Glasindustrie in Deutschland
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Glasindustrie in Deutschland
Glasindustrie in Deutschland Eine Branchenanalyse Glasindustrie in Deutschland Impressum Herausgeber: Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie VB 1 – Gesamtleitung/Globalisierung/Industrie Verantwortlich: Michael Vassiliadis Redaktion: Iris Wolf/Tomas Nieber Abt. Wirtschafts- und Industriepolitik Kontakt: [email protected] Layout: BWH GmbH – Die Publishing Company Hannover, Januar 2014 Inhaltsverzeichnis Vorwort.............................................................................................5 Dr. Jürgen Dispan Glasindustrie in Deutschland...............................................................7 Einleitung................................................................................................................................... 8 1. Entwicklung und Strukturen der Branche ...........................................................14 2. Branchentrends und Herausforderungen............................................................33 3.Fazit .....................................................................................................................................67 Literaturverzeichnis.............................................................................................................70 Michael Vassiliadis Industriepolitik für den Fortschritt – Erfolgsfaktoren und Herausforderungen für den Industriestandort Deutschland..................73 1. Industrieorientierte Volkswirtschaft mit spezifischen Erfolgsfaktoren......................................................................................76 2. Den Industriestandort Deutschland zukunftsfest machen – Die Herausforderungen..........................................................................85 3. Merkmale einer fortschrittlichen Industriepolitik............................................92 Die Autoren........................................................................................................... 95 Bildnachweis......................................................................................................... 96 3 Glasindustrie in Deutschland Glasindustrie in Deutschland 280 4 Vorwort Im Dezember 2012 wurde die Erstellung von Branchenstudien im Organisationsbereich der IG BCE im Rahmen eines HBS Projektes in Auftrag gegeben. Neben der Glasindustrie wurden auch noch weitere Branchenanalysen in den Industriebereichen Chemie, Kunststoffverarbeitung, Pharma, Kautschuk und Papier durchgeführt und in einem Sammelband zusammengefasst. Mit der Durchführung der Branchenstudien wurden das niedersächsische Institut für Wirtschaftsforschung e. V. (NIW) in Hannover und das IMU Institut Stuttgart beauftragt. Die Fertigstellung der Branchenstudien erfolgte im Herbst 2013 und wurden den Delegierten des 5. ordentlichen Gewerkschaftskongresses der IG BCE zur Verfügung gestellt. Damit die Ergebnisse der Branchenstudien effektiv in die Industriegruppenarbeit der IG BCE einfließen können, haben wir uns dazu entschlossen, die jeweiligen Untersuchungen für jede Branche separat zu dokumentieren. Die vorliegende Branchenstudie »Glasindustrie in Deutschland« soll den Betriebsräten und industriepolitisch interessierten Kolleginnen und Kollegen die Gelegenheit geben, die Strukturen und Entwicklungen in der Glasindustrie detailliert aufzuarbeiten, zu diskutieren und daraus langfristige strategische Entscheidungen abzuleiten. Zukünftig wird es für gewerkschaftlich orientierte Betriebsräte immer wichtiger, die gesamte Branche in der ein Unternehmen aktiv ist, im Blick zu haben. Die vom IMU Institut Stuttgart erstellte Studie zeigt auf und erläutert anschaulich, die branchenspezifischen Merkmale der deutschen Glasindustrie. Besonders positiv hervorzuheben ist, dass in der vorliegenden Studie die fünf Sparten der Glasindustrie (Flachglasveredelung, Hohlglas, Spezialglas, Flachglasherstellung und Glasfaser) differenziert analysiert wurden. Aus den Analysen der einzelnen Sparten geht hervor, dass ins besondere die Hohlglasproduktion und die Herstellung von Flachglas sehr energieintensiv und somit im hohen Maße von den energiepolitischen Rahmen bedingungen in Deutschland abhängig sind. Aber auch branchenübergreifende wirtschafts- und industriepolitische Rahmenbedingungen und deren wechselseitige Bedeutung für die Glasindustrie werden ausführlich in dieser Branchenstudie behandelt. Im zweiten Teil der Studie werden Branchentrends und Herausforderungen für die deutsche Glasindustrie beschrieben. Zu den Kernaussagen gehört, dass die 5 Vorwort deutsche Glasindustrie ihre führende internationale Stellung (zweitgrößte Exportnation hinter China) nur durch neue Produktinnovationen und mit gut ausgebildeten Arbeitskräften behaupten kann. Grundlage für die Analyse und Formulierung von Entwicklungstrends in diesem Abschnitt sind die, im Rahmen der Branchenstudie durchgeführten, Expertengespräche (mit betrieblichen Experten, Gewerkschafts- und Verbandsvertretern) und die Auswertung von branchenbezogener Literatur zu diesem Themenkomplex. Wir bedanken uns bei der Hans-Böckler-Stiftung für die finanzielle Förderung der Branchenstudien und die hervorragende Begleitung dieses Projektes. Ein besonderer Dank geht an das IMO Institut Stuttgart und den Autor der Studie Dr. Jürgen Dispan. Auch möchten wir uns bei den betrieblichen Experten bedanken, die mit ihrem Fachwissen und der Bereitschaft zur Teilnahme an Interviews einen wichtigen Beitrag im Rahmen dieser Branchenstudie geleistet haben. Norbert Mikulski Industriegruppensekretär Glas und Kautschukverarbeitung Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie 6 Dr. Jürgen Dispan Glasindustrie in Deutschland Entwicklung und Strukturen der Branche Branchentrends und Herausforderungen Zusammenfassung Glasindustrie in Deutschland Einleitung Glas als Werkstoff, Produkte aus Glas als Vorleistungsgüter oder Konsumgüter, und damit die Branche »Herstellung von Glas und Glaswaren« haben seit Jahrhunderten einen hohen Stellenwert für Wirtschaft und Gesellschaft. Somit kann auch die Glasindustrie als traditionelle, alteingesessene und technologisch ausgereifte Branche bezeichnet werden. Gleichzeitig ist der Industriezweig inzwischen relativ stark globalisiert. Große, multinationale Unternehmen dominieren die wichtigsten Sparten der Glasindustrie. Die Unternehmen der Branche müssen sich den härteren Bedingungen durch die Globalisierung und dem stärkeren Wettbewerb auf ihren inländischen Märkten durch Länder wie China, Indien und der Türkei stellen. In den meisten Industrieländern weist der Markt für Glas und Glaswaren Sättigungstendenzen auf – hier ist jedoch eine differenzierte Betrachtung nach Sparten der Glasindustrie notwendig. Die bis vor wenigen Jahren starke Substitution von Glasprodukten, insbesondere von Glasflaschen durch PET-Flaschen, scheint inzwischen weitgehend abgeschlossen zu sein. Heute versucht die Glasbranche insbesondere mit dem Thema Nachhaltigkeit des Werkstoffes Glas zu punkten und Märkte zurückzuerobern. Industrielle Produktion erfordert in den meisten Sparten hohe Investitionen in Glaswannen (z. B. regelmäßig wiederkehrende Wannenreparaturen) und Fertigungsanlagen. Die Glasindustrie ist eine energieintensive und investitionsgetriebene Branche. Die größten Herausforderungen für die Branche und ihre Unternehmen liegen in den Themen »Energiekosten« und »internationaler Wettbewerb und Importdruck«, aber auch im »demografischen Wandel« mit Fragen rund um Arbeitsbedingungen (z. B. alternsgerechte Arbeit), Fachkräftebedarfe, Aus- und Weiterbildung sowie Gesundheitsschutz. Die Arbeitswelt in der Glasindustrie ist von einem jahrzehntelangen Beschäftigungsabbau geprägt – allein seit der Jahrtausendwende wurde fast jeder sechste Arbeitsplatz abgebaut und die Zahl der Erwerbstätigen reduzierte sich auf knapp 54.000 im Jahr 2012. Leidtragende des Rückgangs der Beschäftigtenzahl sind in erster Linie die gering qualifizierten Beschäftigten – das Qualifikationsniveau und damit der Fachkräfteanteil wird in der Glasindustrie immer größer. 8 Die Branche »Glasindustrie« ist mit dem in der amtlichen Statistik abgegrenzten Wirtschaftszweig »Herstellung von Glas und Glaswaren« gleichzusetzen. Ihre Produkte werden unter Verwendung von Stoffen mineralischen Ursprungs bzw. aus Altglas hergestellt. Die Branche umfasst die Herstellung von Glas (z. B. in Glashütten für Hohlglas oder in Floatglaswerken für Flachglas) und von Erzeugnissen aus Glas, und zwar von den Rohstoffen bis hin zu den Fertigwaren. Damit stellen die Unternehmen der Glasindustrie eine breite Produktpalette her. Die Glasindustrie ist integrales Element ganz unterschiedlicher Wertschöpfungsketten. So wird in verschiedenen Branchen des Produzierenden Gewerbes Flachglas (z. B. Bauwirtschaft, Automobilindustrie), Hohlglas (z. B. Nahrungsmittelgewerbe, Pharmaindustrie) oder Spezialglas (z. B. Elektronikindustrie, Chemische Industrie) eingesetzt. Die Branche »Herstellung von Glas und Glaswaren« umfasst fünf Hauptgruppen: • Herstellung von Flachglas (Basisglas für verschiedene Anwendungen). • Veredlung und Bearbeitung von Flachglas (z. B. Fenster, Windschutzscheiben, Solarglas). • Herstellung von Hohlglas (z. B. Flaschen, Behälter, Krüge). • Herstellung von Glasfasern und Waren daraus (Glaswolle, Endlosglasfasern). • Herstellung, Veredlung und Bearbeitung von sonstigem Glas einschließlich technischen Glaswaren (Spezialglas, z. B. für Displays, Cerankochfelder). Aufbau der Branchenstudie Die Branchenstudie ist in die zwei Hauptkapitel 2 und 3 gegliedert: Im Kapitel 2 werden die Strukturen der Glasindustrie und die Entwicklung der Branche seit Anfang der 2000er Jahre dargestellt. Basis ist eine eigene sekundärstatistische Analyse von Wirtschafts- und Beschäftigungsdaten zu Deutschland sowie von Außenhandelsdaten zur internationalen Entwicklung, die um zusätzliche Informationen aus internationalen und nationalen Verbandsstatistiken und anderen Quellen ergänzt worden ist. Das Kapitel 3 widmet sich der Identifikation und Beschreibung branchenspezifischer und globaler Trends sowie den sich daraus ergebenden Herausforderungen für Unternehmen und Mitbestimmung. Hierbei wird auf die Marktentwicklung und ökonomische Trends, auf Innovationstrends und auf Beschäftigungstrends eingegangen. Für die Betrachtung von Entwicklungstrends ist eine 9 Glasindustrie in Deutschland Differenzierung nach den einzelnen Sparten der Glasindustrie erforderlich, bei der die Lage und Entwicklungsperspektiven für die Herstellung bzw. Veredlung von Flachglas, Hohlglas-, Spezialglas und Glasfaserherstellung explizit erörtert werden. Vorab wird in den folgenden Abschnitten der Einleitung der Hintergrund für die Erstellung der Branchenanalyse, deren Zielsetzung und die methodische Vorgehensweise dargestellt. Hintergrund, Zielsetzung und Fragestellungen Für Industriebranchen in Deutschland zeichnen sich vielfältige strukturelle Veränderungen ab. Zum einen stellen globale Megatrends wie Globalisierung, demografischer Wandel, Ressourcenknappheit, Klimawandel, Digitalisierung und Wissensintensivierung die Unternehmen und die Branchenakteure vor große Herausforderungen. Zum anderen gibt es EU-weite und nationale Rahmenbedingungen, die Branchenentwicklungen beeinflussen. Zu diesen Rahmenbedingungen gehört beispielsweise die Energiewende als sozioökonomisches Megaprojekt der nächsten Jahrzehnte (BMWi 2012). Im Zuge der Energiewende wird Energieeffizienz bei Produktion und Produkten in allen Branchen des Verarbeitenden Gewerbes zu einem immer wichtigeren Innovationsfeld (Bauernhansl et al. 2013). Gleichzeitig ist, spätestens seit der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009, eine Renaissance der Industriepolitik zu verzeichnen. Dies zeigt sich z. B. im zunehmenden Stellenwert der Industrie auf nationaler und auf europäischer Ebene (»Europa-2020-Strategie«), aber auch in aktuellen Veröffentlichungen wie »Die Modernität der Industrie« (Priddat, West 2012) und »Zukunft des Industriestandortes Deutschland 2020« (Allespach, Ziegler 2012). Auch im weltweiten Maßstab zeigt sich eine ähnliche Ausrichtung, z. B. in den USA (»National Network for Manufacturing Innovation«), in China (der aktuelle »Fünfjahresplan« setzt verstärkt auf eine anspruchsvolle Produktion hochwertiger Güter durch ausgesuchte Hightech-Industriezweige) und in Indien (»National Manufacturing Policy«). Wenn es um die zukünftige industrielle Entwicklung einer Volkswirtschaft geht, ist die Kategorie der »Branche« zum einen eine zentrale Analyseebene, zum 10 anderen ein wichtiger Bezugspunkt für die Akteure der industriellen Beziehungen (Schietinger 2013). Aus branchenspezifischen Entwicklungstrends im Kontext des strukturellen Wandels ergeben sich neue Herausforderungen für die Standortverankerung der Unternehmen als Voraussetzung für die Sicherung der Arbeitsplätze, für die Gestaltung der Arbeitsbedingungen sowie für die strategische Arbeit der Träger der Mitbestimmung. Die differenzierte Analyse einer Branche kann dazu beitragen, dass Grundlagen für die soziale und politische Gestaltung der Arbeitswelt in der untersuchten Branche erarbeitet werden. Nicht zuletzt aus diesem Grund gaben die Hans-Böckler-Stiftung und die IG BCE im Jahr 2013 sechs Branchenanalysen beim IMU Institut Stuttgart und beim Niedersächsischen Institut für Wirtschaftsforschung (NIW) in Auftrag. Vom IMU Institut wurden Strukturen, Entwicklungen, Rahmenbedingungen und Perspektiven für die Branchen Glasindustrie, Kunststoffverarbeitung und Papiererzeugung untersucht (vgl. Dispan 2013 a, b, c); das NIW analysierte die Branchen Chemische Industrie, Kautschukindustrie und Pharmaindustrie (vgl. Gehrke, von Haaren 2013 a, b, c). Die gemeinsamen Fragestellungen für die Analyse aller sechs untersuchten Branchen Chemische Industrie, Glasindustrie, Kautschukindustrie, Kunststoffverarbeitung, Papiererzeugung und Pharmaindustrie sind: • Wie haben sich die betrachteten Branchen in Deutschland in den letzten Jahren in quantitativer Hinsicht entwickelt (bezogen auf Beschäftigung und andere wirtschaftliche Kennziffern)? Wie stellt sich die Situation deutscher Unternehmen im globalen Wettbewerb dar? • Vor welche Herausforderungen stellen globale Megatrends wie Globalisierung, demografischer Wandel, Ressourcenknappheit und Klimawandel die Branchen? • Welche Entwicklungstrends (z. B. Markttrends, Innovationstrends) beeinflussen die künftige Entwicklung der betrachteten Branchen? Welche Perspektiven haben die Branchen am Standort Deutschland? • Wie stellt sich die Situation bei Arbeitsbedingungen und Arbeitspolitik in den Branchen dar? Wie verändern sich Kompetenzanforderungen und Qualifikationserfordernisse? Welche Gestaltungsfelder für die Träger der Mitbestimmung bilden sich heraus? 11 Glasindustrie in Deutschland Die Branchenanalysen wurden zum einen im Sammelband »Industriepolitik für den Fortschritt – Herausforderungen und Perspektiven am Beispiel zentraler Branchen der IG BCE« (Vassiliadis 2013) veröffentlicht, zum anderen erscheinen sie als Einzelveröffentlichung in den Institutsreihen des IMU Instituts und des NIW. Methodische Vorgehensweise Bei der Branchenstudie kam zur Informationsgewinnung und -auswertung ein Methodenmix zum Zuge, bestehend aus der Aufbereitung und Auswertung statistischer Basisdaten, der Sekundäranalyse von Literatur sowie leitfadengestützten Interviews und Gruppengesprächen mit Akteuren aus der Glasindustrie: • Aufbereitung und Analyse von branchenbezogenen Wirtschafts- und Beschäftigungsdaten (Bestands- und Verlaufsanalyse). Datenbasis für die auf die Entwicklung und Strukturen in Deutschland bezogene Branchenanalyse waren vor allem die Beschäftigtenstatistik der Bundesagentur für Arbeit und die Industriestatistik des Statistischen Bundesamts. Für die Analysen zum internationalen Handel wurde auf Daten der UN Comtrade-Database zurückgegriffen. Ergänzend kamen – sowohl für die nationale als auch für die internationale Perspektive – Angaben aus Verbandsstatistiken und weiteren Quellen hinzu. • Sichtung und Auswertung vorliegender Studien, Branchenanalysen, Fachzeitschriften, Unternehmensveröffentlichungen (Geschäftsberichte, Pressemitteilungen) und weiterer Fachpublikationen sowie weiterer branchenspezifischer Informationen aus dem Internet. • Leitfadengestützte Expertengespräche wurden im Zeitraum März bis Juli 2013 mit Betriebsräten und Geschäftsführern (bzw. leitenden Angestellten) aus drei Unternehmen der Glasindustrie geführt. Hinzu kamen weitere Gespräche mit Gewerkschafts- und Verbandsvertretern. Im Zentrum stand dabei die qualitative Erhebung von Unternehmensstrategien und Arbeitsbedingungen, von Branchentrends und Perspektiven für Betriebe und Beschäftigung, von Innovationstrends sowie von verallgemeinerbaren betrieblichen Problemlagen und strukturellen Herausforderungen. Informationen aus diesen Expertengesprächen fließen anonymisiert in die vorliegende Branchen- 12 studie ein. Zudem konnten durch die Teilnahme an einer Sitzung des Industriegruppenausschusses Glasindustrie der IG BCE wesentliche Entwicklungstrends und Herausforderungen in einem breiteren Kreis von Betriebsräten führender Unternehmen der Glasindustrie in Deutschland diskutiert werden. 13 Glasindustrie in Deutschland 1 Entwicklung und Strukturen der Branche »Glasindustrie« Die Branche »Glasindustrie« ist mit dem in der amtlichen Statistik abgegrenzten Wirtschaftszweig »Herstellung von Glas und Glaswaren« gleichzusetzen. Ihre Produkte werden unter Verwendung von Stoffen mineralischen Ursprungs bzw. aus Altglas hergestellt. Die Branche umfasst die Herstellung von Glas (z. B. in Glashütten für Hohlglas oder in Floatglaswerken für Flachglas) sowie von Erzeugnissen aus Glas, und zwar von den Rohstoffen bis hin zu den Fertigwaren. Die Unternehmen der Glasindustrie stellen eine breite Produktpalette her. In verschiedenen Branchen des Produzierenden Gewerbes werden beispielsweise Flachglas (Bauwirtschaft, Automobilindustrie etc.) oder Hohlglas (Nahrungsmittelgewerbe, Pharmaindustrie) eingesetzt. Die Branche umfasst 5 Hauptgruppen: • Herstellung von Flachglas (Basisglas für verschiedene Anwendungen). • Veredlung und Bearbeitung von Flachglas (z. B. Fenster, Windschutzscheiben, Solarglas). • Herstellung von Hohlglas (z. B. Flaschen, Behälter, Krüge). • Herstellung von Glasfasern und Waren daraus (Glaswolle, Endlosglasfasern). • Herstellung, Veredlung und Bearbeitung von sonstigem Glas einschließlich technischen Glaswaren (Spezialglas, z. B. für Displays, Cerankochfelder). Im Folgenden werden zunächst die Strukturen der Glasindustrie und die Entwicklung der Branche in den letzten Jahren dargestellt, bevor im 2. Kapitel die Branchentrends und Herausforderungen analysiert werden. 1.1 Grunddaten zur Struktur der Branche In der Branche »Herstellung von Glas und Glaswaren« – im Folgenden als Glasindustrie bezeichnet – arbeiteten im Jahr 2012 knapp 54.000 Erwerbstätige in 403 Betrieben (ab 20 Beschäftigte), die einen Umsatz von 8,95 Mrd. Euro erwirtschafteten (Tabelle 1.1). Mit 36,3 % liegt die Exportquote deutlich unter der des Verarbeitenden Gewerbes (45,2 %). Die Glasindustrie ist ein eher kleiner Wirtschaftszweig: ihr Anteil am Gesamtumsatz des Verarbeitenden Gewerbes liegt bei 281 14 Glasindustrie in Deutschland 0,5 %, ihr Beschäftigtenanteil bei 0,9 %. Gesamtwirtschaftlich gesehen ist die Arbeitsmarktrelevanz der Glasindustrie mit einem Anteil von weniger als 1 % aller in der Industrie Beschäftigten gering. Jedoch wird die Bedeutung der Branche durch hoch aggregierte Zahlen unterschätzt, da sie durch ihre räumliche Konzentration eine wichtige Stellung in spezifischen regionalen Wirtschaftsräumen erlangt hat. Tabelle 1.1: »Herstellung von Glas und Glaswaren« in Deutschland: Grunddaten 2012 für die Glasindustrie und ihre Sparten (Betriebe ab 20 Beschäftigte) Betriebe Glasindustrie insgesamt Erwerbstätige Umsatz (in 1.000 €) Exportanteil (in %) 403 53.943 8.948.702 36,3 % Flachglasherstellung 18 3.977 985.258 40,0 % Flachglasveredlung 220 24.492 3.489.166 28,7 % Hohlglasherstellung 64 14.381 2.398.076 33,9 % Glasfaserherstellung 33 3.638 838.992 36,0 % Spezialglas, techn. Glas 68 7.455 1.237.210 59,7 % Quelle: Statistisches Bundesamt. Die Glasindustrie setzt sich in der amtlichen Statistik aus 5 Teilbranchen zusammen (Abbildung 1.1). Größte Sparte ist die »Veredlung und Bearbeitung von Flachglas« (Flachglas-Veredlung), die den Hauptanteil des Umsatzes im Inland erzielt. Zu den Hauptabnehmern der Flachglasveredlung zählen die Automobilhersteller und die Bauwirtschaft. In der Wertschöpfungskette vorgelagert ist die kleinere Sparte »Herstellung von Flachglas«, die im Wesentlichen aus Floatglaserzeugern besteht. Viele Betriebe dieser beiden Sparten sind in Konzernzusammenhängen organisiert, z. B. beliefern die Floatglaslinien von Saint-Gobain Glass oder Pilkington direkt die Werke für die Weiterverarbeitung des Basisglases zu Bauglas oder Autoglas. 282 15 Glasindustrie in Deutschland Abbildung 1.1: Glasindustrie nach Sparten: Erwerbstätige in Betrieben ab 20 Beschäftigte im Jahr 2012 (in %) Spezialglas, technisches Glas 13,8 % Flachglasherstellung 7,4 % Glasfaserherstellung 6,7 % Hohlglasherstellung 26,7 % Flachglasveredlung 45,4 % Quelle: Statistisches Bundesamt. Die »Herstellung von Hohlglas« ist die zweitgrößte Sparte der Glasindustrie, die in erster Linie aus Unternehmen besteht, die Behälterglas wie Flaschen, Flakonage oder Lebensmittelgläser produzieren, aber auch aus den verbliebenen Herstellern von Wirtschaftsglas, die z. B. »Glaswaren für den gedeckten Tisch« produzieren. Die drittgrößte und gleichzeitig exportstärkste Sparte ist die »Herstellung, Veredlung und Bearbeitung von sonstigem Glas einschließlich technischen Glaswaren« (kurz: Spezialglas), zu der z. B. der Schott-Konzern zählt. Die nach Umsatz und Beschäftigung kleinste Sparte ist die »Herstellung von Glasfasern und Waren daraus« (Glasfaser-Herstellung), z. B. von Glaswolle oder Verstärkungsglasfasern. In der Glasindustrie steht wenigen größeren Betrieben eine Vielzahl von Betrieben in der Größenklasse bis 250 Beschäftigte gegenüber (Abbildung 1.2). In 14 Betrieben (3,5 %) mit mehr als 500 Beschäftigten arbeitet mehr als ein Fünftel der Beschäftigten (21,5 %). Diesen größeren Betrieben und auch vielen der 283 16 Glasindustrie in Deutschland Größenklasse 250 bis 500 Beschäftigte sind im Wesentlichen die konzernzugehörigen Flachglaswerke, Behälterglashütten und Spezialglaswerke zuzuordnen. Abbildung 1.2: Glasindustrie in Deutschland 2012: Verteilung von Betrieben, Beschäftigten und Umsatz nach (Beschäftigten-) Größenklassen (in %) 50 Betriebe Beschäftigte Umsatz 45 40 35 32,0 32,8 29,5 30 28,5 25,8 27,6 24,8 25 21,5 18,7 20 16,0 15 14,0 10,2 10 8,2 6,8 3,5 5 0 < 50 50 < 100 100 < 250 250 < 500 > 500 Beschäftigtengrößenklassen Quelle: Statistisches Bundesamt. Mit 134 Beschäftigten je Betrieb liegt die Glasindustrie genau im Durchschnitt des Verarbeitenden Gewerbes. Flachglas- und Hohlglashersteller sind mit jeweils über 220 Beschäftigten je Betrieb deutlich größere Einheiten als die 3 anderen Sparten mit jeweils rund 110 Beschäftigten je Betrieb. Viele kleine und mittlere Unternehmen, vor allem aus der Kristallglaserzeugung und Hohlglasveredelung mit einem hohen Anteil manueller Arbeit, gaben im Zeitraum von 1980 bis 2000 ihren Geschäftsbetrieb auf. Vor allem in der Behälterglasindustrie setzte in den 1990er-Jahren ein starker Konzentrationsprozess durch den Zukauf von Glashütten durch große Konzerne wie Ardagh oder O-I ein. Und auch der größte Teil der deutschen wie auch der europäischen Flachglasherstellung gehört zu wenigen, international operierenden Konzernen wie 284 17 Glasindustrie in Deutschland Saint-Gobain, Pilkington-NSG, Euroglas und Guardian (ECORIS 2008), die häufig als vertikal integrierte Unternehmen sowohl in der Flachglasherstellung als auch in der Veredlung und Bearbeitung tätig sind. In Europa ist die Glasindustrie Deutschlands führend, wie z. B. ein Vergleich der Beschäftigtenzahlen zeigt. Laut Glass Alliance Europe liegt der Anteil der deutschen Glasindustrie an der Europäischen Union bei 28,5 %, gemessen an der Beschäftigtenzahl 2011 (Deutschland: 54.164 Beschäftigte, EU: 189.758). Weitere Länder mit mehr als 10.000 Beschäftigten in der Glasindustrie sind Polen (29.200), Frankreich (21.202), Tschechien (14.650) und Italien (13.032). 1.2 Produktion Die Produktion von Glas und Glaswaren entwickelte sich seit 2000 leicht negativ. Im Jahr 2012 lag der Produktionswert um knapp 3 % unter dem Ausgangswert aus dem Jahr 2000. Dagegen legte die Produktion im Verarbeitenden Gewerbe insgesamt im selben Zeitraum um 20 % zu. Von 2000 bis 2012 lassen sich mehrere Phasen unterscheiden (Abbildung 1.3): Zunächst ging die Produktion von Glas und Glaswaren bis 2005 um 12 % zurück. In einer 2. Phase legte die Glasproduktion bis Mitte 2008 erneut zu und erreichte fast wieder den Produktionswert von 2000. Der folgende krisenbedingte Einschnitt verlief weniger stark wie im Verarbeitenden Gewerbe insgesamt. Anschließend setzte ein rascher Aufschwung bei der Glasproduktion ein. Bereits 2010 konnte der Produktionswert von 2007 abermals erreicht werden, 2011 lag er erstmals wieder über dem Stand von 2000. Am aktuellen Rand zeichnet sich ein neuerlicher Rückgang bei der Glasproduktion ab, während die Industrieproduktion insgesamt im Jahr 2012 stagnierte. 285 18 Glasindustrie in Deutschland Abbildung 1.3: Entwicklung der Produktion von Glas und Glaswaren im Vergleich zum Verarbeitenden Gewerbe insgesamt (Index 2000=100) 140 Verarbeitendes Gewerbe Glasindustrie 2000 = 100 120 100 80 60 2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012 Quelle: Statistisches Bundesamt. Nach Sparten der Glasindustrie differenziert entwickelte sich die Produktion sehr unterschiedlich (Abbildung 1.4). Besonders hohe Zuwächse gab es bei der relativ kleinen Sparte Flachglasherstellung: Mit dem Ausbau der Produktionskapazitäten – insbesondere der Inbetriebnahme neuer Floatglaslinien in Ostdeutschland – gab es massive Produktionssprünge bei der Flachglasherstellung. Der massive Nachfrageeinbruch beim Solarglas wird bei den Produktionszahlen bis 2012 noch nicht sichtbar. Entsprechend lag der Produktionszuwachs bei der Flachglasherstellung von 2000 bis 2012 bei 84 %. Und auch bei der 2. relativ kleinen Sparte Glasfaserherstellung gab es im langfristigen Vergleich 2012 mit 2000 ein klares Produktionsplus von 17 %. Ein leichtes Plus ist bei der größten Sparte Flachglasveredlung zu verzeichnen (+7 %). 286 19 Glasindustrie in Deutschland Abbildung 1.4: Entwicklung der Produktion von Glas und Glaswaren nach Sparten (Index 2000=100) 200 180 Flachglas-Herstellung Glasfaser-Herstellung Spezialglas, techn. Glas Hohlglas-Herstellung Flachglas-Veredlung 2000=100 160 140 120 100 80 60 2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012 Quelle: Statistisches Bundesamt. Starke Produktionsrückgänge seit 2000 von jeweils 23 % gab es dagegen beim Spezialglas und bei der Hohlglasherstellung. Beim Hohlglas verlief der Produktionsrückgang relativ kontinuierlich – insbesondere bis 2009 scheinen hier langfristige Substitutionseffekte durch PET-Flaschen durchzuschlagen. 1.3 Entwicklung von Umsatz und Beschäftigung Umsatzentwicklung Die Glasindustrie erwirtschaftete im Jahr 2012 einen Umsatz von 8,95 Mrd. Euro und lag damit um 700 Mio. Euro unter dem Vorjahreswert (-7,3 %). Am bisher höchsten lag der Umsatz der Glasindustrie mit gut 9,9 Mrd. Euro im Jahr 287 20 Glasindustrie in Deutschland 2008 – dem Jahr, in dem auch der Auslandsumsatz und damit die Exportquote mit Abstand am höchsten waren (Tabelle 1.2). Seit diesem Höchststand des Exportanteils von 38,5 % pendelte sich die Quote wieder bei einem Wert um 36 % ein. Tabelle 1.2: »Herstellung von Glas und Glaswaren« in Deutschland: Umsatzentwickung (in Mio. Euro) (Betriebe ab 20 Beschäftigte) 2000* 2008 2009 2010 2011 2012 Umsatz (insg.) 8.859 9.913 8.383 9.284 9.649 8.949 Inlandsumsatz 5.899 6.092 5.296 5.941 6.193 5.699 Auslandsumsatz 2.960 3.821 3.088 3.343 3.456 3.249 Exportanteil 33,4% 38,5% 36,8% 36,0% 35,8% 36,3% Quelle: Statistisches Bundesamt (*Jahr 2000 nach WZ 2003). Während der Gesamtumsatz in der Glasindustrie von 2001 bis 2005 tendenziell zurückging, legte er dann bis 2008 um 20,1 % (gegenüber 2005) zu (Abbildung 1.5). Im Krisenjahr 2009 brach der Umsatz dann um 1,5 Mrd. Euro ein (-15,4 %). Bereits 2010 legte der Umsatz wieder deutlich um gut 900 Mio. Euro zu (+10,7 %), im Jahr 2011 nochmals um 365 Mio. Euro (+3,9 %), bevor es dann 2012 einen neuerlichen Umsatzeinbruch gab (-7,3 %). Somit war der Nachkrisen-Aufschwung bereits 2012 wieder beendet und das »Umsatz-Allzeithoch« von 2008 konnte von der Glasindustrie – im Gegensatz zum Verarbeitenden Gewerbe insgesamt – nicht wieder erreicht werden. 288 21 Glasindustrie in Deutschland Abbildung 1.5: Umsatzentwicklung in der Glasindustrie im Vergleich zum Verarbeitenden Gewerbe (Index 2008=100) 120 Gesamtumsatz Glasindustrie Umsatzentwicklung (Index 2008=100) 110 Gesamtumsatz Verarbeitendes Gewerbe 100 90 80 70 60 50 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 Quelle: Statistisches Bundesamt. Abb. 1.5: Umsatzentwicklung in der Glasindustrie im Vergleich zum Verarbeitenden Gewerbe (Index 2008=100) Abbildung 1.6: Entwicklung des Inlands- und Auslandsumsatzes in der Glasindustrie im Vergleich zum Verarbeitenden Gewerbe (Index 2008=100) 120 Inlandsumsatz Glasindustrie Umsatzentwicklung (Index 2008 = 100) Inlandsumsatz Verarbeitendes Gewerbe 110 Auslandsumsatz Glasindustrie Auslandsumsatz Verarbeitendes Gewerbe 100 90 80 70 60 50 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 Quelle: Statistisches Bundesamt. 289 22 Glasindustrie in Deutschland Das Umsatzwachstum in der Glasindustrie von 2000 bis 2008 war in erster Linie dem Export zu verdanken (Abbildung 1.6): der Auslandsumsatz (+31,7 %) erhöhte sich deutlich stärker als der Inlandsumsatz (+6,1 %). Nochmals wesentlich stärker profitierte das Verarbeitende Gewerbe insgesamt vom Boom bis 2008 mit einem Auslandsplus von 56,6 % und einem Inlandsplus von 19,2 % gegenüber dem Jahr 2000. Vom Kriseneinbruch 2009 wurde die Glasindustrie dann etwas weniger heftig getroffen. Der Rückgang beim Auslandsumsatz verlief in der Glasindustrie (-19,2 %) parallel zum Verarbeitenden Gewerbe (-20,2 %); beim Inlandsumsatz büßte das Verarbeitende Gewerbe (-16,8 %) stärker als die Glasindustrie (-13,1 %) ein. Während es in der Krise beim Flachglas einen besonders starken Einbruch gab, verzeichnete der stärker binnenmarktorientierte und weniger konjunkturabhängige Bereich Behälterglas im Vergleich zu den übrigen Sparten die geringsten Umsatzeinbußen. Der deutliche Nachkrisen-Aufschwung bis 2011 wurde in der Glasindustrie vor allem durch die hohe Inlandsdynamik erreicht (+16,9 % im Vergleich zu 2009), aber auch der Auslandsumsatz legte von 2009 bis 2011 um 11,9 % zu. Noch kräftiger verlief der Boom im Verarbeitenden Gewerbe, der im Gegensatz zur Glasindustrie wesentlich stärker vom Export getrieben war: der Auslandsumsatz legte hier um 33,0 %, der Inlandsumsatz um 22,9 % zu. Die positive Umsatzentwicklung wurde 2012 bereits wieder gebrochen: in der Glasindustrie gingen sowohl der Auslandsumsatz (-6,0 %) als auch der Inlandsumsatz (-8,0 %) zurück; im Verarbeitenden Gewerbe stagnierte der Gesamtumsatz bei leicht negativer Inlands- und leicht positiver Auslandsentwicklung. Alles in allem konnte in den letzten Jahren in der Glasindustrie der Auslandsumsatz den Spitzenwert von 2008 bei Weitem nicht mehr erreichen. Und auch beim Inlandsumsatz lag die Glasindustrie nach einem leichten Überschreiten der 2008er-Marke im Jahr 2011 zuletzt wieder unter dem Vorkrisen-Umsatzhoch. 290 23 Glasindustrie in Deutschland Beschäftigungsentwicklung Im Jahr 2012 waren in der Glasindustrie fast 54.000 Erwerbstätige (in Betrieben ab 20 Beschäftigte) beschäftigt (Tabelle 1.3). Allein die beiden größten Sparten Flachglasveredlung mit 24.492 Beschäftigten und Hohlglasherstellung mit 14.381 Beschäftigten machen einen Beschäftigtenanteil von 72 % an der Glasindustrie aus. In diesen beiden Sparten entwickelte sich die Beschäftigung seit 2008 weitgehend synchron: nach einem krisenbedingten Arbeitsplatzabbau um 5 % bis 6 % zwischen 2008 und 2009 konnte von 2009 bis 2012 wieder Beschäftigung aufgebaut werden. Während in diesen beiden großen Sparten der Glasindustrie der Beschäftigungsstand von 2008 im Jahr 2012 wieder erreicht werden konnte, entwickelte sich die Beschäftigung in den 3 kleineren Sparten in diesem Zeitraum negativ: Den stärksten Rückgang gab es bei der Glasfaserherstellung (-13,8 %) und beim Spezialglas (-9,0 %). Tabelle 1.3: »Herstellung von Glas und Glaswaren« in Deutschland: Beschäftigungsentwicklung (Betriebe ab 20 Beschäftigte) Erwerbstätige 2000* 2008 2009 2010 2011 2012 65.562 55.002 51.704 53.355 54.164 53.943 Quelle: Statistisches Bundesamt (*Jahr 2000 nach WZ 2003). Die Beschäftigungsentwicklung in der Glasindustrie seit dem Jahr 2000 lässt sich in 4 Phasen einteilen (Abbildung 1.7): In der 1. Phase bis 2006 gab es in der Glasindustrie einen erheblichen Abbau von fast 11.700 Arbeitsplätzen (-17,8 %). Zwar gab es in diesem Zeitraum auch einen Beschäftigungsabbau im Verarbeiteten Gewerbe insgesamt, der aber prozentual gesehen deutlich moderater verlief (-7,1 %). Es folgte eine 2-jährige Phase des Beschäftigungsaufbaus in der Glasindustrie (+4,5 %) wie auch im Verarbeitenden Gewerbe (+5,1 %). Die 3., von der Weltwirtschaftskrise geprägte Phase mit einem Beschäftigungsabbau, war zwar relativ kurz, aber umso heftiger: In der Glasindustrie ging 2009 die Anzahl der Erwerbstätigen um 6,0 % gegenüber 2008 zurück, im Verarbeitenden Gewerbe um 4,5 %. Im Vergleich des Jahres 2012 mit 2009 entwickelte sich die 291 24 Glasindustrie in Deutschland Beschäftigung sowohl in der Glasindustrie (+4,3 %) als auch im Verarbeitenden Gewerbe (+4,7 %) positiv, wenn auch der Aufbau in der Glasindustrie zuletzt abflachte und 2012 wieder ein leichtes Minus verzeichnet werden musste. Abbildung 1.7: Beschäftigungsentwicklung in der Glasindustrie im Vergleich zum Verarbeitenden Gewerbe (Index 2008=100) 120 115 (Index 2008 = 100) 110 105 100 95 90 Glasindustrie Verarbeitendes Gewerbe 85 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 Quelle: Statistisches Bundesamt. Alles in allem ist der Verlauf des Beschäftigungstrends der Glasindustrie ähnlich wie im Verarbeitenden Gewerbe, aber über den betrachteten Zeitraum hinweg deutlich schwächer. Im Ergebnis war der prozentuale Beschäftigungsrückgang zwischen 2000 und 2012 in der Glasindustrie mit -15,8 % deutlich höher als im Verarbeitenden Gewerbe (-2,5 %). Im Jahr 2012 lag die Arbeitsproduktivität je Beschäftigten in der Glasindustrie um 15 % höher als 2000. Damit ging die Produktivitätsschere in der Branche weniger stark auseinander als im Verarbeitenden Gewerbe insgesamt mit einem Produktivitätszuwachs um 23 %. 292 25 Glasindustrie in Deutschland 1.4 Beschäftigungsstrukturen Die Qualifikations- und Altersstruktur der Beschäftigten in der Glasindustrie wird auf Basis der Beschäftigtenstatistik der Bundesagentur für Arbeit analysiert. Darin sind die sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in allen Betrieben erfasst, also im Gegensatz zur Industriestatistik des Statistischen Bundesamts nicht die Erwerbstätigen in Betrieben von Unternehmen ab 20 Beschäftigten. Neben darin begründeten Unterschieden bei der Beschäftigtenanzahl kann zwischen den beiden Statistiken auch die Zuordnung von Betrieben zu Wirtschaftszweigen voneinander abweichen. In der Glasindustrie waren Mitte 2012 knapp 52.800 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte tätig (Abbildung 1.8). Damit ist die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten zwischen dem Jahr 2000 und dem Jahr 2012 in der Glasindustrie um jahresdurchschnittlich 1,7 % zurückgegangen. Zum Vergleich: Im Verarbeitenden Gewerbe insgesamt ging die Beschäftigung in diesem Zeitraum um 0,5 % pro Jahr zurück. Abbildung 1.8: Glasindustrie in Deutschland: Entwicklung der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten von 2000 bis 2012 ( jew. zum 30.06.) 70.000 WZ 2003 WZ 2008 60.000 50.000 40.000 30.000 20.000 10.000 0 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2008 2009 2010 2011 2012 Quelle: Bundesagentur für Arbeit (ab 2008 nach WZ 2008). 293 26 Glasindustrie in Deutschland Von den 52.800 sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im Jahr 2012 waren 77,3 % männlich und 22,7 % weiblich. Damit liegt der Frauenanteil in der Glasindustrie um 2,6 Prozentpunkte unter dem Frauenanteil im Verarbeitenden Gewerbe insgesamt (25,3 %). Tabelle 1.4: Glasindustrie in Deutschland: Qualifikationsstruktur der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im Vergleich zum Verarbeitenden Gewerbe Herstellung von Glas und Glaswaren WZ 2003 2000 Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte insgesamt (in Tsd.) WZ 2008 2007 2007 2011 66,5 54,9 53,6 53,1 n.a. 6,8 6,6 8,0 darunter (in %) ohne Angabe ohne Berufsausbildung n.a. 21,6 21,2 19,3 61,6 64,9 65,3 65,9 6,1 6,7 6,8 6,8 7.272,5 6.693,4 6.397,1 6.396,4 ohne Angabe n.a. 9,0 8,6 10,3 ohne Berufsausbildung n.a. 18,4 18,7 16,7 64,4 62,8 63,2 62,5 8,1 9,8 9,5 10,5 mit Berufsausbildung mit Hochschulabschluss Verarbeitendes Gewerbe Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte insgesamt (in Tsd.) darunter (in %) mit Berufsausbildung mit Hochschulabschluss Quelle: Bundesagentur für Arbeit. Der Bedarf an höher qualifizierten Beschäftigten ist in der Glasindustrie gestiegen (Tabelle 1.4). Insbesondere der Anteil der Fachkräfte mit einer Berufsausbildung im dualen System ist zwischen 2000 und 2011 deutlich von 61,6 % auf 65,9 % gestiegen. Der Anteil der Hochschulabsolventen stieg von 2000 bis 2007 und stabilisierte sich dann bei 6,8 %. Stellt man diesen Fachkräften mit mittleren und höheren Qualifikationen die beiden Gruppen »ohne Berufsausbildung« und »ohne Angabe« gegenüber (die insbesondere die Gruppe der An- und Ungelernten umfassen), so werden deutliche Verschiebungen erkennbar: Während sich der Anteil der Fachkräfte von 67,7 % im Jahr 2000 auf 72,7 % im Jahr 2011 294 27 Glasindustrie in Deutschland erhöhte, ging der Anteil An- und Ungelernter in der Glasindustrie von 32,3 % zurück auf 27,3 %. Der Arbeitsplatzabbau in der Branche ging demnach in erster Linie zulasten der An- und Ungelernten bzw. der Einfachtätigkeiten. Im Vergleich zum Verarbeitenden Gewerbe insgesamt liegt der Akademikeranteil in der Glasindustrie deutlich niedriger, wogegen der Fachkräfteanteil mit Ausbildung im dualen System in der Glasindustrie höher liegt. Insbesondere für viele spezialisierte Tätigkeiten in Instandhaltung und automatisierter Fertigung (Leitstand, Umrüstvorgänge, Qualitätssicherung) ist eine Ausbildung zur Industriemechanikerin/zum Industriemechaniker, zur Mechatronikerin/zum Mechatroniker, zur Elektronikerin/zum Elektroniker oder zur Verfahrensmechanikerin/ zum Verfahrensmechaniker Glastechnik erforderlich. Abbildung 1.9: Glasindustrie in Deutschland: Altersstruktur der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten 2007 und 2012 im Vergleich zum Verarbeitenden Gewerbe (in %) 100 90 11,6 17,1 12,8 16,1 55 und älter 30,9 45– 54 Jahre 80 70 27,2 27,2 31,9 60 50 31,9 31,3 40 23,3 35– 44 Jahre 23,9 30 20 25– 34 Jahre 19,0 18,2 18,2 19,0 10,3 9,5 10,5 10,1 Glasindustrie 2007 Glasindustrie 2012 Verarb. Gewerbe 2007 Verarb. Gewerbe 2012 10 0 15– 24 Jahre Quelle: Bundesagentur für Arbeit. Eine deutliche Alterung der in der Glasindustrie Beschäftigten zeigt der Vergleich der Altersstrukturen 2012 mit 2007 (Abbildung 1.9). In dieser relativ kur- 295 28 Glasindustrie in Deutschland zen Zeitspanne ist eine klare Verschiebung in Richtung ältere Kohorten feststellbar: Allein der Anteil der Altersgruppe 55+ an den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten erhöhte sich von 11,6 % auf 17,1 %. Und 2012 hat die Altersgruppe 45–54 Jahre mit 31,9 % die 35- bis 44-Jährigen als anteilsmäßig stärkste Kohorte abgelöst. Gleichwohl lag die Anzahl der Auszubildenden in der Glasindustrie 2012 mit 2.042 Auszubildenden leicht über der des Jahres 2007 (2.004 Auszubildende). Der »Branchen-Alterungsprozess« ist damit deutlich stärker als im Verarbeitenden Gewerbe insgesamt ausgeprägt, was sich auch in der schwächeren »Erneuerungsrate«, also dem geringeren Anteil Jüngerer in der Glasindustrie zeigt. Laut Verdienststrukturerhebung des Statistischen Bundesamts lag auch das Durchschnittalter in der Branche mit 43,6 Jahren im Jahr 2010 deutlich höher als im Verarbeitenden Gewerbe mit 42,1 Jahren. 1.5 Außenhandel Beim Außenhandel mit Glasprodukten gab es in der Gesamtschau von 2002 bis 2011 Zuwächse (Abbildung 1.10). Die Ausfuhr legte in diesem Zeitraum auf 4,84 Mrd. Euro zu (+22,6 %), die Einfuhr auf 4,2 Mrd. Euro (+50,7 %). Diese deutlich gestiegene Wareneinfuhr ist ein starkes Indiz für einen wachsenden Importdruck, der auf die deutschen Hersteller von Glas und Glaswaren ausgeübt wird. 296 29 Glasindustrie in Deutschland Der Außenhandelssaldo als Differenz zwischen Ausfuhr und Einfuhr entwickelte sich von 1,16 Mrd. Euro im Jahr 2002 über den Höchststand von 1,41 Mrd. Euro im Jahr 2004 zurück auf 639 Mio. Euro im Jahr 2011. Der Anteil des Glasexports nach Weltregionen zeigt die Dominanz zweier Großregionen beim Außenhandel (Abbildung 1.11): Die Europäische Union (EU-27) und das »übrige Asien« mit China und Japan dominieren das weltweite Exportgeschehen vor Nordamerika. Eine stark gegenläufige Dynamik wird beim Vergleich zwischen 2002 und 2011 deutlich: Während die Anteile Europas und Nordamerikas deutlich zurückgingen, wurde der Anteil Asiens fast verdoppelt. Somit veränderte sich auch die Rangliste der größten Exportländer von Glasprodukten (Abbildung 1.11). China war 2011 »Glas-Exportweltmeister« mit einem Anteil von gut 18 % am weltweiten Exportgeschehen, nachdem es 2002 noch den 8. Platz belegte. Der Exportanteil Deutschlands am Weltexport reduzierte sich von 12 % im Jahr 2002 auf 10 % im Jahr 2011 – damit rutschte die 2002 führende Glas-Exportnation Deutschland auf den 2. Platz. Abbildung 1.10: Ausfuhr, Einfuhr und Außenhandelssaldo von Glasprodukten Ausfuhr, Einfuhr und Außenhandelssaldo* von Glas Produkten Deutschlands von 2002 bis 2011 in Deutschland Ausfuhr 6 Einfuhr Saldo 1,6 1,2 4 1,0 3 0,8 0,6 Außenhandelssaldo in Mrd. € Ausfuhr bzw. Einfuhr in Mrd. € 1,4 5 2 0,4 1 0,2 0 0,0 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 *) Ausfuhr minus Einfuhr. Quelle: Comtrade Database; Berechnungen des NIW. 297 30 Glasindustrie in Deutschland Abbildung 1.11: Anteil des Glasexportes nach Weltregionen in Prozent der Welt-Glasexporte Anteil des Glasimportesnach Weltregionenin % der Welt-Glasimporte 60 2002 50 2011 40 30 20 10 0 EU-27 übriges Europa Nordamerika übriges Amerika Naher und Mittlerer Osten übriges Asien übrige Länder Quelle: Comtrade Database;Berechnungen des NIW Quelle: Comtrade Database; Berechnungen des NIW. Abbildung 1.12: Die 10 größten Exportländer von Glasprodukten Die 10 größtenExporteure von Glas Produkten 2011 20 2002 16 2011 in % 12 8 4 0 Quelle: ComtradeDatabase;Berechnungendes NIW Quelle: Comtrade Database; Berechnungen des NIW. 298 31 Glasindustrie in Deutschland Fast zwei Drittel der Glasexporte aus Deutschland gingen im Jahr 2012 in die Europäische Union (mit Frankreich als wichtigstem Bestimmungsland für deutsche Glaswaren), gefolgt von Asien mit knapp 12 % und Amerika mit fast 11 % (BV Glas 2013). Beim Anteil des Glasimports nach Weltregionen liegen die Länder der Europäischen Union nach wie vor vor den übrigen Weltregionen, wenn auch hier die Dynamik gegenläufig ist (Abbildung 1.13): Das übrige Asien holt auf, insbesondere China und Südkorea importierten 2011 deutlich mehr Glaswaren als 2002. Damit löste China die USA als Haupt-Importland von Glasprodukten ab, knapp gefolgt von Deutschland (Abbildung 1.14). Für Deutschland wichtigste Herkunftsländer ausländischer Glaswaren waren 2012 China mit einem Importanteil von 12 %, gefolgt von Belgien (10 %), den USA und Frankreich (beide 8 %) (BV Glas 2013). Abbildung 1.13: Anteil des Glasimportes nach Weltregionen in Prozent der Welt-Glasimporte 50 2002 40 2011 30 20 10 0 EU-27 übriges Europa Nordamerika übriges Amerika Naher und Mittlerer Osten übriges Asien übrige Länder Quelle: Comtrade Database; Berechnungen des NIW. 299 32 Glasindustrie in Deutschland Abbildung 1.14: Die 10 größten Importländer von Glasprodukten Die 10 größtenImporteure von Glas Produkten 2011 20 2002 2011 16 in % 12 8 4 0 Quelle: Comtrade Database; Berechnungen des NIW Quelle: ComtradeDatabase;Berechnungendes NIW 2 Branchentrends und Herausforderungen Glas als Werkstoff, Produkte aus Glas als Vorleistungsgüter oder Konsumgüter und damit die Branche »Herstellung von Glas und Glaswaren« haben seit Langem einen hohen Stellenwert für Wirtschaft und Gesellschaft. Glas »ist der einzige von Menschenhand künstlich geschaffene Werkstoff, der seit etwa sieben Jahrtausenden ununterbrochen in Gebrauch ist. . . . Aus urzeitlichen Anfängen hat Glas über Handwerk und Manufaktur den Weg in die industrielle Fertigung gefunden. Die Herstellung von Glas ist heute eine der wenigen Branchen, in denen die Produktion von der Schaffung eines Materials aus verschiedenen Rohstoffen bis zu den Enderzeugnissen in einem Wirtschaftsbereich zusammengefasst ist« (Neckermann, Wessels 1987: 21). Die Glasindustrie kann als traditionelle, alteingesessene und technologisch ausgereifte Branche bezeichnet werden. Gleichzeitig ist der Industriezweig inzwischen relativ stark globalisiert. Große, multinationale Unternehmen dominieren die großen Sparten der Glasindustrie. Die Unternehmen der Branche 300 33 Glasindustrie in Deutschland müssen sich den härteren Bedingungen durch die Globalisierung und dem gesteigerten Wettbewerb auf ihren inländischen Märkten durch Länder wie China und Indien stellen (Europäische Kommission 2009). In den meisten Industrieländern weist der Markt für Glas und Glaswaren Sättigungstendenzen auf – hier ist jedoch eine differenzierte Betrachtung nach Sparten der Glasindustrie notwendig. Industrielle Produktion erfordert in den meisten Sparten hohe Investitionen in Glaswannen (z. B. regelmäßig wiederkehrende Wannenreparaturen) und Fertigungsanlagen. Die Branche ist eine energieintensive und investitionsgetriebene Branche. Steigende Energiekosten und Fragen rund um »Innovation und Investition« sind damit weitere Herausforderungen für die Glasindustrie. Alle diese Faktoren wirken sich auf Arbeitsplätze und Beschäftigung aus, sowohl in der quantitativen als auch in der qualitativen Dimension, wie am Schluss des Kapitels untersucht wird. Grundlage für die folgende Analyse von Entwicklungstrends der Glasindustrie und künftige Herausforderungen sind die im Rahmen der Branchenstudie durchgeführten Expertengespräche (mit betrieblichen Experten, Gewerkschafts- und Verbandsvertretern) und die Auswertung von branchenbezogener Literatur zur Entwicklung der Märkte, zu Innovations- und Beschäftigungstrends. Zur Illustration und zur Unterstützung der Argumentation werden im Text prägnante Zitate von befragten Experten verwendet, die jeweils durch (Exp.) gekennzeichnet sind. Zunächst werden die Trends für die Branche insgesamt dargestellt, dann erfolgt die spezifische Analyse ausgewählter Sparten der Glasindustrie. 2.1 Marktentwicklung und ökonomische Trends Ausgehend von Erfolgsfaktoren für Unternehmen der Glasindustrie und den Stärken der Branche in Deutschland, die in den Expertengesprächen hervorgehoben wurden, werden im Folgenden der internationale Wettbewerb und die branchenspezifischen Wettbewerbsbedingungen in Deutschland untersucht. 301 34 Glasindustrie in Deutschland Erfolgsfaktoren und Stärken der Branche Ein genereller, von allen befragten Experten betonter Erfolgsfaktor ist die Nachhaltigkeit des Werkstoffes Glas. Glas besteht aus den Rohstoffen Quarzsand, Soda, Kalk und Dolomit, die alle in Deutschland reichhaltig vorkommen. Eine wichtige Rolle spielt dabei Recyclingglas. »Wir können zu 100 % mit heimischen Rohstoffen arbeiten« (Exp.). Bei Glasverpackungen kommt als »Nachhaltigkeitsplus« die Mehrwegfähigkeit und die aus gesundheitlichen Gründen wichtige Inertheit dazu: »Glas gibt keine Inhaltsstoffe ab und garantiert die Reinheit von Lebensmitteln und Pharmaprodukten« (Exp.). Demzufolge ist Nachhaltigkeit eines der zentralen Themen für die Glasindustrie. »Mit ihren vielfältigen Produkten, aber auch als Branche trägt sie dazu bei, nachhaltige Zielsetzungen zu verwirklichen« (BV Glas 2013: 8). Für die Unternehmen der Glasindustrie sind in Deutschland bedeutende Erfolgsfaktoren: das Angebot innovativer, qualitativ hochwertiger, vielfältiger Produkte, ein breites Kundenspektrum sowie eine hohe Produktivität und große Flexibilität. Flexibilität bezieht sich auf die Fähigkeit der Unternehmen, sich schnell auf veränderte Rahmenbedingungen und neue Marktverhältnisse einzustellen, insbesondere auch was konjunkturelle und strukturelle Veränderungen bei den Abnehmerbranchen betrifft. Industrielle Wertschöpfung in Deutschland setzt auch eine hohe Produktivität voraus. Die Unternehmen der Glasindustrie sollten demnach über technologisch hochwertige (»best available technology«), energieeffiziente, weitgehend automatisierte Anlagen und Maschinen verfügen und eine entsprechend effiziente, motivierende Arbeitsorganisation implementiert haben. Innovative und erfolgreiche Unternehmen sind oft in Nischenmärkten zu finden, sie sind mit ihren Abnehmerbranchen, insbesondere mit ihren Schlüsselkunden (Key Account Manager), eng verbunden. Für viele, insbesondere die größeren Unternehmen wird die Internationalisierung von Vertrieb und Produktion immer wichtiger. Grundvoraussetzung für wirtschaftlichen Erfolg sind qualifizierte und spezialisierte Fachkräfte im technischen und in sonstigen betrieb- 302 35 Glasindustrie in Deutschland lichen Bereichen, mit denen Innovationen vorangetrieben werden. Für die energieintensive Glasindustrie sind Energiekosten und damit eine Energieversorgung zu wettbewerbsfähigen Preisen, aber auch Energiemanagement und der effiziente Einsatz von Energie besonders wichtig. Wichtiger Rohstoff für die Glasindustrie ist Recyclingglas – somit sind Preis, Verfügbarkeit und Qualität des Sekundärrohstoffs »Scherben« ein nicht zu unterschätzender Faktor für die Unternehmen der Branche. Ein hoher Altglasanteil in der Wanne führt auch zur Reduktion der Schmelzenergie, damit zu Energieeinspareffekten und letztlich zur Vermeidung von Treibhausgasemissionen. Diese Erfolgsfaktoren korrespondieren mit den von den befragten Experten genannten Stärken der Glasindustrie in Deutschland: Durchweg als Stärken werden die Kundennähe und Kundenorientierung der deutschen Glasindustrie betont. Durch ihre Flexibilität können die Unternehmen schnell auf Markterfordernisse reagieren. Fachkräfte und ihr spezifisches Know-how, Ingenieurskunst und Entwickler, die sich schnell auf neue Lösungen und Produkte einstellen, stehen für die Innovationskraft der Branche. Hier liegt eine explizite Stärke im dualen System der Berufsausbildung und im fachspezifischen Ausbildungsberuf Verfahrensmechaniker/Verfahrensmechanikerin Glastechnik. Die Technologieführerschaft in vielen Bereichen wird durch einen starken Maschinen- und Anlagenbau für die Glasindustrie gestützt. Weitere Vorteile liegen in Mitbestimmung und Tarifpolitik im spezifischen deutschen System der industriellen Beziehungen, die für Stabilität und Verlässlichkeit in der Ausgestaltung von Arbeitsverhältnissen sorgen. »Die Sozialpartnerschaft ist ein dickes Pfund für die Branche. Unsere Kunden und die schwankende Nachfrage fordern von uns eine sehr hohe Flexibilität ab. Und um die zu erreichen, ist eine gute Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Beziehung sehr wichtig« (Exp.). »Die Tarifpolitik ist im Großen und Ganzen ein Vorteil. Im Detail ist die Tariflandschaft in der Glasindustrie aber zu stark zersplittert. Aber bei Standortfragen war man in den letzten Jahren immer in der Lage, über flexible Lösungen Antworten zu finden« (Exp.). 303 36 Glasindustrie in Deutschland Im Sinne einer Analyse von Stärken und Schwächen der Glasindustrie (SWOT-Analyse) wurden die Experten auch nach branchenspezifischen Standortnachteilen in Deutschland gefragt. Ein zentraler Punkt sind hier die hohen Energiepreise, »die einer energieintensiven Branche wie der Glasindustrie das Überleben schwer machen« (Exp.). Auch die große Marktmacht der Abnehmer führt bei vielen Unternehmen dazu, dass ihre Gewinnspanne immer kleiner wird: »Preiskorrekturen nach oben sind äußerst schwer durchsetzbar, auch wenn ihre Notwendigkeit klar auf dem Tisch liegt« (Exp.). Als weiteres Branchenmanko gilt die mangelnde Wertschätzung der Glasindustrie und ihre Wahrnehmung als wenig innovative Branche beim Kunden, beim Verbraucher und in der Politik. »Die Stärke der Glasindustrie ist das hervorragende Produkt. Und unsere Schwäche ist es, dass diese Stärke nicht nach außen kommuniziert wird und die Branche nicht gemeinsam agiert. Und das wäre wirklich wichtig, weil es uns als kleiner Industriebranche an politischer Unterstützung mangelt« (Exp.). Durch das Branchenimage wird es für viele Unternehmen der Glasindustrie auch immer schwieriger, Fachkräfte und geeignete Auszubildende zu rekrutieren. Auf diese und weitere Stärken, Schwächen und Herausforderungen für die Glasindustrie in Deutschland wird in den folgenden Kapiteln näher eingegangen. Eine Studie zur Wettbewerbsfähigkeit der Glasindustrie in der Europäischen Union wurde 2008 für die Europäische Kommission erstellt (ECORYS 2008). Ergänzend zur bisherigen Darstellung der Stärken, Schwächen, Erfolgsfaktoren und Herausforderungen für die deutsche Glasindustrie wird die SWOT-Analyse aus dieser europäischen Studie stichwortartig zusammengefasst: Strengths (Stärken): • Große, international wettbewerbsfähige Konzerne mit Sitz in der EU. • Effiziente Produktion durch Economies of Scale. • Hohe Qualität der Produkte. • Technische Prozessinnovationen und hohe Produktivität. • Gut qualifizierte Fachkräfte. 304 37 Glasindustrie in Deutschland Weaknesses (Schwächen): • Reifer Produktionsprozess mit limitierten weiteren Effizienzpotenzialen. • Hohe Eintrittsbarrieren für neue Unternehmen. • Lange Investitionszyklen. Opportunities (Chancen): • Exportchancen durch Marktöffnung. • Wachsende Nachfrage nach innovativen und spezialisierten Produkten. • Ausbau von Forschung und Entwicklung (FuE), um Prozess- und Produktentwicklung zu forcieren. • Umstellung auf erneuerbare Energien. • Höhere Arbeitsproduktivität durch den Zusammenschluss von Unternehmen. • Weitere Substitution von Holz und Metallen durch Glas. • Wahrnehmung von Glas als ökologisches Produkt. Threats (Risiken): • Globaler Wettbewerb und Konsolidierung durch wenige globale Konzerne. • Zunehmender Wettbewerb aus Niedrigkosten-Ländern (»low-cost-countries«). • Erhöhung des Kostendrucks durch marktmächtige Abnehmer wie z. B. Automobilhersteller. • Überkapazitäten in wichtigen Sparten der Glasindustrie. • Energiepreiserhöhungen und strenge Umweltauflagen (»exclusively in the EU«). • Substitution von Glas durch Kunststoff, Aluminium, Karton etc. • Steigende Marktmacht der Abnehmer. Wirkungen der Globalisierung Die Studie zur EU-Glasindustrie macht neben der SWOT-Analyse auch Aussagen zur Wettbewerbsposition und zur internationalen Wettbewerbsfähigkeit der Glasindustrie (ECORYS 2008). Demnach müssen sich Unternehmen der Glasindustrie den »härteren Bedingungen durch die Globalisierung und dem gesteigerten Wettbewerb auf ihren inländischen Märkten durch Länder wie China 305 38 Glasindustrie in Deutschland und Indien stellen. Eine weitere damit verbundene Herausforderung sind die Energiekosten sowie die Erfüllung der Klimawandelanforderungen. Zum Beispiel hat sich die Finanz- und Ertragslage der Glasindustrie seit 2000 insgesamt verschlechtert, die Reingewinnmarge ist gesunken. Der Studie zufolge ist ein Großteil dieses Leistungsrückgangs auf die steigenden Kosten in Europa zurückzuführen, insbesondere bezüglich Energie, Arbeit und Einhaltung der Rechtsvorschriften im Umweltbereich« (Europäische Kommission 2009). Zudem haben Glasproduzenten innerhalb der Europäischen Union andere Wettbewerbsvoraussetzungen als Produzenten aus konkurrierenden Nicht-EU-Ländern. »Die europäischen Unternehmen sind bedeutend höheren Kosten ausgesetzt, da in Nicht-EU-Ländern die Gesetzgebung in den Bereichen Umweltschutz und Sicherheit weniger streng ist« (Europäische Kommission 2009). Zusätzlich bestehen bedeutende nicht tarifäre Hemmnisse für den Handel mit Märkten von Drittländern, wie z. B. Importquoten oder »local-content-Anforderungen«. Die wesentlichen Ergebnisse dieser auf die Europäische Union bezogenen Studie lassen sich auf die Situation der Glasindustrie in Deutschland im internationalen Wettbewerb übertragen, wie nicht zuletzt die Gespräche mit betrieblichen Experten und Branchenkennern gezeigt haben. Mit der Verschiebung der weltweiten Nachfrage nach Glas und Glaswaren setzte insbesondere in Asien, aber auch in Ländern wie der Türkei, ein massiver Aufbau von Produktionskapazitäten ein. Ein hoher Druck wird z. B. auf Flachglashersteller und -veredler durch neue Wettbewerber aus der Türkei und aus China ausgeübt; gleichzeitig werden auch innerhalb der Flachglaskonzerne die Aufträge neu verteilt, z. B. nach Osteuropa, wo die Konzerne Werke mit neuesten Technologien aufgebaut haben: So werden im Automotive-Bereich die Windschutzscheiben für die Kompaktklasse auch für Automobil-Montagestandorte in Deutschland häufig aus diesen Ländern bezogen, während Scheiben für die Premiumklasse eher noch hierzulande produziert werden (Exp.). Der Markt für Solarglas brach infolge der Importe kompletter Fotovoltaikmodule aus China und dem Niedergang der Solarindustrie in Ostdeutschland zusammen. Und auch beim Behälterglas ist ein höherer Importdruck spürbar, obwohl beispielsweise bei Glasflaschen die Märkte in der 306 39 Glasindustrie in Deutschland Regel nur eine Reichweite von mehreren Hundert Kilometern um die Glashütte haben. Hier kommt es vor allem durch Produzenten in angrenzenden Ländern wie Tschechien und Polen zu einer verschärften Wettbewerbssituation. Moderne Produktionsstätten in Osteuropa und expandierende Anbieter aus Asien erhöhen nicht nur den Importdruck bei vielen Glasprodukten, sondern auch den Wettbewerb auf den europäischen und den globalen Auslandsmärkten. Gerade in Europa gibt es in einigen Segmenten bereits erhebliche Überkapazitäten, obwohl sowohl im Flachglas- als auch im Behälterglasbereich bereits Produktionskapazitäten abgebaut wurden. Zum Teil zulasten von Glashütten in Deutschland (Standortschließung in Achern und Kapazitätsabbau in Obernkirchen), z. T. profitieren deutsche Werke durch Auftragsverlagerungen infolge von Standortschließungen im europäischen Ausland. Insgesamt sind die exportierenden Unternehmen einem sich intensivierenden Preiswettbewerb ausgesetzt. Marktchancen für Unternehmen der Glasindustrie aus Deutschland sind vor allem durch hohe Qualität und innovative Produkte zu erreichen. Da in allen Abnehmerbranchen mehr oder weniger starke Globalisierungsprozesse stattfinden, werden fast alle Sparten der Glasindustrie mit entsprechenden Anforderungen ihrer Kunden konfrontiert. Flachglasveredler aus dem Automotive-Bereich sollen Produktionsstätten in Nähe der neuen Automobilwerke ihrer Kunden in China, Indien und anderen Schwellenländern aufbauen. Spezialglashersteller haben ihre Abnehmer für Displayglas hauptsächlich in Südostasien. Behälterglashersteller sollen Flaschen, Flakons, Arzneimittelbehälter weltweit liefern, am besten »just-in-time« aus einer Produktion vor Ort. Unternehmen aus verschiedenen Sparten der Glasindustrie geraten damit immer stärker unter Druck, eigene Produktionsstätten in den für ihre Hauptabnehmer relevanten Märkten aufzubauen, um ihre Lieferantenposition bei diesen zu sichern. 307 40 Glasindustrie in Deutschland Marktbedingungen in Deutschland In der Glasindustrie ist die durchschnittliche Betriebsgröße ähnlich wie im Verarbeitenden Gewerbe insgesamt. Bezogen auf die Eigentumsstrukturen ist die Glasindustrie aber eine relativ stark konzentrierte Branche. Im Bereich Flachglas dominieren Konzerne wie Saint-Gobain und NSG/Pilkington die Branchenlandschaft, beim Behälterglas Ardagh, Owens-Illinois (O-I) und Saint-Gobain Oberland sowie beim Spezialglas die Schott AG. Die Mehrzahl dieser Unternehmen wird mehr oder weniger stark aus dem Ausland gesteuert – die Konzernzentralen sind in Paris, Tokio, Dublin, Perrysburg/Ohio, Bad Wurzach und Mainz. Daneben gibt es weitere große Hersteller wie Gerresheimer, einem Hersteller von Spezialverpackungen aus Glas und Kunststoff, sowie mittelständische Unternehmen, z. B. Wiegand als Behälterglashersteller. Einige Hersteller aus den verschiedenen Sparten beliefern regionale Märkte, andere wiederum sind multinationale Unternehmen auf globaler Ebene. Bei den Marktbedingungen für die Glasindustrie in Deutschland spielen verschiedene Kostenfaktoren und die Entwicklung der Erzeugerpreise eine wichtige Rolle. Die für die Herstellung von Glas benötigten Primärrohstoffe Quarzsand, Soda, Kalk und Dolomit sind in Deutschland in ausreichender Menge und Qualität vorhanden. »Die Preisentwicklung bei den klassischen Rohstoffen der Glasindustrie ist stabil« (Exp.). Dagegen ist beim wichtigen Sekundärrohstoff Recyclingglas (»Scherben«) der Preis in den letzten Jahren angestiegen: »Seit das Duale System Deutschland vor acht Jahren geändert wurde und die Eigentumsrechte von Scherben versteigert werden, sind die Scherbenkosten für die Glasindustrie deutlich angestiegen. Scherben sind zum Spekulationsobjekt geworden« (Exp.). Ein je nach Sparte sehr bedeutender Kostenfaktor sind die Energiekosten. Der Energiekostenanteil lag im Jahr 2011 in der Gesamtbranche »Herstellung von Glas und Glaswaren« bei 8,6 % (Kostenstrukturstatistik des Statistischen Bundesamts). Differenziert nach Sparten lag der Energiekostenanteil bei der »Herstellung von Hohlglas« mit 14,9 % am höchsten, gefolgt von der »Herstellung 308 41 Glasindustrie in Deutschland von Flachglas« mit 13,9 %. Geringer, aber immer noch deutlich über dem Durchschnitt des Verarbeitenden Gewerbes (2,1 % im Jahr 2011), ist der Energiekostenanteil bei Glasfasern (8,4 %), Spezialglas (7,4 %) und bei der Flachglasveredlung (4,0 %). Die Energiekosten stiegen in den letzten Jahren stark an: Elektrischer Strom war 2012 um 30 % teurer als 2005 und Erdgas (bei Abgabe an die Industrie) um 73 %. Den Energiekosten kommt in der Glasindustrie als einer energieintensiven Branche eine sehr hohe Bedeutung zu, weshalb die politischen Rahmenbedingungen im Energiebereich für die Branche sehr wichtig sind. Bisher sind besonders energieintensive Unternehmen der Glasindustrie durch die Ausnahmeregelungen für energieintensive Branchen teilweise befreit von der EEG-Umlage sowie von Netzentgelten und können durch die »Carbon-Leakage-Kriterien« beim Emissionshandel sparen. Als EEG-Härtefall sind jedoch nur wenige Unternehmen aus der Glasindustrie eingestuft. »Nur wenige Standorte erreichen die erforderlichen 14 % Stromkosten im Verhältnis zur Bruttowertschöpfung. . . . In der deutschen Glasindustrie sind es nur 26 von rund 400 Unternehmen, die die Voraussetzungen für die besondere Ausgleichsregelung erfüllen« (BV Glas 2013: 6). Ohne die diversen Entlastungsregelungen wäre, so die meisten der befragten Experten, die europäische und die weltweite Wettbewerbsfähigkeit bedeutender Sparten der Glasindustrie erheblich gefährdet. »Glashersteller sind auf bezahlbare Energie angewiesen. Und auch bei den Umweltauflagen darf der Bogen nicht überspannt werden. Die Regeln gelten zwar meist europaweit, aber bei der Umsetzung ist Deutschland besonders gründlich. Deutschland geht da zu 100 % ran, während andere Länder großzügiger sind, was sich wiederum direkt auf die Wettbewerbsbedingungen für unsere Glashersteller auswirkt« (Exp.). Im Gegenzug zu den steigenden Kosten konnten die Erzeugerpreise für Glas und Glaswaren nur deutlich weniger erhöht werden: von 2005 bis 2012 über alle Sparten hinweg lediglich um 8 % laut Erzeugerpreisindex des Statistischen Bundesamts. Besonders starke Preisschwankungen gab es bei der Flachglasherstel- 309 42 Glasindustrie in Deutschland lung (Abbildung 2.1): Aufgrund der hohen Nachfrage stieg der Preis für Basisglas von 2005 bis 2007 um mehr als 50 %. Mit dem Ausbau der Basisglaskapazitäten in Ostdeutschland, dem folgenden Niedergang beim Solarglas und der Wirtschaftskrise 2009 kam es in der Folge zu einem klaren Preisverfall. 2009 lag der Erzeugerpreis für Basisglas um 10 % unter dem Ausgangswert 2005. Seither erholte sich der jahresdurchschnittliche Preis für Basisglas (abgesehen von saisonalen Schwankungen) nicht mehr. Die Preisspirale nach unten scheint sich fortzusetzen: 2012 lag der Erzeugerpreis für Basisglas um 23 % unter dem Wert von 2005, im ersten Halbjahr 2013 deutlich um über 30 % darunter. Innerhalb der Glasindustrie entwickelte sich der Erzeugerpreis für die Hersteller von Behälterglas am besten: Beim Hohlglas lag der Erzeugerpreis im Jahr 2012 um knapp 20 % über dem des Jahres 2005. Abb. 2.1: Entwicklung der Erzeugerpreise nach den Sparten Abbildung 2.1: Entwicklung der Erzeugerpreise nach den Sparten der Glasindustrie (Index 2005= 100) der Glasindustrie (Index 2005= 100) Flachglas (Basisglas) Veredeltes Flachglas Hohlglas Glasfasern Spezialglas 160 150 140 130 120 110 100 90 80 70 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 Quelle: Statistisches Bundesamt, Index der Erzeugerpreise. 310 43 Glasindustrie in Deutschland Nicht zuletzt aufgrund der divergierenden Entwicklung von Kosten und Verkaufspreisen bleibt die Ertragslage in der Glasindustrie angespannt. Eher die Ausnahme sind Unternehmen, die in Deutschland einen Ertrag von mehr als 10 % (nach HGB) erwirtschaften und damit auch ein stabil hohes Investitionsniveau halten. »Gerade weil wir nachhaltig investieren, stehen wir wirtschaftlich gut da« (Exp.). Bei anderen Unternehmen, insbesondere aus dem Bereich Flachglas, wirkt sich die unbefriedigende Ertragslage in den letzten Jahren direkt auf die Investitionsbereitschaft aus. Und für manche ist die wirtschaftliche Situation so schlecht, dass sie bereits Insolvenz anmelden mussten oder kurz davor stehen (Exp.). In der investitionsgetriebenen Glasindustrie wird die Zukunftsfähigkeit von Unternehmen stark in Mitleidenschaft gezogen, wenn sie sich bei Investitionen zu stark ausklinken. In der Regel erfolgen größere Investitionen wie ein Wannenbau zyklisch, bei Flachglaswannen ist in der Regel alle 15 Jahre eine Komplettsanierung (»Kaltreparatur«) notwendig, bei der »Behälterglasindustrie alle 12 Jahre als geplanter Prozess« (Exp.). Häufig werden Wannenbauten auch zur temporären Herausnahme von Produktionskapazitäten genutzt. Bei Überkapazitäten im deutschen oder europäischen Markt wird der Umbau von Schmelzwannen verlängert, um zu einer Marktanpassung zu kommen. Für die weitere Betrachtung der Wettbewerbsbedingungen im Binnenmarkt ist eine Differenzierung nach den Sparten der Glasindustrie erforderlich. Doch zuvor wird noch auf verschiedene Strategieansätze von Unternehmen in Deutschland eingegangen, die in den letzten Jahren eine mehr oder weniger große Bedeutung erlangt haben. Strategieansätze von Unternehmen in Deutschland Die deutschen Hersteller von Glas und Glaswaren ergriffen in den letzten Jahren unterschiedliche Strategien und Maßnahmen, um sich den veränderten Wettbewerbsbedingungen im Heimatmarkt und auf globaler Ebene zu stellen. Zwar sind Kosten ein wichtiges Argument und es geht auch darum, Überkapazitäten aus 311 44 Glasindustrie in Deutschland dem Markt zu nehmen. »Obwohl die Preise im Wettbewerb definitiv wichtig sind, sprechen wir in der Glasindustrie von einem Innovationswettbewerb, weil nur so Alleinstellungsmerkmale erarbeitet werden können« (Exp.). Zentrale Bestandteile von Unternehmensstrategien sind demnach das Anstreben der Technologieführerschaft, sowohl auf Produkt- als auch auf Verfahrensseite, die Internationalisierung sowie die Konzentration auf Produkte mit hoher Wertschöpfung: • Zum Thema Technologieführerschaft gehört die Entwicklung innovativer Produkte und Lösungen in allen Sparten der Glasindustrie. Insbesondere im Bereich Spezialgläser, die durch »die gezielte Auswahl ihrer chemischen Zusammensetzung speziellen Anforderungen angepasst werden können und daher ein nahezu unerschöpfliches Entwicklungspotenzial eröffnen, sind deutsche Hersteller mit innovativen Erzeugnissen auf internationalen Märkten erfolgreich« (Willett 1998: 433). Im Bereich Flachglasveredlung gilt dasselbe für Funktionsbeschichtungen, im Bereich Behälterglas für Leichtglastechnologien und innovative Designs. • Das zweite Element von Unternehmensstrategien beim Thema Technologieführerschaft sind Verfahrens- bzw. Prozessinnovationen, die gezielt zur Verbesserung der Effizienz von betrieblichen Abläufen entwickelt werden. Damit werden Rationalisierungspotenziale durch Automatisierung und Technisierung gehoben, um die Arbeitsproduktivität zu erhöhen. Und dadurch wird heute verstärkt auch die Ressourcenproduktivität erhöht, indem die Materialeffizienz und die Energieeffizienz optimiert werden. • Internationalisierung ist das dritte Element bei den Unternehmensstrategien. Weltweite Märkte werden nicht nur durch Vertriebseinheiten vor Ort, sondern auch durch Produktion und Entwicklung in den jeweiligen Märkten erschlossen. Beispiele für Strategien der Internationalisierung von Unternehmen der deutschen Glasindustrie sind vielfältig. Vorreiter waren Schott als führender Spezialglashersteller und seit den 1990er-Jahren Gerresheimer als Behälterglashersteller, der gleichzeitig auf Produkte mit hohem Wachstumspotenzial, z. B. Glas für die Pharma- und Kosmetikindustrie, fokussierte. Generell war bereits in den 1990er-Jahren »in sämtlichen Sparten der deutschen 312 45 Glasindustrie in Deutschland Glasindustrie eine zunehmend internationale Ausrichtung der Unternehmen zu beobachten« (Willett 1998: 435). • Ein viertes Element ist die Konzentration auf Produkte mit mehr Wachstumspotenzial sowie höherer Wertschöpfung und Wertigkeit. Unternehmen aus der Flachglasindustrie fokussieren auf Premium-Produkte für Automobilhersteller, z. B. funktionsintegrierte Windschutzscheiben, und für die Bauindustrie, z. B. designintensive Elemente für Glasfassaden oder Fenster mit besten Isoliereigenschaften. Unternehmen aus dem Bereich Behälterglas konzentrieren sich auf qualitativ hochwertige und gleichzeitig leichte Glasverpackungen oder auf designorientierte Gläser für die Kosmetikindustrie. Neben diesen vier Strategieelementen sind die Kundennähe, der Service und die Nachhaltigkeit für viele Unternehmen der Glasindustrie in Deutschland wichtige Alleinstellungsmerkmale gegenüber dem internationalen Wettbewerb. Es geht den Unternehmen um die »Pflege und Erschließung eines Kundenportfolios, das auf langfristige Zusammenarbeit angelegt ist und auch um dauerhafte Innovationspartnerschaften mit den Kunden« (Exp.). Zum Service gehört neben der technischen Betreuung der Kunden auch die Gewährleistung von Flexibilität, Liefertreue und Just-in-Time-Anforderungen. Ziel der Unternehmen ist es, die heutigen Märkte zu halten, Märkte, die durch Substitutionsprozesse verloren gingen, zurückzuerobern, und neue Märkte zu erschließen. – »Und ein wichtiges Argument dafür ist die Nachhaltigkeit« (Exp.). 2.2 Entwicklungstrends nach Sparten Die einzelnen Sparten der Glasindustrie sind unterschiedlichen Marktbedingungen ausgesetzt. Die verschiedenen Abnehmerbranchen werden mit einer Vielfalt unterschiedlicher Produkte beliefert. »Jede Teilbranche ist für sich ein Unikat« (Exp.). Manche Entwicklungstrends treffen deshalb nur für bestimmte Sparten der Glasindustrie zu, weshalb die Branche im Folgenden differenziert betrachtet wird. Nach einem Überblick zu allen Sparten werden dann Entwicklungstrends bei den großen Teilbranchen Flachglas und Behälterglas ausführlicher betrachtet. 313 46 Glasindustrie in Deutschland Herstellung von Flachglas: Flachglashersteller produzieren Basisglas für die Weiterverarbeitung durch Flachglasveredler. Sie machten 2012 einen Umsatzanteil von 11,0 % und einen Beschäftigtenanteil von 7,4 % an der gesamten Glasindustrie aus. Die Flachglasherstellung ist mit ihren komplexen Großanlagen zur Erzeugung von Basisglas die kapitalintensivste Sparte der Glasindustrie. Die Unternehmen stellen die Basisgläser aus der eigenen Glasschmelze her. Der weit überwiegende Anteil des Basisglases wird im Floatverfahren hergestellt, bei dem das auf über 1.000 °C erhitzte Glas aus dem Wannenofen auf ein Bad aus flüssigem Zinn fließt und sich dort ausbreitet. Auf dem bis zu 60 m langen Zinnbad »floated« die Glasmasse als endloses, absolut planparalleles Band und kühlt auf rund 600 °C ab. Im anschließenden Kühltunnel und offenen Rollengang wird das Glasband weiter abgekühlt und schließlich in geeignete Formate zugeschnitten (Willett 1998: 285). Der größte Teil der europäischen Flachglasherstellung befindet sich unter der Kontrolle weniger internationaler Unternehmen. Die vier Konzerne NSG (Pilkington), Saint-Gobain, Asahi (Glaverbel) und Guardian dominieren den Markt. Darüber hinaus gibt es in Deutschland weitere Flachglaserzeuger, die in den letzten Jahren neue, moderne Produktionsstätten im Osten aufgebaut haben, wie F-Glass und Euroglas. Die großen Überkapazitäten in dieser Sparte resultieren u. a. daraus, dass der Solarglas-Absatz in Deutschland eingebrochen ist. Solarglas findet aufgrund des Importdrucks bei Fotovoltaikmodulen in Deutschland kaum mehr Abnehmer, obwohl es vor wenigen Jahren noch Hoffnungsträger war und für einen massiven Ausbau der Produktionskapazitäten gesorgt hat. Veredlung und Bearbeitung von Flachglas: Flachglasveredler bearbeiten das von den Herstellern erzeugte Basisglas weiter, sie verfügen also über keine eigene Glasschmelze. Der Umsatzanteil dieser Sparte lag 2012 bei 39,0 %, der Beschäftigtenanteil bei 45,4 %. Neben den vertikal integrierten Konzernbetrieben wie Saint-Gobain und Pilkington gibt es in Deutschland zahlreiche kleine und mittlere Flachglasveredler, insgesamt besteht die Teilbranche aus 220 314 47 Glasindustrie in Deutschland Betrieben (mit mehr als 20 Beschäftigten). Hauptabnehmerbranchen dieser Sparte sind die Bauwirtschaft und die Automobilindustrie (siehe Teilkapitel »Flachglas«). Herstellung von Hohlglas: Die Sparte Hohlglasherstellung besteht aus den Behälterglas- und den Wirtschaftsglasherstellern. Der Umsatzanteil dieser Sparte lag 2012 bei 26,8 %, der Beschäftigtenanteil bei 26,7 %. Behälterglas wird in der Regel in mehrstufigen Betrieben produziert, von der Schmelzwanne über IS-Maschine, Kühlofen und Qualitätskontrollen bis zur geprüften, versandfertigen Flasche. Hauptabnehmer der Behälterglassparte sind Konsumgüterindustrien wie Getränkehersteller, die Kosmetikindustrie und Nahrungsmittelproduzenten, aber auch die Pharmaindustrie. Behälterglashersteller machen den größten Teilbereich des Hohlglassegments aus (siehe Teilkapitel »Behälterglas«). Der kleinere Teilbereich Kristall- und Wirtschaftsglas, also die Herstellung von Trinkgläsern, Glasgeschirr und Geschenkartikeln aus Glas unterlag in den letzten Jahrzehnten einem Strukturwandel mit massiven Auswirkungen auf die Unternehmenslandschaft in Deutschland. »Beim Wirtschaftsglas hatte die Produktion von ›Massenware‹ keine Überlebenschance in Deutschland – da gab es einen Kahlschlag« (Exp.). Zum einen gab es in den 1990er-Jahren einen starken Trend zur Auslandsverlagerung in die angrenzenden mittel- und osteuropäischen Länder, zum anderen entstand durch Wettbewerber aus der Türkei und Asien ein starker Importdruck. Nur Unternehmen mit Nischenstrategien rund um Wertigkeit, Qualität, Design haben überlebt. Lediglich 4 Hüttenunternehmen mit eigener Wanne, die Glas sowohl erschmelzen als auch weiterverarbeiten, sind übriggeblieben: Nachtmann Bleikristallwerke, Ritzenhoff, Stölzle, Zwiesel Kristallglas. Darüber hinaus gibt es noch einige kleinere Veredlungsbetriebe, die über keine eigene Glasschmelze verfügen. »Früher gab es Dutzende von Firmen im Bereich Wirtschaftsglas, da ist relativ wenig übriggeblieben« (Exp.). Seit einigen Jahren scheint aber mit den verbliebenen »Hochqualitäts-Produzenten« der Boden beim strukturell bedingten Rückgang erreicht zu sein. 315 48 Glasindustrie in Deutschland Herstellung von Glasfasern: Die Glasfasersparte ist in 2 Bereiche unterteilt: Isolierglasfasern und Verstärkungsglasfasern. Die Sparte ist mit einem Umsatzanteil von 9,4 % und einem Beschäftigtenanteil von 6,7 % die kleinste Teilbranche der Glasindustrie. Glasfasern werden in einer Vielzahl von Produkten verwendet. »Überwiegend aus Altglas hergestellt, finden sie Anwendung als Dämmstoff. Aus reinstem Quarzsand hergestellt, kommen sie als Glasfaserkabel zur Datenübertragung zum Einsatz. . . . Einsatzmöglichkeiten gibt es nicht zuletzt im Bereich der erneuerbaren Energien. Als Verstärkungsglasfasern verleihen Glasfasern den Rotorblättern von Windkraftanlagen Stabilität« (BV Glas 2013: 23). Innerhalb der Sparte gibt es in den letzten Jahren laut den befragten Experten eine gespaltene Entwicklung: Während die Verstärkungsglasfaser-Hersteller unter Absatzproblemen leiden, ist der Markt für Glaswolle mit seinen guten Dämmeigenschaften (energetische Gebäudesanierung) eher stabil. Herstellung von Spezialglas und technischen Glaswaren: Die Spezialglasherstellung ist die am stärksten exportorientierte Sparte der Glasindustrie. Sowohl Umsatz- als auch Beschäftigtenanteil dieser Sparte an der Glasindustrie lagen 2012 bei 13,8 %. Spezialgläser entstehen durch eine gezielte Zusammensetzung chemischer Bestandteile, die dem Glas besondere Eigenschaften verleihen und es exakt den gewünschten Anforderungen anpassen. Die Anwendungsbereiche von Spezialgläsern sind breit gefächert: Insbesondere Displayglas, das »in vielen Cover-&-Touch-Anwendungen eine Rolle spielt, stellt die Spezialglasindustrie vor immer größere Herausforderungen« (BV Glas 2013: 24). Die Abnehmer aus der Elektronikindustrie verlangen immer dünnere, dabei aber zugleich transparente und stabile Materialien. Klassische Spezialglassegmente sind z. B. Stangen, Stäbe, Kugeln für vielfältige Anwendungen vom Labor bis in Anlagen der chemischen und pharmazeutischen Industrie; Glaskolben, optische Gläser und Glasröhren für verschiedene Einsatzzwecke sowie Glaskeramik für die Hauswirtschaftstechnik und für Cerankochfelder bei Elektroherden. Für die Spezialglashersteller haben Produktinnovationen einen sehr hohen Stellenwert. In diesem Bereich dominieren in Deutschland im Gegensatz zu den 316 49 Glasindustrie in Deutschland großen Sparten der Glasindustrie nicht Konzerne mit Sitz im Ausland, sondern Unternehmen aus Deutschland wie Schott, Osram und Technische Glaswerke Ilmenau. Der Technologiekonzern Schott AG ist der größte Spezialglashersteller Deutschlands. Vor mehr als 125 Jahren als Spezialglasfabrik in Jena gegründet, entwickelt und produziert Schott heute weltweit an zahlreichen Standorten Spezialwerkstoffe, Komponenten und Systeme für den Einsatz in Hausgeräten, Pharmazie, Solarenergie, Elektronik, Optik und Automotive. Rund 50.000 Produkte in über 400 Glasarten entstehen in einem aufwendigen Schmelz- und Verarbeitungsprozess (Siemens 2010: 38). Flachglas Der Bereich Flachglas besteht aus den beiden Sparten »Herstellung von Flachglas« und »Veredlung und Bearbeitung von Flachglas«. Flachglas hat insbesondere für die Bauwirtschaft und die Automobilindustrie eine hohe Bedeutung. Insgesamt ist die Bauwirtschaft seit geraumer Zeit zu einem wichtigen Motor für die Glasindustrie geworden: »Nicht nur Floatglas als wichtiges Ausgangsmaterial für Fenster und Fassadenelemente, sondern auch Glasbausteine als wiederentdeckte Designmaterialien sowie Glaswolle als Isolationsmaterial gehören zu den Sparten, in denen der Markt deutlich wächst« (Siemens 2006: 5). Bei der Flachglasherstellung gab es in den letzten 10 Jahren einen starken Ausbau von Produktionskapazitäten, u. a. aufgrund des erwarteten Booms der Solarindustrie. Mehrere neue Floatlinien wurden insbesondere in Ostdeutschland aufgebaut. Nachdem der Markt für Solarglas in Deutschland eingebrochen ist, gibt es beim Basisglas nun deutliche Überkapazitäten. Dies zeigt sich in Zahlen zur Entwicklung von 2008 bis 2012: Während die Produktion von Basisglas in diesem Zeitraum um gut 50 % zulegte, ging der Umsatz um 10 % zurück. Und der Erzeugerpreis für Basisglas brach im Zeitraum von 2007 bis 2012 gar um 50 % ein. Zitate aus den Experteninterviews untermauern die schwierige Lage: • »Moderne Hütten, die Solarglas nicht mehr verkaufen können, gehen jetzt ins Basisglas. Hier ist es zu Überkapazitäten gekommen. Zusätzliche negative 317 50 Glasindustrie in Deutschland Effekte eher kurzfristiger Natur entstehen durch Hersteller aus dem Süden Europas, die derzeit mit Schleuderpreisen in den Markt gehen« (Exp.). • »Durch den Fotovoltaik-Boom entstanden in Deutschland massive Überkapazitäten bei der Flachglaserzeugung – heute wird dadurch auch für andere Märkte im Flachglasbereich, insbesondere bei Basisglas für die Bauwirtschaft, Preisdruck ausgeübt« (Exp.). Auch bei der Flachglasveredlung gab es in den letzten Jahren einen deutlichen Kapazitätsaufbau, jedoch nicht im Osten Deutschlands, sondern vorrangig in Osteuropa, wo hochmoderne Anlagen aufgebaut wurden. Inzwischen ist im Flachglasbereich jedoch eine Anpassung der Produktionskapazitäten in Europa zu erkennen. So hat beispielsweise Pilkington bereits Standorte in Spanien, Italien, Finnland und Schweden geschlossen. Die Zukunftsaussichten der Flachglassparte werden von Branchenkennern sehr zwiespältig beurteilt – dazu zwei Beispiele, die für die konträren Statements verschiedener Experten stehen: • »Aufgrund der Klimadebatte sehe ich glänzende Aussichten für die nächsten Jahre, dass sich die Produktion bei der Flachglasindustrie wieder erweitern wird. Wir sehen zwar in den letzten Jahren einen Preisverfall und teilweise Produktionsrückgänge bei der Flachglasindustrie. Aber längerfristig geht es gar nicht anders, die Klimaziele können nur erreicht werden, wenn in Wärmedämmung und damit in innovative Lösungen der Glasindustrie investiert wird« (Exp.). • »Flachglas ist der am stärksten unter Druck stehende und damit der gefährdetste Bereich der Glasindustrie. Vor allem im Automotive-Bereich, aber auch beim Flachglas insgesamt verschärft sich der Preiswettbewerb aus dem Osten. Für Kompaktklasse-Pkw kommt teilweise bereits die komplette Rundumverglasung aus China. Nur das Distributionscenter mit Lagerhaltung sorgt in Deutschland für ein paar Arbeitsplätze. Auch für den Premiumbereich kommen die Autoscheiben bereits teilweise aus der Türkei oder aus Rumänien und nur die Hochqualitäts-Windschutzscheiben werden noch aus deutscher Produktion bezogen« (Exp.). 318 51 Glasindustrie in Deutschland Unter einem besonders hohen Druck stehen – das untermauert dieses Expertenstatement – die Automobilzulieferer unter den Flachglasveredlern. Preisdruck, jährliche Preissenkungen bzw. entsprechende Zugeständnisse seitens der Zulieferer sind seit den 1990er-Jahren ein die automobile Wertschöpfungskette prägende Themen. Die vor gut 20 Jahre als »Lopez-Effekt« aufgekommene Problematik verschärft sich tendenziell weiter. Die Autohersteller ziehen die Preisschraube in Richtung Zulieferer alljährlich an. Der Kostendruck der Hersteller wird damit auf die Zulieferer abgewälzt und von den direkten Zulieferern ihrerseits als Preisdruck auf die Unternehmen der 2. und 3. Zuliefererebene durchgereicht. »Existenzielle Bedrohung insbesondere der kleineren Unternehmen, der Zwang zur Verlagerung von Arbeitsplätzen und Fertigungen in Low-Cost-Standorte, sinkende Innovationsfähigkeit und abnehmende Qualität bei den Produkten sind die zumeist unmittelbaren Folgen eines erhöhten Preisdruckes, der an die Grenzen – und zum Teil darüber hinaus – der Überlebensfähigkeit der Zulieferer geht« (Meißner 2012: 16). Die Auswirkungen des von den Automobilherstellern ausgeübten Drucks bekommen die Beschäftigten und die Betriebsräte in den Zulieferunternehmen zu spüren, z. B. bei Zugeständnissen beim Einkommen (Tarifabweichungen), bei Einsparungen bei der betrieblichen Weiterbildung, bei Arbeitszeit- und Arbeitsgestaltungsfragen, bei zunehmendem Einsatz von Leiharbeit und Werkverträgen, sowie in letzter Konsequenz bei Arbeitsplatzabbau infolge von Kapazitätsbereinigung oder Produktionsverlagerung. Der immense Preisdruck trifft die Zulieferer aus allen Branchen und damit auch die Unternehmen aus der Flachglasindustrie. Die Automobilhersteller fordern z. B. bereits beim Vertragsabschluss eine Rabattierung für 3 Folgejahre mit einer Preisabsenkung um 15 %. »Und das ohne Berücksichtigung von Kostensteigerungen bei Energie, Rohstoffen, Löhnen« (Exp.). Bei Premiumherstellern ist zu beobachten, dass sie ihre Einkaufsstrategie im Zeichen des Preiswettbewerbs umgekrempelt haben. Vor Jahren noch wurde von den Flachglaszulieferern das Angebot kompletter Car-Sets gefordert und auch entsprechend bezahlt. Heute 319 52 Glasindustrie in Deutschland geht es den Autoherstellern nur noch darum, einzelne Scheiben möglichst günstig zu bekommen. »Die Car-Sets wurden dem Kostendiktat geopfert. Heute kommen Windschutzscheiben, Heckscheiben, Seitengläser usw. von unterschiedlichen Lieferanten, um jeweilige Kostenvorteile zu nutzen. Einfachere Produkte wie Seitenscheiben werden z. B. aus der Türkei geliefert, komplexere Produkte wie Windschutzscheiben kommen bei den Premiumautos auch aus Deutschland« (Exp.). Und auch innerhalb der Konzerne der Glasindustrie ist bei der Vergabe von neuen Modellen an die Produktionsstandorte der Kostenvergleich entscheidend, weil es bei der Qualität kaum mehr Unterschiede gibt. »Investitionen in neue Technologien und neue Produktionsanlagen flossen in den letzten Jahren im Konzern vor allem nach Polen, weil es dort Fördermittel der EU gab und die Umweltauflagen nicht so streng sind. Für Deutschland blieben nur notwendige Ersatzinvestitionen« (Exp.). Für die Zuliefererwerke in Deutschland bleibt vor allem »die Nische innovative Produkte in höchster Qualität für Premiumanforderungen« (Exp.). Know-howVorteile gibt es bei komplizierten Fertigungsprozessen und bei komplexen Produkten mit hohen Anforderungen an optische Eigenschaften, an geometrische Wiederholbarkeit und an Präzision. Beispielsweise muss bei Head-up-Displays, wie sie in Premiumfahrzeugen eingesetzt werden, der Abstand zwischen Linse und Projektionsfläche immer exakt identisch sein. Behälterglas Als Behälterglas werden in Glashütten gefertigte Hohlglaswaren bezeichnet, die zur Verpackung, Aufbewahrung, Konservierung sowie zum Transport von Getränken, Lebensmitteln, kosmetischen und pharmazeutischen Stoffen dienen. Demnach zählen zu den Produkten der Sparte insbesondere Getränkeflaschen, Lebensmittelgläser und weitere Verpackungsgläser. Beim Produktionsvolumen lagen 2009 Getränkeflaschen mit 2,4 Mio. t vor Lebensmittelgläsern mit 1,1 Mio. t und Pharmazie/Kosmetik mit 0,3 Mio. t (Röhrig et al. 2010: 29). 320 53 Glasindustrie in Deutschland Erfolgsfaktoren für die Behälterglashersteller liegen neben niedrigen Erzeugungskosten in den Themen Kundenbindung, Flexibilität, Qualität, Gewichtsreduktion, innovatives Design und Individualität. Behälterglas wird in Glashütten in großen Mengen maschinell hergestellt (Willett 1998: 253). Das Produktionsverfahren in modernen Behälterglashütten ist in mehrere Schritte aufgeteilt: Die Glasschmelze erfolgt in kontinuierlichen Schmelzwannen, von denen die sogenannten IS-Maschinen gespeist werden. IS-Maschinen sind ein wichtiger Maschinentyp am heißen Ende der Produktion von Behälterglas. Das Herz einer IS-Maschine ist die Schere. Sie spielt eine wichtige Rolle bei der qualitativ anspruchsvollen Produktion von Behälterglas. Der vom Plunger erzeugte Glastropfen wird von der Schere exakt abgeschnitten. Anschließend leitet der Tropfenverteiler die Tropfen an die einzelnen Produktionslinien weiter. In den entsprechenden Sektionen werden die Tropfen dann zur Flasche ausgeformt. Die Flaschen werden von einem Bandsystem übernommen und zum Einschieber befördert, der sie in den Kühlofen transportiert. Dafür ist eine hochpräzise Bewegungsführung mit absoluter Reproduzierbarkeit nötig (Siemens 2006: 8). Nach dem kontrollierten Abkühlungsprozess durchlaufen die Glasbehälter zur Sicherstellung der Qualität verschiedene Prüf- und Sortiereinrichtungen. Die drei größten Behälterglashütten Deutschlands sind die Werke von Ardagh in Nienburg, Saint-Gobain Oberland in Essen und Saint-Gobain Oberland in Bad Wurzach mit jeweils 3 Schmelzwannen und 9 Produktionslinien. Die größten Behälterglashersteller in Deutschland sind die 3 Konzerne Ardagh (mit 8 Werken), Saint-Gobain Oberland (mit 4 Werken) und O-I, gefolgt von dem »großen Mittelständler« Wiegand. Diese 4 Unternehmensgruppen decken gut 80 % des Kernmarktes für Behälterglas ab. Dazu kommt Gerresheimer als Anbieter von Behälterglas für pharmazeutische und kosmetische Verpackungen. Nach wie vor sind die Behälterglashersteller für die Getränke- und die Lebensmittelindustrie in erster Linie regional ausgerichtet. Die Reichweite ihres Absatzmarktes hat sich aber in den letzten Jahrzehnten von rund 200 km auf heute rund 400 km (und bei speziellen Produkten darüber hinaus) vergrößert. 321 54 Glasindustrie in Deutschland Die Nähe zum Kunden und eine starke Kundenorientierung sind sehr wichtig für die Hersteller: »Die Kunden sind meist nah an der Hütte« (Exp.). Aber auch die Kundenstrukturen waren in den letzten Jahren in einem starken Umbruch. So hat sich die Brauereilandschaft neu geordnet, mit der Konsequenz, dass sich auch die Anforderungen an die Bierflaschenhersteller verändert haben. Und selbst der Außenhandel mit angrenzenden Ländern gewinnt an Bedeutung. Zum einen gibt es einen wachsenden Importdruck aus Ländern wie Tschechien und Polen, zum anderen wird aus Deutschland vermehrt in westliche Länder exportiert. Deutsche Hersteller haben z. B. trotz höherer Energie- und Arbeitskosten gegenüber französischen Herstellern Kostenvorteile. »Wir machen Frankreich den Markt kaputt, und dafür machen die osteuropäischen Länder unseren Markt kaputt« (Exp.). Starke Substitutionsprozesse gab es insbesondere in den letzten beiden Jahrzehnten. PET-Flaschen haben vor allem bei Mineralwasser klar gegenüber Glasflaschen Marktanteile gewonnen, während andere Segmente wie Bier und Wein stabil blieben. Insgesamt gab es jedoch einen Rückgang um ca. eine halbe Mio. t seit 2000. Rückgänge durch Substitution konnten teilweise durch ein stärkeres Auslandsgeschäft aufgefangen werden. Dieser Substitutionsprozess wird heute aber als weitgehend abgeschlossen angesehen. Inzwischen versucht die Behälterglasindustrie wieder Märkte zurückzuerobern, indem wichtige Pluspunkte von Glasverpackungen wie Inertheit und Nachhaltigkeit in den Vordergrund gerückt und damit ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gebracht werden. Gleichwohl ist beim Behälterglas eher von einer Marktstagnation auszugehen, die von Überkapazitäten bei der Produktion begleitet wird. Der konzerninterne Wettbewerb ist in der Behälterglassparte stark ausgeprägt. Innerhalb der Konzerne wird zum einen permanentes Benchmarking betrieben, mit dem die Standorte mittels Kennziffern z. B. zum Personalkostenanteil an den Herstellkosten, zu Produktionszahlen, zur Qualität und auch zur Arbeitssicherheit verglichen werden. Zum anderen gibt es innerhalb der Konzernstrukturen grenzübergreifende Warenlieferungen, die zu Importdruck führen kön- 322 55 Glasindustrie in Deutschland nen. In den Konzernen ist inzwischen teilweise eine »standortbezogene Investitionszurückhaltung« festzustellen. »15 Mio. Euro werden heute nicht mehr an allen Standorten für eine neue Wanne investiert. Da konzentriert ein Unternehmen seine Investitionen eher auf weniger Standorte. Und unter Umständen dann eben lieber auf einen Standort in Tschechien, wo die Energiekosten und die Lohnkosten geringer sind« (Exp.). Ein wichtiger Trend in der Behälterglasindustrie ist die deutliche Erhöhung der Produktvielfalt. Bei vielen Unternehmen steht nicht mehr »Einheitsflasche« im Vordergrund, z. B. die Massenproduktion von GDB-Mineralwasserflaschen oder von Bierflaschen, sondern die Fertigung einer Vielzahl verschiedener Flaschen mit unterschiedlichen Formen und Farben. So hat einer der großen Konzernbetriebe vor 20 Jahren etwa 50 verschiedene Artikel hergestellt, heute sind es gut 400 verschiedene Produkte. Diese Vielfalt führt zu häufigeren Sortenwechseln und damit zu höheren Flexibilisierungsanforderungen an die Anlagen. Damit steigen Investitionsbedarfe für neue Anlagen – ein weiterer Punkt der schon heute innerhalb der Konzerne zu einem Kampf der Standorte um Investitionen führt. 2.3 Innovationstrends Für die Betrachtung des Innovationsgeschehens in der Glasindustrie wird zunächst auf Ergebnisse der deutschen Innovationserhebung des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) eingegangen. Im Zentrum stehen dann die branchenspezifischen Innovationstrends entlang der zwei Dimensionen Produktinnovationen und Prozessinnovationen. Bei den Produktinnovationen sind Themen von Bedeutung wie Leichtglastechnologie für die Branche als Ganzes sowie spartenspezifische Innovationen wie Multifunktionsglas (im Flachglasbereich) und individuelle Produkte in innovativem Design (im Behälterglasbereich). Bei den Prozessinnovationen geht es um die Optimierung der Produktionskosten durch technische Maßnahmen und durch organisatorische Maßnahmen. Eine besondere Rolle spielt hier die Senkung der Energiekosten durch verschiedene Effizienzlösungen. 323 56 Glasindustrie in Deutschland Innovationsindikatoren Die jährliche Innovationserhebung des ZEW geht auf unterschiedliche Innovationsindikatoren ein. Die Glasindustrie wird dabei gemeinsam mit der Keramikund Steinwarenindustrie betrachtet, sodass die folgenden Ergebnisse der ZEWInnovationserhebung 2012 für den gesamten Wirtschaftszweig »Herstellung von Glas und Glaswaren, Keramik, Verarbeitung von Steinen und Erden« gelten. Demnach setzte sich der Trend steigender Umsätze in der Glas-, Keramik- und Steinwarenindustrie merklich fort (im Betrachtungsjahr 2011 der ZEWInnovationserhebung), »wobei der Optimismus der Branche für die Zukunft eher verhalten ist. Die Innovationsausgaben wurden bis 2011 weiter erhöht und beliefen sich auf 1,13 Mrd. Euro« (ZEW 2013: 1). Die Innovationsbudgets wurden weniger stark als der Umsatz erhöht, sodass der Anteil der Innovationsausgaben am Umsatz (Innovationsintensität) leicht auf 2,4 % zurückging (gegenüber 2,5 % im Jahr 2010). Damit liegt die Innovationsintensität im Vergleich aller Branchen im Mittelfeld. In der Vergleichsgruppe »sonstige Industrie« lag die Innovationsintensität dagegen bei lediglich 1,4 %. Die Innovatorenquote (Anteil der Unternehmen, die neue Produkte oder Prozesse eingeführt haben) fiel bei der Glas-, Keramik- und Steinwarenindustrie von 47 % auf 42 %. Produktinnovationen haben 2011 eine weitaus geringere Rolle als in den Vorjahren gespielt: »Der Umsatzanteil mit neuen Produkten insgesamt hat einen herben Rückschlag erlitten. Er sank von 17,3 % (2010) auf 10,0 % im Jahr 2011« (ZEW 2013: 1). Damit ist der Umsatzanteil mit Produktneuheiten auf den mit Abstand niedrigsten Wert der letzten 6 Jahre gefallen. Einen Negativtrend gibt es bei den Prozessinnovationen. Der Anteil von Unternehmen, die neue Verfahren eingeführt haben, sank 2011 auf 17 % (2010: 21 %). Prozessinnovationen haben in der Glas-, Keramik- und Steinwarenindustrie im Jahr 2011 zu Kostensenkungen um 2,0 % beigetragen. In den Vorjahren lag diese Quote bei über 3 %. Als Resümee kann festgehalten werden, dass die Glas-, Keramik- und Steinwarenindustrie im Branchenvergleich des Jahres 2011 eher im Mittelfeld bzw. im unteren Mittelfeld liegt. Bei der Innovationsintensität liegt der Wirtschafts- 324 57 Glasindustrie in Deutschland zweig mit Innovationsausgaben von 2,4 % des Umsatzes deutlich hinter dem Fahrzeugbau (9,3 %), der Elektroindustrie (9,2 %), der Chemie-/Pharmaindustrie (6,6 %) und dem Maschinenbau (5,4 %), aber auch hinter eher vergleichbaren Branchen wie der Gummi- und Kunststoffverarbeitung (2,6 %) sowie dem Textilund Bekleidungsgewerbe (2,5 %) (ZEW 2013). Produktinnovationen Gewichtsreduktion und Leichtglastechnologien sind seit Langem wichtige Innovationsthemen für die Glasindustrie, deren Bedeutung in den letzten Jahren nochmals größer wurde, weil die Kundenanforderungen an leichte Produkte steigen. Dazu zwei Beispiele, stellvertretend für alle Abnehmerbranchen: • Für die Nahrungsmittelindustrie ist das Verpackungsgewicht immer wichtiger geworden. Eine Anforderung, auf die die Behälterglassparte Antworten finden muss. »In der Substitutionskonkurrenz mit leichteren Werkstoffen geht es hier bei der Glasverpackung um jedes Gramm« (Exp.). • In der Automobilindustrie ist im Zuge der weltweiten Anforderungen an CO2-Reduktion neben neuen Antriebskonzepten der Leichtbau zu einem wichtigen Innovationstreiber geworden. Flachglashersteller, die einen Beitrag zur Gewichtsreduktion bei Automobilen leisten können, werden zu bevorzugten Entwicklungspartnern und Zulieferern der Autohersteller. Neben der Gewichtsreduktion als generellem Innovationstrend in der Glasindustrie gibt es diverse spartenbezogene Trends. Beim Flachglas geht es darum, mehrere Funktionen im Glas zu vereinen. Multifunktionsgläser im Baubereich dienen sowohl der Wärmedämmung, dem Sonnenschutz als auch dem Schallschutz. »Wir haben mittlerweile Fenstergläser, die besser isolieren als der Rahmen. Früher war eher das Glas das Problem, heute ist es eher der Rahmen« (Exp.). Mittels Dreifachisolierglas wird eine sechsmal höhere Wärmedämmung als bei herkömmlichem Einfachisolierglas erreicht. Bei Glasfassaden, die weiterhin klar im Trend liegen, wird auch der Sonnenschutz immer wichtiger. »Moderne Glasveredelungen sorgen für einen Sonnenschutz, der direkt im Glas inte- 325 58 Glasindustrie in Deutschland griert ist: Sogenannte elektrochrome Gläser verdunkeln sich z. B. auf Knopfdruck, ohne die Durchsicht auf die Außenwelt zu behindern« (BV Glas 2013: 16). Eine weitere Innovation im Bereich Glasfassade sind schaltbare elektronische Gläser. Im spannungslosen Zustand ist die Scheibe undurchsichtig, weil dann Flüssigkristalle, die mit zwei Spiegelglasscheiben im Verbund stehen, unregelmäßig angeordnet sind und damit das Licht streuen. Wird der Strom eingeschaltet, ordnen sich die Flüssigkristalle und die Scheibe ist durchsichtig. Auch bei Autoglas geht es zum einen um Effizienzlösungen, z. B. sollen innovative Gläser die Einsatzzeit der Klimaanlage begrenzen, was für Elektroautos ein wichtiger Faktor wäre, weil sich dadurch die Batteriereichweite erhöht. Ein ähnlicher Effekt könnte durch die Integration von Fotovoltaik ins Autoglas erreicht werden. Zum anderen geht es um wertsteigernde Innovationen, insbesondere bei den Fahrzeugen der wichtigen Kundengruppe Premiumhersteller. Beispiele für Innovationen, die in Premiumautos bereits eingesetzt werden, sind Headup-Displays, die sehr hohe Anforderungen an die Präzision von Windschutzscheiben stellen, oder schaltbare Glasdächer (Sundym Select von Pilkington), die je nach Bedarf Lichteinstrahlung von absoluter Dunkelheit bis zu klarem Glas regeln können. Bei den anderen Sparten der Glasindustrie geht es z. B. um Innovationen für nachhaltige Produkte mit markenindividualisierten Formen und Farben (Behälterglassparte) und um Themen wie »grüne Glaskeramik« beim Spezialglas. Prozessinnovationen Bei den Prozessinnovationen in der Glasindustrie liegen die großen technologischen Sprunginnovationen lange zurück. In den 1960er-Jahren war im Flachglasbereich das Floatverfahren eine solche radikale Innovation, die alle anderen Verfahren der Flachglasherstellung weitgehend verdrängt hat. Heute geht es in der Branche um die Optimierung und Effizienzsteigerung bei den bewährten Prozessen. »In den Bereichen, wo noch Potenziale vorhanden sind, wird weiterhin automatisiert. Durch die hohen Flexibilitätsanforderungen und den häufi- 326 59 Glasindustrie in Deutschland gen Sortenwechsel liegen auch in der Optimierung der Umrüstvorgänge wichtige verfahrenstechnische Potenziale« (Exp.). Vor allem beim Energieverbrauch werden aufgrund steigender Energiekosten Einsparpotenziale durch Verfahrensinnovationen und Energiemanagement erschlossen (Fleiter et al. 2013). »Glas gehört zu den ältesten Werkstoffen der Menschheit. Innovationen werden in der Glasindustrie vielleicht auch aus diesem Grund eher zögerlich umgesetzt. Um Ressourcen zu sparen und um die Umwelt auch für kommende Generationen erhalten zu können, sah sich jedoch auch die Glasindustrie gezwungen, über das Thema Energieeffizienz nachzudenken. Und der Schlüssel dazu liegt in Innovationen« (Siemens 2012: 19). Je nach Glasart und Produktionsverfahren entfällt mit bis zu 80 % der mit Abstand größte Energieanteil auf Schmelz- und Läuterungsprozesse. Aufgrund dieser Tatsache gehört die Glasindustrie zu den energieintensiven Branchen. Energieeinsparungen lassen sich insbesondere durch technische Verbesserung der Schmelzwannen und Kühlöfen erzielen (Bauernhansl et al. 2013: 9). Eine Analyse von Energieeffizienzpotenzialen in der Glasindustrie zeigt vor allem im Bereich der Glasschmelze Einsparoptionen auf, wie z. B. durch den Einsatz und die Optimierung von Low-NOx-Brennern, durch innovative Heiztechniken wie die Glas-FLOX-Hochtemperatur-Verbrennungstechnologie und durch die Abwärmenutzung mittels kompakter, hocheffizienter Dampfturbinen, mit deren Hilfe sich die Abwärme von der Schmelzwanne in Strom umwandeln lässt (Fraunhofer ISI, IREES 2011: 418–422). Aber auch eine leicht zu realisierende Maßnahme wie der Brennstoffwechsel, d. h. der Wechsel von der Befeuerung mit schweren Ölen hin zu Erdgas, stellt eine Option dar, die jedoch in vielen Glashütten bereits umgesetzt wurde (Exp.). Zu bedeutenden Möglichkeiten der Energieoptimierung gehört auch die Einführung von Energiemanagementsystemen, die Transparenz verschaffen und eine zielgerichtete Energiebetriebsführung ermöglichen. Bei einigen Unternehmen der Glasindustrie, insbesondere im arbeitsintensiveren Bereich der Veredlung und Bearbeitung von Glas, wurden in den letzten Jah- 327 60 Glasindustrie in Deutschland ren als neue Rationalisierungsstrategie »ganzheitliche Produktionssysteme« (GPS) mit Elementen wie KVP und Kaizen eingeführt. Diese Produktionssysteme nach dem Muster des Toyotismus sollen auf der arbeitsorganisatorischen Ebene die Produktivität erhöhen. Kern dieser neuen Rationalisierungsstrategie ist eine kontinuierliche, nivellierte und fehlerfreie Produktion im Kundentakt, die sich kontinuierlich an veränderte Umwelteinflüsse anpasst (Seibold et al. 2012). Die Einführung solcher Produktionssysteme, die sich auf die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten auswirken, und ihre spezifische Ausgestaltung erfolgt meist unter Beteiligung des Betriebsrats. Hier ergeben sich Handlungserfordernisse und Gestaltungschancen für aktive Betriebsräte (Schwarz-Kocher et al. 2011). »In der Produktion wurde in den letzten Jahren 5S, Kaizen, Mudo und Weiteres eingeführt. Mithilfe des Betriebsrats wurde erkannt, dass eine neue Kultur nicht übergestülpt werden kann, sondern gemeinsam mit den Beschäftigten umgesetzt werden muss, um erfolgreich zu sein« (Exp.). 2.4 Beschäftigungstrends Bei den »Beschäftigungstrends« werden zunächst Entwicklungstrends bei der Anzahl der Arbeitsplätze und dann Trends bei den Feldern Qualifikationen und Arbeitsbedingungen im Kontext demografischer Wandel beleuchtet. Arbeitsplatzanzahl Die Beschäftigung in der Glasindustrie entwickelte sich nicht erst seit 2000 rückläufig, wie in Kapitel 1 auf Basis der statistischen Daten erläutert, sondern bereits seit längerer Zeit. Durch »tiefgreifende Umstrukturierungen und Modernisierungen hatten zahlreiche Sparten und Regionen, die in besonderem Maße von der Glasindustrie abhängig sind oder waren, schmerzhafte Beschäftigungsrückgänge zu verzeichnen« (Willett 1998: 411). Die Gründe für diesen Abbau von Arbeitsplätzen in den 1980er- und 1990er-Jahren liegen im »technischen Fortschritt und der Rationalisierung der Produktionsprozesse«, z. B. durch Automatisierung, sowie in »kostenbedingten Verlagerungen von Produktion ins Aus- 328 61 Glasindustrie in Deutschland land« (Willett 1998). Ein weiterer Grund, der vor allem in den letzten 15 Jahren, also nach der Strukturanalyse von Peter Willett, negative Beschäftigungseffekte bewirkt hat, ist die Substitution von Glas durch andere Werkstoffe, wie z. B. im Behälterglas durch PET-Flaschen. Heute sind die großen Abbauwellen durch Automatisierung und Substitutionsprozesse laut den befragten Experten aber beendet. Die Automatisierungspotenziale sind weitgehend ausgeschöpft, beim Thema Substitution geht es heute in manchen Bereichen eher wieder in Richtung Rückeroberung verloren gegangenen Terrains, z. B. bei Glasflaschen. Durch eine weitere »Straffung der Prozesse wird es aber weiterhin zu einem leichten, kontinuierlichen Arbeitsplatzabbau kommen« (Exp.). Aber, so ein anderes Statement, »In der Behälterglasherstellung ist der Boden beim Beschäftigungsabbau so gut wie erreicht. Da ist in der Branche nicht mehr viel nach unten möglich, wenn man von einem zumindest konstanten Produktionsvolumen ausgeht« (Exp.). Von einzelnen Experten wird insbesondere für die Flachglassparte die Gefahr einer aufkommenden Strukturkrise gesehen. Zum einen, weil es erhebliche Überkapazitäten gibt. Zum anderen, weil die Herstellung und Bearbeitung von Flachglas in anderen Ländern, v. a. auch in angrenzenden osteuropäischen Ländern, durch die Investitionen in neueste Technologien an den dortigen Produktionsstandorten immer wettbewerbsfähiger wird (Exp.). Andere befragte Experten halten die Branche in Deutschland auch zukünftig für wettbewerbsfähig, sofern sie sich auf ihre Stärken besinnt: »Die Frage nach Perspektiven für unsere Branche hierzulande kann nur aus dem Bauchgefühl heraus beantwortet werden: So lange wir uns auf innovative, qualitativ hochwertige Produkte konzentrieren, sind wir hier sehr wohl in der Lage, wettbewerbsfähig zu produzieren und damit Beschäftigung zu sichern. Hierfür müssen wir aber bei der Produktivität und Qualität immer an die Grenze gehen. . . . Unsere Vorteile sind die Genauigkeit, Präzision, Solidität; eine solche Sensibilität für höchste Qualitätsanforderungen wie hier, auch bei den Feinheiten, findet man sonst nirgendwo. Das ist die Stärke, die wir nutzen müssen, um wirtschaftlich erfolgreich zu blei- 329 62 Glasindustrie in Deutschland ben und auch um Produktion zu halten« (Exp.). »Jeder Trend, der das Produkt komplexer und die Fertigung schwieriger macht, z. B. Leichtglastechnologie, ist ein Vorteil für den Standort Deutschland« (Exp.). Qualifikationen und Fachkräftebedarfe In der Glasindustrie werden die Qualifikationsanforderungen weiterhin steigen. Schon allein der erreichte Stand der Automatisierung und die erhöhten Umrüstfrequenzen erhöhen den Bedarf an qualifizierten Fachkräften. Die Chancen für geringer Qualifizierte werden sich auch in der Glasindustrie verschlechtern. Alles in allem wird die Kompetenzintensität bei den Arbeitsplätzen in der Branche, wie in fast allen Bereichen der Wirtschaft, steigen (Cedefop 2013). »An- und Ungelernte sind in vielen Unternehmen der Branche heute schon ein Auslaufmodell, aber diejenigen die noch da sind, profitieren von ihrem Erfahrungswissen« (Exp.). »Reine Anlerntätigkeiten sind bereits reduziert und fallen weiterhin sukzessive weg« (Exp.). Fachkräftebedarfe gibt es hingegen bei Hochqualifizierten wie z. B. Ingenieuren verschiedener Fachrichtungen, aber auch in Marketing und Vertrieb, und künftig wohl auch verstärkt bei Facharbeitern. Hemmnisfaktoren sind das Branchenimage und die Konkurrenz mit anderen Industriebranchen, in denen es keine vollkontinuierliche Schichtarbeit gibt und/oder in denen die Bezahlung besser ist. So ist es für Unternehmen der Glasindustrie immer schwieriger, geeignete Auszubildende zu finden und auch bei den Höherqualifizierten geht der »Kampf um die besten Köpfe häufig zugunsten der großen Arbeitgeber aus der Automobil-, IT- und Elektroindustrie aus« (Exp.). Als Fachkräfte an den Maschinen werden oft Verfahrensmechaniker/Verfahrensmechanikerinnen für Glastechnik eingesetzt. Als Ausbildungsberufe in den Unternehmen der Glasindustrie werden zunehmend Mechatroniker/Mechatronikerin, Elektroniker/Elektronikerin und Industriemechaniker/Industriemechanikerin angeboten, die z. B. in der Instandhaltung und Wartung, aber auch in anderen Produktionsbereichen eingesetzt werden. Automatisierung, Flexibili- 330 63 Glasindustrie in Deutschland sierung und erhöhte Umrüstfrequenzen erfordern hohe Fachkenntnisse und eine immer höhere Spezialisierung. Gerade in der Behälterglasindustrie ist Umbauflexibilisierung wegen der häufigeren Sortenwechsel zu einem großen betrieblichen Thema geworden, und auch in den nächsten Jahren werden Umrüstvorgänge nochmals deutlich zunehmen. »Durch die Anforderung, jederzeit flexibel lieferfähig zu sein, wird auch der Bedarf an qualifiziertem Personal bei uns in der Glashütte steigen« (Exp.). Flexibilität In der Glasindustrie sind vielfältige Möglichkeiten der internen Flexibilisierung über Arbeitszeitmodelle vorhanden. Weitere Flexibilisierungserfordernisse, insbesondere bei einfacheren Tätigkeiten, werden z. B. mit Leiharbeitern abgedeckt. In manchen Betrieben spielt Leiharbeit zwar keine Rolle, weil allein schon die Ansprüche in der Fertigung zu hoch sind (Komplexität des Produktionsprozesses, hohe Qualitätsanforderungen) und auf dem Zeitarbeitsmarkt keine geeigneten Kräfte zu finden sind. Jedoch sind über die Branche hinweg die Kosten für Leiharbeitnehmer in der Glasindustrie mit einem Anteil von 1,5 % am Bruttoproduktionswert höher als im Verarbeitenden Gewerbe insgesamt (0,9 %). Gleichzeitig sind laut Kostenstrukturstatistik 2011 des Statistischen Bundesamts auch die Kosten für industrielle und handwerkliche Dienstleistungen mit einem Anteil von 2,5 % in der Glasindustrie höher als im Verarbeitenden Gewerbe mit 1,7 %. Beide Indizien sprechen für eine stärkere Nutzung externer Flexibilisierungsmöglichkeiten in der Glasindustrie. In besonderem Maße wird externe Flexibilisierung durch Leiharbeit in der Sparte »Herstellung von Hohlglas« genutzt, in der die Kostenanteile für Leiharbeiter mit 2,2 % und für industrielle Dienstleistungen mit 2,9 % deutlich über dem Industrieschnitt liegen. Gegen eine zu starke Ausweitung von externer Flexibilisierung in Form von Outsourcing und Leiharbeit sprechen wissenschaftliche Erkenntnisse, nach denen es für Unternehmen wichtig ist, eine »relevante Fertigungstiefe« zu halten. Demnach gehören »Wandlungsfähigkeit« und »Flexibilität« zu den ent- 331 64 Glasindustrie in Deutschland scheidenden Stärken der deutschen Industrie – sie werden in der globalisierten Wirtschaft zunehmend zum strategischen Wettbewerbsvorteil. Einer der Faktoren, die die Variantenflexibilität und damit die Wandlungsfähigkeit der deutschen Industrie positiv beeinflussen, ist eine relevante Fertigungstiefe. Jedoch wurde in den letzten Jahren »kostenorientiertes Outsourcing und Offshoring über das wirtschaftlich sinnvolle Maß hinaus betrieben« (Kinkel 2012: 206). Und verschiedene Analysen zeigen eindeutig, dass »ein hoher Eigenleistungsanteil (Wertschöpfungstiefe) auch unter Kontrolle intervenierender Faktoren stark positiv mit einer höheren Gesamtproduktivität (Total Factor Productivity) des jeweiligen Betriebs korreliert. . . . Eine hohe interne Wertschöpfungstiefe scheint demnach sowohl zur Sicherung und Generierung zukünftiger Produktivitäts- und Wettbewerbsvorteile als auch zu Wachstum, Wertschöpfung und Beschäftigung im Inland beitragen zu können« (Kinkel 2012: 210). Demnach sollten »frühere und zukünftige Outsourcing-Initiativen zur Reduktion der Fertigungstiefe« von den Unternehmen jeweils »sehr kritisch« hinterfragt werden (Kinkel et al. 2012). Arbeitsbedingungen und demografischer Wandel In der Produktion der Glasindustrie, am »heißen Ende«, gibt es nach wie vor hohe Arbeitsbelastungen durch Lärm und durch Hitze-Arbeitsplätze. Hitzearbeit ist laut berufsgenossenschaftlicher Information Arbeit, bei der es infolge kombinierter Belastung aus Hitze, körperlicher Arbeit und gegebenenfalls Bekleidung zu einer Erwärmung des Körpers und damit zu einem Anstieg der Körpertemperatur kommt. Dadurch können Gesundheitsschäden entstehen. Gleichfalls ist eine Arbeits- bzw. Leistungsverdichtung infolge reduzierten Personaleinsatzes in den Unternehmen der Glasindustrie quer über alle Funktionen festzustellen. Von Branchenkennern wird berichtet, dass sich infolge der Leistungsverdichtung bereits psychische Belastungserscheinungen und Burn-out-Symptome stärker häufen. Dazu kommen Belastungsfaktoren aus der Schichtarbeit für Produktionsbeschäftigte. In den Betrieben der Glasindustrie 332 65 Glasindustrie in Deutschland mit eigener Schmelzwanne wird in der Produktion vom heißen bis zum kalten Ende meist im Durchfahrbetrieb, also im vollkontinuierlichen Schichtbetrieb gearbeitet. Auch in Bearbeitungs- und Veredlungsbetrieben ohne Erzeugung von Basisglas bzw. eigene Schmelzwanne wird häufig im Schichtbetrieb, teilweise vollkontinuierlich, häufiger im 2-Schicht- oder 3-Schichtbetrieb gearbeitet. Eine besondere Herausforderung für die Glasindustrie liegt im demografischen Wandel, wie allein schon die Entwicklung der Altersstruktur der Belegschaften zeigt (vgl. Kapitel 1.4). Im demografischen Wandel liegen besondere tarifpolitische und betriebliche Handlungsbedarfe. Hier sind insbesondere Lösungen gefragt, die Schichtarbeiter einen verträglichen Übergang in die Rente, z. B. durch Altersteilzeit, ermöglichen. Damit ältere Arbeitnehmer bis zum Renteneintrittsalter arbeiten können, sollten auch betriebliche Modelle zur individuellen Verteilung von Lebensarbeitszeit, eine alterns- und leistungsgerechte Arbeitsgestaltung, eine ganzheitliche aktivierende Gesundheitsstrategie etc. weiterentwickelt und umgesetzt werden. Außerdem sollten die Bedürfnisse der Älteren bei der Gestaltung der Arbeitsplätze stärker berücksichtigt werden. Und auch dem Wissenstransfer zwischen Jung und Alt – im Sinne des »zwischen Generationen lernen« – kommt eine besondere Bedeutung zu. Gerade für stark belastete Schichtarbeiter wäre die Option eines flexiblen Ausstiegs wichtig, mit der ihnen die Möglichkeit eröffnet wird, ohne Rentenabschläge früher in Ruhestand gehen zu können. Eine besondere Bedeutung kommt bei der Entwicklung von Umsetzungsmaßnahmen zur Bewältigung des demografischen Wandels der betrieblichen Ebene zu, weil »die Problemlagen im Gefolge des demografischen Wandels in hohem Maße betriebs- und tätigkeitsspezifisch sind. Die Entwicklung von Gestaltungsmaßnahmen sollte daher konkret vor Ort sowie in enger Zusammenarbeit mit den Beschäftigten erfolgen« (Buss; Kuhlmann 2013: 358). Für die Ausarbeitung und Umsetzung demografiebezogener Maßnahmen kommt der betrieblichen Interessenvertretung eine wichtige Funktion zu. 333 66 Glasindustrie in Deutschland 3 Fazit Die Glasindustrie ist eine energieintensive und investitionsgetriebene Branche. Auf der einen Seite kann die Glasindustrie als traditionell und technologisch ausgereift bezeichnet werden, auf der anderen Seite ist sie inzwischen relativ stark globalisiert. Große, multinationale Unternehmen dominieren die großen Sparten der Glasindustrie. Die Unternehmen der Branche müssen sich den härteren Bedingungen durch die Globalisierung und dem stärkeren Wettbewerb auf ihren inländischen Märkten durch Länder wie China, Indien und der Türkei stellen. Die bis vor wenigen Jahren starke Substitution von Glasprodukten, insbesondere von Glasflaschen durch PET-Flaschen, scheint inzwischen weitgehend abgeschlossen zu sein. Heute versucht die Glasbranche insbesondere mit dem Thema Nachhaltigkeit des Werkstoffes Glas zu punkten und Märkte zurückzuerobern. Im Jahr 2012 waren in der Glasindustrie knapp 54.000 Erwerbstätige beschäftigt. Seit Jahrzehnten ist die Branche von einem starken Beschäftigungsabbau geprägt. Allein von 2000 bis 2012 wurden fast 16 % der Arbeitsplätze abgebaut. Im selben Zeitraum fiel der Produktionswert um knapp 3 %; lediglich der Jahresumsatz (nominal) lag 2012 leicht über dem des Jahres 2000. Das Qualifikationsniveau ist in der Glasindustrie in den letzten Jahren deutlich gestiegen: Insbesondere der Anteil von Fachkräften mit einer Berufsausbildung im dualen System ist zwischen 2000 und 2012 merklich gestiegen, der Anteil An- und Ungelernter ging dagegen zurück. Der Arbeitsplatzabbau in der Branche ging damit in erster Linie zulasten von An- und Ungelernten. Und auch der demografische Wandel hinterlässt in den letzten Jahren deutliche Spuren: Bei den Belegschaften ist allein zwischen 2007 und 2012 eine immense Verschiebung in Richtung höhere Altersgruppen festzustellen. Der »Branchen-Alterungsprozess« ist damit deutlich stärker als im Industriedurchschnitt ausgeprägt. Die Glasindustrie besteht aus mehreren Sparten mit unterschiedlichen Entwicklungstrends. Die beiden größten Teilbranchen sind die Flachglasindustrie und die Behälterglasindustrie. 334 67 Glasindustrie in Deutschland Die Flachglassparte besteht aus der kapital- und energieintensiven Flachglasherstellung, in der das Basisglas erzeugt wird, und aus der Flachglasveredlung. Hauptabnehmerbranchen sind die Bauwirtschaft und die Automobilindustrie. In der Sparte bestehen Überkapazitäten, insbesondere Flachglashersteller haben in den letzten zehn Jahren ihre Produktionskapazitäten vor allem in Ostdeutschland ausgebaut, um vom Boom der Solarindustrie und der Bauwirtschaft zu profitieren. Nachdem der Markt für Solarglas eingebrochen ist, leidet die Sparte unter einem großen Überangebot und stark rückläufigen Erzeugerpreisen. Bei den Flachglasveredlern stehen die Automobilzulieferer unter einem besonders hohen Druck durch die Autohersteller. Im starken Wettbewerb können die Unternehmen nur überleben, wenn sie neben der preislichen Wettbewerbsfähigkeit auch für innovative Produkte in höchster Qualität und Präzision für Premiumanforderungen stehen. Die Behälterglashersteller, die zum Branchensegment Hohlglas gehören, benötigen durch den Schmelzprozess sehr viel Energie. Hauptabnehmer der Behälterglassparte sind Konsumgüterindustrien wie Getränkehersteller, die Kosmetikindustrie und Nahrungsmittelproduzenten, aber auch die Pharmaindustrie. Erfolgsfaktoren für die Hersteller von Getränkeflaschen, Lebensmittel- und Verpackungsgläsern liegen neben niedrigen Erzeugungskosten in den Themen Kundenbindung, Flexibilität, Qualität, Gewichtsreduktion, innovatives Design und markenindividualisierte Produkte. Die Sparte ist durch große Konzernbetriebe und durch wenige mittelständische Glashütten geprägt. Die Glasindustrie in Deutschland steht vor vielfältigen Herausforderungen. Hohe Energiekosten belasten eine energieintensive Branche wie die Glasindustrie und beeinträchtigen ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit. In den meisten Industrieländern weist der Markt für Glas und Glaswaren Sättigungstendenzen auf und es bestehen Überkapazitäten bei der Produktion. Gleichzeitig erfordert die industrielle Fertigung in den meisten Sparten hohe Investitionen in Glaswannen (z. B. regelmäßig wiederkehrende Wannenreparaturen) und Fertigungsanlagen. Die Innovationstrends liegen bei Produktinnovationen in 335 68 Glasindustrie in Deutschland Themen wie Leichtglastechnologie für die Branche als Ganzes sowie in spartenspezifischen Innovationen wie Multifunktionsglas (im Flachglasbereich) und individuelle Produkte in innovativem Design (im Behälterglasbereich). Bei den Prozessinnovationen geht es um die Optimierung der Produktionskosten durch technische Maßnahmen und durch organisatorische Maßnahmen. Eine besondere Rolle spielt hier die Senkung der Energiekosten durch verschiedene Effizienzlösungen. Die Beschäftigung wird sich in der Glasindustrie voraussichtlich nur noch leicht negativ entwickeln, nachdem es in den vergangenen Jahrzehnten durchaus »schmerzhafte Beschäftigungsrückgänge« bei der Glasindustrie in Deutschland gab. Heute sind die großen Abbauwellen durch Automatisierung und Substitutionsprozesse laut den befragten Experten aber beendet. Die Automatisierungspotenziale sind weitgehend ausgeschöpft, beim Thema Substitution geht es heute in manchen Bereichen eher wieder in Richtung Rückeroberung verlorengegangenen Terrains, z. B. bei Glasflaschen. Die Qualifikationsstrukturen werden sich weiter in Richtung Fachkräfte verschieben und auch die Kompetenzintensität der Arbeitsplätze wird steigen. Insbesondere auf Herausforderungen des demografischen Wandels, auch im Zusammenhang mit Schichtarbeit und Arbeitsverdichtung, sollten in den nächsten Jahren Antworten gefunden werden. 336 69 Glasindustrie in Deutschland Literaturverzeichnis Allespach, Martin; Ziegler, Astrid (Hrsg.)(2012): Zukunft des Industriestandortes Deutschland 2020. Marburg. Bauernhansl, Thomas; Mandel, Jörg; Wahren, Sylvia (2013): Energieeffizienz in Deutschland. Ausgewählte Ergebnisse einer Analyse von mehr als 250 Veröffentlichungen. 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Der vorliegende Beitrag will beleuchten, warum sich das deutsche »Schiff« mit seiner starken Maschine auf vergleichsweise »guter Fahrt« befindet. Gleichzeitig sollen die Herausforderungen aufgezeigt werden, die es auf seiner Fahrt in die Zukunft zu bewältigen hat. Abschließend werden industriepolitische Vorschläge zur Wartung und zur Leistungssteigerung des Motors vorgestellt. Die Branchen der IG BCE – Kraftstoffe für den Leistungsmotor Industrie Die in diesem Band vorgestellten Branchen sind wichtige Stützen der deutschen Industrie. Sie tragen – zusammen mit den weiteren Industriesektoren, in denen die IG BCE tarif- und industriepolitische Verantwortung übernimmt – wesentlich zur Leistungsfähigkeit der deutschen Volkswirtschaft bei. Insgesamt umfasst der Organisationsbereich der IG BCE rund eine Million Beschäftigte in verschiedenartigen und doch untereinander verflochtenen Industriezweigen. Legt man die Klassifikation der Wirtschaftszweige der offiziellen Statistik zugrunde, vertritt die IG BCE Mitglieder in 10 Hauptwirtschaftszweigen mit 26 Untersektoren. Trotz der Vielfalt zeichnen sich die von der IG BCE vertretenen Branchen durch eine Reihe von Gemeinsamkeiten aus. Fast alle bewegen sich in einem zunehmend stärker werdenden international geprägten Wettbewerbsumfeld. Sie sind abhängig von den industrie- und energiepolitischen Rahmensetzungen der deutschen und europäischen Politik. Gleichzeitig befinden sie sich in unterschiedlicher Intensität im strukturellen Wandel. Die Branchen der IG BCE konnten nach der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 an ihre gute wirtschaftliche Entwicklung der Zeiten vor Krisenbeginn anknüpfen. Der wirtschaftliche Erholungsprozess nach der schweren konjunkturellen Krise 2008/2009 wurde durch die pragmatisch funktionierende Zusammenarbeit zwischen Arbeitgebern, Betriebsräten und Gewerkschaften 13 75 Michael Vassiliadis Michael Vassiliadis entscheidend befördert. Dies ist zu Recht inzwischen im öffentlichen Bewusstsein verankert. Unterstützt durch eine beschäftigungssichernde aktive Arbeitsmarktpolitik des Staates konnten die deutschen Unternehmen ihre Beschäftigungszahlen weitgehend halten und so früher von der konjunkturellen Erholung profitieren als andere Länder in Europa. Insgesamt haben die IG BCE-Branchen mit der weiteren Industrie in den letzten Jahren eine wirtschaftliche Dynamik entwickelt, die entscheidend dazu beigetragen hat, dass sich die deutsche Volkswirtschaft im zunehmenden internationalen Wettbewerb behaupten kann. 1. Industrieorientierte Volkswirtschaft mit spezifischen Erfolgsfaktoren Der Erfolg der deutschen Volkswirtschaft beruht auf bestimmten Elementen, die es wert sind, in Erinnerung gerufen zu werden. Diese einzelnen Elemente entfalten ihre ganze Wirkung erst dadurch, dass sie sich ergänzen und wechselseitig bedingen. Eine fortschrittliche Industriepolitik hat sich der Komplementarität dieser Erfolgsfaktoren bewusst zu sein, genauso wie sie sich der aktuellen und zukünftigen Herausforderungen bewusst sein muss. Deutschland ist mit seinen rund 80 Millionen Menschen die größte Volkswirtschaft in der Europäischen Union. Mit dem höchsten Bruttoinlandsprodukt und der größten Einwohnerzahl in der Europäischen Union ist Deutschland auch der wichtigste Markt in Europa. Nach den USA, China und Japan ist es weiterhin die viertgrößte Wirtschaftsmacht der Welt. Der große Markt und die leistungsfähige Wirtschaft machen Deutschland zu einem attraktiven Standort für ausländische Investoren. Die Industrie ist der Leistungsmotor der deutschen Volkswirtschaft. Dabei bilden große international agierende Industriekonzerne zusammen mit dem industriellen Mittelstand den Kern. Ihre Stärke zeigt die deutsche Industrie durch ihre Exportfähigkeit. Über lange Zeiträume hatte Deutschland so viele Waren und Güter ins Ausland ausgeführt wie kein anderes Land der Welt. Erst 2009 übernahm China die Position des Exportweltmeisters. 2012 fiel Deutschland sogar auf Platz drei – hinter die USA. 14 76 Ist der aktuelle »Rückfall« auf den dritten Platz ein Alarmzeichen? Und sind die Exporterfolge anderer Länder Zeichen einer beginnenden Schwäche Deutschlands? Aus meiner Sicht nicht. Dagegen sprechen die weiterhin hohen Außenhandelsüberschüsse und die traditionell hohe Einbindung der deutschen Wirtschaft in die Weltwirtschaft. So sind die Exporte in Deutschland auch 2012 stärker als die Wirtschaftsleistung gestiegen. Deutschland profitiert dabei von den dynamischen Wachstumsprozessen in Asien und auch in Südamerika. Hoher Industrieanteil mit funktionierenden industriellen Wertschöpfungsketten Die Produktion hochwertiger Güter und Anlagen ist eine traditionelle Domäne unseres Landes. Wohlstand und Beschäftigung hängen deshalb – mehr noch als in anderen Ländern – weitgehend von der Industrie ab. Der Anteil des verarbeitenden Gewerbes an der Bruttowertschöpfung lag OECD-Erhebungen zufolge 2011 hierzulande mit 23 % weit über dem EU-Durchschnitt von rund 15 %. Diese vergleichsweise große Bedeutung der Industrie ist ein Charakteristikum der deutschen Wirtschaft mit den darauf aufbauenden komparativen Vorteilen. Dazu zählen vollständige und intakte industrielle Wertschöpfungsketten. Deutschland verfügt noch über starke Unternehmen, die rohstoff- und werkstoffnahe Tätigkeiten ausüben. Es gibt Unternehmen, die sich auf die Zulieferung von Komponenten spezialisiert haben, große Unternehmen, in denen diese einzelnen Komponenten zu komplexem Produkten wie Autos gefertigt werden, und Unternehmen, in denen die erforderlichen vor- und nachgelagerten Dienstleistungen erbracht werden. Ergänzt und verstärkt werden die Wertschöpfungsketten durch leistungsfähige regionale Clusterstrukturen mit einem produktiven Mix aus innovativen Klein-, Mittel- und Großunternehmen sowie Forschungseinrichtungen. 15 77 Michael Vassiliadis Michael Vassiliadis Produktive Verzahnung von Industrie und Dienstleistungen Wie in allen entwickelten Volkswirtschaften gewinnen Dienstleistungen an Bedeutung und immer mehr Menschen finden dort Beschäftigung. Nimmt man die amtliche Statistik, so arbeiten in Deutschland mittlerweile über 70 % aller Erwerbstätigen im Dienstleistungssektor, während nur ca. 25 % im produzierenden Sektor tätig sind. Doch ist dieser Rückgang kein Beleg für eine abnehmende Bedeutung der Industrie. Gerade in Deutschland mit seiner starken industriellen Basis sind viele Dienstleistungen eng mit der Industrie verbunden und von ihr abhängig. Etliche jetzt selbstständige Dienstleistungsunternehmen sind Ergebnisse von Outsourcingprozessen einzelner Industriekonzerne und hängen weitgehend von der Industrieproduktion ab. Zunehmende Kundenorientierung und wachsende Nachfrage nach Komplettlösungen und maßgeschneiderten Produkten erhöhen den Anteil der Dienstleistungen an der industriellen Produktion. Dabei ersetzen die von den Industrieunternehmen angebotenen Dienstleistungen keine Industrieprodukte, sondern werden um die einzelnen Produkte herum entwickelt und komplettieren das Angebot. Schon im Jahr 2002 waren laut einer OECD-Studie 40 % der Beschäftigten im verarbeitenden Gewerbe in den entwickelten Industrieländern mit Dienstleistungstätigkeiten beschäftigt. Im Zuge der wissenschaftlichen und technologischen Entwicklung werden sogenannte wissensnahe Dienstleistungen immer bedeutender. Diese auch als hybrid bezeichneten Wertschöpfungsketten bieten Potenziale für die industriellen Branchen auf weitere Produktivitätsfortschritte und neue Produkte. Sie stärken die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie für die Zukunft. Starke Kern- bzw. Schlüsselindustrien! Zwar sind die Begriffe Kern- oder Schlüsselindustrien nicht klar definiert; gemeinhin bezeichnet jeder Staat aber diejenigen Industrien als seine Kernindustrien, die einen großen Teil der Wertschöpfung und Beschäftigung ausmachen 16 78 und darüber hinaus auch eng mit anderen Branchen verflochten sind. Wenn man aus diesem Blickwinkel heraus auf Deutschland schaut, stehen die Fahrzeugindustrie zusammen mit dem Maschinenbau an erster und zweiter Stelle. Als dritte deutsche Kernbranche ist die Chemieindustrie zu nennen. Zwar arbeiten in der Metall- und Elektroindustrie deutlich mehr Menschen als in der Chemiebranche, aber für den deutschen Export ist die Chemiesparte besonders relevant. Zu den größten Unternehmen zählen BASF und Evonik. Die Chemieindustrie in Deutschland zeichnet sich durch eine ganze Reihe weiterer deutscher und internationaler Unternehmen aus. In dieser Branche ist Deutschland immer noch Exportweltmeister. Neben diesen Leitsektoren verfügt Deutschland zusätzlich über weitere leistungsfähige industrielle Branchen. Diese stehen zwar in der Regel nicht im Fokus der Öffentlichkeit, tragen aber entscheidend zur Wettbewerbsfähigkeit der gesamten deutschen Volkswirtschaft bei. Die Elektro- und Optikindustrie, die Medizingeräteindustrie, die pharmazeutische Industrie und die Kunststoff verarbeitende Industrie sind nur einige Beispiele, einer großen Bandbreite. Aber auch die Glas- und Keramikindustrie, die Papierindustrie und weitere Branchen sind wichtige Promotoren der deutschen Volkswirtschaft. Vielfältige Unternehmensstrukturen Deutschland hat eine sehr vielfältige und breite Unternehmenslandschaft. Neben den großen Unternehmen, wie die bekannten Automobilhersteller und Chemieunternehmen, leisten kleinere und mittlere Unternehmen wichtige Beiträge zur Leistungsfähigkeit der deutschen Volkswirtschaft. Der sogenannte »German Mittelstand« ist im internationalen Vergleich besonders im Industriebereich präsent. Fast ein Viertel aller Beschäftigten der kleinen und mittleren Unternehmen arbeitet in der Industrie. 17 79 Michael Vassiliadis Michael Vassiliadis Hohe Innovationsfähigkeit und technologische Leistungsfähigkeit Ein wesentlicher Erfolgsfaktor für die stabile Entwicklung der deutschen Wirtschaft sind verstärkte Investitionen von Wirtschaft und öffentlicher Hand in Forschung und Entwicklung. Deutschland hatte in den letzten Jahrzehnten im Schnitt 2,5 % des Bruttoinlandsproduktes für Wissenschaft und Forschung ausgegeben. In den Jahren nach der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise 2008/2009 hat Deutschland das selbst gesetzte Ziel, 3 % des Bruttoinlandsproduktes für Forschung und Entwicklung aufzuwenden, fast erreicht. Es ist daher nur folgerichtig, in Zukunft über dieses Ziel hinauszugehen und für 2020 mindestens 3,5 % des Bruttoinlandsproduktes für Forschung und Entwicklung bereitzustellen. Auch die Unternehmen in Deutschland nehmen immer mehr Geld in die Hand, um ihre Wettbewerbsfähigkeit durch neue Produkte zu sichern. Sie dürften ihre Innovationsausgaben 2012 wohl auf rund 138 Mrd. Euro gesteigert haben. Dieser Betrag umfasst mehr als die reinen Kosten für Forschung und Entwicklung. Hier gehen zusätzliche Ausgaben für Maschinen, Geräte, Software, Weiterbildung, Marketing, Design und sonstige Aktivitäten in die Entwicklung und Einführung von Produkt- und Prozessinnovationen ein. Dabei konzentrierte sich die Zunahme überwiegend auf Großunternehmen. Besonders stark steigerten in den letzten Jahren die forschungsintensiven Betriebe der industriellen Leitsektoren ihre Innovationsanstrengungen, zum Beispiel der Fahrzeugbau, die Elektroindustrie und die Chemieindustrie. Aber auch die Pharmaindustrie und der Maschinenbau verzeichneten höhere Forschungs- und Entwicklungsausgaben. Leider halten sich kleine und mittlere Firmen bei der Steigerung ihrer Innovationsausgaben zurück. Der Anteil der Unternehmen, die Innovationen eingeführt haben, ist hier teilweise sogar auf unter 40 % gesunken. Auch deshalb setzt sich die IG BCE für die Einführung einer steuerlichen Forschungsförderung ein, wie sie in anderen Ländern der Welt üblich ist. 18 80 Unterstützt wird die Industrie durch eine ausgezeichnete Grundlagenforschung. In einigen Forschungsbereichen fehlt zwar im internationalen Vergleich die Exzellenz, aber in ihrer Breite und ihrer Qualität gehört die deutsche Grundlagenforschung nach wie vor zur internationalen Spitze. Die grundlegende Wissenserweiterung und Schaffung der Voraussetzungen neuer Erkenntnisse findet in Deutschland vorwiegend in großen Forschungsinstitutionen, wie der Helmholtz-Gemeinschaft, der Deutschen Forschungsgemeinschaft oder der Max-Planck-Gesellschaft statt. Aber auch die deutschen Universitäten betreiben Grundlagenforschung. Stärke: Qualitätsproduktion Qualitätsproduktion und entsprechend hochwertige Produkte sind ein zentrales Markenzeichen der deutschen Industrie. Die Qualität, sowohl der im Inland als zunehmend auch der im Ausland gefertigten Produkte deutscher Unternehmen, festigt die Wettbewerbsfähigkeit. Die deutschen Industrieunternehmen sind aktuell in der Lage, sich durch ihr Angebot von ihren Wettbewerbern abzusetzen. Ihre Produkte können durch technologische Qualität und Vielfalt an Leistungsmerkmalen hervorstechen. Dafür können die deutschen Unternehmen auf den Märkten vielfach höhere Preise als ihre Mitbewerber durchsetzen. Diese Qualitätsproduktion ist aus meiner Sicht gebunden an die spezifischen industriellen Arbeitsbeziehungen, an das sogenannte »deutsche Modell«. Zu diesen Arbeitsbeziehungen gehört ein spezifisches, wie leistungsfähiges Bildungssystem, um die Betriebe mit qualifizierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu versorgen. Hinzukommen ausgebaute betriebliche Beziehungen zwischen dem Management und den Beschäftigten. Damit wird ein Regime geschaffen, welches die hohe Motivation und Flexibilität der Beschäftigten mit qualitativ hochwertiger Industriearbeit und guten Löhnen verbindet. Im Zuge der wachsenden Auslandsexpansion gelingt es vielen deutschen Unternehmen, diese Qualitätsproduktion auch auf ihre Produktionsstandorte außerhalb Deutschlands zu exportieren. 19 81 Michael Vassiliadis Michael Vassiliadis Effiziente berufliche Ausbildung Das deutsche duale System der Berufsausbildung unterscheidet sich deutlich von fast allen anderen europäischen Berufsbildungssystemen. Im Kern verbindet es Arbeit und betriebliche Ausbildung im Unternehmen mit schulischem Lernen in der staatlichen Berufsschule. In jüngster Zeit kann festgestellt werden, dass das arbeitsintegrierte Lernen in Europa angesichts hoher Jugendarbeitslosigkeit auf immer größeres Interesse stößt. Es führt nicht nur zu einer hohen fachlichen Qualifikation der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Junge Menschen, die diese Ausbildung durchlaufen, weisen eine hohe Identifikation mit ihrer Arbeit und ihrem Unternehmen aus. Es ist kein Pathos, wenn man in Deutschland vom »Facharbeiterethos« spricht. Gemeint sind damit Motivation, Zielstrebigkeit, Verantwortungsbewusstsein und die Bereitschaft, Veränderungen wie auch Verbesserungen von Produkten und Prozessen mitzutragen. Zusammen mit den qualitativ hochwertigen Studiengängen der naturwissenschaftlich-technischen Hoch- und Fachhochschulen garantiert die duale Ausbildung der deutschen Industrie hoch qualifizierte Facharbeiter und Facharbeiterinnen, Ingenieure und Ingenieurinnen, Naturwissenschaftler und Naturwissenschaftlerinnen. Diese Zweige nehmen im deutschen Bildungssystem eine zentrale Rolle ein. Ob sie auch weiterhin diese Bedeutung haben können, wird entscheidend davon abhängen, ob sich zukünftig noch genügend junge Menschen finden werden, um eine berufliche Ausbildung oder ein technischnaturwissenschaftliches Studium zu absolvieren. Die demografische Entwicklung wird auch hier Herausforderungen mit sich bringen. Hohe Motivation der Beschäftigten und effektive Mitbestimmung Das duale System der Berufsausbildung ist eingebettet in und verbunden mit der Mitbestimmung der Beschäftigten und ihren Interessenvertretungen. Das Zusammenwirken von Ausbildungssystem, entwickelten Mitbestimmungsstrukturen und funktionierenden sozialstaatlichen Institutionen hat entschei- 20 82 dend dazu beigetragen, die deutsche Industrie erfolgreich an veränderte Rahmenbedingungen anzupassen. Es hat wichtige Beiträge geleistet, um sich im internationalen Wettbewerb zu behaupten. Die These, die deutsche Mitbestimmung und die Gewerkschaften wären in Zeiten zunehmender Globalisierung nicht mehr zeitgerecht, hat spätestens mit der durch die Mitbestimmung bewältigten Krise 2008/2009 ihre letzten Fürsprecher verloren. Zunehmend wird anerkannt, dass die durch Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände ausgehandelten Flächentarifverträge einen positiven Einfluss auf die Entwicklung der Arbeitsproduktivität und Einkommen haben. Durch Mitwirkung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sowie Gewerkschaften werden die Beschäftigten und ihre Vertreter in die Unternehmensverantwortung eingebunden sowie betriebliche Konflikte vermieden. Die Mitbestimmung bewirkt Vertrauen, Loyalität und hohe Motivation bei den Beschäftigten. Es ist dieses Arrangement, auf dem die technologisch anspruchsvolle Qualitätsproduktion und Exportstärke der deutschen Volkswirtschaft beruhen. Und es sind gute Voraussetzungen, auch in der Zukunft im internationalen Wettbewerb bestehen zu können. Die Märkte, in denen sich deutsche Unternehmen bewegen, zeichnen sich durch hohe Dynamik, vielschichtige Produkte, komplexe Prozesse und immer schneller werdende Innovationszyklen aus. Die im Zuge der Entwicklung von Verkäufer- zu Käufermärkten zunehmende Differenzierung der Kundenbedürfnisse erfordert neue Anstrengungen, Kunden an sich zu binden. Gleichzeitig wächst mit den kürzer werdenden Innovationszyklen und den daraus entstehenden neuen Produkten der Anspruch an die Organisation der gesamten Zulieferketten. Um diese Herausforderungen zu beherrschen, braucht man künftig noch mehr Informationen und Wissen. Die Generierung und Aufbereitung von Wissen sowie die Beherrschung von Informationssystemen werden demnach entscheidende Schlüssel zum Erfolg sein. Damit rücken die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter noch stärker ins Zentrum unternehmerischer Überlegungen. Trotz aller modernen Informations- und Kommunikationstechnologien werden nur die 21 83 Michael Vassiliadis Michael Vassiliadis Unternehmen erfolgreich sein, die den Kampf um die »besten Köpfe« gewinnen und ihre Belegschaft wirklich »mitnehmen«. Vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung und der höheren Anforderungen seitens der Märkte ist daher aus meiner Sicht eine moderne Personalpolitik der Unternehmen von existenzieller Bedeutung. Der wirtschaftliche Erfolg wird künftig noch stärker von der Qualifikation, der Leistungsbereitschaft und Motivation der Beschäftigten abhängen. Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen werden diese Erwartungen nur erfüllen, wenn die Unternehmen deren Partizipationsansprüche akzeptieren. Dazu gehört in Deutschland die Mitbestimmung in Betrieben und Unternehmen. Kurz und ergänzend lassen sich die Erfolgsfaktoren der deutschen Volkswirtschaft wie folgt zusammenfassen: • Deutschland verfügt über ein breites Branchenspektrum und intakte Wertschöpfungsketten. • Die ausgewogene Struktur der Unternehmen mit Großunternehmen und vielen leistungsfähigen kleinen und mittleren Unternehmen führt zu dichten industriellen Netzwerken. • Nicht nur, aber vor allem die industriellen Leitsektoren verfügen über eine hohe Innovationsfähigkeit. • Die deutsche Industrie verfügt über starke Kompetenzen im Bereich hochwertiger Technologien. • Etliche mittelständische Unternehmen sind Weltmarktführer in ihren jeweiligen Märkten. • Deutschland verfügt über eine leistungsfähige Versorgungs-, Verkehrs- und Telekommunikationsinfrastruktur und eine differenzierte und leistungsfähige Forschungslandschaft. Im Bereich der Infrastruktur besteht hoher Investitionsbedarf. • Hoch qualifizierte und motivierte Ingenieurinnen und Ingenieure und Fachkräfte garantieren hohe Produktivität, Produktqualität und Problemlösungskompetenz in der Industrie. 22 84 • Durch die anspruchsvolle Umweltschutzpolitik ist die deutsche Industrie in den Bereichen der Ressourceneffizienz sowie Umwelt- und Klimatechnologien führend. • Mitbestimmung und Flächentarifverträge sind Voraussetzung und Bedingung der exportorientierten Qualitätsproduktion Deutschlands. 2. Den Industriestandort Deutschland zukunftsfest machen – Die Herausforderungen Doch es ist nicht alles Gold, was glänzt. Zwar hat Deutschland bislang Antworten auf die zunehmende Internationalisierung und den Strukturwandel gefunden; dennoch steht Deutschland vor einer ganzen Reihe aktueller und längerfristiger Herausforderungen. Ich will sieben Punkte kurz benennen, die aus meiner Sicht in den Fokus von Politik, Wirtschaft und Gewerkschaften gehören. Diese können hier nur skizziert werden. Energiewende gestalten Die deutsche Regierung hat bekanntlich beschlossen, aus der Kernenergie auszusteigen. Acht Kernkraftwerke sind bereits vom Netz genommen worden. Bis zum Jahr 2022 sollen die verbleibenden neun folgen. Gleichzeitig verfolgt die Politik in Deutschland ehrgeizige Klimaschutzziele. Man kann also zu Recht von einer umfassenden Energiewende sprechen. Deutschland steht damit augenblicklich vor einer gewaltigen Zukunftsaufgabe. Zu bewältigen ist diese Aufgabe nur, wenn es zu einer übergreifenden Zusammenarbeit und Abstimmung an der Schnittstelle von Wissenschaft, Wirtschaft und Politik kommt. Dazu bedarf es einer intelligenten politischen Steuerung und Entscheidungsbereitschaft. Leider sind wir davon aktuell weit entfernt. Die Energiekosten in Deutschland steigen, speziell weil die Kosten für die Förderung der erneuerbaren Energien aus dem Ruder laufen. Die Energiepreise stellen einen wichtigen Wettbewerbsfaktor für Deutschland im internationalen Wettbewerb dar. Durch die intakten 23 85 Michael Vassiliadis Michael Vassiliadis Wertschöpfungsketten verfügt das Land noch über eine bedeutende Grundstoffindustrie. Sie hat einen hohen Energiebedarf. In den energieintensiven Industrien Deutschlands gibt es rund 830.000 Arbeitsplätze, die von bezahlbaren Energiepreisen abhängig sind. Zurzeit bewegt sich hier viel in die falsche Richtung. Aus meiner Sicht wird die Energiewende nur mit Innovationen und Investitionen der Industrie gelingen. Deutschland hat eigentlich alles, was benötigt wird, um eine neue Energieversorgung aufzubauen: eine starke industrielle Basis, leistungsfähige Technologien, zukunftsorientierte Unternehmen und leistungsfähige Belegschaften. Es fehlt aber an der notwendigen politischen Steuerung und an der Einsicht, dass dieser Prozess nur mit einer wettbewerbsfähigen und innovativen Industrie gelingen kann. Eurokrise bewältigen – Europa zukunftsfest machen! Die deutsche Wirtschaft konnte in den letzten Jahren ihre Exportabhängigkeit vom europäischen Wirtschaftsraum verringern. Der Grund dafür liegt in der steigenden Nachfrage nach deutschen Gütern und Waren in den aufstrebenden Volkswirtschaften, vor allem in Asien und Südamerika. Insbesondere der Markt in China hat in den letzten Jahren erheblich zum Exportwachstum in Deutschland beigetragen. Dennoch ist die deutsche Wirtschaft weiterhin in hohem Maße von Europa abhängig. Knapp 70 % der deutschen Exporte gehen in die Länder der Europäischen Union, fast 40 % der deutschen Exporte allein in die Eurozone. Einzelne Branchen sind noch weit stärker vom europäischen Wirtschaftsraum abhängig. Deutschland hat daher ein vitales Interesse, die Krise des Euroraums zu überwinden. Ich bin nicht der Ansicht, dass dies mit der bislang praktizierten Politik gelingen kann. Wir brauchen eine andere Politik in Europa. Das einseitige Sparen schadet am Ende auch der deutschen Exportbilanz. Konsolidierung muss durch Investitionen und Wachstum ergänzt werden. Aber wir brauchen auch Strukturreformen in den Staaten der Europäischen Union und der europäischen Institutionen. Ausdrücklich will ich an dieser Stelle darauf hinweisen, dass die Überwindung der Eurokrise auch aus politischen 24 86 Gründen gelingen muss. Trotz aller Widrigkeiten und der bestehenden Defizite ist der europäische Integrationsprozess bislang ein Erfolg. Er hat Europa zusammengeführt und geeint, er hat soziale Stabilität und wirtschaftliches Wachstum gebracht. Es wäre fatal, wenn dieser Prozess ins Stocken geriete. Fehlende Ordnung auf dem Arbeitsmarkt herstellen Der wirtschaftliche Erfolg der exportorientierten deutschen Volkswirtschaft mit ihrer Qualitätsproduktion war und ist untrennbar mit einer Arbeitsmarktordnung verbunden, die auf mitbestimmte und tariflich geregelte Arbeitsverhältnisse beruht. Diese Arbeitsmarktordnung führt zu wirtschaftlicher Effizienz und gesellschaftlicher Solidarität. Seit Längerem sind im deutschen Arbeitsmarkt jedoch Entwicklungen zu beobachten, die diese Ordnung infrage stellen. Diese Entwicklungen bedrohen auf längere Sicht unser erfolgreiches »Produktionsmodell«. Unsichere und schlecht bezahlte Tätigkeiten haben zugenommen, auch in den industriellen Branchen. Seit gut 15 Jahren gehört Deutschland zu den OECD-Ländern, in denen Niedriglohnbeschäftigung am stärksten zugenommen hat. Besonders hohe Anteile von Geringverdienern finden sich bei Minijobbern, Leiharbeitskräften, Jugendlichen unter 25 Jahren und befristet Beschäftigten. Oftmals gehen schlechte Einkommen mit hoher Beschäftigungsunsicherheit einher. Mehr als zwei Drittel der Geringverdienenden arbeiteten 2010 in Betrieben ohne Tarifbindung. Dort wo Tarifverträge und Mitbestimmung ihre Wirkung entfalten, zahlen sie sich für die Beschäftigten aus. Aber auch aus ökonomischer Sicht ist eine neue Ordnung auf dem Arbeitsmarkt unverzichtbar. Den zunehmenden internationalen Wettbewerb und den absehbaren Fachkräftemangel wird die deutsche Volkswirtschaft nicht mit schlechter und billiger Arbeit bestehen können. Deutschland braucht eine neue Arbeitsmarktordnung nach dem Leitbild guter Arbeit. 25 87 Michael Vassiliadis Michael Vassiliadis Demografischen Wandel bewältigen Der demografische Wandel ist einer der »Megatrends« des 21. Jahrhunderts. Er wird die politische, soziale und ökonomische Situation, nicht nur in Deutschland, entscheidend verändern. In 25 Jahren wird jeder dritte Mensch in Deutschland über 60 Jahre alt sein. Dies ist ein dramatischer Strukturwandel der deutschen Bevölkerung. Die Alterung unserer Gesellschaft wird tief greifende Auswirkungen auf die Alters- und Gesundheitsvorsorge haben. Sie ist zudem eine Herausforderung an unser gesamtes Wirtschaftssystem, an den Arbeitsmarkt, die Produktion sowie den Kapital- und Immobilienmarkt unseres Landes. Schon heute zeichnet sich ein Ingenieur- und Fachkräftemangel ab, der in Deutschland zur Wachstumsbremse werden kann. Noch deutlicher wird diese Tendenz ab 2020 werden, wenn die ersten geburtenstarken Jahrgänge in den Ruhestand treten. Bereits jetzt versuchen Unternehmen verstärkt, ältere Ingenieurinnen/Ingenieure und Fachkräfte länger in den Firmen zu halten. Deutschland wird erhebliche Anstrengungen unternehmen müssen, um den Alterungsprozess der Bevölkerung zu bewältigen und den Wohlstand zu erhalten: Die älteren Beschäftigten müssen durch Weiterbildung und eine entsprechende Arbeitsplatzgestaltung befähigt werden, länger zu arbeiten. Und auch die Arbeitsproduktivität muss vor dem Hintergrund der absehbaren demografischen Entwicklung gesteigert werden. Unsere Bildungspotenziale müssen entwickelt und besser ausgeschöpft werden, um mehr Menschen Zugang zu qualifizierten Tätigkeiten zu ermöglichen und damit ein ausreichendes Potenzial an qualifizierten Arbeitskräften zu erhalten. Bildungssystem verbessern In Deutschland ist in den letzten Jahren eine lebhafte Debatte über die Leistungsfähigkeit des Bildungssystems geführt worden. Die sogenannten PISA-Berichte der OECD haben deutlich gemacht, dass Deutschland im Bereich der Primärbildung viele Defizite aufweist und im internationalen Vergleich in nicht 26 88 wenigen Fächern hinten liegt. Durch die Mängel im Bildungssystem verlieren junge Menschen ihre Chancen und der Wirtschaft fehlen die notwendigen Fachkräfte. Erschreckend hoch ist zum Beispiel die Anzahl der Schulabgänger ohne einen Abschluss. Auch die Fremdsprachenkompetenz deutscher Schülerinnen und Schüler liegt beispielsweise weit hinter der aus Skandinavien zurück. Hohe Studienabbrecherquoten und für eine duale Berufsausbildung unzureichende Bildungsergebnisse der Hauptschulen belegen Ineffizienzen. Potenziale bei der Entstehung, Verbreitung und Anwendung von Wissen zu verschwenden, kann sich eine Volkswirtschaft wie Deutschland nicht leisten. Als rohstoffarmes Hochlohnland können wir nur das Wissen und die Qualifikationen der Menschen in die Waagschale werfen. Ich wehre mich dabei gegen die Forderung, Bildung sei allein Aufgabe des Staates. Auch die Unternehmen haben hier eine hohe Verantwortung. Erfolgreiche Unternehmen bilden umfangreich aus und bilden ihre Beschäftigten intensiv weiter. Erste Verbesserungen in der schulischen Bildung zeichnen sich ab. Die Politik in Deutschland hat begonnen, die erkannten Defizite zu bekämpfen. Weitere Verbesserungen im Bereich der Primärbildung sind erforderlich. Damit könnten jungen Menschen mehr Chancen eröffnet und den Hochschulen sowie Unternehmen junge Menschen mit guter Allgemeinbildung zugeführt werden. Akzeptanz für Technik schaffen Die Deutschen sind nicht technikfeindlich. Im Gegenteil! Die modernen Informations- und Kommunikationstechnologien werden in der ganzen Breite von der Mehrzahl der Bevölkerung genutzt. Allerdings gibt es durchaus bedenkliche Ablehnungsfronten und Akzeptanzprobleme bei industriellen Großprojekten und bestimmten neuen Technologien. Wir sehen das aktuell bei den notwendigen Investitionen in Energienetze und erneuerbare Energien. Fragen der Akzeptanz von Industrie, Forschung und neuen Technologien sind ernst zu nehmen und differenziert zu betrachten. So wäre es grundsätzlich verkehrt, Akzep- 27 89 Michael Vassiliadis Michael Vassiliadis tanzprobleme mit Technikfeindlichkeit zu verwechseln. Letztere gibt es in Deutschland meines Erachtens nicht. Festzustellen ist jedoch eine wachsende Skepsis gegenüber sichtbaren und teilweise »spürbaren« Großprojekten. Jedoch kann ein Industrieland wie Deutschland nicht auf industrielle oder infrastrukturelle Großprojekte verzichten. Es kann sich nicht leisten, neue Technologien und Produkte zu erfinden und zu nutzen, diese aber nicht selbst zu produzieren. Aus meiner Sicht sind Politik und Unternehmen aufgefordert, durch Information und Transparenz das erforderliche Maß an Akzeptanz und Vertrauen in Industrie und neue Technologien herzustellen. Dies ist eine große Herausforderung, weil die Technik durch eine zunehmend stärkere »Verwissenschaftlichung« und Komplexität für Laien immer undurchschaubarer zu werden scheint. Von der Politik muss gefordert werden, dass sie nicht kurzfristig opportunistisch vor dem Hintergrund der nächsten Wahlen entscheidet, sondern verantwortungsvoll die längerfristigen Wirkungen ihrer Entscheidungen im Auge behält. Wenn es gelingt, den Menschen überzeugend darzulegen, dass die Industrie bei der Bewältigung der globalen Herausforderungen, wie Ressourcen- und Klimaschutz, Ernährungs- und Energiebedarf, unverzichtbar ist, können die Akzeptanzprobleme abgebaut werden. Hierzu ist es erforderlich, die Menschen über den Nutzen geplanter Projekte wie auch neuer Technologien aufzuklären und davon zu überzeugen. Nachhaltigkeit herstellen Nachhaltigkeitsfragen spielen in Deutschland, aufgrund des erreichten Wohlstandsniveaus und der damit verbundenen erhöhten Bedeutung immaterieller oder postmaterieller Werte, eine besondere Rolle. Die Suche nach nachhaltigen Gesellschafts- und Wirtschaftskonzepten zum langfristigen Erhalt der Lebensgrundlagen für die Menschen, ist – zumindest in Deutschland – zu einem bestimmenden gesellschaftlichen Leitmotiv geworden. Bestimmt werden die deutschen Nachhaltigkeitsdiskurse eindeutig von der Ökologie. Die ökonomischen und sozialen Dimensionen der Nachhaltigkeit geraten dabei oft in den 28 90 Hintergrund. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass ohne nachhaltige soziale und ökonomische Strukturen kein erfolgreicher Schutz der Umwelt und der Ressourcen erreicht werden kann. Unbestreitbar erfordert die absehbare Endlichkeit fossiler Brennstoffe und Rohstoffe, deren Nutzung oft mit einer hohen Umweltbelastung einhergeht, globale Umsteuerungsprozesse. Vor diesem Hintergrund sind nachhaltige Umwelttechnologien sowie die Recycling- und Kreislaufwirtschaft langfristig für den Erhalt eines lebenswerten Planeten Erde unabdingbar. Schon heute ist die deutsche Industrie in diesen Feldern führend. Die deutschen Unternehmen sind gut beraten, ihre Produkte und Dienstleistungen verstärkt unter nachhaltigen Gesichtspunkten zu entwickeln. Sie können damit zentrale Beiträge für den Schutz der Umwelt und der Ressourcen erbringen, aber auch Arbeitsplätze und Beschäftigung sichern. Anforderungen an eine Industriepolitik für den Fortschritt Vor dem Hintergrund der skizzierten Anforderungen ist es müßig, zu fragen, ob Deutschland eine aktive und moderne Industriepolitik braucht. Mit ganz wenigen Ausnahmen einiger weniger unbelehrbarer Ökonomen und Politiker wird dies nicht mehr bestritten. Von einer klaren Vorstellung oder gar einem gemeinsamen Verständnis, was eine moderne Industriepolitik ausmachen könnte, sind wir weit entfernt. Es geht ja nicht mehr allein um Fragen der Wettbewerbsfähigkeit der Industrie. Die Industriepolitik steht immer stärker vor der Herausforderung, den auf industrieller Basis entstandenen Wohlstand zu sichern und gleichzeitig unsere Umwelt lebenswert zu erhalten, um den zukünftigen Generationen genügend Chancen und Ressourcen zu hinterlassen. Alte industriepolitische Konzepte werden den Anforderungen der Moderne nicht gerecht. Das gilt für die Befürworter der horizontalen Industriepolitik, die lediglich auf eine Verbesserung der allgemeinen Rahmenbedingungen setzen. 29 91 Michael Vassiliadis Michael Vassiliadis Die Strategie, auf niedrige Steuersätze, Abbau von Handelshemmnissen und Harmonisierung von Märkten zu setzen, hat Europa nicht zur wettbewerbsstärksten Region der Welt gemacht. Genauso kritisch sind jedoch auch die industriepolitischen Ansätze zu betrachten, die in staatlichen Interventionen jeglicher Art ihr Heil suchen. Der Aufstieg und Fall der deutschen Fotovoltaikindustrie, das Hin und Her im Bereich der Biokraftstoffe stehen exemplarisch für gut gemeinte, aber falsche Eingriffe. Wenn die Politik aktionistisch in wirtschaftliche Abläufe eingreift, ohne die langfristigen Wirkungen zu erkennen oder die dahinter stehenden Marktprozesse zu begreifen, wird es kontraproduktive Ergebnisse geben. Selbst die gut gemeinten Zwecke, eine bessere Umwelt, nachhaltige Wirtschaftsweise oder der Aufbau neuer Arbeitsplätze können sich dann ins Gegenteil verkehren. Wie muss eine moderne Industriepolitik aussehen? Welche Elemente muss sie enthalten, um den heutigen Anforderungen gerecht zu werden und alte Fehler zu vermeiden? Dazu einige Ansatzpunkte, die sicherlich der weiteren Vertiefung und Diskussion bedürfen und hier nur grob skizziert werden können. 3. Merkmale einer fortschrittlichen Industriepolitik • Fortschrittliche Industriepolitik achtet und nutzt das »Koordinationsprinzip«: Markt. Die Exzesse unregulierter Finanzmärkte sollten nicht den Blick auf Vorteile von Marktprozessen verstellen. Marktprozesse erzeugen Dynamik und sie fördern Innovationen. Eine moderne Industriepolitik designt Märkte, damit im fairen Wettbewerb die besten technologischen und organisatorischen Lösungen für eine nachhaltige Entwicklung erzielt werden. • Fortschrittliche Industriepolitik bettet Marktprozesse in einen aktiven, immer wieder neu zu bestimmenden, politischen und sozialen Ordnungsrahmen. Märkte brauchen feste Strukturen und faire Wettbewerbsbedingungen. • Fortschrittliche Industriepolitik braucht makroökonomische Flankierung und Unterstützung. Für die deutsche und europäische Industrie ist die gesamt- 30 92 wirtschaftliche Dynamik in Europa entscheidend. Ohne ausreichende Wachstumsimpulse durch eine gezielte makroökonomische Politik wird es langfristig keine starke deutsche und europäische Industrie geben. • Eine fortschrittliche Industriepolitik muss europäischer werden. Die bestehenden Kompetenzen, Instrumente und Maßnahmen der europäischen Institutionen müssen gestärkt werden. Während der Klimaschutz und die Energiepolitik weitgehend europäisch gestaltet werden, scheitern zukunftsfähige und notwendige europäische industriepolitische Initiativen an nationalstaatlichen Egoismen und Kompetenzen. • Fortschrittliche Industriepolitik ist gleichzeitig aktive Regionalpolitik. Die Stärkung regionaler Strukturen durch Wettbewerbscluster und innovationsgetriebene Vernetzungen von Unternehmen, Universitäten, Forschungseinrichtungen und Bildungseinrichtungen stärken unsere Wertschöpfungsketten. • Fortschrittliche Industriepolitik umfasst eine aktive Arbeitspolitik. Sie weiß um die Bedeutung des Faktors Arbeit für ökonomischen Erfolg und soziale Stabilität. Durch die Gestaltung eines fairen und geordneten Arbeitsmarktes trägt sie dazu bei, die Unternehmen langfristig mit qualifizierten und motivierten Beschäftigten zu stärken. Fortschrittliche Industriepolitik stärkt die Mitsprache und Partizipation der Beschäftigten. • Fortschrittliche Industriepolitik fördert wissensbasierte und industrielle Dienstleistungen. Ökologisch und ökonomisch nachhaltige industrielle Produktion wird in Deutschland und Europa nur Zukunft haben, wenn industrielle Dienstleistungen, materielle Produktion und Wissenschaft noch stärker verzahnt werden. • Fortschrittliche Industriepolitik stellt die Steigerung der Energie- und Ressourcenproduktivität in den Mittelpunkt. Dabei setzt sie auf langfristig planbare Rahmenbedingungen und Anreize für die Unternehmen. Sie berücksichtigt die technologischen und physikalischen Grenzen bestehender Produktionsverfahren. Sie ist sich bewusst, dass Sprunginnovationen, die zu erheblichen Ressourceneinsparungen oder neuartigen umweltverträglichen 31 93 Michael Vassiliadis Michael Vassiliadis Produkten führen, nicht erzwungen werden können, sondern eines jahrelangen »Innovierens« und auch des Glücks bedürfen. • Fortschrittliche Industriepolitik fördert Innovationen und Innovationsprozesse. Innovationen sind zentraler Bestandteil für die Lösung globaler (Umwelt-) Probleme. Innovationen stärken die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie. Moderne Industriepolitik sieht sowohl technologische als auch soziale Innovationsprozesse als Voraussetzung gesellschaftlichen Fortschritts. Sie ist sich bewusst, dass komplexe Innovationsprozesse den Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern erfordern. Eine derart ausgerichtete Industriepolitik ist somit Fortschrittspolitik. Sie gestaltet den Strukturwandel aktiv, damit Unternehmen und ihre Beschäftigten ihn mitgehen können, und liefert damit wichtige Beiträge um die soziale Marktwirtschaft zukunftsfest und nachhaltig zu machen. 32 94 Autorinnen und Autoren Dr. Jürgen Dispan Projektleiter beim IMU Institut. Seit 1998 ist Jürgen Dispan wissenschaftlicher Mitarbeiter beim IMU Institut Stuttgart. Inhaltliche Schwerpunkte liegen in analytischen und konzeptionellen Arbeiten rund um die Bereiche Branche, Cluster, Strukturwandel sowie Innovation, Partizipation und Mitbestimmung in Betrieb und Region. Seine zuletzt veröffentlichten Studien befassen sich mit verschiedenen Branchen des Verarbeitenden Gewerbes, mit Unternehmensstrategien und Industriepolitik sowie mit Chancen und Risiken durch Zukunftsfelder wie Elektromobilität und Umwelttechnologien. Michael Vassiliadis Vorsitzender der IG BCE. Seit März 2004 Mitglied des geschäftsführenden IG BCE-Hauptvorstandes. Bis Oktober 2009 zuständig für Betriebsräte – Bildung – Jugend – Vertrauensleute/ Ortsgruppen. Auf dem 4. Ordentlichen Gewerkschaftskongress der IG BCE 2009 ist Michael Vassiliadis zum Vorsitzenden der IG BCE gewählt worden. Seit Mai 2011 Präsident der Föderation Europäischer Bergbau-, Chemie- und Energiegewerkschaften (EMCEF) und seit Mai 2012 der Nachfolgeorganisation IndustriAll Europe. Stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender der K+S AG, Evonik Industries AG und der STEAG GmbH sowie Mitglied im Aufsichtsrat der BASF SE. Stellvertretender Vorsitzender des Kuratoriums der RAG-Stiftung. Mitglied des von der Bundesregierung berufenen Rates für Nachhaltige Entwicklung, Präsident der Stiftung Neue Verantwortung sowie Mitglied der Ethikkommission »Sichere Energieversorgung« der Bundesregierung. 95 Bildnachweise Glasindustrie in Deutschland Titel: Creativ Collection Schott AG (6) Pilkington (2) Die Keramische Industrie Titel: CeramTec CeramTec 2x Bilderfilm.de 2x Fraunhofer IKTS Dresden Fotoatelier Villeroy & Boch MEV Industriepolitik für den Fortschritt: Titel: clipdealer.de/buchachon LANXESS (2) Bayer HealthCare AG RWE AG Fotolia/lorhelm LANXESS(C)2011 Thorsten Marti Fotolia/JWS – Fotolia 96