1. Kapitel

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1. Kapitel
Impressum
Heiner Rank
Nebelnacht
ISBN 978-3-95655-404-9 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien erstmals 1967 im Verlag Das
Neue Berlin (DIE-Reihe Delikte, Indizien, Ermittlungen).
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
© 2015 EDITION digital®
Pekrul & Sohn GbR
Godern
Alte Dorfstraße 2 b
19065 Pinnow
Tel.: 03860 505788
E-Mail: [email protected]
Internet: http://www.ddrautoren.de
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1. Kapitel
Ein kalter Mond stand über der Flussniederung, in der
undurchdringlich und schwer wie feuchte Watte der
Bodennebel schwamm. Erlenbüsche und die kegelförmigen
Kuppen einiger Heuschober hoben sich dunkel daraus hervor.
Die Nacht war wolkenlos, und hinter den Dächern des Dorfes,
das am Rande der Wiesen auf einer flachen Anhöhe lag,
leuchtete der Himmel messinggelb vom Widerschein der nahen
Großstadt. Eine Straße brach als helles Band aus dem Wald,
tauchte in den Nebel des Flusstales und führte über einen von
Pappeln flankierten Erddamm und eine Brücke dem Dorfe zu.
An dem hölzernen Geländer der Brücke lehnte eine Frau. Sie
trug einen hellen Mantel und ein grünes, mit weißen Punkten
besetztes Kopftuch. Den Mantelkragen hatte sie
hochgeschlagen und bis unter das Kinn zugeknöpft. Es war
schon spät in der Nacht, und sie fror. Ihr Blick schweifte über
das im fahlen Mondlicht träg wogende Nebelmeer, und dieser
ungewöhnliche, gespenstische Anblick weckte in ihr das Bild
einer fernen Vergangenheit, als diese sumpfige Niederung
Grenzmark war zwischen den nach Osten drängenden
Askaniern und den wendischen Slawen, um deren hölzerne
Burgwälle erbitterte Kämpfe tobten.
Mit einem energischen Kopfschütteln riss sie sich von ihren
Wachträumen los und wandte sich dem Dorfe zu. Sie war
jung, fast noch ein Mädchen, und hatte einen weichen,
elastischen Gang. Schritt für Schritt, je weiter sie der sich
neigenden Straße folgte, versank sie im Nebel. Das
spielerische Rauschen, mit dem der kleine Fluss über das
Wehr ging, verebbte und erstarb. Die Chaussee begann sich in
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engen Kurven durch die morastigen Wiesen zu winden. Schilf
und Erlenbüsche wuchsen schemenhaft am Rande des Weges
auf, dürre Äste reckten ihre Krallen, und die bizarren
Kugelköpfe der Weiden geisterten durch den Brodem. Ein
leises Rascheln hier, da ein Tierruf, dumpf und klagend, dort
ein glucksender Laut.
Ganz gegen ihren Willen ging die Frau schneller und so
geräuschlos wie möglich. Sie atmete flach und spürte, wie die
uralte Furcht in ihr aufstieg, das Grauen vor der gestaltlosen,
ungreifbaren Gefahr, der nackten Vernunft nicht zugänglich
und ihrer spottend. Alle Willenskraft musste sie aufbieten, die
Panik niederzuhalten, nicht in wilder Hast kopflos
davonzustürmen.
Mit hart klopfendem Herzen, die Hände zu Fäusten geballt,
hielt sie der Angst stand und nahm kürzere Schritte. Dunkelheit
und Nebel waren so dicht, dass sie kaum noch den Erdboden
vor sich erkennen konnte. Da trat ihr Fuß in splitterndes Glas.
Sie zuckte zusammen, machte eine heftige Bewegung,
stolperte über ein Gestänge. Es gab ein kratzendes,
metallisches Geräusch. Vom Schienbein schoss wütender
Schmerz herauf und zog ihr für Sekunden einen rötlichen, von
Irrlichtern durchsprühten Schleier vor die Augen.
Sie lag auf den Knien, unter ihren Händen die nasskalte Erde
des Sommerweges. Als sie die zitternden Lider hob, bemerkte
sie vor sich auf dem Boden eine dunkle Gestalt. Ein
winselndes Stöhnen, qualvoll und erschreckend unecht, drang
ihr entgegen. Sie wollte schreien, doch ihre Stimme versagte,
und nur ein schluchzender Laut kam über ihre Lippen. Von
eisigem Schrecken gelähmt, glaubte sie, eine Ewigkeit lang
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auf der feuchten Erde zu hocken - unfähig, einen Gedanken zu
fassen, unfähig, sich zu rühren. Dann plötzlich, mit einer nie
empfundenen Intensität, nahm sie den Rauch glimmenden
Kartoffelkrautes wahr, würzig und belebend. Die Erstarrung
wich. Sie bewegte prüfend ihre Finger, drehte den Kopf, erhob
sich und beugte sich vorsichtig über die reglose Gestalt.
Es war ein Mann. Er lag seitlich auf der Erde, das Gesicht in
den nassen Schmutz gedrückt. Seine Arme waren in
unnatürlicher Weise um den Körper gedreht, als hätte ihn die
Kraft eines Riesen zu Boden gefegt. Sie kniete nieder und
drehte ihn auf den Rücken, wobei sie an ihren Händen eine
klebrig-warme Flüssigkeit spürte. Der Kopf des Mannes fiel
zurück, das Winseln ging in ein dumpfes Röcheln über. Rasch
zog sie den Mantel aus, rollte ihn zu einer Art Kissen
zusammen und schob es ihm unter den Nacken. Irgendwann
einmal hatte sie gehört, dass ein Verletzter bei zu tief
liegendem Kopf an seinem eigenen Blut ersticken kann. Dann
schaute sie sich suchend um, tastete über den Boden, konnte
aber außer einem zertrümmerten Fahrrad, über das sie
gefallen war, nichts entdecken. So schnell, wie es der Nebel
erlaubte, eilte sie ins Dorf.
Wenig später stieß sie die Tür der Gastwirtschaft „Zu den vier
Linden“ auf. Atemlos und mit wirrem Haar stürzte sie in den
Schankraum. Ihre Hände waren blutig, und da sie beim Laufen
versucht hatte, sich die Haare aus dem Gesicht zu streichen,
war auch ihr Gesicht blutig. Das grüne Kopftuch mit den
weißen Punkten war heruntergerutscht und umschloss locker
ihren Hals.
Die Skatspieler am Stammtisch fuhren von den Stühlen auf,
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ließen die Karten sinken und starrten sie mit glasigen Augen
an. Der Wirt wurde von ihrem Anblick so aus der Fassung
gebracht, dass er vergaß, den Zapfhahn zu schließen. Erst als
ihm das Bier über die Hand und in den Hemdsärmel lief, fand
er mit einem erschrockenen Fluch seine Geistesgegenwart
wieder.
Sie hatte den neben einer Kühlvitrine stehenden
Telefonapparat erreicht und riss den Hörer von der Gabel.
„Auf der Straße vor der Nuthebrücke liegt ein
Schwerverletzter“, keuchte sie, „er verblutet. Es muss sofort
ein Arzt kommen.“
„Wie denn - Sie meinen, ein Unfall?“, fragte der Wirt etwas
töricht.
Sie nickte.
„Haben Sie sonst noch etwas gefunden?“
„Ja, ein zertrümmertes Fahrrad.“
„Dann ist es besser, Sie rufen erst die Polizei an“, sagte der
Wirt, zog das Telefonbuch unter der Theke hervor, schlug es
auf und fuhr mit seinem dicken, feuchten Finger eilig über die
Seiten.
„VP-Notruf, null eins eins.“
Ein Kreis von Neugierigen hatte sich indessen gebildet; sie
standen schweigend, der Schreck hatte sie ernüchtert, und
stierten interessiert oder auch teilnehmend auf die junge Frau.
Sie begann zu wählen, doch ihre Hände waren so unsicher,
dass sie immer wieder die Zahlen auf der Drehscheibe
durcheinanderbrachte. Wortlos zog der Wirt den Apparat zu
sich heran und stellte die Verbindung her. Dann gab er ihr den
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Hörer zurück, und sie begann, unzusammenhängend und in der
Erregung sich verhaspelnd, herauszusprudeln, was sie erlebt
hatte. Schon nach den ersten Sätzen unterbrach sie der Mann
am anderen Ende der Leitung und stellte mit besonnener
Stimme einfache, klar formulierte Fragen. Seine Ruhe schien
suggestiv zu wirken. Ihre fahrigen Bewegungen ließen nach,
und sie begann regelmäßiger zu atmen.
„Wie ist Ihr Name bitte?“
„Evelyn Schwarzhaupt.“
„Von wo rufen Sie an?“
„HO-Gaststätte Philippsthal.“
„Sie fanden einen schwer verletzten Mann auf der Straße nach
Güterfelde?“
„Ja. Er ist bewusstlos und …“
„Danke. Schicken Sie nach dem VP-Posten in Ihrer Ortschaft.
Wenn Sie einen Arzt in der Nähe haben, lassen Sie ihn rufen.
Sie selbst kehren mit einigen Helfern so schnell wie möglich an
die Unfallstelle zurück. Sperren Sie provisorisch die Straße,
und sorgen Sie dafür, dass nichts verändert wird. Decken Sie
den Verunglückten mit einer warmen Decke zu, bewegen Sie
ihn aber nicht ohne ärztliche Anweisung. Ein Einsatzwagen des
Unfallkommandos und ein Krankenwagen sind auf dem Wege
zum Unfallort. Haben Sie noch Fragen?“
„Nein, alles verstanden“, flüsterte sie. Dann bemerkte sie das
Blut an ihren Händen. Sie wurde bleich, der Hörer entglitt ihr,
und mit dem Gefühl würgender Übelkeit sank sie auf einen
Stuhl.
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2. Kapitel
Am folgenden Morgen, kurz vor acht Uhr, rollte ein steingrauer
Trabant auf den Parkplatz an der Potsdamer Bauhofstraße.
Die Luft war seidig, der Himmel von einem zarten Blau, und
der vergoldete Atlas auf dem Dach des Alten Rathauses, der
sich mit der Weltkugel auf seinem Rücken abmühte, glühte in
der Sonne. Der Mann hinter dem Lenkrad, Leutnant der
Kriminalpolizei Viktor Kreutzer, schwang sich von seinem Sitz
und verriegelte die Türen. Sein Blick fiel auf den Ahornbaum
neben dem Parkplatz, dessen Blätter über Nacht eine
weinrote Färbung angenommen hatten. Sekundenlang starrte
er hinüber und fühlte sich von der Schönheit der Natur
ergriffen. Dann dehnte er seufzend die Brust, wandte sich um
und schritt dem Hauptportal seiner Dienststelle zu.
Kreutzer war etwas über dreißig Jahre alt, mittelgroß, von
kräftiger Statur und hatte die breiten Schultern des aktiven
Ringers. Auf dem massigen Kopf standen die dunkelblonden
Haare borstig in die Höhe. Seine Augen unter den an der
Nasenwurzel zusammengewachsenen Brauen waren grau; in
Augenblicken der Gereiztheit konnten sie schnell kühl und
unnachgiebig werden. Über dem festen Kinn mit einem
Grübchen in der Mitte saß ein schmallippiger, fast eigensinnig
anmutender Mund.
Das Leben hatte Kreutzer in jungen Jahren nicht verwöhnt.
Zusammen mit sechs Geschwistern war er unter jämmerlichen
Verhältnissen aufgewachsen. Den Vater, einen Querkopf und
Saufaus, hatte die Schnapsflasche das irdische Elend und
zugleich Frau und Kinder vergessen lassen. Geld war so gut
wie nie im Hause gewesen, und die Mutter hatte zusehen
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müssen, wie sie sich mit ihren sieben Bälgern mehr schlecht
als recht durchschlug. Sobald Viktor denken konnte,
entwickelte sich in ihm eine unüberwindliche Abscheu gegen
Schnaps und Zigaretten. Er hasste seinen nach Kneipe
stinkenden Vater, der bei schwindendem Rausch zu Hause
jeden prügelte, den er erwischen konnte. Doch Viktor lernte
auch schon früh, sich zu behaupten. Seinen Platz in dem
quietschenden Messingbett, den Anteil an den Mahlzeiten und
später die Tischecke für die Schularbeiten musste er gegen
seine verwilderten, randalierenden Brüder und Schwestern zäh
verteidigen. Er war kaum vierzehn Jahre alt, als er seine Lehre
als Rohrschlosser in einem Babelsberger Lokomotivwerk
begann. Zu dieser Zeit floh er aus dem häuslichen
Durcheinander in die Ordnung und Geborgenheit einer
Ringersportgemeinschaft. Von dort fand er schließlich den
Weg zur FDJ, und vier Jahre danach, als er achtzehn Jahre alt
war, trat er in die Volkspolizei ein. Er war ernst und
verschlossen, lernte langsam und ließ nichts in seinen Schädel
ohne gründliche Prüfung. Man konnte ihn nicht beschwatzen,
und wer versuchte, seine zuweilen kleinlichen Einwände mit
gewandtem Redeschwall zu überrennen, stieß auf eine Mauer
des Misstrauens. Im täglichen Umgang blieb er meist sachlich,
er war nicht besonders umgänglich, wirkte dabei fast etwas zu
kühl, und in Dingen, die er für wichtig hielt, konnte er von einer
sehr unbequemen Hartnäckigkeit sein, was ihm schon mancher
übel angekreidet hatte. Die meisten seiner Mitmenschen
kamen ihm nicht ins Gehege; sie hatten die zuweilen
schmerzliche Erfahrung gemacht, dass mit ihm nicht gut
Kirschen essen war.
Kreutzer hatte sein Arbeitszimmer erreicht. Es war ein kleiner,
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spärlich möblierter Raum. Zwei Schreibtische - der eine für
seinen jüngeren Mitarbeiter -, ein Besucherstuhl, ein brauner
Kleiderschrank und auf einem niedrigen Aktengestell ein
graues, etwas blechern wirkendes Panzerschränkchen. An
den Wänden hingen drei Landkarten - Republik, Bezirk, Kreis und in schlichten Rahmen die farbigen Porträts zweier
führender Politiker.
Auf seinem fast leeren Schreibtisch entdeckte Kreutzer einen
Aktendeckel, an dem oben ein Zettel befestigt war. Mit
Rotstift hatte jemand gut lesbar darauf geschrieben:
„Dringend! Sofort in Angriff nehmen. Grigo“. Grigo war die
Abkürzung für Hauptmann Herbert Grigoleit, Abteilungsleiter
und Kreutzers unmittelbarer Vorgesetzter. Kreutzer zog sich
mit dem Fuß den Stuhl heran und setzte sich. Ohne den
Mantel auszuziehen, begann er zu lesen.
Kurz darauf betrat ein junger Mann geräuschvoll das Zimmer.
Es war Kreutzers Assistent, Unterleutnant Dieter Arnold.
Vierundzwanzig Jahre war er alt, überragte seinen Chef um
Haupteslänge, hatte fünf Dienstjahre bei der Volkspolizei hinter
sich und vor Kurzem seinen zweiten Lehrgang mit
überdurchschnittlichen Leistungen beendet. Kreutzer stand ihm
mit zurückhaltendem Wohlwollen gegenüber, er schätzte
Arnolds Fleiß und seine umsichtige Art, an ein Problem
heranzugehen. Nicht ganz nach seinem Geschmack war ihm
Arnolds lockeres Mundwerk und eine gewisse
Respektlosigkeit, mit der er sich oft auch über ernste Fragen
lustig machte.
„Schönen guten Morgen!“, sagte Arnold gut gelaunt. Er hing
seine Lederjacke auf einen Bügel und schloss die knarrende
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Schranktür. „Ein herrlicher Tag heute.“
„Morgen“, brummte Kreutzer, ohne aufzusehen, und winkte ihn
heran. „Hier, sehen Sie mal. Schwerer Verkehrsunfall in der
vergangenen Nacht.“
„Was haben wir denn damit zu tun?“, fragte Arnold
argwöhnisch.
„Unfallflucht.“
„Ach so. Weiß Grigo schon Bescheid?“
Kreutzer deutete auf den Zettel, den er in den Falzrand seiner
Schreibunterlage geschoben hatte. Arnold warf einen Blick
darauf und seufzte, doch sein Chef verzog nur flüchtig den
Mund zu einem halben Lächeln und vertiefte sich wieder in die
Akte. Arnold trat um den Schreibtisch und beugte sich über
Kreutzers Schulter.
Nachdem er einige Minuten mitgelesen hatte, richtete er sich
auf und schlug mit der flachen Hand auf den Schreibtisch. „Ich
begreife nicht, was in diesen Schweinehunden vorgeht! Einen
Menschen über den Haufen fahren und dann hilflos liegen
lassen; soll er doch verrecken, Hauptsache ist, ich habe
keinen Ärger. Ein Kerl, der so etwas fertigbringt, muss doch
durch und durch ein Lump sein!“
Kreutzer blickte seinen Kollegen stirnrunzelnd an. „Wer sagt
Ihnen denn, dass es ein Mann war? Unsere Aufgabe ist es,
den Täter zu überführen, und dabei brauchen wir einen kühlen
Kopf. Ich halte nicht sehr viel von der psychologischen
Motivierung, weder gegen noch für den Verdächtigen, man
kann da allzu leicht aufs Glatteis geraten. Beweisbare
Tatsachen sind mir lieber, dabei gibt es keine Mogelei. Jeder
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halbwegs gerissene Halunke versteckt sich doch heutzutage
hinter einem seelischen Defekt. Na, gut ...“ Er winkte ab und
schaute wieder in die Akte. „Wie ich hier lese, sind alle
Tatortspuren der Kriminal-Technischen Untersuchungsstelle
zugestellt worden. Rufen Sie bitte dort an, und fragen Sie,
wann wir mit dem Ergebnis rechnen können. Solange wir nicht
wenigstens wissen, was für ein Wagentyp den Unfall
verursacht hat, können wir mit der Fahndung nicht beginnen.“
Arnold suchte sich das Telefonverzeichnis und begann darin zu
blättern. Kreutzer sagte, ohne aufzusehen: „Gehen Sie ’rüber
ins Sekretariat, und lassen Sie sich die Verbindung herstellen.
Die haben die Nummer im Kopf.“ Achselzuckend verschwand
Arnold aus dem Zimmer.
Nach einer knappen Viertelstunde kehrte er zurück.
„Die Kriminal-Technische Untersuchungsstelle teilt mit, dass
vor dreizehn Uhr keinesfalls mit dem Abschluss der
Spurenauswertung zu rechnen ist. Wenn wir dringend das
Ergebnis brauchen, können wir uns am frühen Nachmittag
mündliche Auskunft holen. Der schriftliche Bericht wird erst
gegen Abend fertig.“
„Mit wem haben Sie gesprochen?“, fragte Keutzer und schloss
sein Taschenbuch, in dem er sich Notizen gemacht hatte.
„Mit Doktor Fritsche.“
„Aha. Warum hat es so lange gedauert?“
„Ich habe noch im Krankenhaus angerufen und mich nach dem
verletzten Radfahrer erkundigt. Er wurde in der Nacht operiert
und ist noch immer bewusstlos. In etwa drei Stunden sollen
wir wieder nachfragen, vielleicht können sie uns dann schon
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sagen, wann eine Vernehmung möglich ist.“
„Tüchtig, tüchtig“, sagte Kreutzer. „Dann wollen wir versuchen,
uns erst einmal ein Bild von der Sache zu machen. Setzen Sie
sich, ich werde Ihnen erzählen, was ich inzwischen aus der
Akte erfahren habe.“
Arnold setzte sich hinter seinen Schreibtisch, und Kreutzer
begann: „Gestern Abend gegen zweiundzwanzig Uhr findet
eine junge Lehrerin kurz vor dem Ortseingang Philippsthal
einen schwer verletzten Radfahrer. Es ist der
dreiundzwanzigjährige Traktorist Siegfried Laabs. Etwa
zwanzig Minuten später treffen Rettungswagen und
Unfallkommando in Philippsthal ein. Der Arzt stellt bei dem
Verletzten eine Fraktur des linken Oberschenkels,
Rippenbrüche und innere Blutungen fest. Er lässt ihn in das
Bezirkskrankenhaus überführen. Auskunft über die Ursache
des Unfalls kann der Verunglückte nicht geben, da er sich in
einer tiefen Ohnmacht befindet. Der Arzt schließt aus dem
Zustand der Schürfwunden, dass sich der Unfall ungefähr
eineinhalb bis zwei Stunden vorher ereignete, also zwischen
acht und halb neun Uhr abends.“
„Es kommt mir etwas merkwürdig vor“, wandte Arnold ein,
„dass der Mann zwei Stunden unbemerkt auf der Straße
gelegen haben soll. Abends um neun Uhr sind doch noch eine
Menge Leute unterwegs.“
„Es herrschte sehr starker Nebel“, sagte Kreutzer. Er erhob
sich und trat an die Wandkarte des Kreisgebietes. Seine Hand
deutete auf eine hellgrün schraffierte Fläche, durch die sich die
blaue Ader eines Wasserlaufs zog.
„Sehen Sie, hier am Rande der Nutheniederung befindet sich
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die Unfallstelle. Der Fluss wird dort von feuchten Wiesen
gesäumt, über denen sich während rascher Abkühlungen,
besonders bei Hochdruckwetter im Herbst, dichte Nebelfelder
bilden. So auch gestern Abend, nach dem sonnigen Tag. Die
Strecke zwischen Philippsthal und Güterfelde ist keine
Fernverkehrsstraße und wird relativ selten befahren. Der
Verletzte lag am Straßenrand. Selbst wenn jemand
vorbeigekommen ist, war es bei dem dichten Nebel leicht
möglich, dass er den Mann gar nicht bemerkte.“
Arnold nickte.
Kreutzer kehrte auf seinen Platz zurück und fuhr fort: „Bei der
Spurensicherung suchte man mit Scheinwerfern und
Handlampen einen hundert Meter langen Straßenabschnitt
sorgfältig ab. Man fand ein zertrümmertes Fahrrad, die
Bremsspur und die Reifenabdrücke eines Autos, verstreute
Scherben vom Glas eines Scheinwerfers und die
Reifenabdrücke des Fahrrades. Aus diesen Spuren und ihrer
Lage zueinander ist der Unfall in großen Zügen so
rekonstruiert worden: Der Radfahrer kam aus einem Feldweg
etwa zweihundertundfünfzig Meter vor dem Ortseingang
Philippsthal und bog auf die Straße ein. Sein Fahrrad war nicht
beleuchtet. Es hat zwar eine Lichtanlage, die aber nicht
funktionierte, weil das Kabel an zwei Stellen durchgerostet ist.
Aus noch ungeklärten Gründen fuhr er nicht rechts, sondern
mitten auf der Fahrbahn. In diesem Augenblick näherte sich
von Philippsthal her ein Fahrzeug. Der Fahrer erkannte den
Radfahrer zu spät. Er versuchte erst wenige Meter vor dem
Zusammenprall nach rechts auszuweichen und geriet dabei mit
dem rechten Vorder- und Hinterrad auf den Sommerweg. Der
Wagen erfasste mit dem linken Vorderkotflügel den Radfahrer
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und schleuderte ihn über die Motorhaube und den
Sommerweg bis an den Rand des Straßengrabens. Nach dem
Zusammenstoß trat der Fahrer scharf auf die Bremse, ließ
den Wagen dann etwa zwanzig Meter rollen und raste plötzlich
davon, ohne sich um den Verletzten zu kümmern. Aus den
Spuren auf dem Sommerweg geht eindeutig hervor, dass der
den Unfall verursachende Wagen nicht gehalten hat.“
Kreutzer stemmte die Hände gegen die Schreibtischkante und
sah zu Arnold hinüber. „Soweit die Fakten“, sagte er. „Was
können Sie damit anfangen?“
Arnold schnitt eine verzweifelte Grimasse. „Nichts. Nicht mal
der Teufel könnte mit diesen armseligen Hinweisen
weiterkommen. Wir müssen warten, ob die KTU etwas
herausfindet. Und selbst dann stehen wir vor dem Problem,
eine Stecknadel im Heuhaufen zu finden, vorausgesetzt, dass
wir im richtigen Heuhaufen suchen.“
Er verspürte ein heftiges Verlangen, sich eine Zigarette
anzuzünden, aber da er wusste, mit welcher Inbrunst Kreutzer
das Rauchen verabscheute, unterdrückte er es und knabberte
stattdessen ein wenig am Daumennagel.
„Düstere Perspektiven“, sagte Kreutzer. Er warf einen Blick
auf seine Armbanduhr. „Es ist jetzt kurz nach neun. Sehen wir
uns mal die Unfallstelle an.“
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3. Kapitel
Der EMW fuhr über die Lange Brücke, die sich mit zwei
breiten Fahrbahnen von der Innenstadt her über die Havel
spannt. Im ruhigen Wasser bei der Dampferanlegestelle zogen
Schwäne ihre Kreise, und an den betonierten Kais lagen die
Motorschiffe der Weißen Flotte, der Ausflügler harrend, die in
hellen Scharen mit Kindern, Fotoapparaten und dicken
Provianttaschen heranrückten. Als sie aus der Stadt heraus
waren, kurbelte Kreutzer das Fenster herunter. Der Geruch
von Benzin, warmer Waldluft und frischem Heu wehte in den
Wagen. Auf einem Getreideschlag ratterten die Mähdrescher
und schleppten Staubschleier hinter sich her. Dunkelgrüne
Kartoffeläcker, Landschaften mit Wiesen und Buschwerk,
Kiefernwälder glitten vorüber. Nach einiger Zeit senkte sich die
Straße in einen Wiesengrund, schwang unter einer Bahnlinie
hindurch und führte auf das Dorf Philippsthal zu, dessen
Schilfdächer sich unter die Kronen herbstbunter Bäume
duckten.
Dann waren sie in der weitläufigen Ortschaft. Gänse
kreischten dem Auto entgegen, und der Mann am Lenkrad
musste aufpassen, dass er ihnen nicht über die
angriffslustigen Hälse fuhr.
Vor der Schule, einem roten Backsteinbau mit weißen
Fenstern, stoppte der Wagen. Kreutzer und Arnold stiegen die
Stufen zur Eingangstür hinauf und kamen in einen kühlen,
halbdunklen Flur. An einer Tür war mit Reißnägeln ein Stück
Karton befestigt, auf dem in Druckbuchstaben
LEHRERZIMMER stand. Sie klopften und traten ein. Es war
ein niedriger Raum mit Balkendecke und hell getünchten
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Wänden. In einer Ecke lehnten zusammengerollte Landkarten,
die Dielen waren bedeckt mit Stapeln von Schulbüchern, und
auf einem alten Bauernschrank hockten wie auf einer Galerie
ausgestopfte Vögel. In der Nähe des Fensters standen zwei
Schreibtische. An dem einen saß hinter Schulheften und
farbigen Tintenfässern ein junger Mann. Er trug eine
dickrandige Hornbrille, die kaum Halt auf seiner Stupsnase
fand. Als er die beiden Männer erblickte, erhob er sich und
schloss hastig die Knöpfe seines Flanellhemdes.
„Wir möchten gern Fräulein Schwarzhaupt sprechen“, begann
Kreutzer. „Sie unterrichtet doch hier, nicht wahr?“
„So ist es. Kommen Sie wegen des Unfalls gestern Nacht?“
Kreutzer nickte.
Der junge Mann dachte einen Moment nach. „Sie hat gerade
Unterricht“, sagte er dann, „aber ich werde sie holen.“
„Vielen Dank!“
Der junge Mann winkte ab. „Bitte, nehmen Sie doch Platz.“ Er
wies auf zwei Stühle, die neben der Tür standen, nahm einen
Stoß Hefte vom Schreibtisch und verließ das Zimmer.
Kreutzer setzte sich, Arnold trat an das geöffnete Fenster. Im
Schulgarten blühten Malven, Astern und Gladiolen, und es gab
auch Gemüse. An jedem der Beete steckte ein Schild, das
Auskunft gab, welcher Klasse es gehörte. Die Sonne schien
warm, es herrschte ländliche Stille.
Nach kurzer Zeit hörte man Schritte auf dem Flur, dann trat
Fräulein Schwarzhaupt in das Zimmer. Sie wirkte nicht mehr
so gespenstisch wie am Abend zuvor. Eine weiße Bluse und
ein sportliches Kostüm gaben ihr natürliche Frische; ihr Haar,
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das in lockeren Wellen bis auf die Schultern fiel, schimmerte
rötlich im Sonnenlicht. Die lebhaften Augen und einige
Sommersprossen auf der Nase ließen sie noch jünger
erscheinen, als sie war.
Kreutzer stellte sich und seinen Kollegen vor und bat darum,
an die Unfallstelle geführt zu werden.
„Sehr gern“, sagte Fräulein Schwarzhaupt, „wenn ich Ihnen
damit helfen kann.“ Sie trat an den Bauernschrank, öffnete die
Doppeltür und nahm einen weißen Dederonanorak vom Bügel.
Als sie auf die Dorfstraße hinaustraten, schob der Fahrer
seine Zeitung unter die Sonnenblende und ließ den Motor
anspringen.
„Wie weit ist es zu Fuß?“, fragte Kreutzer.
„Etwa fünf Minuten“, sagte sie.
„Dann können wir laufen, einverstanden?“
Sie nickte. Er winkte zum Wagen hinüber, und das Brummen
des Motors verstummte.
Sie gingen die breite, von alten Lindenbäumen gesäumte
Straße entlang. Hinter den Tüllgardinen tauchten Gesichter
auf, und hin und wieder trat jemand in die niedrige Tür seines
Hauses und musterte die Fremden mit ungenierten Blicken.
„Wie kam es eigentlich“, begann Kreutzer, „dass Sie zu so
später Stunde allein unterwegs waren?“
Fräulein Schwarzhaupt lächelte. Sie hatte die Hände auf dem
Rücken zusammengelegt, und das Seidenfutter ihres Rockes
raschelte beim Gehen. „Ich habe mir angewöhnt, vor dem
Schlafengehen einen Spaziergang zu machen.“
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„Das ist bemerkenswert. Es gibt viele Frauen, die sich im
Dunkeln fürchten, besonders in der freien Natur.“
„Nein, ich fürchte mich im Allgemeinen nicht. Aber ich will gern
zugeben, dass mir gestern Abend etwas unheimlich zumute
war. In dem dichten Nebel wirkte jeder Strauch und jedes
Geräusch gespenstisch, und ich hatte eine Vorahnung von
Gefahr, wenn es so etwas wie Ahnungen überhaupt gibt.
Vielleicht war es auch nur pure Einbildung. Die Leute hier in
der Gegend erzählen mit Vorliebe Spukgeschichten, und die
Kinder bringen sie dann mit in die Schule. Ob man will oder
nicht, ein wenig davon bleibt doch hängen.“
Sie zuckte die Schultern und sah ihre Begleiter forschend an.
Ihr Mund verzog sich zu einem leichten, spöttischen Lächeln.
Kreutzer unterdrückte die Versuchung, eine ironische Attacke
wider den Aberglauben zu reiten. Es würde zu weit führen,
sagte er sich und fragte stattdessen: „Wann gingen Sie von zu
Hause fort?“
„Gegen halb zehn.“
„Dann waren Sie etwa eine halbe Stunde unterwegs, als Sie
den Verletzten fanden?“
„Ja. Ich war bereits auf dem Rückweg.“
„Sie kamen von der Brücke, nicht wahr? Dann müssten Sie
doch auf dem Hinweg auch an der Unfallstelle
vorbeigekommen sein.“
„Nein, ich habe einen Rundgang gemacht, wie üblich. Ein
Stückchen flussabwärts ist die Eisenbahnbrücke. Von dort bin
ich gekommen, dann am Ufer entlang über die Straßenbrücke
und zurück ins Dorf.“
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Die Unfallstelle lag in einer Kurve. Schräg gegenüber, auf der
anderen Straßenseite, befand sich die Einmündung des
Feldweges, der am Rande eines gerodeten Kartoffelackers
entlangführte. Noch immer glimmte das Krautfeuer, und der
Rauch mischte sich mit dem Heuduft der Wiesen.
Die Lehrerin setzte ihre Fußspitze in einen verblassten
Kreidekreis in der Mitte der Fahrbahn und erklärte, dies sei
der von den Unfallexperten ermittelte Punkt des
Zusammenstoßes. Ein Kreuz, weiter am Rande, nahe dem
Sommerweg, kennzeichnete die Stelle, an der das Fahrrad
gelegen hatte. Etwa vier Meter davon entfernt, am Fuße einer
Ulme, hatte sie den Verunglückten gefunden.
„Ist Ihnen der Mann bekannt?“, fragte Kreutzer. „Er wohnt
doch in Ihrer Gemeinde.“
„Ja, er heißt Siegfried Laabs. Ich kannte ihn vom Sehen, aber
seinen Namen erfuhr ich erst gestern Abend nach dem Unfall.“
„Was ist er von Beruf?“
„Traktorist auf dem MTS-Stützpunkt hier.“
„Können Sie sich denken, woher er kam, als er gestern Abend
von diesem Feldweg auf die Straße einbog?“
Man erzählt, er hätte eine Freundin in Drewitz; das ist eine
Siedlung, etwa acht Kilometer entfernt.“ Sie deutete in
nördlicher Richtung über die Felder. „Er fährt jedenfalls des
Öfteren mit dem Motorrad dorthin.“
„Motorrad? Warum fuhr er denn gestern mit dem Fahrrad?“
„Das weiß ich nicht.“
„Hat er Eltern oder Verwandte im Dorf?“
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„Nein. Wie ich hörte, kommt er aus der Gegend von Trebbin
und hat ein Zimmer im Wohnheim der MTS.“
„Was ist Laabs für ein Mensch?“
„Ich kenne ihn, wie gesagt, kaum. Manchmal habe ich ihn mit
seinen Freunden gesehen, wenn sie an Tanzabenden vor der
Dorfgaststätte standen und mit den Mädchen alberten. Aber
das machen wohl in diesem Alter die meisten Jungen.“
Kreutzer lächelte. „Kennen Sie einen seiner Freunde mit
Namen?“
„Ich glaube, mit dem Rudi Noak ist er öfter zusammen. Der ist
auch Traktorist.“
„Begegnete Ihnen jemand auf Ihrem Spaziergang, oder haben
Sie irgendein Fahrzeug gehört?“
„Nein, niemand. Auch ein Fahrzeug habe ich nicht gehört, wenn
ich mich recht erinnere.“
„Tja“, sagte Kreutzer, „ich glaube, das wäre vorläufig alles,
Fräulein Schwarzhaupt. Gehen wir zurück.“ Er warf noch einen
letzten prüfenden Blick auf den Unfallort, und dann wandten
sie sich dem Dorfe zu.
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4. Kapitel
Sie saßen in ihrem Wagen und fuhren zurück nach Potsdam,
als Arnold sagte: „Wie wäre es, wenn wir jetzt dem Laabs
einen Besuch abstatten? Am Telefon machen sie nur
Ausflüchte, aber sind wir einmal da, können sie uns nicht so
leicht abwimmeln.“
„Einverstanden“, erwiderte Kreutzer. „Also zum Krankenhaus.“
„Haupteingang Berliner Straße?“, fragte der Fahrer. „Natürlich,
Sie wissen doch Bescheid.“
Die einzelnen Gebäude des Bezirkskrankenhauses verteilten
sich über ein weitläufiges Gelände. Nach einer intensiven
Beschäftigung mit Kreutzers Dienstausweis gestattete ihnen
der Pförtner, dass sie mit dem Wagen hineinfahren durften.
Auf verschlungenen Wegen ging es über mehrere Höfe,
entlang an Baracken und efeubewachsenen Bauwerken
preußischer Gotik, ehe sie durch eine enge Toreinfahrt auf
einen Platz gelangten, der auf allen vier Seiten von hohen
Häusern umschlossen war. Die Mitte wurde von einer
Rasenfläche eingenommen, und darauf stand eine Bronzefigur,
die ihre Arme dem Himmel entgegenstreckte.
Viele Generationen hatten zu dieser Gesundheitsfabrik ihren
Beitrag geleistet. Das Gebäude der Chirurgischen Klinik
stammte aus der Bauhauszeit. Ein viereckig vorspringender
Betonklotz bildete den Eingang, darüber erhob sich ein
gläserner Schacht, in dem sich eine Treppe um das
Fahrstuhlgestänge wand.
Als Kreutzer und Arnold die Pendeltüren öffneten, schlug ihnen
eine Mischung aus Desinfektion und Mittagessen entgegen. In
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der Anmeldung erfuhren sie, dass der Chefarzt im dritten
Stock, Zimmer 327, zu finden sei. Über die Wendeltreppe im
Glasschacht stiegen sie nach oben.
Chefarzt Dr. Eisenlieb empfing sie wohlwollend. Er war schon
informiert, offensichtlich funktionierte das Nachrichtensystem
einwandfrei. Er war ein großer, hagerer Mann mit spärlichem,
exakt gescheiteltem Haar. Seine Erscheinung machte vom
Kopf bis zu den Sohlen seiner weißen Schuhe einen so
frischen, entschlackten, blütenreinen und bakterienfreien
Eindruck, als sei er soeben dem Sterilisator entstiegen. Er
hatte ein eigenartig nacktes Gesicht, in dem eine rechteckig
geschliffene Brille blitzte, und dazu einen Zug von
aristokratischer Unnahbarkeit in den Mundwinkeln.
Sie wurden in das private Arbeitszimmer geführt. Dr. Eisenlieb
bot ihnen Platz auf den Stühlen aus Aluminiumrohr an, die mit
dunkelblauem Markisenstoff bespannt waren. Er öffnete eine
Bernsteinkassette mit Zigaretten und reichte sie herum.
Kreutzer lehnte dankend ab. Rauchen fördere Krebs und
Kreislaufstörungen.
Der Chefarzt starrte ihn sekundenlang irritiert an. Dann schlug
er schwungvoll cm Bein über das andere, setzte Arnolds und
seine Zigarette mit einem schweren Bernsteinfeuerzeug in
Brand und sagte nach einem tiefen Lungenzug: „Gut und
schön. Mit welchen Auskünften kann ich Ihnen also dienlich
sein, meine Herren?“ Dabei ließ er den Rauch aus Mund und
Nasenlöchern strömen.
Kreutzer lehnte sich zurück. „Wir möchten gern mit dem
Verunglückten sprechen, der in der letzten Nacht bei Ihnen
eingeliefert wurde. Sein Name ist Siegfried Laabs.“
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Dr. Eisenlieb machte ein besorgtes Gesicht. „Der Patient war
bis vor Kurzem bewusstlos. Er hat eine Oberschenkelfraktur,
Rippenbrüche und Fleischwunden, es musste eine
Bluttransfusion durchgeführt werden. Außerdem besteht der
Verdacht einer Milzverletzung, sodass möglicherweise noch
eine Operation nötig ist. Alles in allem befindet er sich in einem
so bedenklichen Zustand, dass ich keinerlei zusätzliche
Belastung, gleich welcher Art, gestatten darf.“
„Es handelt sich hier doch um die Aufklärung eines
Verbrechens.“
Dr. Eisenlieb unterbrach mit einer abwehrenden
Handbewegung. „Ich weiß, ich weiß! Ihre Aufgabe in allen
Ehren, meine Herren, aber ich als Arzt bin in erster Linie für
das Wohl des Patienten verantwortlich.“
Kreutzer schob ein wenig die Unterlippe vor. „Und unsere
Aufgabe ist es in diesem Fall, zu verhindern, dass Sie mehr
Kranke als unbedingt notwendig haben.“
Seine Stimme blieb ruhig, wenn sie auch etwas härter klang
als gewöhnlich.
„Herr Laabs ist das Opfer eines Verbrechers, der weder
Verantwortung noch Gewissen hat. Es besteht die Gefahr,
dass ein Mensch mit dieser rücksichtslosen Einstellung zum
Leben der Mitmenschen jeden Augenblick neue Verbrechen
begeht. Deshalb brauchen wir ohne Zeitverlust die Aussage.“
„Ich bitte Sie“, sagte Dr. Eisenlieb etwas betroffen, „es
besteht keinerlei Anlass, sich zu erregen! Es war lediglich
meine Absicht, Sie darauf hinzuweisen, in welch einer ernsten
Lage sich der Patient befindet. Wenn Sie allerdings der
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Meinung sind, dass eine Vernehmung unbedingt notwendig ist
...“
Er brach ab und zuckte resignierend mit den Schultern. Dann
drückte er auf einen Summer, und in Sekundenschnelle
tauchte im Türrahmen ein Gesicht unter einer weißen Haube
auf.
„Oberschwester, wie steht es mit dem Unfall von letzter
Nacht? Ist ein kurzes Gespräch möglich?“
„Der Patient ist im Augenblick bei Bewusstsein, Herr Chefarzt.
Ob es allerdings zu empfehlen ist, schon jetzt Besuch zu
gestatten ...“
Die weiße Haube wiegte sich zweifelnd hin und her,
verschwand aber auf einen Wink des Arztes hinter der sich
lautlos schließenden Tür.
„Ist bei der Untersuchung festgestellt worden“, fragte
Kreutzer, „ob in einem organischen Leiden des Verunglückten,
einem Schwächeanfall zum Beispiel, eine der Unfallursachen
zu vermuten ist?“
Eisenlieb stieß mit einem knackenden Geräusch Rauch durch
die Nase. „Schwächeanfall, das ist gut! Laabs war, gelinde
gesagt, voll wie ein Wurm in Spiritus. Drei Komma acht
Promille. Organisch ist der Mann kerngesund. Rätselhaft bleibt
allerdings, wie er sich mit dem Alkoholspiegel überhaupt auf
dem Fahrrad halten konnte.“
„Tja“, sagte Kreutzer, „er hielt sich aber. Können wir jetzt mit
ihm sprechen?“
„Bitte. Aber nur das Allernotwendigste und mit größter
Schonung.“
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Eisenlieb drückte seine Zigarette aus, führte sie über den Flur
und öffnete die Tür zu einem kleinen, hellen Krankenzimmer.
Auf einem hohen Bett lag der Verunglückte. Unter der
gebräunten Haut war sein Gesicht von unnatürlicher Blässe. Er
trug einen Kopfverband, aus dem ein Büschel dunkler Haare
hervorsah, und rang sich beim Anblick der Männer mühsam ein
Grinsen ab.
„Herr Laabs, hier sind zwei Herren von der Kriminalpolizei“,
sagte der Chefarzt, „die Ihnen einige Fragen stellen wollen.
Sprechen Sie sowenig wie möglich, nicken Sie nur mit dem
Kopf.“
Kreutzer zog sich einen Stuhl heran und setzte sich dicht
neben das Bett, sodass er dem Kranken in die Augen sehen
konnte.
„Sie waren gestern Abend mit dem Fahrrad unterwegs.
Kamen Sie aus Drewitz?“
Kopfnicken.
„Um welche Zeit war das? Etwa zwanzig Uhr dreißig?“ Laabs
dachte angestrengt nach.
„Nee. So um halb neun bin ich aus Drewitz weg.“ Er sprach
leise, war aber deutlich zu verstehen.
„Warum waren Sie gestern mit dem Fahrrad unterwegs? Sie
haben doch ein Motorrad?“
Siegfried Laabs zog die Augenbrauen zusammen. Sein Mund
wurde klein und böse.
„Das war Rudi, der Hund. Der hat mir die Kerze geklaut und
die Luft aus den Reifen gelassen. Das hat er ja schon mal
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gemacht.“
„Aus welchem Grund?“
„Wegen Karin - die blöde Gans!“
„Wer ist denn Karin?“
„Seine Schwester.“
„Was haben Sie mit dem Mädchen zu tun?“
Laabs wurde sichtlich verlegen. Seine Finger zuckten auf der
Bettdecke. Er schluckte heftig und sagte: „Na - die kriegt doch
ein Kind.“
„Und Sie sind der Vater?“
Laabs schüttelte den Kopf. „Wieso denn? Davon ist noch gar
nichts bewiesen. Die treibt sich mit jedem ’rum. Deshalb habe
ich ja Schluss gemacht.“
„Ach so“, sagte Kreutzer, „jetzt haben Sie also eine neue
Freundin in Drewitz, und Karins Bruder ist darüber verärgert.“
Kopfnicken.
„Wie heißt dieser Rudi mit Nachnamen?“
„Noak.“
„Das ist doch Ihr Freund?“
„Nicht mehr.“
„Halten Sie es für möglich, dass der Unfall ein Racheakt von
Rudi ist?“
Laabs bekam runde Augen. Eine Falte bildete sich über seiner
Nasenwurzel. Dann murmelte er: „Dem Schuft ist alles
zuzutrauen.“
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„Na schön. Wie lange fahren Sie mit dem Rad bis Philippsthal?
Dreißig Minuten?“
„Ungefähr.“
„Dann muss der Unfall gegen einundzwanzig Uhr stattgefunden
haben?“
Kopfnicken.
„Sie fuhren ohne Licht?“
„Bloß über die Felder. War ja ’n ganz heller Mond, man hätte
glatt Zeitung lesen können. Der Nebel kam ja erst kurz vorm
Dorf, da, wo der Weg über die Wiesen führt.“
Dr. Eisenlieb lehnte mit auf dem Rücken verschränkten Armen
am Türrahmen.
„Nicht so viel sprechen!“, sagte er.
Laabs warf ihm aus den Augenwinkeln einen unsicheren Blick
zu und nickte.
„Wie groß war die Sichtweite, als Sie im Nebel kurz vor
Philippsthal vom Feldweg auf die Chaussee einbogen? Drei
Meter?“
Schulterzucken.
„Hörten Sie ein Fahrzeug kommen?“
„Nö, eigentlich nicht. Ich habe ja gesungen.“
„Gesungen?“
Kreutzer zog die Stirn in Falten und blickte Arnold fragend an.
„Bemerkten Sie nicht die Scheinwerfer?“
„Doch, aber da war es schon zu spät.“
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„Sie wurden geblendet?“
Kopfnicken.
„Erkannten Sie den Fahrzeugtyp?“
Kopfschütteln.
„War es ein Lastwagen oder ein Personenwagen?“
„Eher ein PKW. Kam mir ziemlich klein vor.“
„Als Traktorist mussten Sie doch gehört haben, ob es ein
Zweitakter oder ein Viertakter war?“
Schulterzucken.
„Wie viel Scheinwerfer haben Sie gesehen?“
„Zwei.“
„Waren es nicht vier? Zwei weiße und zwei gelbe?“
Kopfschütteln.
„Warum fuhren Sie nicht rechts, sondern mitten auf der
Fahrbahn?“
Schulterzucken.
„Sie waren betrunken, nicht wahr?“
Auf Stirn und Oberlippe des Patienten hatten sich kleine
Schweißperlen gebildet. Seine Augenlider flackerten, und er
begann heftiger zu atmen.
„Hatten Sie getrunken, Herr Laabs?“
Das Gesicht des Kranken zuckte, eine fiebrige Röte
überflammte es. Er schloss die Augen und wandte den Kopf
ab.
„Antworten Sie! Sie standen unter Alkohol und haben den
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Verkehr gefährdet!“
„Schluss!“, sagte Dr. Eisenlieb scharf. „Hier ist ein
Krankenhaus! Sie sehen doch, dass Sie ihn quälen. Kommen
Sie später wieder!“
Kreutzer erhob sich mit einem Ruck. Er nahm den Stuhl und
stellte ihn hart in die Ecke. Er war wütend auf sich selbst,
dass er sich in seiner Abneigung gegen einen Säufer so hatte
hinreißen lassen. Aber noch mehr ärgerte er sich über
Eisenliebs Bemerkung. Dieser Mensch spielt sich auf, als
müsste er die Menschenrechte verteidigen, dachte er. Der
Abschied war frostig. Eisenlieb nickte knapp mit dem Kopf, die
Brille blitzte, um seine blutleeren Lippen zuckte ein mokantes
Lächeln. Kreutzer drehte sich abrupt um, Arnold sagte „Guten
Tag“, machte eine leichte Verbeugung und folgte seinem Chef.
Als sie im Wagen saßen, der in langsamer Fahrt den Weg zum
Ausgang suchte, knurrte Kreutzer: „Ich könnte mich ohrfeigen!
So etwas darf doch einfach nicht passieren, verdammt noch
mal!“
Sein Gesicht war hochrot, und er stemmte die geballten
Fäuste unter das Kinn.
Arnold musste ein Lächeln unterdrücken. Noch nie hatte er
seinen Chef so erregt gesehen. Bisher war Kreutzer stets von
kühler Sachlichkeit gewesen, und nur in seltenen Fällen, wenn
sein Gesprächspartner sich zu stupid benahm oder hinter
unsinnigen Behauptungen Schutz suchte, konnte er sarkastisch
werden. Arnold hatte beinahe geglaubt, sein Chef sei gar nicht
fähig, die Beherrschung zu verlieren. Im gewissen Sinne war
er froh darüber, dass er sich geirrt hatte; dennoch begriff er
nicht recht, weshalb er eigentlich so aus der Fassung geraten
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