Leben oder Sterben Gedanken zum Welt-AIDS-Tag 2014
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Leben oder Sterben Gedanken zum Welt-AIDS-Tag 2014
Tue was du kannst, mit dem was du hast, wo immer du bist. Theodore Roosevelt Leben oder Sterben Gedanken zum Welt-AIDS-Tag 2014 von Claudia Zeising, ökumenischer Mitarbeiterin von Mission 21 in Tansania In Deutschland gab es mal wieder Debatten um Sterbehilfe und einen würdigen Tod. Ich glaube nicht, dass wir da weitergekommen sind. Sterben und Tod sind so schwierige Themen, dass viele Menschen sich damit gar nicht erst auseinandersetzen wollen. Aber – ob wir wollen oder nicht – am Ende steht für jeden von uns der Tod. Wir gehen der Regel davon aus, dass es uns erst dann trifft, wenn wir unser Leben gelebt haben, wenn wir alt geworden sind. In Afrika ist das anders. Dort gibt es vielfältige Probleme, die dazu führen, dass Menschen viel zu früh sterben und selbst Kinder sich bereits mit dem Tod konfrontiert sehen, oft in einer Weise, die für uns unvorstellbar ist. Menschen sterben an Malaria oder Mangelernährung. Und da ist Aids. Vor etwa 15 Jahren war Aids in Afrika direkt mit dem Gedanken an den Tod verbunden. Wer erfuhr, dass er oder sie mit HIV infiziert war, sah das Ende vorgezeichnet. Aids war eine tödliche Krankheit, ohne Chance auf Heilung. Dies hat sich nur bedingt geändert: Bis heute gibt es keine Heilung für Aids. Aber durch entsprechende Medikamente, wurde aus einer tödlichen Krankheit eine chronische Krankheit. Man überlebt, und je nachdem, in welchem Stadium die medizinische Behandlung beginnt, ist beinahe ein normales Leben möglich. Glücklicherweise gibt es inzwischen in vielen afrikanischen Ländern die Möglichkeit, sich testen zu lassen und Medikamente zu erhalten, aber noch nicht überall. Kinder in Ilolo, Tansania. Kinder leiden am meisten unter den Auswirkungen von HIV/Aids. Foto: Claudia Zeising Dass man mit den entsprechenden Medikamenten überleben konnte, war bereits vor 15 Jahren bekannt, aber die Medikamente waren damals für Afrika nicht erschwinglich, standen damals noch nicht zur Verfügung. Die meisten Afrikanerinnen und Afrikaner wussten davon wenig. Sie kannten nur die Auswirkungen von Aids. In manchen Regionen ging eine ganze Generation verloren, vielleicht sogar mehr. Wir aber wussten es, hätten es wissen können. Daher frage ich mich: «Was haben wir getan, um die Katastrophe auf dem afrikanischen Kontinent und in anderen betroffenen Ländern zu verbessern? Wo war die Hilfe?» Für viele Menschen war und ist das Thema Aids ein Problem anderer Menschen, ein Problem Afrikas zum Beispiel. Ich glaube, dass wir es uns zu einfach machen, wenn wir wegschauen. HIV-Kampagne in Tansanzia: Aufmerksame Zuhörerinnen und Zuhörer. Foto: Regina Mariola-Sagan Leider habe ich das Gefühl, dass die Welt stärker in Konflikten und Gewalt versinkt. Es gibt so viele Unruhe-Herde, interreligiöse oder soziale Konflikte und, daraus resultierend, viele verzweifelnde Menschen. Eine schier unglaubliche Anzahl von Personen ist auf der Flucht. Diese Menschen leben zum Teil unter erschreckenden Bedingungen in Auffanglagern und Flüchtlingsheime. Die politische Diskussion versucht, das Thema zu «versachlichen», aber es geht um Menschen. Haben wir wirklich versucht, uns in die Position derer hineinzuversetzen, die alles verloren haben, die Angst vor dem nächsten Tag haben, die vor Verzweiflung fast verrückt werden? Können wir das ignorieren, von uns weg schieben? Was ist, wenn das Problem vor unserer Tür steht? Wie geht es einem Menschen, der erleben muss, wie geliebte Menschen immer mehr an Kraft verlieren, dahinvegetieren und schliesslich, oft unter Schmerzen, sterben? Erst einer, dann ein weiterer Mensch, und schliesslich wird man selbst krank, erkennt die Zeichen, die man an den Verstorbenen beobachtet hat und weiss, wie das Ende sein wird. Es gibt eine grosse Anzahl traumatisierter Kinder und Erwachsener, die versuchen, ihren Alltag irgendwie zu meistern. Kinder, die im Alter von acht oder neun Jahren sterbende Eltern pflegen. Die mit ansehen müssen, wie die Eltern sterben, ohne zu verstehen, was passiert. Wenn sie Glück haben, werden sie in der Grossfamilie liebevoll aufgefangen. Aber leider ist das die Ausnahme. Oft werden sie einfach weitergereicht, werden als Belastung gesehen. Waisenkinder in der Sekundarschule Lutengano, Region Mbeya, Tansania. Foto: Mission 21 / Armin Zimmermann Es gibt keine psychologische Betreuung, die diesen Kindern helfen würde, das Trauma zu verarbeiten. Es wird erwartet, dass sie dankbar sind, wenn man ihnen ein Bett und zu essen gibt oder sie in die Schule schickt.Es wird erwartet, dass sie funktionieren. Die Fragen in ihrem Kopf, die Angst, all dies bleibt unbearbeitet. Auch viele Erwachsene sind traumatisiert. Wie geht es einer Grossmutter, die erleben muss, wie ihre eigenen Kinder sterben, eins nach dem anderen? Nun hat sie die Verantwortung für Enkelkinder, eventuell auch Ur-Enkelkinder. Wie versorgt sind wir doch in Europa! Wir haben Zugang zu Bildung, zu guter medizinischer Versorgung. Wir werden aufgefangen in Sozialberatungen. Für uns ist es undenkbar, dass ein Kind kranke Eltern pflegen muss, oder ein 10-jähriges Mädchen, die Mutterrolle für kleine Geschwister übernimmt, weil die Mutter nicht mehr die Kraft dafür hat. Keiner käme auf die Idee, einer alten, schwachen Frau, die kaum für sich selbst sorgen kann, die Verantwortung für mehrere Kinder zu übertragen. Aber für viele Menschen in Afrika ist dies Teil des Alltags. Müssen wir uns wundern, wenn Menschen angesichts solcher Realitäten ihr Land verlassen wollen, wenn sie hoffen, in Europa eine bessere Zukunft zu finden? Wir alle tragen auch eine Verantwortung, zu helfen, wo und wie es für uns machbar ist. Es hilft bereits, nicht wegzuschauen, darüber zu reden, zu sensibilisieren. Und auf die, denen es schlechter geht, zuzugehen und ihnen offen zu begegnen, anstatt wegzuschauen oder sie gar zu verurteilen. Wenn ich in meinem Alltag hier vor Ort mit Grossmüttern rede, mit Waisenkindern spiele und sie zum Lachen bringen kann, HIV-infizierten Menschen mit Rat und Tat zur Seite stehe, dann empfinde ich tiefe Dankbarkeit. Dankbarkeit dafür, dass ich zur Schule gehen und studieren konnte, behütet aufgewachsen bin. Ich empfinde grossen Respekt für die Menschen, die schwierigsten Lebensbedingungen die Stirn bieten und sich nicht unterkriegen lassen. Sie geben mir die Hoffnung, dass die Krisen dieser Welt überwindbar sind. Ich bin auch dankbar, dass in Tansania die medikamentöse Versorgung von HIV-infizierten Menschen kostenlos ist. Doch nach wie vor fehlt es an Aufklärung, damit mehr Menschen bereit sind, sich testen zu lassen. Und es fehlt an psycho-sozialer Betreuung, insbesondere für die vielen Aids-Waisenkinder und deren Betreuerinnen und Betreuer. Vielleicht muss man sogar von einem kollektiven Trauma sprechen, welches aufgearbeitet werden müsste, um wirklich voran zu kommen. Den grössten Teil dieser Arbeit leisten die Menschen selbst. Aber sie brauchen Verständnis und Unterstützung. Es gibt viele Länder, viele verschiedene Systeme, Religionen, Denkweisen und noch mehr Sprachen. Aber es ist eine Welt! Vielleicht lohnt es sich, darüber nachzudenken! _______________________________________________________________ Info: Die HIV-Aids-Arbeit in Tansania (Projekt Nr. 186.1022) ist eines von fünf «Projekten der Hoffnung» zum 200-jährigen Jubiläum der Basler Mission. Mehr Infos zur Jubiläumskampagne «200 Jahre unverschämt viel Hoffnung»: www.mission-21.org/jubiläum Claudia Zeising lancierte 2013/2014 mit HIV-infizierten Menschen in Tansania das Buchprojekt «Positiv leben». Entstanden sind bewegende Porträts in Text und Bild. Infos und Kurzfilm zum Buch unter: www.mission-21.org/positiv-leben