1 Cardiff und Lübeck, den 08.05.2012 An das Bundesministerium für

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1 Cardiff und Lübeck, den 08.05.2012 An das Bundesministerium für
Dr. M. Wulf M. Stratling, MD, PhD, aFRCA
Priv. Doz. Dr. med. habil.
Meinolfus W. M. Strätling
Consultant Anaesthesiologist
(Cardiff and Vale University Local Health Board)
Reader in Anaesthesiology and in
History, Theory and Ethics in Medicine
Facharzt für Anästhesiologie
Dozent für Anästhesiologie sowie für
Geschichte Theorie und Ethik in der Medizin
Universität zu Lübeck.
(Lübeck University, Germany)
Honorary Clinical Teacher
Academic Department of Anaesthetics and
Intensive Care Medicine
School of Medicine, Cardiff University, UK
Work address:
Cardiff and Vale UHB
University Hospital of Wales
Directorate of Anaesthesia
Llandough University Hospital, Penlan Road,
Penarth, Vale of Glamorgan, CF 64 2XX
Great Britain
Tel.: 0044 – (0)29 – 2071 – 6860.
Fax: 0044 – (0)29 – 2071 – 5312.
E-mail: [email protected]
Cardiff und Lübeck, den 08.05.2012
An das Bundesministerium für Justiz
z.Hd. MR Dr. Bernd Bösert (RL)
RinAG Bezjak (Referentin)
Referat II A 1
Mohrenstrasse 37
D-10117 Berlin
An den Humanistischen Verband
Deutschlands (HVD) – Präsidium
- Bundesgeschäftsstelle
Wallstrasse 61 - 65
10179 Berlin
c/c An die Mitglieder der
AG Sedemund / Strätling
(Ärztekammer Schleswig-Holstein / Universität zu Lübeck)
Versendung via E-Mail:
[email protected]; [email protected]; [email protected] u.a.m.
Betreff:
• Referentenentwurf eines Gesetzes zur Strafbarkeit der gewerbsmäßigen Förderung der
Selbsttötung (Bearbeitungsstand: 09.03.2012, 12:00 Uhr)
• Konsultation der Bundesregierung (05. April – 31. Mai 2012).
• Stellungnahme Priv. Doz. Dr. med. Meinolfus W.M. Strätling, Lübeck / Cardiff.
Sehr geehrte Damen und Herren,
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
Beiliegend übersende ich, wie erbeten bzw. abgesprochen, die von mir erstellte
Stellungnahme zu dem o.g. Referentenentwurf.
1
Die Kommentierung erfolgt überwiegend unter Zugrundelegung einer umfangreichen
medizinischen und medizinisch-ethischen Analyse. Auch auf rechtswissenschaftliche
und rechtspolitische Aspekte wird eingegangen.
Wissenschaftliche Grundlage hierfür sind die unten angeführten Veröffentlichungen.
Diese liegen Ihnen überwiegend bereits seit längerem vor und werden in Kürze auch
im allgemein zugänglichen Schrifttum erscheinen.
Im Bedarfsfall können die entsprechenden Arbeiten natürlich auch zugänglich
gemacht werden.
Die vorliegende Stellungnahme wurde einerseits von führenden Mitgliedern des
Humanistischen Verbands Deutschlands erbeten, mit dem in dieser Frage eine enge
Co-Operation besteht.
Sie findet auch die Unterstützung von vielen ärztlichen Kollegen, mit denen der
Gutachter derzeit im Rahmen der berufsrechtlichen Regelungen des
Themenkomplexes zusammenarbeit.
Die Stellungnahme wird schliesslich auch dem Bundesjustizministerium direkt als
persönliche, sachverständige Stellungnahme zugesandt.
Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie diese Stellungnahme im Rahmen der
Konsultationen und Stellungnahmen Beachtung finden würde.
Für etwaige Rückfragen oder weitern Austausch stehe ich bei Interesse oder Bedarf
natürlich gerne zur Verfügung.
Mit freundlichem Gruß,
Meinolfus Strätling
2
Betreff:
•
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Referentenentwurf eines Gesetzes zur Strafbarkeit der gewerbsmäßigen
Förderung der Selbsttötung (Bearbeitungsstand: 09.03.2012, 12:00 Uhr)
Konsultation der Bundesregierung (05. April – 31. Mai 2012).
Stellungnahme:
Priv. Doz. Dr. med. Meinolfus W.M. Strätling, Lübeck / Cardiff.
Zusammenfassende Bewertung:
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Der vorliegende Gesetzentwurf verfolgt ein Ziel, welches aus
(medizin)ethischer, medizinisch-ärztlicher und gesellschaftspolitischer Sicht
anerkennenswert ist und im Grundsatz Unterstützung findet.
Der Gesetzentwurf erscheint in der vorliegenden Form verfassungsrechtlich
zulässig.
Der Nachweis eines objektiven Regelungsbedarfs ist nicht erbracht.
Die vorgeschlagenen Regelungen erscheinen grundsätzlich differenziert und
praktikabel. Ihr Einfluss auf die tatsächliche Praxis der Medizin und
Rechtspflege ist allerdings als minimal zu prognostizieren.
Die zur Begründung vorgelegten Annahmen sind überwiegend theoriebasiert
und einseitig.
Unter Zugrundelegung eines umfassenderen theoretischen und empirischen
Spektrums sind die Annahmen aus wissenschaftlicher Sicht (insbesondere
Medizin, Ethik) überwiegend unbelegt, unvollständig oder fehlerhaft. Unter
rechts- und sozialwissenschaftlichen Gesichtspunkten bedürfen Sie ebenfalls
einer umfassenderen und argumentativ weniger einseitigen Ergänzung.
Einige Formulierungen sind folglich missverständlich. Sie könnten zu weiteren
rechts- und gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen führen. Hier
erscheinen zusätzliche Klarstellungen ratsam, nicht zuletzt für die Praxis der
Medizin und die Rechtspflege.
Regelungsgegenstand:
Der Gesetzentwurf sieht vor, die „gewerbsmäßige“ Suizidbeihilfe strafrechtlich zu
verbieten. Kriterien dieser „Gewerbsmäßigkeit“ sind die Absicht, sich durch
wiederholte Tatbegehung eine fortlaufende Einnahmequelle von einiger Dauer und
einigem Umfang zu verschaffen, wobei die Tätigkeit von der Absicht getragen sein
muß, Gewinn zu erzielen (Vgl. B - Besonderer Teil, 10 Mitte, Abs. 3 - 4).
Es handelt sich also ausschließlich um ein strafrechtliches Verbot einer wirklich
„kommerziellen“, gewinnorientierten Suizidbeihilfe.
3
Regelungsumfang:
Aus medizinischer und medizinethischer Sicht erfreulich und hilfreich sind die
ausdrücklichen Klarstellungen zu Tatbeständen, die nicht durch den Gesetzentwurf
erfasst werden (insbesondere S. 11).
Differenziert, zutreffend und angemessen ist auch die Feststellung, das assistierter
Suizid, der im Einzelfall von Ärzten oder Vertretern anderer Heilberufe gewährleistet
werden könnte, „typischerweise gerade nicht `gewerbsmäßig´ erfolgt“. Folglich ist
insbesondere auch der ggf. ärztlich assistierte Suizid i.A. nicht von der
strafrechtlichen Sanktionsandrohung erfasst.
Die angemessene Vergütung von Leistungen, die nicht primär gewinnorientiert sind,
sondern insbesondere im Rahmen einer kompetenten und differenzierten
Suizid(präventions)beratung, -prophylaxe, -begutachtung und ggf. -begleitung
erbracht und dokumentiert werden, ist von dem Verbot ebenfalls nicht erfasst.1
Dies ist im Sinne der gesellschaftspolitischen Intention der Gesetzgebung insgesamt
angemessen.
Regelungsbedarf:
Tatsächlich ist auf Grundlage einer umfassenden Analyse der verfügbaren Evidenz
zu dem Problemkomplex der Suizidbeihilfe festzustellen2, dass aus Sich aller
maßgeblichen Disziplinen (Medizin- und Sozialwissenschaften, Ethik, Recht)
übereinstimmend ein robustes „öffentliches Interesse“ abgeleitet werden kann, die
Frage der Suizidbeihilfe insgesamt gesetzlich zu regeln.
In der Praxis praktikable, realitätsbezogene sowie verfassungsrechtlich zulässige
Alternativen zu einer in der Grundtendenz eher liberalen und pluralistisch-duldsam
orientierten Lösung bestehen dabei nicht.3
Rechts- und gesellschaftspolitisch ist die vorliegende Initiative damit im Grundsatz
sowie hinsichtlich ihrer differenzierten Grundtendenz zu begrüßen.
Der Nachweis eines „objektiven Regelungsbedarfs“ für den denkbaren „Sonderfall“
einer „gewerbsmäßigen“ Suizidbeihilfe ist dem gegenüber nicht erbracht. Aus
rechtstatsächlicher Sicht ist er nach derzeitigem Kenntnisstand zu verneinen.4
1
In diesem Sinne wird im vorliegenden Referentenentwurf ausdrücklich zwischen sog. „geschäftsmäßiger“
(zulässig) und „gewerbsmäßiger“ Suizidbeihilfe (unzulässig) unterschieden.
2
Strätling M, Assistierter Suizid – grundsätzlich „keine ärztliche Aufgabe“?, Medizinrecht 2012: In Print (Mai
2012).
Strätling M, Gesundheitsökonomische Aspekte bei Entscheidungen am Lebensende, Mythos Palliativmedizin,
Klinische „Ethikberatung“ und Behandlungsbegrenzung bei schweren Gehirnschädigungen, Medizinrecht 2012:
In Print (voaraussichtlich Juli 2012).
3
Strätling M., Assistierter Suizid – Grundsätzlich „keine ärztliche Aufgabe“ ? In: Gita Neumann (Hrsg.),
Suizidhilfe als Herausforderung [Assisted Suicide – A Challange], Aschaffenburg: Alibri Verlag 2012
(Schriftenreihe der Humanistischen Akademie Berlin, Bd. 5), ISBN 978-3-86569-084-5: In Print.
4
Nach den aktuellen Angaben des Statistischen Bundesamtes starben 2007 über 1,1 % aller in Deutschland
Verstorbenen (insgesamt über 800.000) durch (gesicherte) Suizide. Weitere 3,7% aller Todesfälle sind auf
„nicht-natürliche Todesursache” zurückzuführen. Hierunter sind erfahrungsgemäß ebenfalls – insbesondere im
4
Tatbestandlichkeit und Schuldhaftigkeit:
Der vorliegende Gesetzentwurf sieht eine Änderung des Deutschen Strafrechts vor.
Methodisch stellt sich daher die Frage nach den Kriterien der Tatbestandlichkeit und
Schuldhaftigkeit des Regelungsgegenstands.
Wie bereits angedeutet ist nach derzeitigem Kenntnisstand davon auszugehen, dass
die weitaus meisten Kosten, die in Deutschland und international im Rahmen von
Suizidbeihilfe i.w.S. auflaufen, offenbar durch Gutachten und sonstige
Hilfeleistungen (z.B. Reise- / Transportkosten) verursacht werden. Sie betreffen
Einzelfälle.
Bei allen (oft durchaus verständlichen und vom Gutachter z.T. geteilten) Vorbehalten
gegenüber Individuen und Organisationen, die quasi „professionalisierte“
Suizidbeihilfe propagieren und betreiben, ist damit also anzunehmen (und durchaus
anzuerkennen):
Nach bisherigem Kenntnisstand scheinen die meisten Kosten im Rahmen von
Leistungen aufzulaufen, die i.W.S. der Prävention klar unangemessener
Suizidbeihilfe dienen sollen [Suizid-Prävention, -prophylaxe, Beratung, fachärztliche
Begutachtung, Begrenzung absehbarer „Kollateralschäden“ (z.B. durch Wahl von
Suizidort, -zeit, -methode, etwaig weiterer Mitwirkenden etc.)].
Solche Massnahmen sind eindeutig im „öffentlichen Interesse“ und auch im Sinne
der Grundintention des vorliegenden Gesetzentwurfs.
Soweit eine signifikante Profit-Orientierung der geltend gemachten Kosten oder
sonstiger Mißbrauch nicht anzunehmen oder nachzuweisen ist, erscheinen damit die
Kriterien von relevanter Tatbestandlichkeit und Schuldhaftigkeit bisher weder
erwiesen noch in relevantem Umfang wahrscheinlich.
Damit ist auch die methodische Eignung der vorgeschlagenen Regelungen kritisch
zu sehen, das angestrebte Ziel (Verhinderung der Ausnutzung von und
höheren Lebensalter - ein signifikanter Anteil (z.B. nicht erkannte, nicht zuvor angekündigte, verschleierte oder
zumindest nicht vollkommen klare) Suizide.
Die Anteile der Sterbenden, die im Rahmen dieser Gesamtprävalenzen unterschiedliche Formen bisher
rechtlich unzulässiger oder fragwürdiger „Sterbehilfe“ in Anspruch nehmen, liegen nach derzeitigem
Kenntnisstand (inter)national ebenfalls konsistent in einem Bereich zwischen über 1% und bis zu rd. 3 %.
Diesen jährlich vielen Tausend Patienten stehen nach derzeitigem Kenntnisstand wenige Dutzend Deutsche
Staatsbürger gegenüber, die im In- oder Ausland kostenpflichtige Angebote der Suizidbeihilfe in Anspruch
nehmen.
Insbesondere quasi „professionelle“ Suizidbeihilfe – Organisationen, die das offenkundige „Hauptziel“ des
vorliegend Verbotsvorschlags sind, betreuen tatsächlich also allenfalls einen sehr, sehr kleinen Bruchteil
(wahrscheinlich unter 1 %) aller Betroffenen, die entweder allgemein Suizid begehen, oder sonst aktive
Verkürzung Ihres Sterbeprozesses in Anspruch nehmen.
Hinsichtlich der Kosten, die von Suizidbeihilfe leistenden Individuen oder Organisationen geltend gemacht
werden, steht weiterhin bisher der Nachweis aus, dass diese tatsächlich überwiegend „profitorientiert“ sind.
Klärungsbedürftig ist insbesondere, ob und inwieweit potenzielle Vorwürfe in diese Richtung
ermittlungstechnisch substantiiert werden konnten, ob, wie häufig und aufgrund welcher Tatbestände
rechtskräftige Verurteilungen erfolgten und ob bzw. inwieweit bestehendes Recht in Einzelfällen nicht
ausreichte, entsprechend substantiierte Vorwürfe angemessen zu ahnden. All diese Kriterien zur Begründung
eines „objektiven“ Regelungsbedarfs liegen nach derzeitigem Kenntnisstand des Autors nicht vor. Auch im
internationalen wissenschaftlichen Schrifttum finden sich unverändert keine Hinweise auf relevanten
Mißbrauch des Phänomens.
5
Bereicherung durch assistierten Suizid) mit dem gewählten gesetzgeberischen Mittel
tatsächlich zu erreichen.5
Verfassungsrechtliche Zulässigkeit:
Der Gesetzentwurf erscheint in der vorliegenden Form verfassungsrechtlich
zulässig.
Gegen die denkbaren, insbesondere strafrechtlich deutlich „schärferen“
„Alternativen“ des vorliegenden Entwurfs wären dem gegenüber nachdrücklich
verfassungsrechtliche und allgemein wissenschaftliche Einwände geltend zu
machen. Diese beträfen insbesondere das alternativ diskutierte Verbot jeglicher
„geschäftsmäßigen“ Suizidbeihilfe.
Zur Begründung dieser Einschätzung der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit und
Verhältnismäßigkeit des Entwurfs sei auf die folgenden, wissenschaftlich hinreichend
objektivierbaren Befunde verwiesen.6
Begründungen:
Die Ausführungen des Entwurfs zum Regelungsbedarf machen sich überwiegend
Argumentationen aus dem Bereich der Palliativmedizin sowie einem Teil des
medizinethischen und gesellschaftspolitischen Spektrums zu Eigen. Diese relativ
„einseitige“ Darstellung hält einer objektiven und wissenschaftlich umfassenden
Überprüfung jedoch nur bedingt stand. Damit sind die bisher vorgelegten
Begründungen ergänzungsbedürftig.
Im Folgenden wird eine Auswahl zusätzlicher wissenschaftlicher Befunde und
argumentativer Verdeutlichungen zur Verfügung gestellt.
Aus gesetzgeberischer und gesellschaftspolitischer Sicht erscheinen diese als
Ergänzungen ratsam:
Sie versehen die vorgelegten Regelungsvorschläge mit einer Vielzahl weiterer, hoch
plausibler Begründungen, die auch wissenschaftlich fundiert und objektivierbar sind.
Diese Argumente dürften damit auch der allgemeinen Konsensfähigkeit einer
gesetzlichen Regelung dienlich sein.
Wissenschaftlich objektivierbare Befunde
•
Trotz optimaler (palliativ)medizinischer Versorgung liegen die Prävalenzen
schwerster, nicht suffizient beherrschbarer Symptome bei Sterbenden oder
Schwerkranken durchgehend in hohen, meist sogar zweistelligen
Prozentbereichen.
5
Soweit dieses anerkennenswerte Ziel rechtspolitisch durch eine Anderung des Strafrechts verfolgt werden
soll, wären nach Einschätzung des Autors beispielsweise die Empfehlungen der strafrechtlichen Abteilung des
Deutschen Juristentages 2006 deutlich schlüssiger.
6
Vgl. Strätling: Fn. 2, 3.
6
In konsistent einstelligen Prozentbereichen (i.A. 1-3%) werden daher sogar im
Rahmen der palliativmedizinischen Versorgung Formen von aktiver
Lebensverkürzung von Patienten erbeten und einvernehmlich umgesetzt.
• Zweistellige Prozentquoten aller Sterbenden bedürfen zur zumindest
einigermaßen ausreichenden Symptomenkontrolle am Lebensende einer sog.
„palliativen“ oder „terminalen Sedierung“. Diese ist häufig kaum von aktiver
Lebensverkürzung abzugrenzen.
• Diese Befunde und Größenordnungen korrelieren auch mit der verfügbaren
Evidenz zu einer Reihe weiterer Phänomene:
o Die bisher bekannten empirisch-epidemiologischen Gesamthäufigkeiten von „Tötungen auf Verlangen" und „assistiertem Suizid",
o die Häufigkeit, Altersverteilung und Ätiologien des Phänomens des
Suizids als solchen (Stichworte: „Suizidforschung“, „Alterssuizid“),
o die rechtsmedizinisch anzunehmenden Dunkelziffern von unklaren
Lebensverkürzungen
o und die Häufigkeiten von „Abgrenzungsproblemen“ zwischen eher
„indirekter / passiver“ oder eher „aktiven“ Formen von Sterbehilfe im
Rahmen von „Entscheidungen am Lebensende“ (Therapiebegrenzung,
palliative Sedierung etc.)
weisen allesamt erhebliche „Überlappungen“ auf und liegen international
und im Zeitverlauf hoch konsistent in ähnlichen Größenordnungen.
• Die aktive Verkürzung des Sterbeprozesses stellt im Spektrum der
Phänomenologie des menschlichen Sterbens tatsächlich also ein
„empirisches Basisphänomen“ dar: Sie ist eine „Normvariante“, eine nicht
ignorierbare Realität sowie eine historisch und kulturübergreifend
durchgehend nachweisbare „Universalie“.
• Die philosophisch-ethische Debatte ist ebenfalls durchgehend „pluralistisch“
geprägt: Sowohl z.B. die Palliativmedizin und ihre Anliegen, oder das Prinzip
des Lebensschutzes, als auch die optionale, freiwillige, aktive Verkürzung des
Lebens, bzw. eines als unerträglich empfundenen Sterbeprozesses, finden
dabei in vergleichbarer Weise und Umfang Befürwortung und grundsätzliche
Akzeptanz. Diese ist systematisch schlüssig begründbar.
• Gesellschaftspolitisch stehen innerhalb der Deutschen Ärzteschaft zumindest
große Anteile, nach den meisten Studien sogar die Mehrheit der
Berufsgruppe der Zulässigkeit des (auch ärztlich) begleiteten Freitods bei
schwersten Leidenszuständen im Grundsatz positiv befürwortend oder
zumindest duldsam gegenüber.
• Empirisch noch sehr viel eindeutiger sind in diesem Sinne die
Mehrheitsverhältnisse quer durch alle westlichen Gesellschaften, übrigen
(Berufs)Gruppen und Schichten.
• Historisch, trans-kulturell und international sind diese Befunde bemerkenswert
stabil.
•
7
•
•
•
•
Die „Option“ bei schwersten Leidenszuständen assistierten Suizid erbitten zu
können wird von Patienten und ihren Angehörigen i.A. als beruhigend und
nicht als „Bedrohung“ empfunden.
Auch die Arzt-Patient-Beziehung wird nicht beeinträchtigt.
Die Bedeutung anderer Einflussgrößen auf das Phänomen der „Sterbehilfe“
wird dem gegenüber offenbar überschätzt:
o Mit der möglichen Ausnahme starker religiös-weltanschaulicher
Überzeugungen lassen sich – im Gegensatz zu immer wieder
aufgestellten Behauptungen - relevante Wechselwirkungen zwischen
der Sterbehilfe einerseits und anderen soziokulturellen, -ökonomischen
und rechtlichen Rahmenbedingen andererseits wissenschaftlich nicht
belegen.
o Auch im internationalen und historischen Vergleich erscheinen sie
unwahrscheinlich:
Weder die (Palliativ)medizin, noch das Straf- oder Standesrecht haben
tatsächlich also den „Bollwerkcharkter“ gegen das Phänomen der
Sterbehilfe, der ihnen verbreitet zugeschrieben wird.
o Auch initial sehr ernst zu nehmende Befürchtungen in Bezug auf eine
mögliche Zunahme der Sterbehilfe sowie ihres möglichen Missbrauchs,
z.B. durch nicht-konsentierte Tötungen, haben sich nicht bestätigt
(„Dammbruch“-Theorie). Die scheinbaren Zunahmen des Phänomens
in Ländern, in denen das Thema insgesamt „offener“ behandelt wurde,
kann auf eine „Erhellung“ vorher ohnedies bereits bestehender
„Dunkelziffern“ zurückgeführt werden.
o Die objektive „Leistungsbilanz“ der Palliativmedizin insgesamt ist
schließlich ebenfalls deutlich kritischer zu bewerten, als dies bisher i.A.
thematisiert wird: Eine „spezialisierte“ palliativmedizinische Versorgung
wurde in den vergangenen Jahren (inter)national erheblich ausgebaut.
Meta-analytisch sind deren positive Gesamteffekte bisher lediglich in
den Bereichen „ambulante Versorgung“ und „Home Care“
wahrscheinlich. Im stationären Bereich, welcher gerade in Deutschland
besonders massiv ausgebaut wird, sind sie bisher unbelegt und
wahrscheinlich bestenfalls marginal. Korrelationen zwischen Strukturen
und Versorgungsqualität sind nicht nachgewiesen. Angebote
korrelieren verbreitet ungenügend mit der Bedarfslage (z.B.
Überspezialisierung zu Lasten der Basis- und Regelversorgung, ÜberRepräsentanz von Tumorpatienten / „Sterben de Luxe“) u.a.m. Zudem
finden sich zunehmend Hinweise auf eine missbräuchliche
berufspolitische und ideologisch-weltanschauliche Instrumentalisierung
und Vereinnahmung der Palliativmedizin und der Hospizbewegung.
Weiterhin verdichten sich die Indizien, dass die Ignorierung des Problems der
Sterbehilfe
lediglich
zu
einer
gesellschaftspolitisch
insgesamt
kontraproduktiven „Eskalierung“ der Debatte führt.
8
•
•
Für ernst zu nehmende, ebenso tragische wie potenziell vermeidbare
„Kollateralschäden“, die durch die Ignorierung des Phänomens verursacht
oder aggraviert werden, gibt es ebenfalls viele Hinweise [z.B. erweiterte,
gemeinschaftliche
oder
„vorzeitige“
Suizide;
unnötig
„harte“
Selbsttötungsmethoden, Gefährdung Unbeteiligter (z.B. Suizid mit
Kraftfahrzeug, Sprung aus großer Höhe, Gasexplosionen); erhebliche
physische und psychische Traumatisierungen von mittelbar Beteiligten (die
beispielsweise Suizidenten helfen, oder auch nicht helfen können, die diese
auffinden, mit Fahrzeugen (z.B. Eisenbahnen) überrollen); oder auch durch
ungeignete Selbsttötungsmethoden, bei denen Sterbewillige möglicherweise
erst nach Stunden oder Tagen sterben].
Dem gegenüber sind die meisten empirischen Behauptungen, Thesen und
Befürchtungen im bisherigem Referentenentwurf bestenfalls unbelegt und
unvollständig oder klar unzutreffend.7
„Öffentliches Interesse“ – Grundlagen
Vor
diesen
Hintergründen
können also
sowohl aus
medizinischer,
(medizin)ethischer, sozialwissenschaftlicher und gesellschaftspolitischer Sicht eine
Vielzahl sehr robuster und objektiver Kriterien für ein großes „öffentliches Interesse“
geltend gemacht werden, in der Frage der Suizidbeihilfe eine definitive, gesetzlich
klare Regelung anzustreben.
Aus juristischer Sicht ist dieses „öffentliche Interesse“ v.a. insofern maßgeblich, als
es sowohl für die Aspekte der rechts- und gesellschaftspolitischen Durch- und
Umsetzbarkeit, als v.a. auch für die Beurteilung der (verfassungs)rechtlichen
Verhältnismäßigkeit bedeutsam ist.
Öffentliches Interesse - Gegenstand
Vor den genannten Hintergründen sollten daher die – insgesamt durchaus zutreffend
angedeuteten - „Gegenstände“ des öffentlichen Interesses bzw. die Zielsetzungen
der Gesetzgebung im Entwurf versachlicht und verdeutlicht werden:
1. Unstrittig besteht ein öffentliches Interesse an Vermeidung des Missbrauchs
etwaiger Suizidbeihilfe. Die Ausnutzung einer objektiven Notsituation,
insbesondere zwecks Erlangung finanzieller oder sonstiger Vorteile, kann
einen solchen Missbrauch darstellen und kann i.A. tatbestandlich objektiviert
werden.
2. Zu bejahen ist hinsichtlich der Problematik und Komplexität des Tatbestands
auch ein grundsätzliches Primat von Suizidprophylaxe und Prävention,
7
Beispiele: Die Nachweise der angeblich zunehmenden Häufigkeit, überwiegend verwerflicher Intentionen
oder auch der „Gewerbsmäßigkeit“ von Suizidhelfern (S.4-5) sind nicht erbracht. Empirisch wiederholt, z.T.
sehr umfassend und letztlich ergebnislos untersucht sind auch die hier und immer wieder aufgeführten
Befürchtungen von „Dammbruch“, „Verleitung“, unangemessener Druckausübung und sonstigem Missbrauch.
9
3.
4.
5.
6.
7.
kompetenter Beratung und im Zweifel Suizidabwendung gegenüber etwaigem
Suizidbeistand und Beihilfe.
Für und Wider etwaigen Suizid und Suizidbeistand können medizinisch,
ethisch und (verfassungs)rechtlich durchaus triftige, achtenswürdige und
grundsätzlich bereits anerkannte Gründe angeführt werden.
Gesetzgeberisch und gesellschaftspolitisch zwingend geboten sind damit
Regelungen, die in der Praxis die Umsetzung unterschiedlicher
Wahlmöglichkeiten ermöglichen, soweit diese im Sinne eines legitimen
Pluralismus begründbar sind.
Auch die Befriedung der Kontroverse und der allgemeine Rechtsfriedenden
sind hierdurch zu fördern.
Soweit schließlich die etwaige Inanspruchnahme oder Leistung von
Suizidbeistand individuell in Erwägung gezogen wird, besteht ein objektives
„öffentliches Interesse“, dass hierzu ggf. notwendige Leistungen prinzipiell
auch verfügbar sind. Dies ergibt sich schon daraus, dass durch diese
Leistungen v.a. ja weiteren Gegenständen des öffentlichen Interesses
Rechnung getragen wird und werden soll (z.B. Suizidprophylaxe und
Prävention,
kompetenter
Beratung,
Gutachten,
Prävention
von
„Kollateralschäden“ u.a.m).
Die differenzierte Erbringung dieser Leistungen bedarf fachlich und
menschlich eines hohen Maßes an Kompetenz und „Professionalität“. Auch
Zeitaufwand und die sich ansonsten ergebenden Belastungen der
Leistungserbringer können beträchtlich sein. Neben der grundsätzlichen
Verfügbarkeit entsprechender Leistungen ist damit auch eine angemessene,
aber nicht „gewinn-orientierte“ Vergütung derselben eindeutig im „öffentlichen
Interesse“. Sie ist damit u.a. auch (verfassungs)rechtlich schützenswürdig.8
Eine andere Möglichkeit das legitime öffentliche und gesetzgeberische Interesse an
einer differenzierten Regelung der Suizidbeihilfe argumentativ zu verdeutlichen ist,
Lehren und vorsichtige Analogien aus vorangegangenen Kontroversen zu ziehen.
Ein unter praktischen Gesichtspunkten vielversprechender Schritt dabei könnte sein,
beispielsweise auf eine Reihe bemerkenswerter Parallelen mit der allseits bestens
bekannten „Abtreibungsproblematik“ (Paragraph 218 StGB) zu verweisen:
•
•
•
Niemals ethisch, rechtlich oder in der Praxis wirklich „unproblematisch“;
Historisch und transkulturell ein durchgehend beschriebenes Phänomen;
Durchwegs signifikante Verbreitung, die in allen Ländern Tausende direkt
oder indirekt betrifft und schon deswegen nicht einfach ignoriert werden kann;
8
Vor diesen Hintergründen erscheinen einige der verfassungsrechtlichen Ausführungen im Entwurf
problematisch (S. 6- 8). Von deren ausführlichen Erörterung soll in diesem Rahmen jedoch abgesehen werden.
Siehe hierzu auch: Strätling: Fn. 3.
10
•
•
•
Ernstzunehmendes individuelles Leid sowie gesamtgesellschaftliche
„Begleitschäden“, wenn allgemein akzeptable und praktisch helfende
Lösungen, Kompromisse und Wahlmöglichkeiten nicht gefunden werden;
Insgesamt deutlich begrenzter Einfluss von Faktoren wie Gesetzgebung,
sozialen oder familiären Strukturen, wirtschaftlichen Rahmenbedingungen,
kulturellen
oder
historischen
Hintergründen
sowie
spezialisierter
medizinischer oder sozialer Leistungsangebote;
Eindeutig belegbare Verbesserungen in Bezug auf transparente, praktikable
Lösungen sowie einer weitgehenden „Befriedung" der öffentlichen, oft
vorwiegend ideologisch-weltanschaulich geprägten Kontroverse, seitdem
differenzierte Regelsetzungen eingeführt wurden, die zudem auch klar
gesetzlich verankert sind und einem insgesamt pluralistischem Anspruch
gerecht werden.
Angesichts dieser Parallelen scheint es natürlich ebenfalls plausibel, in Fragen der
Suizidbeihilfe gesetzgeberisch weitgehend analoge Wege zu beschreiten, wie sie in
Fragen des Schwangerschaftsabbruchs über viele Jahre hinweg entwickelt wurden
und sich seitdem eindeutig bewährt haben.9
Für etwaige Rückfragen, Konkretisierungen und Diskussionen steht der Autor gerne
zur Verfügung.
9
Auch im Sinne dieser “vorsichtigen Analogie” erscheinen nach der bisherigen Einschätzung des Autors die
Empfehlungen der strafrechtlichen Abteilung des Deutschen Juristentages 2006 eher geeignet als der
vorliegende Entwurf.
11