Die Muse und ihr Mentor

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Die Muse und ihr Mentor
Die Muse und ihr Mentor
Christian Wiggenhauser
Oder die Schöne und das Biest – Tricky und Martina Topley-Bird waren einst berühmt und
teilten Mikrophon, Bett und Kinderhüten. Heute veröffentlichen sie nur noch ihre Alben gleichzeitig.
Tricky stampfte eher zufällig ins Rampenlicht der musikalischen Weltpresse.
1968 geboren, wuchs er mit jamaikanischen W urzeln im schäbigsten Stadtviertel in Englands Bristol auf. Bei seiner Grossmutter, weil er seinen Vater gar
nie kennen lernte und seine Mutter Selbstmord beging, kaum w ar er vier
Jahre alt. Seine Jugend war trist, er lebte in höchstem Grad in armen Verhältnissen, und dennoch in multikulturell lebhaften und inspirierenden. In diesem
Umfeld fand er sich als Gastmusiker auf den ersten beiden Alben von Massive
Attack wieder, liebenswert „Tricky Kid“ genannt. Massive Attack gründeten
damit den Weltruf für die Stilrichtung Trip-Hop, einem Amalgam von psychedelischen elektronischen Klängen, oft mit melancholischem Gesang, und dem
rhythmisch pulsierenden Takt des HipHop. Trip-Hop war plötzlich in aller Munde und 1994 die Antwort auf die Hektik des Techno und die Orientierungslosigkeit des HipHop. Und Tricky stand mitten drin. Aber nur als Gast. So
gross war das Ego von Tricky, bürgerlich Adrian Thaws, dass er bei einem
Industrieunternehmen v on Musikvertrieb einen Plattenvertrag unterschrieb
und innert Kürz e sein Debüt Maxine Quaye aufnahm. Der Name seiner toten
Mutter, und das Album wurde ein Verkaufsschlager und - wie es der Z eitgeist
zeigt - ein Klassiker der Musikgeschichte.
Die Muse hat Oberwasser
Martina Topley-Bird sang auf diesem Pionierstück. Die beiden hatten sich
eben vorher an einer Bushaltestelle kennen gelernt. Tricky aber entzog sich
konsequent dem Erfolg und den kurz gehaltenen V erhältnissen zur Musikindustrie. Er bekam den Ruf, seine Konzerte viel zu spät, viel zu kurz oder gar
nicht abzuhalten. Er veröffentlichte Musik, welche sich dem grossflächigen
Musikgeschmack deutlich quer stellte, aber im Feuilleton zu recht gründlich
gelobt wurde. Er trennte sich v on den Fesseln, zuerst von Martina, dann von
der Plattenfirma, dann vom Publikum. Fünf Jahre hat es gedauert, bis der V ollblutmusiker wieder von sich hören lässt und mit
Knowle West Boy ein aktuelles Album einspielte. Es handelt nur von seiner Jugend in Bristol. Er reflektiert dar auf lange, er
artikuliert klar und stolpert über alle erdenklichen Musikstile einer Durchzugstadt wie Bristol, wie er sie in seiner Jugendz eit erlebt haben muss.
Selbstredend ist das Werk verstörend, weil Tricky durch seinen musikalischen Horizont irrlichtert wie eine meist schlecht gelaunte Juk ebox.
Live ein Garant
Mit Trip-Hop hat dies kaum mehr was am Hut. Techno ist längst am
Beatmen, HipHop ein Bankkonto. Martina Bird-Topley sieht das genau
so. Sie nahm nach ungezählten Beiträgen für Tricky und andere Musizierende im Jahr 2003 endlich ihr eigenes Debut Quixotic auf, bescheiden, aber mit namhafter Unterstützung (z.B . von Queens Of The Stone
Age). Es ist seither ein Insidertipp erster Güte, empfehlenswert für
jede Runde von popmusikalisch anspruchsv ollen Zuhörenden. Ihr eben
veröffentlichter Frischling The Blue God besticht ebenso durch die intelligente Instrumentierung und lebt in der rh ythmischen queren Pulswelt von heute. Aber es darf dabei auch mal etwas locker sein, gar beschwingt, ja sogar fröhlich. Ihre un vergleichliche kindliche
Engelsstimme steht doch im Vordergrund und lässt auch Hoffnung in düsteren Stück en aufkommen, sie rechtfertigt sogar die
Melancholie. Tricky und Martina Topley-Bird sind sich also noch immer nahe, musikalisch, auch wenn ihre Alben grundv erschieden sind. Der Nährboden ist derselbe, Tricky besinnt sich der Vergangenheit, Martina der Gegenwart. Ob Martina live auftritt in
naher Zukunft, ist unbekannt. Tricky tritt hingegen live in Lausanne auf – und v oraussichtlich weder zu spät, noch zu kurz, noch
gar nicht, sondern aufgrund der Erfahrung: pünktlich, ausdauernd – und ungemein betörend.
Martina Topley-Bird, The Blue God, Independiente/Musikvertrieb
Tricky, Knowle west Boy, Domino / Musikvertrieb
Tricky live am Festival „Pully sur Noise” am Samstag, 9. August 2008
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TAXI Nr. 56