1 NLMR 6/2013-EGMR Sachverhalt

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1 NLMR 6/2013-EGMR Sachverhalt
NLMR 6/2013-EGMR
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© Jan Sramek Verlag (http://www.jan-sramek-verlag.at). [Übersetzung wurde bereits in Newsletter Menschenrechte 2013/6 veröffentlicht] Die erneute Veröffentlichung wurde allein für die Aufnahme in die HUDOC-Datenbank des
EGMR gestattet. Diese Übersetzung bindet den EGMR nicht.
© Jan Sramek Verlag (http://www.jan-sramek-verlag.at). [Translation already published in Newsletter Menschenrechte 2013/6] Permission to republish this translation has been granted for the sole purpose of its inclusion in the
Court's database HUDOC. This translation does not bind the Court.
© Jan Sramek Verlag (http://www.jan-sramek-verlag.at). [Traduction déjà publiée dans Newsletter Menschenrechte
2013/6] L’autorisation de republier cette traduction a été accordée dans le seul but de son inclusion dans la base de
données HUDOC de la Cour. La présente traduction ne lie pas la Cour.
Sachverhalt
Bei dem Bf. handelt es sich um einen irakischen Staatsbürger, der zur Zeit im jordanischen Amman wohnhaft
ist. Nach Ansicht des Sicherheitsrates der UN war er für
die Finanzen der irakischen Geheimdienste unter Saddam Hussein verantwortlich. Die Bf. ist eine Gesellschaft mit Sitz in Panama, deren Leiter der Bf. war.
Nach der Invasion von Kuwait durch den Irak im
August 1990 nahm der Sicherheitsrat der UN die Resolutionen 661 (1990) vom 6.8.1990 und 670 (1990) vom
25.9.1990 an, in denen er die Nichtmitgliedstaaten der
UN aufforderte, ein Embargo gegen den Irak zu verhängen. Am 7.8.1990 nahm der Schweizerische Bundesrat
die »Verordnung über Wirtschaftsmaßnahmen gegenüber der Republik Irak« (»Irak-VO«) an. Die Bf. behaupten, dass ihr Vermögen seit dort eingefroren ist.
Nachdem die Schweiz am 10.9.2002 der UN beigetreten war, nahm der Sicherheitsrat im Mai 2003 die Resolution 1483 (2003) vom 22.5.2003 an, die insbesondere die Resolution 661 (1990) ersetzte. Darin wurden die
Mitgliedstaaten dazu angehalten, das in ihrem Staatsgebiet befindliche Vermögen des früheren irakischen Regimes rund um Saddam Hussein einzufrieren und sofort
an einen Entwicklungsfonds für den Irak zu übertragen.
Die Irak-VO wurde, unter anderem zur Berücksichtigung der Resolution 1483 (2003), mehrfach angepasst.
Ihr Art. 2 sah im Wesentlichen vor, dass die Gelder und
wirtschaftlichen Ressourcen der früheren irakischen
Regierung, von hohen Amtsträgern derselben und von
Unternehmen oder Körperschaften unter der Kontrolle
oder Leitung dieser Personen, eingefroren werden sollten. Die von den Maßnahmen Betroffenen sollten in
einer Liste im Anhang genannt werden, die vom Eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartement (»EVD«, jetzt:
Eidgenössisches Departement für Wirtschaft, Bildung
Österreichisches Institut für Menschenrechte und Forschung) nach den Vorgaben der UN erstellt werden sollte. Mit der Erstellung der Liste auf Ebene der UN
wurde ein durch Resolution 1518 (2003) vom 24.11.2003
des Sicherheitsrats eingerichteter Sanktionsausschuss
betraut.
Am 26.4.2004 trug der Sanktionsausschuss die Bf., die
ihren Sitz damals in Genf hatte, und ihren Leiter, den
Bf., in die genannte Liste ein. Ab 12.5.2004 schienen die
Bf. auch in der Liste nach der Irak-VO auf.
Der Bundesrat nahm am 18.5.2004 die »Verordnung
über die Einziehung eingefrorener irakischer Gelder
und wirtschaftlicher Ressourcen und deren Überweisung an den Development Fund for Iraq« an, deren Geltung mittlerweile bis zum 30.6.2016 verlängert wurde.
Die Bf. erklären, dass ihr seit 1990 eingefrorenes Vermögen in der Schweiz Gegenstand eines Einziehungsverfahrens in Anwendung dieser VO ist.
Der Bf. verlangte vom EVD am 25.8.2004, das Einziehungsverfahren auszusetzen, da er direkt beim Sanktionsausschuss um Löschung aus der Liste ersuchen
wollte. Nachdem der Bf. vergeblich eine mündliche
Anhörung vor dem Sanktionsausschuss verlangt hatte,
erbaten die Bf. am 1.9.2005 die Fortsetzung des Einziehungsverfahrens in der Schweiz. Am 16.11.2006 verfügte
das EVD nach Einholung einer Stellungnahme der Bf. die
Einziehung von deren Vermögen und legte die Modalitäten fest, nach denen es binnen 90 Tagen auf das Konto
des Entwicklungsfonds transferiert werden würde. Es
begründete seine Entscheidung damit, dass die Namen
der Bf. in der Liste des Sanktionskomitees aufschienen
und diese Liste von der Schweiz so zu übernehmen sei.
Gegen die Entscheidung des EVD erhoben die Bf. insgesamt drei Verwaltungsbeschwerden beim Bundesgericht und verlangten die Aufhebung dieser Entschei© Jan Sramek Verlag
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Al-Dulimi und Montana Management Inc. gg. die Schweiz
dung. Sie verwiesen darauf, dass die Einziehung ihres
Vermögens ihr Recht auf Eigentum verletzt hätte und
das Verfahren, das zu ihrer Eintragung in die Liste im
Anhang der Resolution 1483 (2003) und zur Irak-VO
geführt hatte, grundlegende Verfahrensrechte unter
anderem nach Art. 6 und Art. 13 EMRK verletzt hätte.
Das Bundesgericht wies die Beschwerden mit drei beinahe identischen Urteilen vom 23.1.2008 ab. Es führte
aus, dass die Schweiz die auf UN-Ebene erfolgte Listung
grundsätzlich nicht überprüfen könne. Den Bf. sei aber
vor Exekution der Entscheidung vom 16.11.2006 eine
kurze Frist einzuräumen, um ihnen die Anrufung des
Sanktionskomitees nach dem neuen Löschungsverfahren unter der Resolution 1730 (2006) vom 19.12.2006 zu
ermöglichen.
Die Bf. stellten am 13.6.2008 einen entsprechenden
Antrag, der jedoch am 6.1.2009 zurückgewiesen wurde.
Den Bf. wurde währenddessen mehrmals gestattet,
auf das eingefrorene Vermögen zuzugreifen, um ihre
Anwaltskosten im Zusammenhang mit dem Einziehungsverfahren zu bestreiten.
Am 6.3.2009 entschieden die Schweizer Behörden, die
Entscheidung zur Einziehung des Vermögens bis zum
Urteil des GH und jenem des Bundesgerichts zur internen Wiederaufnahme im Falle der Feststellung einer
Konventionsverletzung durch denselben aufzuschieben.
Mit der Resolution 1956 (2010) vom 15.12.2010 schaffte der Sicherheitsrat den Entwicklungsfonds für den
Irak ab. Seine Erträge wurden an die irakische Regierung
übertragen.
Rechtsausführungen
Die Bf. behaupten, die Einziehung ihres Vermögens sei
unter Verletzung von Art. 6 EMRK (Recht auf ein faires
Verfahren) angeordnet worden.
I. Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK
Der GH ist der Ansicht, dass die Beschwerde unter dem
Aspekt der Behauptung einer Verletzung des Rechts auf
Zugang zu einem Gericht untersucht werden muss.
1. Zur Zulässigkeit
Um festzustellen, ob er zuständig ist, über die Beschwerde unter Art. 6 Abs. 1 EMRK zu entscheiden, muss der
GH untersuchen, ob sie in den Anwendungsbereich
von Art. 1 EMRK fällt und so die Verantwortlichkeit des
belangten Staates auslöst.
Unter Berufung auf die Entscheidung Behrami und
Behrami/F und Saramati/F, D und N bringt insbesondere
die französische Regierung als Drittbeteiligte vor, dass
die von den Mitgliedstaaten der UN zur Umsetzung der
Österreichisches Institut für Menschenrechte NLMR 6/2013-EGMR
Resolutionen des Sicherheitsrates unter Kapitel VII der
Charta der UN gesetzten Maßnahmen der UN zuzurechnen seien und daher aus der Zuständigkeit des GH ratione personae herausfallen würden. Dieser kann dem nicht
beipflichten. Er erinnert daran, dass er in dem genannten Fall zum Schluss gekommen ist, dass die strittigen
Handlungen und Unterlassungen der KFOR, auf welche die Befugnisse vom Sicherheitsrat unter Anwendung von Kapitel VII der Charta gültig delegiert worden
waren, und der UNMIK1, eines Nebenorgans der UN,
das unter demselben Kapitel geschaffen wurde, der UN
zuzurechnen waren. Im vorliegenden Fall beauftragten
die einschlägigen Resolutionen des Sicherheitsrates –
insbesondere die Resolution 1483 (2003) – die Staaten
hingegen, in ihrem eigenen Namen zu handeln und sie
auf nationaler Ebene umzusetzen.
Im gegenständlichen Fall wurden die vom Sicherheitsrat auferlegten Maßnahmen national durch eine
VO des Bundesrates umgesetzt. Das Vermögen der Bf.
wurde eingefroren und das EVD hat mit Entscheidung
vom 16.11.2006 die Einziehung bestimmten Vermögens
verfügt. Diese Akte stellen eindeutig nationale Anwendungen einer Resolution des Sicherheitsrates der UN
dar. Die behaupteten Konventionsverletzungen sind
daher der Schweiz zuzurechnen.
Daraus geht hervor, dass die strittigen Maßnahmen
von der Schweiz in Ausübung ihrer »Hoheitsgewalt« im
Sinne von Art. 1 EMRK gesetzt wurden. Die strittigen
Handlungen oder Unterlassungen können daher die
Verantwortlichkeit des belangten Staates nach der Konvention auslösen. Das bedeutet auch, dass der GH ratione personae zuständig ist, über die vorliegende Beschwerde zu entscheiden.
Der GH weist daher die Einrede der Unvereinbarkeit
der Beschwerde ratione personae zurück (mehrheitlich;
Sondervotum von Richter Sajó).
Der GH kann auch dem Vorbringen der belangten
Regierung zur Unvereinbarkeit der Beschwerde unter
Art. 6 Abs. 1 EMRK mit der Konvention ratione materiae nicht folgen, wonach sich die Bf. auf kein »Recht« im
Sinne der Konvention berufen könnten und daher Art. 6
EMRK auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar sei.
Er erinnert daran, dass die Bf. rügen, keinen Zugang zu
einem Art. 6 EMRK entsprechenden Verfahren gehabt
zu haben, das ihnen erlaubt hätte, die Einziehung ihres
Vermögens anzufechten. Da dies direkt den Genuss
ihres Eigentums gefährdet, können sich die Bf. auf
einen »zivilrechtlichen Anspruch« im Sinne des Art. 6
Abs. 1 EMRK berufen. Es spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle, dass die Schweiz das 1. Prot. EMRK
nicht ratifiziert hat, dessen Art. 1 das Recht auf Achtung
1 United Nations Interim Administration Mission in Kosovo,
das ist die seit 1999 bestehende Interimsverwaltung der UN
im Kosovo.
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Al-Dulimi und Montana Management Inc. gg. die Schweiz
des Eigentums garantiert. Angesichts des Vorgesagten
weist der GH die Einrede der Regierung zurück (mehrheitlich; Sondervotum von Richter Sajó).
Im Ergebnis ist die Beschwerde weder offensichtlich
unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig und muss daher für zulässig erklärt werden (mehrheitlich; Sondervotum von Richter Sajó).
2. V
orfrage: Das Nebeneinander der Konventions­
garantien und der den Staaten durch Resolutionen
des Sicherheitsrates auferlegten Verpflichtungen
Nach gefestigter Rechtsprechung sind die Vertragsstaaten unter Art. 1 EMRK für alle Handlungen und Unterlassungen ihrer Organe verantwortlich, egal ob sich
diese aus dem nationalen Recht herleiten lassen oder
aus internationalen rechtlichen Verpflichtungen.
Die belangte Regierung sowie die französische und
britische Regierung als Drittbeteiligte bringen vor, dass
die Schweizer Behörden im vorliegenden Fall keinen
Spielraum bei der Umsetzung der betreffenden Resolutionen des Sicherheitsrates hatten.
Eine Maßnahme eines Staates, die in Umsetzung
von rechtlichen Verpflichtungen aus seiner Mitgliedschaft in einer internationalen Organisation gesetzt
wird, muss als gerechtfertigt angesehen werden, wenn
die betreffende Organisation den Grundrechten einen
Schutz bietet, der zumindest gleichwertig mit dem von
der Konvention gewährten ist. Bietet die Organisation
also einen derartigen gleichwertigen Schutz, besteht
eine Vermutung, dass die Staaten den Ansprüchen der
Konvention Genüge tun, wenn sie lediglich die rechtlichen Verpflichtungen aus ihrer Mitgliedschaft in dieser
Organisation erfüllen. Demgegenüber bleibt ein Staat
nach der Konvention voll für alle Akte verantwortlich,
die nicht strikt auf seinen internationalen rechtlichen
Verpflichtungen beruhen, insbesondere wenn er ein
Ermessen ausgeübt hat.
Der Großteil der vom GH bisher in diesem Zusammenhang entschiedenen Fälle betraf den Zusammenhang zwischen dem Recht der EU und den aus der Konvention erfließenden Garantien. Der GH stellt jedoch
fest, dass er es niemals ausgeschlossen hat, diesen Test
des gleichwertigen Schutzes auf eine Situation anzuwenden, in der es um die Vereinbarkeit von Akten anderer
internationaler Organisationen als der EU mit der Konvention geht. Im Ergebnis befindet er, dass die Vermutung eines gleichwertigen Schutzes insbesondere darauf
abzielt zu vermeiden, dass ein Staat einem Dilemma ausgesetzt ist, wenn er die rechtlichen Verpflichtungen geltend machen muss, die ihm aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einer internationalen Organisation obliegen, die
selbst nicht Mitglied der Konvention ist. Wie nun aber
Österreichisches Institut für Menschenrechte der vorliegende Fall belegt, kann sich ein solches Dilemma für einen Staat genausogut aus seiner Mitgliedschaft
in den UN wie aus seiner Zugehörigkeit zur EU als supranationaler Organisation im europäischen Bereich ergeben.
Der vorliegende Fall eignet sich für eine Untersuchung
im Lichte des Tests eines gleichwertigen Schutzes insbesondere, da die einschlägigen Resolutionen des Sicherheitsrates und vor allem § 23 der Resolution 1483 (2003)
den Staaten kein Ermessen bei der Umsetzung der daraus erfließenden Verpflichtungen gewähren. In dieser
Hinsicht unterscheidet sich die gegenständliche Situation wesentlich von jener in Nada/CH, wo die Große Kammer festgestellt hat, dass die Schweiz einen gewissen
Spielraum bei der Umsetzung der betreffenden Resolutionen des Sicherheitsrates besaß.
Was den im vorliegenden Fall verfügbaren Schutz
anbelangt, gesteht die belangte Regierung selbst ein,
dass das gegenwärtige System – auch in seiner durch die
Resolution 1730 (2006) verbesserten Form, die es den Bf.
ermöglicht, bei einem Focal Point ihre Streichung von
den vom Sicherheitsrat erstellten Listen zu verlangen –
keinen zur Konvention gleichwertigen Schutz bietet. Der
GH teilt diese Ansicht.
Diese Schlussfolgerung wird im Übrigen durch den
Bericht des Sonderberichterstatters der UN für Terrorismusbekämpfung und Menschenrechte vom 26.9.2012
bestätigt. Der Sonderberichterstatter bringt dort klar
zum Ausdruck, dass das durch die Resolution 1267
(1999) vom 15.10.1999 eingerichtete Sanktionsregime
gegen die Al-Kaida trotz der beachtlichen Fortschritte im
Hinblick auf das Verfahren durch die Resolutionen 1904
(2009) vom 17.12.2009 und 1989 (2011) vom 17.6.2011
des Sicherheitsrates, wodurch ein Ombudsmann eingerichtet wurde, in diesem Bereich immer noch nicht
den internationalen Mindeststandard achtet. Der GH
schließt sich dieser Schlussfolgerung vorbehaltlos an.
Aus dem Fehlen eines dem Ombudsmann vergleichbaren Kontrollmechanismus im Rahmen des Sanktionsregimes gegen die frühere irakische Regierung nach der
Resolution 1483 (2003) ergibt sich a fortiori, dass der auf
internationaler Ebene gewährte Schutz nicht gleichwertig mit dem der Konvention ist. Im Übrigen kann nicht
gesagt werden, dass die verfahrensmäßigen Mängel des
Sanktionsregimes im vorliegenden Fall durch nationale Menschenrechtsschutzmechanismen ausgeglichen
worden wären, da das Bundesgericht sich weigerte, die
Begründetheit der strittigen Maßnahmen zu überprüfen.
Aus dem Vorgesagten ergibt sich, dass die Vermutung eines gleichwertigen Schutzes keine Anwendung
findet. Der GH muss daher über die Begründetheit der
Beschwerde betreffend den Zugang zu einem Gericht
absprechen.
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3. U
ntersuchung der Beschwerde betreffend den
Zugang zu einem Gericht
Der GH befindet, dass den Bf., die vergeblich versuchten, die Einziehung ihres Vermögens bei den Schweizer
Gerichten anzufechten, eine Beschränkung ihres Rechts
auf Zugang zu einem Gericht zuteil wurde. Dies scheint
von der belangten Regierung nicht in Frage gestellt worden zu sein. Daher muss untersucht werden, ob diese
Beschränkung ein legitimes Ziel verfolgte und ob eine
vernünftige Verhältnismäßigkeit zwischen den eingesetzten Mitteln und dem angestrebten Ziel gegeben war.
Laut Regierung verfolgte die Einschränkung des
Rechts auf Zugang zu einem Gericht das legitime Ziel
der Aufrechterhaltung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit. Der GH ist bereit, diese Schlussfolgerung zu akzeptieren. Die vom Sicherheitsrat unter
Kapitel VII der Charta der UN angenommene Resolution 1483 (2003), die der strittigen Beschränkung zugrunde liegt, hatte zum Ziel, den Mitgliedstaaten eine ganze
Reihe von Maßnahmen zur Stabilisierung und Entwicklung des Iraks aufzuerlegen. Es ging nach § 23 der Resolution insbesondere darum sicherzustellen, dass das
Hab und Gut von hohen Amtsträgern der früheren irakischen Regierung – darunter des Bf., der laut dem Sicherheitsrat ein früherer Verantwortlicher für die Finanzen
der irakischen Geheimdienste war – an den Entwicklungsfond für den Irak übertragen und dann an das irakische Volk zurückgegeben wurde, damit dieses Nutzen
daraus ziehen konnte. Dieses Ziel ist völlig mit der Konvention vereinbar.
Der GH akzeptiert das Vorbringen der Regierung,
wonach die Weigerung der nationalen Gerichte, die
Rügen der Bf. wegen der Einziehung von deren Vermögen inhaltlich zu untersuchen, von ihrem Bestreben beeinflusst war, eine wirksame Umsetzung der
Verpflichtungen aus der genannten Resolution auf nationaler Ebene sicherzustellen.
Was das Verhältnis zwischen den eingesetzten Mitteln
und dem angestrebten Ziel anbelangt, beobachtet der
GH, dass das Bundesgericht in sehr ausführlichen Urteilen die Gründe dargelegt hat, aus welchen es sich als
unzuständig ansah, die Anträge der Bf. auf Aufhebung
der Einziehung zu untersuchen. Es hat im Übrigen überprüft, ob die Namen der Bf. tatsächlich in den vom Sanktionskomitee erstellten Listen enthalten waren und ob
das betroffene Vermögen ihnen gehörte. Demgegenüber
hat es sich geweigert, die Rügen der Bf. betreffend ihre
zivilrechtlichen Ansprüche inhaltlich zu untersuchen.
Bei der Resolution 1483 (2003) handelte es sich –
anders als bei der Situation, die den Maßnahmen
zugrundelag, über die sich der Bf. in Nada/CH beschwerte – nicht um eine Antwort auf eine drohende Terrorgefahr, sondern ging es darum, die Autonomie und Souveränität der irakischen Regierung wiederherzustellen
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und dem irakischen Volk das Recht zu garantieren, frei
über seine politische Zukunft zu entscheiden und seine
natürlichen Ressourcen zu kontrollieren. Folglich stehen die strittigen Maßnahmen im Zusammenhang mit
den Auswirkungen eines bewaffneten Konflikts, der seinen Ursprung 1990 hatte. Differenziertere und gezieltere Maßnahmen scheinen daher leichter mit einer wirksamen Umsetzung der Resolutionen vereinbar zu sein.
Im Übrigen wurden den Bf. bedeutende Beschränkungen zuteil. Sie behaupten, dass ihr Vermögen schon 1990
eingefroren wurde, was von der Regierung auch nicht
bestritten wird. Die Einziehung ihres Vermögens wurde
am 16.11.2006 verfügt. Die Bf. sind daher des Zugangs zu
ihrem Vermögen bereits seit eines beträchtlichen Zeitraumes beraubt, auch wenn die Entscheidung zur Einziehung noch nicht vollstreckt wurde. Ohne sich mit der
Begründetheit dieser Maßnahmen befassen zu müssen, befindet der GH, dass die Bf. gemäß Art. 6 Abs. 1
EMRK das Recht haben, sie von einem Gericht überprüfen zu lassen. Die jahrelange Unmöglichkeit, die Einziehung anfechten zu können, ist in einer demokratischen
Gesellschaft kaum denkbar.
Daneben hat das Bundesgericht ausgesprochen, dass
es Aufgabe der Unterinstanz sei, dem Bf. eine kurze und
letzte Frist zu gewähren, um es ihm zu erlauben, vor dem
Sanktionskomitee ein neues Löschungsverfahren unter
Inanspruchnahme der Verbesserungen durch die Resolution 1730 (2006), wozu insbesondere die Schaffung
eines Focal Point zählte, der Anträge auf Löschung empfangen kann, anzustrengen. Der entsprechende Antrag
des Bf. wurde jedoch am 6.1.2009 zurückgewiesen.
Die Regierung bringt zudem vor, dass die Schweizer Behörden vier Anträgen der Bf. stattgegeben haben,
mit denen sie um Zugang zum eingefrorenen Vermögen
für die Bezahlung ihrer Anwaltskosten ersuchten. Die
Betroffenen wären auch von der Genehmigung informiert worden, auf das eingefrorene Vermögen in der
Schweiz zurückgreifen zu dürfen, um das zukünftige
Honorar eines amerikanischen Anwalts für das Einziehungsverfahren in der Schweiz und das Verfahren zur
Löschung vor dem Sanktionsausschuss zu bezahlen.
Diese Maßnahmen sind gewiss geeignet, die Einschränkungen im Hinblick auf den Genuss des Eigentums
durch die Bf. in einem bestimmten Maß zu erleichtern,
doch schaffen sie keine Abhilfe bezüglich der Unmöglichkeit, die Begründetheit der Beschränkungen von
einem Gericht untersuchen zu lassen, weswegen sich
die Bf. vor dem GH unter Art. 6 EMRK beschweren.
Angesichts des Vorgesagten befindet der GH, dass
es – solange auf der Ebene der UN keine wirksame und
unabhängige gerichtliche Überprüfung im Hinblick
auf die Rechtmäßigkeit der Aufnahme von Personen
und Einrichtungen in ihre Listen existiert – unverzichtbar ist, dass diese Personen und Einrichtungen befugt
sind, die Untersuchung jeder Maßnahme in Anwendung
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des Sanktionsregimes vor den nationalen Gerichten zu
verlangen. Die Bf. kamen jedoch nicht in den Genuss
einer solchen Kontrolle. Daraus folgt, dass ihr Recht auf
Zugang zu einem Gericht in seinem Wesen beeinträchtigt wurde. Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (4:3 Stimmen; Sondervotum von Richter Lorenzen, gefolgt von Richter Raimondi und Richterin Jočiené).
Strafe ohne Gesetz), Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung
des Privatlebens) und Art. 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde bei einer nationalen Instanz).
Diese Beschwerdepunkte sind aus unterschiedlichen
Gründen unzulässig und daher zurückzuweisen (einstimmig).
III. Entschädigung nach Art. 41 EMRK
II. Zu den anderen behaupteten Verletzungen
Die Bf. rügen daneben mehrere Verletzungen von Art. 6
Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren), eine Verletzung von Art. 6 Abs. 2 EMRK (Unschuldsvermutung), Art. 6
Abs. 3 EMRK (Verteidigungsrechte), Art. 7 EMRK (Keine
Österreichisches Institut für Menschenrechte Da die Bf. keinen materiellen Schaden erlitten und auch
keine Entschädigung für immateriellen Schaden oder
Kosten und Auslagen verlangt haben, befindet der GH,
dass ihnen keine Entschädigung zuzusprechen ist (einstimmig).
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