Recht und Moral. Mediale Konstellationen gesellschaftlicher
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Recht und Moral. Mediale Konstellationen gesellschaftlicher
Recht und Moral. Mediale Konstellationen gesellschaftlicher Selbstverständigung über ‚Verbrechen‘ vom 17. bis zum 21. Jahrhundert Im Jahr 1792 sandte Wilhelm von Humboldt das Manuskript seiner Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen an Friedrich Schiller, der sich zu dieser Zeit mit der Poetologie von ‚Verbrechen‘ und ‚Strafe‘ beschäftigte. Schillers Konzeption einer moralischen „Gerichtsbarkeit der Bühne“, die dort beginnt, „wo das Gebiet der weltlichen Gesetze sich endigt“,1 korrespondiert mit Humboldts Feststellung, dass "bei einem nicht kleinen Theil der Nation die Gesetze und Einrichtungen des Staates gleichsam den Umfang der Moralität abzeichnen".2 Wenn Humboldt also beklagt, dass nach dem Verständnis eines Teils der Staatsbürger Gesetze und Moral zur Deckung kämen und sich Moralität auf Gesetzestreue beschränke, dann beklagt er zugleich den Verlust eines Standortes, von dem aus die Moralität individuellen und staatlichen Handelns beurteilt werden kann und Recht und Moral sich gegenseitig zu ‚beobachten‘ in der Lage sind. Humboldts Reflexionen über Recht und Moral, Verbrechen und Strafe lassen sich als Reaktion auf die krisenhaften Entwicklungen im Rechtssystem zwischen 1790 und 1820 deuten, die von den Zeitgenossen aus unterschiedlichen Perspektiven wahrgenommen wurden. Diese Krise hat sich als literarhistorisch äußerst fruchtbar erwiesen und zahlreiche Experimente und Innovationen vor allem auf dem Feld der erzählenden Darstellung von Verbrechen und Strafe angeregt, für die sich ein aufnahmefähiger Markt entwickelte.3 Wir verstehen die wechselhafte Beziehungsgeschichte von Recht und Moral als Geschichte ihrer literarischen und nicht-literarischen Diskursivierungen, in denen die Unterscheidungssemantiken ‚recht/unrecht‘ und ‚gut/böse‘ vielfältige – harmonische, komplementäre, konfliktreiche – Beziehungen eingehen. Insbesondere die zunehmende Autonomisierung und Verfachlichung des Rechts seit der Frühen Neuzeit und v.a. seit der Sattelzeit in der Mitte des 18. Jahrhunderts hat Moral und Recht stärker auseinandertreten lassen, so dass ‚Verbrechen und Strafe‘ einerseits und ‚Schuld und Sühne‘ andererseits ebenso unterscheidbar werden wie ‚Recht‘ und ‚Gerechtigkeit‘. Dies eröffnet einen langfristigen Problemhorizont der Beziehungen – wechselseitigen ‚Beobachtungen‘ – von Recht und Moral, dem die Tagung in Längs- und Querschnitten und mit Blick auf die (diachron, synchron) unterschiedlichen faktualen und fiktionalen Medien und Medienformate exemplarisch nachzugehen beabsichtigt. Vorläufig unterscheiden wir drei Makrophasen und gehen von den folgenden Hypothesen aus: Erstens: Der Prozess der zunehmenden Autonomisierung des Rechts wird im 17./18 Jahrhundert von einem literarischen Diskurs begleitet, dessen Anstrengungen noch erkennbar dem Ziel gelten, Recht moralisch abzusichern und die Leitdifferenzen ‚gut/böse‘ und ‚recht/unrecht‘ mit Hilfe von ‚Gerechtig1 Friedrich Schiller: Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken. In: Sämtliche Werke, Bd. V, hg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, 9. durchges. Aufl., München 1993, S. 818-832, hier S. 823. 2 Zit. nach der ersten vollständigen Veröffentlichung des Essays [Hg. und mit einer Einleitung von Eduard Cauer. Breslau 1851]; jetzt in Andreas Flitner/Klaus Giel (Hgg.): Schriften zur Anthropologie und Geschichte. (Werke in fünf Bänden, Bd. 1), Darmstadt 2002, S.22. 3 Vgl. dazu schon die beiden Tagungsbände von Jörg Schönert (Hg.): Literatur und Kriminalität. Die gesellschaftliche Erfahrung von Verbrechen und Strafverfolgung als Gegenstand des Erzählens. Deutschland, England und Frankreich 1850-1880. Tübingen: Niemeyer 1983 und Jörg Schönert (Hg.): Erzählte Kriminalität. Zur Typologie und Funktion von narrativen Darstellungen in Strafrechtspflege, Publizistik und Literatur zwischen 1770 und 1920. Tübingen: Niemeyer 1991) sowie in der Folge Joachim Linder/Claus-Michael Ort (Hgg.): Verbrechen - Justiz - Medien. Konstellationen in Deutschland von 1900 bis zur Gegenwart. Tübingen: Niemeyer 1999; siehe ferner auch Ulrich Kronauer/Ulrike Zeuch (Hgg.): Recht und Literatur um 1800. IASL 31, 2006, H. 1 und H. 2 und Claude D. Conter (Hg.): Literatur und Recht im Vormärz. (Forum Vormärz Forschung, Jahrbuch 15, 2009) Bielefeld: Aisthesis 2010. keits‘-Vorstellungen zu harmonisieren. Auf welche Weise und mittels welcher rhetorischen, allegorischen und narrativen Mittel dieses Ziel zu erreichen versucht bzw. auch bereits verfehlt wird, gilt es herauszuarbeiten (etwa am Beispiel von Georg Philipp Harsdörffers Grossem Schau-Platz jämmerlicher Mord-Geschichte […], 1656). Zweitens: Mit der Ausdifferenzierung, Institutionalisierung und inneren Differenzierung einer autonomisierten Rechtssphäre (18. Jahrhundert bis Gegenwart) werden Moral (‚Gerechtigkeit‘) und Recht ausdrücklich unterschieden und in ihren Beziehung reflektiert (18., 19., 20. Jahrhundert); der Deutungsspielraum faktualer und fiktionaler Literatur erweitert sich in dieser Langphase erheblich: Was ‚Unrecht‘ ist, kann moralisch ‚gut‘ sein und ‚Recht‘ kann sich moralisch ins ‚Unrecht’ setzen; Moral wird ‚verrechtlicht‘, ‚Recht‘ kann seinerseits explizit re-moralisiert werden. Seit der Aufklärung konkurrieren Recht und Moral außerdem auch mit anthropologischen, medizinisch und psychologischen Diskursen (Leitdifferenz ‚gesund/krank‘) um die Deutungshoheit über das ‚Verbrechen‘.4 So lassen sich etwa um 1800 und um 1920/30 Krisenphasen beobachten, die sich durch intensivierte und konfliktreiche Beobachtungs- und Austauschbeziehungen zwischen Recht, Moral und Medizin/Anthropologie auszeichnen. Zudem bildet sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch ein deutschsprachiges Genre 'Kriminalroman' aus, das um 1900 verstärkt den Anschluss an internationale Entwicklungen sucht und zumindest teilweise Anerkennung findet. Drittens: Im Verlauf der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts scheint Recht wieder verstärkt moralisch interpretiert und Moral umgekehrt zugleich ‚verrechtlicht‘ zu werden. So gehen wir für die dritte (‚postmoderne‘) Phase v.a. von zwei vorläufigen Beobachtungen aus: Zum einen erfolgt die gesellschaftliche Selbstverständigung über Recht und Moral – insbesondere seit dem Beginn des Privatfernsehens (‚Duales System‘ 1984) – zusehends in einem 'Medium Verbrechen‘, so dass zu den ‚Sinnprovinzen‘ Moral und Recht nicht nur eine „Sinnprovinz Kriminalität“5 hinzukommt, sondern ‚Verbrechen‘ nun auch nicht mehr nur im Medium von Recht oder Moral gedeutet wird, sondern umgekehrt Recht und Moral ihrerseits bevorzugt im 'Medium Verbrechen‘ verhandelt werden. ‚Kriminalität‘ unterliegt also einem Funktionswandel vom bevorzugten Gegenstand gesellschaftlicher Selbstverständigung hin zum populären Medium dieser Verständigung selbst. Zum anderen wird innerhalb dieses ‚Sinnbereichs‘ gesellschaftlicher Selbstverständigung verstärkt mit Hilfe der Leitunterscheidung 'strafbar/nicht strafbar' kommuniziert. Übertretungen gewinnen somit vor allem dann Aufmerksamkeit, wenn sie unter dem Aspekt von 'Strafbarkeit' diskutiert werden können. Einerseits reduziert ‚Strafbarkeit‘ Komplexität, insofern sie eindeutige Zurechenbarkeit von Tatschuld und eindeutige gerichtliche Zuständigkeit voraussetzt. Andererseits scheint aber vor allem in faktualen Medienformaten der Zusammenhang von ‚Verbrechen und Strafe‘ moralisiert und zum sinnhaften Nexus von ‚Schuld und Sühne‘ uminterpretiert zu werden, so dass sich, wie schon Humboldt beklagt, umgekehrt Moral auch auf Recht zu beschränken scheint (Verrechtlichung von Moral). 4 Vgl. dazu auch Joachim Linder/Claus-Michael Ort: ‚Recht auf den Tod‘ – ‚Pflicht zum Sterben‘. Diskurse über Tötung auf Verlangen, Sterbehilfe und ‚Euthanasie‘ in Literatur, Recht und Medizin des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, in: Achim Barsch/Peter M. Hejl (Hgg.), Menschenbilder. Zur Pluralisierung der Vorstellung von der menschlichen Natur (1850-1914). Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000, S.260-319 oder Claus-Michael Ort: Das Problem der Schuldzurechnung und die Konkurrenz juristischen, medizinischen und moralischen Erzählens. Zur Diskussion über den Fall Schmolling und das Votum von E.T.A. Hoffmann, in: IASL 31, H.2, 2006, S.174-202. 5 So im Anschluß an Peter Berger und Thomas Luckmann (The Social Construction of Reality, 1969) Henner Hess/Sebastian Scheerer: Was ist Kriminalität? Skizze einer konstruktivistischen Kriminalitätstheorie, in: Kriminologisches Journal 29, 1997, S. 83-155; die Autoren sprechen mit Hinweis auf den "kulturellen Symbolvorrat" zur Kriminalität davon, dass diese "nicht nur als ein Thema, sondern geradezu selbst als ein symbolisch generalisiertes Medium der Kommunikation" im Sinne von Talcott Parsons und Niklas Luhmann zu verstehen sei (ebd., S. 90f.). Ob und inwieweit sich solche Prozesse der Moralisierung von Recht und Verrechtlichung von Moral – unter jeweils gravierend veränderten medialen Bedingungen – auch in der ersten und v.a. in der zweiten Phase beobachten lassen, wie die langfristige Beziehung von Recht und Moral diskurs- und mediengeschichtlich verläuft und welche Konstellationen sich hieraus auch für die Pathologisierung und Medikalisierung (Leidifferenz ‚gesund/krank‘) sowie für die Biologisierung des ‚Verbrechers‘ seit dem 19. Jahrhundert ergeben, will die Tagung in exemplarischen synchronen Schnitten zu erhellen versuchen. Dabei sollen die höchst unterschiedlichen narrativen Textsorten und Medienformate der Repräsentation von Kriminalität berücksichtigt werden – von den Fallgeschichten des 17. und 18. Jahrhunderts und der sich im 18. Jahrhundert ausdifferenzierenden täterorientierten ‚Kriminalerzählung‘ (Friedrich Schillers Verbrecher aus verlorener Ehre, 1792) bis zum Genre der eher detektionsorientierten Kriminalliteratur im engeren Sinn und zum 'Thriller', zur Gerichtsberichterstattung, zu verschiedenen printmedialen Formaten (Almanache, Jahrbücher, Familienzeitschriften) und – seit dem 20. Jahrhundert – auch zu audiovisuellen Medien (Hörspiele, Spielfilme, Fernsehfilme, Features usf.). Die Diskursgeschichte der moralischen und rechtlichen Unterscheidungssemantiken (‚gut/böse‘; recht/unrecht‘ bzw. ‚strafbar/nicht strafbar‘) und ihre wechselnden Konstellationen sollen dabei konsequent auf deren Mediengeschichte bezogen werden, so dass darüber hinaus auch zu fragen sein wird, ob und inwieweit sich aus der Beziehungsgeschichte von Recht und Moral Kriterien für veränderte medien-, literatur- und genregeschichtliche Periodisierungen gewinnen lassen.