Marktzugang für Gen-/Zelltherapien

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Marktzugang für Gen-/Zelltherapien
[•] market access & health policy
Innovative Therapien erfordern innovative Kommerzialisierung
Marktzugang für Gen-/Zelltherapien
G
en- und Zelltherapien stehen für eine große Verheißung: schwere und seltene Krankheiten zu heilen, indem man deren
Ursachen ausschaltet. Vieles deutet derzeit darauf hin, dass ein neuer, dynamischer Markt für diese Therapien entsteht:
Erste Präparate haben die Marktreife erlangt, weitere zeigen ermutigende klinische Ergebnisse, und die Pharmabranche
investiert mehr denn je in ihre Entwicklung. Die Zeit ist gekommen, verstärkt über die Markteinführung und Verwertung
von Gen- und Zelltherapien nachzudenken. Wegen ihrer Besonderheiten eignen sich herkömmliche Vermarktungsmodelle
dafür nur bedingt. IMS Health hat vier Aspekte identifiziert, die vor einem erfolgreichen Marktzugang zu klären sind:
Nutzenbewertung, Erstattung, Kommerzialisierung sowie Fertigung und Logistik.
>> Nach Jahren immer neuer
Rückschläge in der Gen- und
Zelltherapieforschung zeichnet
sich gegenwärtig eine Wende ab:
Die amerikanische Gesundheitsbehörde FDA hat einen ersten
zelltherapeutischen Impfstoff
gegen Krebs zugelassen. Das
Gentherapeutikum Glybera hat
2012 die Marktzulassung in der
EU erlangt – als erstes seiner
Art in der westlichen Welt. Alle
namhaften Pharmaunternehmen
sind heute in der Gen- und Zelltherapieforschung engagiert, und
die Zahl der Geschäftsabschlüsse
in diesem Bereich hat sich nach
Daten von IMS Health seit 2014
verfünffacht1.
Ende 2014 waren 185 Therapeutika in der Entwicklung2. Während die Zelltherapien sich zu drei
Vierteln auf Anwendungen in der
Onkologie konzentrieren, richten
sich Gentherapeutika auch gegen
Nerven- und Augenleiden sowie
gegen Blut-, Herz-Kreislauf- und
Stoffwechselerkrankungen (Abb.
1 und 2). Etliche Präparate, die
zurzeit klinisch erprobt werden,
lassen auf Durchbrüche hoffen:
so Tcelna von Merck Serono bei
Multipler Sklerose, CTL019 von
Novartis und JCAR17 von Juno bei akuter lymboplastischer
Leukämie sowie Lentiglobin von
Bluebirdbio bei der Blutkrankheit
Beta-Thalassämie major.
Zell- und Gentherapien stehen kurz vor dem Sprung in den
Mainstream der medizinischen
Versorgung. Da es sich aber
um personalisierte Arzneimittel
handelt, müssen Hersteller und
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Kostenträger beim Marktzugang
völlig neue Wege gehen.
Klinischer und
ökonomischer Nutzen
Zunächst stellt sich die Frage
nach der Bewertung der neuen
Therapien. Ihre Entwicklung ist
zeit- und kostenaufwändig. In die
Preisfindung muss daher neben
dem klinischen auch der gesamtwirtschaftliche Nutzen einfließen. Ein Mittel wie Lentiglobin
etwa verspricht eine dauerhafte
Wirkung gegen Beta-Thalassämie
major. Es erspart den Betroffenen
häufige Klinikaufenthalte und
Bluttransfusionen und dem Gesundheitssystem damit Kosten
in Höhe von durchschnittlich
15.000 Euro pro Patient und Jahr
oder 900.000 Euro während dessen gesamter Lebenszeit3. Dazu
kommt das Mehr an wirtschaftlicher Leistung, die ein Gesunder erbringt. Die Kostenträger
können dagegen argumentieren,
dass sich die Langzeitwirkungen
neuartiger Therapien nur schwer
belegen lassen, dass die Einsparungen unsicher sind und nicht
in erster Linie den Versicherern
zugute kommen und dass die Behandlungskosten deren Budgets
zu sprengen drohen.
Zweifel an der anhaltenden
Wirkung eines Medikaments hemmen auch das Zulassungsverfahren, wie das Beispiel Glybera zeigt. Das Mittel kann einen
äußerst seltenen Gen-Defekt
beheben, die LipoproteinlipaseDefizienz (LPLD), die eine lebens-
bedrohliche Bauchspeicheldrüsenentzündung zur Folge haben
kann. Die EMA hat es dennoch
erst nach mehreren Anläufen zugelassen, da bisher keine andere
LDLP-Therapie existiert. Der Markt
für Glybera ist so begrenzt, dass
der Preis für die Einzelbehandlung bei 1,1 Mio. Euro liegt. Bei
solchen Beträgen erwarten die
Kostenträger klare Wirksamkeitsbelege. Daher verschob Chiesi
die Einführung von Glybera bis
Juni 2014, um weitere klinische
Daten zu sammeln. Sie belegten
u.a., dass sich die Zahl der Klinikaufenthalte von LDLP-Patienten
mit dem Präparat um die Hälfte
reduzieren lässt. So konnte Glybera trotz seines begrenzten Anwendungsgebiets wichtige Akzente
setzen für die Vermarktung neuer
Gen- und Zelltherapien in Europa.
Eine weitere Besonderheit
dieser Therapien macht neue Er-
stattungsmodelle erforderlich:
Während die Behandlungskosten
sofort anfallen, wirken sich die
Spareffekte erst nach Jahren zur
Gänze aus. Verschärft stellt sich
dieses Problem bei Präparaten,
die eine große Zahl von Patienten
adressieren. So könnte eine von
Argos entwickelte dendritische
Zelltherapie rund 35 Millionen4
HIV-Patienten zugute kommen.
Unterdessen besteht immer das
Risiko, dass sich eine Therapie
als ineffizient erweist oder der
Patient trotz Behandlung vorzeitig stirbt. Solche Risiken lassen
sich mit Hilfe neuer Erstattungsmethoden breiter streuen und
minimieren.
Dazu bieten sich grundsätzlich drei Möglichkeiten an. Zum
einen können verschiedene Träger
die Lasten auf mehrere Schultern verteilen, indem sie einen
gemeinsamen Fonds für die ho-
Zelltherapie-Pipeline und Plattformen
Abb. 1: Zelltherapie-Pipeline und Plattformen.
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Gentherapie-Pipeline nach Indikationsbereichen
hen Therapiekosten bilden. Die
Risiken tragen die Kostenträger
in diesem Fall weiterhin alleine. Denkbar ist aber auch ein
Annuitäten-Modell mit gleichbleibenden, über mehrere Jahre
verteilten Zahlungen. Ein drittes
Modell sieht Jahreszahlungen
vor, die an den Behandlungserfolg gekoppelt wären. Die beiden
Annuitäten-Lösungen sichern die
Kostenträger für den Fall ab,
dass die Wirksamkeit einer Behandlung nachlässt oder ausbleibt. Welche Modelle sinnvoll
oder machbar sind, hängt nicht
zuletzt vom jeweiligen Gesundheitssystem ab.
Kommerzialisierung nur
mit starkem Partner?
Die heutige Finanzierungssituation versetzt auch kleine
Biotech-Firmen in die Lage, Genund Zelltherapien eigenständig
zu entwickeln. Von den eingangs
erwähnten 185 Therapeutika, die
sich 2014 in der Pipeline befanden, gehen 153 auf solche kleineren Unternehmen zurück. Die
Frage ist, ob diese auch die Kapazitäten haben, den Marktzugang
erfolgreich zu gestalten.
Das kleine Biotech-Unternehmen Dendreon brachte 2010 in
den USA Provenge auf den Markt,
einen Impfstoff gegen Prostatakrebs, der auf autologen, dendritischen Zellen basiert. Doch
trotz seiner Wirksamkeit setzte
sich Provenge auf dem US-Markt
nicht rasch genug durch. Starke
Wettbewerber traten auf den
Plan, und 2014 musste Dendreon, das in der Entwicklungsphase
hohe Schulden angehäuft hatte,
Konkurs anmelden. Im vergangenen Jahr wurde das Unternehmen von Valeant übernommen. Es bleibt abzuwarten, ob
Valeant Provenge erfolgreicher
am Markt platziert. Immerhin
hat das Pharmaunternehmen ge-
genüber Dendreon einen erheblichen Vorsprung an Erfahrung
und Finanzkraft. Dazu kommt
eine effiziente Struktur und vor
allem ein starker Außendienst.
Ein Vertriebsteam für komplexe
Zell- und Gentherapien muss
hochspezialisierte Fachleute
einschließen, etwa für die Arztausbildung. UniQure, der niederländische Entwickler von Glybera,
hat sich für eine Zusammenarbeit
mit Chiesi entschieden. Kooperationen mit starken Partnern
dürften für kleine Biotech-Firmen
eine bevorzugte Kommerzialisierungsstrategie werden.
Herausforderung an
Produktion und Logistik
Vor gänzlich neuen Aufgaben
stehen die Anbieter von Zell- und
Gentherapien auch in puncto
Herstellung und Lieferung. Dies
gilt vor allem bei Behandlungen
mit autologen, also körpereigenen Zellen, die 60 %5 jener Therapien ausmachen, die zurzeit
in der Entwicklung sind. In der
personalisierten Medizin müssen
die Produzenten flexibler denn je
auf die Nachfrage reagieren und
zugleich höchsten Ansprüchen
der Good Manufacturing Practise
(GMP) genügen. Zudem müssen
die Lieferketten genau auf die
einzelnen Therapeutika zugeschnitten und unter Umständen
ganz neu gestaltet werden.
Um beispielsweise den Impfstoff Provenge zu gewinnen,
muss man dem Patienten innerhalb von 76 Stunden Zellen
entnehmen und sie nach der
Aufbereitung wieder applizieren.
Anders als bei herkömmlichen
Arzneimitteln verläuft die Lieferkette also nicht linear, sondern
im Kreis – vom Patienten zum
Patienten. Für eine ProvengeTherapie kommen in den USA
29.000 Menschen infrage. Für sie
alle eine Behandlung innerhalb
1: Quelle: IMS Health Pharma Deals 2014
2: Quelle: IMS Health R&D focus Q4 2014
3: Kosten im italienischen Markt; Quelle: L. Scalone, CRMO 2008 Vol. 24,7
4: Quelle: WHO 2013
5: Quelle: MS Health R&D focus Q4 2014
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Abb. 2: Gentherapie-Pipeline nach Indikationsbereichen.
eines schmalen Zeitfensters zu
ermöglichen, ist eine enorme logistische Herausforderung.
Eine denkbare Lösung sind
wenige, große Behandlungszentren. Dort stünden genügend
Experten bereit, der Betrieb wäre kostengünstig und die Zulassung nach GMP-Standards ließe
sich leicht sichern. Andererseits
würden solche Zentren erhebliche
Erstellungskosten verursachen
und wären mit hohem Zeit- und
Kostenaufwand für die Patienten
verbunden. Eine zweite Möglichkeit besteht darin, regionale Kliniken mit Geräten zur Zellaufbereitung auszustatten und sie mit
den nötigen Reagenzien zu beliefern. Dies wäre einfacher für den
Patienten und ließe sich weitgehend mit den bestehenden, linearen Lieferstrukturen bewältigen.
Nachteile dieser Lösung bestehen
zum einen in den Kosten für die
Geräte und für die Schulung des
Personals. Zum anderen würden
sich Qualitätskontrollen und die
Überprüfung der GMP-Standards
in vielen einzelnen Kliniken aufwändiger gestalten.
Fazit: Die Hürden vor einer erfolgreichen Kommerzialisierung innovativer Zell- und
Gentherapien sind hoch, aber
überwindbar. Es gilt, in naher
Zukunft geeignete Modelle dafür
zu entwickeln, denn nur wenn
diese Therapien auch kommerziell
erfolgreich sind, werden sie sich
zum Wohl der Patienten rasch
durchsetzen. So wenig bedeutend
sie in ökonomischer Hinsicht bisher waren, so prägend wird ihr
Einfluss auf die personalisierte
Medizin der Zukunft sein. Zellund Gentherapien sind anders.
Und auch der Markt der Pharmabranche wird in zehn Jahren ein
anderer sein. <<
Autoren
Dr. Gisela Maag arbeitet seit 2000 bei IMS Health,
seit 2002 u.a. als Pressesprecherin. Zuvor war sie als
Referentin Marktforschung und Gesundheitsmanagement bei AstraZeneca tätig, davor als Projektleiterin
bei SINUS. Die diplomierte Sozialwissenschaftlerin
mit Zusatzausbildung in systemischer Therapie und
Beratung promovierte an der Universität Mannheim.
Kontakt: [email protected].
Dr. Frank Wartenberg ist seit Januar 2010 Vorsitzender der Geschäfts­führung und Country Manager
von IMS Health Deutschland und seit Januar 2011
zusätzlich President Central Europe. Davor hat er als
Geschäftsführer und Mitgründer scicon aufgebaut.
Er hat ein Diplom als Wirtschaftsingenieur der
Universität Karlsruhe sowie einen Doktor rer.pol.
(Marketing und Vertrieb), daneben hat er Geschichte
und Philosophie studiert.
Kontakt: [email protected].
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