Migration und Gender: Bilder kritisch betrachten
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Migration und Gender: Bilder kritisch betrachten
Migration und Gender: Bilder kritisch betrachten Birgit Ammann Ringvorlesung FH-Potsdam 2012 „Let‘s talk about gender and diversity“ Migration - Migrationshintergrund • Karte: Ausbreitung des Homo Sapiens • Bevölkerungsgruppe, die aus seit 1950 eingewanderten Personen und deren Nachkommen besteht. • Seit 2005 Ordnungskriterium der amtlichen Statistik in Deutschland. Prof. Dr. Birgit Ammann Fachhochschule Potsdam 2 von 18 Gender • Sozial-psychologisches, gesellschaftlich bedingtes Geschlecht im Unterschied zu biologisch-körperlichem Geschlecht. • Aus dem angloamerikanischen Raum stammend, seit 1980ern als sozialwissenschaftliche Begrifflichkeit in Deutschland etabliert. • Arnolfini-Hochzeit Jan van Eyck, 1434 Prof. Dr. Birgit Ammann Fachhochschule Potsdam 3 von 18 Migrantinnen KÖNNTEN so dargestellt werden… Prof. Dr. Birgit Ammann Fachhochschule Potsdam 4 von 18 …oder wenigstens so… Prof. Dr. Birgit Ammann Fachhochschule Potsdam 5 von 18 …in der Regel werden sie aber so dargestellt. Prof. Dr. Birgit Ammann Fachhochschule Potsdam 6 von 18 Zerrbilder • Migrantinnen werden in Deutschland überwiegend als Türkinnen/Musliminnen dargestellt. • Diesen wiederum wird - unabhängig von ihrem gesellschaftlichen Hintergrund und ihrem Selbstverständnis häufig eine Opferrolle zugewiesen. • Omnipräsent ist das Kopftuch und andere islamische Kleidung als grundsätzliches Symbol für Unterdrückung. • Frauenrechte als ‚westlicher‘ Wert trotz keinesfalls egalitärer Geschlechterverhältnisse. • Sind eine Konstruktion des Andersseins mit Betonung auf Unterschiedlichkeit unter Ausblendung von Gemeinsamkeiten. Prof. Dr. Birgit Ammann Fachhochschule Potsdam 7 von 18 Mediale Darstellung • Beeinflusst öffentliche Wahrnehmung • Widerspiegelt öffentliche Wahrnehmung • Auswahl und Präsentation von Bildmaterial beeinflusst Lesende in entscheidender Weise • Mediale Darstellung verstärkt Rassismus Prof. Dr. Birgit Ammann Fachhochschule Potsdam 8 von 18 Alltagsbeleidigungen • Mit dir kann man so gut reden, bist du wirklich Muslimin? [Sozialarbeiterin] • Mit Kopftuch können wir Sie leider auch als Gebäudereinigerin nicht vermitteln [Arbeitsvermittlerin] • Aber wieso haben Sie denn einen deutschen Pass, Sie sind doch Russin? [Nachbarin] • Hast du deinen Mann über eine Agentur kennengelernt? [Kommilitone] Prof. Dr. Birgit Ammann Fachhochschule Potsdam 9 von 18 Heterogenität • Migrantinnen bilden nirgendwo eine homogene soziale Gruppe: • • • • • • Einwanderungsgenerationen Ursprungsstaaten Alter Sozioökonomischer Status „traditionell“ versus „modern“ usw. usw. Prof. Dr. Birgit Ammann Fachhochschule Potsdam 10 von 18 Politik • Allgemeine Viktimisierung statt Ressourcenorientierung • Politische Überbetonung von häuslicher Gewalt, Ehrenmorden, Zwangsheiraten, Genitalverstümmelung etc. • Zum Vergleich: sexueller Kindsmissbrauch, Kindstötungen in der Mehrheitsgesellschaft Prof. Dr. Birgit Ammann Fachhochschule Potsdam 11 von 18 Viktimisierung Reduzierung auf Opfer (schwerster) Menschenrechtsverletzungen Im folgenden vier Fallbeispiele: • • • • Häusliche Gewalt Ehrenmorde Zwangsheiraten Genitalverstümmelung Prof. Dr. Birgit Ammann Fachhochschule Potsdam 12 von 18 Häusliche Gewalt • • • • • • • Ein Viertel der in Deutschland lebenden Frauen hat mindestens einmal Gewalt durch einen aktuellen und/oder früheren Beziehungspartner erlebt. Türkische Migrantinnen sind deutlich häufiger betroffen als andere Frauen. Ursachen hierfür werden häufig einseitig mit kulturellen Defiziten im Geschlechterverhältnis begründet. Allerdings: Sozioökonomische Faktoren haben großen Einfluss auf das Ausmaß häuslicher Gewalt. Gerade bei Migrantinnen der ersten Generation aus der Türkei war aufgrund der Zielrichtung der Anwerbung eine Unterschichtung vorprogrammiert. Mögliche Auswirkungen aufenthaltsrechtlicher und ethnisch diskriminierender anderer sozialer Aspekte können bei Frauen ohne Migrationshintergrund nicht gemessen werden. Prof. Dr. Birgit Ammann Fachhochschule Potsdam 13 von 18 Ehrenmorde • Gesamtzahl der Tötungsdelikte in Deutschland beträgt pro Jahr rund siebenhundert (700). • Gesamtzahl der Ehrenmorde in Deutschland pro Jahr beträgt zwölf, davon drei im engeren Sinn (12). • Gesamtzahl an Kindstötungen in Deutschland betrug im vergangenen Jahr einhundertunddreiundachtzig (183). • Sozialpsychologischer Mechanismus, der die Kriminalität der „Anderen“ stets als bemerkenswerter und bedrohlicher wahrnehmen lässt als die Kriminalität der eigenen Gruppe. • Kriminalität fungiert häufig als Symbolisierung von Fremdheitswahrnehmungen der Mehrheitsgesellschaft gegenüber ethnischen Minderheiten. Prof. Dr. Birgit Ammann Fachhochschule Potsdam 14 von 18 Zwangsheiraten • Abgrenzung von Zwangsheiraten, arrangierten Ehen und transnationalen Ehen unter Berücksichtigung des Graubereichs zwischen diesen drei Formen. • Für keine der drei Heiratsmuster, die große Schnittmengen aufweisen, liegen belastbare Zahlen vor. • Die Zahl und die Qualität der wissenschaftlichen Arbeiten zur Heiratsmigration sind nicht beachtlich. • Fundierte Aussagen zu den Ursachen, den Hintergründen und dem Verlauf von Zwangsheiraten wären zu ermitteln. • Wenig bekannt ist, dass auch junge Männer betroffen sind. Prof. Dr. Birgit Ammann Fachhochschule Potsdam 15 von 18 Genitalverstümmelung • Schwerster Menschenrechtsverletzung • Tausende von Frauen und Mädchen in Deutschland sind betroffen (verstümmelt oder bedroht). • Allerdings: • Teilweise ausgeprägte Respektlosigkeit in der Darstellung intimster biografischer Details betroffener Frauen • Beispiel Kurdische Gebiete im Irak • Ein „kleiner“ Fehler in der Berichterstattung erklärt entgegen der Wirklichkeit nahezu alle (kurdischen) Migrantinnen aus dem Irak zu Opfern von Genitalverstümmelung. Prof. Dr. Birgit Ammann Fachhochschule Potsdam 16 von 18 Fazit • Ebenso wie Geschlechterrollen - das kulturell geprägte Geschlecht - soziale Konstrukte darstellen, stellen die Begriffe Migrantin und Migrant soziale Konstrukte dar. • Es werden Rollen entworfen, die per se Unterscheidungen zu Menschen ohne Migrationshintergrund unterstellen. • Es entstehen ineinander verschachtelte soziale Konstruktionen, die kaum mehr revidierbar erscheinen und die eine enorme Wirkungsmacht entfalten. • Im mindesten sollte gelten, Kategorien immer wieder neu zu verhandeln und insgesamt weniger zu ethnisieren und zuzuschreiben als vielmehr zu personalisieren. Prof. Dr. Birgit Ammann Fachhochschule Potsdam 17 von 18 Quellen (Auszug) • • • • • • • • • • • • • • Boos-Nünning, Ursula 2011: Migrationsfamilien in der Einwanderungsgesellschaft Deutschland. Bonn. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Hg.) 2009: Muslimisches Leben in Deutschland. Studie im Auftrag der Deutschen Islam Konferenz. Nürnberg. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2007: Zwangsverheiratung in Deutschland. Berlin. Fetscher, Caroline 2011: Frauenrechte im Gepäck. Deutsche Organisation unterstützt Kurden im Nordirak Tagesspiegel vom 18.11.2011(http://www.tagesspiegel.de/ weltspiegel/frauenrechte-imgepaeck-deutsche-organisation-unterstuetzt-kurden-im-nordirak/3709102.html (Abruf 3.1.2012) Gruber, Franziska 2007: Genitalverstümmelung in Deutschland. Menschenrechte versus Tradition http:// www.journal-ethnologie.de Schwerpunktthema 2007 (Abruf 2.1.2012) Hajo, Siamend et al. (Hg.) 2004: Gender in Kurdistan und der Diaspora. Münster. Karakurt, Türkan 2007: Muslim Women in Europe: between Modernity and Islamization. http://www.goethe.de/mmo/priv/2853874-STANDARD.pdf (Abruf 3.1.2012). Lehmann, Nadja 2008: Migrantinnen im Frauenhaus. Opladen & Farmington Hills. Rommelspacher, Birgit: Intersektionalität – über die Wechselwirkung von Machtverhältnissen In: Ingrid KurzScherf, Julia Lepperhoff und Alexandra Scheele (Hg).: Feminismus; Kritik und Intervention. Münster: Westfälisches Dampfboot. S.81-96. Schiffer, Sabine 2005: Die Darstellung des Islams in der Presse. Sprache, Bilder, Suggestionen. Würzburg. Ter-Nedden, Corinna 2010, „Familienehre“ – Überlegungen zu einem familiären Konzept im interkulturellen Kontext. Vortrag auf der Tagung Ehrensachen?, FES, Berlin, 12.4.2010. Oberwittler, Dietrich und Julia Kasselt 2011: Ehrenmorde in Deutschland 1996-2005. o.O. Papatya 2009: Materialsammlung: Verbrechen in Namen der Ehre in Deutschland. Berlin. Prof. Dr. Birgit Ammann Fachhochschule Potsdam 18 von 18