JOHANN GOTTFRIED HERDER (1744
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JOHANN GOTTFRIED HERDER (1744
Herder Philosophie der Geschichte Wolfjc Vorlesung Herbst 2008 JOHANN GOTTFRIED HERDER (1744-1803) (1) Herder war Theologe, Philosoph, Philolog, Poet und Literaturkritiker. Wie Lessing vertritt er einen Pantheismus, den er aber mit den wichtigsten Lehren des Christentums für vereinbar hält. In der Geschichte zeigt und verhüllt sich das göttliche Wesen. (2) Grundlage von Herders Theorie der Geschichte ist jedoch eine natürliche Anthropologie. Der Mensch ist in einer natürlichen Entwicklungsgeschichte aus dem Tierreich hervorgegangen. Die Kulturgeschichte ist Fortsetzung der prähistorischen Hominisation. Es gibt keine absolute Kluft zwischen Tier-Mensch-Gott. (3) Herder hält die Naturgeschichte als vereinbar mit pantheistischen und deistischen Auffassungen. Er hat der späteren Rezeption von Lamarck und Darwin in Deutschland mit seinem Begriff der Entwicklung vorgearbeitet. Die Evolution wird allerdings nach einem Bildungs- und Gestaltungsgesetz der Natur erklärt, nicht mit Selektion und Umweltanpassung wie bei Darwin. Nach Herder ist der Mensch ein Tier, aber er ist auch einzigartig in der Evolution. (4) Die natürliche Anthropologie betont nicht die Vernunft oder Autonomie, sondern die tiefe Abhängigkeit des Individuums von allen anderen, von Bildung und Tradition. Der Mensch wird in Abhängigkeit von seinen Eltern geboren. Der Säugling ist „beinahe ohne Instinkt geboren“ bleibt sehr lange abhängig von seinen Eltern und einer günstigen Umgebung. Im Unterschied zu den Tieren ist der Mensch ein „Mängelwesen“: der Neugeborene bedarf der Liebe und der Bildung, um lebensfähig zu werden. Niemand wird durch sich selbst Mensch. Nur im Austausch mit anderen entwickeln sich alle Fähigkeiten. (5) Die natürlichen Mängel werden ergänzt durch eine natürliche Empfänglichkeit für die Bildung und Unterstützung durch seine Umwelt, aber auch durch seine natürlichen Vorzüge wie die Bildung der Hände, den aufrechte Gang und den spezifische Bau des Gehirns. Der Mensch ist ein zweideutiges Wesen, das sowohl korruptibel als auch perfektibel ist und sich selber entscheiden muß, in welche Richtung es gehen will. (6) Die Perfektibilität und Korruptibilität gilt nicht nur für den Einzelnen, sondern auch für ganze Völker, ja für die ganze Menschheit. Es gibt eine Erziehung des Menschengeschlechts, wie sie Lessing skizzierte, weil jeder Mensch nur durch Erziehung ein Mensch wird und jeder mit allen anderen eine Kette von Individuen und Traditionen bildet. (7) Herder ist zwar ein Vertreter der Aufklärung, aber er steht dem einseitigen Rationalismus kritisch gegenüber und betont dagegen die Sinne und die „Geschichtlichkeit“ des Menschen. Den subjektiven Sensualismus verbindet er mit der Mode der Gefühlskultur im Zeitalter der Empfindsamkeit und des Sturm- und Drangs. Er beruft sich dabei auf Hamann und Rousseau. Der Mensch ist nicht ein Produkt einer Selbsterschaffung, sondern ein Produkt der Natur und der Geschichte. (8) Die Freiheit des Menschen kann nur eine relative und begrenzte sein; es ist die Freiheit, innerhalb einer Gemeinschaft und innerhalb vorgegebener Traditionen zu leben. Zwar können wir unter verschiedenen Traditionen wählen, aber wir können uns nicht unsere Herkunft oder unser Volk frei wählen. Die Freiheit des Menschen besteht nicht in einer Unabhängigkeit oder Isolation von Geschichte und Tradition. Eine Kritik von Traditionen 1 ist immer eine Kritik innerhalb einer Tradition, die als wahr oder überlegen vorausgesetzt wird. (9) Herder vertritt einen doppelten Determinismus: So wie der Mensch von Klima und Traditionen determiniert wird, so kann er auf seine Weise durch eigen Arbeit diese Einflüsse verändern. (10) Die Sprache ist göttlichen Ursprungs und doch von Menschen gemacht. Sie ist allerdings kein individuelles Artefakt, sondern ein kollektives Produkt. Herder schwankt zwischen einer Mystifikation der Sprache (Sprache als Poesie der Völker) und einer instrumentalen Auffassung: Sprache als Instrument der Verständigung innerhalb der Kulturen und Mittel zur Beförderung der Humanität. (11) Traditionen werden nicht von einzelnen Individuen gemacht, sondern sie sind das Produkt eines unbewussten kollektiven Geistes. Der kollektive Aspekt der Kultur manifestiert sich in den Gebräuchen, in den Gewohnheitsgesetzen und der Volkskultur. Herder hat deutsche Volkslieder gesammelt, um die unbewussten Produkte des Kollektivs zu dokumentieren. (12) Die verschiedenen Völker und Kulturen sind alle gleichermassen Zentren und Quellen von Wahrheiten und Werten. Jede Kultur „ist unmittelbar zu Gott“, das heisst sie hat ihre eigenen Stärken und Schwächen. Kulturen lassen sich schlecht mit einander vergleichen. Jedes Volk lebt in enger Verbindung mit den Wahrheiten und Werten seiner Kultur. Gute Politik („Demokratie“) richtet sich nach den Bedürfnissen der Völker. (13) Herder vertritt einen Kulturrelativismus, der besagt: Es gibt keine höchste oder beste Kultur. Er vertritt aber auch den Anspruch der Wahrheit und der Werte, der für jede Kultur wichtig wird. Die Kulturen als Träger von Teilwahrheiten können sich gegenseitig ergänzen. Offenbar hält Herder den Kulturrelativismus und die Auffassung objektiver Werte nicht für unvereinbar. (14) Die verschiedenen Völker bilden in der Moderne verschiedene Nationen. Nationen sind eher durch ihre Gemeinsamkeit von Sprache, Kultur und Traditionen gebildet, nicht so sehr durch eine gemeinsame ethnische Herkunft. Herder vertritt einen Kulturnationalismus, der patriotisch ist, aber frei von Rassismus und Chauvinismus. Der Mensch ist nicht der geborene Kosmopolit; er sollte sich auch nicht von seiner Herkunft und der ihn umgebenden Kultur entwurzeln. (15) Herder ist ein Prophet der Humanität und Toleranz unter den Völkern. Er verdammt den Krieg und versucht nicht, ihn als notwendig oder nützlich zu legitimieren. Im Konflikt zwischen Humanität und Barbarei hat immer wieder die Humanität triumphiert. Den ewigen Frieden erwartet Herder nicht wie Kant von den Regenten und Verfassungen, sondern von den Völkern. Die französische Revolution hat Herder als das wichtigste Ereignis seit der Reformation betrachtet. (16) Herder verwirft den Krieg als kultur- und fortschrittshemmenden Faktor und kritisiert deutlich die koloniale Ausbeutung sowie den Sklavenhandel. Der Patriotismus sollte möglich sein, ohne Überheblichkeit und Aggression gegen andere Nationen. Die Entwicklung der Menschheit bewegt sich nicht linear auf einen Endpunkt hin, sondern sie wird immer wieder neu angefangen und endet oft in Revolutionen und Vernichtungen, die von den alten Kulturen nur Trümmer und Fragmente zurücklassen. (17) 2 Bibliographie Sämmtliche Werke, hg. von B. Suphan, Berlin 1877ff (SWS), Neudruck Hildesheim 1967, 32 Bände. 1769 Journal meiner Reise im Jahr 1769 1770/1 Abhandlung über den Ursprung der Sprache 1774 Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele 1774 Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit 1784-1791 Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit 1792-1797 Briefe zur Beförderung der Humanität 1799 Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft Berlin, Isaiah (1976): Vico and Herder. Two Studies in the History of Ideas, London: Hogarth Press; New York: Viking (Herder and the Englightment reprinted in Berlin 1997. Förster, Wolfgang (2008): Klassische deutsche Philosophie. Grundlinien ihrer Entwicklung, Frankfurt a.M. etc.: Peter Lang. Gross, Sabine/ Sauder, Gerhard (2008) (Hg.): Der frühe und der späte Herder. Kontinuität und/ oder Korrektur, Heidelberg: Synchron Verlag. Herder, Johann Gottfried (1774/1990): Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit, Stuttgart: Reclam. Herder, Johann Gottfried (1784-1791): Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, fr. Idées sur la philosophie de l’histoire de l’humanité, (livres choisis) Presses Pocket. Herder, Johann Gottfried (1911): Ideen zur Kulturphilosophie. Ausgewählt und herausgegeben von Otto Braun und Nora Braun, Leipzig: Insel (enthält „Journal meiner Reise im Jahre 1769“, „Auch eine Philosophie zur Geschichte zur Bildung der Menschheit“ sowie Auszüge aus den „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“). Herder, Johann Gottfried (1935): Mensch und Geschichte. Sein Werk im Grundriss, hg. von Willi K. Koch, Stuttgart: Kröner (enthält eine repräsentative Auswahl und Spuren der Nazizeit). Herder, Johann Gottfried (1989): Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Herders Hauptwerk, nach den Erstdrucken editiert und umfassend kommentiert, hg. von Martin Bollacher, Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag (Erster Teil 1784; zweiter Teil 1785; dritter Teil 1787). Herder, Johann Gottfried (2000): Histoire et cultures. Une autre philosophie de l’histoire. Présentation par Alain Renaut, Paris: GF-Flammarion. Herder, Johann Gottfried (2007): Staat, Nation, Humanität. Ausgewählte Texte, hg. von Dietmar Willoweit und Janine Fehn, Würzburg: Königshausen & Neumann. Wollgast, Siegried (1998): Deus sive natura: Zum Pantheismus in der europäischen Philosophie- und Religionsgeschichte, in: Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät 27, 8, 5-40. 3