ESSAY

Transcription

ESSAY
E S S ay
Abschied vom klassischen Buchformat:
Die neue Lesewelt der Tablets
e s say
Ob multimediale Tablets wie das iPad von Apple
das elektronische Buch zu einem Massenphänomen machen werden, ist zwar noch nicht sicher,
aber Vieles spricht dafür, dass der Verkauf und die
Nutzung von E-Books mit den neuen Geräten eine
immense Dynamik erhalten haben. Und erstmals
scheint jetzt eine Geräteklasse auf dem Markt zu
sein, die nicht irgendwelche Nischenbedürfnisse
befriedigt, sondern öffentlichkeitstauglich ist:
Hotels statten ihre Zimmer mit Tablets aus, Bundestagsabgeordnete lesen ihre Redemanuskripte
von ihrem Touchscreen ab, und ein großer Zeitungsverlag stattet sämtliche Führungskräfte in
Bataillonsstärke mit den neuen Multifunktionsgeräten aus.
N R. 3 • 2 0 1 0
10
1 Dr. Michael Roesler-Graichen
ist Fachredakteur mit den Schwerpunkten Fachinformation und
Neue Medien beim „Börsenblatt
– Wochenmagazin für den deutschen Buchhandel“ in Frankfurt
a. M. Der promovierte Literaturwissenschaftler hat zahlreiche
Aufsätze zu Neuen Medien, EBooks, Internetthemen und zum
Urheberrecht publiziert und ist
Mitherausgeber und Mitautor
des Buchs „Gutenberg 2.0. Die
Zukunft des Buches“ (Frankfurt
a. M. 2008).
Aber auch in den vielen größeren wie kleineren
Buchverlagen sind das iPad und seine Konkurrenten (das WeTab von Neofonie, das Eee Pad von
Asus und viele andere) ein wichtiges Thema. Kaum
ein Geschäftsführer, kaum ein Pressechef, der sich
nicht ein Gerät kauft oder es zumindest testet.
Die neuen „Devices“ sind ausdrücklich nicht nur
als Kommunikator, Organizer oder Videoplattform
gedacht, sondern auch als E-Book-Reader, die der
Konkurrenz von Amazon (mit dem Kindle), von
Barnes & Noble (mit dem Nook), von Sony (mit
diversen Readern) und anderen Wettbewerbern
erhebliche Marktanteile abjagen sollen. Und das
geschieht zunächst dadurch, dass wesentlich größere Stückzahlen von den neuen Tablets verkauft
werden als von den bisher angebotenen E-BookLesegeräten mit elektronischer Tinte. Schon gibt
es erste Liquiditätsengpässe und Projektunterbrechungen bei E-Reader-Herstellern. Einer der
Pioniere von Displays mit elektronischer Tinte, das
niederländische Unternehmen iRex Technologies,
musste kürzlich vorläufige Insolvenz anmelden,
und das Projekt des biegsamen Skiff Readers, das
der US-Medienriese Hearst initiiert hatte, wurde
an die News Corporation von Rupert Murdoch
weiterverkauft.
Eigene E-Book-Shops auf den drahtlosen Tablets
wie Apples iBook Store oder Verkaufsapplikationen
(Apps) von Amazon oder Textunes ermöglichen den
direkten Download und tragen zusätzlich zu einer
Umschichtung des Markts zugunsten der neuen
Geräte bei. Allerdings bleibt das Titelangebot in
Deutschland noch überschaubar: Erst zwei große
Verlagsgruppen – Random House Deutschland und
Bastei Lübbe – sowie einige kleinere Verlage sind
mit insgesamt gut 2.000 Titeln im iBook Store vertreten, andere Verlagshäuser wie Kiepenheuer &
Witsch verkaufen ihre elektronischen Bücher über
Textunes oder andere Anbieter.
Der massenhafte Verkauf der neuen Tablets dürfte
erhebliche Auswirkungen auf den Vertrieb und die
Nutzung von Inhalten haben:
• Durch iPad & Co. entstehen neue Nutzungsszenarien, nicht so sehr in der mobilen Nutzung
unterwegs, sondern in der Nutzung als zentrales
Kommunikations-, Unterhaltungs- und Organisationsgerät. Der Tablet Computer, sagen einige Experten, könnte im privaten Bereich zum
typischen Wohnzimmergerät werden, auf dem
gespielt, gesehen, gehört und gelesen wird.
Medienkonsum findet künftig überwiegend auf
mobilen Endgeräten statt.
• Sie können aber auch die Kommunikation in
Unternehmen, Redaktionen, Institutionen und
Krankenhäusern verändern, weil sie PCs ersetzen können, in ein mobiles Intranet (über drahtlose Netzwerke) eingebunden und zugleich
für Präsentationen eingesetzt werden können.
Ebenso vorstellbar ist, dass Schulen, Hochschulen und Hochschulbibliotheken mit den WLANfähigen Geräten ausgestattet werden.
• Tablet Computer öffnen (vor allem im Privatbereich) die Tür zu einer anderen Nutzung von
Zeitschriften- und Buchinhalten. Zunächst für
die Lektüre von Zeitungs-Apps gekauft (beispielsweise zu günstigen Abonnement-Bedingungen), könnte es die Gewöhnung an elektronische Buchlektüre beschleunigen. Funktionen
in der Lesesoftware der Geräte tragen mit ihren
haptischen Effekten (authentisch wirkendes,
mit Geräusch unterlegtes Umblättern auf dem
Touch Screen) dazu bei.
• Die multimedialen Eigenschaften der neuen
Lesegeräteklasse werden die Gestaltung von
Büchern und anderen Medienformaten deutlich verändern. „Enhanced“ oder „enriched“
E-Books sind ein Stichwort, das schon seit Monaten die Runde bei E-Book-Dienstleistern und
Buchherstellern macht: E-Books, die mit Audiodateien, Videos oder interaktiven Funktionen
angereichert werden. Dies kann in zweifacher
Hinsicht geschehen: zum Beispiel bei einem
Belletristik-Bestseller, der um ein Videointerview des Autors ergänzt wird (additives Verfahren). Oder bei einem Lyrikband, dessen Gedichte mit Musik und Filmbildern unterlegt werden
(integratives Verfahren).
• Hier entstehen innovative Medienformate, die
die Rezeption von Texten verändern könnten,
in letzter Konsequenz aber auch zu einer Auflösung der klassischen Formatgrenzen von Buch,
Hörbuch, Film und anderen Medien führen – wie
man sie ansatzweise von Internet-Literaturplattformen oder etwa Videoclips her kennt. Und mit
E s say
•
•
•
Am Ende dieses Prozesses könnte die teilweise Ablösung des klassischen Buchmarkts stehen – wie hoch der Anteil einer rein elektronischen Produktion und Distribution sein wird, lässt sich allerdings
heute seriös nicht abschätzen. Das hängt von nationalen Gegebenheiten (Beispiel: Preisbindung in Deutschland) ebenso ab wie vom
Marktsegment, in dem sich dieser Prozess vollzieht. In Teilbereichen
wird es noch über Jahrzehnte ein Nebeneinander von Print- und EWelt geben. Auf lange Sicht jedoch dürfte sich der Markt mit gedruckten Büchern zu einem Nischenmarkt entwickeln, in dem die
Ausstattung der Titel eine wachsende Rolle spielen wird. Bücher aus
Papier haben eine Chance, auch in 50 und 100 Jahren, vielleicht auch
in ferner Zukunft, gekauft und gelesen zu werden. Aber der Anteil
von Lesern, die das Lesen am Bildschirm als vorteilhaft empfindet,
wird wachsen.
Wie schnell die Entwicklung gehen kann, zeigen die E-Book-Verkaufszahlen in den USA. In einem Land, in dem sich Bücher schon
von jeher nicht durch außergewöhnliche herstellerische Sorgfalt
ausgezeichnet haben, und in dem es keinen wirklich flächendeckenden stationären Buchhandel mehr gibt, ist der Online-Handel oft die
einzige Alternative. Dies begünstigt natürlich auch die Verbreitung
von E-Books, zumal die Akzeptanz der dazu benötigten Hardware
größer ist als hierzulande.
Im Gesamtjahr 2009 lag der Umsatz mit E-Books bei rund 340 Millionen Dollar und erreichte damit einen Marktanteil von rund vier
Prozent. Seit der Einführung von Apples Tablet Computer iPad in den
USA ist dieser Anteil weiter gestiegen. Im zweiten Quartal 2010 lag
er schon bei sechs Prozent, einige Beobachter rechnen jetzt schon
mit bis zu acht Prozent bis Ende 2010.
In Deutschland ist die Situation noch überschaubar: Das Geschäft
mit E-Book-Readern hatte bis zur Einführung des iPad noch keine
nennenswerte Größe erreicht. Die Zahl der verkauften Lesegeräte
bewegte sich Ende 2009 im niedrigen fünfstelligen Bereich. Manche
Beobachter schätzen die Zahl auf wenig mehr als 10.000 Reader.
Dies dürfte sich seit der Einführung des iPad geändert haben, was
noch nicht bedeutet, dass der Verkauf von E-Books deutlich anziehen wird – denn die Buchleser auf den Tablets werden zunächst
vermutlich eine Minderheit darstellen, zumindest bei belletristischen
Werken und klassischen Sachbüchern. Erheblich größer könnte der
Nutzeranteil hingegen bei Nachschlagewerken, Ratgebern, Kochbüchern, Reiseführern und Sprachkursen werden. Hier werden wir in
den nächsten Jahren und Jahrzehnten – auch durch den Generationswechsel – eine Veränderung der Lesegewohnheiten und Nutzungsszenarien erleben, die uns heute noch fremd anmutet, aber
dann selbstverständlich geworden sein wird. Dennoch wird es auch
weiterhin Bücher geben – ob in gedruckter oder virtueller Form –,
die zur intensiven Lektüre einladen.
11
N R. 3 • 2 0 1 0
•
den neuen Formexperimenten lebt eine alte Debatte wieder auf,
die man aus der Anfangsphase des Internets kennt: ob Hypertexte
oder multimediale Formate überhaupt dauerhaft rezipiert werden
und neue Lesegewohnheiten entstehen lassen. Es könnte auch
sein, dass viele Nutzer das lineare, unimediale Leseerlebnis allen
experimentellen Textumgebungen vorziehen.
Darin liegt eine Chance für die E-Ink-Reader, die das klassische
Leseerlebnis nachbilden und sich darauf beschränken. Sie helfen dem Nutzer, sich auf den Inhalt eines Buchs, beispielsweise
eines Romans, zu konzentrieren; zudem reizen sie wegen des
ruhigen Displays nicht so sehr die Augen wie ein beleuchteter
LCD-Bildschirm.
Auf einem multifunktionalen, multimedialen Tablet Computer ist
die Versuchung groß, die Lektüre eines Buchs zu unterbrechen –
um kurz im Internet einen Begriff zu recherchieren, um einen Blick
in ein laufendes Fußballspiel zu werfen, oder um beispielsweise
zu sehen, ob neue Facebook-Nachrichten eingetroffen sind. Die
vielfältigen Apps auf einem Tablet, die zunächst als Vorzug empfunden werden, könnten so zum Fluch für denjenigen werden,
der sich beispielsweise in einen Roman vertiefen will. Eine Folge
dieses Media-Zappings könnte in vielen Fällen sein, dass Nutzer
das gedruckte Buch dem Tablet vorziehen.
Die Tablet-Generation wird auch Auswirkungen auf Produktion
und Vertrieb von Inhalten im Netz haben. Sie wird einen Prozess
beschleunigen, der bereits durch andere Mitbewerber im E-BookMarkt – vor allem Amazon und Google – eingeleitet worden ist:
Die Substitution des klassischen Buchhandels mit stationärem
Vertrieb durch Online-Vertrieb von (zunehmend) elektronischen
Büchern, bei gleichzeitigem Verzicht auf die traditionelle Selektions- und Qualitätssicherungsfunktion von Verlagen. Elektronische Bücher hätten in einer solchen Welt den Vorrang, und wer
ein gedrucktes Exemplar haben möchte, müsste sich dies beim
Content-Anbieter besorgen.
Durch browsergestützte Präsentationsformen digitaler Buchinhalte wie Googles E-Book-Programm Google Editions könnte dieser Prozess zusätzlichen Auftrieb erhalten. Das Modell von Google – das Lesen von Büchern in der Datenwolke („in the cloud“)
– zeigt den Trend zu plattform- und technologieübergreifenden
Vertriebskonzepten an. Noch in diesem Jahr soll der neue Dienst
von Google starten.