Entgelt an oder vor einem
Dritten vorzunehmen oder von einem Dritten an sich vornehmen zu lassen, oder wer solchen Handlungen durch
seine Vermittlung Vorschub leistet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
(3) Wer eine Person unter achtzehn Jahren, die ihm zur Erziehung, zur Ausbildung oder zur Betreuung in der
Lebensführung anvertraut oder im Rahmen eines Dienst- oder Arbeitsverhältnisses untergeordnet ist, unter
Mißbrauch einer mit dem Erziehungs-, Ausbildungs-, Betreuungs-, Dienst- oder Arbeitsverhältnis verbundenen
Abhängigkeit bestimmt, sexuelle Handlungen an oder vor einem Dritten vorzunehmen oder von einem Dritten
an sich vornehmen zu lassen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
(4) In den Fällen der Absätze 2 und 3 ist der Versuch strafbar.
§ 182 Verführung
(1) Wer ein Mädchen unter sechzehn Jahren dazu verführt, mit ihm den Beischlaf zu vollziehen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft.
(2) Die Tat wird nur auf Antrag verfolgt. Die Verfolgung der Tat ist ausgeschlossen, wenn der Täter die Verführte geheiratet hat.
160
(3) Bei einem Täter, der zur Zeit der Tat noch nicht einundzwanzig Jahre alt war, kann das Gericht von einer
Bestrafung nach dieser Vorschrift absehen.
§ 183 Exhibitionistische Handlungen
(1) Ein Mann, der eine andere Person durch eine exhibitionistische Handlung belästigt, wird mit Freiheitsstrafe
bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft.
(2) Die Tat wird nur auf Antrag verfolgt, es sei denn, daß die Strafverfolgungsbehörde wegen des besonderen
öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung ein Einschreiten von Amts wegen für geboten hält.
(3) Das Gericht kann die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe auch dann zur Bewährung aussetzen, wenn zu erwarten ist, daß der Täter erst nach einer längeren Heilbehandlung keine exhibitionistischen Handlungen mehr
vornehmen wird.
(4) Absatz 3 gilt auch, wenn ein Mann oder eine Frau wegen einer exhibitionistischen Handlung
1. nach einer anderen Vorschrift, die im Höchstmaß Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder
Geldstrafe androht, oder
2. nach § 174 Abs. 2 Nr.1 oder § 176 Abs.5 Nr.1 bestraft wird.
§ 183a Erregung öffentlichen Ärgernisses
Wer öffentlich sexuelle Handlungen vornimmt und dadurch absichtlich oder wissentlich ein Ärgernis erregt,
wird mit Freihheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft, wenn die Tat nicht in § 183 mit Strafe
bedroht ist.
3. Schweiz
Im schweizerischen Strafgesetzbuch regeln die Artikel 187-194 die strafbaren Handlungen gegen die sexuelle
Integrität.
Art. 187 Strafbare Handlungen gegen die sexuelle Integrität
Gefährdung der Entwicklung von Unmündigen
Sexuelle Handlungen mit Kindern
1. Wer mit einem Kind unter 16 Jahren eine sexuelle Handlung vornimmt, wer zu einer solchen Handlung verleitet oder es in eine sexuelle Handlung einbezieht, wird mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren oder mit Gefängnis
bestraft.
2. Die Handlung ist nicht strafbar, wenn der Altersunterschied zwischen den Beteiligten nicht mehr als drei Jahre beträgt.
3. Hat der Täter zur Zeit der Tat das 20. Altersjahr noch nicht zurückgelegt und liegen besondere Umstände
vor, oder hat die verletzte Person mit ihm die Ehe geschlossen, so kann die zuständige Behörde von der Strafverfolgung, der Überweisung an das Gericht oder der Bestrafung absehen.
4. Handelte der Täter in der irrigen Vorstellung, das Kind sei mindestens 16 Jahre alt, hätte er jedoch bei
pflichtgemäßer Vorsicht den Irrtum vermeiden können, so ist die Strafe Gefängnis.
Art. 188 Sexuelle Handlungen mit Abhängigen
1. Wer mit einer unmündigen Person von mehr als 16 Jahren, die von ihm durch ein Erziehungs-, Betreuungsoder Arbeiterverhältnis oder auf andere Weise abhängig ist, eine sexuelle Handlung vornimmt, indem er diese
Abhängigkeit ausnützt,
wer eine solche Person unter Ausnützung ihrer Abhängigkeit zu einer sexuellen Handlung verleitet, wird mit
161
Gefängnis bestraft.
2. Hat die verletzte Person mit dem Täter die Ehe geschlossen, so kann die zuständige Behörde von der Strafverfolgung, der Überweisung an das Gericht oder der Bestrafung absehen.
Art. 189 Angriffe auf die sexuelle Freiheit und Ehre
Sexuelle Nötigung
1. Wer eine Person zur Duldung einer beischlafsähnlichen oder einer anderen sexuellen Handlung nötigt, namentlich indem er sie bedroht, Gewalt anwendet, sie unter psychischen Druck setzt oder zum Widerstand unfähig macht, wird mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren oder mit Gefängnis bestraft.
2. Ist der Täter der Ehegatte des Opfers und lebt er mit diesem in einer Lebensgemeinschaft, wird die Tat auf
Antrag verfolgt. Das Antragsrecht erlischt nach sechs Monaten. Artikel 28 Absatz 4 ist nicht anwendbar.
3. Handelt der Täter grausam, verwendet er namentlich eine gefährliche Waffe oder einen anderen gefährlichen
Gegenstand, so ist die Strafe Zuchthaus nicht unter drei Jahren. Die Tat wird in jedem Fall von Amtes wegen
verfolgt.
Art. 190. Vergewaltigung
1. Wer eine Person weiblichen Geschlechts zur Duldung des Beischlafs nötigt, namentlich indem er sie bedroht,
Gewalt anwendet, sie unter psychischen Druck setzt oder zum Widerstand unfähig macht, wird mit Zuchthaus
bis zu zehn Jahren bestraft.
2. Ist der Täter der Ehegatte des Opfers und lebt er mit diesem in einer Lebensgemeinschaft, wird die Tat auf
Antrag verfolgt. Das Antragsrecht erlischt nach sechs Monaten. Artikel 28 Absatz 4 ist nicht anwendbar.
3. Handelt der Täter grausam, verwendet er namentlich eine gefährliche Waffe oder einen anderen gefährlichen
Gegenstand, so ist die Strafe Zuchthaus nicht unter drei Jahren. Die Tat wird in jedem Fall von Amtes wegen
verfolgt.
Art. 191 Schändung
Wer eine urteilsunfähige oder eine zum Widerstand unfähige Person in Kenntnis ihres Zustandes zum Beischlaf,
zu einer beischlafsähnlichen oder einer anderen sexuellen Handlung mißbraucht, wird mit Zuchthaus bis zu
zehn Jahren oder mit Gefängnis bestraft.
Art. 192 Sexuelle Handlungen mit Anstaltspfleglingen, Gefangenen, Beschuldigten
1. Wer unter Ausnützung der Abhängigkeit einen Anstaltspflegling, Anstaltsinsassen, Gefangenen, Verhafteten
oder Beschuldigten veranlaßt, eine sexuelle Handlung vorzunehmen oder zu dulden, wird mit Gefängnis bestraft.
2. Hat die verletzte Person mit dem Täter die Ehe geschlossen, so kann die zuständige Behörde von der Strafverfolgung, der Überweisung an das Gericht oder der Bestrafung absehen.
Art. 193 Ausnützung der Notlage
1. Wer eine Person veranlaßt, eine sexuelle Handlung vorzunehmen oder zu dulden, indem er eine Notlage oder
eine durch ein Arbeitsverhältnis oder eine in anderer Weise begründete Abhängigkeit ausnützt, wird mit Gefängnis bestraft.
2. Hat die verletzte Person mit dem Täter die Ehe geschlossen, so kann die zuständige Behörde von der Strafverfolgung, der Überweisung an das Gericht oder der Bestrafung absehen.
Art. 194 Exhibitionismus
162
1. Wer eine exhibitionistische Handlung vornimmt, wird, auf Antrag, mit Gefängnis bis zu sechs Monaten oder
mit Buße bestraft.
2. Unterzieht sich der Täter einer ärztlichen Behandlung, so kann das Strafverfahren eingestellt werden. Es
wird wieder aufgenommen, wenn sich der Täter der Behandlung entzieht.
Art. 198 Sexuelle Belästigung
Wer von jemandem, der dies nicht erwartet, eine sexuelle Handlung vornimmt und dadurch Ärgernis erregt,
wer jemandem, der dies nicht erwartet, eine sexuelle Handlung vornimmt und dadurch Ärgernis erregt,
wer jemanden tätlich oder in grober Weise durch Worte sexuell belästigt,
wird, auf Antrag, mit Haft oder Busse bestraft.
Art. 213 Inzest
1. Wer mit einem Blutsverwandten in gerader Linie oder einem voll- oder halbbürtigen Geschwister den Beischlaf vollzieht, wird mit Gefängnis bestraft.
2. Unmündige bleiben straflos, wenn sie verführt worden sind.
3. Die Verjährung tritt in zwei Jahren ein.
Das Opferhilfegesetz OHG
In der Schweiz gibt es seit Oktober 1991 das Opferhilfegesetz OHG. Dies wurde geschaffen, um den Opfern
von Straftaten wirksame Hilfe leisten zu können und ihre Rechtsstellung zu verbessern. Die gewährleistete Hilfe
umfaßt die Beratung, den Schutz des Opfers und die Wahrung seiner Rechte im Strafverfahren. Das Opfer soll
entschädigt werden und erhält Genugtuung. Wir beschränken uns im folgenden auf die Darstellung der wichtigsten Punkte im Zusammenhang mit dem Strafverfahren.
Art. 2 Geltungsbereich
1. Hilfe nach diesem Gesetz erhält jede Person, die durch eine Straftat in ihrer körperlichen, sexuellen oder psychischen Integrität unmittelbar beeinträchtigt worden ist (Opfer), und zwar unabhängig davon, ob der Täter
ermittelt worden ist und ob er sich schuldhaft verhalten hat.
2. Der Ehegatte des Opfers, dessen Kinder und Eltern sowie andere Personen, die ihm in ähnlicher Weise nahestehen, werden dem Opfer gleichgestellt bei:
a) der Beratung (Art. 3 und 4)
b) der Geltendmachung von Verfahrensrechten und Zivilansprüchen (Art. 8 und 9),
soweit ihnen Zivilansprüche gegenüber dem Täter zustehen;
c) der Geltendmachung von Entschädigungen und Genugtuung (Art. 11-17),
soweit ihnen Zivilansprüche gegenüber dem Täter zustehen.
3. Die Beratungsstellen haben insbesondere folgende Aufgaben:
a) sie leisten und vermitteln dem Opfer medizinische, psychologische, soziale, materielle und
juristische Hilfe;
b) sie informieren über die Hilfe an Opfer.
Die Beratungsstellen leisten ihre Hilfe sofort und wenn nötig während längerer Zeit. Sie müssen so
organisiert sein, daß sie jederzeit Soforthilfe leisten können.
4. Die Leistungen der Beratungsstellen und die Soforthilfe Dritter sind unentgeltlich. Die
Beratungsstellen übernehmen weitere Kosten, wie Arzt-, Anwalts- und Verfahrenskosten, soweit dies
aufgrund der persönlichen Verhältnisse des Opfers angezeigt ist.
5. Die Opfer können sich an eine Beratungsstelle ihrer Wahl wenden.
163
Schutz und Rechte des Opfers im Strafverfahren
Art. 5 Persönlichkeitsschutz
1. Die Behörden wahren die Persönlichkeitsrechte des Opfers in allen Abschnitten des Strafverfahrens.
2. Behörden und Private dürfen außerhalb eines öffentlichen Gerichtsverfahrens die Identität des Opfers nur
veröffentlichen, wenn dies im Interesse der Strafverfolgung notwendig ist oder das Opfer zustimmt.
3. Das Gericht schließt die Öffentlichkeit von den Verhandlungen aus, wenn überwiegende Interessen des Opfers es erfordern. Bei Straftaten gegen die sexuelle Integrität wird die Öffentlichkeit auf Antrag des Opfers
ausgeschlossen.
4. Die Behörden vermeiden eine Begegnung des Opfers mit dem Beschuldigten, wenn das Opfer dies verlangt.
Sie tragen dem Anspruch des Beschuldigten auf rechtliches Gehör in anderer Weise Rechnung. Eine Begegnung
kann angeordnet werden, wenn der Anspruch des Beschuldigten auf rechtliches Gehör oder ein überwiegendes
Interesse der Strafverfolgung sie zwingend erfordert.
Art. 6 Aufgaben der Polizei und der Untersuchungsbehörden
1. Die Polizei informiert das Opfer bei der ersten Einvernahme über die Beratungsstellen.
2. Sie übermittelt Name und Adresse des Opfers einer Beratungsstelle. Sie weist das Opfer vorher darauf hin,
daß es die Übermittlung ablehnen kann.
3. Die Opfer von Straftaten gegen die sexuelle Integrität können verlangen, daß sie von Angehörigen des gleichen Geschlechts einvernommen werden. Das gilt auch für das Untersuchungsverfahren.
Art. 7 Beistand und Aussageverweigerung
1. Das Opfer kann sich am Strafverfahren beteiligen lassen, wenn es als Zeuge oder Auskunftsperson befragt
wird.
2. Es kann die Aussage zu Fragen verweigern, die seine Intimsphäre betreffen.
Art. 8 Verfahrensrechte
1. Das Opfer kann sich am Strafverfahren beteiligen. Es kann insbesondere:
a) seine Zivilansprüche geltend machen;
b) den Entscheid eines Gerichts verlangen, wenn das Verfahren nicht eingeleitet oder wenn es
eingestellt wird;
c) den Gerichtsentscheid mit den gleichen Rechtsmitteln anfechten wie der Beschuldigte, wenn es
sich bereits vorher am Verfahren beteiligt hat und soweit der Entscheid seine Zivilansprüche
betrifft oder sich auf deren Beurteilung auswirken kann.
2. Die Behörden informieren das Opfer in allen Verfahrensabschnitten über seine Rechte. Sie teilen
ihm Entscheide und Urteile auf Verlangen unentgeltlich mit.
Die Opfer von Straftaten gegen die sexuelle Integrität können verlangen, daß dem urteilenden Gericht wenigstens eine Person gleichen Geschlechts angehört.
164
SEXUELLE GEWALT
FRAGEBOGEN FÜR INTERVIEWS MIT BETROFFENEN MÄNNERN
Einrichtung:
Wohngruppe:
Wohngemeinschaft:
Bundesland:
Fragen zur Person:
1. Wie alt sind Sie?
.............................
2. Aus welchem Bundesland bzw. Land kommen Sie? ............................................................
3. Bei wem sind Sie aufgewachsen? (bis 18 Jahre)
4.
in der Familie
0 ja
0 nein
wenn ja; mit wem?......................................................................................................
.....................................................................................................................................
.....................................................................................................................................
(z.B.: Mutter, Vater, älterer Bruder, jüngerer Bruder, ältere Schwester, jüngere Schwester, andere Personen)
5.
in einer Institution?
0 ja
0 nein
wenn ja; in welcher? ..................................................................................................
ab welchem Alter: ............
Waren dort auch Mädchen?
Haben Sie dort einen Freund / eine Freundin gehabt?
6.
0 ja
0 ja
0 nein
0 nein
Haben Sie dort bei sexuellen Spielen (gemeinsame Selbstbefriedigung, 'Doktor spielen' etc.) mitgemacht?
0 ja
0 nein
165
7. Welche Ausbildung haben Sie gemacht?
Schulen ....................................................
Anlehre ....................................................
Lehre ......................................................
Studium ....................................................
8. Üben Sie eine berufliche Tätigkeit aus?
0 ja
0 nein
9. wenn ja, welcher Art? Tätigkeit als: .................................................................................. .
in:
Beschäftigungstherapie: .....................................................................................
geschützter Werkstätte: .....................................................................................
auf
externem Arbeitsplatz ........................................................................................
10. Lebensform (Mehrfachantworten möglich):
0 ledig
0 verheiratet
0 in Lebensgemeinschaft mit Lebensgefährtin
0 in Lebensgemeinschaft mit Lebensgefährtem
anderes: ...........................................................
11. Wenn verheiratet oder in Lebensgemeinschaft; leben Sie mit
dem Partner / der Partnerin in der Institution zusammen?
nein
12. Haben Sie eigene Kinder?
nein
0 ja
0
0 ja
0
13. Wenn ja, wie viele? .......
14. Wie alt sind Ihre Kinder jetzt?
.......
15. Wo leben Ihre Kinder jetzt?
............................................................................................
............................................................................................
16. Sind Sie sterilisiert?
nein
0 ja
0
166
Fragen zur Behinderung
17. Sie leben in einer Einrichtung für Menschen mit Behinderung.
Wegen welcher Behinderung sind Sie hier (Mehrfachantworten möglich)?
0 lernbehindert
0 sinnesbehindert
0 geistig behindert
0 körperlich behindert
0 chronische Erkrankung
0 weiß nicht
18. Sind Sie von Geburt an behindert?
nein
0 ja
0
19. wenn nein, seit welchem Alter sind Sie behindert? ......................................................
20. welche Ursache: (z.B. Krankheit, Unfall) ......................................................................
21. Brauchen Sie aufgrund Ihrer Behinderung Hilfe?
nein
0 ja
0 teilweise
0
Wenn nein, weiter zu Frage 27)
22. Wenn ja, wofür brauchen Sie Hilfe? ................................................................................
.......................................................................................................................................
23. Können Sie auswählen, von welcher Person Sie welche Hilfe möchten?
nein
0 ja
0
24. Wenn ja, bei welchen Hilfestellungen / -leistungen? ........
25. Können Sie wählen, ob Sie von einem Mann oder einer Frau
Hilfe erhalten?
0 ja
0 nein
26. Wenn Sie nicht wählen können, warum geht das nicht? ........................................................
........................................................................................................................................ ..
...........................................................................................................................................
...........................................................................................................................................
Fragen zur Einrichtung / zum
Heim
27. Wie lange leben Sie schon in diesem Heim?
...........................................................................
28. Wie wohnen Sie hier?
167
0 Einzelwohnung
0 im eigenen Zimmer
0 in einem Mehrbettzim-
mer
29. Wenn Sie nicht alleine wohnen, mit wievielen Personen leben Sie zusammen?
.....................
30. Wollten Sie so wohnen?
nein
0 ja
0
0 ja
0
31. Wie fühlen Sie sich mit dieser Wohnform?
0
0
0
0
0
0
sehr gut
gut
mäßig
schlecht
sehr schlecht
weiß nicht
32. Möchten Sie gerne etwas anders haben?
nein
33. Wenn ja, was möchten Sie anders haben? ......................................................................
..........................................................................................................................................
..........................................................................................................................................
..........................................................................................................................................
34. Ist es Ihnen erlaubt, Ihr Zimmer abzuschließen, wenn Sie es wollen? 0 ja
nein
0
35. Können Sie entscheiden, wann Sie abends ins Bett gehen wollen?
nein
0
0 ja
36. Wenn nicht, warum nicht? ...............................................................................................
..........................................................................................................................................
..........................................................................................................................................
..........................................................................................................................................
37. Haben Sie ein eigenes Badezimmer?
nein
38. wenn nein, kann das Badezimmer gleichzeitig von
mehreren Menschen benutzt werden?
nein
39. Haben Sie eine eigene Toilette?
nein
0 ja
0
0 ja
0
0 ja
0
168
40. wenn nein; können außer der Person, die ihnen hilft,
andere die Toilette betreten, während Sie diese benutzen?
nein
0 ja
0
169
Fragen zur Aufklärung
41. Wurden Sie über Sexualität aufgeklärt?
nein
0 ja
0
42. wenn ja, von wem? ...........................................................................................................
wie alt waren Sie da? .........................................................................................................
wo ist das passiert? .............................................................................................................
..........................................................................................................................................
43. Wissen Sie, wann ein Mann eine Erektion bekommt?
0 ja
0
nein
44. Wissen Sie, wann ein Mann einen Samenerguß hat?
nein
0 ja
0
45. Wissen Sie, wie Selbstbefriedigung geht?
nein
0 ja
0
46. War das in Ihrer Jugend verboten?
nein
0 ja
0
47. Wissen Sie, wie Geschlechtsverkehr zwischen Männern geht?
nein
0 ja
0
48. Wissen Sie, wie ein Geschlechtsakt zwischen Mann und Frau verläuft? 0 ja
nein
0
49. Wissen Sie, warum die Frau eine Monatsblutung hat?
nein
0
0 ja
50. Wissen Sie, daß aus dem Geschlechtsverkehr ein Kind entstehen kann? 0 ja
nein
0
51. Wissen Sie, wie man verhüten kann?
nein
0 ja
0
52. Wissen Sie über ‘Petting’ Bescheid?
nein
0 ja
0
53. Wissen Sie über Geschlechtskrankheiten Bescheid?
nein
0 ja
0
54. Verwenden Sie beim Geschlechtsverkehr ein Kondom?
0 nein
0 ja
55. Wissen Sie, daß Sie nein sagen dürfen, wenn jemand sexuell
170
was von Ihnen will, aber Sie das mit ihm / mit ihr nicht wollen?
0 nein
0 ja
56. Wissen Sie, daß jeder Mann / jede Frau nein sagen darf, wenn Sie
sexuell etwas von ihm / ihr wollen, wenn er/sie das nicht will?
0 nein
57. Wissen Sie, was sexuelle Gewalt ist?
nein
0 ja
0 ja
0
171
58. Fühlen Sie sich eher
als
0 Mann,
als
0 Frau,
als
0 Bub,
als
0 Mädchen
oder 0 anders? .......
59. Möchten Sie über die Themen, über die wir eben
gesprochen haben, mehr wissen?
nein
0 ja
0
60. wenn ja, worüber? ..............................................................................................................
...........................................................................................................................................
...........................................................................................................................................
61. von wem möchten Sie das erfahren? ...................................................................................
..........................................................................................................................................
Fragen zur sexuellen Ausbeutung
62. Fühlten Sie sich schon einmal durch bestimmte Handlungen
in sexueller Hinsicht belästigt?
nein
0 ja
0
Wenn ja, Was war das? (Bitte in einer der Folgekategorien ausfüllen)
63. Hat jemand blöde Bemerkungen über Ihren Körper gemacht hat?
nein
0 ja
0
0 ja
0
wenn ja, wer? .................................................
wie oft ............................................................
in welchem Alter ............................................
wo ist das passiert? .........................................
64. Hat Sie jemand 'mit Blicken ausgezogen'?
nein
wenn ja, wer? ..............................................
wie oft ...........................................................
in welchem Alter ...........................................
172
wo ist das passiert? .......................................
65. Hat Ihnen jemand Sex-Witze erzählt hat, obwohl Sie das nicht wollten? 0 ja
nein
0
wenn ja, wer? ..............................................
wie oft ....................................................
in welchem Alter ...........................................
wo ist das passiert? .......................................
66. Hat Sie jemand an bestimmten Körperstellen berührt, obwohl
Sie das nicht wollten?
nein
0 ja
0
wenn ja, an welchen Körperstellen war das? ................................................
wer war das? ....................................................
wie oft ...........................................................
i n welchem Alter ...........................................
wo ist das passiert? .......................................
67. Hat Sie jemand gezwungen, sich vor ihm/ihr nackt auszuziehen,
oder dies versucht?
nein
0 ja
0
0 ja
0
wenn ja, wer? ..............................................
wie oft ....................................................
in welchem Alter ...........................................
wo ist das passiert? .......................................
68. Hat Ihnen jemand seine / Ihre Geschlechtsteile gezeigt, obwohl
Sie das nicht wollten?
nein
wenn ja, wer? ..............................................
wie oft ....................................................
in welchem Alter ...........................................
wo ist das passiert? .......................................
173
69. Hat jemand gegen Ihren Willen von Ihnen verlangt, seine oder
ihre Geschlechtsteile zu berühren?
nein
0 ja
0
0 ja
0
0 ja
0
0 ja
0
wenn ja, wer? ..............................................
wie oft ....................................................
in welchem Alter ...........................................
wo ist das passiert? .......................................
70. Hat Sie jemand dazu überreden oder zwingen wollen, ihn bzw. sie
zu befriedigen
nein
wenn ja, wer? ..............................................
wie oft ....................................................
in welchem Alter ...........................................
wo ist das passiert? .......................................
71. Hat Sie jemand dazu überreden oder zwingen wollen, seine / ihre
Geschlechtsteile mit dem Mund zu berühren?
nein
wenn ja, wer? ..............................................
wie oft ....................................................
in welchem Alter ...........................................
wo ist das passiert? .......................................
72. Hat jemand gegen Ihren Willen oder auf eine Ihnen unangenehme
Weise Ihr Glied, Ihren Hoden oder Ihren Hintern berührt?
nein
wenn ja, wer? ..............................................
wie oft ....................................................
in welchem Alter ...........................................
wo ist das passiert? .......................................
174
73. Hat Sie jemand so angegriffen, gepackt oder geküßt, daß Sie
sich sexuell bedroht fühlten?
nein
0 ja
0
wenn ja, wer? ..............................................
wie oft ....................................................
in welchem Alter ...........................................
wo ist das passiert? .......................................
74. Hat Sie jemand gezwungen, bei sexuellen Handlungen (z.B.
Selbstbefriedigung, Geschlechtsverkehr) zuzuschauen?
0 nein
0 ja
wenn ja, wer? ..............................................
wie oft ....................................................
in welchem Alter ...........................................
wo ist das passiert? .......................................
75. Hat Sie jemand gezwungen, mit ihm/ihr Pornofilme anzuschauen?
nein
0 ja
0
0 ja
0
wenn ja, wer? ..............................................
wie oft ....................................................
in welchem Alter ...........................................
wo ist das passiert? .......................................
76. Hat jemand gegen Ihren Willen mit Ihnen irgendeine Art
von Geschlechtsverkehr gehabt oder dies versucht?
nein
wenn ja, wer? ..............................................
wie oft ....................................................
in welchem Alter ...........................................
wo ist das passiert? .......................................
77. Haben Sie jemandem davon erzählt, daß ........
0 ja
0 nein
78. Wenn ja, wem haben Sie davon erzählt? ........................................................................
175
.........................................................................................................................................
79. Haben Sie besondere Probleme wie Schmerzen,
Schwindelanfälle, Ängste, Alpträume etc.?
0 ja
0 nein
80. wenn ja, welche? ............................................................................................................
........................................................................................................................................
81. Bekommen Sie regelmäßig Medikamente?
0 ja
0 nein
82. wenn ja, welche? ............................................................................................................
.........................................................................................................................................
83. Wieviel nehmen Sie davon? ...........................................................................................
.........................................................................................................................................
84. Wie geht es Ihnen mit dem Täter / der Täterin jetzt?
.........................................................................................................................................
.........................................................................................................................................
85. Wurden Maßnahmen ergriffen gegenüber dem Mann /
der Frau, die das getan hat (Anzeige erstattet etc.)?
0 ja
0
nein
86. wenn ja, welche? ............................................................................................................
.........................................................................................................................................
.........................................................................................................................................
.........................................................................................................................................
87. Wünschen Sie sich Hilfe?
nein
0 ja
0
88. wenn ja, welche? .................................................................................................................
.........................................................................................................................................
.........................................................................................................................................
.........................................................................................................................................
.........................................................................................................................................
89. Möchten Sie, daß ich diesen Wunsch nach Hilfe weiterleite?
0 nein
90. Wenn ja, muß ich dazu aber Ihren Namen nennen. Darf ich das?
nein
0 ja
0 ja
0
Wenn ja, Ihr Name ist: ...........................
176
Sexuelle Belästigung:
91. Haben Sie schon einmal jemanden sexuell belästigt, obwohl er/sie
das nicht wollte?
nein
0 ja
0
0 ja
0
Wenn ja, was war das? (Bitte in einer der Folgekategorien ausfüllen)
92.Haben Sie schon einmal jemanden aufgefordert, Sie zu
berühren und zu streicheln, obwohl er/sie das nicht wollte?
nein
wenn ja, wer war das? .............................................................................................................
(Schwester / Bruder / Kinder von Verwandten / Kinder von Freunden der Eltern / Kinder aus der Nachbarschaft / Mitschüler
/ Mitschülerin / Ihren Freund / Ihre Freundin / Betreuer / Betreuerin / Therapeut / Therapeutin / Mitbewohner / Mitbewohnerin / Kollege / Kollegin / andere)
wie oft ....................................................
in welchem Alter ...........................................
wo ist das passiert? .......................................
93. Haben Sie sich an jemanden mit dem ganzen Körper angedrängt,
obwohl er/sie das nicht wollte?
nein
0 ja
0
wenn ja, wer war das? ..............................................
wie oft ......................................................................
in welchem Alter .....................................................
wo ist das passiert? ..................................................
94. Haben Sie schon einmal jemanden gezwungen, oder zu zwingen
versucht, Ihr Glied anzufassen, obwohl er/sie das nicht wollte?
0 nein
0 ja
wenn ja, wer war das? ..............................................
wie oft ......................................................................
in welchem Alter .....................................................
177
wo ist das passiert? ..................................................
95. Haben Sie Sex-Witze gegenüber einer Person (Körper, Geschlechtsteile, Sexualleben etc.) gemacht, obwohl er/sie das nicht wollte?
0 nein
0 ja
wenn ja, wer war das? ..............................................
wie oft ......................................................................
in welchem Alter ......................................................
wo ist das passiert? ...................................................
96. Haben Sie jemanden berührt (im Gesicht / die Haare / die
Brüste / den Hintern), obwohl der Mann, die Frau das nicht wollte?
nein
0 ja
0
0 ja
0
0 ja
0
wenn ja, wer war das? ..............................................
wie oft ......................................................................
in welchem Alter ......................................................
wo ist das passiert? ...................................................
97. Haben Sie das Glied eines Mannes oder eines Knaben angefaßt,
obwohl er das nicht wollte?
nein
wenn ja, wer war das? ..............................................
wie oft ......................................................................
in welchem Alter ......................................................
wo ist das passiert? ...................................................
98. Haben Sie einer Frau / einem Mädchen an die Scheide gegriffen,
obwohl sie das nicht wollte?
nein
wenn ja, wer war das? ................................................
wie oft .........................................................................
in welchem Alter .........................................................
wo ist das passiert? .....................................................
178
99. Haben Sie einem Mann / einer Frau / einem Kind Ihr Glied gezeigt oder sich
vor dieser Person selbstbefriedigt, obwohl diese Person das nicht wollte?
0 ja
0 nein
wenn ja, wer war das? ..............................................
wie oft .......................................................................
in welchem Alter ......................................................
wo ist das passiert? ...................................................
100. Haben Sie einmal jemanden so gepackt und festgehalten, daß er/sie
Angst bekommen hat?
0 ja
nein
0
wenn ja, wer war das? ..............................................
wie oft .......................................................................
in welchem Alter ......................................................
wo ist das passiert? ...................................................
101. Haben Sie einmal jemanden festgehalten und geküßt,
obwohl er/sie das nicht wollte?
nein
0 ja
0
wenn ja, wer war das? ..............................................
wie oft .......................................................................
in welchem Alter ......................................................
wo ist das passiert? ...................................................
102. Haben Sie einmal jemanden ausgezogen, oder das versucht,
obwohl er/sie das nicht wollte?
0 ja
0 nein
wenn ja, wer war das? ...............................................
wie oft ........................................................................
in welchem Alter ........................................................
wo ist das passiert? .....................................................
179
103. Haben Sie einmal jemanden gezwungen oder zu zwingen versucht,
ihr Glied anzufassen, obwohl er/sie das nicht wollte?
0 ja
nein
0
wenn ja, wer war das? ..............................................
wie oft ......................................................................
in welchem Alter ......................................................
wo ist das passiert? ...................................................
104. Haben Sie einmal jemanden gezwungen oder zu zwingen versucht,
ihr Glied in den Mund zu nehmen und zu lecken?
0 ja
nein
0
wenn ja, wer war das? ..............................................
wie oft ......................................................................
in welchem Alter .......................................................
wo ist das passiert? ...................................................
105. Haben Sie einmal jemanden zum Geschlechtsverkehr gezwungen
oder dies versucht?
nein
0 ja
0
wenn ja, wer war das? ..............................................
wie oft .......................................................................
in welchem Alter ......................................................
wo ist das passiert? ...................................................
Fragen nach den Folgen:
106. Warum haben Sie das gemacht? .....................................................................................
.........................................................................................................................................
.........................................................................................................................................
..........................................................................................................................................
107. Wie geht es Ihnen damit? Hat Ihnen das wohl getan?
180
Hat das Freude gemacht?
0 ja
0 nein
108. Tut Ihnen das leid, was Sie gemacht haben?
0 ja
0 nein
109. Fühlen Sie sich deshalb schuldig?
0 ja
0 nein
110. Würden Sie das wieder machen?
0 ja
0 nein
111. Wie geht es Ihnen jetzt mit dem Opfer? .........................................................................
.........................................................................................................................................
.........................................................................................................................................
..........................................................................................................................................
112. Haben Sie mit jemandem darüber gesprochen?
0 nein
0 ja
113. Wenn ja, mit wem? .........................................................................................................
114. Ist dieser Vorfall / Sind diese Vorfälle bekannt geworden?
nein
0 ja
0
115. Hat jemand danach mit ihnen darüber gesprochen?
nein
0 ja
0
wenn ja, wer? ............................................................................................................
116. Wurden Sie im Anschluß daran über sexuelle Gewalt aufgeklärt?
nein
0 ja
0
Wenn ja, von wem? .......................................................................................................
117. Wurden Ihnen Maßnahmen angedroht?
0 nein
0 ja
118. Wurden damals Maßnahmen deshalb ergriffen?
nein
0 ja
0
(z.B.: Anzeige / Verlegung in anderes Heim / Verurteilung etc.?)
Wenn ja, welche? ......................................................................................................
..........................................................................................................................................
119. Wenn es zu einer Verurteilung gekommen ist, wozu wurden Sie verurteilt?
.........................................................................................................................................
.........................................................................................................................................
120. Wünschen Sie sich Hilfe?
0 ja
0 nein
121. Wenn ja, welche? ............................................................................................................
181
.........................................................................................................................................
........................................................................................................................................
122. Möchten Sie, daß ich diesen Wunsch nach Hilfe weiterleite? 0 ja
Dazu muß ich aber Ihren Namen nennen.
Darf ich das?
0 ja
0 nein
0 nein
Wenn ja; ihr Name ist: ............................
Vielen Dank, daß Sie sich zu diesem Gespräch bereit erklärt bzw. an dieser Untersuchung
teilgenommen haben.
Wie ist es Ihnen während unseres Gesprächs / während der Fragebogenbearbeitung gegangen?
.............................................................................................................................................
..............................................................................................................................................
..............................................................................................................................................
..............................................................................................................................................
..............................................................................................................................................
..............................................................................................................................................
..............................................................................................................................................
..............................................................................................................................................
182
Kurznotizen zum Gesprächsverlauf
* Atmosphäre
* räumliche Rahmenbedingungen
* Gesprächsverlauf
* emotionale Reaktionen des Interviewpartners auf bestimmte Themen
* Verhalten des Mannes bei der Darstellung von Opfererlebnissen (z.B. Ohnmacht / Verständnis für den Täter etc.):
* Verhalten des Mannes bei der Darstellung von Tätererlebnissen (z.B.: Schuldabwehr, Prahlen, Anmache deR InterviewerIn, Abwertung des Opfers etc.):
* andere Eindrücke: ...................................................
183
SEXUELLE GEWALT
FRAGEBOGEN FÜR INTERVIEWS MIT BETREUERiNNEN
Einrichtung:
Wohngruppe:
Wohngemeinschaft:
Bundesland:
Fragen zur Person:
1. Wie alt ist der Mann?
.............................
2. Aus welchem Bundesland bzw. Land kommt er? ............................................................
3. Bei wem ist er aufgewachsen? (bis 18 Jahre)
.....................................................................................................................................
.....................................................................................................................................
(z.B.: Mutter, Vater, älterer Bruder, jüngerer Bruder, ältere Schwester, jüngere Schwester, andere Personen, Institution)
4. Welche Ausbildung hat er gemacht?
Schulen ....................................................
Anlehre ....................................................
Lehre ......................................................
Studium ....................................................
5. Übt er eine berufliche Tätigkeit aus?
nein
0 ja
0
6. wenn ja, welcher Art? Tätigkeit als: ...................................................................................
in:
Beschäftigungstherapie: .....................................................................................
geschützter Werkstätte: .......................................................................................
auf
externem Arbeitsplatz .........................................................................................
184
7. Lebensform (Mehrfachantworten möglich):
0 ledig
0 verheiratet
0 in Lebensgemeinschaft mit Lebensgefährtin
0 in Lebensgemeinschaft mit Lebensgefährtem
anderes: ...........................................................
8. Wenn verheiratet oder in Lebensgemeinschaft; lebt er mit
dem Partner / der Partnerin in der Institution zusammen?
nein
9. Hat er eigene Kinder?
nein
0 ja
0
0 ja
0
10. Wenn ja, wie viele? .......
11. Wie alt sind seine Kinder jetzt?
.........................................................................................
12. Wo leben seine Kinder jetzt?
.........................................................................................
..........................................................................................
13. Ist er sterilisiert?
nein
0 ja
0
Fragen zur Behinderung
14.
Wegen welcher Behinderung lebt er hier (Mehrfachantworten möglich)?
0 lernbehindert
0 sinnesbehindert
0 geistig behindert
0 körperlich behindert
0 chronische Erkrankung; welche: ..............................................
15. Ist er von Geburt an behindert?
nein
0 ja
0
16. wenn nein, seit welchem Alter ist er behindert? ......................................................
17. welche Ursache: (z.B. Krankheit, Unfall) ......................................................................
18. Braucht er aufgrund seiner Behinderung Hilfe?
nein
0 ja
0 teilweise
0
185
19. Wenn ja, wofür braucht er Hilfe?
0
essen
0 ja
0
0
zähneputzen
0 ja
0
0
Toilette benützen
0 ja
0
0
an, ausziehen
0 ja
0
0
waschen, duschen, baden
0 ja
0
0
Fortbewegung im Haus
0 ja
0
0
Fortbewegung außer Haus
0 ja
0
0 ja
0
nein
nein
nein
nein
nein
nein
nein
---
außerhalb des Dorfes
nein
0
einkaufen
0 ja
0
0
Arzt-/Therapiebesuch
0 ja
0
0
Besuch von Veranstaltungen (Kino, Theater, Konzert,
0 ja
0
nein
nein
Weiterbildung, Mal-, Tanzkurs, Kirche)
nein
0
andere Hilfen, welche
..............................................................................
...........................................................................................................................
20. Kann er auswählen, von welcher Person er welche Hilfe möchte?
nein
0 ja
0
21. Wenn ja, bei welchen Hilfestellungen / -leistungen?
...............................................................
......................................................................................................................................
22. Kann er wählen, ob er von einem Mann oder einer Frau
Hilfe erhält?
nein
0 ja
0
23. Wenn er nicht wählen kann, warum geht das nicht? ........................................................
..........................................................................................................................................
...........................................................................................................................................
186
24. Hat er regelmäßige körperliche und/oder seelische Probleme (Schmerzen, Schwindelanfälle, Epileptische Anfälle, Sexualisiertes Verhalten, Bauchschmerzen, Ängste, Phobien,
Alpträume, Selbstzerstörungshandlungen wie starkes Nägelkauen, Haare ausreißen, Kopf
gegen die Wand schlagen, sich selbst schlagen, Waschzwang etc.)
25. Erhält er regelmäßig Medikamente?
nein
0 ja
0
26. Wenn ja, welche? ...............................................................................................................
27. Welche Dosierung? .............................................................................................................
Fragen zur Einrichtung / zum
Heim
28. Wie lange lebt er schon in diesem Heim? ...........................................................................
29. Wie wohnt er hier?
0 Einzelwohnung
0 im eigenen Zimmer
0 in einem Mehrbettzim-
mer
30. Wenn er nicht alleine wohnt, mit wievielen Personen lebt er zusammen? .....................
31. Ist es Ihm erlaubt, sein Zimmer abzuschließen, wenn er es will?
nein
0 ja
0
32. Kann er entscheiden, wann er abends ins Bett gehen will?
nein
0 ja
0
33. Wenn nicht, warum nicht? ...............................................................................................
..........................................................................................................................................
..........................................................................................................................................
..........................................................................................................................................
34. Hat er ein eigenes Badezimmer?
0 ja
0 nein
35. wenn nein, kann das Badezimmer gleichzeitig von
mehreren Menschen benutzt werden?
nein
36. Hat er eine eigene Toilette?
nein
0 ja
0
0 ja
0
37. wenn nein; können außer der Person, die ihm hilft,
187
andere die Toilette betreten, während er diese benutzt?
nein
0 ja
0
38. Welche Vorsorgen sind im Heim / in der Einrichtung für Auseinandersetzung mit Sexualität bzw. für ein Ausleben von Sexualität getroffen? (z.B. Aufklärungsmaterialien, Rückzugsmöglichkeiten, Kondomautomat etc.)
..........................................................................................................................................
..........................................................................................................................................
...........................................................................................................................................
188